Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich und möchte Sie zunächst davonin Kenntnis setzen, dass am 4. März der Parlamentari-sche Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidi-gung, Thomas Kossendey, seinen 65. Geburtstag undder Kollege Wolfgang Wieland am 9. März den glei-chen Geburtstag gefeiert hat.
Am 12. März hat der Kollege Matthias Lietz seinen60. Geburtstag begangen. Ihnen allen wünsche ich auchauf diesem Wege im Namen des ganzen Hauses allesGute für die nächsten Jahre.
Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, dieTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU undFDPVerhalten von SPD und BÜNDNIS 90/DIEGRÜNEN im Bundesrat beim Fiskalpakt
ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfHempelmann, Hubertus Heil , UlrichKelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDen Netzausbau bürgerfreundlich und zu-kunftssicher gestalten– Drucksache 17/12681 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 34a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zurgesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos– Drucksache 17/12679 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie RechtsausschussAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und Medienb) Erste Beratung des von der Fraktion der SPDeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe-schränkungen zur Änderung des Pressefusions-rechtes– Drucksache 17/12680 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medienc) Beratung des Antrags der Abgeordneten SwenSchulz , Dr. Ernst Dieter Rossmann,Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDHochschulpakt aufstocken – Finanzierung vonwachsenden Studienkapazitäten an den Hoch-schulen langfristig sicherstellen– Drucksache 17/12690 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKorruption im Gesundheitswesen strafbarmachen– Drucksache 17/12693 –
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialese) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, BettinaHerlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Tonnagesteuer statt Steuerspar-modell– Drucksache 17/12697 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP 35a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Renate Künast, MonikaLazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Füh-rungspositionen umsetzen– Drucksachen 17/7953, 17/8643 –Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön Christel HummeNicole Bracht-BendtJörn WunderlichMonika Lazarb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Josef PhilipWinkler, Volker Beck , Memet Kilic, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENResidenzpflicht abschaffen– Drucksachen 17/11356, 17/11725 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff Ulla JelpkeJosef Philip WinklerZP 5 Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDStandpunkt der Bundesregierung zu den be-schlossenen Verfassungsänderungen in Un-garn im Hinblick auf die Einhaltung europäi-scher GrundwerteZP 6 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
gemäß § 62 Absatz 2 der Ge-
schäftsordnung zu dem von den AbgeordnetenVolker Beck , Monika Lazar, EkinDeligöz, weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Le-benspartnerschaftsgesetzes und anderer Ge-setze im Bereich des Adoptionsrechts– Drucksachen 17/1429, 17/12731 –Berichterstattung:
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Einführung desRechts auf Eheschließung für Personen glei-chen Geschlechts– Drucksache 17/12677 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPUnterstützung für die Opfer von Halabja fort-setzen– Drucksache 17/12684 –ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten UllaJelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEAnerkennung der irakischen Anfal-Operatio-nen 1988/89 und des Giftgasangriffs aufHalabja vom 16. März 1988 als Völkermord –Humanitäre Hilfe für die Opfer– Drucksache 17/12692 –ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antragder Abgeordneten Daniela Wagner, BettinaHerlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEnergiewende im Gebäudebestand sozial ge-recht, umweltfreundlich, wirtschaftlich undzukunftsweisend umsetzen– Drucksachen 17/11664, 17/12671 –Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel
ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDPFinanzstabilität sichern – Regulierung system-relevanter Finanzinstitute und des internatio-nalen Schattenbankensystems– Drucksache 17/12686 –
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEin neuer Anlauf zur Bändigung der Finanz-märkte: Erpressungspotenzial verringern –Geschäfts- und Investmentbanking trennen– Drucksache 17/12687 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union HaushaltsausschussZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Brugger, Volker Beck , Marieluise Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKonsequent vorangehen für eine atomwaffen-freie Welt– Drucksachen 17/9983, 17/12733 –Berichterstattung:Abgeordnete Roderich KiesewetterUta ZapfDr. Rainer StinnerJan van AkenMarieluise Beck
ZP 14 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKEHaltung der Bundesregierung zur Durchset-zung des Leistungsprinzips bei exorbitantenManagergehälternDabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Ta-gesordnungspunkt 8 c soll abgesetzt werden.Schließlich mache ich noch auf eine nachträglicheAusschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktlisteaufmerksam:Der am 29. November 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung der Innenentwicklung in den Städtenund Gemeinden und weiteren Fortentwick-lung des Städtebaurechts– Drucksache 17/11468 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und MedienIch frage, ob irgendjemand gegen irgendeinen dieserveränderten Tagesordnungspunkte Einwände hat? – Dasist nicht der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d sowieden Zusatzpunkt 2 auf:3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Wirtschaft und TechnologieEine starke Energieinfrastruktur für Deutsch-landb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzesüber Maßnahmen zur Beschleunigung desNetzausbaus Elektrizitätsnetze– Drucksache 17/12638 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitc) Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfHempelmann, Hubertus Heil , DirkBecker, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDie Strom-Versorgungssicherheit in Deutsch-land erhalten und stärken– Drucksache 17/12214 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologied) Beratung des Antrags der Abgeordneten OliverKrischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENAusbau der Übertragungsnetze durch Deut-sche Netzgesellschaft und finanzielle Bürgerin-nen-/Bürgerbeteiligung voranbringen– Drucksache 17/12518 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit HaushaltsausschussZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten RolfHempelmann, Hubertus Heil , UlrichKelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder SPDDen Netzausbau bürgerfreundlich und zu-kunftssicher gestalten– Drucksache 17/12681 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-
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rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offensicht-lich einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,Philipp Rösler.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren Abgeordnete! Wir haben in Deutsch-land eine starke Volkswirtschaft, einen starken Mittel-stand mit einem starken industriellen Kern. Es ist dieseStruktur, die Wachstum möglich macht, die Beschäfti-gung sichert und damit für den Wohlstand in unseremLande steht. Weil wir das wissen, kämpft diese Regie-rungskoalition genau für diese Struktur. Das gilt insbe-sondere in dem wichtigen Bereich der Energiepolitik.Es gibt fünf Felder – Kraftwerke, neue Netze, natür-lich erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Energie-forschung –, in denen es sich besonders lohnt, genau fürdiese Struktur zu kämpfen. Die Leitlinien, die für einekluge Energiepolitik immer gelten, sind zum Ersten eineumweltfreundliche Erzeugung, zum Zweiten das wich-tige Thema Versorgungssicherheit und zum Dritten dieBezahlbarkeit von Energie, und zwar nicht nur für Un-ternehmen, sondern für Menschen und private Haushaltegleichermaßen.
Der Aspekt der Umweltverträglichkeit – ich finde, da-ran kann man zwei Jahre nach der Katastrophe vonFukushima erinnern – ist der eigentliche Grund für unse-ren gemeinsamen Beschluss, aus der Kernenergie auszu-steigen. Er wurde hier im Deutschen Bundestag gefasst.Er ist getragen von einer breiten Mehrheit im Bundesratund in der Gesellschaft.Anders als die frühere rot-grüne Bundesregierung ha-ben wir uns nicht darauf beschränkt, einfach nur denAusstieg zu beschließen und danach die Hände in denSchoß zu legen, so wie Sie es sehr selbstzufrieden getanhaben.
Wir haben gewusst: Wir müssen alles dafür tun, dass dasZiel, bis zum Jahr 2022 auszusteigen, auch erreicht wer-den kann. Sie haben sich nach Ihrem Beschluss zurück-gelehnt. Wir haben die Hände in die Hand genommen
– die Dinge in die Hand genommen – und haben ange-fangen, die Energiepolitik in allen wichtigen Feldern,gerade im Bereich der Energieinfrastruktur, umzusetzen.
Der erste Bereich ist der Bereich der neuen Netze.Wir haben dafür die notwendigen Gesetze beschlossen,zum Beispiel das Netzausbaubeschleunigungsgesetz.Unser Ziel ist es, die bisherigen Planungs- und Bauzei-ten von derzeit bis zu zehn Jahren auf vier Jahre zu ver-kürzen. Ein Teil dieser Gesetze beinhaltet die Vorgabe,einen Netzentwicklungsplan auf den Weg zu bringen,der die Strukturen, aber auch die weiteren Maßnahmenfür den Netzausbau in Deutschland festlegt. Genau dasist in enorm kurzer Zeit gelungen. Man darf nicht ver-gessen: Bisher gab es einen solchen Netzentwicklungs-plan nicht. Man musste ihn also im wahrsten Sinne desWortes aus dem Nichts heraus definieren, um zu sehen,wie die neuen Netzstrukturen in Deutschland aussehensollen.Der Netzentwicklungsplan liegt jetzt vor. Wir wissen,dass 2 900 Kilometer ertüchtigt oder im Bestand erneu-ert werden müssen. Es gibt weitere 2 800 Kilometer, dietatsächlich neu gebaut werden müssen. Es ist gut, dasswir diesen Netzentwicklungsplan haben. Entscheidendist aber auch das Umsetzen dieses Netzentwicklungs-plans; denn wir haben sehr frühzeitig – schon bei derGesetzgebung – gesagt: Wenn wir in Deutschland Indus-triepolitik betreiben wollen, bedeutet dies das Durchset-zen, das Umsetzen von Infrastrukturmaßnahmen.Wenn Sie in Deutschland Infrastrukturmaßnahmenumsetzen wollen, brauchen Sie die Akzeptanz, das Ver-ständnis der Bevölkerung. Deswegen wurde sehr frühein Konsultationsverfahren eröffnet, damit die betroffe-nen Menschen vor Ort und die betroffenen KommunenStellung nehmen konnten. Diese wurden von den Über-tragungsnetzbetreibern einbezogen und später auch vonder Bundesnetzagentur.Es gab in diesem einjährigen Verfahren über3 300 Einwendungen von Privatpersonen. Alle konntenin den Diskussionsprozess einfließen. Es ist quasi revo-lutionär für die Bundesnetzagentur, dass die Behörde dieAnliegen nicht nur in Form von schriftlichen Stellung-nahmen behandelt hat, sondern sie ist in die Fläche ge-gangen, sie hat mit den betroffenen Kommunen und denbetroffenen Menschen gesprochen.In Stuttgart zum Beispiel wird das, was im Schlich-tungsverfahren vereinbart wurde, immer noch nicht um-gesetzt, weil man nicht bereit ist, dafür das notwendigeGeld zur Verfügung zu stellen. Da weiß man, was manan dieser Bundesregierung hat; denn wir sprechen mitden Menschen, um Infrastrukturprojekte umzusetzen. Sosieht richtige Bürgerbeteiligung aus.
Als Folge des Netzentwicklungsplans diskutieren wirheute gemeinsam in erster Lesung das Bundesbedarfs-plangesetz. Dabei geht es nicht nur darum, wie die neuenTrassenverläufe aussehen sollen, sondern wir müssenuns konkret überlegen, wie wir die Voraussetzung dafürschaffen, dass Projekttrassen, zum Beispiel für die Erd-verkabelung, entstehen können.Wir sehen auch eine Instanzenwegverkürzung vor,das heißt, dass man sich mit einer Klage direkt an dasBundesverwaltungsgericht wenden kann, das dann end-
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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gültig entscheidet. Damit können wir die Geschwindig-keit im Bereich Netzausbau erreichen, die wir uns vorge-nommen haben, ebendiese vier Jahre.Was noch viel entscheidender ist: Wir arbeiten her-vorragend mit den Bundesländern zusammen. Das istkeine Selbstverständlichkeit; denn derzeit ist es so, dasssich mindestens 8 von 16 Bundesländern autonom ver-sorgen möchten, weitere möchten sich in Bezug auf er-neuerbare Energien nicht nur autonom versorgen, son-dern sie sogar exportieren.
– Das ist Blödsinn, wenn 16 Bundesländer nur jeweils ansich denken und nicht an die gemeinsame Umsetzungdieser Energiewende.
Wir sagen Ihnen: Der Erfolg wird nur möglich sein,wenn alle 16 Bundesländer, der Bund und Europa beidem wichtigen Thema Netzausbau zusammenstehen.
Deswegen schaffen wir mit dem Bundesbedarfsplange-setz die Voraussetzung dafür, dass erstmalig auch diegroßen und raumbedeutsamen Strecken, die mehrereLänder übergreifen, in die Planungszuständigkeit desBundes, der Bundesnetzagentur übergehen können. Bis-her haben wir immer gesehen: Dort, wo zwei Länder-grenzen aneinanderstoßen, kommt es zu Schwierigkei-ten, kommt es zu Verzögerungen. Das muss geändertwerden. Deswegen hoffen wir sehr, dass der Bundesratbereit ist, auch wenn es um die konkreten Strecken geht,wenn es auf die einzelnen Maßnahmen ankommt, seineZusage einzuhalten und die Zuständigkeiten von deneinzelnen Ländern auf den Bund zu übertragen. Sonstwird es schwierig mit der Verkürzung von Bau- und Pla-nungszeiten bei dem wichtigen Netzausbau in Deutsch-land.
Mindestens genauso wichtig wie die großen Fern-übertragungsnetze ist das Verteilnetz. Wir diskutierendarüber im Rahmen der Netzplattform in meinem Minis-terium, aber auch in anderen Gremien. Wir überlegen:Wie muss ein solches Verteilnetz eigentlich aussehen?Wir werden ungefähr die gleiche Anzahl an Kilometernbrauchen, nur um das Verteilnetz zu ertüchtigen und zumodernisieren.
Hier geht es nicht nur darum, Produktion und Verbrauchräumlich zusammenzubringen, sondern Sie müssen Pro-duktion und Verbrauch auch zeitlich zusammenbringen.Deswegen brauchen wir nicht nur Verteilnetze mit vielenTausend Kilometern, sondern wir brauchen auch intelli-gente Netze
– manche Netze sind intelligenter als manche Zwischen-rufe –,
die in der Lage sind, Produktion und Verbrauch zusam-menzubringen. Wenn wir die beiden Dinge zusammen-bringen wollen, dann brauchen wir nicht nur die Netze,sondern dann müssen wir uns auch darüber Gedankenmachen, wie der Markt für den konventionellen Kraft-werksbereich aussieht.
Ich will hier für die Bundesregierung und die Regie-rungskoalition sehr klar sagen: Wenn wir aus der Nut-zung der Kernenergie aussteigen, werden wir, auch wennwir auf den stärkeren Ausbau des Bereichs der erneuer-baren Energien setzen, auch in Zukunft konventionelleKraftwerke brauchen, Gaskraftwerke genauso wie Koh-lekraftwerke.
Wenn die Grünen beschließen, dass man gerne auf Koh-lekraftwerke verzichten möchte, dann ist das den Men-schen gegenüber schlichtweg unehrlich; denn irgendwomuss der Strom für die Menschen und die Unternehmenja herkommen.
Dass wir für Versorgungssicherheit stehen, haben wirbei der Winterregelung gezeigt, die Sie im Bundestag imRahmen des Energiewirtschaftsgesetzes beschlossen ha-ben.
Natürlich wissen wir, dass all die Maßnahmen, die darinenthalten sind, nicht vollumfänglich die Schönheit dersozialen Marktwirtschaft widerspiegeln.
Aber bei der Abwägung zwischen der Versorgungs-sicherheit auf der einen Seite und der Schönheit mancherInstrumente auf der anderen Seite war und ist es immerrichtig, sich für die Versorgungssicherheit der Menschenund Unternehmen gleichermaßen zu entscheiden.
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Wir brauchen Ähnliches auch bei der Marktstrukturim Bereich der konventionellen Kraftwerke. Allein aufden Strom und nicht auf die Erzeugung zu achten, wirdauf Dauer nicht mehr funktionieren. Trotzdem warne ichdavor, zu glauben, dass man nur Kapazitätsmärkte for-dern müsse und schon wäre das Problem gelöst. „Kapa-zitätsmärkte“ ist ein schönes Wort dafür, dass man dasVorhalten von Kraftwerken mit dem Geld der Stromkun-den in Deutschland subventionieren will.
Wenn Sie ein Problem, das durch die Förderung des Be-reichs der erneuerbaren Energien, also durch ein Sub-ventionsgesetz entstanden ist, durch eine weitere Sub-vention lösen wollen, dann handeln Sie entgegen demPrinzip der sozialen Marktwirtschaft. Das kann nicht diealleinige Lösung für das zukünftige Marktdesign inDeutschland sein.
Wenn Sie ein solches Marktdesign auf den Weg brin-gen wollen, gerade für konventionelle Kraftwerke, dannmüssen Sie auch an die Förderung des Bereichs der er-neuerbaren Energien herangehen; denn beides gehörtzusammen, die konventionelle Energieerzeugung inDeutschland und die Erzeugung durch die Nutzung er-neuerbarer Energien. Das bisherige Gesetz zur Förde-rung der erneuerbaren Energien ist ein Gesetz, das ei-gentlich nicht zur sozialen Marktwirtschaft passt. So,wie es momentan aufgebaut ist, ist es ein planwirtschaft-liches Gesetz.
Es ist damals entstanden, als man eine Nischenbranchegrößer machen wollte. Das war absolut gerechtfertigt;jetzt aber haben wir ein Gesetz, das sich mit einemMarkt befasst, der längst nicht mehr einem Nischen-markt entspricht, sondern einen Marktanteil von 25 oder35 Prozent hat. Deswegen dürfen Sie ein solches Gesetznicht länger zulassen.
Das ist ein Gesetz, mit dem der Gesetzgeber, der Deut-sche Bundestag, den Preis für jede einzelne Erzeugungs-art auf den Cent genau festlegt.
Das ist Planwirtschaft und führt natürlich auch zu all denVerzerrungen und zu Ineffizienzen, die die Planwirt-schaft mit sich bringt.
– Frau Höhn, gerade Sie haben doch dieses Gesetz aufden Weg gebracht.
Es ist doch Ihre Verantwortung, dass wir momentan– mit all den Verzerrungen – in der Planwirtschaft leben.
Wenn Sie sich ein Windrad in den Hintergarten stellen– egal ob Sie einen Netzanschluss haben oder nicht –,bekommen Sie bis zu 95 Prozent Ihrer Kosten vergütet.Was ist das für ein Geschäftsmodell?
Frau Höhn, stellen Sie sich vor, unser Wirtschaftsaus-schussvorsitzender Herr Hinsken – er ist Bäcker – würdeständig Brötchen produzieren, die er nicht verkaufenmüsste, und er würde trotzdem 95 Prozent der Kosten alsVergütung bekommen. Was für ein großartiges Ge-schäftsmodell wäre das?
Es hat nur zwei Nachteile: Erstens. Die Menschen inDeutschland müssten es bezahlen. Zweitens. Es wärekein zur sozialen Marktwirtschaft passendes Modell,und deswegen verzichtet Herr Hinsken auf ein solchesModell. Das Gleiche gilt auch für die Energiepolitik inDeutschland.
– Herr Steinmeier, wir regieren, und es wird – damit wirdas auch gleich geklärt haben – auch nach der nächstenBundestagswahl so bleiben.
Deswegen brauchen wir ein anderes Modell, ein Men-genmodell, mit dem endlich die unterschiedlichen Er-zeugungsarten – so, wie es sich für die soziale Markt-
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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wirtschaft gehört – in einen Wettbewerb miteinandergestellt werden.
Sonst wird Energie am Ende nicht mehr bezahlbar sein.Wir erleben gerade die Diskussion über eine EEG-Umlage in Höhe von 5,277 Cent, die vielleicht bis zumEnde des Jahres sogar noch auf 6 Cent die Kilowatt-stunde ansteigen wird.
Ich finde, diese Zahlen zeigen eines sehr deutlich: Wirmüssen schon jetzt – nicht zum Zweck der Integrationvon konventionellem Markt und dem Bereich der erneu-erbaren Energien, sondern gerade im Interesse der Be-zahlbarkeit von Energie für den Mittelstand, aber auchfür private Haushalte – an einer grundlegenden Reformdes Gesetzes zur Förderung Erneuerbarer Energien ar-beiten.
Die Energiepreise sind das Entscheidende für unserenMittelstand und unseren industriellen Kern.
Die deutsche Wirtschaft steht in einem internationalenWettbewerb mit günstigen Energiepreisen in Europa,mehr aber noch außerhalb Europas. Wir sprechen überStrompreise für Industrieunternehmen von 10 bis15 Cent die Kilowattstunde hier in Deutschland und inEuropa. Wir sprechen, was beispielsweise die USA an-geht, über Strompreise im Bereich von 2 bis 5 Cent dieKilowattstunde.
Wenn künftig viele Unternehmen in Deutschland In-vestitionsentscheidungen zulasten des StandortesDeutschland bzw. Europa treffen, indem sie in die USAgehen, wäre das gerade für unseren industriellen Kernfatal; denn wir brauchen die gesamte Bandbreite einerindustriellen Wertschöpfungskette. Das betrifft chemi-sche Grundstoffe, Stahl und Aluminium genauso wieHightechprodukte. Deswegen ist es notwendig, dass dieBezahlbarkeit von Energie als prioritäre Aufgabe derWirtschaftspolitik anerkannt wird.
– Auch von Ihnen, Frau Höhn.
Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen. Ich sage Ih-nen: Die Unternehmen werden sich sehr genau ansehen,wie Politiker aus Nordrhein-Westfalen agieren, wenn esdarum geht, für die Bezahlbarkeit von Energie zu kämp-fen.
Daran hängen hier Hunderttausende Arbeitsplätze. Siezeigen, dass Sie kein Interesse an den Arbeitsplätzen inDeutschland haben. Das ist doch das wahre Gesicht vonRoten, Grünen und Linken in Deutschland.
– Die Opposition zeigt – das spüren wir – ihr schlechtesGewissen, indem sie umso lauter schreit.
Sie haben den Ausstieg aus der Nutzung der Kern-energie beschlossen
und nichts für unser Land bzw. für neue Netze getan.Auch für neue Kraftwerke und den Bereich der erneuer-baren Energien haben Sie nichts getan – und schon garnichts für Energieforschung und Energieeffizienz. ImGegenteil, bei Energieeffizienz halten Sie es bis heutenicht für nötig, etwas für die Menschen zu tun. Sie blo-ckieren nach wie vor Gesetze im Bundesrat, bei denen esdarum geht, Energieeffizienz für die Menschen durchzu-setzen. Das ist doch Ihr Gesicht, wenn es um Energiever-sorgung in Deutschland geht.
Ich halte also fest: Diese Regierungskoalition hältsich an die drei energiepolitischen Grundsätze
Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Be-zahlbarkeit in den fünf wesentlichen Feldern Netzaus-bau, Kraftwerksausbau, erneuerbare Energien, Energie-forschung und Energieeffizienz.
Viele Unternehmen aus dem Ausland beneiden uns umunsere starke Volkswirtschaft. Sie haben sich zu Anfangdie Frage gestellt: Kann Deutschland den Ausstieg biszum Jahre 2022 schaffen? Wenn man sich jetzt die Pläneansieht, wenn man die Dinge erklärt, wenn man die Vor-bereitung erkennt, dann weiß man: Wenn es einer schaf-
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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fen kann, dann ist das unser Land. Diese Regierungsko-alition steht und kämpft dafür, dass genau das gelingenkann.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für
die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn maneben bei der Rede des Kollegen Rösler eine Sekunde dieAugen geschlossen und sich überlegt hätte, wer da ei-gentlich redet,
dann hätte man den Eindruck haben können, dass da einOppositionspolitiker die aktuelle Regierung beschimpft.
Herr Rösler, ich bin nicht sicher, ob Sie es wissen, aberfür all die Probleme, die Sie eben diagnostiziert haben,sind Sie und Ihr Kollege Brüderle seit fast vier Jahrenzuständig.
Übrigens, als Sie gesagt haben, dass Sie wieder in derRegierung sein werden, hat nur die FDP geklatscht, dieCDU/CSU wohl vorsichtshalber nicht. Die Kollegen inder CDU/CSU ahnen, was bei den Wahlen herauskom-men wird.
Sie können das übrigens heute in der SüddeutschenZeitung nachlesen. Sie haben sich ja selber für Ihre Ar-beit so gelobt und eben hier versucht, den SchwarzenPeter anderen zuzuschieben. Dabei sitzt der SchwarzePeter bei Ihnen ganz in der Nähe am Kabinettstisch.
Er hat heute auf die Frage der Süddeutschen Zeitung,was er von Ihrer Arbeit hält, geantwortet – ich lese eseinmal vor –: „Ich urteile grundsätzlich nicht über dieArbeit befreundeter Kabinettskollegen.“
Das ist ja einmal ein richtiges Lob. So stellt man sichFreundschaften bei Ihnen vor.
Herr Rösler, ich will einmal versuchen, auf ein paarder Probleme, die Sie, wie ich finde, treffend beschrie-ben haben, einzugehen – Sie haben sie zwar jetzt be-schrieben, aber Sie haben dreieinhalb Jahre nichts getan,um sie zu lösen – und darauf hinzuweisen, was Sie ei-gentlich hätten tun müssen. Wie sieht eigentlich derStand des Ausbaus der Netze in der Realität aus, nach-dem Sie und Ihr Vorgänger Herr Brüderle hier dem Par-lament mehrfach große Ankündigungen gemacht haben?Sie haben Beschleunigungsgesetze eingebracht, Sie ha-ben gesagt, dass Sie den Netzausbau richtig in den Griffbekommen wollen. Das ist das Versprechen Ihres Kolle-gen Brüderle – man ist sich bei Ihnen immer nicht so si-cher, ob er gerade Nachfolger oder Vorgänger ist – undauch Ihr Versprechen gewesen.Ich sage Ihnen: Das Energieleitungsausbaugesetz von2009 hat die wichtigsten Strecken für den Netzausbauper Gesetz begründet. Von 2009 bis heute, Herr Rösler,sind ganze 12 Prozent von Ihnen realisiert worden:214 Kilometer von 1 834 Kilometern, die Sie bauenmüssen. Keines der damals benannten Pilotvorhaben fürdie Erdverkabelung in der Gleichstromtechnik, um diedurch Windkraft im Norden erzeugte Energie zu denLastschwerpunkten in den Süden zu bringen, haben Siein Ihrer Regierungszeit bis heute umgesetzt.
16 der 24 Vorhaben von damals sind im Zeitverzug; die-ser beträgt ein bis sieben Jahre.Herr Rösler, damit Sie es nicht völlig verdrängen, er-innere ich Sie daran: Der dafür verantwortliche Ministersind Sie und nicht Vorgängerregierungen, die übrigensdiesen irren Weg des Ausstiegs nicht gewählt haben.
Wären Sie beim rot-grünen Energieumstieg geblieben,hätten Sie diese Probleme nie in dieser Art auf den Tischbekommen.
Sie scheinen ja völlig verdrängt zu haben, was Sie daangerichtet haben. Sie haben doch in das Herz-Kreis-lauf-System der deutschen Wirtschaft – das haben Sieeben zu Recht so genannt; es ist das Herz-Kreislauf-Sys-tem der deutschen Wirtschaft – eingegriffen. Sie habenin den letzten dreieinhalb Jahren zweimal am offenenHerzen operiert. Aber Ihr Ärzteteam – einschließlich derChefärztin, die gerade hinausgegangen ist – hat bei die-sen Operationen wechselnde Diagnosen gestellt undwechselnde Therapievorstellungen gehabt. Dass der Pa-tient noch lebt, liegt nicht an der Kunst Ihres Ärzteteams,sondern an der guten Konstitution des Patienten. Sie ha-ben ihn allerdings fast ans Ende gebracht.
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Sigmar Gabriel
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Wir sind nicht diejenigen gewesen, die erst beschlos-sen haben, 14 Jahre länger an der Atomenergie festzu-halten, und dann gesagt haben: Nun aber schneller raus!
Wir haben übrigens auch keinen Prozess verloren, wieSie ihn gerade wegen der illegalen Stilllegung vonAtommeilern verlieren.
Wo im Bundeshaushalt findet man eigentlich die 15 Mil-liarden Euro, die Sie an Regressforderungen der Ener-giekonzerne wegen Ihrer damaligen Kumpanei mit ihnenzu erwarten haben?
Die waren dann nämlich enttäuscht. Die Rechnung fürdie Kumpanei mit diesen Konzernen müssen jetzt dieSteuerzahler bezahlen. Das ist das Ergebnis Ihres Atom-ausstiegs von vor zweieinhalb Jahren.
Zurück zum Netzausbau. 12 Prozent wurden bisherrealisiert. Wenn die Bundesregierung beim Netzausbauin diesem Tempo weitermacht, Herr Rösler, dann wirddie Energiewende tatsächlich ein Jahrhundertprojekt;das kann man wohl sagen.
Zwischen der Realität beim Netzausbau in Deutschlandund dem, was Sie hier erklären, gibt es einen Riesenun-terschied. Sie legen hier einen Gesetzentwurf vor, nachdem bis 2022 auf einer Strecke von insgesamt 2 800 Ki-lometern neue Leitungen gebaut werden sollen; das ent-spricht der Entfernung zwischen Stockholm und Madrid.Bei Beibehaltung Ihres bisherigen Schneckentempos– bisher wurden, wie gesagt, erst 12 Prozent realisiert –werden diese Leitungen nicht bis 2022 fertig sein, son-dern frühestens 2060. Mit anderen Worten: Sie legen ei-nen Netzausbauplan vor, von dem Sie schon heute wis-sen, dass er mit Ihrer Regierungskunst nie und nimmerrealisiert werden wird.Was haben Sie eigentlich die letzten dreieinhalb Jahregetan, damit das Nord-Süd-Gefälle, dass der Windstromim Norden produziert, aber an den Lastschwerpunktenim Süden und Westen gebraucht wird, endlich abgebautwird? Das Gegenteil ist eingetreten: Dieses Gefälle ver-schärft sich von Jahr zu Jahr. Inzwischen produzierenwir, weil die Netze verstopft sind, Wegwerfstrom. Wirbezahlen ihn, aber wir können ihn nicht nutzen. Bezah-len müssen das die Steuerzahler, die Stromkunden undall diejenigen, die da zur Kasse gebeten werden. Das,Herr Rösler, ist Ihre Verantwortung. Sie sind derjenige,der das zulässt.
– Wir verhindern gar nichts, Herr Kollege. Sie legendoch noch nicht einmal einen Plan vor, wie man das ma-chen soll.
– Ich verstehe ja, dass Sie den armen Kerl jetzt verteidi-gen müssen. Aber ich habe ihn nicht gebeten – ausge-rechnet ihn! –, hier eine Regierungserklärung zu seinemeigenen Versagen während seiner Regierungszeit abzu-geben.
Sie versagen komplett, was die Steuerungskompetenzangeht. Sie sagen hier: Die 16 Bundesländer könnennicht machen, was sie wollen. – Da haben Sie recht.Aber sagen Sie einmal: Was tun Sie eigentlich, um mitLändern, Kommunen, der Energiewirtschaft und Stadt-werken den geplanten Netzausbau oder eine Kopplungdes Netzausbaus und des Ausbaus der Nutzung erneuer-barer Energien hinzubekommen? Bis heute gar nichts!Sie beschreiben die Probleme richtig. Aber Sie sind derMinister, der dafür da ist, sie zu lösen. Das machen Sieseit dreieinhalb Jahren nicht.
Kurz vor der Bundestagswahl kommen Sie hierher underklären, was man alles machen muss. Wissen Sie, esgibt ein altes Sprichwort für Leute wie Sie. Es lautet:Am Abend werden die Faulen fleißig. Das beschreibt,was Sie machen.
Herr Rösler, nun können Sie ja sagen: Na ja, es istdoch klar, dass die Opposition über mich schimpfenmuss; das ist ein altes Spiel im Parlament. – Deshalb leseich Ihnen einmal vor, was außerhalb Ihrer eigenen Wirk-lichkeit, außerhalb dieses Parlaments über Sie, Ihre Re-gierung und die Kanzlerin gedacht wird.Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes derDeutschen Industrie, Herr Kerber, meint – ich zitiere –:Es fehlen eindeutige Verantwortlichkeiten. Der Konkur-renzkampf innerhalb der Bundesregierung muss aufhö-ren. Wir brauchen den Aufbau eines „KontrollzentrumsEnergiestrategie Deutschland“.Der Vorsitzende der Energiegewerkschaft IG BCE,Michael Vassiliadis, erklärte vor wenigen Wochen:Es fehlt der Bundesregierung an Koordination undEntscheidungen. Wenn das so weitergeht wie bis-her, dann wird das nichts mit der Energiewende.Vor wenigen Tagen wurde der Unternehmer UlrichGrillo, zugleich der neue Präsident des Bundesverbandsder Deutschen Industrie, gefragt, wie er das Manage-ment der Energiewende durch die Bundesregierung
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28386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Sigmar Gabriel
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bewertet – hören Sie gut zu, Herr Rösler! –, und dieAntwort von Herrn Grillo lautete: „Es gibt kein Manage-ment.“
Herr Rösler, sagen Sie das auch Ihrer Kanzlerin; dennauch sie ist damit gemeint. Ich habe aufgehört, zu zäh-len, wie oft die Kanzlerin die Energiewende zur Chefsa-che erklärt hat. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entwe-der beherrscht sie die Chefsache nicht, oder Sie, HerrRösler, lassen nicht zu, dass das Ganze geführt wird.Ich könnte zwar noch mehrere ähnliche Zitate vortra-gen, aber ich beende diese Aufzählung mit einem Kom-mentar aus der Passauer Neuen Presse von der letztenWoche. Unter der Überschrift „Verlorenes Jahr“ fasst derKommentator das wie folgt zusammen:Für das Gelingen der Energiewende wird 2013 einweitgehend verlorenes Jahr werden.Leider hat er recht, meine Damen und Herren.
Alle, aber auch ausnahmslos alle, Herr Rösler, die inDeutschland etwas von Energiepolitik verstehen, sagen,dass diese Regierung ein Totalausfall ist hinsichtlich ei-ner Energiepolitik, die Versorgungssicherheit und be-zahlbare Preise während der Energiewende sicherstellensoll.Meine Damen und Herren, wie sieht das aus mit derChefsache der Bundeskanzlerin, dem neuen Strom-marktdesign? Fehlanzeige. Wie sieht das aus mit demvon der Ethik-Kommission zum Ausstieg aus der Atom-energie dringend geforderten Aufbau eines Kapazitäts-marktes, vor allem mit Gaskraftwerken? Fehlanzeige.Sie erklären hier, die Bundesländer sollten nicht ma-chen, was sie wollen. Was macht Ihr Koalitionspartner,die CSU? Ministerpräsident Seehofer hat als Erster er-klärt, sein Land, Bayern, würde energieautark.
Wenn man an den Industriestandort Deutschland denkt,muss man sagen: Die sind völlig verrückt geworden. –Und was passiert? Gar nichts passiert. Im Gegenteil, an-statt dass neue Gaskraftwerke gebaut werden – dafürsind Sie übrigens verantwortlich –, werden in Deutsch-land neue Gaskraftwerke stillgelegt, und wir stehen anden Tagen, an denen die Sonne nicht scheint und derWind nicht weht, vor massiven Problemen mit der Ver-sorgungssicherheit und der Stabilität im Netz. Genau dasbewirkt Ihre Politik.
– Na, hören Sie einmal zu: Sie sind dafür verantwortlich,das sicherzustellen. In normalen Jahren braucht es zehntechnische Eingriffe, um das Netz stabil zu halten. Jetzthaben wir 900 gehabt. Das verschweigen Sie hier. Siesind sich über die Dimension Ihrer Aufgabe überhauptnicht im Klaren – oder jedenfalls Ihr Minister nicht.
Das geht ja noch weiter: Sie jammern zwar über stei-gende Strompreise – zu Recht übrigens –, aber gleichzei-tig verhindern Sie, dass Effizienzmaßnahmen denStromkunden helfen, ihren Stromverbrauch zu senkenund Geld zu sparen. Warum verhindern Sie das eigent-lich?
Sie stehen in Europa auf der Bremse, wenn es umEnergieeffizienz geht. Sie verhindern – gemeinsam mitIhrer Bundesregierung und anderen –, dass der europäi-sche Emissionshandel wieder in Gang kommt. Ihrem Fi-nanzminister fehlen jetzt 1 bis 2 Milliarden Euro imHaushalt, um Maßnahmen zur Energieeinsparung zu fi-nanzieren. Sie erklären öffentlich, wie schlimm das ist,aber Sie helfen keinem einzigen Verbraucher. Vielmehrstoppen Sie die Programme, weil Sie die Mittel dafürnicht mehr haben, weil Sie den Emissionshandel durchIhr Verhalten in Europa ruiniert haben.
Steigende Strompreise, steigende Versorgungsunsi-cherheit, das ist das Ergebnis Ihrer Politik und nicht etwadie Schuld von Rot-Grün oder irgendwelcher Außerirdi-scher. Sie sind Minister, auch wenn Sie es manchmalnicht glauben können. Wir würden es ja auch gerne an-ders sehen;
aber es ist nun einmal so. Dann müssen Sie einmal arbei-ten in diesem Land.
Sie müssen übrigens nicht einmal für irgendetwas kämp-fen: Über alles, was wir hier bereden, besteht doch Ein-vernehmen. Aber Sie setzen nichts um. Bei der Umset-zung der Energiewende sind Sie ein Totalversager; dasist das eigentliche Problem in Deutschland.
Jetzt kommt – alle Achtung! – die Strompreisbremse.Kurz vor Toresschluss erklären Sie: Keine Sorge! Wirbremsen die Strompreise. –
Wie wollen Sie das eigentlich machen? Obwohl die stei-genden Strompreise nach Ihren eigenen Aussagen undnach Aussagen Ihres Ministeriums praktisch nichts mitdem Ausbau der erneuerbaren Energien zu tun haben– selbst wenn kein einziges Windrad mehr gebautwürde, würden aktuell die Strompreise steigen –, wollen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28387
Sigmar Gabriel
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Sie den Ausbau der erneuerbaren Energien und damit dieEnergiewende selbst stoppen; das ist Ihr Vorschlag.Damit nicht genug: Sie beherrschen das kleine Ein-maleins eines Wirtschaftsministers nicht, das da lautet:Wir brauchen Investitionssicherheit und keine ständigenVeränderungen der Rahmenbedingungen. – Ausgerech-net der Bundeswirtschaftsminister schlägt, gemeinsammit seinem Kabinettskollegen Altmaier, vor, in be-stehende Verträge einzugreifen. Ausgerechnet der Bun-deswirtschaftsminister schlägt vor, dass die im interna-tionalen Wettbewerb stehende Rohstoffindustrie inDeutschland – von Aluminium über Stahl zu Kupfer –jetzt höhere Strompreise zahlen soll. Und so etwas for-dert ein FDP-Bundeswirtschaftsminister!
Was Sie da vorschlagen, ist doch irre. Weil Sie offenbarvon allen guten Geistern verlassen sind, wollen Sie dasjetzt im Schweinsgalopp durchsetzen. Sie müssen wirk-lich, Entschuldigung, nicht mehr ganz bei Trost sein.
Keine dieser Maßnahmen, Herr Rösler, behebt die Ursa-chen steigender Strompreise. Nichts von dem, was Sievorschlagen, hält länger als bis zum Wahlabend,18.01 Uhr. Und jede dieser Maßnahmen verunsichertsämtliche Investoren. Herr Rösler, Unberechenbarkeitwird zum Markenzeichen Ihrer Energiepolitik. Das istdas, was die Investoren in Deutschland von Ihnen lernen.
Wenn Sie, wie wir auch, Sorgen wegen steigenderStrompreise haben: Warum verdienen Sie in der Bundes-regierung dann noch heimlich mit? Aufgrund steigenderEEG-Umlage haben Sie nämlich bis zu 1 Milliarde EuroMehreinnahmen über die Mehrwertsteuer. Warum gebenSie nicht wenigstens das, was Sie über steigende Strom-preise sozusagen für Ihren Haushalt abkassieren, an dieVerbraucherinnen und Verbraucher zurück? Warum ma-chen Sie das eigentlich nicht?
Sie können übrigens mit uns reden, wenn Sie nichtgenerell 1 000 Kilowattstunden stromsteuerfrei stellenwollen, sondern Ermäßigungen lieber an bestimmteGruppen geben wollen, zum Beispiel an Familien, Nied-rigverdiener oder BAföG-Empfänger. Das alles könnenwir machen. Sie können aber doch nicht mitkassierenund gleichzeitig öffentlich darüber jammern, dass dieStrompreise steigen.
Ich finde es wirklich eine erbärmliche Bilanz, die wirhier vorgestellt bekommen. Das alles wird dann auchnoch mit großen Zielen beschrieben.Es wird Zeit, dass in der Bundesregierung einmalOrdnung geschaffen wird. Sie müssen erstens aufhören,über Kompetenzen zu streiten.Zweitens brauchen wir wirklich auch im Rahmen derEnergiewende eine Gerechtigkeitswende; denn sin-kende Börsenstrompreise werden nicht an die Verbrau-cher weitergegeben, sondern nur an die Großindustrie,und die von CDU/CSU und FDP massiv ausgeweitetenAusnahmen bei der Stromsteuer – weit über die Roh-stoffindustrie hinaus – führen dazu, dass der Rest höhereStrompreise zahlt. Daneben verdienen an Windparks undSolardächern immer mehr Grundstücks- und Hauseigen-tümer, während die Mieter die Zeche zahlen.Es ist völlig klar, was zu tun ist.
– Entschuldigung, wir machen Ihnen doch Vorschläge.
Dann stimmen Sie doch zu! Wir wollen den Verbrau-chern das zurückgeben. Stimmen Sie doch zu, dass wirendlich ein neues Strommarktdesign machen!
Schaffen Sie einen Kapazitätsmarkt! Sorgen Sie dafür,dass wir endlich zu einer Koppelung zwischen Netzaus-bau und Ausbau der erneuerbaren Energien kommen!Das sind Vorschläge, für die Sie hier im Haus eine breiteMehrheit bekommen würden. Sie müssen es aber umset-zen, Herr Kollege. Es gibt kein Erkenntnisproblem, wirhaben kein Diagnoseproblem, sondern wir haben einmassives Umsetzungsproblem.Es gibt böse Zungen, die sagen, Herr Rösler als alterFreund der Atomenergie habe gar kein Interesse daran,dass das am Ende funktioniert. Ich glaube, das ist nichtso. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie die Energiewende wirk-lich wollen. Offensichtlich ist aber: Parteien, die jahr-zehntelang sozusagen auf die „Bruttoregistertonnenmen-talität“ der Atomenergie gesetzt haben, scheint dieFantasie dafür zu fehlen, sich vorzustellen, wie dasGanze intelligent hin zu mehr Dezentralität umgebautwerden kann, sodass ein möglichst hoher Anteil erneuer-barer Energie erreicht wird. Sie sind in Ihrem alten Den-ken verhaftet, und das führte dazu, dass Sie, als Sie sichhier hingestellt haben und beschrieben haben, was fehlt,Ihr eigenes Versagen beschrieben haben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentri-büne hat der Präsident der Nationalversammlung derSozialistischen Republik Vietnam, Herr Dr. NguyenSinh Hung, mit seiner Delegation Platz genommen. Ihnmöchte ich im Namen aller Mitglieder des Bundestagesherzlich begrüßen.
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28388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Präsident Dr. Norbert Lammert
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Sie haben in den letzten Tagen nicht nur in Berlin vielepolitische Gespräche geführt. Wir wünschen Ihnen fürdie weiteren Reformanstrengungen in Ihrem eigenenLand viel Erfolg.
Vielen Dank.Nun hat der Kollege Michael Fuchs für die CDU/CSU das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue michsehr, dass unsere vietnamesischen Freunde heute hiersind. Wir möchten noch auf vielen Gebieten mit ihnenzusammenarbeiten. Eine ganze Reihe von Punkten ha-ben der Bundeswirtschaftsminister und der Bundes-außenminister in Vietnam ja schon angeschoben. Gottsei Dank wird auch in Bälde das Deutsche Haus gebaut.Darüber freuen wir uns.
Herr Kollege Gabriel, Freundschaft in der SPD er-kennt man schon daran, dass Ihr Kanzlerkandidat bei derRede seines Parteivorsitzenden nicht im Deutschen Bun-destag war. Daran lässt sich ablesen, wie sich die Situa-tion darstellt. Ich würde an Ihrer Stelle nicht über anderelästern.
– Die Bundeskanzlerin war bei der Rede des Bundes-wirtschaftsministers anwesend. Die Bundeskanzlerin hatauch noch ein paar Dinge zu tun, die sie das eine oderandere Mal daran hindern können, im Plenum zu sein.Aber wenn Ihr eigener Kanzlerkandidat es noch nichteinmal für nötig hält, bei der Rede seines Parteivorsit-zenden anwesend zu sein, dann ist das bezeichnend da-für, was er von ihm hält, nämlich genauso viel wie ich.
Herr Kollege, Sie haben eben über das Thema Ener-gieeffizienz gesprochen. Energieeffizienz ist mit Sicher-heit eine der besten Möglichkeiten, in Deutschland Ener-gie einzusparen. Da sind wir uns einig. Insofern frage ichmich, warum Ihre Mehrheit im Bundesrat seit mehrerenMonaten 1,5 Milliarden Euro blockiert,
die wir in die Sanierung von Häusern stecken wollen,um sie energieeffizienter zu machen. Das ist dochscheinheilig, was Sie hier machen. Sie haben doch garnicht das Recht, darüber zu reden, wenn Sie nicht einmalin der Lage sind, solche Dinge umzusetzen.
Diese Scheinheiligkeit, die Sie hier permanent an denTag legen, geht mir ziemlich auf den Geist. Sie wissenganz genau, warum diverse Ausbaumaßnahmen nichtvorgenommen werden. Sie wissen ganz genau, dass Siesie vor Ort verhindert haben. Das ist mehr als traurig. Inall den Ländern, in denen wir Ausbaumaßnahmen vorha-ben, sitzen Sie zum großen Teil mit in der Regierung.Und das ist der Grund, warum es nicht vorangeht.
Meine Damen und Herren, Gott sei Dank ist dieStromversorgung in Deutschland zuverlässig. Sie funk-tioniert. Laut der Bundesnetzagentur – und auch dassollten Sie wissen, Herr Gabriel; Lesen bildet – ist es imletzten Jahr insgesamt zu nur rund 15 Minuten Stromun-terbrechung in Deutschland gekommen. Wir sind damitWeltspitze. Es gibt kein einziges Land, in dem es so we-nige Stromunterbrechungen gab wie bei uns. In denUSA waren es bis zu 500 Minuten, in Frankreich immer-hin bis zu 100 Minuten. Die Qualität der Stromversor-gung ist gut, und das ist in einem so hoch industrialisier-ten Land wie unserem auch notwendig. DieChipindustrie in Deutschland könnte nicht funktionie-ren, wenn es eine solch gute Stromversorgung nichtgäbe.Wir wissen aber auch ganz genau, dass aufgrund derMaßnahme, die wir mit vollem Herzen ergriffen haben– ich meine den Ausstieg aus der Kernenergie und dasAbschalten diverser Anlagen –,
jetzt eine Kompensation her muss. Es nützt uns über-haupt nichts, darüber zu diskutieren, dass im Jahre
2020 der Anteil von erneuerbaren Energien bis zu57 Prozent betragen kann, wenn wir nicht gleichzeitig si-cherstellen, dass permanent Strom zur Verfügung steht.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28389
Dr. Michael Fuchs
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Denn es ist dummerweise so, dass der Wind nicht immerweht.
Ich habe mir einmal beispielhaft von der Bundesnetz-agentur das Diagramm eines Tages ausdrucken lassen,das ich Ihnen gerne zeige. Hier sehen Sie den geringenBeitrag der erneuerbaren Energien zur Lastdeckung am13. Februar 2013. Die kleine Fläche unten – das könnenSie sogar von Ihren Sitzen aus sehen – zeigt den Anteilder erneuerbaren Energien.
Die große Fläche darüber stellt den Anteil konventionel-ler Energie dar, die erzeugt werden musste, weil dieserTag ein wunderschöner grauer Wintertag war, der Him-mel voller Wolken und windstill. Es herrschte eine typi-sche Inversionswetterlage, und diese Inversionswetter-lage hatten wir in den letzten sechs Wochen leiderpermanent. Das zeigt, dass wir nach wie vor einen ver-nünftigen Kraftwerkspark brauchen, der in dem Momentanspringt,
in dem keine erneuerbare Energie produziert wird. Dieeinzige grundlastfähige erneuerbare Energie, die es über-haupt gibt, ist die Biomasse. Alles andere ist nicht mach-bar.Und machen wir uns bitte auch nichts vor: Wir kön-nen noch so viel darüber reden, aber in diesem Land ha-ben wir keine Speicherkapazitäten. Eine Ausnahme sinddie paar Stauseen, die wir haben, und die wenigen Mög-lichkeiten, mit Hochdruckwasserspeichern zu arbeiten.Ich würde Ihnen in diesem Zusammenhang einmal raten,nach Baden-Württemberg zu fahren; dort tragen Sie Re-gierungsverantwortung. Fahren Sie doch einmal in denHotzenwald, und schauen Sie sich an, was Ihre Kollegendort machen.
Ihre Kollegen verhindern dort seit langer Zeit den Baueines großen Pumpspeicherwerkes, das uns bei der Si-cherstellung der Versorgung helfen könnte.
– Das ist doch Ihre Gegend. Das müssten Sie eigentlicham besten wissen.Dann sage ich Ihnen auch: Wir müssen beim Netzaus-bau genau so weitermachen. Wer den Netzausbau will,der muss auch dafür sorgen, dass er in allen Bundeslän-dern umgesetzt wird: Der muss für die Thüringer Strom-brücke sorgen.
Der muss auch in allen anderen Bereichen dafür sorgen,dass es vorangeht. Das sollten wir schon gemeinsam tun.
Herr Kollege Fuchs, darf Ihnen der Kollege Krischer
eine Frage stellen?
Aber selbstverständlich.
Herr Fuchs, Sie haben gerade über Pumpspeicher-
kraftwerke gesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die
Firma Trianel ein Pumpspeicherkraftwerk in der Eifel
plant, Ihre Parteifreunde aber nicht bereit sind, ein er-
gebnisoffenes Genehmigungsverfahren zuzulassen, Ihre
Bürgermeister und Landräte den Bau dieses Pumpspei-
cherkraftwerks verhindern, ein Mitglied dieser Bundes-
regierung, in dessen Wahlkreis das geplante Pumpspei-
cherkraftwerk liegt, nicht bereit ist, einen Aufruf zu
unterzeichnen, wenigstens ein ergebnisoffenes Geneh-
migungsverfahren zuzulassen, weil man sich dem Popu-
lismus vor Ort anheimgibt und sich nicht traut, das
Kreuz gerade zu machen, um diese wichtige Maßnahme
für die Energiewende zu realisieren?
Ich frage Sie: Ist Ihnen das bekannt?
Ich weiß, dass dieses Pumpspeicherkraftwerk geplantwird. Wir warten jetzt als Allererstes eine vernünftigePlanung ab, die mit Ihrer Landesregierung erst einmalabzustimmen ist.
– Herr Krischer, jetzt hören Sie bitte genauso zu, wie ichIhnen staunend zugehört habe. – Ihre Landesregierung inRheinland-Pfalz hat beschlossen, autark zu werden.
Eben wurde gesagt: Das wollen wir gar nicht. Wir wol-len nicht 16 verschiedene Energieversorgungen. Im ent-sprechenden Koalitionsvertrag steht – ich empfehle Ih-nen das Lesen dieses Koalitionsvertrages –,
dass bis zum Jahre 2030 Rheinland-Pfalz autark seinsoll, und zwar mit einer Stromversorgung ausschließlichaus erneuerbaren Energien. Gleichzeitig soll Rheinland-Pfalz bei ausschließlicher Versorgung mit erneuerbarenEnergien auch noch zum Stromexporteur werden.
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28390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Dr. Michael Fuchs
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Wir haben in Rheinland-Pfalz keine Möglichkeit, Energiesinnvoll zu speichern. Das Trianel-Projekt wird diesesProblem nie lösen.
Verspargelung der Landschaft, Zerstörung von Land-schaftsschutzgebieten – all das verursachen Sie.
Es wird höchste Zeit, dass wir gemeinsam in diesemHohen Hause bereit sind, den Leitungsausbau stärker zuunterstützen. Wir haben dazu jetzt die nötigen Gesetze.Wir haben über den Netzentwicklungsplan entspre-chende Möglichkeiten geschaffen. Wir haben auch eineganze Reihe von anderen Maßnahmen ergriffen. Gott seiDank haben wir beschlossen, dass es – Herr Bundes-minister Rösler hat es eben gesagt – nur noch eine einzü-gige Gerichtsbarkeit gibt. Das ist notwendig, damit wirüberhaupt so schnell wie möglich die Netze ausbauen.
Wenn wir das nicht tun, dann funktioniert die ganzeEnergiewende nicht; denn was nützen uns die schönstenOffshorewindanlagen, wenn der Strom nicht dahinkommt, wo er gebraucht wird? Also, sorgen Sie an aller-erster Stelle in den Bundesländern, in denen Sie Verant-wortung tragen, dafür, dass auch dort der Netzausbau soschnell wie möglich umgesetzt wird.
Ich sage Ihnen eines: Es ist völlig richtig, dass dieBundeskanzlerin in diesem Zusammenhang die Minis-terpräsidenten eingeladen hat. Diese haben genauso vielVerantwortung dafür zu tragen, dass die Energiewendefunktioniert. Sie funktioniert nur dann, wenn das ge-meinsam geschieht, und zwar in allen Bereichen diesesLandes. Wenn nicht jeder an seiner Stelle seine Arbeitmacht – ich habe das Gefühl, Sie glauben, wir könntendas hier alleine machen, ohne dass die Bundesländermithelfen –,
dann funktioniert das nicht. Eine solche Aufgabentei-lung kann in unserem Land einfach nicht funktionieren.Meine Damen und Herren, es wird Zeit, dass die Bun-desländer das begreifen und ihre Blockadehaltung imBundesrat aufgeben.
Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dietmar
Bartsch nun das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächstfreue ich mich, Herr Fuchs, dass Sie die Genossen derKP so freundlich begrüßt haben. Das ist wirklich sehrnett. Ich will mich dem ausdrücklich anschließen.
Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung zu HerrnRösler. Herr Rösler, ich glaube, Sie waren noch zu sehrim Parteitagsmodus der FDP. Sie haben auf Ihrem Par-teitag die schöne Geschichte von Brüderle und Schwes-terchen erzählt, die im Märchen sehr gut ausgeht. So wieSie allerdings an die Energiewende herangehen, wirddieses Märchen leider nicht gut ausgehen. Sie regierenseit vier Jahren. Wer sich die Ergebnisse anschaut, das,was Sie gerade auch bei dem heutigen Thema vorzule-gen haben, sieht, dass das wirklich mehr als dürftig ist.Sie haben insgesamt dazu beigetragen, dass es bei denMenschen und Unternehmen in diesem Land Verunsi-cherung gibt.Es wundert mich schon sehr, dass Herr Fuchs auf ein-mal als Kämpfer für den Atomausstieg dasteht.
Ich habe das ein bisschen anders in Erinnerung: Da gabes ein „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“.All das ist schon sehr eigenartig.Was wir heute in erster Lesung behandeln, hat mit ei-nem verantwortungsbewussten Beitrag zur Energie-wende sehr wenig zu tun. Man fragt sich sowieso immer:Ist das die Bundesregierung? Ich habe gerade gehört,dass Herr Altmaier und Herr Rösler gar nicht mehr zu-sammen in den Umweltausschuss gehen, weil sie sichdort wahrscheinlich beharken würden. Das ist also wirk-lich sehr wenig Bundesregierung.Im Kern handelt es sich schlicht und ergreifend umeinen Gesetzentwurf, durch den die Profite der Energie-monopolisten und die Profite der Netzbetreiber weiterabgesichert werden sollen. Denen ist es im Übrigen völ-lig egal, welcher ökologische und welcher soziale Preisfür welche Energie bezahlt werden muss, die transpor-tiert wird. Versorgungssicherheit übersetzt Schwarz-Gelb letztlich mit Profitsicherheit.
Natürlich wissen auch wir: Energietransport brauchtmoderne Netze. Da muss etwas geschehen. Aber wer dieEnergiewende wirklich will, der muss dafür einen Planhaben, auch was die Netze betrifft. Dabei muss dasThema Energieverbrauchssenkung natürlich eine wich-tige Rolle spielen. Dann kommt man aber im Ergebnis
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28391
Dr. Dietmar Bartsch
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zu der Erkenntnis, so viel Netz wie nötig, und nicht, soviel Netz wie möglich.
In dem Gesetzentwurf geht es um Rechtswegeverkür-zung und die Beschleunigung von Planungs- und Geneh-migungsverfahren. Das alles ist durchaus sinnvoll, aberlöst letztlich kein grundsätzliches Problem. Die Bundes-regierung hat eben keinen Plan, was die Energiewendebetrifft.Sie reden hier davon, dass man sich mit den 16 Län-dern ins Benehmen setzen muss. Aber es geht natürlichnicht, dass die Bundesregierung ansagt und die Länderzu folgen haben. Warum haben Sie eigentlich nicht dieBundesratsstellungnahme vom Februar bei Ihrem Ge-setzentwurf in irgendeiner Weise beachtet? Es gab aucheine Stellungnahme auf Initiative des Bundeslandes derBundeskanzlerin, das zufälligerweise auch meines ist,nämlich Mecklenburg-Vorpommern. Ist es Ignoranz oderhandwerkliche Schluderei, dass Sie das einfach nicht be-achten? Es darf nicht heißen: „Die Bundesregierung sagtan, und die Länder haben zu machen“, sondern das mussgemeinsam umgesetzt werden. Sie müssen sich von die-sem hohen Ross herunterbegeben.
Mit diesem Gesetzentwurf lassen sich die schwerenpolitischen Fehler bei der Planung und Durchsetzung derEnergiewendepolitik nicht korrigieren. So stärkt mannicht das dringend notwendige Vertrauen in die Energie-wende, und man organisiert sich auch keine Unterstüt-zung bei der Bevölkerung. Es gibt eher eine ganz großeVerunsicherung.Die wahren Innovationsfeinde sitzen auf der Regie-rungsbank. Was ist denn innovativ daran, eines der größ-ten Zukunftsprojekte in Deutschland, den Umbau derStromerzeugung, zwar politisch auszurufen, aber danneinfach zu hoffen, dass die notwendige Infrastruktur sichquasi von alleine plant und baut? Was ist innovativ da-ran, den großen Energiekonzernen in weiten Teilen diesePlanung zu überlassen, die schon betriebswirtschaftlichkeinen Grund sehen, die alten Kraftwerke der Konkur-renz regenerativer Energien auszusetzen? Was ist inno-vativ daran, die Netzplanung an den Bedürfnissen dieserKonzerne und ihrer Lobbygruppen auszurichten, obwohltechnisch eine dezentralere Stromerzeugung in effektivenEinheiten vor Ort, bürgernah, kostengünstig und flächen-deckend möglich ist?
Sie haben auch über Bürgerbeteiligung und Bürger-interessen geredet. Ich habe einmal nachgelesen, was inIhrem Gesetzentwurf zu Ziel und Problemstellung steht.Das kommt bei Ihnen überhaupt nicht vor.Was das Thema Bezahlbarkeit angeht, will ich auf ei-nes aufmerksam machen: Auf Seite 16 ist von einem„Anstieg der Netzentgelte auf Übertragungsnetzebeneund damit auch der Strompreise“ die Rede. Das ist offen-sichtlich ehrlich. Sie gehen davon aus, dass die Strom-preise steigen. Das ist letztlich ein Offenbarungseid inIhrem eigenen Gesetzentwurf, dass Sie hier nichts tunwollen und die Bürgerinnen und Bürger diejenigen seinsollen, die letztlich die Energiewende bezahlen. Daskann nicht sein.
Ich will auf eines hinweisen: Sie haben in Ihren Ko-alitionsvertrag hineingeschrieben, dass es eine unabhän-gige Netzgesellschaft geben soll. Das ist ein vernünftigerAnsatz. Das will die Linke auch. Wir wollen eine in öf-fentlicher Hand befindliche Netzgesellschaft.
Was ist in den vier Jahren passiert? Gar nichts ist pas-siert. Sie haben nichts in diese Richtung gemacht. Da-rum ist das, was sowohl SPD als auch Grüne vorschla-gen, durchaus vernünftig. Wir wollen, dass alles, wasöffentliche Daseinsvorsorge betrifft, in öffentlicher Handist. Das betrifft nicht nur die Bereiche Wohnen, Gesund-heit und Bildung, sondern auch die Energienetze. Dasschreiben Sie zwar in Ihrem Koalitionsvertrag, aber Siebrechen ihn ein weiteres Mal.Die Energiewendepolitik muss letztlich vom Kopf aufdie Füße gestellt werden. Die Frage ist: Wollen wir de-zentrale Energieversorgung in Bürgerhand, oder erhaltenwir die Macht der großen Vier? Es geht dabei nicht an,zu sagen: Die Bürgerinnen und Bürger dürfen die Ener-giewende bezahlen. Es muss vielmehr darum gehen, zurekommunalisieren und auch die Neuvergabe von Netz-konzessionen durchzusetzen sowie vieles andere mehr.Deswegen sage ich ganz klar und eindeutig: DieEnergiewende ist bei dieser Koalition in schlechten Hän-den und in falschen Händen. Statt einer Politik, mit derVertrauen zurückgewonnen werden kann,
betreiben Sie eine Politik, der alles zuzutrauen ist. Stattden Menschen Sicherheit zu geben, dass sie morgennoch Strom, Wasser und Gas bezahlen können, sorgenSie sich um die Profite der Energiemonopolisten und derNetzbetreiber. Diese Politik, meine Damen und Herren,muss im Herbst abgewählt werden.
Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Breil für die
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ja, die Latte liegt hoch.
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28392 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Klaus Breil
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Aber ich habe viel Sport in meinem Leben gemacht. Ichbemühe mich immer, auch die Höhen zu erreichen.Herr Dr. Bartsch, eine Bemerkung vorab: Die Ener-giewende ist bei dieser christlich-liberalen Koalition inguten Händen. Ich widerspreche Ihnen ausdrücklich.
„Ja zum Netzausbau. Damit die Energiewende ge-lingt.“ Das ist der Titel, unter dem die Bundesregierungmit ihrer Informationsinitiative den Bürgerinnen undBürgern bundesweit die Dringlichkeit des Netzausbausin Deutschland näherbringt; denn nur mit neuen Strom-leitungen können wir erneuerbare Energien überallnutzen. Doch diese Kampagne in Zeitungen sowie anHauswänden und Bushaltestellen ist nur das Sichtbare,sozusagen das, was nach außen passiert. Tatsächlich aberhaben die Bundesregierung sowie die christlich-liberaleKoalition schon eine ganze Reihe von Gesetzen für denschnelleren Ausbau unserer Stromautobahnen beschlos-sen und damit zur Erreichung des Zieldreiecks Bezahl-barkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglich-keit beigetragen.Gestatten Sie mir einen kleinen Exkurs. Einige vonuns haben gestern an der Veranstaltung der AmCham,der amerikanischen Handelskammer, teilgenommen.Dort hat der CEO einer europäischen Tochtergesell-schaft eines großen amerikanischen Grundstoffprodu-zenten der Chemieindustrie ausgeführt, welche Investi-tionen die Unternehmen für die Zukunft planen. Wennwir nicht darauf achten, dass die Energiepreise inDeutschland bezahlbar bleiben, dann gehen an uns mit-telfristig und langfristig wichtige Investitionen vorbei.Deshalb muss das EEG dringend reformiert werden.
Zurück zu den Netzen. Wir sind mit dem Netzaus-baubeschleunigungsgesetz einen großen Schritt hin zukompakteren Planungs- und Genehmigungsverfahrengegangen. Meine Damen und Herren von der Opposi-tion, Rot-Grün hat zwar das EEG auf den Weg gebracht,aber die spätere Entfaltung völlig unterschätzt und fürden Netzausbau nichts getan.
Das holen wir nun nach. Erst wir haben im Energiewirt-schaftsgesetz ein neues, strukturiertes und nachvoll-ziehbares Verfahren zur Planung des Netzausbaubedarfseingeführt. Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes überMaßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elek-trizitätsnetze, über das wir heute in erster Lesung bera-ten, ist Teil davon. Insgesamt öffnen wir den Prozess derNetzplanung durch zahlreiche Beteiligungsmöglichkei-ten einer interessierten Öffentlichkeit. Das ist unseroberster Grundsatz.Auf Grundlage der angesprochenen Gesetze habendie vier Übertragungsnetzbetreiber schon Mitte des letz-ten Jahres den Netzausbaubedarf errechnet. Die Ergeb-nisse haben scheinbar reflexartig zu viel Kritik aus denReihen der Opposition geführt.
An dieser Stelle sei mir noch ein deutlicher Hinweisin Richtung Opposition erlaubt: Aus Ihren Reihen spre-chen noch immer ein paar Unbelehrbare im Energiebe-reich von Konzernen, auch bei den Übertragungsnetzbe-treibern, und sie suggerieren damit der Öffentlichkeit,dass diese Unternehmen nur daran interessiert seien,Atom- und Kohlestrom zu transportieren, und dass sienur dafür so viele Netze und Leitungen bräuchten.
Zu den Fakten: Das Übertragungsnetz mit 50 Hertzgehört zu 40 Prozent dem australischen Infrastruktur-fonds IFM; 60 Prozent gehören einem niederländischenNetzbetreiber. Das Übertragungsnetz von Amprion ge-hört unter der Führung der Commerzbank mehreren Un-ternehmen aus der Versicherungsbranche. Das Übertra-gungsnetz von TenneT gehört der deutschen Tochtereines niederländischen Staatsunternehmens. Das Über-tragungsnetz von TransnetBW ist eine 100-prozentigeTochter von EnBW, dessen Hauptanteilseigner das rot-grün geführte Baden-Württemberg ist.Meine Damen und Herren von der Opposition, sinddas für Sie nicht Hinweise genug, dass dort in den Unter-nehmen keine Lobbyisten alter Energiestrukturen mehrsitzen und Sie mit Ihrem notorischen Misstrauen gegen-über Unternehmen vollkommen falsch liegen?
Oder machen Sie das ebenso mit Absicht wie ClaudiaRoth, die der Öffentlichkeit am Montag weismachenwollte, dass 16 000 Menschen an den Folgen der Atom-katastrophe von Fukushima starben?
Frau Roth, Sie haben damit in den sozialen Netzwerkennicht nur einen Shitstorm – Frau Präsidentin, Sie erlau-ben mir bitte diesen Ausdruck –, sondern einen Tsunamiausgelöst.
Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr Ar-gument, dass die Übertragungsnetzbetreiber absichtlichden Netzbedarf zu hoch veranschlagen, um die Energie-wende teuer zu machen, ist ein Musterbeispiel für Ihrensystematischen Populismus.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28393
Klaus Breil
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Es geht um Baurecht. Baurecht ist Ländersache, und IhreFreunde in den Landesregierungen sind dringend aufge-rufen, konstruktiv hier mitzuwirken, dass es schnellergeht.
Ich möchte auf den Ablauf des jetzt etablierten struktu-rierten Verfahrens zum Netzausbau zurückkommen. Dervon den Übertragungsnetzbetreibern berechnete Netzaus-baubedarf wurde der Öffentlichkeit vorgestellt. Mehr als2 100 Akteure nahmen zum NEP 2012 ausführlich Stel-lung. Dann überprüfte die Bundesnetzagentur gemeinsammit Wissenschaftlern die Plausibilität der Ergebnisse undlud zu weiteren Konsultationen. Insgesamt kamen beidem Konsultationsverfahren weit über 5 000 Stellung-nahmen zusammen; diese wurden ausgewertet. LetztesJahr, Ende November, lag der Netzentwicklungsplan2012, kurz: NEP 2012, vor. Er wurde der Bundesregie-rung als Entwurf für einen Bundesbedarfsplan präsen-tiert.Als Vorhaben des Bundesbedarfsplans definieren wirin dem heute zu beratenden Gesetzentwurf solche Vorha-ben, für die die energiewirtschaftliche Notwendigkeitund der vordringliche Bedarf bestehen. Wir verkürzenaußerdem im Interesse der zügigen Umsetzung des Ener-giekonzepts der Bundesregierung
mit dem heute zu beratenden Gesetz zur Beschleunigungder Realisierung der Vorhaben den Rechtsweg, ohne dieRechte der Bürgerinnen und Bürger zu beschneiden. Da-bei wird die Transparenz des Verfahrens natürlich voll-ständig beibehalten. Das Bundesverwaltungsgerichtwird zukünftig als erste und letzte Instanz für Rechts-streitigkeiten in Bezug auf Vorhaben des Bundesbedarfs-plans zuständig sein.Meine Damen und Herren, mit dem Bundesbedarfs-plangesetz gehen wir den letzten legislativen Schritt füreinen strukturierten, schnellen und vor allem kontinuier-lichen Netzausbau mit umfassender Bürgerbeteiligung;ich wiederhole: im Interesse der zügigen Umsetzung desEnergiekonzepts der Bundesregierung.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – „Kontinuierlich“ sage ich
deswegen, da gerade erst Anfang März der Entwurf für
den NEP 2013 sowie der Offshorenetzentwicklungsplan,
der sogenannte ONEP, von den Übertragungsnetzbetrei-
bern vorgelegt wurde.
Vielen Dank.
Bärbel Höhn hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben eben ein seltsames Schauspiel erlebt. DieseRegierung hat wie keine andere Regierung zuvor Pla-nungsunsicherheit geschaffen.
Denn Sie sind dafür verantwortlich: rein in die Atom-kraft, raus aus der Atomkraft. Die Laufzeitverlängerungwar eine absolute Fehlentscheidung, was die Energie-wende angeht.Diese Bundesregierung gefährdet in unserem LandArbeitsplätze im Bereich der Energiewende, die Riesen-chancen bietet. Schwarz-Gelb vergeigt die Energie-wende. Schwarz-Gelb gefährdet Arbeitsplätze in diesemLand. Herr Rösler, das haben Sie mit dieser Rede nichtwiedergutmachen können. Sie haben gezeigt, dass Sie esnicht können. Das wissen wir nun.
Sie haben einen Gesetzentwurf zur Beschleunigungdes Netzausbaus vorgelegt. In der Funktion als Wirt-schaftsminister sind Sie zwar noch nicht so lange imAmt. Aber der neue Spitzenkandidat der FDP war zuvorfür das Wirtschaftsministerium verantwortlich.Im Koalitionsvertrag haben Sie festgeschrieben, dassder Netzausbau eine wichtige Sache ist. Herr Brüderlehat gesagt, das habe höchste Priorität. Herr Rösler, Siehaben versprochen, dass Sie liefern wollen. Was habenSie aber geliefert? Sie selbst sagen, 2 900 KilometerNetz müssten ertüchtigt werden, 2 800 Kilometer müss-ten neu gebaut werden. Sie haben aber noch nicht einmal300 Kilometer geschafft. Sie haben nicht nur nicht gelie-fert; Sie haben auch noch Schrott geliefert, Herr Rösler.An diesen Fakten und an nicht mehr und nicht wenigerwerden Sie gemessen.
Was Sie abgeliefert haben, führt zu einem dramati-schen Debakel. Die Windparks sind bis heute nicht ange-schlossen. Das hat gravierende Folgen. Denn dadurchwerden Haftungskosten fällig. Was machen Sie aber?Anstatt das Problem zu lösen, wälzen Sie diese Haf-tungskosten, die tendenziell steigen, auf die Bevölke-rung ab. Damit sind Sie verantwortlich für Energiepreis-steigerungen, die die Bevölkerung treffen, Herr Rösler.Sie haben die Strompreise für die Bevölkerung nachoben getrieben, weil Sie keine richtige Politik betreibenund weil Sie nicht dafür sorgen, dass die Windkraftanla-gen angeschlossen werden können.
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28394 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Bärbel Höhn
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Wenn Sie etwas machen, dann machen Sie das Fal-sche. Schauen wir uns einmal das Erneuerbare-Energien-Gesetz an. Hierzu hat der Kollege Altmaier einen Vor-schlag vorgelegt. Er hat gesagt, dass wir etwas ändernmüssen, weil die Kosten zu hoch sind. Herr Rösler, in ei-nem Vermerk aus Ihrem Ministerium steht zu den vorge-schlagenen Änderungen von Herrn Altmaier: Das bedeu-tet den faktischen Ausbaustopp für Neuanlagen. – Damithat Ihr Ministerium recht. Anstatt das abzumildern, weilSie eigentlich erneuerbare Energien fördern müssten, le-gen Sie noch einen drauf, machen noch mehr Ausbau-stopp und sagen, dass das ein Weg ist, mit dem Sie ein-verstanden sind.Herr Fuchs hat sich vorhin versprochen. Es ist nett,dass Sie hin und wieder ehrlich sind, Herr Fuchs. Sie ha-ben sich gegen eine Verspargelung der Landschaft aus-gesprochen. Das ist aber genau die Wirkung der Vor-schläge, die hier gemacht worden sind. Bei derWindkraft sollen 40 Millionen Euro eingespart werden.Das sind gerade einmal 3 Cent pro Monat für einen Drei-bis Vierpersonenhaushalt. Wegen 40 Millionen Euro imJahr wollen Altmaier und Rösler die Windkraft im Sü-den stoppen. Damit gefährdet diese Regierung massivArbeitsplätze im Süden. Das ist nicht in Ordnung.
Das nächste Opfer sind die Windkraftanlagen auf demMeer. Diese geplanten Windkraftanlagen werden nichtgebaut werden. EnBW beispielsweise hat klar gesagt,die geplanten Windkraftprojekte im Meer nicht umzuset-zen.Zunächst einmal haben Sie mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz die Photovoltaikindustrie kaputtge-macht. Jetzt versuchen Sie auch noch, die Windkraftin-dustrie kaputtzumachen. Herr Rösler, das ist ein schlech-tes Zeugnis für einen Wirtschaftsminister. Ich kommeaus Nordrhein-Westfalen. Wenn Sie die Windkraft ka-puttmachen, zerstören Sie Arbeitsplätze in Nordrhein-Westfalen. Das wissen Sie sehr genau. Daher lassen Sieendlich von der Politik ab, Arbeitsplätze in diesem Landzu vernichten! Das ist nicht die Aufgabe des Wirt-schaftsministers.
Sie feiern einen Bundesnetzplan. Dann verhindernSie, dass Windparks, die an diese Netze angeschlossenwerden sollen, gebaut werden können. Das heißt, es wer-den Netze ins Nirgendwo gebaut, und am Ende zahlenwieder die Verbraucherinnen und Verbraucher die Ze-che. So geht es nicht.Der nächste Punkt betrifft die Energieeffizienz. DieseBundesregierung ist der größte Blockierer, was Energie-effizienz angeht.
Nie zuvor sind die Ziele der EU so blockiert worden, wiees diese Bundesregierung macht.
Sie haben die Einführung von Energiemanagementsyste-men verhindert. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass diewenigen Gelder, die wir noch im Energie- und Klima-fonds haben – 90 Millionen Euro –, nicht in den BereichEnergieeffizienz abfließen, weil die Rahmenbedingun-gen nicht stimmen. Am Ende sagen Sie: Okay, wir rei-ßen das Ziel der EU, bis 2020 20 Prozent Energie einzu-sparen. Wir machen es wie beim Reichtums- undArmutsbericht und schönen die Zahlen; dann wird dasGanze schon hinkommen. – Wir werden Ihnen nichtdurchgehen lassen, dass Sie die Realität schönen, son-dern werden Sie für diese Realität verantwortlich ma-chen.
Der nächste Punkt ist der Klimaschutz. Da ist es wirk-lich so, dass diese Bundesregierung an einem Strickzieht, aber jeder an einem anderen Ende. Da kommtnichts voran. Die Folge dessen ist, dass der CO2-Ausstoßin Deutschland 2012 – nicht 2011, als die Atomkraft-werke abgeschaltet worden sind – wegen des wenig am-bitionierten Klimaschutzes erstmals wieder gestiegen ist.Jetzt laufen Kohlekraftwerke, und die modernsten Gas-kraftwerke liegen still.
Das ist eine Fehlpolitik Ihrer Regierung. Sie haben zuverantworten, dass im Klimaschutz nichts mehr passiert.
Sie bremsen den Ausbau der erneuerbaren Energien.Sie blockieren die Steigerung der Energieeffizienz. Siebetreiben beim Klimaschutz eine Totalverweigerung. Sieentlasten die Industrie und schieben damit den Verbrau-chern die Kosten zu.Es gibt einen Satz – wir konnten ihn vor kurzem hö-ren –, der Ihre Politik insgesamt beschreibt. Der KollegeBrüderle hat auf dem Parteitag gesagt – das passt, wieich finde, genau auf die Politik dieser Bundesregierungund der FDP –: „Wir lassen nicht diese Fuzzis … unserLand regieren.“ Genau richtig: Diese Fuzzis, die dieEnergiewende vergeigen, lassen wir dieses Land nichtregieren, meine Damen und Herren.
Frau Höhn.
Wir ändern das.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28395
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Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ichhabe mir gerade überlegt, was denn draußen in der ge-schätzten Öffentlichkeit gedacht wird, wenn wir uns hiergegenseitig die Schuld zuweisen. Ich bin auch dafür be-kannt, dass ich mich ganz gern in die eine oder anderepolitische Rauferei einmische und dies auch mit großerFreude und Leidenschaft tue. Aber das, was wir hier tun,nämlich weit weg von Lösungen zu diskutieren, ist et-was, das draußen sicher irritiert. Wenn es dann irgend-wann abstrus wird, dann wird es, glaube ich, nochschlimmer.Frau Höhn, Sie sprechen hier von „Arbeitsplatzver-nichtung“.
Ich will betonen: Am Ende Ihrer Regierungszeit hattenwir 5,5 Millionen Arbeitslose, jetzt annähernd dieHälfte.
Man muss doch einmal sagen, wie da die Welt aussieht.Man kann uns viel vorhalten. Aber uns und dem Wirt-schaftsminister vorzuhalten, wir würden „Arbeitsplatz-vernichtung“ betreiben,
verkennt doch die Tatsachen und ist so weit weg von derRealität, dass einem gar nichts einfällt, was man dazu sa-gen soll.
Ich würde mir wünschen, meine Damen und Herren,dass wir bei allem Wahlkampfgeplänkel einfach malfeststellen – das ist das Einfachste –: Dieses Projekt istnicht trivial; es ist ein schwieriges Projekt, wenn man sowill, ein Generationenprojekt.Ein Beispiel, das Sie gebracht haben, eignet sich ganzgut, um dies aufzuzeigen: die Offshoreanbindung. Siemachen es sich leicht und sagen: Ihr habt da um dieFrage der Haftung und was auch immer gerungen. Siesagen weiter, angeblich sei es schiefgegangen – ich be-streite das –, und jetzt müsse man teuer dafür zahlen,dass es einen Verzug bei der Anbindung der Offshore-parks gibt. Die Realität sieht momentan aber ganz andersaus. Ich empfehle Ihnen: Sprechen Sie mit den Akteu-ren!Aktuell gibt es folgende Situation: Wir bauen Leitun-gen, aber die anderen Akteure kommen ihrem Verspre-chen, Windräder aufzustellen, nicht nach, weil sie nichtüber die entsprechenden Kapazitäten verfügen. Wir wer-den also in Zukunft Plattformen im Meer haben, aberkeine Windräder darauf. Ich sage das deshalb, meine Da-men und Herren, weil ich zeigen will, dass die Realitätviel komplizierter ist als die einfache, platte Diskussion,die wir leider Gottes hier im Deutschen Bundestag füh-ren.Ich weise auch darauf hin, dass wir immer gesagt ha-ben: Das Ganze wird nicht nur kompliziert, sondernauch teuer. – Ich gebe für meinen Teil offen zu, dass ichdamals für die Laufzeitverlängerung war, weil ich derfesten Überzeugung war: Wir brauchen die Laufzeitver-längerung, weil wir Zeit und Geld für den Ausbau der er-neuerbaren Energien benötigen. Nun hat Fukushima dieSachlage geändert. Man war dann an dem Punkt, dassman demokratisch entscheiden musste: Wir schlagen ei-nen anderen Weg ein. – Das war eine demokratische Ent-scheidung. Die hat aber doch an unserer Motivation, unsmit dem Kostenthema zu beschäftigen, nichts geändert.Mir tut es heute noch in der Seele weh, dass man sichhier teilweise als Atomkraftlobbyist beschimpfen lassenmusste. Das ärgert mich, das sage ich Ihnen ganz offen.Uns ist es immer um die Wirtschaft gegangen, also umdie Frage: Wie finanzieren wir denn das Ganze?Natürlich fallen auch mir massenweise Vorwürfe ein.Ich könnte sagen: Sie – die Grünen als Erste – haben sogetan, als ginge das alles zum Nulltarif. Ich nehme an,dass viele von Ihnen alte Club-of-Rome-Vorhersagen imKopf hatten, die besagten, dass die fossilen Brennstoffeeinmal so teuer würden, dass die erneuerbaren Energienwettbewerbsfähig sind. Ich könnte auch sagen: Sie ha-ben den Sprengsatz an das EEG dadurch gelegt, dass Siemit der Photovoltaik zu früh und zu teuer an den Marktgegangen sind, was jetzt riesige Kosten verursacht, diewir als Rucksack mit uns herumschleppen.
Aber das ist Schnee von gestern. Wir müssen unsdoch jetzt damit beschäftigen, wie die ganze Geschichteweitergehen kann. Ich sage Ihnen auch: Man kann in-haltlich zu der Strompreisbremse von Peter Altmaier undHerrn Rösler stehen, wie man will.
Aber zumindest sind doch auf Ihrer Seite ein paar Kolle-gen aufgewacht.
Die SPD hat plötzlich gemerkt: Es geht um ein sozialesProblem. Herr Gabriel hat zu meiner großen Überra-schung und Freude jetzt angesprochen, dass es auch umein industriepolitisches Problem geht. Klar! Aber, Herr
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28396 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Dr. Georg Nüßlein
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Gabriel, Sie haben es zugelassen, dass der Herr Trittindurch die Lande zieht und sagt – teilweise mit verloge-nen Argumenten –, wir hätten da ungerechtfertigte Be-freiungen ausgesprochen und würden die Industrie be-günstigen.
Ich bitte Sie dringend, dieses industriepolitische Themaauch einmal bei den Grünen zu verankern.
Sie haben heute hier eine Lösung angeboten: dieMehrwertsteuer auf die EEG-Umlage abzuschaffen.
– So habe ich es verstanden. Sie haben gesagt: Redenwir an der Stelle über die Mehrwertsteuer.
– Doch.
Sie haben an der Stelle klipp und klar von der Mehrwert-steuer gesprochen.
Das ist ein Punkt, bei dem ich mich frage, wie die Län-der darauf reagieren werden.
Sie kassieren nämlich knapp die Hälfte der Einnahmenaus der Mehrwertsteuer.
Auch wenn man sie, was noch europapolitisch ginge, aufeinen niedrigeren Satz reduzieren würde, weiß ich doch,was die Länder am Schluss von dem halten, was Sie hierpredigen – das ist doch bei der Stromsteuer dieselbeThematik –: nämlich gar nichts. Der Kollege Fuchs hatdeutlich darauf hingewiesen, wie groß die Freude undSpendabilität auf Ihrer Seite war, als es darum ging, beider Energieeffizienz Steuervorteile bzw. Steueranreizezu schaffen. Da war bei Ihnen nichts zu holen.
Ich sage es Ihnen ganz offen: Das wird bei diesemThema wohl genauso sein.
Ich will jetzt nicht über die Strompreisbremse spre-chen,
weil wir hier ja über Infrastruktur reden. Das ist nämlichdas, was jetzt auf der Tagesordnung steht. Ich will Ihnenaber auch sagen: Wir vonseiten der CSU werden natür-lich dafür sorgen, dass es keine Eingriffe in Bestands-anlagen geben wird, weil wir bei diesem Thema Verläss-lichkeit brauchen. So viel kann man an der Stelle sagen.
Aber es ist ja ein Verhandlungsangebot des Ministersgewesen, und über das muss man natürlich reden unddiskutieren. Das parlamentarische Verfahren ist so, wiees ist.Nun war Bayern hier mehrfach Thema, und ein CSU-Abgeordneter vertritt natürlich zuallererst seine Heimat,also Bayern.
Man kann natürlich sagen, dass es in Bayern immer ei-nen gewissen Separatismus gibt. Das mag man vielleichtso sehen wollen.
– Herr Gabriel, da fallen mir genügend Gründe ein, zumBeispiel dass es den Bayern langsam stinkt, wenn sieden Rest der Republik finanzieren müssen.
Aber dass man uns dann noch gewissermaßen juvenileAutarkiefantasien unterstellt, das halte ich schon für ei-gentümlich.
Was hat denn der bayerische Ministerpräsident gesagt?Er hat gesagt: Wir brauchen natürlich Wertschöpfung imLand: im Bereich der erneuerbaren Energien, aber natür-lich auch im Bereich der Gaskraftanlagen.
Das brauchen wir: Wertschöpfung im Land. Ich bitte,zumindest wenn es um die erneuerbaren Energien geht,diejenigen, die etwas davon verstehen, anzuerkennen,dass wir einen gewissen regionalen Ausgleich brauchen.Es macht doch keinen Sinn, im Norden die Strompro-duktion zu konzentrieren und uns dann mühsam zu über-legen, wie man den Strom dorthin bringt, wo er ge-braucht wird, nämlich im Süden. Das ist doch nicht daseigentliche Anliegen.Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Ich für meinenTeil weiß aufgrund der Historie, dass Bayern diesenwirtschaftlichen Aufstieg einer Entscheidung in den1960er- und 1970er-Jahren verdankt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28397
Dr. Georg Nüßlein
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– Dem Länderfinanzausgleich auch. Aber das, was wirmal bekommen haben, zahlen wir jetzt zurück, und zwarkomplett, in einem Jahr.
Das Ganze ist der Tatsache geschuldet, dass klugePolitik entschieden hat – übrigens hat dies auch die SPDentschieden –, dass wir im Süden eine eigene Energie-versorgung brauchen. Nun kann man darüber diskutie-ren, ob es damals richtig war, auf die Kernenergie zu set-zen.
Das ist Schnee von gestern. Jetzt aber müssen wir Über-legungen zur Wertschöpfung vor Ort, also im Süden, an-stellen und darüber, wie es uns gelingt, über die Netzeden Strom von Norden nach Süden zu transportieren.Das ist doch eine zentrale Fragestellung. Sie zu behan-deln, haben wir wenig Zeit; schließlich werden Grafen-rheinfeld 2015 und Gundremmingen Block B 2017 ab-geschaltet.
Wissen Sie, was das letztendlich bedeutet?
Herr Kollege, möchten Sie noch eine Zwischenfrage
des Kollegen Kelber zulassen?
Ja, gern.
Bitte.
Wir reden ja über Versorgungssicherheit. Gerade in
dem Augenblick, als ich mich zu meiner Zwischenfrage
meldete, haben Sie Grafenrheinfeld erwähnt. Gestern be-
kamen wir aus Sachsen-Anhalt und Thüringen die Mel-
dung, dass dort in 2012 die im Hinblick auf die Abschal-
tung von Grafenrheinfeld notwendige Verstärkung der
Netze abgeschlossen wurde. Können Sie mir die Frage
beantworten, warum man bei diesem in mehreren Bun-
desländern gleichzeitig begonnenen Projekt in zwei
Bundesländern bereits fertig ist, während in Bayern sei-
tens der Bayerischen Staatsregierung noch nicht einmal
das Genehmigungsverfahren gestartet wurde?
Ich kann Ihnen an dieser Stelle keine Fragen für die
Bayerische Staatsregierung beantworten; das wissen Sie
genau.
Aber Sie können sich, was den Freistaat angeht, da-
rauf verlassen, dass hier von den richtigen Leuten die
bayerischen Interessen so vertreten werden, dass dieses
Problem gelöst sein wird, bis wir den Strom aus dem
Norden brauchen. An uns wird das sicher nicht schei-
tern. Sie wissen sehr genau – da wird es kein Problem
geben –, dass wir in Bayern die Durchsetzungskraft ha-
ben, die Ihnen in anderen Ländern in großem Maße fehlt.
Ich kann mit Blick auf meine Redezeit leider nicht
mehr all das aufzählen, was für den Netzausbau gemacht
wurde.
– Ich muss es Ihnen auch nicht vorlesen, weil Sie es ja
wissen. Sie bestreiten vorsätzlich, es zu wissen. Sie tun
so, als ob wir da in Verzug wären, weil es Ihnen um
Wahlkampferfolge geht.
Dem Thema wird das nicht gerecht. Eigentlich müssten
Sie anerkennen, dass wir im Plan sind, dass wir Bauzei-
ten beschleunigen, dass wir Pläne vorantreiben und Ab-
stimmungen vornehmen. Das Ganze geht letztendlich
voran. Eigentlich müssten Sie Respekt vor dieser Bun-
desregierung haben. Diesen Respekt werden Ihnen dem-
nächst die Wähler wieder einflößen.
Vielen herzlichen Dank.
Der Kollege Rolf Hempelmann hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Es ist schon länger klar, dass in dieserKernzeit ein energiepolitisches Thema, von der Opposi-tion aufgesetzt, diskutiert werden soll. Vor einigen Tagenerreichte uns die Nachricht, dass der Wirtschaftsministereine Regierungserklärung dazu abgeben will. Ich habedas erst gar nicht glauben wollen und habe gedacht:Mensch, hat er jetzt, nachdem der niedersächsischeCDU-Wähler ihm praktisch die Wiederwahl als FDP-Vorsitzender gesichert hat, die Kraft gewonnen, hier einumfassendes Geständnis abzulegen?
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28398 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Rolf Hempelmann
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Es wäre ja an der Zeit, und er würde so eine Basis dafürschaffen, dass es dann wirklich vorangehen kann. Abernein, er war wie immer: Vollmundig hat er behauptet,dass a) alles das, was zurzeit tatsächlich falsch läuft, na-türlich in der Verantwortung der Opposition liege unddass b) ansonsten die Regierung voll auf Kurs und äu-ßerst erfolgreich sei. Lieber Herr Rösler, vielleicht soll-ten Sie doch wenigstens einmal versuchen, die Realitätzur Kenntnis zu nehmen.Ich war in der letzten Woche in Brüssel. An dem Tag,als ich in Brüssel war, erklärte das OLG Düsseldorf IhreNetzentgeltverordnung für verfassungswidrig. Mit die-ser Netzentgeltverordnung entlasten Sie nach Auffas-sung des Gerichtes einen Kreis von Unternehmen, derdiese Entlastung nicht verdient. Das OLG hat nichtgrundsätzlich Entlastungen kritisiert, sondern die Artund Weise, wie Sie damit umgehen. Am gleichen Taghat in Brüssel die Europäische Kommission ein Verfah-ren gegen diese Netzentgeltverordnung aus den gleichenGründen eröffnet. Sie können doch niemandem vorma-chen, dass Sie eine erfolgreiche Politik für die deutscheIndustrie machen, wenn Sie mit Ihren Konzepten gegendie Wand laufen. Sie laufen damit im Übrigen auch Ge-fahr, dass Sie dann, wenn das Hauptverfahren in der Sa-che offiziell eröffnet wird, überhaupt keine Entlastungenmehr vornehmen dürfen.
Also, Herr Minister, ein bisschen mehr Selbstkritik istangesagt. Ihr Haus arbeitet übrigens schon an einer No-velle dieser Netzentgeltverordnung. Wenn diese in eineRichtung geht, die von Düsseldorf und Brüssel eingefor-dert worden ist, dann werden wir einer Lösung nicht imWege stehen, um zu verhindern, dass gerade die Unter-nehmen, die zu Recht Entlastungen bekommen sollen,nicht in die Verlegenheit kommen, ganz auf diese Entlas-tungen verzichten zu müssen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer wieder beto-nen Sie und betont auch dieser Minister, Sie würden an-packen, Sie würden machen – im Gegensatz zu denen,die vor Ihnen regierten. Die Institute sagen etwas ande-res. McKinsey stellt fest: Wenn die Energiepolitik dieserBundesregierung so weitergeht, dann werden die Zielefür 2020 beim Netzausbau, bei der Offshorewindenergie,aber auch bei der Verringerung des Stromverbrauchsnicht erreicht. – Das ist das Zeugnis eines unabhängigenund renommierten Institutes. Das sollten Sie einmal zurKenntnis nehmen.Auch andere Stimmen sind hier schon zitiert worden.Herr Oettinger, den wir letzte Woche besucht haben,sagt: Es gibt zu keinem wichtigen energiepolitischenThema eine abgestimmte Position dieser Bundesregie-rung. Es gibt immer mindestens zwei Positionen.
Damit kann aber weder er in Brüssel umgehen nochkann Deutschland in irgendeiner Art und Weise aufBrüsseler Entscheidungen Einfluss nehmen.
Sie sollten sich einmal überlegen, ob Sie nicht unse-ren Forderungen folgen, die da lauten: Wir brauchenendlich eine Stimme. Wir brauchen endlich ein Energie-ministerium, zumindest aber jemanden, der den Hut aufhat – möglicherweise im Kanzleramt – und dafür sorgt,dass Deutschland in Fragen der Energiepolitik in Brüsselmit einer Stimme vertreten ist. Dieser muss auch dafürsorgen, dass das, was Sie gerade gefordert haben, ge-macht wird, nämlich dass zwischen den Ressorts, aberauch zwischen Bund und Ländern koordiniert wird. Siemachen einfach einen Gipfel und meinen, die Sache seidamit erledigt. Dann sagen Sie hier vollmundig, es kannnicht sein, dass 17 energiepolitische Konzepte nebenei-nander laufen. Verflixt noch einmal, dann machen SieIhren Job! Koordinieren Sie, und sorgen Sie dafür, dasses ein gemeinsames Konzept zwischen Bund und Län-dern gibt! Bisher gibt es überhaupt kein Energiekonzept.
Bisher gibt es nur Ihr Konzept aus dem Jahr 2010. Dasist aber ein Laufzeitverlängerungskonzept.Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten in unserer Regie-rungszeit den Netzausbau nicht vorangebracht, dannsage ich Ihnen: Die großen Konzerne RWE und Eon sindmittlerweile weiter als Sie. Diese haben begriffen, dasssie im Jahr 2000 einen Fehler gemacht haben, als sie dieWurst – Laufzeitverlängerung –, die Sie ihnen hingehal-ten haben, ergriffen haben, obwohl sie vorher Verträgeunterschrieben hatten und obwohl wir ein Gesetz zumAtomausstieg und zum Ausbau der erneuerbaren Ener-gien gemacht hatten. Diese Unternehmen wissen heute,dass Ihr Angebot und die Tatsache, dass sie auf Ihr An-gebot eingegangen sind, dafür gesorgt haben, dass wirzehn Jahre verloren haben.Zehn Jahre gab es keinen Systemumbau, weil die Ak-teure, die die Atomkraftwerke betrieben, damals auchdie Netze betrieben. Die Netze waren aber die Schlüssel-stelle. Der Netzausbau wurde von ihnen nicht vorange-trieben, der Speicherausbau wurde nicht vorangetriebenund auch nicht die Flexibilisierung der Nachfrage. Daswäre geschehen, wenn sie das gemacht hätten, was sievon der Politik sonst immer fordern, nämlich Rahmen-bedingungen, die einmal von einer Bundesregierung mitEinverständnis der Wirtschaft gesetzt worden sind, anzu-erkennen und beizubehalten. Die Wirtschaft hat begrif-fen: Sie haben gegen Ihre eigenen Prinzipien verstoßen,als Sie damals Ihren Vertrag aufgekündigt und sozusa-gen Volatilität in der Politik eingefordert hatten. Die hatdas begriffen, Sie hingegen immer noch nicht.
Sie haben es nicht begriffen und versuchen heute, de-nen einen Vorwurf zu machen, die schon damals dierichtige Politik gemacht haben: Atomausstieg und Aus-bau der Erneuerbaren. Selbstverständlich war uns klar,dass wir dann auch den Umbau des gesamten Systems
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28399
Rolf Hempelmann
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durchführen müssen. Das haben Sie damals verhindert,und Sie verhindern das durch Ihre Untätigkeit auch jetzt.
Herr Kollege.
Ihr Vorwurf uns gegenüber ist durchschaubar. Die
Menschen lesen Zeitung. Sie wissen, wer alles gegen Sie
klagt. Sie wissen, welche Entschädigungszahlungen Sie
verursachen. Sie wissen, wie sehr Sie den Strom in
Deutschland mit Ihrer Politik verteuern. Sie wissen, dass
wir eine neuere, eine bessere Energiepolitik brauchen.
Vielen Dank.
Horst Meierhofer hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Selbstverständlich sollten wir ein gemeinsames Ziel ha-ben. Philipp Rösler hat eingangs darauf hingewiesen– seitdem leider fast keiner mehr –, wie wichtig dasThema bezahlbare, umweltverträgliche und vor allem si-chere Energieversorgung ist.Um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten,benötigen wir logischerweise den Netzausbau. FrauHöhn, uns ist es in den letzten Jahren gelungen, einenAnteil erneuerbarer Energien von über 25 Prozent in denMarkt zu integrieren. Zu Ihrer Zeit wurden pro Jahr800 Megawatt durch Photovoltaik erzeugt; in den letztendrei Jahren, in denen wir die Verantwortung getragen ha-ben, gab es Anlagen, die jeweils 7 000 bis 7 500 Mega-watt erzeugen.
Daran erkennt man, wie weit bei Ihnen Wunsch undWirklichkeit auseinanderdriften und wie wenig Sie wäh-rend der Zeit, als Sie Verantwortung getragen haben, fürden Ausbau der Erneuerbaren getan haben.
Jetzt beschweren Sie sich darüber, dass bei uns zu wenigpassiert. Daran sieht man schon, wie absurd das Ganzeist.Es ist eine Tatsache, dass das gemeinsame Ziel,Atomkraftwerke abzuschalten, auch zu einer Umstellungdes Netzausbaus führt. Das sollte auch Ihnen klar sein.Das ist keine neue Nachricht. Sie haben schon einmal ei-nen Ausstieg aus der Kernkraft beschlossen. Nur, leiderhaben Sie im Gleichzug nichts für den weiteren Ausbauder Netze getan.
Sie haben sich von Interessengruppen und Bürgerini-tiativen feiern lassen. Jetzt lässt sich der Kollege Gabrielvon der Bürgerinitiative gegen die 380-kV-Leitung imWerra-Meißner-Kreis feiern.
Auch der Kollege Trittin ist auf der Homepage dieserBürgerinitiative zu sehen. Sie präsentieren sich als stolzeBrüder, als Unterstützer der tollen Forderung, an neural-gischen Stellen keine Freileitungen zu verlegen. Auchdaran sieht man, dass Anspruch und Wirklichkeit extremauseinanderdriften.
Dass sich gerade die beiden Exumweltminister dafürhergeben, ist höchst beschämend. Das ist das Allerletzte.
Wir haben in den Jahren 2000, 2002, 2005 wie auchim Jahr 2013 die gleichen Ziele gehabt,
und Sie beschweren sich darüber, dass in den letzten dreiJahren nichts passiert ist. Ich erkläre Ihnen jetzt einmal,was in den letzten drei Jahren passiert ist. Schauen Siesich einfach mal an, was im Monitoringbericht der Bun-desnetzagentur steht. Sie werden feststellen, dass zumeinen mehr gebaut worden ist, als Herr Gabriel behaup-tet hat. Wahrscheinlich hatte er alte Zahlen.15 Prozenthaben wir mittlerweile und nicht mehr 12 Prozent.
Zum anderen haben wir bei der Thüringer Strombrü-cke riesige Schwierigkeiten. Das ist das größte Problem.Wir haben gerade darüber geredet. Herr Kelber hat leideretwas Falsches gesagt. Auf Thüringer Seite sind 27 Kilo-meter nicht fertiggestellt. Sie können das im EnLAG-Bericht nachlesen. Es ist nicht so, dass es an Bayernliegt, sondern es liegt an Thüringen, Herr Kelber. Manbaut von Norden nach Süden. Da im Norden noch 27 Ki-lometer fehlen, kann bei uns am Anschluss an Marktred-witz nicht weitergebaut werden. Sie schustern Sachver-halte zusammen, die nicht zusammengehören.
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28400 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Horst Meierhofer
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Auf der eben beschriebenen Stromtrasse hatten wir esim letzten Jahr in 790 Stunden mit einer angespanntenNetzsituation zu tun. Wie sehen denn Ihre Vorschlägeaus, daran etwas zu ändern? In Mecklenburg-Vorpom-mern Richtung Polen gab es 280 Stunden Netzanspan-nungen, wo in der Vergangenheit alles relativ problem-los abgelaufen ist. Durch die Einspeisung von Strom auserneuerbaren Energien, vor allem aus Windenergie, ent-steht ein extremes Problem, das wir in der Vergangenheitleider nicht gelöst haben.Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen.2005 – damals war noch Rot-Grün an der Regierung,Gott sei Dank ist das lange her –
richtete die FDP eine Kleine Anfrage an die Bundesre-gierung. Wir haben gefragt, wie das mit dem Netzausbauweitergehen soll. Ich lese Ihnen die Antwort vor, die –das kann man sagen – wenigstens ehrlich war:Die Bundesregierung besitzt keine eigenen Kompe-tenzen, um Einfluss auf die geplanten konkretenNetzausbauvorhaben zu nehmen.Das war Ihre Wahrheit. Sie haben gesagt: Wir habenkeinen Einfluss, wir als Bundesregierung können nichtstun.
Das ist zwar erfrischend ehrlich, aber es zeigt natürlichIhre völlige Unfähigkeit.
Das zeigt, dass Sie nichts dafür getan haben, damit dieKompetenzen an den Bund herangeführt werden.
Das ist im Jahr 2009 das erste Mal passiert. DieMinister haben sich mit den Ländern zusammengesetzt,um durch das EnLAG, das Energieleitungsausbaugesetz,durch das NABEG, das Netzausbaubeschleunigungsge-setz, und jetzt durch die Bedarfsplanung den Netzausbauzu beschleunigen.
Nichts dergleichen gab es zu Ihrer Zeit. Trotzdem tunSie so, als wären Sie elf Jahre lang aktiv gewesen. Dasgilt vor allem für die SPD, die auch in der Zeit der Gro-ßen Koalition in allen Bereichen, in denen es hätte vor-wärtsgehen können, blockiert hat. Nichts haben Sie inder Vergangenheit gemacht. Jetzt dürfen wir die Scher-ben wegräumen, die Sie über eine verdammt lange Zeitproduziert und uns hinterlassen haben.
Und jetzt dieser Katzenjammer! Es ist wirklich in höchs-tem Maße lächerlich, wenn Sie jetzt so tun, als hätten Sieeinen ernsthaften Beitrag geleistet. Nicht die Spur da-von!Ich habe es ja gesagt: Wir haben das EnLAG im Jahr2009, das NABEG im Jahr 2011 und das Energiewirt-schaftsgesetz, EnWG, im Jahr 2011 verabschiedet, undjetzt legen wir den Entwurf eines Bedarfsplanungsgeset-zes vor. Und Sie sagen, wir machen nichts? Was habenSie denn an Gesetzen vorzuweisen? Wie ist es mit demThema Geschwindigkeit? Erst jetzt können wir schnellervorgehen und definieren, welche Strecken die wichtigs-ten sind. Nicht einmal dazu waren Sie in der Vergangen-heit in der Lage.Jetzt aber fordern Sie – das ist Ihr großer Wunsch –eine Netz AG. Sie haben nicht für Beschleunigung ge-sorgt, verlangen von uns aber, eine Netz AG einzurich-ten,
und das in einer Zeit, in der wir versuchen müssen, denAusstieg aus der Nutzung der Kernkraft durch Strombrü-cken und Stromtrassen wie die eben genannte ThüringerStrombrücke zu erreichen.
Für all das haben Sie keine Vorlage geliefert. Jetzt for-dern Sie aber auch noch eine Netz AG. In der Theorie istdas eine ganz schöne Idee – das haben wir auch gefor-dert –, aber jetzt geht es darum, dass wir möglichstschnell Netze bauen.
Wir können jetzt doch nicht über eine Netz AG debattie-ren. Sobald irgendwo in Deutschland eine Freilandlei-tung verlegt werden soll, fordern Sie, verehrter HerrGabriel, überall in Deutschland unterirdische Kabel zuverlegen, obwohl man weiß, dass die Prozesse danndeutlich länger dauern, obwohl man weiß, dass das deut-lich teurer ist, und obwohl man weiß, dass die Forschungdazu noch gar nicht abgeschlossen ist. In so einer Zeit– das Kraftwerk Grafenrheinfeld wird abgeschaltet; derKollege Nüßlein hat es gesagt – kann ich das nicht for-dern, sondern muss schnell sein.
Es ist absurd, nichts dergleichen zu tun.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28401
Horst Meierhofer
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Jetzt komme ich zu einer aus meiner Sicht besondersschönen Geschichte. Es geht um die Antwort auf eineKleine Anfrage aus dem Jahr 2005, die ich anspreche,weil die Grünen hier besonders viel in Bezug auf dieForschung fordern. Die Bundesregierung sagte:Aus diesen Gesprächen– mit Wirtschaft und Wissenschaft –hat sich kein spezifischer Förderbedarf bei der For-schung und Entwicklung von Elektroenergieüber-tragungsanlagen ergeben.
Wundert es Sie, dass wir jetzt noch nicht so weit sind,wie wir gerne wären? Wundert es Sie, dass wir nach elfJahren Stillstand noch nicht so weit sind, wie wir esgerne wären? Merken Sie, dass der Knoten geplatzt ist,seitdem Sie keine Verantwortung mehr tragen und nurnoch ein bisschen daherschwafeln?
Ich glaube, jeder andere Mensch sollte das erkennenkönnen.Herr Krischer, Sie fordern HGÜ-Leitungen, obwohlSie selbst nichts dafür getan haben. Darüber muss ichmich wirklich amüsieren.Zum Abschluss habe ich noch ein nettes, kleines Bon-mot aus dem Jahr 2008 vom geschätzten KollegenGabriel. Ich zitiere:Bis vor kurzem unterstützte auch UmweltministerGabriel den Regierungskurs, 850 Kilometer Freilei-tungen zu errichten und dies durch ein neues Gesetzzu beschleunigen.
Herr Kollege.
Ich bin gleich fertig.
Doch zur Überraschung von Glos
– damals Wirtschaftsminister –
hat der SPD-Politiker den bisherigen Konsens nun
aufgekündigt.
Zitat Gabriel:
„Ich halte es nicht für realistisch, dass wir im bisher
vorgesehenen Umfang 850 km Freileitungen neu
bauen“,
schreibt Gabriel in einem Thesenpapier …
Mit solchen Aussagen kann man natürlich bei Bürger-
initiativen landen. Dass Sie die Energiewende nicht kön-
nen, ist durch Ihre Aussagen wirklich bewiesen.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem
Kollegen Kelber.
Herr Kollege Meierhofer, Sie haben an zwei Stellen
auf uns Bezug genommen, zum einen beim Thema Netz
AG und zum anderen beim Thema Thüringen.
Zur Netz AG habe ich den Vorschlag: Lesen Sie sich
unseren Antrag dazu einmal durch, um zu verstehen, was
damit gemeint ist. Sie schauen zum Beispiel tatenlos zu,
dass einer der Übertragungsnetzbetreiber zu dem wichti-
gen Streckenbau seit über drei Jahren erklärt, dass er für
diese Aufgaben keine ausreichenden finanziellen Kapa-
zitäten hat. Es ist, glaube ich, keine gute Lösung, auf
Vorschläge, wie man das ändern kann, nur zu sagen: Wir
machen lieber so weiter wie bisher.
Beim Thema Thüringen haben Sie, um es nett zu sa-
gen, zwei Projekte miteinander verwechselt. Es gibt ein-
mal die sogenannte Thüringer Strombrücke, eine neue
380-kV-Leitung, und dann gibt es noch das Projekt,
durch Neubeseilung mit Hochtemperaturseilen Sachsen-
Anhalt, Thüringen und Bayern stärker miteinander zu
verbinden. Dieses Projekt ist von den beiden Übertra-
gungsnetzbetreibern 50 Hertz und TenneT gleichzeitig
beantragt worden. 50 Hertz hat diese Woche als Beispiel
dafür, dass sie vorankommen, mitgeteilt – das hätten Sie
lesen können –, dass sie ihren Teil in 2012 fertiggestellt
haben. Das heißt also: Sachsen-Anhalt: beantragt, ge-
nehmigt und gebaut; Thüringen: beantragt, genehmigt
und gebaut; Bayern: beantragt, aber noch nicht einmal
entschieden, welche Behörde am Ende für die Genehmi-
gung zuständig ist.
Das ist der entscheidende Unterschied. Ich glaube, der
Wirtschaftsminister in Bayern stammt aus Ihrer Partei.
Herr Meierhofer zur Beantwortung, bitte.
Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Zum Ersten:Herr Kelber, Sie selbst haben darauf hingewiesen, wieschwierig es ist, zu einem Konsens zwischen den Netz-betreibern – das sind 50 Hertz, Amprion und TenneT –zu kommen.
Wenn ich in dieser Phase dafür sorge, dass sich die dreierst einmal in einer Netz AG verschmelzen bzw. dass siezusammengeführt werden, dann wäre das in einer Zeit,die keine Veränderungen bringt, wünschenswert. Schon
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Horst Meierhofer
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vorhin habe ich gesagt, dass auch die FDP sich daswünscht. Wir müssen jetzt aber vorwärtskommen. Dahilft uns das Gefasel aus Oppositionskreisen darüber,was alles wünschenswert wäre, nichts, sondern jetztmuss gebaut werden. Dazu bringt Ihre Idee leider über-haupt nichts.
Deswegen ist das realitätsfremd. Weiter ist es – „verlo-gen“ ist wahrscheinlich unparlamentarisch – zumindestnicht aufrichtig, wenn man betont, dass man es tut.Mein lieber Herr Kelber, zweitens ist es nicht beson-ders aufrichtig, während der Rede von Herrn Nüßleinden Eindruck zu erwecken,
die Strombrücke würde deswegen nicht funktionieren,weil in Bayern nicht genehmigt wird.Ich freue mich über HGÜ-Leitungen, Herr Heil. DieThüringer Strombrücke ist unser Problem bzw. ein Eng-pass. Sie muss bis zum Jahr 2015 fertig sein, weil an-sonsten Bayern – wenn durch die Abschaltung von Gra-fenrheinfeld 2 Gigawatt vom Netz gehen – nicht erreichtwerden kann. Genau darum geht es im Moment. DieThüringer Strombrücke ist aber nicht fertig; da könnenSie über Forschungsprojekte, die parallel dazu laufen,reden, wie Sie wollen. Ich würde mich freuen, wenn wirdas alles hätten.Wir nehmen Priorisierungen vor. Im Bedarfsplan ha-ben wir nämlich festgelegt, was wann gebaut werdensoll. Bei Ihnen wurde erst einmal überhaupt nichts ge-baut, da wurde alles gleichzeitig geplant. Das Ergebniswar: Es wurde während der elf Jahre SPD-Verantwor-tung überhaupt nichts gebaut. Das sind leider die Fakten.Deswegen sind wir jetzt in der brenzligen Lage, IhrenScherbenhaufen aufkehren zu müssen.
Jetzt erteile ich dem Kollegen Ralph Lenkert das Wort
für die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Heute geht es um denEntwurf eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zurBeschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze. DerName ist sperrig, und dahinter stecken knallharte Profit-interessen. Wie erkläre ich Ihnen, was ich meine?
Wie würde das bei Dagobert Duck sein? Nehmen wiran, Dagobert besitzt Grundstücke. Eines liegt 80 Kilo-meter in der Prärie, und zum zweiten führt nur ein Pfad.Da gerade Steinmangel herrscht, will Dagobert mitSteinbrüchen „Schotter“ machen. Von den Steinbrüchenauf seinem Land müssen die Steine über neue Straßentransportiert werden. Also verlangt Duck vom MinisterZaster für den Straßenbau. Der Minister gehorcht, plantStraßen, den Zaster holt er sich von den Bewohnern En-tenhausens. Damit Dagobert stets Steine mit Profit ver-kaufen kann,
bestimmt der Minister, dass alle Bürger auch noch Lkwund Sprit bezahlen. Alle? Nein, die Freunde des Minis-ters bekommen zwar viele Steine, aber für Straßen undLkw bezahlen sie nicht.Haben Sie es verstanden? Ich kläre Sie auf: DagobertDuck steht für die Energiekonzerne, die Steine sind derStrom. Die Steinbrüche sind Offshorewindparks undKraftwerke. Straßen sind Stromleitungen. Die Einwoh-ner von Entenhausen sind wir Stromkunden, die Minis-terfreunde sind die Energiekonzerne bzw. energieintensi-ven Unternehmen. Herr Rösler, haben Sie sich erkannt?Ich habe Ihnen diesen Comic erzählt, weil es genau soläuft.
Sinngemäß steht im Entwurf: „Standorte für konven-tionelle Kraftwerke“ und EEG-Anlagen „werden in derRegel unabhängig“ vom vorhandenen Stromnetz „ausge-wählt“. „Gegenwärtig sind eine Vielzahl konventionellerKraftwerke … im Bau bzw. in der Planung, die nichtzwingend in der Nähe der Verbrauchszentren einspeisenwerden.“ Das heißt, es braucht mehr Stromtrassen. DieFolge sind steigende Strompreise für die Stromkunden.Klartext: Die 380-kV-Leitungen werden nicht nur fürWindräder, sondern auch für neue Kohlekraftwerke– wie die von Vattenfall in Jänschwalde und von derMIBRAG in Profen – gebaut. Die bestehenden Stromlei-tungen können dann den gesamten Kohle- und Wind-strom nicht mehr nach Süden transportieren. Deshalbsagt man den Thüringerinnen und Thüringern: Ihr wolltdoch die Energiewende, und Bayern braucht den Wind-strom aus dem Norden, also akzeptiert Leitungen.Entschuldigung, aber der Kohlestrom aus Jänsch-walde und Profen soll auch über diese Leitung fließen.Die Thüringerinnen und Thüringer zahlen 7,1 CentNetzentgelt je Kilowattstunde. In Bayern zahlt man nur5 Cent. Warum? Ein Kraftwerk speist im Norden 1 Mil-lion Kilowattstunden ins Netz. Genau für diese Strom-menge wird gezahlt – logisch. Durch Netzverluste,3 Prozent auf 100 Kilometer, kommen in Bayern nur850 000 Kilowattstunden an. Nur für diese Strommengewird von den Bayern gezahlt – logisch. Die 150 000 Kilo-wattstunden Transportverlust bezahlt der Netzbetreiber –logisch. Er legt dies auf uns Thüringer um, weil das Netzdurch Thüringen geht – logisch. Logisch? Wir verdienennichts am Strom, unsere Landschaft wird verbaut, undwir müssen dafür noch zahlen. Das ist ungerecht.
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Ralph Lenkert
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Deshalb fordert die Linke einheitliche Netzentgelte fürganz Deutschland. Das wäre logisch.
Nach unserem Konzept beginnt die Energiewende miteinem Bedarfsplan für den Stromverbrauch. Danach er-folgt eine zwischen Bund und Ländern abgestimmte Pla-nung zur größtenteils regionalen Stromerzeugung undSpeicherung. Erst dann erfolgt eine Netzbedarfsplanung.Warum folgt die Regierung nicht dieser einfachen Lo-gik, sondern schaut nur auf den Netzausbau? Es geht umviel Geld. 10 Milliarden Euro kostet der Netzausbaunach dem vorliegenden Regierungsplan. Verdienen wer-den Baufirmen, Projektanten und die Investoren, die dieNetze ausbauen lassen. Sagenhafte 9 Prozent Renditegibt es für die investierten 10 Milliarden Euro. 900 Mil-lionen Euro müssen Bürgerinnen und Bürger, kleine undmittelständische Unternehmen Jahr für Jahr nur für dieRenditegarantie abdrücken. Diese Unverschämtheit lehntdie Linke ab.
Es gibt einen Weg, diese Abzocke zu beenden: DieNetze müssen entprivatisiert werden. Eine Vergesell-schaftung der Netze zusammen mit einem Stromver-brauchsplan, dem Stromerzeugungsplan und dem dannnotwendigen Netzausbauplan sichert die ökologischeEnergiewende mit sozialen Strompreisen, ohne unsStromkunden zu rupfen. Füllen Sie nicht die Geldspei-cher der Spekulanten, sondern folgen Sie unseren Vor-schlägen!Vielen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Oliver Krischer
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn man Herrn Rösler zuhört, dann fragt man sichschon, in welchem Paralleluniversum dieser Menschlebt; denn mit der Realität hat das, was wir hier von ihmgehört haben, gar nichts zu tun. Gestern im Umweltaus-schuss hat er noch eins draufgesetzt. Dort hat er gesagt:Europaweit wird Deutschland wegen seines Netzausbausbeneidet.
Was ist das für ein Unsinn? Wir haben in den letzten Jah-ren 268 Kilometer von 1 800 Kilometern gebaut. Dassind gerade einmal 15 Prozent. Das ist die Hürde, unterder Sie hergelaufen sind. Das ist unglaublich. Das istkein Erfolg, sondern Versagen.
Sie kommen hier jetzt immer mit dem Argument, da-für wäre Rot-Grün verantwortlich. Ich sage Ihnen: Seitacht Jahren gibt es CSU- und FDP-Wirtschaftsminister.Sie tragen die Verantwortung dafür. In acht Jahren hättenSie das alles machen können.
Wenn man nachfragt, wie weit wir mit der Umsetzungder Projekte aus dem Energieleitungsausbaugesetz sind,ist diese Bundesregierung, ist dieser Wirtschaftsministernicht einmal in der Lage, im Detail zu sagen, wie es umdiese Projekte steht. Das ist doch ein Zeichen dafür, wieSie mit diesem Thema umgehen.Wenn man in den Medien nachschaut, wozu sich die-ser Minister beim Thema Netzausbau geäußert hat, dannstößt man immer wieder auf ein und dieselbe Nachricht:Rösler greift die Umweltverbände an, fordert den Abbauvon Naturschutzbestimmungen und Umweltrechten, umden Netzausbau voranzubringen. Man fragt sich: Wasplant diese Bundesregierung eigentlich? Als Antwort be-kommt man: Es gibt gar kein Problem mit dem Natur-schutz, es gibt gar kein Problem mit den Umweltverbän-den. Ich sage Ihnen: Der einzige Sinn dieser Aktion ist,die Hoheit über die Stammtische zu gewinnen. Nichtsanderes war von diesem Wirtschaftsminister zu hören.
Jetzt legen Sie hier den Entwurf eines Bundesbedarfs-plangesetzes vor. Diesen Gesetzentwurf hätten Sie schonvor zwei, drei Jahren vorlegen können. Doch damals ha-ben Sie sich mit Laufzeitverlängerungen beschäftigt,statt sich um den Netzausbau zu kümmern. Jetzt, amEnde dieser Legislaturperiode, feiern Sie das als Großtat.Davon wird aber nicht eine einzige Leitung gebaut.
Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen eines: Siemachen die gleichen Fehler, die Sie schon beim EnLAGgemacht haben. Sie sagen zum Beispiel, die Erdverkabe-lung solle nur auf einer einzigen Pilottrasse möglichsein. Genau das ist beim Energieleitungsausbaugesetzdas Problem. Sie haben es bis heute nicht geschafft, auchnur eine Pilotstrecke hinzubekommen. Wir brauchen dieErdverkabelung aber, um Akzeptanz zu schaffen; denngegen den Willen der Menschen werden Sie den Netz-ausbau nicht durchsetzen können.
Ich sage Ihnen: 2 000 der 3 000 Einwendungen, die esgegeben hat, kommen aus dem schönen Ort Meerbusch-Osterath. Da hat es ein Planungsdesaster gegeben. Ichwundere mich, dass die Kollegen von der CDU und derFDP, die sich vor Ort lauthals äußern, jetzt bei dieser De-batte nicht dabei sind. Vor Ort sprechen sich Vertreter Ih-rer Koalition nämlich öffentlich gegen dieses Gesetz ausund sagen, dass sie es ablehnen werden.
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28404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Oliver Krischer
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Sie haben, was dieses Gesetz betrifft, nicht aus demDesaster von Meerbusch-Osterath gelernt. Sie habendas, was der Bundesrat mit seiner Mehrheit beschlossenhat, nicht aufgegriffen, nämlich dass man Planungen mitStandortalternativen durchführen und die Menschen mit-nehmen muss. Dazu gibt es wegweisende, richtige Be-schlüsse des Bundesrates. Die Bundesregierung hat sieaber zurückgewiesen. Sie werden mit diesem Gesetzent-wurf nicht durchkommen. Er wird ein Papiertiger blei-ben. Wenn Sie das, was der Bundesrat richtigerweise be-schlossen hat, nicht aufgreifen, wird der Netzausbau eingenauso großes Desaster bleiben, wie er es in der Ver-gangenheit war.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen einen Netzausbau aufallen Spannungsebenen. Eine dezentrale Energiewendebraucht den Netzausbau und den Ausgleich der Schwan-kungen. Aber Sie müssen die Menschen mitnehmen undsie einbinden. Es hilft nichts, wenn Sie den Klagewegverkürzen. Da fühlen sich die Menschen übergangen.
Das führt am Ende wieder zu Ausgrenzung. Sie müssendie Menschen einbinden, aber das haben Sie nicht ver-standen. So werden Sie mit dem Netzausbau auch weiterscheitern.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat Andreas Lämmel das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wenn man diese Debatte verfolgt hat, ist einesklar geworden: Die Kollegen von SPD und Grünen ver-suchen, hier im Plenum Wahlkampf zu machen
und dadurch ihr schlechtes Gewissen zu übertünchen,
das sie natürlich haben müssen, wenn sie in sich gehenund darüber nachdenken, warum wir in der Situationsind, in der wir sind.Herr Gabriel verwechselt das Plenum des DeutschenBundestages mit dem Marktplatz in Wolfenbüttel, wo erhin und wieder eine schwungvolle Wahlkampfrede hält.
Frau Höhn versucht, mit schrillen Tönen die Argumentezu verdecken. Sie wollen einfach nicht zur Kenntnisnehmen, dass wir vor zwei Jahren hier im Plenum mitgroßer Mehrheit die Energiewende beschlossen haben.
Meine Damen und Herren, das war doch kein andererBeschluss als der, den Sie schon vor vielen Jahren ge-troffen haben, als Sie den Atomausstieg beschlossen ha-ben. Das war nichts Neues. Ich weiß überhaupt nicht,warum Sie dieses Argument anführen.Ich will auf die Vergangenheit zu sprechen kommen.Unter Rot-Grün wurde der erste entsprechende Be-schluss gefasst. Es wurde aber nichts getan. Vielmehrließ man die Sache laufen.
Energieforschung – sehen Sie sich einmal die Haushaltevergangener Zeiten an, Herr Hempelmann; Sie selbstwissen das ganz genau – fand überhaupt nicht mehr statt.Die Mittel für die Energieforschung wurden unter Rot-Grün auf null gesetzt.
Dann kam die Zeit der Großen Koalition. Da ging esnatürlich auch um den Energieleitungsausbau, weil erschon damals ein großes Problem war.
Wir hatten die Idee, den Energieleitungsausbau zu be-schleunigen. Dann fand die Diskussion über das EnLAGstatt. Die Große Koalition wollte das sehr bewährte In-frastrukturbeschleunigungsgesetz, welches wir in Ost-deutschland genutzt haben, um die Infrastruktur auszu-bauen, für den Energieleitungsausbau nutzen. Was wardie Folge? Obwohl Herr Gabriel damals Umweltministerwar, ist das Vorhaben, die Beschleunigung des Ener-gieleitungsausbaus schon 2009 in Gang zu setzen, amWiderstand der SPD gescheitert. Deswegen musste dann2011 das NABEG hier im Deutschen Bundestag be-schlossen werden. Es war eine logische Folge, noch ein-mal den Versuch zu machen, mit konkreten Projektenden Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleuni-gen. Da sind auch die berühmten vier Kabeltrassen auf-geführt. Herr Krischer, ich weiß gar nicht, warum Siesich hier aufregen, dass in dem Bedarfsplan jetzt nureine Trasse enthalten ist.
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Andreas G. Lämmel
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(B)
Es gibt noch keine einzige Trasse von diesen vier Erd-kabelprojekten, die im NABEG festgeschrieben sind.
– Ach, erzählen Sie doch nicht solchen Unfug! Sie wis-sen doch selbst ganz genau: Erdkabelleitungen bautnicht der Staat – die Planung erfolgt vor Ort, die Geneh-migung erfolgt vor Ort.
Sie stehen immer an der Spitze der Bewegung, wenn esgegen den Ausbau von Infrastruktur geht. Dann müssenSie sich nicht wundern, dass die Projekte vor Ort nichtvorankommen.
Aber dafür können Sie nicht uns die Schuld zuschieben.
An der Spitze der Bewegung, wenn es gegen irgendetwasgeht, stehen Sie.Deswegen muss man doch ganz klar sagen: Wennman diese Erdkabelprojekte weiter betreiben will, dannmuss man erst einmal Erfahrungen sammeln
und schauen: Wie ist denn die wirtschaftliche Situation?Wie ist denn die ökologische Situation? Das fordern Siedoch immer. Sie wissen ganz genau, dass diese Erdka-belprojekte große Probleme aufwerfen. Wir wollen ebennicht in die Situation kommen wie beim Offshoreaus-bau, wo Sie mit Brachialgewalt eine Riesenmenge anOffshoreprojekten zu generieren versuchen, von denenwir weder wissen, ob sie technisch wirklich umsetzbarsind, noch, ob sich die Kosten in den Griff kriegen las-sen, und für die wir auch die Anschlüsse gar nicht haben.Genau diese Fehler wollen wir nicht noch einmal machen,indem wir die Erdverkabelung sozusagen freigeben. Wirwollen zunächst Erfahrungen sammeln und schauen, obsich diese Projekte bewähren.Da kann Rot-Grün in Niedersachsen jetzt mutig vo-rangehen und endlich die Trassen genehmigen und siebauen lassen. Dann können wir weiter über diesesThema reden.
Scheinheiligkeit, Herr Krischer, haben wir von IhrerSeite schon die ganzen Jahre erlebt; das ist bei diesemThema nicht anders.
Das vorliegende Gesetz ist ein wohltuend kurzes Ge-setz, ein Gesetz, das jeder Bürger unseres Landes verste-hen kann: weil auf drei Seiten beschrieben ist, um was esgeht. Ich würde mir manches Gesetz wünschen, das ge-nauso konkret ausformuliert ist und bei dem man genaunachvollziehen kann, um was es geht.
– Wenn die Grünen an der Macht sind, dann werden dieGesetze immer dicker, immer unverständlicher: weil sieversuchen, alles in das Gesetz zu packen. Wir stehen fürklare Gesetze und vor allen Dingen für Gesetze, die um-setzbar sind, Herr Krischer.
Interessant bei der ganzen Diskussion ist auch, dassdie Anträge, die die Opposition gestellt hat, überhauptnicht besprochen worden sind. Das zeigt schon: Sie wol-len keine sachliche Debatte, Sie wollen nicht einmalüber Ihre Anträge diskutieren.
Das Einzige, was Sie wollen, ist eine Bühne für Wahl-kampf.
Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Siedas so weiterbetreiben wollen, dann können Sie das na-türlich tun; aber man kommt damit nicht durch.Die Grundlage für den Anstieg der Strompreise – diehohe EEG-Umlage – haben Sie doch gelegt,
und Sie haben die ganzen Jahre alles behindert, was dasZiel hatte, den Ausbau der erneuerbaren Energien in ei-nem wirtschaftlichen Rahmen zu halten.
Dazu gehört der Ausbau der Stromleitungen. Man musssich nämlich einmal realistischerweise überlegen, wowelche erneuerbaren Energien ausgebaut werden sollen.Wenn Sie einmal im stillen Kämmerlein über das nach-denken, was Sie hier politisch angestellt haben, werdenSie erkennen, dass es eben nicht so weitergehen kann,dass überall dort eine Windmühle gebaut werden kann,wo jemand diese Intention hat, und einfach der Netzbe-
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Andreas G. Lämmel
(C)
(B)
treiber dafür verantwortlich gemacht wird, diese Wind-mühle an das Stromnetz anzuschließen.Genauso ist es bei den Photovoltaikanlagen: Es bringtdoch nichts, wenn, nur damit das Ausbauziel erfülltwird, in düsteren Ecken, in Wäldern Photovoltaikanla-gen aufgebaut werden. Wir brauchen beim Ausbau dererneuerbaren Energien Wirtschaftlichkeit. Auch beimAusbau der Energieleitungen brauchen wir wirtschaft-liche Lösungen.Ich finde, dass der vorgelegte Gesetzentwurf genau indiese Richtung geht. Sie haben jetzt die Möglichkeit,dieser Sache mit großer Mehrheit zuzustimmen. Damitkönnen Sie vor allen Dingen vor Ort beweisen, dass Siewirklich für den Netzausbau stehen.
Heute steht ja unter Tagesordnungspunkt 4 noch einweiterer Antrag der SPD auf der Tagesordnung, sodasswir im Anschluss über solche Dinge noch einmal vertieftdiskutieren können.Die Linke geht noch ein bisschen schärfer vor. Sie er-zählt Comicgeschichten. Aber gut, damit transportiertsie sich selbst ins Aus. Das ist aber nichts Neues.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-tion, ich war davon ausgegangen, dass sich zumindestdie SPD ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzenwill und es hier nicht sozusagen zu einer Theaterveran-staltung verkommen lässt.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat Jens Koeppen das Wort für die CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Für mich ist und bleibt die Energiewende daswichtigste Projekt nicht nur in dieser Legislaturperiode,sondern sogar in dieser Generation, weil wir unserenKindern zum ersten Mal eine saubere und moderneEnergieversorgung übergeben können. Dazu müssen wiraber noch große Herausforderungen bewältigen. Deswe-gen ist es bei aller Emotion zu schade, die Energiewendezum Spielball in einem Wahlkampf zu machen.Wir müssen uns fragen: Wie kann diese Energie-wende gelingen?
– Auch Herr Hempelmann sollte sich das fragen. – Wassind die wichtigsten Bausteine? Hier hat jeder seinePrioritäten und auch Vorlieben.Für den einen geht es um die Energie an sich, umWind- und Sonnenenergie, Biomasse und Geothermie.Für andere geht es um alte und neue Speichertechnolo-gien und die Elektromobilität. Für mich persönlich kom-men der Wasserstoff und die Brennstoffzelle bei der gan-zen Diskussion ein wenig zu kurz.Intelligente und bedarfsorientierte Systeme, Ver-brauchsmanagement, Forschung und Entwicklung, Ge-bäudesanierung, EEG, Zertifikatehandel, Netzausbau:Das alles wurde heute besprochen. Die einen wollenganz große Reformen, die anderen wollen das am liebs-ten gar nicht anfassen.Meine Damen und Herren, in diesem System gibt essehr viele Botschaften. Das System ist sehr komplex undneigt dazu, undurchsichtig und unverständlich zu wer-den. Bei all den benannten Bausteinen kommt es abernicht auf das Maximale, sondern auf einen vernünftigenund harmonischen Mix aus allem und die Akzeptanz derMenschen für diese Energiewende mit einer gewissenKostenübersicht an.
Das alles gilt natürlich insbesondere für die Energie-infrastruktur. Leistungsfähige Energienetze sind natür-lich die Grundvoraussetzung, um Energie überhaupttransportieren zu können. Ich bin Elektrotechniker underzähle Ihnen hiermit nichts Neues: Wenn es keine Lei-tungen gibt, dann werden Sie aus Ihrer Steckdose zuHause auch keinen Strom bekommen können.Dass wir zusätzliche Übertragungskapazitäten brau-chen, ist auch völlig unstrittig. Es wird natürlich über diegenaue Anzahl an Kilometern diskutiert. Das wird aberwahrscheinlich gar nicht die entscheidende Frage sein.Dass wir einen Ausbaubedarf haben und dass der Aus-bau maßvoll sein muss, ist jedem klar. Dass wir unserjetziges Netz ertüchtigen müssen, ist wahrscheinlichauch jedem klar. Wir sollten aber die Kriterien und Be-dingungen diskutieren, unter denen wir diesen Netzaus-bau gestalten. Für mich sind dabei drei Punkte besonderswichtig:Erstens. Die Akzeptanz. Wenn wir die Leute ordent-lich informieren – das sollte anders aussehen als heute inden eineinhalb Stunden hier – und sie auf dem Weg derEnergiewende mitnehmen, dann haben wir den erstenTeil erreicht.Zweitens. Dieser Ausbau muss zügig vorangehen.Das heißt, wir brauchen keine Klagewellen, sondern wirmüssen diese Klagewellen vermeiden.Drittens. Die Kosten des Netzausbaus müssen so ge-staltet werden, dass sie für die Menschen auch bezahlbarsind und dass Energie vor allen Dingen kein Luxusgutwird.Hier können wir natürlich sehr schnell Konsens her-stellen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28407
Jens Koeppen
(C)
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Ich will mich auf zwei Punkte dieser Botschaft kon-zentrieren, nämlich erstens auf die Instanzenverkürzungund zweitens auf die Kosten und die Erdkabel.Zur Kürzung des Instanzenzuges bis zur endgültigenGerichtsentscheidung. Es wird damit gerechnet, dass wirdie Dauer der Gerichtsverfahren von zehn Jahren aufvier Jahre verkürzen können. Das ist eine enorme Zeiter-sparnis. Bei Ihnen, Herr Krischer, kam das eben so rüber,als ob wir den Anwohnern Rechte nehmen würden. Ichsehe das völlig anders. Ich sehe das so, dass wir eine Pri-vilegierung der Klagenden herbeiführen. Denn selbstwenn die letzte Instanz die einzige Instanz ist, die ent-scheidet, entscheidet sie nicht anders. Es macht also kei-nen Unterschied, dass die zwei gerichtlichen Instanzenvor ihr bereits Entscheidungen getroffen haben. Sie ent-scheidet schneller,
und die Beklagte und die Klagenden bekommen mehrRechtssicherheit. Das ist ganz klar.Darüber hinaus erwähne ich die psychische Belastungder Menschen, Herr Krischer, welche daraus resultiert,dass sie über viele Jahre sozusagen von einer Instanz zurnächsten gestoßen
und mit sehr vielen Klagen, sehr vielen Terminen undsehr vielen Schriftstücken konfrontiert werden.Betonen möchte ich auch, dass ein Prozess von In-stanz zu Instanz kostenintensiver wird. Denn jedes Ge-richtsverfahren ist natürlich teuer.
Insofern ist eine einzige zuständige Instanz
mit weniger Kosten verbunden, und deswegen befürwor-ten wir das.Meine Damen und Herren, ich möchte auf die380 000-Volt-Erdverkabelung zurückkommen. In die-sem Zusammenhang wird hier sehr viel über das Für undWider diskutiert. Ich möchte nicht auf alle Punkte einge-hen.Wir sind keine Gegner von Erdkabelleitungen. Aller-dings müssen wir schauen, welcher der bessere Weg ist.Ich kann die Forderung des Bundesrates, alle Erdkabel-projekte in diesen Plan hineinzuschreiben – das heißt,die Leute vor Ort sollen darüber entscheiden, ob Pro-jekte mit Erdverkabelung verwirklicht werden sollen –,überhaupt nicht verstehen. Das ist eine Mentalität nachdem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Auf dieseWeise vergraben Sie die Probleme nicht, sondern sie tau-chen woanders auf. Sie beruhigen damit zwar die Bürgerund sammeln vielleicht hier und da ein paar Sympathien,aber das sind vermeintliche Vorteile, die Sie genießen.Wissenschaftler und Techniker weisen eindeutig da-rauf hin, dass sich die Kosten auf das Sechs- bis Zwan-zigfache – das gilt für Tunnelanlagen – belaufen. DasVerlegen einer 1 Kilometer langen 380 000-Volt-Verka-belung kostet momentan 1 Million Euro. Wenn dieserKilometer dann 6 Millionen oder 20 Millionen Euro kos-tet, muss doch auch die Frage gestattet sein, wer dieseKosten letztendlich tragen soll. Diese Frage müssen wirbeantworten. Es geht nicht, dass wir einfach sagen, dassdie Kosten auf die Netzkosten umgelegt werden, welchedann wiederum die Bürger zu tragen haben.
Darüber hinaus liegt die Nutzungsdauer von Erdka-beln bei 40 Jahren. Die Nutzungsdauer von Freileitun-gen liegt bei 80 Jahren und mehr. Bei Erdkabeln mussalle 700 Meter – die Kabeltrommel ist schließlich end-lich – ein Muffenbauwerk errichtet werden, wahrschein-lich auch in Biosphärenreservaten. Also, es wird alle700 Meter ein großes Muffenbauwerk auf den Schneisenstehen. Es wird zu größeren Wartungskosten und länge-ren Reparaturzeiten kommen, und wenn etwas ausfällt,werden daraus sehr große Stromausfallzeiten resultieren,die deutlich länger als die bei Freileitungen sind.
Auch die ökologischen Eingriffe dürfen wir nicht ver-gessen. Denn sie sind enorm schwerwiegend. Eine Erd-verkabelung bedingt eine Trassenführung in Betonwan-nen, was eine hundertprozentige Versiegelung bedeutet.Darüber hinaus müssen Öltransformatoren aufgestelltwerden, um die Kompensation auszugleichen. Es kommtzu hohen Bodentemperaturen, und auf der gesamtenSchneise kann nichts mehr angebaut werden. Des Weite-ren müssen Wartungswege neben der Trasse angelegtund der Boden komplett ausgetauscht werden. All dieseschwerwiegenden ökologischen Eingriffe darf man nichtvergessen. Hierüber müssen wir aufklären, und wir soll-ten Alternativen finden und letztendlich die Vorteile vonFreileitungen – natürlich sehen Erdverkabelungen imLandschaftsbild besser aus – hervorheben.Bei allen notwendigen Maßnahmen im Rahmen die-ser Energiewende müssen wir in neuen Strukturen den-ken. Erzeugung und Verbrauch müssen natürlich so de-zentral wie möglich erfolgen. Wenn Strom knapp wird,soll er teurer vergütet werden als dann, wenn er starkverfügbar ist. Denn das Prinzip „Produce and forget“ –das bedeutet, dass Strom immer dann erzeugt wird, wennes möglich ist, und nicht dann, wenn er gebraucht wird –,das jetzt im verkrusteten EEG enthalten ist, macht Un-ternehmer satt und träge. Wir müssen schauen, dass wirvon der Renditeversorgung zur Energieversorgung kom-men. Wir brauchen ein Technologieeinführungspro-gramm. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir in dennächsten Wochen und Jahren weiter eine gute Diskus-sion führen.Vielen Dank.
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Damit schließe ich die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/12638, 17/12214, 17/12518 und 17/12681
an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tages-
ordnung finden. – Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.
Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil ,
Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Deutschland 2020 – Zukunftsinvestitionen für
eine starke Wirtschaft: Infrastruktur moder-
nisieren, Energiewende gestalten, Innovatio-
nen fördern
– Drucksache 17/12682 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss
Hierzu ist es verabredet, anderthalb Stunden zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Hubertus Heil.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben diesenAntrag eingebracht, weil wir uns Gedanken über dieFrage machen, wie wir es schaffen, dass Deutschlandwirtschaftlich erfolgreich bleibt.Ohne Frage: Deutschland ist derzeit im Vergleich zuanderen Volkswirtschaften in Europa ein extrem erfolg-reiches Land. Wir sind Exportvizeweltmeister. Die Ursa-chen dafür liegen zum Beispiel darin, dass wir vor zehnJahren den Mut zu politischen Veränderungen hatten,
die notwendig waren, die zum Teil schmerzhaft waren,die nicht in jedem Detail richtig waren, aber die mitge-holfen haben, dass Deutschland vor der Krise 2008besser aufgestellt war als andere Volkswirtschaften inEuropa.
Der wesentliche Grund aber, warum Deutschland imGegensatz zu anderen Volkswirtschaften bis dato besserdurch die Krise gekommen ist, ist die Tatsache, dass wirnach wie vor eine Industrienation sind, dass wir einebreite industrielle Wertschöpfungskette haben: von denGrundstoffindustrien über den industriellen Mittelstandbis hin zu den kleinen Hightechunternehmen in diesemLand.Das ist keine Banalität, weil wir uns noch sehr gut er-innern können, meine Damen und Herren von der FDP,wie Sie und Ihre Gesinnungsfreunde vor zehn Jahrenüber Industrie in Deutschland gesprochen haben. Sie ha-ben damals geglaubt, die Zukunft liege allein bei Dienst-leistungen: Gemeint waren Finanzdienstleistungen.
Ihr Herr Westerwelle hat uns damals empfohlen, den Irr-weg Irlands zu gehen und stärker auf Finanzzockereienzu setzen. Wir sind Gott sei Dank diesen Weg nicht ge-gangen, sondern wir haben unsere industrielle Basis er-halten und erneuert.
Im Jahr 1998 betrug der industrielle Anteil Deutsch-lands an seiner Wirtschaft 24 Prozent. Großbritannienhatte einen gleich hohen Anteil. Heute liegt der Wert inGroßbritannien bei 14 Prozent. Wir müssen etwas dafürtun, damit wir ein erfolgreiches Wirtschaftsland bleiben.Doch die Sorge, die wir haben, ist, dass Sie sich in denletzten drei Jahren, seit Schwarz-Gelb dieses Land re-giert, auf guter Konjunktur, auf dem Mut von Vorgänger-regierungen, auf dem industriellen Fortschritt von Unter-nehmen und Gewerkschaften einfach ausgeruht habenund dass wir in der Gefahr sind, den Vorsprung, den wiruns in Deutschland mühsam erarbeitet haben, wieder zuverlieren. Der Attentismus, das Chaos dieser Bundesre-gierung, das Zuwarten im Bereich der Wirtschafts- undIndustriepolitik – im Bereich der Energiepolitik ebenwortreich beschrieben –, ist das eigentliche Standort-risiko für Deutschland, für die Zukunft des Wohlstandsund für die Arbeitsplätze in unserem Land.Es sind vier große Herausforderungen, vor denen Siesich im Moment wegducken und auf die Sie keine Ant-worten haben. Da ist beispielsweise der veränderte Al-tersaufbau unserer Gesellschaft, der mittlerweile am Ar-beitsmarkt ankommt. Die Politik, die Sie machen, führtdazu, dass wir in einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt ge-radezu hineingetrieben werden. Auf der einen Seite su-chen immer mehr Unternehmen händeringend qualifi-zierte Fachkräfte, und auf der anderen Seite sorgen Siedafür, dass Menschen durch prekäre Beschäftigung undLangzeitarbeitslosigkeit abgehängt werden. Das kannsich Deutschland wirtschaftlich nicht leisten. Wir brau-chen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt, die Menschenin Arbeit bringt und sie nicht durch prekäre Beschäfti-gungsverhältnisse abhängt.
Dazu gehört der gesetzliche Mindestlohn. Dazu ge-hört gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der Zeit- undLeiharbeit. Dazu gehört auch eine aktive Arbeitsmarkt-politik. Wenn wir über Fachkräftesicherung sprechen,
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Hubertus Heil
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dann müssen wir uns auch über die Potenziale in unse-rem Land Gedanken machen. Das Wichtigste dabei ist,dafür zu sorgen, dass die Frauenerwerbsbeteiligung,auch was Vollzeitarbeit betrifft, in diesem Land endlichauf europäisches Niveau kommt. Sie führen ein idioti-sches Betreuungsgeld ein, das Frauen vom Arbeitsmarktfernhalten soll. Das ist das Gegenteil von Fachkräfte-sicherung.
Wir brauchen die Vereinbarkeit von Beruf und Fami-lie für junge Männer und Frauen, damit die Potenzialegenutzt werden können. Wir müssen endlich dafür sor-gen, dass nicht weiterhin 60 000 junge Menschen Jahrfür Jahr unsere Schulen ohne Schulabschluss verlassen,dass 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahrenohne berufliche Erstausbildung dastehen.Der Standortvorteil Deutschlands hat mit der gutendualen Ausbildung in diesem Land zu tun. Das beschei-nigen uns inzwischen sogar amerikanische Präsidenten.Wir müssen sie erhalten und modernisieren, aber wir müs-sen auch dafür sorgen, dass junge Menschen ausbildungs-fähig sind. Deshalb brauchen wir mehr Ganztagsschulenund auch frühkindliche Förderung in Deutschland. Siemachen das Gegenteil, und das ist wirtschaftlicher Un-sinn.
Die zweite große Herausforderung neben der Fragevon Demografie und ihrer Auswirkung auf den Arbeits-markt ist und bleibt die Internationalisierung. Hierbeimuss die Frage angesprochen werden, welche Regelnwir auf den internationalen Finanzmärkten haben. Esgibt jetzt viel Gerede vor der Wahl und Papiere vonHerrn Schäuble, die sich endlich auch einmal mit demThema Trennbanken beschäftigen.
Ich sage Ihnen: Wir brauchen im Interesse der Real-wirtschaft und auch der industriellen Basis dieses Lan-des die Spielregeln auf den Finanzmärkten. Wir wollendafür sorgen, dass in Deutschland in Realwirtschaft stattin Zockerei investiert wird. Dafür müssen Sie Ihre Haus-aufgaben machen.
Die dritte große Herausforderung neben dem verän-derten Altersaufbau und der Internationalisierung ist dieTatsache, dass wir wissenschaftlichen und technischenFortschritt in diesem Land haben und brauchen, um er-folgreich sein zu können. Deutschland wird nicht mitden niedrigsten Löhnen, sondern nur mit den besten Pro-dukten, Verfahren und Dienstleistungen wettbewerbsfä-hig sein. Wenn man das in Deutschland erhalten will,dann muss man dafür sorgen, dass auch der industrielleMittelstand in diesem Land stärker an Forschung undEntwicklung partizipieren kann.Sie haben im Koalitionsvertrag dem Mittelstand steu-erliche Forschungsförderung versprochen. In den An-kündigungsreden höre ich, dass Sie das wieder verspre-chen. Nur gehalten haben Sie es nicht. Wo ist denn IhrKonzept für steuerliche Forschungsförderung in dieserLegislaturperiode? Wir werden das nach der Wahl än-dern.
Die größte Herausforderung neben der Demografiefür die deutsche Wirtschaft und für unser Land wird dieFrage sein, wie wir mit dem Thema Ressourcenknapp-heit und Energiewende seriös umgehen. Darüber istheute Morgen diskutiert worden.Ich will eine Begebenheit von gestern schildern. Ichwar auf einer Veranstaltung des Bundesverbands derDeutschen Industrie, der unverdächtig ist, eine Vorfeld-organisation der SPD zu sein. Dort war ein Vertreter Ih-rer Regierungsfraktion – es war, glaube ich, der energie-politische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion –, der Wertdarauf legte, dass er mit der Energiepolitik seiner eige-nen Bundesregierung wenig zu tun hat. Er sprach davon,dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion streng genom-men eine Nichtregierungsorganisation sei.Ich kann nur sagen: In der Energiepolitik merkt man,dass Sie eine Nichtregierungsorganisation sind. DennTatsache ist, dass aufgrund Ihres Vorgehens – das Zer-stören der Planungs- und Investitionssicherheit in vielenBereichen und das Vergurken der Energiewende – mitt-lerweile aus einer industriellen Chance, die die Energie-wende dem Grunde nach ist, ein wirtschaftliches und so-ziales Risiko für dieses Land geworden ist.Wenn Sie auf uns nicht hören, dann hören Sie auf dieVerbände, mit denen Sie sonst immer so dicke sind. Das,was Sie im Bereich Energiepolitik fabrizieren, ist etwas,das uns zurückwerfen kann.Wenn man sich international ein bisschen umtut undweiß, dass es nicht nur im Nahen Osten, sondern auchim Fernen Osten und in Nordamerika aus unterschiedli-chen Gründen sehr gute Standortbedingungen für eineReindustrialisierung gibt – zum Beispiel durch dieShale-Gas-Revolution in Nordamerika, weil dort dieEnergiepreise mutmaßlich sehr niedrig sein werden –,und dass diese Länder demografisch anders aufgestelltsind als wir, dann kann man in Deutschland die Energie-wende nicht so vergurken, wie Sie das machen. Sie ha-ben eine Energiewende versprochen, die sauber, sicherund bezahlbar sein soll. Heute erleben wir Unsicherheitbei der Versorgung und steigende Preise. Was das Stich-wort „sauber“ betrifft, kann man nur sagen: Sie sindnicht sauber im Arbeiten, was die Energiewende betrifft.Deshalb müssen wir auch da den Schalter umlegen.
Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion – es ist eininteressanter Zufall, dass das am zehnten Jahrestag derAgenda 2010 ist – einen Vorschlag für die nächsten zehnJahre gemacht. Vor zehn Jahren standen wir vor ganz an-
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Hubertus Heil
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deren Problemen am Arbeitsmarkt in Deutschland, als esheute Gott sei Dank der Fall ist. Die Aufgaben der letz-ten zehn Jahre sind nicht die der nächsten zehn Jahre.Aber wie wir mit dem veränderten Altersaufbau, Stich-punkt Fachkräftesicherung, und der fortschreitenden In-ternationalisierung der Bändigung der Finanzmärkte imInteresse von Realwirtschaft umgehen, wie wir die Ener-giewende zum Erfolg führen und wie wir dafür sorgen,dass Deutschland eine starke, wissensbasierte und er-folgreiche Industrienation bleibt: Das sind die Aufgaben,denen wir uns stellen müssen. Denn Sie haben in denletzten Jahren dafür gesorgt – dabei rede ich jetzt nichtmehr von Schwarz-Gelb, sondern die Merkel-Regierunghat dafür gesorgt –, dass wir den Vorsprung, den wir unsmühsam erarbeitet haben, wieder gefährden.Ich sage Ihnen: Wirtschaftlicher Erfolg und sozialeGerechtigkeit, das sind für uns Sozialdemokraten keineGegensätze, sondern wechselseitige Bedingungen, wennwir erfolgreich sein wollen. Die Art und Weise, wie Siedas Ganze laufen lassen bzw. verschludern und sich aufden Lorbeeren der Vorgängerregierungen ausruhen, istein Standortrisiko. Deshalb brauchen wir im Interessedes Wirtschaftsstandorts Deutschland einen Regierungs-wechsel im Herbst dieses Jahres.Herzlichen Dank.
Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein
jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!Nachdem Sie dieses Thema erneut angesprochen haben,kann ich Ihnen nicht ersparen, im Zusammenhang mitIhrem Antrag noch ein paar Sätze zum Thema Energiezu sagen.
Ich will an dieser Stelle ein bisschen ausholen und Ihnenzunächst versichern – das meine ich so, wie ich es sage –,dass ich mich über den vorliegenden SPD-Antrag freue;denn in diesem Antrag stehen viele richtige und wichtigeSachverhalte. Das meiste ist aber überholt und erfüllt.Das heißt, Sie fordern Maßnahmen, die wir sehr wohlumsetzen.Der Kollege Heil hat gerade insbesondere auf dasThema Fachkräftemangel abgehoben. Unser Fachkräfte-konzept zielt in der Tat zuallererst auf Ausbildung undWeiterbildung ab. Der Kollege Heil hat zu Recht daraufhingewiesen, dass das duale System uns innerhalb undauch außerhalb Europas wettbewerbsfähig hält. Diesesduale System kann man nicht nur nicht hoch genug lo-ben, sondern man muss es auch nach vorne bringen. Ichweise Sie in diesem Zusammenhang darauf hin, dassBildung Ländersache ist. Ich erkenne deutlich, dass eshier gewaltige Unterschiede gibt. Im Bildungsbereichgeht es dort am besten, wo die Union regiert. Dort kom-men wir am sichersten voran.
Aber überall dort, wo Rot und Grün ihr Unwesen trei-ben, gibt es die Ihnen sehr wohl bekannten Schwierig-keiten. Wenn man das duale System lobt, dann sollteman auch darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, einerZwangsakademisierung Vorschub zu leisten. Jedes Mal,wenn wir – zu Recht – über Chancengleichheit diskutie-ren, stelle ich eine einseitige Betonung einer Akademi-sierung fest. Es wird viel zu wenig darüber gesprochen,was man dafür tun kann, dass unser wunderbares dualesSystem so gut bleibt, wie es ist. Das halte ich für ganzwichtig.
Wenn wir für Chancengleichheit sorgen wollen, dannmüssen wir unser Augenmerk auch auf das Handwerkrichten, das bei der Ausbildung eines erheblichen Teilsder Lehrlinge durch Meister Großartiges leistet.Wir brauchen natürlich auch die Zuwanderung quali-fizierter, guter Leute; das ist ganz klar. Aber wir machendas anders, als Sie von der Opposition das machen wol-len. Wir wollen nicht einfach die Schleusen öffnen bzw.die Tore aufreißen, sondern sehr differenziert vorgehen.Vor diesem Hintergrund ist das richtig, was der Bundes-innenminister in letzter Zeit in den Vordergrund gestellthat. Wir brauchen keine Zuwanderung in unsere Sozial-systeme.
Wir haben angesichts der Freizügigkeit gegenüber Ru-mänien und Bulgarien große Bedenken. Dafür, dass dasdosiert, gesteuert und wohlüberlegt geschieht, ist einUnionsinnenminister sicherlich ein Garant.Ich will nicht näher auf das eingehen, was Sie zurEnergiepolitik und insbesondere zu den Energienetzengesagt haben; denn darüber haben wir eben umfassenddiskutiert. Nur so viel: Wenn Sie uns nicht glauben, dassdie Beschleunigung des Netzausbaus zu schaffen ist unddass wir die Motoren dabei sind, dann bitte ich Sie, daswenigstens dem Sachverständigenrat zu glauben; denndieser würdigt, was dazu in den letzten Monaten be-schlossen worden ist.Im Zusammenhang mit dem Breitbandausbau lassenSie sich in Ihrem Antrag breit und lang über die vorhan-denen Defizite aus. Ich weise darauf hin, dass auch die-ses Thema nicht einfach zu bearbeiten ist; denn es gehtdarum, im Rahmen des Wettbewerbs auch den ländli-chen Raum zu erschließen. Der wirtschaftliche Schadenwäre immens, wenn es an dieser Stelle nicht voranginge.Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass das vonuns novellierte Telekommunikationsgesetz einen ent-
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Dr. Georg Nüßlein
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scheidenden Beitrag dazu leisten wird, dass der Ausbaukostengünstig und in der Konsequenz auch flächende-ckend gelingt.Ich finde auch spannend, was Sie zum Thema Verkehrgesagt haben. Die Ausweitung der Lkw-Maut 2012 aufausgewählte vier- und mehrstreifige Bundesstraßen – Siefordern noch eine weitere Ausweitung – stärkt aus mei-ner Sicht den Finanzierungskreislauf des VerkehrsträgersStraße. Wir haben für dieses Jahr dank des Bundesver-kehrsministers, der da sehr vorausschauend ist, zusätz-lich 750 Millionen Euro für den Neu- und Ausbau unse-res Straßensystems eingeplant.
– 750 Millionen Euro zusätzlich!
Das ist etwas, was ich auch angesichts unserer The-matik – davon abstrahieren Sie bei Ihren Forderungen –ganz klar unterstreichen möchte. Uns geht es um zweiDinge: investieren auf der einen Seite und Haushaltekonsolidieren auf der anderen Seite. Bei Ihnen gibt es ei-nen anderen Gleichklang, und der heißt: investieren aufder einen Seite und abkassieren auf der anderen Seite.
Das ist das, was in Ihrem Parteiprogramm für dienächste Legislaturperiode angekündigt ist, falls Sie dafüreine Mehrheit bekommen. Ich kann mir das beim aller-besten Willen aber nicht vorstellen.
Ich habe Ihnen einleitend gesagt: Mich freut dieserAntrag. Mich freut er auch noch aus einem anderenGrund, weil Sie darin nämlich neunmal den Begriff„Wachstum“ verwenden, und zwar in einem positivenSinne.
Nun freut mich das aus einem bestimmten Grund. Ichbin auch Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum,Wohlstand, Lebensqualität“. Da sieht das, was die SPDan der Stelle vorträgt, komischerweise ganz anders aus.
Da tun Sie so, als ob wir einem falschen Wachstumsbe-griff, ja geradezu einer Wachstumsgläubigkeit anhängenwürden, was aber falsch ist. Noch viel spannender ist:Die Opposition verkauft in dieser Enquete-Kommissionals Erfolg, dass man uns habe beibringen müssen, dassWachstum kein Ziel sei, sondern maximal ein Weg, umWohlstand zu erreichen. Sie formulieren in Ihrem Antragjetzt aber ganz anders. Sie schreiben, soziale Gerechtig-keit, Wohlstand und Wachstum seien Ziel der Politik. Ichfinde das nicht schlimm – das ist Wortklauberei, sage ichIhnen an der Stelle ganz offen –, aber ich wundere mich,dass Sie sich mit Ihren Kollegen nicht abgestimmt ha-ben. Die lassen sich in der Enquete-Kommission vonden ganz Linken und den Grünen in Geiselhaft nehmen,die wachstumsskeptisch wie immer sagen:
Das alles brauchen wir nicht mehr. Man muss mit Blickauf die Ökologie – das sind alte „Club of Rome“-Fanta-sien, sage ich Ihnen – das Wachstum deckeln, beschrän-ken; das alles ist des Teufels.Insofern geht an die SPD: Willkommen im Klub! Ichfreue mich, dass Sie wieder auf der richtigen Spur sindund dass Sie sich jetzt mit uns gemeinsam dafür einset-zen wollen, dass uns in dieser Republik Wachstum ge-lingt.
Ich halte das auch vor folgendem Hintergrund für ent-scheidend: Man muss wissen, dass Verteilen schwierigerist, wenn ein Kuchen nicht größer wird; wenn er größerwird, gibt es ganz andere Verteilungsmöglichkeiten. Ichnehme sehr wohl zur Kenntnis, dass Sie sich auch da-rüber Gedanken gemacht haben, wie man das Ganze ver-teilt.Ich nehme aber ebenfalls zur Kenntnis, dass großeTeile der SPD mit der Agenda 2010 hadern. Ich bin froh,dass das beim Kollegen Heil offenkundig nicht so ist,aber ich vermisse schon die Jubiläumsfeiern zum zehn-jährigen Bestehen der Agenda 2010; ich vermisse echtdie Festlichkeiten an der Stelle.
Dadurch, dass wir aufgrund der Bundesratsmehrheitdamals auf diese ganze Geschichte Einfluss nehmenkonnten, hat sich einiges in diesem Land bewegt. Ich be-streite ganz und gar nicht, dass ein Teil dessen, was unsin der Republik insgesamt geglückt ist, mit guten Unter-nehmern und fleißigen Arbeitnehmern, darauf zurückzu-führen ist, dass Bundeskanzler Schröder seinerzeit imRahmen der Agenda 2010 einen guten Weg eingeschla-gen hat, nämlich einen Weg, den man von unserer Seitehat begleiten können. Da sind viele Dinge deckungs-gleich. Es ist bei der Agenda 2010 so wie bei Ihrem An-trag: Immer dann, wenn Sie auf unserer Linie sind, sindSie auf der rechten Spur.
Ich will noch etwas dazu sagen, was uns unterscheidet– ich habe das vorhin schon einmal angedeutet –: Wirverfolgen mit der qualitativen Konsolidierung der Haus-halte ein Konzept für ein nachhaltiges Wachstum. Esgeht uns also nicht um Konjunkturimpulse auf Pump,wie es sich die linke Seite immer vorstellt. Danachmüsse der Staat den Bürgern das Geld abknöpfen und
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Dr. Georg Nüßlein
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wisse genau, wie er es investieren soll. Das ist Quatsch,meine Damen und Herren. Das geht regelmäßig schief,das Abkassieren nicht. Das können Sie – das wissen alleBürgerinnen und Bürger –, das bekommen Sie gut hin.Dadurch kann man aber natürlich kein nachhaltigesWirtschaftswachstum generieren.Deshalb warne ich nachdrücklich vor dem, was beiIhnen allen angekündigt wird, nämlich vor substanziel-len Steuererhöhungen. Dabei geht es nicht nur um Er-tragsteuern, sondern auch um Eingriffe in die Substanz,um Substanzsteuern. Herr Heil, sich dann hier hinzustel-len und so zu tun, als stehe man auf der Seite des Mittel-standes, das ist schon unverfroren.
Ich kann mir nicht vorstellen, dass nachhaltiges Wirt-schaftswachstum dadurch generiert wird, dass man un-abhängig von der Gewinnsituation des Mittelstandes indie Substanz der Betriebe eingreift, dass man über Erb-schaft- und Vermögensteuer Geld kassiert. Sie erzählenja, man würde damit Wirtschaftswachstum organisieren.Das ist komplett Schwachsinn, meine Damen und Her-ren. Diese Rechnung wird niemals aufgehen.
Sämtliche Kritik, die seit heute Morgen 9 Uhr von derlinken Seite des Hauses an der Koalition geäußert wor-den ist, muss sich an den Ergebnissen messen lassen.Ich sage es noch einmal: Sie haben aufgehört mit5,5 Millionen Arbeitslosen. Das war Ihre Bilanz. Jetztsind wir fast bei der Hälfte dieser Zahl Arbeitsloser. Dieszumindest ein bisschen anzuerkennen, wäre eine guteSache.
– Liebe Kollegin Andreae, dieses Ergebnis ist jedenfallsnicht den Anträgen zu verdanken, die Sie stellen, son-dern einer klugen Regierungspolitik, die wir nach derBundestagswahl werden fortsetzen können.Vielen herzlichen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Dr. Gregor Gysi.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ichglaube, die SPD hat recht, wenn sie sagt, dass wir drin-gend Zukunftsinvestitionen benötigen. Aber was müsstedie erste Zukunftsinvestition sein?Wir müssen die Binnenwirtschaft stärken. Wir müs-sen sie schon deshalb stärken, weil alle anderen Fraktio-nen zusammen den Export dadurch ruinieren, dass sieSüdeuropa auf absolut desaströse Weise sozial ungerechtgestalten und damit dafür sorgen, dass dort die Kaufkraftabnimmt. Das führt dazu, dass unsere Exporte dorthinnachlassen werden. Es gibt nur eine Antwort darauf– das Ungleichgewicht muss sowieso überwunden wer-den –, nämlich dass wir eine stärkere Binnenwirtschaftbrauchen.
Ich sage Ihnen: Diesbezüglich lag die Agenda 2010falsch. Herr Nüßlein, ich stimme Ihnen überhaupt nichtzu: Die SPD hat den Jahrestag gefeiert wie verrückt.Aber ich finde das völlig falsch, weil die Agenda 2010der größte Sozialabbau in der Geschichte der Bundes-republik Deutschland war.
Sie können gar nicht leugnen, dass die Armut drama-tisch zugenommen hat. Sie können nicht leugnen, dassder Reichtum dramatisch zugenommen hat.
23 Prozent aller Beschäftigten sind heute prekär be-schäftigt. Das ist etwas, was sich lohnt, worauf Sie stolzsein wollen? „Prekär beschäftigt“ heißt: Es sind Aufsto-ckerinnen und Aufstocker, es sind Leiharbeiterinnen undLeiharbeiter; sie sind im Niedriglohnsektor bzw. inMinijobs beschäftigt. Hinzu kommen die befristet Be-schäftigten. Diese zählen gar nicht zu den prekär Be-schäftigten.
– Ich spreche von Grünen und SPD. Union und FDP ha-ben dabei aber mitgemacht und das noch verschlimmert.Darüber wollen wir gar nicht streiten.
Von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes biszum 35. Lebensjahr haben 52 Prozent ein befristetes Ar-beitsverhältnis. Dann kommt die Union und sagt ihnen,sie sollen Familien gründen und mehr Kinder bekom-men. Ja, wie denn? Wie soll denn jemand mit einemHalbjahresvertrag eine Perspektive haben? Davon kannniemand ausgehen. So bekommen Sie niemals eine guteFamilienpolitik zustande. Das garantiere ich Ihnen.
Jetzt kommt immer das Argument – auch von Ihnenwieder, Herr Nüßlein –, dass die Arbeitslosenzahlen sosehr zurückgegangen sind. Nehmen Sie bitte eine Tatsa-che zur Kenntnis: Wir haben jetzt dasselbe Volumen anArbeitsstunden wie vor Beginn der Agenda 2010; es hatsich nichts geändert. Der einzige Unterschied ist, dassaus einer Vollzeitarbeitsstelle drei Drittelstellen gewor-
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Dr. Gregor Gysi
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den sind. Damit verbessern Sie die Statistik, aber nichtdie Lage der Leute, im Gegenteil: Sie wird nur prekärer.
Ich sage heute, da wir einen neuen Papst haben: WennFranziskus die Agenda 2010 kennen würde, wäre erstrikt dagegen; er stünde an unserer Seite. Das will ichIhnen bloß mal sagen; Sie können darüber nachdenken.
– Ich wollte, dass Sie mal Reaktion zeigen.Ich will Ihnen noch sagen: Wenn die Reichen mehrGeld haben – das muss die CDU/CSU mal zur Kenntnisnehmen –, dann spekulieren sie mehr. Wenn Arme, Ge-ringverdienende oder durchschnittlich Verdienende mehrGeld haben, dann kaufen sie mehr Waren und nehmenmehr Dienstleistungen in Anspruch. Der Binnenwirt-schaft können Sie nicht mit mehr Reichtum, sondern nurmit mehr sozialer Gerechtigkeit helfen.
Ich führe Ihnen noch einmal die Unterschiede vor Au-gen. Zwischen 1992 und 2012 ist das Geldvermögen inDeutschland von 4,6 Billionen Euro auf 10 BillionenEuro gestiegen; es hat sich also mehr als verdoppelt.
0,6 Prozent der Haushalte besitzen davon knapp 20 Pro-zent, nämlich 1,9 Billionen Euro. Die unteren 50 Prozentder Haushalte – das ist auch interessant – besaßen 19984 Prozent des Geldvermögens und besitzen heute nurnoch 1 Prozent des Geldvermögens. Auch das ist ein Er-gebnis der Agenda 2010. Warum korrigieren Sie dasnicht und fangen nicht an, ganz anders politisch zu agie-ren und darüber nachzudenken, wie wir diesbezüglich zueiner anderen Gesellschaft kommen?
Wenn wir die Binnenwirtschaft stärken wollen, brau-chen wir gerechte, höhere Löhne, Renten und Sozialleis-tungen. Aber wir müssen endlich auch den Steuerbauchüberwinden; das sage ich Ihnen von der FDP, weil auchSie das fordern. Es ist wirklich wahr – das möchte ichden Leuten sagen –: Der Verlauf unseres Einkommen-steuertarifs ist nicht linear, sondern hat einen Bauch, undzwar bei der Mittelschicht der Gesellschaft, also denFacharbeiterinnen und Facharbeitern, den Meisterinnenund Meistern, aber auch den Lehrerinnen und Lehrern,den Polizistinnen und Polizisten und vielen Selbstständi-gen. Sie alle müssen sehr viel mehr Steuern zahlen, alses gerecht ist. Deshalb muss dieser Steuerbauch weg.Warum ist der Steuerbauch da?
Weil der Spitzensteuersatz gesenkt worden ist. Sie wol-len den Steuerbauch beseitigen – so weit sind wir einver-standen –, aber ohne Erhöhung des Spitzensteuersatzes.Das geht nicht; denn es bedeutet, die Kommunen nochmehr pleite zu machen. Sie können sich jetzt schonkaum Investitionen in Schulen und Kindertagesstätten,in Kultur und Jugend leisten. Das geht nicht. Deshalbsage ich Ihnen: Wir brauchen einen Ausgleich, einen hö-heren Spitzensteuersatz, und dann können wir endlichden Bauch bei der Mittelschicht beseitigen, der tatsäch-lich überwunden werden muss.
Dann haben die auch mehr Netto vom Brutto.Also: Was müssen wir machen? Wir brauchen einenflächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Europro Stunde. Wir würden auch einem geringeren Mindest-lohn zustimmen, aber er wäre falsch. Ich sage Ihnennoch einmal: Wir brauchen in Deutschland einen flä-chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro.
Wir brauchen statt prekärer Beschäftigung gute Arbeit,höhere Renten und höhere Sozialleistungen. Das wäredie wichtigste Investition für unsere Binnenwirtschaftund damit für unsere Zukunft.Sie haben recht: Wir brauchen auch Investitionen imEnergiebereich. Die erneuerbaren Energien müssen ge-fördert werden. Bis zum Jahre 2020 muss ihr Anteil von25 Prozent auf 50 Prozent steigen. Was macht die Bun-desregierung jetzt? Sie stellen die Förderung ein. Aben-teuerlicherweise begründen Sie das auch noch mit denStrompreisen, Herr Altmaier.
Das ist der völlig falsche Weg. Wenn wir die erneuerba-ren Energien endlich angemessen fördern und trotzdemStrompreise haben wollen, die sich die Leute leistenkönnen, müssen wir sieben Schritte machen:Erstens. Wir brauchen, auch wenn es Ihnen nicht ge-fällt, eine Strompreisaufsicht; anders geht es nicht.
Wir müssen die Abzocke durch die vier Konzerne been-den.Zweitens. Wir brauchen eine Senkung der Strom-steuer in dem Umfange, in dem wir eine Steuer für dieerneuerbaren Energien erheben.Drittens. Die Privilegierung der Industrie muss, vonwenigen Ausnahmen abgesehen, abgebaut werden. Es istnicht hinnehmbar: Die Unternehmen mit dem höchstenStromverbrauch müssen am wenigsten bezahlen.
Viertens. Wir brauchen einen Sockeltarif für die Bür-gerinnen und Bürger. Das wäre eine soziale Maßnahme.Wir sagen: Pro Haushalt gibt es jährlich 300 Kilowatt-stunden kostenfrei, zusätzlich 200 Kilowattstunden proPerson. Das bedeutet: Ein Einpersonenhaushalt erhielte500 Kilowattstunden – sagen wir es einmal so – gebüh-renfrei, wenn auch nicht kostenfrei. Ein Zweipersonen-
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Dr. Gregor Gysi
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haushalt erhielte 700 Kilowattstunden gebührenfrei, undso ginge es immer weiter. Das wäre sinnvoll.Fünftens. Wir brauchen eine Abwrackprämie. Wer einstromfressendes Haushaltsgerät verschrottet und einneues Gerät mit hoher Energieeffizienz – Kühlschrank,Waschmaschine, Spülmaschine – erwirbt, sollte dieseAbwrackprämie bekommen. Das reizt. Das hilft übri-gens auch der Wirtschaft, und gleichzeitig macht es dieStrompreise bezahlbar.Sechstens. Der Bund muss meines Erachtens für dieGebäudesanierung 3,5 Milliarden Euro bereitstellen.Siebtens. Es ist ja wichtig, die Gebäude zu sanieren– auch eine wichtige Investition –, aber wenn wir dasGeld zur Verfügung stellen, müssen wir den Vermietern,die dieses Geld nehmen, verbieten, die Mieten zu stei-gern. Das ist nämlich das Entscheidende, damit dasGanze sozialverträglich wird.
Ich sage es Ihnen noch einmal: Wenn Sie eine nach-haltige, ökologische Umgestaltung wollen und sie nichtsozialverträglich machen, dann erben Sie Blockierer,und zwar gerade in den armen Schichten der Bevölke-rung. Es muss sozial sein, damit wir diese Schichten mit-nehmen und für den ökologischen Umbau gewinnenkönnen.
Wir müssen natürlich auch in die Infrastruktur inves-tieren, zum Beispiel in Verkehrswege, aber nicht in so et-was Sinnloses und wahnsinnig Teures wie Stuttgart 21,sondern in die Schieneninfrastruktur, in den Nah- undFernverkehr, in Fahrwege, in Bahnhöfe für U-, Stadt-und Straßenbahnen, in Omnibusse und – ich sage esauch im Interesse der Grünen – in sichere Radwege.
– Nein, aber auch Ihretwegen.
Wir brauchen außerdem ganz dringend Investitionenim Bildungsbereich – ich bitte Sie! –, und zwar für dieSchulgebäude, für die Ausrüstung, aber auch für dieQualifizierung und die Anzahl des Personals. Da mussinvestiert werden. Ich möchte Chancengleichheit fürKinder bei der Bildung. Davon sind wir meilenweit ent-fernt, übrigens gerade auch in Bayern, weil dort die Kin-der schon nach der vierten Klasse getrennt werden. Dasist nichts anderes als soziale Ausgrenzung. Das ge-schieht in vielen anderen Bundesländern auch.
Wir brauchen auch Investitionen in Fachhochschulenund in Universitäten, überhaupt wieder in Forschungund Wissenschaft, die vernachlässigt werden, aber vorallem in Kindertagesstätten. Ab 1. August 2013 gibt eseinen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Undwas führen Sie ein? Ein Betreuungsgeld, damit die El-tern ihre Kinder nicht in Kindertageseinrichtungen schi-cken. Ich bitte Sie! Dort lernen die Kinder soziales Ver-halten. Dazu brauchen wir qualifiziertes Personal; das istwichtig. Natürlich müssen Kindertagesstätten genausowie Schulen ein gebührenfreies, vollwertiges und gesun-des Mittagessen anbieten.
Das Deutsche Institut für Urbanistik hat übrigens fest-gestellt, dass wir bis zum Jahre 2020 Investitionen von704 Milliarden Euro benötigen. Jetzt kommt ein Punkt,der mich auch erstaunt hat: Gleichzeitig wurde festge-stellt, dass die Höhe der deutschen Investitionen inner-halb der EU am untersten Rand liegt. Nicht dieses reicheDeutschland investiert mehr als Länder wie Spanien etc.,nein, weniger. Ja, sagen Sie mal! Wo leben wir denn hiereigentlich? Herr Rösler, da müssten selbst Sie erschrecktund erstaunt sein.
Ich kann nur sagen: Das geht nicht. Wenn wir nur denEU-Durchschnitt erreichen wollen, müssten wir 30 Mil-liarden Euro pro Jahr investieren. Aber die reichen garnicht aus. Wie gesagt, das Institut für Urbanistik hat fest-gestellt: Wir brauchen 704 Milliarden Euro für Verkehr,für Wasser, für Abwasser, für Kitas, für Schulen. Genauda muss investiert werden.Wir haben gesagt: Wir brauchen gute Arbeit und ge-rechte Löhne. Deshalb sage ich Ihnen noch einmal– Mindestlohn ist klar –: Leiharbeit möchte ich überwin-den. Aber wenn Sie sie nicht überwinden, führen Siedoch endlich nicht nur den gleichen Lohn für die Leih-arbeiterinnen und Leiharbeiter wie für die Stammbeleg-schaft ein, sondern einen Zuschlag von 10 Prozent wie inFrankreich. Dieser Zuschlag ist mir wichtig. Es muss fürdas Unternehmen teurer sein, eine Leiharbeiterin odereinen Leiharbeiter zu beschäftigen. Außerdem verdienendie Leute dieses Geld. Dann wird es nämlich zur Aus-nahme und nicht Schritt für Schritt zur Selbstverständ-lichkeit, wie es leider in unserer Gesellschaft gewordenist.
– Ja, passen Sie auf. Wir müssen die Befristung verbie-ten, wenn sie ohne sachlichen Grund erfolgt, wenigstensdas. Ich bin es leid, dass die Leute fast nur noch befris-tete Verträge erhalten. Fast alle Neueinstellungen erfol-gen inzwischen befristet und damit ja auch ohne Kündi-gungsschutz.
Herr Kollege.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28415
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Sie wollen doch nicht sagen, dass meine Redezeit
schon um ist.
Die ist schon quasi mehr als um. Ich sage das nicht,
aber die Uhr.
Ja, ich höre ja auch auf. Ich hätte Ihnen noch so viel
erklärt,
wie das Ganze zu finanzieren ist. Aber wissen Sie: Der
Redner vor mir hatte auch elf Minuten, und die dauerten
so viel länger als meine. Daran müssen wir mal was än-
dern.
Ich wünsche Ihnen trotzdem alles Gute.
Birgit Homburger hat jetzt das Wort für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Angesichts des Antrages, den wir heute disku-tieren, war ich doch einigermaßen verwundert, HerrHeil, über die Rede, die Sie hier abgeliefert haben. Ichhabe den Eindruck: Das war die Rede, die Sie jede Wo-che hier halten – einmal aus der Schublade gekramt undwieder runtergeleiert. Jedenfalls steht nichts von dem,was Sie hier erzählt haben, in Ihrem Antrag.
Insofern, verehrter Herr Heil, rate ich Ihnen dringend,diesen Antrag einmal zu lesen.
Ich habe mir diese Mühe gemacht, und ich kann nur sa-gen: Das scheint die Zusammenfassung der derzeitigenwirtschaftspolitischen Forderungen und Kernpositionender SPD zu sein. Wenn das alles ist, dann gute Nacht,Deutschland!
Wenn ich mir anschaue, über was alles Sie nicht redenin Ihrem Antrag mit dem großen Titel „Deutschland2020“, dann stelle ich fest: Sie reden beispielsweisenicht über Grundvoraussetzungen für Wettbewerbsfähig-keit und Wachstum, nicht über den Arbeitsmarkt, auchwas die Bedeutung von Arbeitskosten angeht. Auch dasStichwort „Haushaltskonsolidierung“ sucht man erfolg-los in diesem Antrag. Über die Bedeutung von Steuernfür die weitere wirtschaftliche Entwicklung reden Sieebenfalls nicht. Das ist auch besser so; denn wer 30 Mil-liarden Euro Steuererhöhungen fordert, der kann ebennicht über diese Rahmenbedingungen sprechen, die fürdie Wirtschaft nur bedeuten, dass es für sie schwierigerwird und nicht besser.
Ich finde es ganz besonders apart, dass Sie sich hierhingestellt und wieder mal die Agenda 2010 für sich re-klamiert haben. Klar, das können Sie natürlich; aber Siereklamieren die Erfolge, die wir derzeit in der Wirt-schaftspolitik und am Arbeitsmarkt haben, für sich undfür die Agenda 2010. Sehr geehrter Herr Heil, ichmöchte, dass Sie sich endlich einmal die Mühe machen,sich die geschichtliche Wahrheit nicht nur anzuschauen,sondern vielleicht auch vorzutragen. Sie verschweigennämlich, dass Rot-Grün, nachdem Sie 1998 die Regie-rung übernommen haben, als Erstes eines gemacht hat:
Sie haben all die Reformmaßnahmen, die wir, Schwarz-Gelb, 1996/97 durchgeführt haben, rückgängig gemacht,
um sie Jahre später mit der Agenda 2010 wieder einzu-führen. Das ist keine bemerkenswerte Leistung, sondernes ist eine bemerkenswerte Einsicht, die Sie mit derAgenda 2010 gezeigt haben.
Jetzt feiern Sie die Agenda 2010 in großen Festakten.
Aber in Ihrem Programm schleifen Sie die Agenda 2010.
Ihre wirtschaftliche Position ist inkonsistent, und das,was Sie hier in der Wirtschaftspolitik abliefern, ist anSchizophrenie nicht mehr zu überbieten.
Das geht bei der Verkehrsinfrastruktur weiter. Natür-lich ist es wichtig, dass wir in die Verkehrsinfrastrukturinvestieren, und das tun wir auch im Rahmen der Mög-lichkeiten, die der Haushalt bietet.
– Sie brauchen gar nicht so zu tun. – Ich will Ihnen nureinmal sagen: Sie haben in der Vergangenheit, egal in
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28416 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Birgit Homburger
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welcher Regierung Sie waren, in die Verkehrswege we-niger investiert als das, was jetzt von uns investiert wird.Das ist die Wahrheit.
Unser Investitionsrahmenplan sieht vor, dass in dennächsten Haushalten das Niveau von 10 Milliarden Eurofür Infrastrukturmaßnahmen erhalten wird. 2013 wirkt zu-sätzlich ein Infrastrukturbeschleunigungsprogramm II,das weitere 750 Millionen Euro umfasst. Wenn Sie, dieSPD, in der Verantwortung sind, dann kürzen Sie dieVerkehrsinvestitionen, und wenn Sie in der Oppositionsind, dann fordern Sie gemeinsam mit den Grünen üp-pige Aufstockungen, ohne irgendeine Antwort auf dieFrage zu geben, wie Sie das finanzieren wollen.
Dann kommen Sie daher und fordern in Ihrem Antragauch noch ein Investitionspaket zur Finanzierung derkommunalen Verkehrsinfrastruktur.
Sie vergessen, dass es immer noch eine Investitionshilfevom Bund gibt, obwohl man in der Föderalismuskom-mission II eine Entflechtung beschlossen hat, und zwarmit Ihren Stimmen. Trotzdem gibt es bis zum Jahr 2019Mittel: 1,4 Milliarden Euro jährlich Kompensationszah-lungen,
330 Millionen Euro Bundesmittel und Regionalisierungs-mittel für den ÖPNV in Höhe von 7 Milliarden Euro.
Das ist das, was der Bund für die Kommunen zahlt. Jetztgehen Sie her und erklären in Ihrem Antrag, Sie wolltennoch mehr. Ich sage Ihnen eines: So kann man nicht mit-einander arbeiten. Sie interessieren sich nur für eines:Geld abholen und Geld abzocken, wo es gerade geht. Daist Ihnen der Bund recht. Wenn es beim Bund nichts zuholen gibt, dann bei den Bürgerinnen und Bürgern durchSteuererhöhungen. Das ist Ihre Politik.
Sie schwadronieren darüber, dass man die industrielleBasis und den Mittelstand nicht schwächen dürfe. Sosteht es in Ihrem Antrag. Wunderbar! Was fällt Ihnen alsLösung ein? Sie wollen die Lkw-Maut auf alle Bundes-,Landes- und Kommunalstraßen ausweiten. Das ist einewirtschaftliche Katastrophe für die Logistik, das Trans-portgewerbe und das Handwerk. Wenn man dazu dieVorstellungen der Grünen von einer Logistikabgabe inHöhe von 2 Milliarden Euro jährlich und einer Auswei-tung und Erhöhung der Lkw-Maut auf alle Lkw über3,5 Tonnen addiert, kann man nur sagen: Bei Logistik,Transport und Handwerk gehen mit Rot-Grün die Lich-ter aus. Das jedenfalls werden wir verhindern, meine Da-men und Herren.
Ein anderes Thema: EEG. Herr Gysi, es war interes-sant, was Sie dazu gesagt haben. Ich sage Ihnen eines:Wenn Sie nicht irgendwann anfangen, die Übersubven-tionierung zulasten der Verbraucherinnen und Verbrau-cher, die wir im EEG haben, zu reduzieren, dann wird esnicht funktionieren.
Deshalb haben wir eine Reform des EEG vorgeschlagen,weil Energie bezahlbar bleiben muss.
Das, was Sie auf der linken Seite des Plenums machen,ist eines: schamlose Klientelwirtschaft. Das muss manIhnen irgendwann auch mal sagen.
Dann fordern Sie in Ihrem Antrag zusätzliche Investi-tionen für Forschung. Sie können das natürlich gernefordern. Aber ich frage Sie, Herr Heil: Warum haben Siedies in Ihrer Regierungszeit eigentlich nicht gemacht?Diese Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP
hat in dieser Legislaturperiode über 13 Milliarden Euromehr in Forschung und Bildung investiert.
Das ist eine klare Schwerpunktsetzung. Wir stellen peranno 14 Milliarden Euro Mittel für Forschung und Ent-wicklung zur Verfügung. Das ist der höchste Betrag, denwir in diesem Land je zur Verfügung gestellt haben.
Das haben wir umgesetzt in der Hightech-Strategie, inder Innovationsstrategie, in einer Zusammenarbeit mitUniversitäten, um Forschungserfolge in Innovationenumzusetzen. Jetzt wollen Sie noch mehr Geld. Meine
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28417
Birgit Homburger
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Damen und Herren, wir haben es gemacht. Sie reden nurdavon, und wenn Sie regieren, machen Sie das Gegen-teil.
Sie stellen sich hier hin und reden darüber, dass es inden USA Preisminderungen bei der Energie durch eineRevolution bei der Schiefergasförderung gebe. Ja, Herrim Himmel: Was machen Sie eigentlich in Deutschland?
Sie betonen die Risiken. Über die Chancen habe ich Siean dieser Stelle noch nie reden hören. Also erwecken Sienicht den Eindruck, als wenn Sie diese Technologie un-terstützen wollten.
Sie wollen eine Initiative zur Schaffung von Technik-verständnis auf den Weg bringen. Auch das ist ganz be-merkenswert, Herr Heil. In Hannover, wo Sie gerade dieRegierung gebildet haben, haben SPD und Grüne be-schlossen, dass das Projekt HannoverGEN beendet wird.Das heißt, das Projekt – ein prämiertes Modell der Initia-tive „Deutschland – Land der Ideen“ –, bei dem bei-spielsweise Schüler durch molekularbiologische Experi-mente an das Thema Biotechnologie herangeführtwerden, um Chancen und Risiken zu diskutieren, schaf-fen Sie ab. Sie reden auf Bundesebene das eine, aber inden Ländern, in denen Sie regieren, machen Sie das Ge-genteil.
Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,wird in Ihrem Antrag und der Debatte deutlich: Es gibteinen Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot-Grün.
Das ist ein klares Bild: Wir wollen eine Stabilitätsunion,Sie wollen eine Schuldenunion; wir wollen die Haus-haltskonsolidierung, Sie wollen Mehrausgaben; wir wol-len Leistungsgerechtigkeit, Sie wollen Steuererhöhun-gen; wir wollen Wettbewerb im Energiebereich, Siewollen klientelorientierte Planwirtschaft; wir wollen so-zialen Aufstieg durch bessere Bildung, das, was Siedurch Einheitsschulen in den Ländern machen, bedeutetBildungsabstieg. Das ist der Unterschied zwischen unsund Ihnen.
Jetzt hat für Bündnis 90/Die Grünen Kerstin Andreae
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ja, es gibt große Unterschiede zwischen Schwarz-Gelbund Rot-Grün, und das ist gut so.
Wir werden die nächsten Wochen und Monate dazu nut-zen, diese deutlich zu machen.Der große Unterschied besteht vor allem darin, dassSie Besitzstände und Zugangsbarrieren wahren, dass Siesich nicht trauen, Altes zu hinterfragen, dass Sie nichtnach vorne gehen, dass Sie keinen Mut zur Veränderunghaben, sondern dass Sie beharren und abwarten. Das istder große Unterschied.
Sie ruhen sich auf den Taten von Vorgängerregierun-gen aus. Sie leben von der Hand in den Mund.
Wir werden bei den Haushaltsberatungen demnächstdeutlich aufzeigen, dass Sie von der Hand in den Mundleben, dass Sie nur noch kurzfristig und nicht mehr lang-fristig in die Zukunft denken und sich nicht mehr trauen,voranzugehen.Ja, wir sind ein starker Industriestandort, aber waswaren die relevanten Weichenstellungen der letztenJahre, des letzten Jahrzehnts, damit wir dieser relevanteIndustriestandort werden? Ja, wir haben vor zehn Jahrenverkrustete Strukturen aufgebrochen. Das war richtig so.
Es ist auch richtig, sich heute zu fragen: Wo gab es Fehl-entwicklungen? Die Ausweitung des Niedriglohnsektorsist eine Fehlentwicklung, die wir nicht hinnehmen kön-nen. Wir brauchen den Mindestlohn, um hier gegenzu-steuern.Es war richtig, verkrustete Strukturen aufzubrechen,Besitzstände zu hinterfragen. Da muss keiner in die Fur-che gehen, da muss sich keiner verstecken. Man mussden Mut haben, zu sagen: Was muss verändert werden,damit es noch besser wird, damit wir weiter vorankom-men? Grüne und SPD tun das.
Wir haben mit mutiger Industriepolitik die richtigenWeichen gestellt,
zum Beispiel mit der Ökosteuer. Ich kann mich noch guterinnern: Als die FDP in der Opposition war, wollte sieimmer die Ökosteuer abschaffen; das war ihr Schlag-wort.
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28418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Kerstin Andreae
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– Da würde ich nicht klatschen. – In dem Moment, woSie regiert haben, haben Sie das Thema nicht mehr ange-fasst, weil Sie zum einen wussten, dass Sie die Einnah-men brauchen, und zum anderen, weil Sie erkannthaben, dass das Prinzip, Ressourcen, Rohstoffe undEnergie teuer und Arbeit billiger zu machen, grundsätz-lich ein richtiges Prinzip ist. Das haben wir durch dieEinführung der Ökosteuer umgesetzt. An diesem Punktmüssten Sie weiterentwickeln. Das wäre kluge und ver-nünftige Politik.
Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir dasgroße industriepolitische Projekt der letzten Dekade an-gefasst.
Wo sind denn die Jobs geschaffen worden? Wo gab esWertschöpfung? Wo sind die Zukunftsmärkte im BereichUmwelttechnologie? Im Bereich erneuerbare Energienund Energietechnologie! Dort gibt es Wertschöpfung,dort sind die Jobs.Heute Morgen haben wir die Debatte hier verfolgt.Der Wirtschaftsminister hat über das EEG geredet undhat über Planwirtschaft fabuliert. Wie war denn die Si-tuation? Vier große Energieversorgungsunternehmen ha-ben sich den Energiemarkt in Deutschland aufgeteilt. Istdas Wettbewerb gewesen? Nein!
Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist Wettbewerbgeschaffen worden. Kleine Unternehmen und Stadt-werke sind eingestiegen. Das war Wettbewerbspolitik.Das hat Zukunft geschaffen; das hat Jobs geschaffen.Deswegen ist das Fabulieren von WirtschaftsministerRösler über Planwirtschaft der totale Blödsinn.
Was müssen Sie machen? Sie müssen Investitions-sicherheit schaffen. Wir reden immer noch über dasEEG; gerade wurde angedeutet: Eigentlich muss man esabschaffen. – Die vier EEG-Novellen der letzten zweiJahre haben doch nur zu Planungsunsicherheit bei denInvestoren und zu Unklarheit bei den Handwerkern ge-führt, weil keiner wusste, wie es weiterging. Alles hatgestockt.
Letztlich haben Sie die Hand auf die Solarbranche ge-legt, anstatt zu sagen: Wir entwickeln weiter, wir gehenden Weg vernünftig weiter. Sie haben keinen Plan vorge-legt. Sie haben sich als Sargnagel der Solarbranche er-wiesen.
Sie müssen Innovationssicherheit schaffen. Sie müs-sen Innovationen voranbringen. Wenn wir das alle wol-len, dann lassen Sie uns doch gemeinsam die steuerlicheForschungsförderung beschließen.
Ja, dann macht doch mal! Im Koalitionsvertrag steht:Die wollen es. – Wir wollen es auch. Ich sage: Das könn-ten wir tun. Wir wären jederzeit dabei.Sie müssen Prioritäten setzen. In diesem Zusammen-hang komme ich noch auf die Verkehrsinfrastruktur zusprechen.Bundeskanzlerin Merkel hat vor der baden-württem-bergischen Wahl Stuttgart 21 zur Richtungsentscheidunggemacht. Sie haben die Wahl verloren. Sie haben dieGrünen damals als Dagegen-Partei bezeichnet. Ja, wirsind dagegen, das Geld der Steuerzahler für ein Projektaus dem Fenster zu werfen, das einen negativen Kosten-Nutzen-Faktor hat, für ein Projekt, das sich wirtschaft-lich nicht mehr rechnet. Das ist kein grünes Projekt, unddas wird kein grünes Projekt.
Die Frage lautet doch: Wie sieht moderne Infrastruk-tur der Zukunft aus, und wo setzen wir die Prioritäten?Das große Drama steht uns ja noch bevor: Der Bundes-verkehrswegeplan wird noch vorgelegt. Am schlimms-ten ist es immer, wenn über Bundesverkehrswegeplänein Wahljahren diskutiert wird. Es liegt eine bayerischeVorschlagsliste vor. Wenn wir die Kosten für diese Pro-jekte aufsummieren, stellen wir fest, dass dadurch alleGelder, die überhaupt für Verkehrsprojekte zur Verfü-gung stehen, aufgefressen würden. In Wahlkampfzeitenwird jedem alles versprochen. Nein, Sie müssen den Muthaben, voranzugehen, Entscheidungen zu treffen, Priori-täten zu setzen. Wer das vorbildlich macht, ist die baden-württembergische grün-rote Landesregierung.
Sie hat gesagt: Wir schauen uns an, was wir bezahlenkönnen. – So muss es sein.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Es tut mir leid, meine Stimme ist weg.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28419
(C)
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Das Wort hat nun Ernst Hinsken für die CDU/CSU-
Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Ich finde es bedauerlich, dass verschiedene Kollegen,insbesondere von der linken Seite des Hauses, das Red-nerpult hier im Deutschen Bundestag mit der Parteitags-bühne verwechseln.
Das ist der Sache nicht dienlich. Die Bürger, die unsereDebatte verfolgen, erwarten Antworten auf bestimmteZukunftsfragen, denen sich die heutige Debatte widmet.Das Thema ist viel zu ernst, als dass man hier nur drauf-schlagen könnte, ohne sich Gedanken über die Zukunftzu machen. Deshalb möchte ich sagen: Herr Bundes-minister Rösler, Ihre Ausführungen waren wohltuendund richtungsweisend.
Das war überzeugend. Das ist der richtige Weg in dieZukunft. Dieser Weg sollte auch in Zukunft von uns ge-gangen werden.
Ein altes Sprichwort lautet: Wer nicht innoviert, derverliert.
Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind das Land derInnovationen. Dafür haben wir, dafür hat diese Regie-rung die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen. ZuBeginn dieses Jahres können wir alle zusammen mitStolz feststellen: Deutschland hat die wettbewerbsfä-higste Volkswirtschaft Europas.
Unser Land ist das einzige Industrieland, das heute deut-lich weniger Arbeitslose hat als vor Ausbruch der Fi-nanzkrise. Wir bleiben der Stabilitätsanker Europas. Daslassen wir uns auch von Ihnen von der linken Seite die-ses Hauses nicht nehmen. Für diese hervorragenden Er-folge zeichnet diese Regierung, die sich seit drei Jahrenim Amt befindet, verantwortlich.
Diese positive Entwicklung ist aber auch ein Verdienstder Wirtschaft, insbesondere der mittelständischen Un-ternehmerinnen und Unternehmer sowie deren Mitarbei-ter.
Mit Leistungsbereitschaft, Verantwortungsbewusst-sein und vernünftigen Rahmenbedingungen haben wirdie schwere Rezession überwunden und für neuesWachstum gesorgt. Ohne Zweifel – auch das möchte ichsagen, Herr Kollege Heil – wurden die Grundlagen dafürbereits in der Großen Koalition gelegt.
Sie haben zumindest mitgeholfen. Damals war ein ge-wisses Verständnis vorhanden. Damals hat man gewusst,dass man etwas machen muss. Wenn das heute noch sowäre, wären Sie sicherlich ein Stück weit besser.
Besonders anerkennen möchte ich in diesem Zusam-menhang, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze ihrerBeschäftigten über Kurzarbeit auch in schwierigen Zei-ten erhalten haben.
An dieser Stelle ist auch zu sagen: Gerade was die Ju-gendarbeitslosigkeit anbelangt – das wurde heute schonmehrmals gesagt –, dürfen wir uns glücklich schätzen,ein duales Berufsausbildungssystem zu haben, das denjungen Menschen die Möglichkeit gibt, für das spätereLeben zu lernen, was sie dringend zu lernen haben, da-mit wir genügend Fachkräfte haben, damit wir positiv indie Zukunft blicken können und damit all die Aufgabenbewältigt werden können, die in dieser schnelllebigenZeit vermehrt auf uns zukommen.
Gerade die deutsche Volkswirtschaft mit ihrer Innova-tionskraft schneidet im globalen Wettbewerb sehr erfolg-reich ab. Unsere Wertschöpfung beruht überwiegend aufforschungsintensiven Produkten und Dienstleistungen.Das Geheimnis des Erfolges ist: Auch in Zeiten derHaushaltskonsolidierung setzen wir konsequent weiterauf Zukunftsinvestitionen, auf Bildung und Forschung.Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sieversuchen mit Ihrem Antrag, auf den fahrenden Zug auf-zuspringen. Auch Sie fordern jetzt Zukunftsinvestitionenfür die deutsche Wirtschaft. Mit Ihrem Antrag „Deutsch-land 2020 – Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirt-schaft: Infrastruktur modernisieren, Energiewende ge-stalten, Innovationen fördern“ wollen Sie doch nurverdecken, dass Sie wirtschaftspolitisch völlig ins Hin-tertreffen geraten sind.
Der erste Satz Ihres Antrags lautet – da sind Siedurchaus selbstkritisch –:Wir brauchen wieder ein klares Bild von Deutsch-lands Zukunft.Was soll denn das heißen? Das haben wir doch.
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28420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Ernst Hinsken
(C)
(B)
Wir geben Ihnen gerne Nachhilfeunterricht, wenn Siedas benötigen.
Ich schätze viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen.Sie sind auf der Höhe der Zeit und wissen, worauf es an-kommt. Ein Großteil ist aber scheinbar noch nicht soweit.
Es ist schade, dass Sie sich mit Ihrem aktuellen Wahl-programm von dem verabschiedet haben, was Sie nochwährend der Zeit der Konjunkturpakete vertreten haben.All das, was Sie fordern, machen wir schon lange. Meis-tens waren Sie dagegen. Sie schreiben zum Beispiel:Technologische Leistungsfähigkeit der Industrie si-chern – Innovationen fördern und den Mittelstandstärken
Wir handeln doch längst. Der Haushalt 2013 des Bun-desforschungsministeriums ist gegenüber dem Vorjahrum 6,2 Prozent auf insgesamt 13,7 Milliarden Euro ge-stiegen. Fakt ist: Von 2010 bis 2013 wurden insgesamtsogar 13,3 Milliarden Euro zusätzlich bereitgestellt. Wirhaben Wort gehalten und sogar noch draufgelegt. Das istin Zeiten der Euro-Krise auch international ein viel be-achtetes Signal. Wir haben versprochen, die Innova-tionsausgaben der deutschen Wirtschaft 2012 auf einRekordniveau zu bringen. Fakt ist: Wir haben mit138 Milliarden Euro ein Rekordniveau erreicht. In die-sem Jahr könnte sogar die Schwelle von 140 MilliardenEuro geknackt werden.Wir wollen, dass Deutschland gut durch die Krisekommt. In diesem Zusammenhang möchte ich einenweiteren Fakt besonders herausarbeiten: Knapp34 000 Unternehmen forschen und entwickeln kontinu-ierlich. 1 200 davon sind sogar Weltmarktführer. Daraufmüssen wir weiter aufbauen. Die Hightech-Strategiezielt in besonderem Maße auf den innovativen Mittel-stand. Hier ist Fakt: Die Projektförderung der Hightech-Strategie wird rund 2,3 Milliarden Euro erhalten. Gegen-über 2009 ist das eine Steigerung von rund 24 Prozent,gegenüber 2005 sogar um rund 90 Prozent. Wir wolleneine Steigerung der Investitionen für Forschung und Ent-wicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes an-peilen. Hier ist Fakt: Mit 2,9 Prozent hat Deutschlanddas EU-Ziel von 3 Prozent nahezu erreicht. – Das sinddoch Zahlen, die sich sehen lassen können. Darauf sindwir stolz. Auch Sie sollten stolz sein; denn hier geht esum die gesamte Bundesrepublik Deutschland und nichtum parteitaktische Hin- und Herschiebereien.
Die kleinen und mittleren Unternehmer haben ihreZukunftsinvestitionen in FuE überproportional um9,1 Prozent auf 8,2 Milliarden Euro erhöht. Auch daskann sich sehen lassen. Unsere Politik wirkt. Das möch-ten wir gerade auch über diese Debatte der Öffentlich-keit vermitteln. So wollen wir erreichen, dass die Bürge-rinnen und Bürger bereit sind, unseren Weg mitzugehen,damit wir so gut bleiben wie in den letzten Jahren.Ich möchte auf das verweisen, was mein alter Lehr-meister und Freund Michael Glos einmal gesagt hat: Derliebe Gott hat den Menschen die Augen nach vorne ge-setzt. Deshalb blicken wir nach vorn. – Dabei setzen wiruns ehrgeizige Ziele. Wir wollen bis 2020 in den Ran-kings zur Spitzengruppe der technologie- und innova-tionsfreundlichsten Länder weltweit gehören. Wir wol-len bis 2020 die Zahl der forschenden Unternehmen auf40 000 und die Zahl der innovativen Unternehmen auf140 000 erhöhen.
Wir wollen unsere Spitzenstellung als Weltmeister vonTechnologieexporten halten und weiter ausbauen. Be-wusst haben wir dazu das Bundeswirtschaftsministeriumzur Speerspitze der Innovationsförderung ausgebaut.Bundesminister Rösler weiß das zu nutzen. Das muss,meine ich, erwähnt werden.
Gerade kam der Zwischenruf vom Arbeiterführer derSPD, von Herrn Barthel, das, was ich hier vortrage, seiPlanwirtschaft. Dazu muss ich sagen: Er versteht unterPlanwirtschaft etwas ganz anderes als ich. Ich bin nichtbereit, seinen Weg mitzugehen, den er hier oftmals meintvertreten zu müssen. Damit ist er schon des Öfteren aufdie Schnauze gefallen.
Schwerpunkt ist das „Zentrale InnovationsprogrammMittelstand“. Die Mittel dafür steigen gegenüber 2012noch einmal an, und zwar auf mehr als 500 MillionenEuro. Den neuen Ländern sollen 40 Prozent dieser Mittelzugutekommen. Für die Unterstützung der Forschungs-infrastruktur für den Mittelstand stehen fast 200 Millio-nen Euro zur Verfügung.Ich weiß, dass Zahlen ermüdend sind. Aber dieseZahlen sind wichtig. Wir sollten glücklich und froh da-rüber sein, dass hier ein Haushalt aufgelegt wurde, dersolche Zahlen enthält. Dadurch wird der Innovations-standort Bundesrepublik Deutschland weiter nach vornegebracht.Mit insgesamt 83 Millionen Euro werden innovativeUnternehmensgründungen unterstützt. Auch das ist Poli-tik für die Zukunft.Sie von der SPD fordern den Ausbau der Energie-infrastruktur für die Energiewende. Wir haben auf denWeg gebracht, was unter Rot-Grün leider liegen geblie-ben ist. Deutschland übernimmt bei der Energiewendeeine Vorreiterrolle für alle Industrienationen. Hier betre-ten wir Neuland. Ihnen von den Grünen möchte ich sa-gen: Sie fordern immer wieder den sofortigen Ausstiegaus der Kernenergie; aber wenn es darauf ankommt, et-was dafür zu tun, sind Sie dagegen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28421
(C)
(B)
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Deshalb muss ich darauf verweisen, dass wir uns
grundsätzlich von Ihnen unterscheiden.
Wir gestalten die Zukunft und überprüfen, was sich ma-
chen lässt und was möglich ist. Wir wollen die Men-
schen, die Wirtschaft, die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer auf diesem Weg mitnehmen und weiterhin
insbesondere auf den Mittelstand und auf Innovation set-
zen; –
Herr Kollege!
– denn das hat uns weitergebracht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Sören Bartol für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Lieber Kollege Gysi, der neue Papst hat es
wirklich nicht verdient, dass er gleich am Anfang seiner
Regentschaft von der Linkspartei vereinnahmt wird. Ich
finde, das ist schon ein starkes Stück.
Liebe Frau Homburger – ich wollte eigentlich sagen:
Frau Brüderle –, das, was Sie gerade gemacht haben, ist
ebenfalls ein starkes Stück. Ab und zu reicht es, sich an
den Fakten abzuarbeiten. Ihre Partei hat es geschafft,
dem Etat durch die Hoteliersteuer 5 Milliarden Euro zu
entziehen.
Sie aber stellen sich jetzt hier hin und sagen, dass Geld
fehlt. Sie betreiben wirklich reine Klientelpolitik.
Ich sage Ihnen: Unsere Klientel sind die Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes. Ich finde, genau so sollte es
sein.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Zukunfts-
investitionen, die für eine starke Wirtschaft und für Be-
schäftigung wichtig sind, gehört ganz entscheidend die
Infrastruktur. Deutschland ist ein Land mit einer hervor-
ragenden Infrastruktur; das ist auch gut. Die Frage ist
nur: Wie lange noch? Seit letztem Donnerstag ist der
Nord-Ostsee-Kanal für große Schiffe gesperrt. Der
Grund: Minister Ramsauer hat die Mittel für die Schleu-
sen gekürzt. Der Bundestag hat schon vor mehreren Jah-
ren 300 Millionen Euro für neue Schleusenkammern
freigegeben. Aber es musste erst zu einer Sperrung kom-
men, bis Minister Ramsauer die Ausschreibung nun end-
lich fertig hat.
Schlimmer noch sieht es bei den Autobahnbrücken
aus. 302 Brücken sind laut Verkehrsinvestitionsbericht
so marode, dass ihre Vollsperrung droht. Was dies be-
deutet, ließ sich bis vorige Woche in Leverkusen besich-
tigen. Die dortige Rheinbrücke war wegen Baufälligkeit
drei Monate lang für Lkw gesperrt. 13 000 Lastwagen
mussten täglich einen 20 Kilometer weiten Umweg fah-
ren; sie verstopften den Kölner Ring. Das macht zusam-
men einen Umweg von circa 20 Millionen Kilometern.
Oder anders ausgedrückt: Es fielen ungefähr 20 Millio-
nen Euro höhere Transportkosten an, für Ford, für
Lanxess, für Bayer und andere. Das zeigt doch, dass es
diese Bundesregierung – der verantwortliche Minister
sitzt ja dort – überhaupt nicht schafft, die Verkehrsinfra-
struktur zu sichern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, so kann man in
Deutschland keine Verkehrspolitik betreiben, und so
kann man vor allen Dingen keine Industriepolitik betrei-
ben.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?
Des Kollegen Vogel?
Ja.
Sehr gern.
Bitte schön.
Aber die Uhr müssten Sie anhalten.
Das ist schon passiert.
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28422 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
(C)
(B)
Sehr schön.
Kollege Bartol, eine ganz kurze Frage: Könnten Sie
aufzählen, welche Verkehrsminister zwischen 1998 und
2009 im Amt waren, und sagen, welcher Fraktion sie an-
gehört haben?
Das ist relativ einfach: Die Sozialdemokratie hat die
Verkehrspolitik der letzten Jahre in diesem Land erfolg-
reich gestaltet.
Lieber Kollege Vogel, wir waren aber nicht diejenigen,
die einen Finanzierungskreislauf geschaffen haben, bei
dem es heißt: „Straße finanziert Straße“, sondern wir ha-
ben gesagt: Alle Verkehrsträger in diesem Lande sind
wichtig, und alle Verkehrsträger brauchen eine Finanzie-
rung.
Da wir gerade über den Nord-Ostsee-Kanal reden,
muss ich Ihnen sagen: Dass Sie versuchen, das, was dort
geschehen ist, uns in die Schuhe zu schieben, ist ein
Witz. Wer hat sich denn im Landtagswahlkampf hinge-
stellt und einen Spatenstich gemacht, aber seitdem nichts
getan? Wer ist denn derjenige, der die WSV-Reform so
durchgeführt hat, dass sie am Ende völlig vermurkst war,
und nun die gesamte Verwaltung völlig durcheinander-
bringt?
In der kurzen Zeit, in der Minister Ramsauer die Verant-
wortung trägt, haben Sie eine sehr schlechte Verkehrs-
politik gemacht.
Sie haben immer wieder Ankündigungen gemacht,
gleichzeitig aber Geld verloren. Ich glaube, das zeigt,
wer in diesem Lande die Verantwortung für die derzei-
tige Situation trägt.
Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-
frage, diesmal vom Kollegen Scheuer?
Ja.
Bitte schön.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Ich stelle fest,
dass Kollege Bartol die Frage des Kollegen Vogel, wer
im genannten Zeitraum aufseiten der SPD Verkehrs-
minister war, nicht beantworten kann. Ich möchte ihm
auf die Sprünge helfen und mich dabei auf die Finanz-
titel beziehen.
Meine erste Frage lautet: Wer hat es in den letzten
Jahren geschafft, mehr Mittel für die Infrastruktur bereit-
zustellen?
Zweitens. Können Sie Auskunft darüber geben, in
welchem Umfang die Mittel für Brücken unter Bundes-
minister Ramsauer in den letzten Jahren gestiegen sind?
Drittens. Wenn man sich die Diskussionen im Ver-
kehrsausschuss vor Augen führt, muss man sagen: Sie
nutzen die Plattform hier zwar für Parteitagsreden, Herr
Kollege Bartol.
Mich würde aber viel mehr interessieren, in welchem
Umfang Bundesminister Ramsauer Mittelumschichtun-
gen vom Neubau hin zum Erhalt vorgenommen hat; sie
sind nämlich beträchtlich.
Weil die Kollegin Andreae meine Frage vorhin nicht
mehr zugelassen hat: Könnten Sie mir sagen, wann die
Verträge zu Stuttgart 21 unterschrieben wurden bzw. in
wessen Amtszeit und unter welcher Regierungskoalition
dies geschehen ist?
Lieber Herr Staatssekretär Scheuer, ich freue mich,dass die Bundesregierung ein bisschen reparlamentari-siert wird und Sie in dieser Debatte sogar eine Fragestellen. Ich glaube, Herr Scheuer, dass es nicht immernur darum geht, wer am Ende das meiste Geld wie undwo investiert hat. Vielmehr haben Sie es versäumt, ver-
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nünftige Prioritäten zu setzen und eine verkehrspoliti-sche Konzeption zu entwickeln. Das Einzige, was Sieund Ihr Minister können, ist, zu sagen: Wir kommen ausBayern; Bayern muss es gut gehen, und nach Bayernmuss das Geld fließen.
Schauen Sie sich nur einmal an, welche Prioritäten Sie inden letzten Jahren gesetzt haben; das ist relativ einfach.Ich finde, eine Bundesregierung, ein verantwortlicherMinister und ein Staatssekretär – als solcher sind Sie inder Mitverantwortung –, die von der Bahn eine Zwangs-dividende
von über 500 Millionen Euro nehmen und zulassen, dassdas meiste davon einfach im allgemeinen Haushalt ver-schwindet, brauchen mit uns über Verkehrspolitik über-haupt nicht zu reden.
Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Beck. – Bitte
schön.
Herr Kollege, würden Sie die Auffassung teilen, dass
ein Verkehrsminister dem Wohle des gesamten deut-
schen Volkes verpflichtet ist? Wie sehen Sie vor diesem
Hintergrund die außerordentlich ungleiche Verteilung
der Verkehrsmittel, von der vor allen Dingen das Land
Bayern profitiert und bei der das Land Nordrhein-West-
falen faktisch leer ausgeht, obwohl es das bevölkerungs-
reichste und größte Land der Bundesrepublik Deutsch-
land ist?
Lieber Kollege Beck, das ist einer der größten Skan-dale. Ich frage mich immer: Was wäre, wenn ein Ver-kehrsminister von einer anderen Volkspartei seine Wie-derwahl in den Vorstand dieser Volkspartei damit zuerkaufen versuchte, dass er in seinem Bundesland land-auf, landab Ortsumgehungen verspricht – und dies sogarin großen überregionalen Zeitungen nachzulesen ist –,dann aber nichts passiert?
Ich sage Ihnen, Herr Ramsauer: Hätte jemand von unsgemacht, was Sie gemacht haben, dann wäre er schondreimal zurückgetreten. Insofern kann ich das nur unter-stützen: Die Verkehrsmittel sind extrem ungleich ver-teilt. Das ist eine klare Klientelpolitik. Aber von dieserKoalition sind wir nichts anderes gewohnt.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich überweitere Zwischenfragen.Als Industrie- und Exportland sind wir zwingend aufeine gute Infrastruktur angewiesen. Schlaglöcher, ma-rode Brücken, gesperrte Kanäle zeigen doch: Wir lebenlängst von der Substanz. Allein für die Instandhaltungvon Schienen, Straßen und Wasserstraßen fehlen über3 Milliarden Euro. Diese Zahl stammt nicht von mir,sondern von einer Kommission der Verkehrsminister-konferenz, die von einem ehemaligen CDU-Minister ge-leitet wurde.Bei Strom und Telekommunikation sieht es kaum bes-ser aus: Der Ausbau der Stromnetze kommt, weil es derRegierung vor allen Dingen an Koordination fehlt, nichtvoran, und das Fehlen von Stromleitungen behindert im-mer mehr die Energiewende. Auch bei den Internet-anschlüssen hat die Bundesregierung ihr Ziel, bis Ende2010 eine flächendeckende Breitbandgrundversorgungzu schaffen, verfehlt. Nach wie vor sind viele ländlicheRegionen von schnellen Internetverbindungen abge-schnitten. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegenvon der Union: Ist das eigentlich Ihre Politik für ländli-che Räume?
Was Deutschland braucht und wofür wir uns als SPD-Bundestagsfraktion einsetzen, ist eine aktive Infrastruk-turpolitik.
In unserem Projekt „Infrastrukturkonsens“ haben wir dieGrundlagen dafür gelegt. Der Bund muss mehr Geld indie Infrastruktur investieren; aber es braucht vor allenDingen die richtigen Prioritäten. Eine Prioritätensetzungà la Ramsauer heißt – das hatten wir gerade schon –:Bayern zuerst, während im Norden und im Westen dieVerkehrswege verrotten. Liebe Kolleginnen und Kolle-gen, das kann nicht sein.
Wir brauchen ein nationales Verkehrswegeprogramm,durch das Engpässe beseitigt werden, und zwar in ganzDeutschland. Wir brauchen auch eine deutliche Aufsto-ckung der Mittel für den Erhalt der Verkehrswege, zumBeispiel des Nord-Ostsee-Kanals. Ebenso brauchen wirAkzeptanz für Infrastrukturvorhaben. Deshalb sindLärmschutz und Bürgerbeteiligung so wichtig. Am Endegeht es auch um die Lebensqualität der Menschen.
Bei all dem, liebe Kolleginnen und Kollegen von derUnion und von der FDP, versagen Sie kläglich, Sie kom-
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men einfach nicht voran. Es ist immer noch eine Fragedes Wohnortes, ob man eine schnelle Internetverbindunghat. Ich sage Ihnen: Wenn es der Wettbewerb an dieserStelle nicht richtet, eine flächendeckende Versorgungaufzubauen, dann brauchen wir am Ende eben eine ge-setzliche Verpflichtung zum Universaldienst. Ich glaube,dafür müssen wir alle gemeinsam sorgen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Lethargie undIhre Konzeptlosigkeit schaden der deutschen Wirtschaft.Deutschland braucht eine Infrastrukturpolitik, mit derdie Bundesregierung ihre bzw. der Staat seine Aufgabenendlich wieder erfüllt. Ansonsten werden wir die Sub-stanz, die wir haben, niemals erhalten können.Vielen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-
gen Scheuer.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Bei so vielen Unwahrheiten bin ich herausgefordert,
zum Mittel der Kurzintervention zu greifen.
Herr Kollege Bartol, wir haben in unserer Amtszeit
alle Programme, alle Investitionen streng nach Länder-
quote verteilt.
Die meisten Zusatzmittel – der erste Platz ist unange-
fochten – sind nach Nordrhein-Westfalen geflossen. An
zweiter Stelle liegen Baden-Württemberg und Bayern
gleichauf. – Übrigens, Herr Kollege Beck, wenn Sie
keine Ahnung von Verkehrspolitik haben, dann stellen
Sie keine Zwischenfragen dazu.
Wenn Sie sich die nackten Zahlen anschauen, dann wird
Ihnen das klar.
Wo gibt es denn die meisten Bürgerinitiativen für
Ortsumfahrungen? In Baden-Württemberg. Es geht hier
um Demokratie, und das müssen auch die Kolleginnen
und Kollegen der Grünen hinnehmen. Wenn wir in Ba-
den-Württemberg bei einer Verkehrsfreigabe sind, sagt
der grüne Verkehrsminister stets: Das ist eine sinnvolle
Straße; es gibt aber viele Straßen, die nicht sinnvoll sind.
Genau da gibt es aber sehr viele Bürgerinitiativen, Bür-
gerinnen und Bürger, die für die Infrastruktur aufstehen.
Mein Dank geht an diese Bürgerinnen und Bürger.
Wir müssen das an Versagen abarbeiten, was Sie pla-
nerisch und auch vom Verfahren her nicht umsetzen kön-
nen. Unlängst habe ich einen Tunnel freigegeben, der
mit Bundesgeld errichtet worden ist. Wie ist die Lage?
Die Auftragsverwaltung vor Ort kann die Ein- und Aus-
fahrten des Tunnels nicht managen. Wir müssen ständig
auf die Auftragsverwaltungen einwirken, vor allem auf
die von Rot und Grün, damit die Infrastruktur, in die wir
Bundesgeld investiert haben, genutzt werden kann.
Nun zu den Zusatzmitteln. Wir haben in den letzten
zwei Jahren zusätzliche Mittel in Höhe von 1 Milliarde
Euro und von 750 Millionen Euro bekommen.
Mein Dank geht hier an die SPD-Fraktion, die im Haus-
haltsausschuss neben der Koalition für diese Zusatzmit-
tel gestimmt hat. Danke dafür!
Wissen Sie, wo die teuersten Projekte sind? Die sind
nicht in Bayern, sondern beispielsweise in Hamburg und
Nordrhein-Westfalen, beispielsweise die Schiersteiner
Brücke etc. Herr Kollege Bartol, hören Sie also auf mit
der Lüge, dass wir die Bundesmittel bevorzugt an Bay-
ern verteilen. Den meisten Bedarf gibt es im Süden. Das
trifft genauso Baden-Württemberg. Wir verteilen diese
Mittel – das geben alle unsere Verlautbarungen auf die
zahlreichen Anfragen, die Sie stellen, wieder; Sie müs-
sen sie eben auch einmal lesen – gemäß der Länder-
quote. Hören Sie auf, die deutsche Bevölkerung mit sol-
chen unsäglichen Unwahrheiten zu veräppeln! Das ist
nicht der parlamentarische Stil, den ich normalerweise
von Ihnen gewöhnt bin.
Herr Kollege Bartol, Sie haben das Wort.
Lieber Kollege Scheuer, gleich zu Beginn so viel zuden Fakten: Mir ist neu, dass die Schiersteiner Brücke inNordrhein-Westfalen liegt. Das würde ich an Ihrer Stellevielleicht noch einmal nachgucken. – Aber ganz imErnst: Ich glaube, wir müssen aufpassen, wie wir dashier austragen.Ich erinnere mich an Ihren Parteitag, auf dem esknapp war für Minister Ramsauer; er wäre fast nichtwiedergewählt worden. Er ist deshalb herumgezogen,hat mit den Delegierten, mit einflussreichen Größen, ge-sprochen
– das kann man doch alles nachlesen –
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und dann einfach ein bisschen versprochen. Ich finde,das kann man nicht machen. Das ist nicht in Ordnung;das muss man doch einfach einmal zur Kenntnis neh-men. Das hat mit einer echten verkehrspolitischen Prio-ritätensetzung nichts zu tun.
So viel zum Stil.
Kollege Scheuer, Ihr Minister gibt mittlerweile Pres-semitteilungen heraus, die vor Parteipolitik geradezutriefen. Nach der verlorenen Landtagswahl in Nieder-sachsen hat er versucht, die neue Regierung zu treiben,indem er sagte: Wenn ihr nicht akzeptiert, dass es für denAusbau der A 7 ein ÖPP-Projekt geben wird, dann neh-men wir euch die Mittel weg und investieren sie woan-ders. – Den Gipfel der Bodenlosigkeit hat er sich beiStuttgart 21 geleistet. Fazit ist, dass die Fahrpreise derBahn steigen werden.Lieber Kollege Scheuer, zu der Art und Weise, wiehier Verkehrspolitik betrieben wird, muss ich sagen: Soein schlechtes Management und so einen schlechtenMinister habe ich in den elf Jahren, in denen ich Mit-glied des Deutschen Bundestages bin, noch nicht erlebt.
Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Herr Bartol, was erzählen Sie eigentlich für einenUnsinn mit „Bayern zuerst“? Schauen Sie sich doch ein-mal die Verkehrssituation im Süden von Bayern an, bei-spielsweise in der Region, aus der ich komme, demWahlkreis Weilheim. Herr Barthel, der hinter Ihnen sitzt,kann Ihnen das bestätigen. Dann sehen Sie, was „Bayernzuerst“ bedeutet.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den An-trag der SPD-Fraktion wurde von den Wirtschaftspoliti-kern all das gepackt, was es nicht mehr in das Wahlpro-gramm der SPD geschafft hat. Ich habe das zum Anlassgenommen und mir zusätzlich zum heutigen Antrag dasdiese Woche vorgestellte SPD-Wahlprogramm durchge-sehen. Dabei teile ich im Kern die Analyse der großenHerausforderung der Energiewende. Dennoch habe ichein paar Ungereimtheiten entdeckt, die ich Ihnen nichtvorenthalten möchte.
Meine Damen und Herren, die Überschrift des Ener-giekapitels im SPD-Wahlprogramm lautet „Sichere undbezahlbare Energie“. Beim Umweltschutz – habe ich dasrichtig verstanden? – darf sich der Wunschkoalitions-partner austoben. Ich erlaube mir dazu nur einen Halb-satz: „Die Geister, die ich rief …“Die Genossen schreiben in ihrem Antrag:Trotz der substanziellen Stärke unserer Wirtschaft– für dieses Kompliment an die christlich-liberale Regie-rung vielen herzlichen Dank –drohen die Wachstumskräfte immer weiter zu erlah-men. In der Energiepolitik geraten Bezahlbarkeitund Versorgungssicherheit der Energieversorgungin Gefahr.Dann frage ich Sie: Wie passt das damit zusammen,dass Sie in Ihrem Wahlprogramm eine höhere Brenn-stoffsteuer für Kernkraftwerke fordern? Im Klartextheißt das, Sie verteuern knapp ein Fünftel der Strom-energieerzeugung in Deutschland.Keine drei Zeilen darüber soll es dem Programm nachdas Ziel sein, „die Belastungen sowohl für den einfachenStromkunden als auch für die in Deutschland produzie-rende Industrie so gering wie möglich zu halten“. HerrHeil, diesen Widerspruch müssen Sie mir einmal erklä-ren.
Meine Damen und Herren, diese Liste ließe sich stun-denlang fortführen.Abschließend möchte ich noch sagen, dass wir großeTeile Ihrer Forderungen aus dem Antrag bereits umge-setzt haben, zum Beispiel die Verbesserungen beimKWK-Gesetz, die Verordnung zu abschaltbaren Lastenoder die Koordinierung der Energiepolitik zwischenBund, Ländern, Kommunen unter Einbindung von Wirt-schaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und der Zivilge-sellschaft. Dies geschah im Rahmen von Initiativen derBundesregierung, manchmal – das muss ich zugeben –unter Beteiligung der Opposition. Wir haben den Beiratder Bundesnetzagentur, das Kraftwerksforum, die Platt-form „Zukunftsfähige Energienetze“ plus Beirat, dasEEG-Dialogforum, die Mittelstandinitiative Energie-wende und das 6. Energieforschungsprogramm.Zuletzt beantworten Sie mir bitte noch eine Frage,Herr Heil. Weshalb erkennen Sie im Wahlprogrammplötzlich an, dass von den Bauaufträgen zur energeti-schen Gebäudesanierung vor allem örtliche Handwerks-betriebe aus dem Mittelstand profitieren, und lassen den-noch die Möglichkeit der steuerlichen Abschreibungdieser Maßnahmen im Bundesrat scheitern? Das bleibtmir und sicherlich auch den Wählern sowie den kleinenund mittelständischen Unternehmern ein Rätsel.Vielen herzlichen Dank.
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Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Bartol, bei aller inhaltlichen Sympathie für IhreAussagen – sie waren alle richtig –, muss ich Ihnen dochsagen, dass Sie an einer Stelle einen Fehler gemacht ha-ben.
Der Papst hat heute nicht seine Regenschaft, sondernsein Pontifikat begonnen. Ich glaube, das muss klarge-stellt werden.
Meine Damen und Herren, was alle Päpste dieserWelt nicht geschafft haben, hat diese Bundesregierunggeschafft. Sie hat in der Energiewirtschaft eines bewirkt:einen absoluten Stillstand. Noch nie war es in Deutsch-land so, dass Sie fragen können, wen Sie wollen – vomkleinen PV-Anlagenbauer bis zum Großkraftwerksher-steller –, und Ihnen jeder antworten wird, dass nichtsmehr investiert wird. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik,die Sie hier machen.
Ich sage Ihnen: Ich hätte es in diesem Land nicht fürmöglich gehalten, dass eine Bundesregierung rückwir-kend in Verträge und bestehende Zusagen eingreifenwill. Das verursacht Kollateralschäden, die über die er-neuerbaren Energien und die Energiewirtschaft weit hi-nausgehen. Das wird uns noch an vielen Stellen einho-len. Ich hoffe: Es ist bald klar, dass das aus der Weltgeschafft wird.
Ich will jetzt hier gar nicht über die Erneuerbare-Aus-bau-Bremse reden, gar nicht über das Quotenmodell,
das die FDP favorisiert und das gerade im zuständigenAusschuss des Bundesrates, von Sachsen eingebracht,mit 15 Stimmen zu 1 Stimme versenkt worden ist, waszeigt, wie wenig überzeugend Ihre Konzepte bei den ei-genen Parteifreunden in den Landesregierungen wirken.Darüber will ich nicht reden. Ich will nicht darüber re-den, dass Sie 80 Prozent der Windenergieleistung imBinnenland abwürgen wollen und damit alles kaputtma-chen würden.Ich möchte etwas aufgreifen, was Sie selbst in IhremKoalitionsvertrag stehen haben. Da steht nämlich: Siewollen eine Deutsche Netz AG gründen. – Nur: Wir sindam Ende der Legislaturperiode. Sie haben bei demThema überhaupt nichts gemacht.
Sie haben alle Chancen verstreichen lassen, wo die Gele-genheit gewesen wäre, diese Idee umzusetzen. Als RWEund Eon ihre Netze verkauft haben, da haben Sie dieChance verstreichen lassen. Das ist das Ergebnis einerFDP-geführten Politik, Privat vor Staat, die diese Chan-cen kaputtgemacht hat.Wir haben im Herbst zum Thema Offshorenetzanbin-dung einen Vorschlag dahin gehend gemacht, dass derBund, anstatt die privaten Verbraucher zu belasten, hiereinsteigt und dass dies der Beginn einer Deutschen Netz-gesellschaft ist. Ich freue mich, dass die Sozialdemokra-ten diese Idee aufgegriffen haben und jetzt in ihrem An-trag ein ähnliches Konzept vorschlagen. Ich freue mich,dass die CSU diese Idee aufgegriffen hat. Ich habe zumersten Mal in meinem Leben mit Freude nach WildbadKreuth geschaut und festgestellt, dass Sie dort tatsäch-lich etwas in Richtung Deutsche Netz AG beschlossenhaben.Ich frage die Union: Wie lange wollen Sie sich eigent-lich noch von der FDP bei diesem Thema am Nasenringdurch die Arena ziehen lassen,
wenn hier 96 Prozent des Parlaments bei diesem Themaeiner Meinung sind? Packen Sie das endlich an!
Genauso ist es beim Thema Energieeffizienz. DieBundeskanzlerin hat 2007 ausgerufen: Deutschland sollEnergieeffizienzweltmeister werden. – Was wir konkreterleben, ist Folgendes: Erst blockieren Sie die Richtliniein Brüssel und drehen erst in letzter Minute auf politi-schen Druck hin bei. Jetzt geht es an die Umsetzung.Was passiert im zuständigen Wirtschaftsministerium?Dort hat man nichts Besseres zu tun, als mit Taschen-spielertricks zu versuchen, dass Deutschland nichts mehrmachen muss. Da werden plötzlich Mehrwertsteuern,Netzentgelte, die Lkw-Maut und was weiß ich sonstnoch alles zu Energieeffizienzmaßnahmen erklärt, nurum sagen zu können: Auf diesem Gebiet müssen wirnichts mehr tun. – Das geht nicht. Sie verschenken hierdie Chancen.
Wir sagen: Wir brauchen endlich einen Energieeffi-zienzfonds. Wir brauchen Anreizsysteme, so wie es siein Dänemark, in Großbritannien, in Frankreich und invielen Staaten der USA, sogar in Texas, gibt. Das Ein-zige, was Ihr Minister dazu sagt, ist: Sozialismus undPlanwirtschaft! – Ich sage nur: Texas – Hort des Sozia-lismus und der Planwirtschaft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28427
Oliver Krischer
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Das ist absurd, was Sie vertreten. Packen Sie dasThema Energieeffizienz endlich an! Das ist eine Chancefür die deutsche Wirtschaft. Damit können Sie Energieeinsparen. Damit schützen Sie das Klima. Damit gene-rieren Sie Wertschöpfung hier im Land. Das ist ein Er-folgsmodell, ein Exportartikel für die deutsche Wirt-schaft.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Herr Krischer, Sie müssen einmal eine neue Platte
auflegen.
Wir hatten vorhin eine große Diskussion zum Thema
Energie. Anlass war der Tagesordnungspunkt 3 mit vie-
len Anträgen zum Thema Energie. Offensichtlich haben
Sie gar nicht gemerkt, dass wir eine neue Debatte ange-
fangen haben, dass es nämlich um den SPD-Antrag ging.
Lassen Sie sich einmal eine neue Rede schreiben. Dann
können Sie ja noch einmal Redezeit beantragen.
Bei der Durchsicht der Tagesordnung des Plenums für
diese Woche – das war sehr interessant – stand auf einmal
ein Antrag auf der Tagesordnung, „Deutschland 2020“,
den es überhaupt noch nicht gegeben hat. Ich dachte:
Das ist bestimmt spannend. – Aber die SPD war erst am
Dienstagabend in der Lage, den Antrag überhaupt zu
verteilen.
Der Titel des Antrags ist auch interessant: „Zukunfts-
investitionen für eine starke Wirtschaft“ – darin stimmen
wir völlig überein. „Infrastruktur modernisieren“ – toll!
Aber das haben wir von Ihnen noch nie gehört. „Ener-
giewende gestalten“ – auch bei diesem Argument stim-
men wir hundertprozentig überein. Gleiches gilt für
„Innovationen fördern“. Also dachte ich mir: Das ist ja
toll; die SPD hat einen völlig neuen Kurs eingeschlagen,
und man kann heute möglicherweise völlig neue Töne
hören. Aber das war leider eine blanke Fehlannahme.
Die Enttäuschung war groß, als ich den Antrag durchge-
sehen habe.
Vieles ist schon angesprochen worden. Ich will nur
auf einige Aspekte eingehen. Ein Punkt ist der Breit-
bandausbau. Ich kann mich erinnern, dass wir in der
Großen Koalition gemeinsam die Breitbandinitiative be-
schlossen haben – das werden Sie wohl nicht in Abrede
stellen – und dass wir beim Breitbandausbau in Deutsch-
land gewaltige Fortschritte gemacht haben. Darüber,
dass trotzdem noch Probleme bestehen und dass wir
auch im Beirat der Bundesnetzagentur immer wieder da-
rüber diskutieren, wie wir noch schneller vorankommen
können, ohne dass wir Milliarden an staatlichem Geld
für den Breitbandausbau einsetzen müssen, besteht,
glaube ich, Einigkeit.
Dass der Ausbau des mobilen Internets in Deutsch-
land eine einmalige Erfolgsgeschichte ist – nirgendwo in
Europa und in der Welt hat es in kürzester Zeit eine fast
flächendeckende Erschließung mit mobilem Internet ge-
geben –, kann man in Ihrem Antrag nicht nachlesen. Ich
kann auch darin keinen Vorschlag erkennen. Was ist
denn Ihre Strategie, um die Flächendeckung schneller zu
erreichen? Darüber lohnte es sich doch, zu reden, statt
mit Plattitüden irgendwas festzustellen.
Dann kommt das Thema Innovation, meine Damen
und Herren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dörmann?
Selbstverständlich gern.
Lieber Kollege Lämmel, da Sie das Thema Breit-bandausbau angesprochen haben, über das wir uns hierschon mehrfach unterhalten haben, frage ich Sie: Bestä-tigen Sie mir, dass wir vor wenigen Monaten einen sehrumfassenden Antrag der SPD-Bundestagsfraktion genauzum Thema Breitbandausbau diskutiert haben, wobeiwir unser Konzept sehr detailliert dargestellt haben? Un-ser Konzept sieht so aus, dass wir erstens eine flächen-deckende Breitbandversorgung nicht für fast jedenHaushalt, sondern für jeden Haushalt sicherstellenmöchten. Das wollen wir durch eine Universaldienstver-pflichtung gesetzlich absichern. Wir setzen aber darüberhinaus bei höheren Bandbreiten auf zusätzliche privateInvestitionen und wollen die Rahmenbedingungen hier-für verbessern, damit der Wettbewerb tatsächlich zumErgebnis führt.Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und viel-leicht auch zuzugestehen, dass wir immer noch nicht dasZiel erreicht haben, das wir eigentlich in der Breitband-strategie festgelegt haben, nämlich bis 2010 eine wirk-lich flächendeckende Versorgung in 100 Prozent derHaushalte hinzubekommen, und dass im Zweiten Moni-toringbericht zur Breitbandstrategie des Bundes die vonder Bundesregierung selbst beauftragten Gutachter fest-gestellt haben, dass auch das zweite Ziel, nämlich bis2014 75 Prozent der Haushalte mit mindestens 50 Mega-bit zu versorgen, gefährdet ist, wenn keine zusätzlichen
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Martin Dörmann
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Maßnahmen ergriffen werden? Haben Sie den Berichtgelesen, und bestätigen Sie diesen Befund?
Zum ersten Punkt, dem Antrag, den wir im Plenumdiskutiert haben – das können Sie alles im Protokollnachlesen –, ist zu sagen: Wir haben mit der Novellie-rung des Telekommunikationsgesetzes genau darauf re-agiert. Genau die Punkte, die Sie in Ihren Anträgen nen-nen, sind im Prinzip im Gesetz enthalten.Dass die Gutachter sagen, das Ziel für 2014 sei ge-fährdet, heißt nicht, dass das nicht stattfindet.
Ich kann auch behaupten, irgendwelche Ziele bis 2016sind gefährdet, und ein Gutachten schreiben, HerrHempelmann. Sie wissen selbst, wie das mit Gutachtenist. Darüber brauchen wir uns nicht auszutauschen.Wir setzen unsere Energie dafür ein, dass wir in demBereich vorankommen und die Maßnahmen, die im Te-lekommunikationsgesetz stehen, umgesetzt werden, unddass wir die Initiative, die wir gemeinsam beschlossenhaben, genau in den Etappen umsetzen, wie sie auf demPapier stehen.Das Zweite ist das Thema Innovationen im Mittel-stand und in der Wirtschaft. Das ist ein sehr wichtigesFeld. Komischerweise findet sich in dem Antrag derSPD gar kein Hinweis darauf, dass die Ausgaben fürForschung, Technologie und Innovationen in Deutsch-land einen absoluten Höchststand erreicht haben. WennSie sich zum Beispiel das erfolgreichste Programm anse-hen, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand,dann müssen Sie feststellen, meine Damen und Herren,dass wir so viele Anträge wie noch nie bewilligt haben.
Nachdem im Konjunkturpaket II das Programm für ganzDeutschland geöffnet worden ist, hat sich das explosions-artig entwickelt. Das ignorieren Sie einfach. Sie wollender christlich-liberalen Koalition nicht einen einzigenErfolg gönnen und versuchen, mit Plattitüden alles nega-tiv darzustellen.
– Dazu wollte ich gerade kommen, Herr Heil. Wie Siewissen, ist das auch unser Lieblingsthema.
Sie haben es in der rot-grünen Koalition nicht geschafft.Wir haben es in der Großen Koalition auch noch nichtgeschafft.
Aber wir werden es in der christlich-liberalen Koalitionschaffen; darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.
Wenn nicht, dann machen wir das spätestens zu Beginnder nächsten Legislaturperiode,
und zwar in der bestehenden Konstellation.Dann lässt sich folgende pikante Formulierung in Ih-rem Antrag finden:Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-rung auf, … mit den Ländern einen Investitionspaktfür die kommunale Verkehrsinfrastruktur zu schlie-ßen, bei dem die Länder weiterhin Investitionsmit-tel für die kommunale Verkehrsinfrastruktur erhal-ten und sich im Gegenzug verpflichten, die Gelderzweckgebunden zu verwenden;Das ist wirklich unglaublich. Sie schreiben im Antragextra fest, dass sich die Länder verpflichten, das Geld,das sie vom Bund bekommen, zweckgebunden zu ver-wenden. Ich weiß, worauf Sie dabei zielen. Das zielt aufNordrhein-Westfalen. Frau Kraft hat es vom Verfas-sungsgericht praktisch schriftlich bekommen, dass ihreHaushalte nicht verfassungsgemäß sind,
da die Neuverschuldung in Nordrhein-Westfalen Höhenerreicht, die mit der Verfassung nicht mehr in Einklangzu bringen sind. Des Weiteren zielt Ihre Formulierungauf Berlin, wo Herr Wowereit schon seit Jahrzehnteneine ähnliche Politik betreibt wie Frau Kraft in Nord-rhein-Westfalen. Berlin ist das höchst verschuldete Landund erhält die meisten Mittel aus dem Länderfinanzaus-gleich. Sie schreiben diesen Passus in Ihren Antrag, weilin den Ländern, in denen Sie regieren, Mittel zweckent-fremdet werden. Daran, dass Sie das in Ihren Antragschreiben müssen, kann man sehen, wie weit es mit IhrerPolitik gekommen ist.
In Ihrem Antrag steht nicht, dass die christlich-libe-rale Koalition die Kommunen um 50 Milliarden Eurobei den Ausgaben für die Grundsicherung im Alter ent-lastet und dass dieses Geld auf kommunaler Ebene ver-wendet werden kann, um zum Beispiel Infrastrukturpro-jekte voranzubringen.In Ihrem Antrag steht des Weiteren der schöne und in-teressante Satz: „Wir benötigen einen neuen gesellschaft-lichen Konsens,“ wenn es um Infrastrukturprojekte geht.Da bin ich wirklich gespannt. Ich erlebe, dass überall dort,wo Aktionen gegen Infrastrukturprojekte stattfinden– egal ob es sich um Straßen, Brücken, Stromleitungenoder andere Infrastrukturprojekte handelt –,
zumeist SPD und Grüne an der Spitze stehen und denWiderstand organisieren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28429
Andreas G. Lämmel
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Ich möchte gerne wissen, was Ihr neuer Konsens für In-frastrukturprojekte beinhaltet. Darüber sollten wir reden.Es gibt eine andere interessante Formulierung in Ih-rem Antrag. Sie fordern die Bundesregierung auf, „eineInitiative zur Schaffung von mehr Technikverständnisauf den Weg zu bringen“. Wie Sie wissen, komme ichaus Ostdeutschland, und ich brauche keine neue Initia-tive. Aber dort, wo Sie seit 30 Jahren Schul- und Bil-dungspolitik betreiben, braucht man eine solche Initia-tive, weil Sie einer ganzen Generation junger LeuteTechnikfeindlichkeit suggeriert und vermittelt haben:Technik ist etwas Schlechtes. Wir brauchen nur weicheStandortfaktoren. Wir brauchen für die Entwicklung desLandes nichts mehr zu tun.
Die Fehler, die Sie gemacht haben, gestehen Sie genaumit dieser Formulierung ein. Ich bin gespannt, wie dieseInitiative aussehen soll.Ein weiterer Punkt Ihres Antrags, der sehr wichtig istund dem ich zustimme – die entscheidende Frage ist al-lerdings, welche Lösung dabei angestrebt wird –, ist dieForderung, „die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiverUnternehmen zu gewährleisten“. Toll! Was ich von Ih-nen ständig höre, ist aber das genaue Gegenteil.
Sie wollen die Privilegien der stromintensiven Industrieund die Netzentgelte abschaffen.
– Herr Heil, Ihre Rede, die Sie heute früh gehalten ha-ben, lag sicherlich schon fertig in der Schublade.
– Genau. Deshalb fiel Ihnen auch nichts zum Antrag Ih-rer Fraktion ein. Sie kennen den Inhalt wahrscheinlichgar nicht.
Des Weiteren fordern Sie in Ihrem Antrag, „die Roh-stoffgewinnung im Inland zu erleichtern“. Toll! Da binich gespannt. Ich werde diesen Satz immer wieder vor-tragen, um Sie daran zu erinnern, dass Sie das zwar for-dern, aber nicht leben.Frau Andreae, jetzt muss ich zu Ihrem Beitrag kom-men, weil Sie hier im Plenum im Zusammenhang mitdem EEG wirklich eine große Unwahrheit verbreitet ha-ben. Wir sind immer dafür, die Einführung neuer Tech-nologien zu befördern, aber es kann nicht darum gehen,nur Masse zu befördern, nur Fläche zu befördern, ohneEffizienz zu bewirken. Das EEG ist ein Gesetz, das aus-schließlich Masse befördert.Nun haben Sie hier am Pult behauptet, dass die christ-lich-liberale Koalition in den letzten Jahren für dieSchwierigkeiten der Solarindustrie in Deutschland ver-antwortlich sei.
Sie wissen doch genau, dass das eine glatte Lüge ist.
Wir haben mit dem Geld der deutschen Stromver-braucher, der privaten Verbraucher genauso wie der In-dustrie, dafür gesorgt, dass in Asien, vor allem in China,ein enormer Arbeitsplatzaufbau stattgefunden hat. WennIhr Argument stimmen würde, dann müsste der Marktfür Solartechnik in Deutschland im Prinzip zusammen-gebrochen sein. Das ist aber gerade nicht der Fall,sondern er hat Höchststände. Wenn die deutsche Solar-industrie offensichtlich nicht in der Lage ist, sich imWettbewerb zu behaupten, dann können Sie doch nichtsagen: „Das ist eine Folge der Politik“, sondern dannmüssen Sie einmal nachfragen: Wieso kann die deutscheSolarwirtschaft nicht gegen die Konkurrenz, vor allenDingen die asiatische, ankommen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Lenkert?
Ja. – Das müssen Sie den Leuten schon erklären!
Sie haben vier EEG-Novellen blockiert. Genau dort
wollten wir regulierend eingreifen, um diese Fehlsteue-
rung zu vermeiden.
Bitte schön, Herr Lenkert.
Vielen Dank. – Herr Kollege Lämmel, Sie sagten ge-rade, dass es keinen Arbeitsplatzabbau in der Solarbran-che gebe. Diese Äußerung können Sie gern in Frankfurtan der Oder wiederholen. Diese Äußerung können Siegern in meinem Wahlkreis wiederholen, wo Schott Solargeschlossen hat; fast 300 Leute sind entlassen worden.Da ging es um die Modulproduktion, nicht um die Instal-lation auf Dächern.Sie müssen sich gefallen lassen, dass wir Ihnen sagen,dass die Bundesregierung durch die Verunsicherung andieser Stelle dafür gesorgt hat, dass Kreditlinien solcherFirmen gekündigt wurden, dass die Bundesregierungkeine Maßnahmen ergriffen hat, um einen Ausgleich zuschaffen, nachdem die Volksrepublik China ihren Solar-firmen zinslose Kredite mit sehr langen Laufzeiten zurVerfügung gestellt hat und damit die Finanzierung im
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Ralph Lenkert
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Prinzip zu null zu haben war – das ist nach den Richtli-nien der Welthandelsorganisation übrigens keine Wett-bewerbsverzerrung –, dass sie also nichts dagegen unter-nommen hat. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, eshabe keine Auswirkungen auf Arbeitsplätze in der Bun-desrepublik gegeben, dann gehen Sie nach Sachsen-An-halt, dann gehen Sie nach Thüringen und erklären esbitte den Leuten dort und erklären Sie mir hier jetztauch, wie Sie diese Äußerung rechtfertigen!
Herr Kollege, offensichtlich haben Sie verstopfte Ge-
hörgänge oder so etwas. Ich habe überhaupt nicht gesagt,
dass es nicht zu Arbeitsplatzabbau gekommen ist. Es ist
völlig aus der Luft gegriffen, was Sie hier behaupten. Ich
brauche jetzt nicht auf Ihre Frage eingehen, weil das jeg-
licher Grundlage entbehrt.
Ich komme noch einmal zum Antrag der SPD. Die
Zusammenfassung des Ganzen lautet: Ihr Antrag ist
praktisch ein buntes Gemisch aus allen Themen. Es sind
einige Punkte enthalten, die durchaus diskussionswürdig
sind, aber 80 Prozent dessen, was Sie in dem Antrag
schreiben, machen wir schon. Deswegen brauchen wir
den Antrag gar nicht, und deswegen ist das aus meiner
Sicht auch kein Konzept 2020. In ein Konzept 2020
müsste man etwas Neues hineinschreiben und dürfte
nicht all das aufführen, was wir bisher schon machen. In-
sofern war es zwar schön, die Zeit mit Ihnen hier zu ver-
bringen, aber das war in der Sache eigentlich nicht för-
derlich.
Vielen Dank.
Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist
Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vertrau-ensschwund insbesondere der deutschen Wirtschaft ge-genüber der Regierung ist mit Händen zu greifen.
Es sind Konfusion, Konzeptlosigkeit, Flickschusterei zubeobachten, was mittlerweile der deutschen Wirtschaftund demzufolge der gesamten Gesellschaft wehtut. Dasmüssen wir beenden.
Ich möchte das an ein paar Themen deutlich machen,meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie in demAntrag finden.Deutschland 2020 ist ein Prozess, den wir in den ver-gangenen Monaten und Jahren eingeleitet haben und dersich auf ganz unterschiedliche Themen bezieht, HerrLämmel. In der heutigen Diskussion geht es um drei we-sentliche Schwerpunkte, nämlich um die Infrastruktur,um die Energiewende und um die Innovation. Ichmöchte mich in meinen Ausführungen auf die Energie-wende beschränken.Wer die deutsche Wirtschaft stark machen will, mussVerlässlichkeit schaffen. Was erleben wir stattdessen?Wir erleben eine Konfusion innerhalb der Regierung.Wenn ich es richtig gelesen habe, tagte gestern der Um-weltausschuss, und die beiden für die Energiewende ver-antwortlichen Minister lehnten es ab, gleichzeitig an ei-nem Tisch zu sitzen. Das ist das Sinnbild dafür, dass mansich nicht grün ist und dass jeder seine eigenen Konzeptegegen den anderen durchsetzen will und damit Stillstanderreicht.
Ich will einige weitere Beispiele aufzählen. In Brüsselgeht es um die Frage des Zertifikatehandels. Das ist einganz wesentliches Instrument, das wir beleben wollen.Die beiden verantwortlichen Minister schlagen hierzujedoch unterschiedliche Konzepte vor. Demzufolge pas-siert nichts. Das muss geändert werden. Statt Konzep-tionslosigkeit und Flickschusterei brauchen wir Pla-nungssicherheit beim Zertifikatehandel.
Das zweite Thema bezieht sich auf die energieinten-siv produzierenden Unternehmen. Wir haben die ent-sprechende Regelung unter Rot-Grün nicht zuletzt des-halb eingeführt, damit die gesamte Wertschöpfungskettein Deutschland bleibt. Das Oberlandesgericht Düssel-dorf bescheinigt jetzt der Regierung, dass die Auswei-tung bzw. die Neupositionierung in diesem Bereichverfassungswidrig sei. Brüssel hat in diesem Zusammen-hang ein Verfahren eingeleitet.Wie wollen Sie dieser wichtigen Industrie Planungs-sicherheit bieten, die wir dringend brauchen? Das istalso wiederum Flickschusterei und Konfusion. Das musszu Ende gehen.
Das dritte Thema bezieht sich auf die Offshorewind-gebiete. Da wird der Industrie versprochen: Wenn ihrWindparks einrichtet, dann werden diese an das Ufer an-geschlossen. Damit ist ein Abtransport des Stroms Rich-tung Süden möglich.Mein sehr verehrter Kollege Glos hat dafür gesorgt,dass die Netze privatisiert werden. Nun ist beispiels-
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Wolfgang Tiefensee
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weise TenneT – im Hintergrund die Niederlande – nichtin der Lage, den Anschluss zu gewährleisten. Ist das Pla-nungssicherheit? Haben wir einen Minister gesehen, derin Den Haag dafür sorgt, dass das Eigenkapital gestärktwird, damit die Offshorewindgebiete angeschlossen wer-den? Nein. Planungsunsicherheit für die Industrie. Flick-schusterei. Konfusion. Das muss beendet werden.
Ein weiteres Thema: Es wird immer vom sogenann-ten NOVA-Prinzip gesprochen – das bedeutet Netzopti-mierung vor Ausbau –, das Sie in Sonntagsreden hoch-halten. In welchem Gesetz, in welcher Verordnung steht,dass bei einer Neukonzipierung von Netzen zunächstdieses Prinzip anzuwenden ist, dass also zunächst dievorhandenen Netze zu optimieren sind, sodass man überPilotprojekte, beispielsweise Erdverkabelung, zu einerLösung kommt? Das steht nirgendwo. Das steht zwar inden Präambeln und in Ihren Sonntagsreden. Es bringtaber keine Planungssicherheit für diejenigen, die in denKommunen und Ländern planen und die Prozesse voran-treiben müssen, weil das nirgendwo steht. Konfusion.Flickschusterei. Das muss beendet werden.
Ein weiteres Thema. Dabei möchte ich all diejenigen,die immer wieder auf dem CO2-Gebäudesanierungspro-gramm herumreiten, insbesondere Herrn Breil, an dieFakten erinnern: Wir haben den Kommunen, den Eigen-tümern von Eigenheimen, von Wohnungen und vonWohnungskomplexen versprochen, dass wir bei derenergetischen Gebäudesanierung vorankommen.An der gestrigen Ausschusssitzung nahm auch HerrDr. Schröder von der KfW teil. Ich habe ihn explizit ge-fragt: Was halten Sie davon, dass die Bundesregierungein bestehendes und gut eingeführtes Programm verän-dert, nämlich das Programm zur Ausreichung von zins-verbilligten Krediten an die Hausbanken, hin zu einersteuerlichen Förderung, die niemand will, mit der nureine bestimmte Klientel gefördert wird?Planungssicherheit sieht anders aus. Außerdem ist esdringend geboten, für mehr Energieeffizienz zu sorgen.Also auch hier wieder Flickschusterei und Konfusion.Das muss beendet werden, meine sehr verehrten Damenund Herren.
So ließe sich die Reihe der Konfusion und der Flick-schusterei weiter fortsetzen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deut-sche Wirtschaft, die privaten Investoren und die privatenHaushalte brauchen Planungssicherheit und Verlässlich-keit. Sie brauchen eine Vision. Wer nicht zielbewusst ist,der lässt sich vom Schicksal treiben. Wir mahnen an– das ist die Quintessenz unseres Antrages –, dass wiruns klare Ziele vorgeben und auf ihrer Grundlage Pro-jekte entwickeln, die unter Beteiligung der Bevölkerungund der politischen Mehrheiten umgesetzt werden. Wirbrauchen keine Ankündigungen, wir brauchen keinenStreit in der Regierung, sondern endlich konkretes Han-deln. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,wird es Zeit, dass der September 2013 kommt und wirdie Konzepte, die wir hier vorlegen, tatsächlich umset-zen können.Vielen Dank, meine Damen und Herren.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12682 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 f sowiedie Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-rung eines Datenbankgrundbuchs
– Drucksache 17/12635 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Innenausschussb) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu demStaatsvertrag vom 14. Dezember 2012 über dieabschließende Aufteilung des Finanzvermö-gens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertrageszwischen dem Bund, den neuen Ländern undBerlin undzur Änderung der Bundeshaushaltsordnung– Drucksache 17/12639 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss Rechtsausschussc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Finanz- und Personalstatistikgesetzes– Drucksache 17/12640 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss Innenausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten KarlHolmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic,Patrick Döring, Petra Müller , weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDP
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Öffentlich-Private Partnerschaften – Poten-ziale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich ge-stalten und Transparenz erhöhen– Drucksache 17/12696 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieHaushaltsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten RenateKünast, Undine Kurth , BärbelHöhn, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENHaltung von Delfinen beenden– Drucksache 17/12657 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheitf) Beratung des Antrags der Abgeordneten HaraldEbner, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENBienen und andere Insekten vor Neonico-tinoiden schützen– Drucksache 17/12695 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zurgesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos– Drucksache 17/12679 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medienb) Erste Beratung des von der Fraktion der SPDeingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-derung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe-schränkungen zur Änderung des Pressefusions-rechtes– Drucksache 17/12680 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Rechtsausschuss Ausschuss für Kultur und Medienc) Beratung des Antrags der Abgeordneten SwenSchulz , Dr. Ernst Dieter Rossmann,Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der SPDHochschulpakt aufstocken – Finanzierung vonwachsenden Studienkapazitäten an den Hoch-schulen langfristig sicherstellen– Drucksache 17/12690 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschussd) Beratung des Antrags der Abgeordneten MariaKlein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENKorruption im Gesundheitswesen strafbarmachen– Drucksache 17/12693 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Gesundheit Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialese) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, BettinaHerlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEuropäische Tonnagesteuer statt Steuerspar-modell– Drucksache 17/12697 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss Ausschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen andie in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zuüberweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist so.Dann sind die Überweisungen beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 m so-wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich umdie Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist.Zunächst Tagesordnungspunkt 35 a:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai2012 zwischen der Regierung der Bundesrepu-blik Deutschland und der Regierung der Re-publik Korea über die Seeschifffahrt– Drucksache 17/12336 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/12574 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Valerie Wilms
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Der Ausschuss für Verkehr empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/12574, den Gesetz-entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12336 an-zunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung derFraktion Die Linke angenommen.Tagesordnungspunkt 35 b:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung seeverkehrsrechtlicher undsonstiger Vorschriften mit Bezug zum Seerecht– Drucksache 17/12348 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/12594 –Berichterstattung:Abgeordneter Uwe BeckmeyerDer Verkehrsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/12594, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12348 an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung einstimmig angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-entwurf zustimmen wollen, sollten sich erheben. – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 35 c:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Internationalen Über-einkommen von Nairobi von 2007 über die Be-seitigung von Wracks– Drucksache 17/12343 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/12595 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Valerie WilmsZweite Beratungund Schlussabstimmung. Der Verkehrsausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/12595, den Gesetzentwurf der Bundesregierungauf Drucksache 17/12343 anzunehmen. Ich bitte diejeni-gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zuerheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DerGesetzentwurf ist einstimmig angenommen.Tagesordnungspunkt 35 d:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierungFünfundneunzigste Verordnung zur Änderungder Außenwirtschaftsverordnung– Drucksachen 17/12226, 17/12441 Nr. 2.1,17/12728 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Lindner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/12728, die Aufhebung der Ver-ordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12226nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Linkenund Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 35 e:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-nologie zu der Verordnung derBundesregierungEinhundertzehnte Verordnung zur Änderungder Ausfuhrliste– Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung –– Drucksachen 17/12227, 17/12441 Nr. 2.2,17/12729 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Martin Lindner
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/12729, die Aufhebung der Ver-ordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12227nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Linken undGrünen angenommen.Tagesordnungspunkt 35 f:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit zu derVerordnung der BundesregierungVerordnung über die Hinweispflichten desHandels beim Vertrieb bepfandeter Getränke-verpackungen
– Drucksachen 17/12303, 17/12441 Nr. 2.3,17/12739 –Berichterstattung:Abgeordnete Michael BrandGerd BollmannHorst MeierhoferRalph LenkertDorothea Steiner
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/12739, der Verordnung der Bun-desregierung auf Drucksache 17/12303 zuzustimmen.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen dieStimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü-nen angenommen.Tagesordnungspunkte 35 g bis 35 m. Das sind Be-schlussempfehlungen des Petitionsausschusses.Zunächst Tagesordnungspunkt 35 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 546 zu Petitionen– Drucksache 17/12511 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 546 ist einstimmig an-genommen.Tagesordnungspunkt 35 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 547 zu Petitionen– Drucksache 17/12512 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 547 ist gegen die Stim-men der Grünen vom Haus angenommen.Tagesordnungspunkt 35 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 548 zu Petitionen– Drucksache 17/12513 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 548 ist angenommengegen die Stimmen der Linken.Tagesordnungspunkt 35 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 549 zu Petitionen– Drucksache 17/12514 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 549 ist mit den Stim-men von Koalition und SPD gegen die Stimmen vonLinken und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 35 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 550 zu Petitionen– Drucksache 17/12515 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 550 ist mit den Stim-men der Koalition und der Linken gegen die Stimmenvon SPD und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 35 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 551 zu Petitionen– Drucksache 17/12516 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 551 ist mit den Stim-men der Koalition und der Grünen gegen die Stimmenvon SPD und Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 35 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 552 zu Petitionen– Drucksache 17/12517 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Sammelübersicht 552 ist mit den Stim-men der Koalition gegen die Stimmen der Oppositionangenommen.Zusatzpunkt 4 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Renate Künast, MonikaLazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Füh-rungspositionen umsetzen– Drucksachen 17/7953, 17/8643 –Berichterstattung:Abgeordnete Nadine Schön Christel HummeNicole Bracht-BendtJörn WunderlichMonika LazarDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/8643, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7953 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-fraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfrak-tionen angenommen.Zusatzpunkt 4 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Josef PhilipWinkler, Volker Beck , Memet Kilic, wei-
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terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENResidenzpflicht abschaffen– Drucksachen 17/11356, 17/11725 –Berichterstattung:Abgeordnete Reinhard GrindelRüdiger VeitHartfrid Wolff Ulla JelpkeJosef Philip WinklerDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/11725, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11356 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Ent-haltung der SPD angenommen.Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDStandpunkt der Bundesregierung zu den be-schlossenen Verfassungsänderungen in Ungarnim Hinblick auf die Einhaltung europäischerGrundwerteIch eröffne die Aussprache und erteile das WortFrank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn es sich ein Land mit dem Urteil über Ungarn nichteinfach machen darf, dann unser Land, dann Deutsch-land. Viel zu viel haben wir den Ungarn zu verdanken.Europa, auch Deutschland, sähe anders aus, wenn dieUngarn damals, vor mehr als 23 Jahren, nicht Mensch-lichkeit gezeigt hätten. Sie waren die Ersten, die den Muthatten, den Eisernen Vorhang zu überwinden,
und sie waren es, die den Weg zur deutschen Einheit freigemacht haben.
Deshalb, das sage ich auch für mich, sind wir Deut-schen vielleicht nicht die Ersten, die berufen sind, in mo-ralische Empörung zu verfallen, wenn es um politischeFehlentwicklungen in Ungarn geht. Aber wir sind weißGott nicht die Ersten. Zu dem, was wir dort gegenwärtigerleben – gerade weil es uns schmerzt – können wir ebennicht einfach schweigen. Dazu müssen wir uns verhal-ten. Das verlangt Position, und Wegducken ist da keineAlternative, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Gestern hat das ungarische Parlament die vierte Ver-fassungsreform in knapp zwei Jahren auf den Weggebracht. Mit jeder dieser Reformen macht sich der Mi-nisterpräsident, machen sich Viktor Orban und die kon-servative Fidesz den ungarischen Staat mehr und mehrzur Beute. Mit jeder dieser Reformen wurden Rechts-staat und Demokratie weiter beschädigt. Jeder, der sichdiesem Kurs entgegenstellt, wird – das war in den letztenzwei Jahren zu besichtigen – abgestraft. Das Verfas-sungsgericht wurde seiner Kompetenzen beraubt, alsHüter der Verfassung entmachtet. Richter und Staats-anwälte wurden massenweise entlassen, durch Fidesz-Gefolgsleute ersetzt. Die unabhängige Presse wurde perMediengesetz unter Druck gesetzt. Gesetzgebungsbe-fugnisse des Parlaments wurden eingeschränkt, und dasWahlrecht wurde zugunsten der Fidesz-Partei zurechtge-bogen. Die Religionsfreiheit wurde von Regimetreue ab-hängig gemacht. In der Summe, meine Damen und Her-ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das eben keinebloße Anpassung an veränderte Realitäten, sondern dasist Raubbau an Demokratie und Rechtsstaat.
Aber nicht nur das; begleitet wird das alles von einemdumpfen und völkischen Nationalismus, und das nichtnur am äußersten rechten Rand, sondern immer unver-hohlener auch in der Mitte der Partei des Ministerpräsi-denten, der Regierungspartei. Fremdenfeindlichkeit,Ausfälle gegen Andersdenkende, all das wird in Ungarnallmählich gesellschaftsfähig gemacht. Da, liebe Kol-leginnen und Kollegen – da sind wir uns hoffentlich ei-nig –, können wir nicht einfach zuschauen.
Wir dürfen nicht einfach zulassen, dass europäischeGrundwerte mitten in der Europäischen Union offen undgezielt missachtet und verletzt werden, auch deshalb,weil es hier nicht nur um Ungarn geht. Wenn einzelneEU-Staaten sich in einen vordemokratischen Nationalis-mus flüchten, dann zerfrisst das am Ende unseren ge-meinsamen Wertekanon, und das dürfen wir nicht zulas-sen.
Deshalb dürfen wir wohl erwarten, dass die Europäi-sche Kommission zu diesen Vorgängen mehr findet alsnur laue Worte. Deshalb erwarte ich auch, dass eine Gip-felerklärung des Europäischen Rates morgen mehr dazuenthält als Ausdruck von Sorge und dass vor allem diedeutsche Bundeskanzlerin das Nötige dafür tut. Deshalberwarte ich von einer Parteienfamilie, in der die Unionmit der Fidesz ja nicht nur irgendwie befreundet ist, son-dern in einer Fraktionsgemeinschaft im EuropäischenParlament sitzt, auch nicht nur Worte, sondern Maßnah-men. Wir erwarten von der EVP und von Frau Merkelgenau das, was Sie unserer Parteienfamilie im Fall derSlowakei vor einigen Jahren abverlangt haben – nichtmehr, aber auch nicht weniger.Vielen Dank.
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Das Wort hat nun Gunther Krichbaum für die CDU/
CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine lieben Kolle-
ginnen und Kollegen! Ihre Haltung zu den aktuellen Ent-
wicklungen in Ungarn hat die Bundesregierung mehr als
nur einmal deutlich gemacht, zuletzt beim Besuch des
ungarischen Staatspräsidenten diese Woche. Es waren
intensive Gespräche zwischen ihm und Bundeskanzlerin
Merkel und natürlich auch dem Außenminister, Herrn
Westerwelle. Ich darf auch daran erinnern, dass Frau
Staatsministerin Pieper erst kürzlich in Ungarn war und
auch diese Begegnung dazu nutzte, die Position der Bun-
desregierung hinreichend deutlich zu machen.
Ich glaube, es ist aber auch wichtig, gerade zu Beginn
dieser Aktuellen Stunde darauf hinzuweisen, dass wir
uns in einem Plenarsaal und nicht in einem Gerichtssaal
befinden. Deshalb sitzt hier kein Land auf der Anklage-
bank. Dem Land Ungarn haben wir in der Tat – Herr
Steinmeier hat es erwähnt – gerade wegen des Jahres
1989 sehr viel zu verdanken. Ohne Ungarn wäre die
deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen.
Umgekehrt nehmen wir zu den aktuellen Geschehnis-
sen mit Bestimmtheit, aber natürlich auch mit Augen-
maß Stellung. Deswegen ist es für mich persönlich
wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei solchen Kom-
mentierungen nicht um die Einmischung in die inneren
Angelegenheiten eines Landes geht. Warum ist dies der
Fall? Spätestens mit dem Vertrag von Lissabon haben
wir eine Unionsbürgerschaft, das heißt, alle Menschen
innerhalb der Europäischen Union haben den gleichen
Anspruch auf Teilhabe an den gemeinsamen Werten wie
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Deswegen begrüße
auch ich persönlich sehr die Initiative – ausgehend von
vier Außenministern der Länder Deutschland, Däne-
mark, Finnland und den Niederlanden, mit Herrn
Westerwelle an der Spitze – in die Richtung, dass wir in
Zukunft auf Fehlentwicklungen schneller reagieren kön-
nen müssen. Wir benötigen einen Ad-hoc-Mechanismus.
Das haben wir schon im letzten Jahr gesehen, als es
Fehlentwicklungen in Rumänien aufgrund eines Amts-
enthebungsverfahrens gab. Ganz nebenbei: Schon da-
mals hätte ich mir eine Aktuelle Stunde zu diesem
Thema gewünscht, die dann aber nicht zustande kam.
Das muss auch gesagt werden können.
Wir haben das sogenannte Verfahren nach Art. 7 des
EU-Vertrages. Das ist aber zu schwerfällig. Die Hürde
hängt zu hoch. Deswegen brauchen wir einen Ad-hoc-
Mechanismus. Ich hoffe, dass auch die Initiative von
Herrn Westerwelle dazu beitragen kann, die Kommis-
sion davon zu überzeugen.
Das gilt auch deswegen, weil wir spätestens mit John
Locke und Montesquieu den Grundsatz der Gewaltentei-
lung nicht nur entwickelt haben, sondern er das Herz-
stück einer jeden Demokratie bildet. Es geht dabei da-
rum, dass die drei Gewalten – die rechtsprechende, die
vollziehende und natürlich auch die gesetzgebende Ge-
walt – sich untereinander ausbalancieren und nicht die
eine Gewalt sich die andere gefügig machen darf. Es
darf sich auch nicht die eine Gewalt der anderen über-
stülpen. Das darf in einer Demokratie nicht geschehen.
Darauf müssen wir hinweisen können und dürfen.
Die Grundwerte innerhalb der Europäischen Union
– egal ob es die Demokratie, der Rechtsstaat oder die
Friedensstiftung sind – sind identitätsstiftend, worauf
nicht zuletzt Bundespräsident Gauck in seiner Rede hin-
gewiesen hat.
Ein letztes Argument, warum wir den Ad-hoc-Mecha-
nismus so dringend benötigen, sei auch erwähnt. Es geht
nicht nur um die Wahrung demokratischer Prinzipien. Es
geht auch um die Wahrung der Freiheitsprinzipien. Ich
denke hier an ein weiteres Element der jüngsten Ände-
rungen. Studenten, die in Ungarn studiert haben, haben
beispielsweise nicht mehr die Möglichkeit, ohne Weite-
res das Land zu verlassen. Sie können es nur mit Restrik-
tionen verlassen. Es geht auch darum, dass eine Banken-
steuer Platz gegriffen hat. Dies betrifft das Prinzip der
Marktwirtschaft, weil es ausschließlich ausländische
Banken angeht. Die Prinzipien der Demokratie, der Frei-
heit und der Marktwirtschaft sind die Kernelemente der
sogenannten Kopenhagener Kriterien, die einen Beitritt
eines Landes erst ermöglichen.
Im Kern geht es darum, dass die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union eine gemeinsame Verantwortung
tragen, damit die Bürgerinnen und Bürger aller Länder
auch in den Genuss der Werte kommen, die uns ausma-
chen. Deswegen ist es wichtig, jedes Partnerland darauf
hinzuweisen. Die heutige Debatte darf aber nicht nur
über Ungarn gehen, sondern sie muss mit Ungarn ge-
führt werden und mit allen anderen Ländern, in denen es
um analoge Schwierigkeiten und Fragen geht.
Vielen Dank.
Das Wort hat Stefan Liebich für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! DieBundeskanzlerin ist besorgt. Gut so; denn die Lage in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28437
Stefan Liebich
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dem Land muss einen ja auch besorgt machen. Die Re-gierungspartei nutzt ihre große Mehrheit für Verfas-sungsänderungen: erstens zur Einschränkung der Rechtedes Verfassungsgerichts, weil es Gesetze kassiert hat,zweitens für Regelungen, dass Menschen, die keinen fes-ten Wohnsitz vorweisen können, Geldstrafen oder sogarHaft drohen, drittens dafür, dass Wahlwerbung für Parteiennur noch in den Sendern möglich ist, die gegenwärtig vonder Regierungspartei kontrolliert werden. Ja, das solltenicht nur Angela Merkel, sondern uns alle besorgt stim-men. Wir reden hier nicht nur über Lukaschenkos Belarus.Wir reden über einen Mitgliedstaat der EuropäischenUnion. Wir reden über Ungarn.Zur Erinnerung – Frank-Walter Steinmeier hat es an-gesprochen –: Die Europäische Union ist zwar zunächstals Montanunion, also als Wirtschaftsunion, entstanden,sie hat sich aber inzwischen auf gemeinsame Werte ver-ständigt. Im Vertrag über die Europäische Union heißtes:Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind dieAchtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokra-tie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wah-rung der Menschenrechte einschließlich der Rechteder Personen, die Minderheiten angehören.Herr Krichbaum, deshalb reichen der Ausdruck von Be-sorgnis und die Hinweise mit Blick auf Ungarn im Jahr2013 nicht mehr aus.
Herr Orban und seine Fidesz-Partei kamen 2010 miteinem fulminanten Wahlsieg legitim an die Regierung.Schon 2011 wurde die Verfassung geändert, was interna-tional kritisiert wurde. Dann kam das Pressegesetz, 2012das Gesetz über die Notenbank Ungarns und schließlichdie Politik gegen Sinti und Roma, gegen Lesben undSchwule und deren Demonstrationsfreiheit.Intellektuelle wie György Konrad, Peter Esterhazyund der Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz gelten imoffiziellen Ungarn als unpatriotisch, weil sie die Politikder Regierung kritisieren. Dafür werden im ganzen Landunter Beteiligung von Fidesz-Parteipolitikern Denkmalefür Miklós Horthy, dem Reichsverweser, Initiator derersten Judengesetze, Verbündeten von Hitler-Deutsch-land, aufgestellt. Der Friedensnobelpreisträger ElieWiesel hat deshalb kürzlich seinen Verdienstorden anden Parlamentspräsidenten zurückgegeben.Erst vor wenigen Wochen hat der persönliche Freundvon Viktor Orban und Mitbegründer der Fidesz, ZsoltBayer, in einem Artikel über Roma gesagt – es fällt mirschwer, das hier vorzulesen, aber wir müssen uns mitdieser Situation konfrontieren –:Ein bedeutender Teil der Zigeuner ist nicht geeig-net, unter Menschen zu leben. Sie sind Tiere. DieseTiere sollen nicht sein dürfen. In keiner Weise. Dasmuss gelöst werden – sofort und egal wie.So ein Fidesz-Parteipolitiker und Freund von ViktorOrban, der sich bis heute nicht von ihm distanziert hat.So etwas dürfen wir nicht akzeptieren. Sorge alleinreicht nicht aus, es muss gehandelt werden.
Was passiert? Als Mitglied der Parlamentarierver-sammlung der OSZE, der Organisation für Sicherheitund Zusammenarbeit in Europa, habe ich es erlebt: Staa-ten wie Belarus werden wegen der letzten Wahlen kriti-siert – zu Recht. Russland wird wegen Magnitskij kriti-siert, der in einem Moskauer Gefängnis zu Tode kam –zu Recht. Selbst die USA werden wegen illegaler CIA-Gefängnisse kritisiert – zu Recht. Ein Antrag, Ungarn zukritisieren, hingegen wird abgelehnt.An dieser Stelle muss ich die CDU/CSU ansprechen;denn wir reden nicht nur einfach über Ungarn, sondernwir reden auch über die CDU/CSU. Frank-WalterSteinmeier hat das angesprochen. Die Fidesz ist geachte-tes Mitglied Ihrer konservativen Parteienfamilie. Manbekommt schon den Eindruck, dass Blut dicker ist alsWasser und dass man sich gegen Kritik von außen schüt-zen will.Herr Krichbaum, Ihre Rede war – in aller Freund-schaft – eine Verteidigungsrede: Augenmaß, nicht aufdie Anklagebank setzen. Dann der schöne Satz, manmöge sich nicht in die inneren Angelegenheiten ein-mischen. Das habe ich wirklich schon lange nicht mehrgehört. Hier können wir von der CDU/CSU wirklichmehr erwarten.
Ich darf Sie daran erinnern, dass Ihr Parteifreund, un-ser Bundestagskollege und Vertreter der Bundesregie-rung, Peter Hintze, ebenso wie Viktor Orban einer derVizepräsidenten der Christlich Demokatischen Interna-tionale ist. Wenn Sie nicht handeln, lassen Sie zu, dassIhre Parteifreunde offen die Grundrechte von Euro-päerinnen und Europäern mit Füßen treten.
Sie müssen sich schon entscheiden, was für einEuropa Sie wollen. Wollen Sie ein Europa, wie esCameron will: einfach einen gemeinsamen Markt undfertig? Oder wollen Sie eine Gemeinschaft, die auf ge-meinsamen Werten gründet?Der Art. 7 des EU-Vertrages – es ist angesprochenworden – ermöglicht es, einem Mitgliedstaat zeitweiligsein Stimmrecht zu entziehen, wenn er die Grundrechteder EU eindeutig zu verletzen droht oder bereits verletzt.Schützen Sie nicht Ihre Parteifreunde, sie haben es nichtverdient. Handeln Sie!
Das Wort hat nun Joachim Spatz für die FDP-Frak-tion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zu den letzten Worten eben: Dass diese aus der
Ecke einer SED-Nachfolgeorganisation kommen, ist
sehr mutig.
Wenn wir über Ungarn sprechen, dann sprechen wir
auch über die Folgen der Teilung Europas, mit deren
Überwindung sich die Länder schwertun. Ich will in die-
sem Zusammenhang erwähnen, dass das nicht die erste
Regierung Ungarns ist, die diese Leistung nicht erbracht
hat. Auch für diese Regierung besteht die Gefahr, durch
die jetzt gewählte Methode die ererbte gesellschaftliche
Spaltung nicht überwinden zu können. Aber ich betone
es noch einmal: Das ist nicht die erste Regierung, die
diesen Versuch erfolglos unternommen hat.
Die Europäische Union ist in der Tat mehr als eine
Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist und bleibt eine Werte-
gemeinschaft. Natürlich ist der Rechtsstaat ein wesentli-
cher Bestandteil, natürlich sind die Grundrechte ein
wesentlicher Bestandteil dieser Wertegemeinschaft. Des-
halb hat sich die Bundesregierung eindeutig geäußert,
und zwar sowohl in der Initiative von Guido
Westerwelle zusammen mit Finnland, Dänemark und
den Niederlanden zur Einhaltung der Grundrechte in der
Europäischen Union – es geht dabei darum, das entspre-
chende Instrumentarium weiterzuentwickeln –, wie auch
du
„Ungarn muss Rechtsstaat bleiben.“ Ich
glaube nicht, dass es zu viele Politiker in Verantwortung
gibt, die in derart deutlicher Weise die Position der Bun-
desrepublik Deutschland in diesen Fragen artikuliert ha-
ben.
Natürlich gibt es immer beide Wege. Es gibt den Weg,
auf informelle Weise einzuwirken, und den Weg, auf of-
fizielle Weise zu reagieren. Die Bundesrepublik be-
schreitet beide Wege, und wir hoffen, dass in Ungarn
entsprechend reagiert wird.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich ist
es schwer, zu akzeptieren, dass Gesetzgebung bis ins
Detail in Verfassungsrang erhoben wird, weil natürlich
die Gefahr besteht, dass eine momentan bestehende
Zweidrittelmehrheit ihre Politik über den Mehrheits-
wechsel hinaus prolongieren will.
Natürlich wird das von uns kritisiert, weil das nicht Teil
des Wertekanons ist, den eine Verfassung absichert. Na-
türlich müssen wir darauf bestehen, dass diese einfach-
gesetzlichen Regelungen nach einer Wahl durch eine
neue Mehrheit auch einfachgesetzlich wieder geändert
werden können. Darauf bestehen wir natürlich. Das ist
überhaupt keine Frage.
Trotzdem muss ich die Kritik in einer Art und Weise
äußern, die dieser Problematik angemessen ist. Es ist
wichtig, dass man nicht oberlehrerhaft auftritt, sondern
auf die Verantwortung hinweist: Eine Mehrheit hat eine
Verantwortung, und eine Zweidrittelmehrheit hat eine
besondere Verantwortung.
Dabei geht es nicht nur um die formale Zulässigkeit von
Verfassungsänderungen – das wissen wir, und das sagen
wir den ungarischen Partnern auch –, die bei einer Parla-
mentsmehrheit von zwei Dritteln natürlich gegeben ist,
sondern darum, dass mit einer Zweidrittelmehrheit eine
besondere Verantwortung für die Kohärenz einer Gesell-
schaft verbunden ist. Auch das fordern wir regelmäßig
ein.
Es bleibt natürlich immer das Gespräch. Es gibt eine
Einladung des Parlamentspräsidenten von Ungarn an die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages, nach Ungarn
zu fahren und sich dort der Diskussion zu stellen. Ich
kann nur alle auffordern: Machen Sie mit. Konfrontieren
wir die Kolleginnen und Kollegen des ungarischen Par-
laments direkt mit unserer Kritik, und versuchen wir
auch auf diese Weise, mit Blick auf diese unglücklichen
Gesetzgebungsverfahren Änderungen herbeizuführen –
in aller Kollegialität und in aller Freundschaft. Denn
noch eines ist wichtig: Die Wertegemeinschaft Europas
ist nicht nur eine Wertegemeinschaft Westeuropas, son-
dern eine Wertegemeinschaft Gesamteuropas. Die Un-
garn haben damals ihren Beitrag geleistet, als es darum
ging, den Eisernen Vorhang zu öffnen, die Teilung Euro-
pas zu beenden und die Etablierung der Grundrechte in
Osteuropa überhaupt erst zu ermöglichen. Daher gilt ih-
nen bei aller Kritik auch immer unser Dank.
Danke schön.
Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Ich möchte am Anfang etwas ganz Persönliches sa-gen: Wir reden schon seit vielen Jahren über Ungarn. Siealle wissen, dass ich kein Mensch knalliger Töne bin undauch kein Mensch, der für Schlagzeilen arbeitet. Viel-mehr ist es so, dass ich – wie viele in unserem Haus –sehr viel von diesem Land halte. Deswegen ist es mir– aus Interesse an dem Land – sehr wichtig, was dortpassiert. Als ich die Nachrichten über die sehr rascheVeränderung der Verfassung und das, was sie beinhaltet,
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Manuel Sarrazin
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bekommen habe, habe ich das schon ein bisschen per-sönlich genommen. Das möchte ich auch in RichtungBudapest sagen. Ich habe immer versucht – auch in Be-wertung der Grünen im Deutschen Bundestag –, für einerealistische und treffende Note zu sorgen. Eigentlichhatte ich das Gefühl, dass aus den Debatten der letztenzwei Jahre gegenseitig gelernt worden ist.Wenn ich mir nun vor Augen führe, welche Signaledie EVP in den letzten Jahren intern nach Budapest ge-sendet hat und dass das Auswärtige Amt in diesem Fallmeiner Ansicht nach recht deutliche Worte gefunden hat,komme ich nicht umhin, die Nichtreaktion von AngelaMerkel als ein klares Anzeichen dafür zu werten, dasshier ein Affront stattfindet.
Dass die EVP, die gegenüber Herrn Orban gesagt hat:„Wir können nicht gebrauchen, dass du uns immer in soschlechte Schlagzeilen bringst“, sich jetzt nicht mehr inder Lage sieht, auf dieses erneute, plötzliche und überra-schende Agieren in einer Form zu antworten, dass mannoch ein Plus in Budapest hätte, dass Frau Merkel nichtöffentlich klar, mit angemessenen und vernünftigenWorten Stellung bezieht – so wie es das Auswärtige Amtim Rahmen des genannten Namensbeitrags offenkundigkonnte –,
zeigt, dass sie hier nicht gut aufgestellt ist und nicht rich-tig agiert.
Insofern ist das kein Konflikt zwischen Regierungund Opposition; vielmehr geht es hier um die Frage dereuropäischen Grundwerte. Sie wissen, dass ich ein gro-ßer Freund Ungarns bin. Sie wissen, dass wir als Grüneunglaublich dankbar für das sind, was Ungarn geleistethat, und dass wir – bei großem Bemühen, die richtigeForm zu finden – immer alles mit kritischen und offenenWorte ansprechen. Aber man muss doch fragen, ob dasVerfahren, die Verfassungsänderungen in 25 Tagen sodurchzuführen, dass die Venedig-Kommission, welchein den letzten Jahren in die Änderungen eingebundenwar und Möglichkeiten zur Stellungnahme hatte, garnicht reagieren konnte, der Stil ist, wie mit der Opposi-tion in Ungarn, aber auch mit den europäischen Partnern,umgegangen werden kann.Ich möchte noch etwas sagen, weil ich finde, dass dasein ziemlich wichtiger Punkt ist. In Art. 2 des EU-Ver-trages gibt es die klare Aussage:Die Werte, auf die sich die Union– die Europäische Union –gründet, sind die Achtung der Menschenwürde,Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlich-keit und die Wahrung der Menschenrechte ein-schließlich der Rechte der Personen, die Minderhei-ten angehören.Ihrer Aussage, Frau Merkel habe sich klar geäußert,möchte ich nur entgegnen: Wir sind uns nicht mehr si-cher, ob die jetzt beschlossenen Änderungen der ungari-schen Verfassung noch im Einklang mit diesen Grund-werten stehen. Wir möchten eine klare Aussage derBundesregierung als Ganzes und damit auch der Bun-deskanzlerin, ob die Bundesregierung der Meinung ist,dass die Änderungen der ungarischen Verfassung nochmit den Werten aus Art. 2 EU-Vertrag in Übereinstim-mung stehen. Dazu müssen Sie sich äußern.
Wir haben immer gesagt, dass die Funktionsfähigkeitder europäischen Demokratie auch davon abhängig ist,dass sie in allen Mitgliedstaaten funktioniert. Sie wissenauch, dass wir diesbezüglich in vielen MitgliedstaatenSorge haben. Wir haben in diesem Hause gemeinsam– auch unter Einschluss der sozialdemokratischen Kolle-gen – sehr deutliche Worte gegenüber den Ereignissen inRumänien gefunden. Das möchte ich hier ausdrücklichlobend erwähnen. Da hat die SPD im Deutschen Bun-destag nicht die Rolle gespielt, die manchmal bei den ei-genen Kollegen gespielt wird, nämlich wegzuschauen.Ich möchte Sie vor dem Hintergrund der Sorgen überdie Entwicklung in der gesamten Region und auch vordem Hintergrund der Glaubwürdigkeit, die die Europäi-sche Union bei den Erweiterungsprozessen auf demwestlichen Balkan benötigt, bitten, dieses Prinzip hierbei uns gemeinsam durchzuhalten. Sie, verehrte Kolle-ginnen und Kollegen, die Mitglieder der Partei sind, de-ren Vorsitzende die Bundeskanzlerin ist, wissen, dasswir an dieser Stelle im deutschen Interesse gemeinsamklare Worte in Richtung Budapest richten müssen, weilder von vielen, auch von Gunther Krichbaum richtig be-schriebene Konflikt durch die Änderungen hinsichtlichder Gewaltenteilung in Ungarn nicht nur für Ungarn undfür die Freundschaft zu Deutschland, sondern für die ge-samte Region sehr, sehr gefährlich ist. Diese Worte rich-ten wir in Freundschaft, mit großer Sorge und sehr vielpersönlicher Anteilnahme gen Budapest.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Die Kavallerie soll gegen die Schweiz ins Feld geschicktwerden,
Piraten sollen nach Zypern schippern, italienische Politi-ker sollen in den Zirkus,
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28440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Karl Holmeier
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und – so nehme ich an –, wenn es nach der SPD und ih-rem Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl geht, sollUngarn auf die Anklagebank. Das ist der Umgang desMöchtegernkanzlers Steinbrück mit unseren europäi-schen Nachbarn und mit unseren europäischen Freun-den.
Wer Steinbrück zum Freund hat, braucht keine Feindemehr, könnte man fast sagen.
Offenbar hat er die Beinfreiheit nur eingefordert, um an-deren vor das Schienbein zu treten.Leider nehmen er und seine Partei dabei keinerleiRücksicht darauf, wen die Attacken treffen. Respektscheint Ihnen ein Fremdwort zu sein,
vor allem gegenüber anderen Staaten. Sie schaden mitIhrem oberlehrerhaften, ja geradezu rüpelhaften Verhal-ten dem Ansehen unseres Landes.
Das musste gesagt werden.Nun zur Sache. Ich stimme vollkommen mit denjeni-gen überein, die darauf verweisen, dass die EuropäischeUnion auch eine Wertegemeinschaft ist.
In dieser Wertegemeinschaft darf uns nicht egal sein,was in einem anderen Mitgliedstaat passiert. Das gilt na-türlich ganz besonders, wenn mögliche Verstöße gegenGrundwerte im Raum stehen. Auch ich sehe es skep-tisch, wenn ein Verfassungsgericht Normen der Verfas-sung nicht auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordnetenVerfassungsgrundsätzen überprüfen darf. Gerade wirDeutsche wissen durch unsere Geschichte nur zu gut,wohin das führen kann. Das heißt aber nicht, dass derDeutschen Bundestag als selbsternannte oberste morali-sche und juristische Instanz in Europa auftreten
und mit dem Finger auf Ungarn zeigen darf, frei nachdem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.
Dies gilt erstens vor dem Hintergrund, dass das unga-rische Verfassungsgericht nach meinen Informationen inden letzten 20 Jahren, also auch vor der jetzigen Verfas-sungsänderung, noch nie die Kompetenz hatte, Verfas-sungsnormen inhaltlich auf ihre Verfassungsmäßigkeitzu prüfen. Bemerkenswerterweise hat sich bisher nie-mand daran gestört. Das macht die Sache nicht besser,aber es zeigt die Unehrlichkeit derer, die jetzt mit demFinger auf Ungarn zeigen.Zweitens habe ich den Kollegen von der SPD und vonden Grünen bereits im Europaausschuss vorgeschlagen,sich an den Europarat und an die EU-Kommission zuwenden. Ich habe dies getan; denn es geht mir um dieSache. Diese Institutionen sind für die Überprüfung derEinhaltung europäischer Grundwerte zuständig, nichtder Bundestag.
Wir sind Legislative, nicht Judikative. Wir sind fürdie Gesetzgebung in Deutschland zuständig, nicht aberfür die Kontrolle der Gesetze, schon gar nicht für dieKontrolle von Gesetzen im Ausland. Soweit ich weiß,haben EU-Kommissionschef Barroso und der Generalse-kretär des Europarats, Jagland, bereits eine Überprüfungder ungarischen Verfassungsänderungen angekündigt. Indiesem Zusammenhang hat auch der ungarische Außen-minister bereits die Bereitschaft seines Landes zur Zu-sammenarbeit erklärt.
Also lassen wir sie doch erst einmal überprüfen und rich-ten nicht schon vorher.Ich sage Ihnen: Es geht der deutschen Oppositionnicht um die Sache. Es geht Ihnen allein um eine öffent-lichkeitswirksame Ungarn-Schelte. Würde es Ihnennämlich um die Sache gehen, verehrte Kolleginnen undKollegen, dürften Sie nicht nur Ungarn zum Ziel IhrerAttacken machen. Würde es Ihnen um die Sache gehen,hätten wir heute eine Grundsatzdebatte darüber geführt,ob die Demokratie in einigen Ländern Europas mögli-cherweise gefährdet ist.
In diesem Zusammenhang hätte man einen skeptischenBlick nicht nur nach Ungarn, sondern auch in andereEU-Staaten werfen können.
Die Entwicklungen in Rumänien und Bulgarien stimmenmich mindestens genauso skeptisch wie die Entwicklun-gen in Ungarn.Es geht Ihnen aber nicht um die Sache. Ihnen passt esnicht, dass es keine linke, sondern eine konservative Re-gierung in Ungarn gibt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28441
Karl Holmeier
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, als Demo-krat begrüße ich ausdrücklich das Recht der parlamenta-rischen Opposition, eine Aktuelle Stunde zu einem ak-tuellen Thema zu beantragen. Bedauerlicherweise istdieses Recht vonseiten der SPD heute wieder einmal ineiner eklatanten Weise missbraucht worden.Vielen Dank.
Das Wort hat Michael Roth für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Hier im Deutschen Bundestag sitzen viele Freundinnenund Freunde Ungarns, insbesondere auch in meinerFraktion. Seit 1999 bin ich Berichterstatter für Ungarn.Ich reise mehrmals im Jahr in dieses Land. Ich weiß, wieviele meiner Kolleginnen und Kollegen auch, wie dra-matisch die Veränderungen in diesem Land sind, das im-mer schon geprägt war von starker gesellschaftlicher undpolitischer Polarisierung.
Aber, lieber Kollege Holmeier – bei allem Respektgegenüber meinem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier,den Sie vielleicht gemeint haben, und gegenüber unse-rem Kanzlerkandidaten Steinbrück –: Nicht einer vonden beiden hat die Ungarn dahin gebracht, wo sie derzeitstehen, sondern die ungarische Regierung hat Ungarn insAbseits manövriert, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Es geht hier überhaupt nicht um das deutsche Wesen.Es geht hier um die gemeinsame europäische Sache.
Ich bin immer davon ausgegangen, zumindest in derFrage: „Auf welchem gemeinsamen Wertefundament be-wegen wir uns in der Europäischen Union?“ sei partei-,fraktions- und gesellschaftsübergreifend ein Konsens zuerzielen. Aber offenkundig, sind Sie, Herr Holmeier,CDU/CSU, nicht mehr bereit und in der Lage, diesenKonsens mitzutragen. Das ist beschämend.
Hinter der Ungarn-Frage verbirgt sich ja eine nochviel entscheidendere Frage – in dem einen oder anderenRedebeitrag ist sie schon angeklungen –: Wie gehen wirmit der Infragestellung von Demokratie und Grundwer-ten in der Europäischen Union um? Ich will deutlichmachen, auch gegenüber dem Kollegen GuntherKrichbaum: Das Prinzip der Nichteinmischung in die in-neren Angelegenheiten von Nationalstaaten, ein Reliktdes 19. Jahrhunderts, hat in der Europäischen Union kei-nen Bestand mehr.
Im Gegenteil, es gibt die Pflicht zur Einmischung. Wirstehen in der gemeinsamen Verantwortung, dafür zusorgen, dass die Grund- und Freiheitsrechte niemals, inwelcher Weise auch immer, relativiert werden. Dabeimüssen wir staaten- und gesellschaftsübergreifend zu-sammenarbeiten. Wir müssen auch diejenigen bestärken,die in den betreffenden Staaten für Demokratie, für Frei-heit und für die Grundrechte eintreten. Das ist nun wirk-lich keine Frage von Opposition einerseits und Regie-rung andererseits. Insofern will ich durchaus respektvollsagen: Seit einigen Jahren engagiert sich der Menschen-rechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning,an dieser Stelle sehr. Ich kann sagen, dass auch der ehe-malige Staatsminister für Europa, Werner Hoyer, und dergegenwärtige Staatsminister für Europa, Michael Link,hierzu deutliche Worte gefunden haben, die wir uneinge-schränkt unterstützen.
Es gibt allerdings keine konsequente Strategie, wiewir mit der Infragestellung von Demokratie und Grund-werten in der Europäischen Union umgehen. Wir müs-sen auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass wir mitzweierlei Maß messen; das gebe ich selbstkritisch zu.
Wir haben im Falle Italiens möglicherweise zu lange ge-schwiegen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dasswir die kleinen Staaten strenger als die größeren Staatenbehandeln.
Oder – noch viel schlimmer –: Mit welcher Verve gehenwir eigentlich gegen Haushaltssünder vor? Da reden wirständig über Sanktionen. Aber wo thematisieren wir ei-gentlich Demokratiesünder?
Wo engagieren wir uns gegen Demokratiesünder? Dasist doch viel wichtiger und viel entscheidender.
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28442 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Michael Roth
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Leider muss man sagen, dass Viktor Orban überhauptnichts dazugelernt hat. Wenn man mit Vertretern der un-garischen Regierung spricht – ich tue das regelmäßig –,heißt es immer wieder, man habe da etwas nicht richtigverstanden. 450 Gesetze sind in den vergangenen zweiJahren mit Zweidrittelmehrheit durch das Parlament ge-peitscht worden; manche demokratische Selbstverständ-lichkeit ist da mittlerweile erodiert. Nun ist schon zumvierten Mal die Verfassung geändert worden. Immerwieder wurde gesagt, wir hätten da etwas missverstan-den. Wir haben sehr wohl verstanden, dass an das ge-meinsame europäische Wertefundament systematischdie Axt angelegt wird. Das muss man im DeutschenBundestag doch noch sagen dürfen, liebe Kolleginnenund Kollegen.
Parteipolitische Nibelungentreue ist hier völlig fehlam Platze. Wir machen die Entwicklungen schon seitmehreren Jahren zum Thema. Wenn die CDU/CSUschon vor zwei oder drei Jahren in die Allparteienkoali-tion eingestiegen wäre und sich mit uns gemeinsam dazuentschlossen hätte, gegenüber den politisch Verantwort-lichen in Ungarn deutliche Worte zu finden – ob nun vorder Tür oder hinter der Tür; vor allem die Bundeskanzle-rin ist da in der Pflicht –, wäre es in Ungarn vielleichtgar nicht so weit gekommen.Wenn Sie immer wieder auf uns zeigen, kann ich ganzselbstbewusst zum Ausdruck bringen: Nicht nur – davonsprach der Kollege Steinmeier – im Hinblick auf die Slo-wakei haben wir deutliche Worte gefunden, auch imFalle Rumäniens haben wir uns klar geäußert. Die So-zialdemokratische Partei Europas hat ja sogar ihren Par-teikongress von Bukarest nach Brüssel verlegt, um öf-fentlich ein Zeichen zu setzen. Kritik wirkt nur dann,wenn sie öffentlich geäußert wird. Das sollte doch zu-mindest in der Europäischen Union selbstverständlichsein.Zum Schluss möchte ich sagen: Es geht wirklich nichtnur um Ungarn, und es geht auch nicht nur um unsere ei-genen Werte. Es geht auch um die große Frage: Wie trittdie Europäische Union in einer globalisierten Welt ge-genüber denjenigen Staaten auf, die tagtäglich Demokra-tie und Freiheitsrechte mit Füßen treten? Können wirwirklich noch glaubhaft für diese Werte eintreten, wennwir Zweifel daran lassen, dass wir diese Werte auch in-nerhalb der Europäischen Union wirklich ernst nehmen?Ich meine hier nicht Sonntagsreden, sondern die tagtäg-liche politische und gesellschaftliche Arbeit. Deswegenist diese Diskussion dringend überfällig.
Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Ich glaube, wenn wir aus der Debatte, die wir hiererleben, die innenpolitischen Aspekte ausklammernwürden, würden wir eine ganz große Übereinstimmungin der Sache erreichen können.Wir stellen fest, dass die Verfassung in Ungarn geän-dert wird. Wir stellen fest, dass Dinge, die eigentlich ein-fachgesetzlich geregelt werden sollten, in Verfassungs-rang gehoben werden – ein typischer Trick von Parteien,ihre politischen Überzeugungen in Verfassungsrang zubringen. Wir stellen fest, dass etwa die Religionsfreiheit– das sage ich jetzt als engagierter Christ – in Ungarn imMoment sicherlich nicht so behandelt wird, wie wir unsdas wünschen. Wir stellen fest, dass das Verfassungsge-richt durch die Ausklammerung materieller Verfassungs-prüfungen in seinen Rechten beschränkt wird. All dassind Dinge, die wir durchaus mit Sorge sehen.Ich glaube aber, dass wir alle, die wir unterschiedli-chen Parteifamilien angehören, gut daran tun, diesePunkte in Freundschaft zu Ungarn und im Dialog aufAugenhöhe zu thematisieren und nicht mit innenpoliti-schem Schaum vor dem Mund.
Jede Partei – da sind wir doch Realpolitiker genug – hatdoch ihre eigenen Möglichkeiten, auf solche Entwick-lungen Einfluss zu nehmen. Es gibt doch keine Parteioder Fraktion hier im Deutschen Bundestag, die nichtschon artikuliert hätte, dass sie die Entwicklungen miteiner gewissen Sorge betrachtet. Nur, es gibt dafür ebengewisse Kanäle, zum Teil auf außenpolitischer Ebene:Michael Link, Werner Hoyer, aber auch GuidoWesterwelle wurden schon genannt; aber auch FrauMerkel hat sich zu dieser Frage ja durchaus geäußert.
Wir können, glaube ich, sicher sein, dass hinter ver-schlossenen Türen auch noch das eine oder andere deut-liche Wort mehr gesagt worden ist. Wir sollten einanderalso nicht vorwerfen, die einen würden die Entwicklun-gen in der Verfassungsfrage in Ungarn anders betrachtenals die anderen. Ich glaube, wir können uns, was dieseEntwicklungen angeht, auf einen Konsens aller Demo-kraten verlassen.Wie ist es, wenn man feststellt, dass ein Freund inTeilbereichen eine merkwürdige Entwicklung durch-läuft? Wir alle wissen: Man sagt sich nicht sofort vonseinem Freund los und distanziert sich auch nicht in allerÖffentlichkeit von ihm, sondern versucht, auf die Ent-wicklung Einfluss zu nehmen.
Das gelingt denjenigen, die ihm mit der eigenen Par-teienfamilie näher stehen, intern vielleicht besser, alswenn man sie von außen beschimpft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28443
Dr. Stefan Ruppert
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Wir haben es den Sozialdemokraten auch nicht vorge-worfen, als sie sich etwa im Fall Rumänien sehr schwer-taten, gegenüber Herrn Ponta oder seiner Frau, die ja imEuropäischen Parlament sitzt, auch nur ein einziges Wortder Distanzierung über die Lippen zu bringen.
Wir haben darauf gesetzt und – ich glaube, mit Berechti-gung – darauf gehofft, dass Sie beiden gegenüber imRahmen Ihrer Parteienfamilie intern das Notwendige sa-gen,
auch wenn Sie es in der Öffentlichkeit deutlich stärkerrelativiert haben als etwa bei den Entwicklungen in Un-garn. Deswegen verlassen wir uns auch darauf, dass Siebeispielsweise gegenüber Herrn Sarrazin oder auchHerrn Buschkowsky, wenn er mal wieder das Maß desÜblichen verlässt, intern ein paar notwendige Dinge sa-gen.
Ich glaube, diese demokratischen Gepflogenheiten wer-den von allen in diesem Haus vertretenen Parteien einge-halten.
Am Ende ist es mir ganz wichtig, den Ungarn nocheinmal zu sagen, dass wir an unserer Freundschaft mitihrem Land nicht rütteln. Wir sind Ungarn zu großemDank verpflichtet. Ungarn hat in vielen wichtigen Situa-tionen der deutschen Geschichte eine sehr wichtigeFunktion eingenommen. Insofern werden wir mit unse-ren ungarischen Freunden auf Augenhöhe, in Freund-schaft, aber auch in gewisser Sorge über manche Ent-wicklung sprechen müssen. Das hat auch schonbegonnen. Wir alle sollten unsere parteipolitischen oderauch unsere institutionellen Kanäle nutzen, um diese Ge-spräche zu intensivieren. Ich glaube, dann werden wiram ehesten etwas erreichen. Das ist wirksamer als öf-fentliche Schuldzuweisungen oder gar mit kleiner partei-politischer Münze aufzurechnen, dass Abgeordnete dereinen Fraktion hier weniger demokratisch gesinnt seienals die anderer Fraktionen.Ich denke, wir alle wollen die Verfassungsentwick-lung in Europa und die darauf aufbauende Wertegemein-schaft schützen. Wir müssen uns in diesem Zusammen-hang nicht gegenseitig Dinge vorwerfen, die einbisschen zu sehr der Innenpolitik geschuldet sind.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Kerstin Griese für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Ruppert, ich würde ja schon gerne aufsThema zurückkommen, nämlich auf die Verfassungsän-derungen in Ungarn. Bevor ich das tue, will ich hier aberausdrücklich sagen, dass Sie selber wissen müssten, dassSie danebengegriffen haben, als Sie Heinz Buschkowskyin einem Atemzug mit Viktor Orban genannt haben. Da-gegen verwahren wir uns; das geht nun wirklich nicht.
Wir reden über Verfassungsänderungen in Ungarn,die mit einer Zweidrittelmehrheit durchgepeitscht wur-den. Wir reden auch darüber, dass Verfassungsänderun-gen, die 2011 schon einmal kritisiert worden sind und zudenen es Kompromisse gab, nun wieder vorgenommenwerden sollen. Der Protest dagegen ist auch in Ungarnselbst sehr groß.Ich will zwei Beispiele für diese elementaren Verän-derungen nennen, die meines Erachtens übrigens nochnicht einmal in einfachgesetzliche Regelungen und erstrecht nicht in die Verfassung gehören:
In Ungarn ist demnächst die Obdachlosigkeit verbo-ten. Das wird in der Verfassung stehen. Man muss sicheinmal vorstellen, wie absurd das ist. Man kann sicher-lich auch vermuten, dass dahinter eine demagogischeMaßnahme gegen die Roma in Ungarn steht. Was dahin-ter auch für ein Verständnis von Sozialstaat steht, sollteuns besorgt machen. Und nicht nur das! Das sollte unsauch dazu bringen, dass wir darüber gegenüber einemPartnerland in der Europäischen Union, was Ungarn füruns ja ist, eben nicht schweigen.Ein anderes Beispiel für die, wie ich finde, nicht hin-nehmbaren Verfassungsänderungen in Ungarn ist die Si-tuation der Religionsfreiheit. Ich will hier ausdrücklichdie CDU/CSU-Fraktion ansprechen; denn Ihr Vorsitzen-der setzt sich ja immer besonders engagiert für die Reli-gionsfreiheit und für die Rechte verfolgter Christen ein.Hier geht es eben auch darum, einmal nach Ungarn zuschauen. Die Fidesz-Partei hat dort ein Kirchengesetzdurchgesetzt, das die Trennung von Staat und Kircheund die Religionsfreiheit verletzt. Das hat schon zu vielKritik geführt. Die Trennung von Staat und Kirche ge-hört eben auch zu den Grundprinzipien der Rechtsstaat-lichkeit und der Menschenrechte in Europa. In Ungarnmüssen Glaubensgemeinschaften, die als Kirche aner-kannt werden wollen, dies nun im Parlament beantragen.Der Geheimdienst muss dazu per Votum seine Erlaubniserteilen, und das Parlament muss das mit Zweidrittel-
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28444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Kerstin Griese
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mehrheit beschließen. Ich glaube, auch das zeigt, wie ab-surd das ist.Ich will Ihre Aufmerksamkeit auf zwei ganz aktuelleUrteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-rechte lenken:Das erste stammt vom Februar 2013. Der EuropäischeGerichtshof für Menschenrechte hat da entschieden, dassUngarn gegen die Europäische Menschenrechtskonven-tion verstoßen, einen Vater wegen seiner religiösenÜberzeugung diskriminiert und sein Recht auf Familien-leben verletzt hat. Man hat es diesem Vater nämlich auf-grund seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen Minder-heit verwehrt, mit seinem Sohn in Kontakt zu treten. Eswar die Rede von – Zitat – „irrationaler Weltsicht“. DerEuropäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aus-drücklich gesagt, dass das so nicht geht und dass der Va-ter aufgrund seiner religiösen Überzeugung diskriminiertworden ist. Dieses Vorgehen sollten wir uns sehr genauanschauen, denn es zeigt, dass es um die Menschen-rechte in Ungarn wirklich schwierig bestellt ist.Die Verfassungsänderungen der Regierung Orban,mit denen auch die Rechte vieler Religionsgemeinschaf-ten beschränkt worden sind, sind eben ein Zeichen einesPolitik- und zunehmend auch Justizsystems, das dieRechte der Menschen mehr und mehr missachtet. Ichhabe die große Sorge, dass das ein weiterer Schritt hin zueiner ideologischen Grundüberzeugung ist, die die uni-verselle Rolle und den universellen Wert der Menschen-rechte – diese sind ja Gegenstand der europäischen Wer-tegemeinschaft – missachtet.Ich will ein zweites aktuelles Urteil ansprechen, dasdie Missachtung der Menschenrechte belegt. Es gehtwieder einmal – ein aktuelles Thema – um die Situationder Roma-Minderheit in Ungarn. Der Europäische Ge-richtshof für Menschenrechte hat Ungarn beklagt undverurteilt, weil ungarische Behörden zwei junge Ange-hörige der Roma-Minderheit in Schulen für geistig be-hinderte Menschen gesteckt haben. Es fand ein Schulteststatt, der ganz besonders darauf ausgerichtet war, Roma-Kinder auszusondern. Entgegen der Einschätzung derungarischen Behörden haben unabhängige Expertenfestgestellt, dass diese beiden Jungen keine geistige Be-hinderung haben. Die Schuleinstufung war also falsch.Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hatausdrücklich gesagt, dass das eine Diskriminierung vonRoma war.Es bereitet uns große Sorgen, dass die Diskriminie-rung der Roma in Ungarn System hat und dass der Staatnichts dagegen unternimmt. Das ist das große Problem.So lesen wir beispielsweise immer wieder von Aufmär-schen der rechtsextremen Jobbik-Partei. Daher wün-schen wir uns, dass die ungarische Regierung gegendiese und auch gegen die schlechten und elenden Le-bensverhältnisse der Roma etwas unternimmt.Ich möchte ausdrücklich etwas dazu sagen – denn dasgehört auch zu dieser Debatte –, wie die Bundesregie-rung hier mit Menschen umgeht, die in einer elenden Si-tuation leben und unter Diskriminierung und Gewalt lei-den. Das, was der Bundesinnenminister, der heute nichtanwesend ist, macht, ist Populismus gegen Menschen,die vor bitterer Armut und schlimmer Diskriminierungflüchten. So kann man damit nicht umgehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns da-rin einig sein, dass Diskriminierung von Menschenwegen ihrer religiösen Überzeugung oder wegen ihrerZugehörigkeit zu einer Minderheit mit den Menschen-rechten unvereinbar ist. Dabei geht es – viele haben esschon gesagt; ich will es noch einmal betonen – nicht umAusland und Inland, Herr Kollege Holmeier. Dabei gehtes insbesondere vor dem Hintergrund der Lehren aus derGeschichte darum, dass Europa mehr ist als ein Binnen-markt. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Gerade ausunserer Geschichte und aus den Fehlern des 20. Jahrhun-derts haben wir doch gelernt – das ist unser historischesBewusstsein –, dass die Achtung der Menschenrechteein universeller Wert ist und dass wir uns überall, dasheißt in allen Ländern, für die Achtung der Menschen-rechte einsetzen müssen. Das müssen wir hier im Deut-schen Bundestag immer wieder deutlich sagen.
Deshalb noch einmal ein Appell an die Bundeskanz-lerin, die schon auf dem Weg zum Europäischen Rat ist– dabei unterstütze ich ausdrücklich, was der KollegeSteinmeier gesagt hat –: Wir erwarten vom EuropäischenRat hierzu deutliche Worte. Unser Appell an die Bundes-kanzlerin und ihre Fraktion lautet: Bleiben Sie nicht un-tätig. Sprechen Sie mit Ihrer Schwesterpartei. – Wir tundies in unserer Parteienfamilie übrigens sehr intensiv.Ich kann Ihnen ein paar Beispiele aufzählen, wo wir unskräftig mit unseren Parteischwestern und -brüdern aus-einandersetzen, wenn es problematische Entwicklungengibt.
Frau Kollegin, Sie müssen trotzdem zum Schluss
kommen.
Mein letzter Satz. – Deshalb geht es darum, dass
Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte, der Schutz von
Minderheiten, die Rechte der Opposition, die Unabhän-
gigkeit der Gerichte, die Gewaltenteilung und die Pres-
sefreiheit zu Europa dazugehören und dass es Europa
nicht ohne die Grund- und Menschenrechte gibt.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Johann Wadephul für die CDU/CSU-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Dem letzten Satz der Kollegin Griese kann sich,glaube ich, jeder anschließen. Dass das grundlegendeWerte hier in Europa sind und dass wir darüber in einereuropäischen Öffentlichkeit diskutieren, stimmt. Dassdies auch die Bundesregierung freundschaftlich und ineinem Ton tut, Herr Außenminister a. D. Steinmeier, derangemessen ist, kann wohl kaum bestritten werden.Man stelle sich einmal vor, der Bundesaußenministerhätte sich so, wie sein Amtsvorgänger das heute hier ge-tan hat, öffentlich zu der gesamten Thematik geäußert.Was wäre dann wohl los gewesen? Sie haben hier heutevon dumpfem, völkischem Nationalismus gesprochen,
von einem Weg in vordemokratischen Nationalismus.Meinen Sie, dass das die angemessene Sprache ist? Siehaben diese schließlich verlangt.
– Spätestens wenn Herr Liebich hier Beifall klatscht,sollten die Sozialdemokraten etwas vorsichtig werdenund darüber nachdenken, ob sie noch auf dem richtigenWege sind.
Ich muss ganz ehrlich sagen: Meinen Sie, dass das ineinem gemeinsamen Europa die richtige Tonalität ge-genüber einem ungarischen Volk ist, dem wir Deutschewahnsinnig viel zu verdanken haben? Die Ungarn warenmutig und haben den Eisernen Vorhang niedergerissen.
Deswegen hätten Sie, Herr Steinmeier, nach Ihrenersten Sätzen aufhören sollen. Deswegen sollten wirwirklich nicht die Ersten sein, die oberlehrerhaft durchEuropa gehen
und alles besser wissen und den Ungarn Demokratie undFreiheit beibringen wollen. Nein, dafür sind wir die Fal-schen.
Ich bedaure auch, dass diese Debatte hier stattfindetund keiner derjenigen, die sie initiiert haben, anwesendist.Herr Sarrazin, wenn sich die gesamte Opposition undinsbesondere Herr Steinmeier so eingelassen hätten wieSie, dann wäre es in Ordnung gewesen.
Dann hätten wir dem wahrscheinlich auch zustimmenkönnen.
Denn Sie haben Fragen gestellt, aber keine Vorverurtei-lung betrieben. Das ist die Problematik, in der wir unsbefinden.
Ich hätte es für angemessen befunden, dass diejeni-gen, die eine solche Debatte hier initiieren, einmal zurKenntnis nehmen, dass das ungarische Parlament in die-ser Woche, übrigens einstimmig und aufgrund der Initia-tive der Fidesz-Fraktion, die Einführung eines Gedenk-tages für die deutschen Vertriebenen beschlossen undbegangen hat. Herr Präsident Lammert ist dabei gewe-sen. Ich finde, wenn wir heute über Ungarn reden, dannmüssen wir im Sinne der Völkerverständigung in Europaerfreut und dankbar zur Kenntnis nehmen, dass Ungarnals Erstes dieser Länder einen Schritt auf uns zugegan-gen ist. Ich glaube, dass dies eine wichtige Grundlageist, die wir zur Kenntnis nehmen und auch würdigensollten.
Im Übrigen ist es – Kollege Ruppert hat darauf hinge-wiesen – doch völlig unstreitig, dass in dieser SituationFragen zu stellen sind. Es ist auch in keiner Weise zu kri-tisieren, dass man darüber redet: Wie wird dort mit demVerfassungsgericht umgegangen? Was wird in der Ver-fassung mithilfe einer Zweidrittelmehrheit, die den Re-gierenden zur Verfügung steht, verankert? Angesichts ei-ner solchen Mehrheit setzen sich die Regierenden – dasist schon zu Recht vom Kollegen Spatz gesagt worden –immer dem Verdacht aus, eine Sache gesetzlich zu per-petuieren, also auch für die Zeit zu regeln, in der manselber keine Zweidrittelmehrheit oder keine einfacheMehrheit mehr hat.Natürlich muss man an dieser Stelle Fragen stellen.
– Herr Liebich, da Sie gerade sagen, dass Sie seit dreiJahren Fragen stellen, will ich Sie nur einmal darauf hin-weisen, dass wir in der Tat hier im Hause eine Debatteüber die Mediengesetzgebung in Ungarn geführt haben.Ich will Sie einmal fragen, ob Sie wissen, dass mittler-weile der Generalsekretär des Europarates Jagland unddie Venedig-Kommission, die mehrfach erwähnt wordensind, festgestellt haben, dass Ungarn sämtliche Beden-ken ausgeräumt hat und dass der Europarat mit der jetzi-gen Mediengesetzgebung in Ungarn einverstanden ist.Das haben Sie hier nicht erwähnt. Sie sind ganz schnellim Voranklagen; damit sind Sie hier im Parlament die
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Dr. Johann Wadephul
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Schnellsten. Aber sich die Sache in aller Ruhe anzuse-hen, berechtigte Fragen zu stellen und dann die europäi-schen Institutionen ihres Amtes walten zu lassen, das istder richtige Weg.
Wir von der Union sind, wie Sie wissen, für eine Stär-kung der Europäischen Union und deren Institutionen.Wir sind für eine funktionierende Gerichtsbarkeit undfür die Überwachung der Einhaltung grundlegender eu-ropäischer Prinzipien in den einzelnen Mitgliedstaaten.Gegebenenfalls müssen nach Fehlverhalten Konsequen-zen gezogen werden. Das ist vollkommen klar, das istauch unstreitig. Ein entsprechendes Instrumentariumgibt es bereits. Man kann von diesem Ort hier die Kom-mission nur auffordern, dieses Instrumentarium konse-quent anzuwenden. Daran gibt es nichts zu kritisieren.Wir sind der Meinung, dass das richtig und erforderlichist.Wir sind aber nicht der Auffassung, dass einzelne na-tionale Parlamente, sei es das deutsche Parlament oderandere Parlamente, die Richter darüber sein sollten, obandere Parlamente ihre Kompetenzen überschreiten oderetwas richtig oder falsch machen. Wo kommen wir hin,wenn wir im Deutschen Bundestag anfangen, zu ent-scheiden, ob ein anderes europäisches Land eine Sachezu Recht und richtig, wie immer man das beurteilen will,gesetzlich oder verfassungsrechtlich fixiert hat?
Das ist nicht unsere Funktion. Ich sage in aller Offen-heit: Das ist die Aufgabe des Europarates und der euro-päischen Institutionen in Brüssel und in Luxemburg.Diese Institutionen sollten wir stärken. Dahin gehörtdiese Angelegenheit.Vielen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-
serer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialde-
mokraten unser Kollege Christoph Strässer. Bitte schön,
Kollege Christoph Strässer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch ich war bislang immer von einem breiten Konsensin dieser Frage ausgegangen. Aber nach zwei Redebei-trägen aus der CDU/CSU-Fraktion zweifle ich daran,dass wir eine gemeinsame Position haben, was die Wer-tegemeinschaft Europas angeht und wie wir hier imDeutschen Bundestag damit umzugehen haben.Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen, Herr KollegeWadephul: Wir arbeiten im Europarat sehr gut zusam-men. Ich hatte auch immer den Eindruck, dass es ein Eu-ropa mit einer gemeinsamen Wertebasis gibt und dasszur Freundschaft, die hier immer wieder angesprochenworden ist, aus meiner Sicht unbedingt dazugehört,Freunde vor Fehlern zu warnen. Ich glaube, das tun wirheute. Ich finde, es steht uns gerade als Mitgliedsländernder EU und des Europarates – dazu werde ich gleichnoch etwas sagen – an, uns in dieser Aktuellen Stundedazu zu positionieren. Wozu soll ich Fragen stellen? Ichkann lesen.Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen undKollegen, das ungarische Parlament hat beschlossen,und es wirft der Venedig-Kommission vor, sie hätte sichnicht äußern sollen, bevor ein Beschluss kommt. Die Ve-nedig-Kommission hat aber gar keine Gelegenheit dazugehabt – der Kollege Sarrazin hat es bereits gesagt –,sich dazu zu äußern, weil die Einbringung und die Ver-abschiedung in einem zeitlichen Abstand erfolgt sind,bei dem eine solche Beteiligung nicht möglich war. Dassollten wir zur Kenntnis nehmen. Ich sage: Das ist eineStrategie. Ich bin definitiv der Meinung, diese Strategiemüssen wir ansprechen, und darüber müssen wir auch ineinem nationalen Parlament reden, auf einer gemeinsa-men Wertebasis und ohne erhobenen Zeigefinger.
Jetzt komme ich zu einer Veranstaltung, die heuteauch in diesem Hause stattfindet. Ich kann Sie nur bitten– auch Sie, Herr Wadephul –, mit den Beteiligten Kon-takt aufzunehmen. Im dritten Stock tagt heute im Frak-tionssaal der SPD der Sozialausschuss der Parlamentari-schen Versammlung des Europarates. Man sollte es nichtglauben: Dort sind auch Kollegen aus Ungarn, und sogarwelche von der Opposition.Ich habe heute Morgen als Vertreter von HerrnHörster, der leider erkrankt ist, diese Veranstaltung eröff-nen dürfen. Dort hat mich ein Kollege angesprochen undgesagt: Helft uns! – Ein Parlamentarier aus Ungarn sitztim Deutschen Bundestag und sagt: Helft uns! – Auf dieFrage „Wie sollen wir euch helfen? Was sollen wir tun?“hat er gesagt: Was in Ungarn geschehen ist, ist nach Auf-fassung der ungarischen Opposition und im Übrigenauch internationaler Beobachter – so hat er es auf denPunkt gebracht – ein Putsch von oben. Das ist das Endeder Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Das ist die Perpetuie-rung eines Zustandes, der mit den demokratischen Rech-ten und auch mit der ungarischen Verfassung vor derVerfassungsänderung durch Orban nichts mehr zu tunhat.
Herr Orban sagt: Demokratie hat erst angefangen,seitdem ich an der Macht bin. – Das ist doch genau derPunkt auch bei den Änderungen im Hinblick auf dasVerfassungsgericht, nämlich dass sich das Verfassungs-gericht nicht mehr auf seine eigene Rechtsprechung vorder letzten Verfassungsänderung berufen darf, Herr Kol-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28447
Christoph Strässer
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lege Silberhorn. Wissen Sie, wo wir als Parlamentarierstehen würden, wenn wir das im Deutschen Bundestagmachen würden? Auf der allerersten Stufe der Empö-rung, und zwar zu Recht. Das ist das Zulaufen auf einenZustand, der das Ende der Unabhängigkeit der Justiz be-deutet.
Das muss man einfach sagen, und deswegen finde ich esrichtig, hier darüber zu reden.Ich bin nicht der Einzige, der Kritik übt. Deshalb binich – das muss ich gestehen – etwas enttäuscht von denEinlassungen, die vorhin von der FDP gekommen sind.Ich habe gerade eine Benachrichtigung erhalten – ichhoffe, sie stimmt –, dass die liberale Fraktion im Europa-parlament die Kommission aufgefordert hat, Maßnah-men nach Art. 7 EUV einzuleiten. Das tun Sie nicht. Siesagen: Wir müssen uns hier schön bedeckt halten; das istein nationales Parlament. – Ich finde, wenn Ihre Kolle-gen im Europaparlament – Herr Verhofstadt und andere,im Übrigen auch Graf Lambsdorff – sagen, das sei einAnschlag auf die europäischen Werte, dann ist es dochwohl angemessen und richtig, dass wir uns nicht zurück-ziehen und sagen: Das geht uns nichts an; wir diskutie-ren darüber nicht;
wir nehmen nur zur Kenntnis, dass nach unserer Auf-fassung in einem Land der Europäischen Union und desEuroparates die grundlegenden Prinzipien der Trennungvon Legislative und Judikative missachtet werden. – Dassollten wir nicht tun, und deshalb bin ich sehr froh, dasswir heute diese Diskussion führen.Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, um auch dieeigene Geschichte ins Spiel zu bringen. Die Bundesrepu-blik Deutschland ist 1951 Mitglied des Europarates ge-worden. Wir sind dort Mitglied geworden, weil wir wiealle Mitgliedsländer, die diesem ältesten demokratischenStaatenbündnis auf europäischem Boden beigetretensind, eine Garantieerklärung abgegeben haben, nämlichzur Einhaltung der Standards der Europäischen Men-schenrechtskonvention.Sowohl Generalsekretär Jagland, der sich mit HerrnBarroso gemeinsam geäußert hat, als auch andere habensehr klar und deutlich gesagt: Das, was dort geschieht,ist eine Verletzung der Standards des Europarates. –Deshalb haben wir als Parlamentarierinnen und Parla-mentarier nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, da-rauf hinzuweisen und unsere ungarischen Freunde imungarischen Parlament, die diesen Weg nicht mitgehenwollen, zu unterstützen, indem wir sagen: Wir stehen ander Seite derjenigen, die gegen diese Maßnahmen vorge-hen. – Das, finde ich, ist unser gutes Recht.Danke schön.
Vielen Dank, Kollege Christoph Strässer. – Nächster
Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Thomas Dörflinger. Bitte
schön, Kollege Thomas Dörflinger.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ungarn macht es seinen Freunden in diesen Tagen allesandere als leicht. Ich will aus meinem Herzen keineMördergrube machen. Wenn die größte Regierungsfrak-tion in Berlin und die Fidesz in Budapest einer gemein-samen Parteienfamilie angehören, dann gilt das umsomehr.Selbstverständlich gab es, Herr Kollege Steinmeier,nach den ersten vier Sätzen Ihrer Rede – zu Recht – Bei-fall auch aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; dennbis dahin haben Sie das Verhältnis zu Ungarn in denrichtigen historischen Kontext eingeordnet. Aber ichkann nur das wiederholen, was der KollegeDr. Wadephul vorgetragen hat: Ich hätte mir gewünscht,dass Sie entweder die Tonalität Ihrer ersten vier Sätzebeibehalten oder nach den ersten vier Sätzen geendethätten. Danach gab es aus unseren Reihen zu Recht kei-nen Beifall mehr.
Warum? Wir können uns mit Fug und Recht kritischdarüber auseinandersetzen, was mit Bezug auf die unga-rische Verfassung gegenwärtig beraten und bereits be-schlossen worden ist.
Aber zum europäischen Wertekanon gehört nicht nur,dass wir uns den Menschenrechten, der Pressefreiheitund einigen anderen Grundwerten gemeinsam verpflich-tet wissen, sondern auch, dass wir vernünftig miteinan-der umgehen.
Die Tonalität zumindest einiger Reden in der heutigenAktuellen Stunde ist dem nicht gerecht geworden.
– Herr Kollege Sarrazin, ich nehme Sie ausdrücklichaus. Aber ich hätte mir den einen oder anderen Beitrag ineiner anderen Tonalität gewünscht.Der Vorwurf an die Bundesregierung, sie sehe dem,was in Ungarn passiert, tatenlos zu und sei in ihren Äu-ßerungen nicht klar genug, weise ich ausdrücklich zu-rück. Es dürfte auch dem Bundesaußenminister außerDiensten nicht verborgen geblieben sein, dass selbstver-
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Thomas Dörflinger
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ständlich nach Spitzengesprächen – ob sie nun auf derAußenministerebene, auf der Ebene der Regierungschefsoder zwischen Regierungschefs und Staatsoberhauptstattgefunden haben – das anschließende Pressegesprächnicht aus einem Wortprotokoll dessen besteht, was manmiteinander besprochen hat. Aber ich glaube, dass mandavon ausgehen darf, dass sowohl der Bundespräsidentals auch der Präsident des Deutschen Bundestages, derim Übrigen am 11. März in Budapest wörtlich zitiertwurde, sowie die Frau Bundeskanzlerin und der Bundes-außenminister in den Gesprächen der letzten Tage für dieBundesregierung in ausreichender Weise deutlich ge-macht haben, wo wir kritische Punkte und Gesprächsbe-darf sehen.
Aber zur Wahrheit gehört auch, dass nach Auskunftdes Auswärtigen Amtes zumindest bis zum heutigenVormittag der Text in deutscher Sprache noch nicht vor-liegt, daher die Prüfung noch nicht abgeschlossen ist undwir erst dann in eine substanzielle Prüfung der rechtli-chen Materie eintreten können, wenn alles auf dem Tischliegt. Sie hätten also nicht voreilig aus innenpolitischenGründen eine Aktuelle Stunde vom Zaun brechen dür-fen.
Der Kollege Ruppert hat zu Recht darauf hingewie-sen, dass wir uns in vielen Bereichen, insbesondere beider Bewertung der bereits vollzogenen Verfassungsände-rungen und der angestrebten Verfassungsänderungen inUngarn, weitgehend einig sind. Wenn Äußerungen wiedie, dass man mit berittenen Truppen in die Nachbarlän-der einrücken will, und wenn die Tatsache, dass man Ös-terreich, ebenfalls ein Nachbarstaat von Deutschland,nur deswegen international auf die Anklagebank und anden Katzentisch gesetzt hat, weil man sich dort erdreistethatte, eine Regierung zu wählen, die der damaligen Bun-desregierung nicht in den Kram passte,
den Hintergrund dieser Aktuellen Stunde bilden, dannsage ich Ihnen: In diesem Punkt sind Sie alles andere alsglaubwürdig. Das müssen Sie sich sagen lassen.
Kollege Thomas Dörflinger war der letzte Redner in
unserer Aktuellen Stunde, die damit beendet ist.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 5 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Dritten Gesetzes zur Änderung des Con-
terganstiftungsgesetzes
– Drucksache 17/12678 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Sie sind damit
einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.
Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der CDU/CSU unsere Kollegin Dorothee Bär. Bitte
schön, Frau Kollegin Dorothee Bär.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Und ganzbesonders: Liebe Betroffene! Wenn wir das Wort „Con-tergan“ hören, dann ruft das bei uns in Deutschland ganzklare Assoziationen hervor – natürlich nicht nur inDeutschland, aber ganz besonders bei uns –, Erinnerun-gen an einen der größten Arzneimittelskandale, den wirin unserer Geschichte zu verzeichnen haben, wenn nichtsogar der größte Skandal.Wir sprechen heute über Männer und Frauen, die ihrganzes Leben lang mit den Folgen leben müssen, dassihren Müttern in der Schwangerschaft vorgegaukeltwurde, dass sie ein harmloses Präparat zu sich nehmen;sie haben nach der Entbindung dann aber anderes erlebt.Ich bin das erste Mal als Grundschülerin mit einemBetroffenen aus unserem Bekanntenkreis in Berührunggekommen. Wie man als Kind so ist, kann man im erstenMoment nicht begreifen, dass da jemand ist, der kürzereArme hat als andere Menschen. Neben persönlichen Er-lebnissen habe ich in den letzten Jahren durch die Dar-stellung unserer Sachverständigen, durch viele Studien,durch Briefe und E-Mails, aber auch im Kontakt mit sehrvielen Betroffenen, die wir hier haben anhören dürfenund mit denen wir uns haben treffen dürfen, erfahren,wie schwer der Alltag dieser Menschen ist, aber auchwie der Alltag gemeistert wird. Ich habe gesehen, wiejede Einzelne bzw. jeder Einzelne das Schicksal indivi-duell auf ganz besondere Art und Weise meistert. DasÄußere, die verkürzten Gliedmaßen eben, können wirsehen, aber es gibt auch noch – das wissen wir – einesehr große Schädigung der Organe.Aus der Familie, aus dem eigenen Freundeskreis be-kommen die Betroffenen Mut, Zuversicht, Liebe undFreundschaft. Vergleichbares können wir als Staat nichtleisten. Ich bewundere diejenigen, die betroffen sind,wie sie ihren Alltag mit einem ganz großen Lebensmutmeistern. Ich habe eine Betroffene kennengelernt, diemit ihrem Mund wesentlich besser malt, als die meistenvon uns mit ihren Händen malen würden, und die eineganz große Freude ausstrahlt. Sie sagt, dass es ihr in ih-rem persönlichen Alltag gelingt, ein für sie ganz norma-les Leben, auch ein sehr glückliches Leben zu führen.Das Leid und die Schmerzen können wir als Staatnicht ungeschehen machen, aber wir können immerhin
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Dorothee Bär
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versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten dahin ge-hend zu helfen, dass der Alltag leichter wird und dassdiejenigen, die unterstützend tätig werden, besser entlas-tet werden.Deswegen haben wir schon eine Reihe von Maßnah-men beschlossen und umgesetzt, und wir wollen nochmehr tun. Wir haben die Conterganrenten zum 1. Juli2008 verdoppelt. Wir haben die Conterganrenten gegen-über anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches an-rechnungsfrei gestellt. Wir haben Parkerleichterungeneingeführt. Wir haben bei den Krankenkassen eine Ver-besserung der gesundheitlichen Versorgung der Betrof-fenen erreicht. Wir haben das Conterganstiftungsgesetznovelliert, sodass mit der Zustiftung und dem vorhande-nen Stiftungskapital eine jährliche Sonderzahlung inHöhe von bis zu 4 200 Euro ausgereicht werden kann,mit der Bedarfe gedeckt werden, für die sonst keiner auf-kommt.Wir hatten beim Gerontologischen Institut der Uni-versität Heidelberg eine sehr interessante Studie in Auf-trag gegeben. Sie zeigt die Folgen der jahrzehntelangenBelastung durch die Behinderungen, die vorher gar nichtso klar waren. Die Folgen für die Muskeln, die Gelenkeund vor allem natürlich für die Zähne führen gerade mitzunehmendem Lebensalter zu weiteren Problemen fürdie Betroffenen.Deswegen haben wir über die bereits verabschiedetenMaßnahmen hinaus einen dringenden Handlungsbedarffestgestellt, auf den wir mit der Vorlage des Gesetzent-wurfs reagiert haben, den wir heute debattieren. Über diebereits bestehenden Hilfen hinaus werden wir die conter-gangeschädigten Menschen rückwirkend ab dem 1. Ja-nuar 2013 jährlich mit 120 Millionen Euro zusätzlichunterstützen. 90 Millionen Euro davon sind für die Erhö-hung der Conterganrenten vorgesehen. Wir können – dasfinde ich ganz besonders wichtig – mit diesem zusätzli-chen Geld einen Großteil der Zusatzbedarfe pauschal de-cken, ohne dass es zu aufwendigen Einzelfallprüfungenkommen muss, die zudem eine psychische Belastung mitsich bringen.Weiter fließen bis zu 30 Millionen Euro jährlich in ei-nen Fonds, aus dem auf Antrag Rehabilitationsleistun-gen, Heil- und Hilfsmittel sowie zahnärztliche und kie-ferchirurgische Behandlungen bezahlt werden. Man darfdie zusätzlichen Belastungen, denen Mund, Kiefer undGebiss ausgesetzt sind, nicht unterschätzen; denn esmuss viel mit dem Mund gemacht werden, wenn dieGliedmaßen nicht eingesetzt werden können.Um eine höhere Einzelfallgerechtigkeit gewährleistenzu können, wollen wir – auch und gerade auf Wunschder Betroffenen, mit denen wir gesprochen haben – dasPunktesystem für die Ermittlung des Schweregrades derBehinderung anpassen und um weitere Schadensstufenergänzen. Deswegen freue ich mich sehr, dass wir überdas gemeinsam für die contergangeschädigten Menschenschon Erreichte hinaus in dieser Legislaturperiode nochmehr tun können und dies auch in den nächsten Wochenbeschließen wollen.Abschließend bleibt mir nur noch, mich bei denjeni-gen zu bedanken, die uns nicht nur in den vergangenenWochen und Monaten, sondern auch in den vergangenenJahren mit ihren ganz persönlichen Geschichten einenEinblick in ihren Alltag gewährt haben. Ein ganz großesDankeschön gilt selbstverständlich auch den Familien-angehörigen. Dies sind Mütter und Väter – und das darfman nicht unterschätzen –, die sich ihr ganzes Lebenlang um ihre Kinder gekümmert haben und die heuteteilweise weit über 80 Jahre alt sind. Für diese wird esimmer schwieriger, Hilfestellung zu leisten. Deswegenist es gut und richtig, dass wir wenigstens versuchen, mitGeld dieses Leid etwas zu lindern.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dorothee Bär. – Nächste
Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist un-
sere Kollegin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kol-
legin Marlene Rupprecht.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! ImJanuar 2009 haben wir einen Antrag beschlossen. Beidiesem Thema waren wir uns in diesem Haus fraktions-übergreifend einig, dass wir versuchen wollen, eine ein-heitliche Position zu erreichen; denn dieses Thema eig-net sich nicht zur parteipolitischen Profilierung.Damals haben uns die Betroffenen eher dafür kriti-siert, als dass sie es begrüßt haben, dass wir in diesenAntrag ein Forschungsprojekt hineingeschrieben haben,mit dem nicht nur der individuelle Bedarf jedes Einzel-nen festgestellt wird, sondern das insgesamt einen Aus-blick darüber gibt, welche Hilfen ab einem Alter vonetwa 50 Jahren notwendig sind, wenn man contergange-schädigt ist. Der Zwischenbericht über dieses For-schungsprojekt liegt seit dem Sommer vergangenen Jah-res vor. Im Januar 2013 wurde dieser dem Parlamentzugeleitet.Obwohl wir damit gerechnet haben, dass es nicht gutaussieht für Menschen mit Conterganschäden, war dasErgebnis noch viel schlimmer, als wir es gedacht hatten.Im Bericht steht, dass der Körper eines 50-jährigen Con-tergangeschädigten so abgenutzt ist wie der Körper eines80-Jährigen. Die Bedarfe sind also groß. Viele der Be-troffenen – diesen Punkt möchte ich hier nennen – kön-nen heute nur mit Schmerzmitteln leben, weil sie durchAbnutzungen massive Schädigungen ihres Körpers erlit-ten haben.Ich möchte noch etwas dazu sagen, warum wir da-mals darauf gedrängt haben, dass dieses Projekt in An-griff genommen wird. Wir sehen immer nur die Fitten,die sich äußern und sich klar artikulieren können. Wirsehen aber nicht die mehrfach Geschädigten, die eigent-lich ihr ganzes Leben lang auf massive Hilfe angewiesen
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28450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Marlene Rupprecht
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sind, deren Eltern, die sie überwiegend versorgt und be-treut haben, altersbedingt sterben und deren Geschwister– manchmal gibt es gar keine Geschwister – häufig da-mit überfordert sind, die Betreuung zu übernehmen.Deshalb muss der Bundestag handeln, und er musstatkräftig handeln. Die SPD-Fraktion begrüßt eindeutig,dass die Renten im Rahmen der Reform des Contergan-stiftungsgesetzes massiv angehoben werden. Wir habendie Rente im Zuge der letzten Reform um 100 Prozentangehoben, von 545 Euro auf gut 1 100 Euro im Monat.Jetzt liegt die Maximalrente bei gut 6 900 Euro. Manmuss sagen: Diesen Höchstsatz erhalten nicht alle. Aberhier gibt es eine enorme Steigerung, die man nicht ein-fach vom Tisch wischen sollte. Sie schafft Unabhängig-keit: Man kann Leistungen einkaufen. Das ist einer derGründe, warum wir von der SPD-Fraktion sagen: Wirwerden diesen Gesetzentwurf mittragen.Man vergisst immer, wofür wir bei der letzten Reformauch gesorgt haben: Transferleistungen werden nichtmehr auf andere Zahlungen angerechnet. Das heißt,wenn ein Betroffener von anderer Stelle Geld bezieht,wird dieser Betrag nicht abgezogen. Auch diese Rege-lung ist wichtig und besteht fort. Ebenso bestehen diejährlichen Sonderzahlungen, die wir damals eingeführthaben, fort. Die Verteilung der Renten – die Frage, werwas bekommt – richtet sich nach einem Punktesystem,so ähnlich wie bei der Sonderzahlung, die jährlich er-folgt. Auch das ist eine Veränderung, die ich begrüße.Weltweit gibt es noch etwa 2 700 Betroffene. 10 Pro-zent davon leben im Ausland. Das heißt, in Deutschlandleben etwa 2 400 Betroffene. Sie sind – das kann mansich vorstellen – nicht gleichmäßig über die Republikverteilt, weil Contergan damals in der DDR, in den heu-tigen neuen Bundesländern, nur von denen eingenom-men werden konnte, die es aus dem Westen zugeschicktbekamen; deswegen gibt es dort nur vereinzelt Fälle. Derüberwiegende Teil der Betroffenen wohnt in West-deutschland; das muss man sich klarmachen.Es gibt andere Probleme, die mit dem Gesetzentwurfnicht gelöst werden; wir hatten sie aber schon damals inunserem Antrag angesprochen. Auf der einen Seite sinddie Ärzte, die bisher die Contergangeschädigten beglei-tet haben, ins Alter gekommen. Auf der anderen Seitehat sich das medizinische Wissen verbreitet. Damit diesso bleibt, brauchen wir nach wie vor Anlaufstellen undInformationszentren. Das stand in unserem Antrag; aberdiese Forderung ist bisher noch nicht erfüllt worden.Es ist schon etwas zum großen Thema Sonderbedarfegesagt worden. Auch da stimmen wir im Prinzip zu: DieSonderbedarfe müssen abgedeckt werden – Frau Bär hatdeutlich gemacht, in welchen Bereichen.Jetzt komme ich zu einem Punkt, der mir noch nichtgefällt; ich hoffe, dass wir so weit kommen, zusammenmit der Koalition Änderungen durchzuführen. SchauenSie sich die Erläuterungen im Gesetz an! Wir wollten,dass es einfach, unbürokratisch, zügig und praktikabelgehandhabt wird. Stellen Sie sich vor, dass ein vierfachGeschädigter eine neue Hüfte oder was auch immerbraucht. Er muss dann zum Arzt gehen und sich bestäti-gen lassen, dass diese Maßnahme notwendig ist und dasses sich nicht um eine normale Abnutzung handelt, son-dern um eine Folge der Conterganschädigung. Dannmuss er mit dieser Bestätigung zur Krankenkasse gehen,die wiederum bestätigt, dass sie die Maßnahme nichtzahlt. Dann muss er diese Bestätigung einem Gremiumder Stiftung vorlegen, das darüber entscheidet. Ich haltedas nicht für betroffenengerecht.Wir hatten die Krankenkassen zur Anhörung eingela-den. Die Krankenkassen waren da ganz offen. Sie habengesagt: Wir übernehmen die Leistungen und holen unsim Nachhinein das Geld von diesem Fonds, wenn dieLeistung dem Grunde nach berechtigt ist. – Ich finde,das kann ein Arzt bestätigen. Das wäre ein unbürokrati-sches und schnelles Vorgehen. Lassen Sie uns noch ein-mal über diesen Punkt reden, damit wir den Menschenwirklich helfen und ihren Bedürfnissen gerecht werdenkönnen. An dieser Stelle sollten wir, wie ich glaube,wirklich etwas korrigieren. Das parlamentarische Ver-fahren liegt ja noch vor uns; es beginnt erst jetzt.Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchteund der auch in der Anhörung ganz massiv zum Tragenkam, ist die Transparenz der Stiftung. Lassen Sie unsauch darüber noch einmal reden. In jeder Gemeinderats-sitzung gibt es einen öffentlichen und einen nichtöffent-lichen Teil. Man nimmt ganz viel Misstrauen weg, wennman das so splittet. Damit kann man die Struktur verän-dern; und es wären kleine Änderungen.Alle offenen Punkte des Antrages aus dem Jahre2009, die noch nicht erfüllt sind, sollten wir noch einmalals Gedächtnisstütze aufnehmen. Ich habe meine persön-lichen Befindlichkeiten ganz nach hinten gestellt, weilich seit einem Dreivierteljahr angeboten habe, zusam-menzuarbeiten. Es war leider nicht möglich. Ich bedauredas zutiefst. Dann hätte man das vielleicht im Vorfeldklären können. Nichtsdestotrotz signalisiert die SPD da-mit, dass sie mit auf dem Gesetzentwurf steht, dass wirtrotz dieser Bedenken und der noch nötigen Nachbesse-rungen an der Seite der Betroffenen stehen. Auch wirwollen die Hilfe für die Betroffenen mittragen.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Rupprecht. – Nächste
Rednerin für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau
Nicole Bracht-Bendt. Bitte schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mitdem Dritten Gesetz zur Änderung des Conterganstif-tungsgesetzes übernimmt die Koalition weiter Verant-wortung für die Opfer der Contergankatastrophe. Wirwollen mit der erheblichen Ausweitung der finanziellen
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Nicole Bracht-Bendt
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Zuwendungen das Leid der Betroffenen lindern helfen.Was mir besonders am Herzen liegt, ist, betroffenenFrauen und Männern ein selbstbestimmtes Leben zu er-leichtern.
Bereits 2008 hat der Bundestag die Conterganrentenerstmals verdoppelt. Seit 2009 erhalten die Geschädigtendarüber hinaus jährliche Sonderzahlungen. Hierfür hatdie Grünenthal GmbH 50 Millionen Euro in die Con-terganstiftung eingebracht, weitere 50 Millionen Eurokamen aus dem Kapitalstock der Stiftung.Im neuen, fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf derCDU/CSU-, FDP- und SPD-Fraktion beschließen wirdeutlich höhere Renten für Conterganopfer: 6 912 EuroHöchstrente statt bislang 1 152 Euro. Dies soll den Be-troffenen helfen, ihr Leben eigenständiger zu gestalten.Durch meinen intensiven Austausch mit Geschädigtenweiß ich, dass dies der entscheidende Punkt ist.Am 1. Februar hatten wir im Familienausschuss einesehr eindrucksvolle Anhörung. Mehrere Hundert Betrof-fene hatten sich auf den Weg nach Berlin gemacht, umuns Abgeordneten noch einmal klarzumachen, was esbedeutet, mit den Spätfolgen der Conterganschädigungzu leben.Die Lebenssituation der rund 2 700 in Deutschland le-benden Betroffenen ist durch häufig sehr schmerzhafteAuswirkungen aufgrund von Folge- und Spätschädengeprägt. Die Verluste von Fertigkeiten der Betroffenenhaben sich in den letzten Jahren stark beschleunigt, vielstärker, als Mediziner einmal vorausgesagt hatten. ImKlartext: Ein erheblicher Teil der heute meist um die50 Jahre alten Betroffenen ist gesundheitlich in der Ver-fassung von 70- bis 80-Jährigen. 85 Prozent der Conter-ganopfer leiden an chronischen Schmerzen. Die Hälftevon ihnen ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Viele ha-ben Depressionen. Über zwei Drittel der Männer undFrauen mussten vorzeitig vor dem Erreichen der gesetz-lichen Altersgrenze aus dem Beruf ausscheiden. Warum?Weil ihre Körper den jahrzehntelangen Belastungennicht mehr standhalten.Sein Leben lang mit den Füßen zu essen, die Haaremit den Füßen zu waschen, Flaschen mit den Zähnen zutragen und zu öffnen, mit den schweren Gehprothesenaus dem Rücken heraus zu laufen: Dies alles bleibt na-türlich nicht ohne Folgen.Professor Andreas Kruse vom Institut für Gerontolo-gie der Universität Heidelberg bringt es in seinem Ab-schlussbericht zum Forschungsprojekt über die Lebens-situation contergangeschädigter Menschen eindrucksvollauf den Punkt. Er sagte, natürlich habe die Frage derRente große Bedeutung. Aber Contergangeschädigtedürften nicht primär aus der Perspektive der Pflegebe-dürftigkeit betrachtet werden, sondern aus der Perspek-tive des Assistenzbedarfs. Der Assistenzbedarf, also dieganz praktische Hilfe im Alltag, nehme kontinuierlichzu. Ich zitiere:Wenn diese substantiellen Veränderungen … nichtvorgenommen werden, wird man es mit einer mas-siven Pflegebedürftigkeit zu tun bekommen, mitnicht mehr ertragbaren Schmerzzuständen, mit ei-ner völligen Überforderung des psychischen Sys-tems. Das dürfen wir fachlich und ethisch in einerDemokratie nicht zulassen, für die der Begriff derMenschenwürde so wesentlich ist.
Herr Professor Kruse, ich danke Ihnen, dass Sie unsAbgeordnete mit Ihren drastischen Schilderungen nichtnur betroffen gemacht haben, sondern uns auch bestärkthaben, dass ein erheblicher Mitteleinsatz vonnöten ist.Ich möchte aber auch eine Sachverständige zitieren,die uns mit ihren ganz persönlichen Gedanken neulichberührte. Sie sprach von ihrer Mutter, die sich für ihrKind nichts sehnlicher wünsche als Geld für eine persön-liche Assistenz im Alltag. Bislang hat sie diese Assistenzgeleistet. Diese Frau hat also nicht nur über 50 Jahrelang unter massiven Selbstvorwürfen gelitten, das MittelContergan eingenommen zu haben, sondern sie hat sichtagtäglich rund um die Uhr für ihre geschädigte Tochteraufgeopfert. Nun ist sie zu alt. Diese Sachverständigesagte: Unsere Mütter müssen endlich loslassen dürfen.Sie müssen uns ausreichend versorgt wissen. – Jetzt wirddie pflegebedürftige Frührentnerin sich eine professio-nelle Hilfe im Alltag leisten können.Der Gesetzentwurf von CDU/CSU, FDP und SPD istein Meilenstein, weil er zukunftsorientierte Unterstüt-zung vorsieht. Dem Bund entstehen Mehrkosten von90 Millionen Euro je Jahr für die Anhebung der Conter-ganrenten sowie bis zu 30 Millionen Euro für zusätzli-che Bundesmittel zur Deckung spezifischer Bedarfe,zum Beispiel für Zahnersatz, nachdem die Zähne jahr-zehntelang die Funktion der Hand übernehmen mussten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, 120 Millionen Eurosind kein Pappenstiel, sondern sie sind ein sichtbarerAusdruck dafür, dass die christlich-liberale Koalition mitder SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam einen Beitragleistet, der zwei Ziele gleichzeitig verfolgt: Zum einenwollen wir Solidarität mit den Opfern zeigen. Wir wol-len zum anderen aber auch praktische Soforthilfe für einselbstbestimmtes Leben der Betroffenen leisten.Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. – Nächster
Redner für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Ilja
Seifert. Bitte schön, Kollege Dr. Seifert.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ge-setz, das am Ende dieser Beratungen, noch in dieserWahlperiode, erlassen werden soll, muss sich daran mes-
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28452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Dr. Ilja Seifert
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sen lassen, was es im realen Leben der Conterganopferwirklich verbessert. Die Schädigungen, die durch dieEinnahme des Präparats eingetreten sind, können wirnicht rückgängig machen, auch nicht die vielen Folgen,die die Conterganopfer und ihre Angehörigen inzwi-schen tragen mussten. Dass die Lebenssituation vonConterganopfern und ihren Angehörigen dramatisch ist,wussten wir schon lange; Kollegin Rupprecht, Sie habenes erwähnt. Jetzt ist es uns durch den Abschlussberichtzum Forschungsprojekt an der Universität Heidelbergauch noch schriftlich nachgewiesen worden.Aber wir wissen auch: Ursache für die Schädigungensind zahlreiche Versäumnisse der vergangenen Jahr-zehnte – Versäumnisse der Bundesregierung, Versäum-nisse der Justiz, Versäumnisse der Schädiger. Wir, derBundestag, sind in der Pflicht, den Betroffenen einselbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen. Be-dauerlicherweise ist das durch Ihren Gesetzentwurf nochnicht erreichbar. Die Handlungsempfehlungen des Ab-schlussberichts zum Forschungsprojekt der UniversitätHeidelberg sowie die Stellungnahmen der Betroffenenkönnen bei der Suche nach wirklich guten Lösungensehr hilfreich sein. Es ist übrigens auch erlaubt, die Stel-lungnahme des Rechtsanwaltes Dr. Oliver Tolmein – erwar bei der Anhörung als einer der Sachverständigenanwesend – oder den Antrag der Linken – Drucksache17/11041 –, der schon im Oktober vergangenen Jahreseingebracht wurde, zurate zu ziehen.
Der Familienausschuss hat am 1. Februar dieses Jah-res eine sehr beeindruckende Anhörung durchgeführt.Alle, die dabei waren, haben das erlebt. Über 200 Con-terganopfer sind zu dieser Anhörung gekommen und ha-ben deutlich gezeigt, was sie wollen.Interessant ist, dass die Bundesregierung bzw. die Ko-alition just am Vorabend dieser Anhörung 120 MillionenEuro fand – ich weiß nicht, wo –, die sie den Contergan-opfern in Zukunft zugutekommen lassen will. Ich findedas sehr gut. Ich frage mich aber trotzdem, warum dasnur dann möglich ist, wenn eine Anhörung stattfindet
und wenn die Opfer vor der Tür stehen und sagen: Abjetzt reicht es nicht mehr, uns nur über das Köpfchen zustreichen. Ab jetzt wollen wir unsere Rechte wahrneh-men.
Insofern ist der vorliegende Gesetzentwurf durchaus einErfolg der Betroffenen. Aber, wie gesagt, es gibt nocheiniges zu tun.Ich will hier noch auf einige Punkte eingehen. Dievorgeschlagene Erhöhung der Conterganrente stellt einedeutliche Verbesserung dar. Darüber gibt es keinenZweifel. Das finde ich gut, und das finden auch die Be-troffenen gut; das sagen sie auch. Dennoch weiß jedeund jeder – Frau Bär hat es auch gesagt –, dass damitlängst nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden, dass sienur für einige ausreicht. Sie reden zum Beispiel wedervon Schmerzensgeld noch von Entschädigung. DieseWorte meiden Sie wie der Teufel das Weihwasser. Daskann aber nicht sein. Es geht hier um Schmerzensgeld.Es geht um Entschädigung für zahlreiche Verletzungender Menschenwürde, für die Verletzung ihrer Eigen-tumsrechte.Tatsache ist auch, dass die erhöhte Conterganrentenicht ausreichen wird, den zunehmenden Assistenzbe-darf und Pflegebedarf zu decken. Sie haben darauf hin-gewiesen, dass dies bei der Anhörung eine große Rollespielte. Die Assistenz soll von dieser Rente nicht bezahltwerden.Dann haben Sie eine neue Schadenspunktetabelle auf-geführt. Wozu brauchen wir eine Schadenspunkteta-belle? Wäre es nicht viel logischer, zu sagen: „JederPunkt hat einen bestimmten Wert, zum Beispiel80 Euro“? Dann kann man ganz leicht ausrechnen, wel-che Rente einem zusteht, indem man seine Punkte mitdem Punktwert multipliziert. Dann weiß man, wie vielRente einem zusteht, ohne dass diese komischen Tabel-len erstellt werden müssen, die nicht nachvollziehbarsind.Es ist bisher immer noch nicht geklärt, wie Betroffe-nen die Möglichkeit gegeben werden soll, unter Berück-sichtigung von spät erkannten Schäden und Folgeschä-den ihre Punktanzahl überprüfen und erhöhen zu lassen.Wir brauchen die jetzt vorgesehenen Bundesmittel inHöhe von 30 Millionen Euro für die spezifischen Be-darfe. Das wurde bereits gesagt; das ist gar keine Frage.Aber wieso sind sie gedeckelt? Was wollen Sie tun,wenn im September eines Jahres noch jemand einennachweisbar erforderlichen Betrag beantragt, aber keinGeld mehr vorhanden ist? Wollen Sie dann sagen: „Ihrmüsst warten bis zum nächsten Jahr“? Die Deckelungdieses zusätzlichen Fonds ist logisch nicht nachvollzieh-bar.
Deshalb müssen wir hier nachbessern. Sie können nichtsagen: 120 Millionen Euro haben wir irgendwoher, undvon da an ist Feierabend.Zum Thema Ausschlussfristen. Wenn jemand conter-gangeschädigt ist, dann ist er es von Geburt an – keineFrage; das ist klar. Aber Sie berechnen die Höhe derLeistungen vom Tag der Antragstellung an. Wieso ei-gentlich? In diesem Sinne müssen alle bestehenden Aus-schlussfristen aufgehoben werden. Die bisher vorenthal-tenen Leistungen müssen rückwirkend nachgezahltwerden.
Das wäre gerecht und würde auch dem Rechtsfriedendienen.Es gibt weiteren Diskussionsbedarf. Das werden wirim Ausschuss und, wie ich hoffe, in einer weiteren öf-fentlichen Anhörung beraten. Wir brauchen eine ver-nünftige Regelung für im Ausland lebende Conterganop-fer. Wir müssen die Frage klären, wann Sozialgerichteund wann Verwaltungsgerichte zuständig sind.
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Dr. Ilja Seifert
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Wir sollten noch einmal über den Namen der Stiftungnachdenken und über die Frage, welches Bundesministe-rium zuständig ist; denn das Bundesministerium für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend wird es wohl nichtsein.
– Ich bin noch nicht fertig, lieber Kollege. – Auch hierzugibt es übrigens gute Vorschläge von Herrn Tolmeinoder den Linken.Reden wir noch einmal über die Stiftung. Die Kritikan der Stiftung, die am 1. Februar geäußert wurde, warsehr hart. Im Gesetzentwurf findet sich dazu überhauptnichts. Sie muss demokratisiert werden. Sie muss öffent-licher werden. Sie muss transparenter werden. Die Stif-tung gehört in die Hände und Füße der Conterganopfer.
Wir brauchen auch eine Entschuldigung. Ich finde estoll, dass sich der Kollege Jarzombek von der CDU wäh-rend der Anhörung persönlich bei den Opfern entschul-digte. Aber ich finde, dass sich auch der Staat entschul-digen sollte. Wir als Bundestag könnten damit anfangenund die Bundesregierung auffordern, das auch zu tun,genauso wie die Firma Grünenthal und die FamilieWirtz.
Zum Schluss. Vor 40 Jahren wurden die Eltern derOpfer vor die Entscheidung gestellt: Friss oder stirb!Nehmt, was ihr jetzt kriegen könnt, oder ihr kriegt garnichts. – Jetzt stehen wir vor der Frage: Wollt ihr dieTaube auf dem Dach oder den Spatz in der Hand? Ichdenke, wir sollten so lange beraten, bis den Menschendie Taube in die Hand fliegt.
– Lassen Sie mich doch bei meinem Bild bleiben. – Ichbin der Meinung, wir brauchen eine zusätzliche Anhö-rung.
Alle Fraktionen dieses Hauses haben heute die Mög-lichkeit, feierlich zu erklären, dass das Gesetz zum1. August dieses Jahres in Kraft treten soll und dass dieLeistungen rückwirkend gezahlt werden, damit niemandAngst haben muss, dass er oder sie um das gebrachtwird, was er oder sie dringend braucht.Wir sind es den Opfern und ihren Angehörigen schul-dig, dass wir eine gute Lösung finden und nicht nur sa-gen: Hier sind schnell die 120 Millionen Euro, dann seidaber ruhig.
Es geht um mehr als Geld, es geht um die Würde dieserMenschen.
In diesem Sinne: Lassen Sie uns zusammenarbeiten.Grenzen Sie niemanden aus. Ich weiß nicht, warum Sieuns nicht gefragt haben, ob wir nicht vielleicht an IhremGesetzentwurf mitarbeiten wollen.
– Das hat etwas mit eurer Abgrenzung zu tun.
– Nein, Sie haben uns eben nicht eingeladen, lieber Kol-lege. Aber wenn es in Zukunft so sein sollte, dann freueich mich selbstverständlich sehr, dabei zu sein.
Vielen Dank, Kollege Dr. Seifert. – Nächster Redner
in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen unser Kollege Markus Kurth. Bitte schön,
Kollege Markus Kurth.
Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Kollege Seifert, ich werde in meiner Rede gleichnoch auf die Aspekte eingehen, die verbesserungsfähigsind. Aber ich muss schon sagen: Wichtig ist, dass wirnoch in dieser Legislaturperiode möglichst weitgehendeFortschritte in der Sache erzielen. Darüber hinaus be-steht sicherlich auch noch Verständigungsbedarf.Wenn ich Sie allerdings so reden höre, Herr Seifert,entsteht bei mir der Eindruck: Es geht Ihnen weniger umden Fortschritt in der Sache, weniger darum, die Dingekurzfristig und machbar zu regeln, sondern eher darum,sich so darzustellen, als seien Sie der letzte Gerechte un-ter lauter Sünderlein. Das ist kein guter Diskursstil.
Zu Beginn möchte ich klar feststellen: Ich freue mich,dass 120 Millionen Euro jährlich zur Verfügung gestelltwerden, um die Situation der Contergangeschädigten zuverbessern. Das ist deutlich mehr, als in der Vergangen-heit geleistet wurde, und es ist bitter nötig.Wir alle wissen – dies ist schon angesprochen worden –,mit welchen Problemen contergangeschädigte Menschengerade im vorrückenden Alter zu kämpfen haben, zumBeispiel mit Verschleißerscheinungen. Sicherlich habenauch viele Kolleginnen und Kollegen und viele, die die-ser Debatte folgen, entsprechende Berichte im Fernse-hen gesehen oder in der Zeitung gelesen.Im Zuge der Anhörung hatte ich den Eindruck, dasszwischen uns Abgeordneten sehr große Einigkeit da-
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Markus Kurth
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rüber besteht, was die Ziele des Gesetzentwurfes anbe-langt. Wir wollen den Geschädigten ein Leben in Würdeermöglichen, sicherstellen, dass sie die notwendigenPflege- und Assistenzleistungen erhalten und ausrei-chend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, um diebehinderungs- und beschädigungsbedingten Nachteileunbürokratisch und einfach auszugleichen.Wir wollen auch, dass die Geschädigten oder ihre An-gehörigen nicht in die Sozialhilfe gedrängt werden, son-dern dass die Leistungen anrechnungsfrei sind. Das istnotwendig. Denn wäre damals Grünenthal nicht mit ei-nem vergleichsweise billigen – rückblickend muss manauch sagen: fragwürdigen – zivilrechtlichen Vergleichaus der Sache herausgekommen, dann hätten die Ge-schädigten heutzutage wesentlich höhere privatrechtli-che und haftungsrechtliche Ansprüche geltend machenkönnen.
Ich glaube, dass wir uns auch darüber einig sind – zu-mindest im Grundsatz –, dass wir dauerhaften Rechts-frieden schaffen wollen. In Gesprächen mit den Betrof-fenen merkt man außerordentlich deutlich, dass sie ingewisser Weise, sofern das überhaupt möglich ist, einenSchlussstrich ziehen und einen gewissen abschließendenRechtsfrieden haben wollen.Dazu gehört aus Sicht der Betroffenen auch eine Ent-schuldigung der Familie Wirtz. Darauf haben wir alsDeutscher Bundestag, als Parlament aber keinenEinfluss. Ich meine nicht, Herr Seifert, dass wir uns alsParlament hier entschuldigen sollten. Das ist nicht das,was die Betroffenen wollen. Wir sind dafür zuständig,dass die Bundesrepublik Deutschland als Haftungsnach-folgerin der Firma Grünenthal hinsichtlich der Leistun-gen die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Das mussman alles sauber auseinanderhalten.
Wenn wir uns gerade das Thema Rechtsfrieden an-schauen, muss man sagen, dass er mit dem vorliegendenGesetzentwurf, zumindest in seiner jetzigen Form, nichterreicht wird. Damit werden wir diesem Anspruch nichtgerecht. Frau Ministerin, Sie sprechen nach mir. Viel-leicht können Sie auf drei Aspekte, die ich hier anspre-chen möchte, näher eingehen.Erstens. Es gibt einen Topf zur Deckung der spezifi-schen Bedarfe im Einzelfall. Das ist grundsätzlich einevernünftige Idee. Allerdings können aus diesem Topf– so ist das bisher vorgesehen – keine Pflege- oder As-sistenzleistungen finanziert werden.
Ich glaube, hier müssen wir noch einmal genau hin-schauen und nachbessern. Wir müssen die Möglichkeitschaffen, dass auch diese Leistungen aus diesem Topffinanziert werden können, wenn er schon einmal da ist.Denn sonst passiert das, was wir, wie gesagt, nichtwollen: Dann sind die Betroffenen, die einen besondershohen Unterstützungs- und Assistenzbedarf haben, dochauf Sozialhilfe angewiesen. Sehr wenige Betroffene ha-ben einen so hohen Bedarf, aber es gibt sie.
Damit komme ich zum zweiten Punkt. Die Mittel, diezur Deckung spezifischer Bedarfe vorgesehen sind – esgeht um den Sondertopf –, werden aus meiner Sichtnicht sinnvoll verwendet. Bei der Conterganstiftung sol-len sechs zuständige Stellen eingerichtet werden. Ärzte,Kliniken und Pflegedienste sollen Gelder aus diesemTopf erhalten.
– Ich merke, Sie diskutieren alle rege. Vielleicht könnenSie das auf die Zeit nach meiner Rede verschieben. – Esist natürlich wichtig, dass die Kompetenz des medizini-schen und pflegerischen Personals steigt, aber die spe-ziellen Mittel aus diesem Sondertopf sind dafür aus mei-ner Sicht nicht die richtige Geldquelle.Auch hören wir, dass die Verbände der Geschädigten,die gerade Schwerstgeschädigte kompetent beraten,keine Mittel aus diesem Topf bekommen sollen. Wie istdas zu erklären, Frau Ministerin? Warum können Ärzteund Kliniken Gelder erhalten, nicht aber die Betroffe-nenverbände? Das leuchtet mir nicht ein.In der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht,möchte ich noch auf einen dritten Aspekt eingehen, der,wie ich glaube, ziemlich wichtig ist. Es geht um dieConterganstiftung selbst. Ich nehme an, dass ich nichtder einzige Mensch bin, der von ContergangeschädigtenZuschriften erhält. Einhellig kommt in diesen Zuschrif-ten die Unzufriedenheit mit der Arbeit der Stiftung zumAusdruck; das wurde auch in der Anhörung deutlich. Inden Gesetzentwurf haben Sie einen Verweis auf dasInformationsfreiheitsgesetz aufgenommen, um dem Vor-wurf der Intransparenz zu begegnen. Nun ist es aber so,zumindest nach meinem Verständnis, dass die Stiftungdem Informationsfreiheitsgesetz ohnehin Genüge tunmuss. Das ist eine Tautologie. Es wird auf ein bestehen-des Gesetz verwiesen. Ich glaube, das reicht nicht aus.Ich möchte ein Beispiel nennen. Regelmäßig wird be-richtet, dass gegen die Stimmen der Geschädigten, die inder Stiftung in der Minderheit sind, die Geheimhaltungbeschlossen wird. Wir haben mit Betroffenen, die bei derAnhörung waren, darüber gesprochen. Sie sehen eine ge-wisse Blockadesituation. Sie haben vorgeschlagen, zurAufhebung dieser Blockadesituation so etwas wie einenneutralen Mittler, eine dritte Position, eine unabhängigeVermittlung im Stiftungsbeirat vorzusehen. Wenn solcheVorschläge zur Herstellung von mehr Transparenz undeiner effektiveren Selbstverwaltung vonseiten der Be-troffenen kommen, dann sollten wir diese Vorschläge inden anstehenden parlamentarischen Beratungen berück-sichtigen, wenn wir vorhaben, das in diesem HohenHaus gemeinsam zu beschließen.
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Markus Kurth
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Leider gab es im Vorfeld keine Beratung über Frak-tionsgrenzen hinweg. Anders als die SPD haben wirdeswegen gesagt: Wir setzen unseren Namen noch nichtüber diesen Gesetzentwurf. Aber wir stehen gemeinsa-men parlamentarischen Beratungen und Änderungs-anträgen im Verfahren offen gegenüber. Vielleicht ge-lingt es ja, das Ganze an den genannten Punktenvoranzutreiben, sodass wir am Ende des Tages – daranwäre mir sehr gelegen – gemeinsam zu einem Ergebniskommen können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Markus Kurth. – Nächste Red-nerin in unserer Aussprache ist Frau BundesministerinDr. Kristina Schröder. Bitte schön, Frau Bundesministe-rin.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kein Geld der Welt kann wiedergutmachen, was conter-gangeschädigte Menschen ertragen mussten und ertra-gen müssen. Aber Geld kann helfen, mit Einschränkun-gen umzugehen, Schmerzen zu lindern und vielleichtauch Barrieren zu überwinden. Mit finanzieller Hilfedrücken wir auch unsere Achtung aus vor der Kraft unddem Willen dieser Menschen, mit ihrer Behinderung, sogut es irgendwie geht, zu leben. Darum geht es bei derdritten Änderung des Conterganstiftungsgesetzes: umHilfe und Linderung, aber auch um Achtung und Aner-kennung.
Mir ist wichtig, dass wir dabei nicht vergessen: Con-tergangeschädigte Menschen sind aufgewachsen in einerZeit, in der unsere Gesellschaft mit Behinderungen undFehlbildungen vielfach weniger sensibel umgegangenist, als das heute zum Glück überwiegend der Fall ist.Erfahrungen von Missachtung, Ausschluss und Diskri-minierung haben ihre Spuren hinterlassen – physisch wiepsychisch. In vielen Interviews sagen betroffeneMenschen, dass gerade diese Erfahrungen es waren,weswegen Selbstständigkeit und Eigenverantwortungfür sie so wichtig waren.Der Bericht des Institutes für Gerontologie der Uni-versität Heidelberg an die Conterganstiftung, der dieGrundlage für den vorliegenden Gesetzentwurf ist,kommt zu dem Ergebnis, dass sich viele contergange-schädigte Männer und Frauen selbst in die Lage versetzthaben, ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich zuleben. Diese Leistung können wir nicht hoch genug ein-schätzen; aber der Preis war oft die Überforderung deseigenen Körpers. Die Contergangeschädigten sind heutein einem Alter, in dem sich die Zeichen eines überlaste-ten Körpers mehren.Insbesondere die Heidelberger Studie hat vielen dieAugen geöffnet. Ich bin Ihnen dankbar, Frau KolleginRupprecht, dass Sie noch einmal auf die Skepsis hinge-wiesen haben, die es gab, als diese Studie in Auftrag ge-geben wurde. Ich glaube, heute sind sich alle einig: Wirkönnen heilfroh sein, dass wir eine Studie in dieser Formhaben.
Natürlich wussten wir, dass contergangeschädigteMenschen viel Leid ertragen müssen. Was das aberkonkret und individuell bedeutet und wie sehr sich derGesundheitszustand vieler Betroffener – ganz besondersder Höchstgeschädigten – verschlechtert hat, ist vielen –auch mir – erst dank dieser Studie bewusst geworden.Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir denBetroffenen helfen, mit den Folgen jahrelanger körperli-cher Überbeanspruchung so gut es geht leben zu können.Wir lassen die contergangeschädigten Männer undFrauen nicht allein. Wir nehmen 120 Millionen Euro proJahr in die Hand, um ihre Lebenssituation zu verbessern.Das ist richtig, und das war auch überfällig. Das wurdeauch bei der Anhörung im Februar deutlich, die sehrviele von uns sehr bewegt hat. Bei der Ausgestaltung derneuen Regelungen haben wir deshalb intensiv um diebesten Lösungen im Sinne der Betroffenen gerungen.Für die Erhöhung der Conterganrenten beispielsweisegab es unterschiedliche Lösungsvorschläge. Warum ha-ben wir uns für eine so deutliche Erhöhung entschieden,die ja bei den bisherigen Höchstrenten einer Versechs-fachung entspricht und die, Herr Kollege Seifert, bei denHöchstgeschädigten auch überproportional ausfällt? Wirhaben uns für diese Lösung entschieden, weil die hohenRenten einen Großteil der Zusatzbedarfe – dazu zähltauch die Assistenz, Herr Kollege Kurth – pauschal abde-cken sollen und wir den Betroffenen damit aufwendigeEinzelfallprüfungen ersparen wollen.
Wir haben uns in dem Bewusstsein so entschieden, dasses hier um notwendige Hilfe geht, aber eben auch umRespekt und Würde.Auch für die Ausgestaltung der Schadensstufen lagenunterschiedliche Varianten auf dem Tisch. Warum habenwir die Variante gewählt, bei der die Schadensstufen ins-besondere im oberen Bereich weiter aufgefächert wer-den? Wir wollten damit mehr Einzelfallgerechtigkeit vorallen Dingen bei den Schwerstgeschädigten erreichen.Denn bisher ist es so, dass die höchste Rente bereits bei45 Schadenspunkten beginnt. Im Moment erreichen60 Prozent der Leistungsberechtigten 45 oder mehrSchadenspunkte und damit die höchste Rente. Einigevon ihnen sind aber deutlich schwerer geschädigt als an-dere. Das konnte bisher innerhalb des Systems nicht be-rücksichtigt werden. Mit der Einführung zusätzlicherSchadensstufen, insbesondere im oberen Bereich, kön-nen wir bei den Schwergeschädigten noch stärker diffe-renzieren und schwerste Schädigungen angemessen be-rücksichtigen. Eben darum geht es uns bei den neuenRegelungen. Wir wollen dem individuellen Schicksal sogut wie möglich gerecht werden.
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28456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, die Mittel fürdie zusätzliche Hilfe bereitzustellen. Ich danke allen, diemit ihrem Sachverstand und mit ihrem Engagement dazubeigetragen haben. Auch die SPD-Fraktion unterstütztunseren Vorschlag, was mich sehr freut. Vor allen Din-gen freut mich aber auch, dass die Mehrheit der conter-gangeschädigten Menschen die neuen Regelungen rich-tig findet. Natürlich gibt es immer auch noch Kritik; dasist klar. Aber ich glaube, dass wir uns zumindest in ei-nem Punkt einig sind: Das, was wir mit dem vorliegen-den Gesetzentwurf festschreiben, bedeutet für die Be-troffenen mehr Hilfe, mehr Respekt und mehrGerechtigkeit. Das ist weit mehr als einfach nur mehrGeld.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nächste Red-
nerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unsere Kollegin Frau Christel Humme.
Bitte schön, Frau Kollegin Humme.
Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!In der Tat, ich erinnere mich sehr gut daran: Vor sechsJahren, 2007, lief im Fernsehen erstmals der Film Eineeinzige Tablette. Auf der einen Seite ist es bedauerlich,dass ein Film der Anlass für neue Regelungen war, aufder anderen Seite ist es aber auch gut. Wir konnten unsin der Großen Koalition auf Verbesserungen für Conter-gangeschädigte einigen. Ich möchte gerne an Ilse Falkerinnern. Wir beide haben die Debatte initiiert und da-rauf hingewiesen, dass wir etwas für die contergange-schädigten Menschen tun müssen. Jeder, der damals da-bei war, erinnert sich noch gut daran.Wir waren nicht sicher, wie erfolgreich wir sein wür-den, aber im Ergebnis konnten wir die Renten verdop-peln, Sonderzahlungen durchsetzen und letztlich auchdie Renten dynamisieren. Ich denke, das war ein großerSchritt. Darauf können wir alle – wir haben es fraktions-übergreifend beschlossen – noch heute stolz sein. Dassollten wir immer wieder in Erinnerung rufen. Damalswar – das wurde vorhin erwähnt – Grünenthal noch da-bei. Grünenthal war mit 50 Millionen Euro an der Finan-zierung beteiligt.Aber wir wussten bereits damals, dass das nicht dasEnde der Fahnenstange sein würde; denn das, was wirdamals beschlossen haben, war nicht ausreichend. Wirahnten, dass wir erst am Anfang eines Prozesses stehen,der weitere Verbesserungen für die Männer und Frauenmit Conterganschädigungen bringen muss, Verbesserun-gen, die die Betroffenen immer wieder eingefordert ha-ben. Schon damals war uns klar: Wir müssen uns mit denFolgeschäden bei Menschen mit Conterganschädigun-gen befassen und sie entsprechend anerkennen.Deshalb bin ich froh, dass wir seit Dezember letztenJahres die Längsschnittstudie des Instituts für Gerontolo-gie der Uni Heidelberg vorliegen haben. Ich danke Pro-fessor Kruse ausdrücklich für diese hervorragendeLängsschnittstudie. Diese Studie belegt Schwarz aufWeiß, was wir eigentlich schon immer von den betroffe-nen Menschen geschildert bekommen haben. So hat eszum Beispiel auch Herr Herterich vom Interessenver-band Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen in derAnhörung eindrucksvoll geschildert.Wenn die Füße die Hände ersetzen und wenn dieZähne zum Tragen und Öffnen von Flaschen benutztwerden müssen, dann hat das Folgen für die Entwick-lung der Muskulatur und die Zahngesundheit. FrauRupprecht hat richtig dargestellt, dass die Körper derContergangeschädigten überproportional schnell altern.In der Tat: In den letzten zehn Jahren haben mit zuneh-mendem Alter die Folgeschäden rasant zugenommen.Vor allem in den letzten zwei bis fünf Jahren hat sich dienegative Entwicklung bei Arthrose, Muskelschwächeund daraus folgenden Schmerzen beschleunigt, Schmer-zen, die nicht auszuhalten sind. Viele contergangeschä-digte Frauen und Männer können sich nur mit Morphiumund Opiaten am Leben halten, weil sie sonst vorSchmerzen wahnsinnig würden. Professor Kruse hat dasin der Anhörung sehr deutlich geschildert.Aufgrund dieser Tatsachen sind besondere Bedarfeentstanden, beim Zahnersatz, bei der medizinischenHilfe, bei der Assistenz und bei der Pflege. Es geht umeine bessere Mobilität sowohl im als auch außer Haus.Dazu gehört auch die bessere Kommunikation und so-ziale Teilhabe. Da müssen wir eindeutig helfen.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, jetzt geht es da-rum, die Ergebnisse der Studie aus Heidelberg zügig um-zusetzen. Dafür ist der heute vorliegende Gesetzentwurfein wesentlicher Baustein. Wir freuen uns natürlich, dassjährlich 90 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung ge-stellt werden, um die Renten deutlich zu erhöhen; dieRente wird je nach Schwere der Beeinträchtigung zwi-schen 612 und 6 912 Euro betragen. Das wirkt wie einpersönliches Budget und wird den Menschen mit Con-terganschäden helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen.Genauso positiv bewerten wir, dass jährlich ein Be-trag von 30 Millionen Euro zusätzlich bereitgestelltwird, der für besondere Bedarfe vorgesehen ist. Wir be-grüßen das ausdrücklich und danken allen, die das mög-lich gemacht haben; das gilt vor allem für die Regelung,dass die Renten rückwirkend ab dem 1. Januar 2013 ge-zahlt werden sollen.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in der Anhörungam 1. Februar dieses Jahres wurden von den Betroffenenimmer wieder zwei – ja, ich würde sagen – Herzenswün-sche an die Politik geäußert. Die Männer und Frauen mitConterganschädigungen wünschen sich eine bessere so-ziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben; wir ha-ben davon heute schon genug gehört. Ich glaube, mitdem Geld werden wir dazu einen wesentlichen Beitragleisten. Auch darum unterstützen wir den Gesetzentwurf.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28457
Christel Humme
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Wir haben ja gesagt: Das ist unser gemeinsamer Gesetz-entwurf. Dieses Thema eignet sich nicht für Parteienge-zänk.
Aber wir haben – auch das gebe ich zu; das hat auchFrau Rupprecht schon deutlich gemacht – einige Fragenzu der Ausgestaltung des Gesetzentwurfes. Ich freuemich, dass es möglich ist – zwar im Nachgang, aber im-merhin –, am 15. April dieses Jahres ein Fachgesprächim Ausschuss durchzuführen. Ich hoffe, wir kommendort zu guten Ergebnissen und finden letztlich gute Lö-sungen. Ich gebe Herrn Kurth durchaus recht: Es gibtviele Klagen darüber, dass die Beteiligung der Conter-gangeschädigten in der Stiftung nicht so ist, wie sie seinsollte. Da ich gerade sehe, dass Herr Hüppe hier vornesitzt, möchte ich sagen: Wir haben in der Behindertenpo-litik ja ein Motto. Das Motto lautet: Nicht ohne uns überuns.
Ich glaube, das gleiche Motto sollte auch im Hinblickauf die Menschen gelten, die unter Conterganschädigun-gen leiden.
Natürlich gibt es großen Beratungsbedarf, was dieVerteilung der spezifischen Bedarfe angeht: Wie werdensie verteilt? Wie macht man das? Wie bürokratisch istdas Ganze? Wenn man bedenkt, dass 450 000 Euro, alsofast eine halbe Million Euro, an Verwaltungskosten ent-stehen werden, muss man sich auch fragen: Wofür? Da-rüber sollten wir noch einmal reden. Ich glaube, FrauHudelmaier vom Bundesverband Contergangeschädig-ter, die in der Anhörung eine nachhaltige Lösung gefor-dert und an uns appelliert hat, uns nicht wieder mit Feh-lern, die wir hinterher korrigieren müssen, zu belasten,hat recht.
Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ja, es gibt weite-ren Handlungsbedarf; das dürfen wir nicht vergessen. Esgeht nicht nur um Folgeschäden, sondern auch um Spät-schäden, die in der Vergangenheit nicht sofort offenbarwurden und noch nicht als vorgeburtliche Schäden aner-kannt werden. Frau Blumenthal, die Vorsitzende derConterganstiftung, hat angekündigt, dass hierzu in die-sem Jahr eine Studie in Auftrag gegeben werden soll. Ichfinde zwar, das ist etwas spät – das gebe ich zu; das hätteman schon früher machen können –, aber ich bin froh,dass auch diese Studie, die für unsere Beratungen eineweitere Hilfe sein wird, durchgeführt wird.Im Laufe dieses Jahres wird in Nordrhein-Westfaleneine weitere Studie durchgeführt. Sie beschäftigt sichmit einem anderen Thema, nämlich mit der Frage nachpsychosomatischen Schäden. Ich bin gespannt, zu wel-chen Ergebnissen man im Rahmen dieser Studie kom-men wird. Ich glaube, auch sie werden uns helfen, wei-tere gute Lösungen für die Menschen zu finden.Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass der Bund120 Millionen Euro jährlich mehr zur Verfügung stellt,ist eine hervorragende Sache; keine Frage. Aber erlau-ben Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich wünschemir, dass auch die Stiftung ihren Einfluss geltend macht,um nochmals Geld der Firma Grünenthal, die der eigent-liche Verursacher des größten Medizinskandals ist, ein-zuwerben. Auch wenn die Firma Grünenthal rechtlichnicht dazu verpflichtet ist, so bin ich persönlich sehr da-von überzeugt, dass es hier eine moralische Verpflich-tung gibt.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Humme. – Nächster Red-
ner für die Fraktion der FDP: unser Kollege Patrick
Meinhardt. Bitte schön, Kollege Patrick Meinhardt.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir sind heute hier zusammengekommen, umüber ein Thema zu debattieren, das – das spürt man auchan der Art und Weise, wie wir die Debatte führen – unsallen wirklich am Herzen liegt und das uns von denmenschlichen Schicksalen her auch tief bewegt.Die gesundheitliche Entwicklung der Contergange-schädigten steht, wie es in der Studie der UniversitätHeidelberg formuliert wird, an einem Wendepunkt – ichzitiere –: „Die gesundheitliche Entwicklung … steht aneinem Wendepunkt, eine rasche Verbesserung der Ver-sorgung wie auch eine rasche Ausweitung der Unterstüt-zung sind dringend notwendig.“ Überlastete Gelenke,schwere Beeinträchtigungen der Wirbelsäule und vor al-lem chronische Schmerzzustände steigern den Hilfe- undUnterstützungsbedarf erheblich.Deswegen ist es gut, dass wir heute über die Grenzender Fraktionen hinweg über dieses wirklich zentrale ge-sellschafts- und sozialpolitische Thema beraten.Auch ich bin der Ansicht, dass wir mit diesem Ge-setzentwurf an einem Wendepunkt stehen, und möchteallen, die sich an diesem Gesetzentwurf beteiligt haben,hierfür ein herzliches Dankeschön sagen.
Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir zu einerÄnderung des Conterganstiftungsgesetzes kommen, diefür viele längst überfällig war und die jetzt in der Konse-quenz der gesamten Beratungen an einen wichtigenPunkt gekommen ist. Wir stehen hier alle gemeinsam inder Verantwortung, und wir stehen auch alle zu unsererVerantwortung. Es ist ein wichtiges Zeichen, wenn die-ses Hohe Haus in einer solchen Debatte seine Mensch-lichkeit zeigt – sie kam in vielen Wortbeiträgen zum
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28458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Patrick Meinhardt
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Ausdruck – und die Fraktionen zusammenstehen, wiedies ja schon im Jahre 2008 der Fall war.Im Deutschen Bundestag wurden von 1958 bis heuteviele Debatten über dieses Thema geführt. Als 1971 diezentrale Debatte über die Errichtung der heutigen Con-terganstiftung stattgefunden hat, hat unser damaligerFDP-Kollege Kurt Spitzmüller Folgendes formuliert– das war eine große Gemeinsamkeit in diesem Haus –:Die Einmütigkeit, die das Haus in dieser Frage be-wiesen hat, und die Intensität, mit der sich die Aus-schußmitglieder dieser Fragen angenommen haben,beweisen, daß dieses Haus immer wieder in derLage sein wird, sosehr die Situation auch draußenim Lande einmal auf Konfrontation eingestellt seinmag, sich im Sinne der Hilfe für Bedürftige, für Be-hinderte, im Sinne einer humanitären Gemeinsam-keit zusammenzufinden.Dies gilt auch für die Beratungen heute.
Vor fast genau vier Jahren hat der Deutsche Bundes-tag für diesen Bereich eine Studie, ein Gutachten in Auf-trag gegeben. Schon zum 1. Juli 2008 sind die sogenann-ten Conterganrenten verdoppelt worden. Ich glaube, dasses sehr gut ist, wenn wir jetzt mit der Verabschiedungdes Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung desConterganstiftungsgesetzes noch einmal eine entschei-dende Verbesserung erreichen. Trotz der schwierigenBemühungen, einen strukturell ausgeglichenen Bundes-haushalt für 2014 aufzustellen, ist es gemeinsam gelun-gen, für die 2 700 Conterganopfer die gewaltige Summevon jährlich 120 Millionen Euro dauerhaft zu verankern.Ich glaube deswegen sagen zu dürfen, liebe Kolleginnenund Kollegen: Wir können zwar Leiden nicht in Geldmessen – das wäre weiß Gott vermessen –; aber wir kön-nen die Welt in Deutschland mit dieser Entscheidung einbisschen gerechter machen und diesen Menschen unseregemeinsame Solidarität entgegenbringen. Dafür bin ichwirklich dankbar.Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Patrick Meinhardt. – Nächster
Redner für die Fraktion von CDU und CSU ist unser
Kollege Markus Grübel. – Bitte schön, Kollege Markus
Grübel.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirkönnen heute mit Fug und Recht sagen: Dieses Gesetzist ein Quantensprung. Es ist kein kleiner Schritt undauch kein großer Schritt, es ist ein Sprung. Um in demBild zu bleiben, das Sie, Herr Dr. Seifert, verwendet ha-ben: Es ist nicht der Spatz in der Hand – es ist für das,was realistisch war, die Taube auf dem Dach.
Auf welchem Stern leben Sie? Wer wäre sich vorzwei Monaten noch sicher gewesen, dass wir hier120 Millionen Euro zusätzlich bereitstellen können? Ichhabe mir das immer gewünscht und habe dafür ge-kämpft; das dürfen Sie mir abnehmen. Hinsichtlich derFrage, ob wir das schaffen, ob wir das durchsetzen, obdie Haushälter, das Finanzministerium etc. das mitma-chen, war ich mir aber unsicher. Darum, glaube ich, soll-ten Sie das nicht kleinreden und abwerten.Der Vorsitzende des Contergannetzwerks Deutsch-land, Herr Christian Stürmer, hat mir gesagt, das sei einepositive Revolution. Wir haben die Contergangeschädig-ten und auch ihre Familien nun ein halbes Jahrhundertlang mit einer vergleichsweise geringen Rente vertröstet.Mit diesem Gesetzentwurf und diesen zusätzlichen Mit-teln schaffen wir es – das ist mir besonders wichtig –,dass sie ein würdiges Leben leben können.Im Mai 2008 haben wir die Conterganrenten von550 Euro auf 1 100 Euro verdoppelt. Das hört sich vielan. Zu weniges zu verdoppeln, ergibt aber nicht viel, undvor allem war das nicht ausreichend. Natürlich war dasdamals in unserem entsprechenden Rahmen das Mögli-che, Frau Rupprecht, Frau Humme, Frau Falk und wiewir alle heißen, aber das war nicht der große Wurf.6 912 Euro für die schwerst- bzw. mehrfach Geschädig-ten: Das ist ein großer Wurf und eröffnet den Betroffe-nen und ihren Familien die Möglichkeit, ein würdigesLeben zu leben.Das ist auch das Ergebnis der Conterganstudie. DieseStudie der Uni Heidelberg – vom Institut für Gerontolo-gie mit seinem Leiter Professor Kruse – hat uns bestä-tigt, dass die Klagen zu Recht geführt werden und dassHandlungsbedarf besteht, weil die Menschen halt nichtwie 50-Jährige, sondern wie Hochbetagte sind. In die-sem Zusammenhang ist auf die schweren Verschleiß-erscheinungen, die Schmerzen, den Assistenzbedarf unddie Pflegebedürftigkeit hinzuweisen.Mir ist auch wichtig, zu sagen: Die Angehörigen – oftdie Eltern – haben die Betroffenen im Alltag jahrzehnte-lang unterstützt und sind jetzt selber in einem Alter, indem sie oft Hilfe brauchen. Sie können die Hilfe nichtmehr leisten, sodass die Familien außerhäusliche Hilfebrauchen. Ich kann nur sagen: Ich habe höchste Achtungvor der Leistung, die die Eltern und Familien in den Jah-ren erbracht haben.Ich möchte auch an die Kinder der Geschädigten den-ken. Manche haben keine Kinder, aber es gibt auch viele,die Kinder haben. Die Kinder werden erwachsen undsollten doch auch ein selbstständiges Leben führen kön-nen. Dafür ist das jetzt auch ein wichtiger Schritt. Es istnämlich eine seelische Belastung für die Kranken, Be-troffenen, Eltern, wenn sie wissen, dass sie der Entfal-tung ihrer Kinder, die vielleicht auswärts studieren odereine Arbeitsstelle annehmen wollen und dadurch für dieHilfe nicht mehr zur Verfügung stehen würden, im Wegestehen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28459
Markus Grübel
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Hinzu kommen die Folge- bzw. Spätschäden. Wennein Contergangeschädigter ein Glas Wasser trinken will,dann muss er seine Wirbelsäule verrenken. Dadurch er-leidet er Spätschäden am Skelett, die ein nicht Betroffe-ner nie haben würde. Ein anderes Beispiel: Das Tragenvon Dingen mit den Zähnen macht die Zähne kaputt, undauch der Zahnersatz wird in der Folge viel schneller be-schädigt als der von anderen.Das Durchschnittsalter der Contergangeschädigtenbeträgt 53 Jahre. So alt bin ich auch. Die Contergange-schädigten leben aber in Körpern, die denen von 70-oder 80-Jährigen gleichkommen.Wir handeln nun – das möchte ich ausdrücklich sagen –entschlossen, schnell, konsequent und sogar rückwir-kend zum 1. Januar 2013, und der künftige Höchstbetragbeträgt 6 912 Euro. Das ist wirklich einmal ein Betrag,der viel ermöglicht.Diese Erhöhung hat den Vorteil, dass die Contergan-geschädigten einen Großteil ihres Zusatzbedarfes – zumBeispiel Assistenz, behindertengerechter Umbau einesPkw – pauschal, ohne aufwendige Einzelfallprüfung undohne bürokratischen Aufwand decken können. Sie müs-sen keine Anträge stellen, keine Gutachten beibringenund nicht mit der Abfolge – das kennt ja auch fast jedervon uns – „Ablehnung, neues Gutachten, neuer Antrag,Ärger“ leben. Dazu sind sie ja oft auch nicht in der Lage.Darum haben wir gesagt: Dreiviertel der 120 MillionenEuro fließen pauschal in die Rente. Dieser Teil erhöhtalso ihre zukünftige Rente. Mit dem anderen Teil werdenzusätzliche Bedarfe abgedeckt.In allen Gesprächen mit den Betroffenen war klar,dass sie es schätzen, dass sie die Freiheit haben undkeine Anträge stellen müssen. Ich glaube, das müssenwir hier auch einmal bewusst machen.
Ein Viertel, bis zu 30 Millionen Euro, stehen also fürzusätzliche Bedarfe – Reha-Leistungen, Heil- und Hilfs-mittel, Zahnersatz, kieferchirurgische Behandlungen –zur Verfügung. Hier muss man sagen: Voraussetzung da-für ist natürlich der ablehnende Bescheid durch dieKrankenkassen, weil wir mit dem Geld ja nicht dieKrankenkassen entlasten, sondern zusätzliche Maßnah-men ermöglichen wollen, die die Krankenkassen ebennicht ermöglichen. Deshalb ist hier einfach ein Verfah-ren vorgeschaltet.Ich nehme an, dass das Verfahren dann nicht so ausse-hen wird, wie es hier geschildert wurde, auch von Ihnen,Herr Kurth. Der Stiftungsrat wird allgemeine Richtlinienbeschließen, und das Bundesamt, das die Mittel adminis-trativ verwaltet, wird anhand der Richtlinien in einemkurzen, schnellen Verfahren entscheiden. Der Stiftungs-rat bzw. der Stiftungsvorstand wird nicht mit jedem Ein-zelfall belastet. Darüber können wir aber gern noch ein-mal reden.Sehr geehrte Damen und Herren, heute ist mit Sicher-heit ein historischer Tag für die Contergangeschädigtenund ihre Familien. 120 Millionen Euro mehr, das ist vielGeld, wenn man unsere Rahmenbedingungen und dieHaushaltssituation anschaut. Gestern hat der Finanz-minister den Haushaltsplan vorgestellt. Wir wollenSchulden abbauen, wir wollen die nächste Generationnicht belasten. Angesichts dessen ist das wirklich vielGeld. Natürlich kann das die Schmerzen und die Leidennicht ungeschehen machen.Ich möchte der SPD danken; sie macht mit. Ich hoffe,die Grünen können wir auch noch ins Boot holen.Ich glaube, es ist gut, dass wir nun entschlossen han-deln und den Betroffenen schnell und unbürokratischhelfen. Ich danke allen, die diesen Gesetzentwurf mög-lich gemacht haben. Ich hoffe auf alle Kolleginnen undKollegen, dass sie ihn mittragen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Markus Grübel. – Nächster
Redner in der Aussprache ist unser Kollege Thomas
Strobl für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kol-
lege Thomas Strobl.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich glaube, nach einem halben Jahrhun-dert der schweren und schwersten Schädigungen durchContergan ist heute ein besonderer und ein guter Tag. Icherinnere mich noch gut daran, dass vor einem halbenJahr eine Gruppe contergangeschädigter Menschen ei-nen Besuch im Deutschen Bundestag gemacht hat. Siewaren von weither angereist, aus allen Teilen der Repu-blik. Der Vorsitzende kam aus meinem Heimatbundes-land, aus Baden-Württemberg. Diese Menschen habenkeinen Aufwand, keine Mühe gescheut, über viele Jahreimmer wieder auf ihre Lebensumstände und auf die Nöteder Contergangeschädigten aufmerksam zu machen.Wenn wir heute hier stehen und ein Gesetz beraten,das zusätzliche Leistungen in einem Umfang von120 Millionen Euro an die Contergangeschädigten vor-sieht, dann möchte ich vor allem denjenigen danken, dienicht lockergelassen haben, die nicht müde gewordensind, ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Mitbe-troffenen zu erzählen und auf ihre Nöte und auf ihrSchicksal aufmerksam zu machen. Wir stünden ohnediejenigen, die das immer und immer wieder vorgetra-gen haben, nicht hier. Sie sind eigentlich diejenigen, de-nen wir dafür Dank sagen müssen, dass wir heute zu die-sem Schritt kommen.
Ich will aber hinzufügen, weil es einfach die Wahrheitist, dass wir ohne unsere Kollegin BundeskanzlerinAngela Merkel und ohne den Vorsitzenden der CDU/CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder heute nicht soweit wären, wenn die beiden diese Angelegenheit nichtzu ihrer eigenen, persönlichen Sache gemacht hätten.Das möchte ich in dieser Stunde einfach sagen. Dankean Angela Merkel und Volker Kauder!
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28460 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Thomas Strobl
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an die-ser Stelle aus einer E-Mail zitieren, einer von vielen E-Mails, die ich von Contergangeschädigten erhalten habe:Meine Mutter hat sich jahrelang Vorwürfe gemacht, weilsie nur eine einzige Tablette genommen hat. Als kleinerJunge sagte ich zu ihr: Nicht traurig sein! Ich werde esschaffen, und wenn ich groß bin, dann will ich eineSchiffsreise für dich bezahlen. Da war ich gerade malacht Jahre alt, konnte kaum sprechen, weil ich ja taubwar. Mein Vater hat sich immer geschämt, weil ich einKrüppel war. Da ich aus gesundheitlichen Gründen nurhalbtags arbeiten kann, konnte ich meiner Mutter denWunsch nie erfüllen. In den nächsten Jahren werde ichnicht mehr arbeiten können und würde dann gerade mal400 Euro Rente bekommen. Jetzt wird die Bundesregie-rung 120 Millionen Euro jährlich für unsere Contis aus-schütten. Vielen Dank, dass Sie sich dafür eingesetzt ha-ben!Er schreibt weiter: Jetzt ist meine Mutter 85 Jahre alt.Ich hoffe, dass ich ihr diesen Wunsch so bald wie mög-lich erfüllen kann. Sie wird nicht mehr die große Reisemachen können, aber ich werde ihr symbolisch eineFahrkarte geben.Es ist spät, dass wir als Bundesrepublik Deutschlandunsere Verpflichtung gegenüber den contergangeschä-digten Menschen in anständiger Weise wahrnehmen. Esist spät, dass die Bundesrepublik Deutschland auch fürihr Verhalten im Conterganskandal Verantwortung über-nimmt. Es ist spät, dass der Deutsche Bundestag den El-tern signalisiert: Wir lassen euch und eure Kinder nichtim Stich. Es ist spät, dass wir vor allem auch den Müt-tern Danke sagen, dass sie ein Leben lang so viel Zeitund so viel Kraft und so viel Liebe in das Leben ihrerKinder investiert haben.In den Gesprächen mit den Contergangeschädigten istmir eines ganz besonders deutlich geworden: Das Geldmuss vor allem bei den Betroffenen ankommen. Sie sindes nämlich, die am besten wissen, wozu sie dieses Geldbrauchen. Sie werden mit diesem Geld am sparsamstenumgehen. Sie sind es, die ihr Leben – daran ist uns allengelegen – ohne Bevormundung führen sollen. Deswegenist es wichtig, dass 90 Millionen Euro der 120 MillionenEuro als monatliche Renten direkt an die Betroffenen ge-hen. Keine Töpfe! Keine Anträge! Keine Diskussionen!Keine Bürokratie! Diese Entscheidung ist wichtig undrichtig gewesen!
Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu den Ein-wänden, insbesondere der Fraktion Die Linke, gegen un-seren Gesetzentwurf machen. Das gilt im Übrigen auchfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Aber, HerrKollege, Sie haben eigentlich ganz vernünftig geredet.Vielleicht sprechen wir noch einmal miteinander da-rüber, ob Sie sich an diesem Gesetzentwurf der dreigrößten Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP beteiligen.Das Thema ist zu wichtig, als dass wir uns parteipoli-tisch verhakeln.Ich möchte an die Adresse des Kollegen Seifert sa-gen: Wenn wir das jetzt nicht schnell machen, dann wirddas wieder nichts. Ich werde nicht zulassen, dass dieseSache der Diskontinuität anheimfällt. Wir müssen dieseSache in dieser Legislaturperiode angehen und nicht zer-reden. Das ist der entscheidende Punkt.
Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Dr. Ilja Seifert?
Selbstverständlich.
Lieber Herr Kollege Strobl, wir sind uns doch alle ei-
nig, dass wir diese Sache in dieser Legislaturperiode
über die Runden bringen wollen; ganz klar. Ich hatte Ih-
nen deshalb vorhin vorgeschlagen: Lassen Sie uns ge-
meinsam und feierlich erklären, dass wir alles dafür tun
werden, dass das Gesetz am 1. August 2013 in Kraft tre-
ten kann. Aber das ändert doch nichts an der Tatsache,
dass wir bis Juni Zeit haben. Wir brauchen hier nicht die
Zustimmung des Bundesrates. Wir können den Gesetz-
entwurf hier abschließend beraten und vorher eine ver-
nünftige Anhörung durchführen, bei der das Prinzip
„nichts über Contis ohne Contis“ tatsächlich umgesetzt
wird.
Das ist das Einzige, was ich vorgeschlagen habe. Das
würde das ganze Verfahren ein kleines bisschen, um
zwei oder drei Wochen, hinauszögern. Aber in diesen
zwei oder drei Wochen können wir gründlich arbeiten
und dabei in Erfahrung bringen, was die Betroffenen
wirklich wollen, ob es ihnen reicht, eine hohe Rente zu
bekommen, oder ob auch andere Dinge wichtig sind. Um
nichts anderes habe ich gebeten. Nichts anderes habe ich
vorgeschlagen. Keinerlei Verzögerungstaktik! Im Ge-
genteil: Das Ganze soll so schnell wie möglich, aber
auch so gründlich wie möglich gemacht werden. Was ist
das Problem?
Kollege Seifert, Sie sagen zunächst einmal, wirbrauchten noch eine Anhörung. Ich habe kürzlich meh-rere Stunden an einer Anhörung zu diesem Thema teil-genommen. Dort waren einige Hundert Contergange-schädigte, dort waren Wissenschaftler, die die Problemevorstellten. Die Anhörung war sehr beeindruckend. Ichmuss Ihnen sagen: Mir ist in der Sache ziemlich klar,was zu tun ist. Selbstverständlich sind Sie herzlich ein-geladen, sich in das Gesetzgebungsverfahren einzubrin-gen. Selbstverständlich kann man auch über Detailssprechen. Ein Gesetzgebungsverfahren ist dazu da,Dinge zu verändern, selbstverständlich.Es geht aber nicht, dass wir uns in den Diskussionenin irgendwelchen Details verhaken; denn dann wird esmit dem Gesetz in dieser Legislaturperiode nichts mehr.Mit guten Absichtserklärungen ist den Geschädigtennicht geholfen. Wenn wir die Gesetzgebung jetzt nicht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28461
Thomas Strobl
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abschließen, ist eine Rückwirkung zum 1. Januar 2013nicht mehr möglich. Deswegen geben wir jetzt Gas undbekommen etwas Vernünftiges hin. Sie sind selbstver-ständlich herzlich eingeladen, mitzumachen.
Ich möchte ein bisschen an Ihr soziales Gewissen ap-pellieren. Lassen Sie diese parteitaktischen Verzöge-rungsspielchen. Lassen Sie uns ein gemeinsames Zei-chen setzen, dass wir fähig sind, diese Sache miteinanderzu einem guten Ende zu bringen.Es ist ganz einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen:Wenn die Linken und die Grünen nicht mitmachen, dannist das schade, aber dann machen wir es eben ohne sie.Dann setzen CDU/CSU, SPD und FDP ein gemeinsamesZeichen: ein Zeichen für eine neue Zeit für die conter-gangeschädigten Menschen und ihre Familien und auchein Zeichen für ein bisschen mehr Menschlichkeit in die-sem Land.
Kollege Thomas Strobl war der letzte Redner in unse-
rer Aussprache, die ich damit schließe.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12678 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
haben wir gemeinsam die Überweisung so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 6 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftli-
cher Spaltung – Bilanz nach 10 Jahren Agenda
2010
– Drucksache 17/12683 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da-
mit einverstanden. Dann haben wir dies so beschlossen.
Ich eröffne nun die Aussprache. Erste Rednerin in un-
serer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Frau Katja Kipping. Bitte schön, Frau Kollegin
Katja Kipping.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! ZehnJahre Agenda 2010: Für die SPD ist das ein Grund undAnlass zum Feiern. Wir als Linke fanden, das ist vor al-len Dingen ein Anlass, das Gespräch mit denjenigen zusuchen, die von den Folgen betroffen sind. Deswegenwaren wir beim Jobcenter, und deswegen waren BerndRiexinger und ich bei einem Weddinger Verein, der sichum die Menschen kümmert, die von Armut betroffensind.Der Vereinsvorsitzende sagte zum Schluss, als ich ihnfragte, was er mir für den Bundestag mitgeben möchte,einen bemerkenswerten Satz. Er sagte: Man kann Ver-besserungen nur erreichen, wenn man bereit ist, für dieFehler, die man gemacht hat, einzustehen.
Man muss bereit sein, für die Fehler, die man gemachthat, einzustehen: Das sind die Worte eines Mannes, derin seiner alltäglichen ehrenamtlichen Arbeit mit denAuswirkungen von Hartz IV und der Agenda 2010 zutun hat. Ich finde, das sollte sich die SPD zu Herzen neh-men.
Doch wie sieht es die SPD? Der SPD-VorsitzendeGabriel spricht davon: Die Agenda 2010 war ein großerErfolg. – Schauen wir uns doch einmal an, worin dergroße Erfolg von Agenda 2010 und Hartz IV besteht.Um nur einen Bereich zu nehmen: In der gesetzlichenKrankenversicherung sind seit der Agenda 2010 immermehr Lasten auf den Schultern der gesetzlich Versicher-ten abgeladen worden. Leistungen wie Brillen und Kran-kenfahrten wurden abgeschafft, und die Zuzahlungenwurden immer mehr nach oben geschraubt.Seit dem Jahr 2004 sind insgesamt 120 MilliardenEuro auf den Schultern der gesetzlich Versicherten abge-laden worden. Das nennt die SPD einen Erfolg. Ichfinde, das ist eine Sauerei. Wir als Linke meinen ganzklar, die Zuzahlungen müssen gestrichen werden, undwir wollen den Einstieg in eine solidarische Bürgerin-nen- und Bürgerversicherung.
Zur Bilanz der Agenda 2010 gehört auch, dass dieRenten gesunken sind. Um das an einer Zahl zu verdeut-lichen: Die Renten für langjährig Versicherte sind durch-schnittlich von 1 021 auf 953 Euro im Monat gesunken.Auch die Reallöhne – das sind die Löhne gemessen ander Kaufkraftentwicklung – sind zwischen 2005 und2010 um 5 Prozent gesunken. Am stärksten betroffensind die unteren Einkommensschichten.Also halten wir fest: Die Agenda 2010, erfunden vonRot-Grün, fortgesetzt von der Großen Koalition unddann von Schwarz-Gelb, ist vor allen Dingen eins: einAngriff auf die Mittelschichten und auf die Rechte vonErwerbslosen, mit einem Ziel, nämlich den Reichen undManagern zu gefallen.
Jetzt greift die SPD in ihrem Wahlprogramm wiedersoziale Fragen auf. Aber ich muss sagen: Was jetzt in Ih-rem Wahlprogramm steht, liebe Sozialdemokratinnenund Sozialdemokraten, steht in einem logischen Wider-spruch zum Abfeiern der Agenda 2010. Durch Ihr Feiern
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28462 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Katja Kipping
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der Agenda 2010 beweisen Sie nur eins: Ihr Wahlpro-gramm ist nicht das Papier wert, auf dem es gedrucktwurde.
Zur Bilanz der Agenda 2010 gehört auch, dass die Ar-beitslosenversicherung quasi pulverisiert wurde. Nur nochjeder vierte Erwerbslose bekommt überhaupt Arbeitslo-sengeld I. Diejenigen, die auf Arbeitslosengeld II ange-wiesen sind, sind in das System Hartz IV gestürzt wor-den. Das bedeutet für Millionen Menschen Armut undSchikane per Gesetz.Wir als Linke sagen klar: Wir wollen Hartz IV durcheine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzen. Die An-hebung des Regelsatzes auf 500 Euro und die Abschaf-fung der Sanktionen sind erste wichtige Schritte dahin,
zumal viele dieser Sanktionen widerrechtlich verhängtwerden. Davon zeugen die hohen Erfolgsquoten zumBeispiel bei Klagen. Mehr als der Hälfte aller Klagen ge-gen Sanktionen wird stattgegeben. Vor diesem Hinter-grund halte ich den geplanten Angriff auf die Prozess-kostenhilfe für ein besonderes Problem.
Wer die Prozesskostenhilfe abschaffen will, der sollgleich sagen, dass er den Rechtsstaat nur für die Reichenwill. Wir als Linke meinen ganz klar: Dieser Angriff aufdie Prozesskostenhilfe ist ein Angriff auf den Rechts-staat. Wir wollen, dass sich Arme wie Reiche für ihreRechte einsetzen können.
Die Agenda 2010 wurde eingeführt mit der Behaup-tung, es gebe einen Reformstau. Dazu sagen wir alsLinke ganz klar: Es gibt keinen Reformstau; es gibt ei-nen Gerechtigkeitsstau. Wenn jetzt Rufe nach einerAgenda 2020 laut werden, sagen wir: Was wir wirklichfür das Jahr 2020 brauchen, ist eine „Agenda Sozial“,das heißt statt Hartz IV Mindestsicherung, Mindestlohnund Mindestrente.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in
unserer Aussprache ist für die Fraktion von CDU/CSU
unser Kollege Dr. Carsten Linnemann. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Linnemann.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lassen Sie mich vorausschicken, dass wir trotz mancherSchieflagen – auf diese werde ich gleich noch eingehen –,die wir zum großen Teil behoben haben, und trotz man-cher Komplikationen der Meinung sind, dass die Agenda2010 in der Sache richtig war. Den Menschen geht esheute, im Jahre 2013, besser, Frau Kipping, als noch vorzehn Jahren.
Ich möchte aber auch nicht den Eindruck erwecken,dass die Agenda 2010 maßgeblich dafür verantwortlichist, dass es uns heute besser geht. Es gibt vor allenDingen zwei große andere Punkte, die man in diesemZusammenhang ansprechen muss und die gerade mit derUnion verbunden sind. Der erste Punkt ist die duale Aus-bildung. Viele in Europa haben sich in der Vergangen-heit über uns lustig gemacht und gesagt: Die Auszubil-denden gehen ja zweimal in der Woche in dieBerufsschule. Das ist ja wie Schule. – Als wir, die Mit-glieder des Arbeitsausschusses, kürzlich in Spanien wa-ren, kam in jedem Gespräch, das die Spanier mit uns ge-führt haben, die duale Ausbildung zur Sprache. DieSpanier wollen dieses System kopieren, und wir helfengerne dabei. Wir wollen auf jeden Fall am dualen Sys-tem festhalten.Der zweite Punkt, der neben der Agenda 2010 wichtigist – auch das sollte einmal angesprochen werden –, istdie Tatsache, dass es die Union war, die am industriellenKern Deutschlands festgehalten hat.
25 Prozent der Bruttowertschöpfung findet bei uns in derIndustrie statt. In Frankreich ist es nur die Hälfte. ÜberGroßbritannien und insbesondere über London als zen-tralem Platz für Finanzdienstleister möchte ich erst garnicht reden.
Aber nun zur Agenda 2010. Die Stoßrichtung warrichtig. Vier Fraktionen im Deutschen Bundestag habenim Grundsatz Ja zum Prinzip „Fördern und Fordern“ undzur Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosen-hilfe gesagt. Wir hatten damals das gleiche Ziel: sichererWohlstand und sicherer Sozialstaat. Heute, zehn Jahrespäter, ist festzustellen, dass wir das nicht nur damalskonstruktiv begleitet, sondern bis heute fortgeführt ha-ben. Die Zahlen sind absolut eindrucksvoll und sprechenmeiner Meinung nach Bände. 41,5 Millionen Menschenin Deutschland sind erwerbstätig.
Im Moment gibt es 1 Million offene Stellen. Die Ar-beitslosigkeit, auch die Sockelarbeitslosigkeit, ist signi-fikant gesunken. Die Erwerbstätigenquote Älterer istgut. Ich glaube, hier liegen wir an zweitbester Stelle inEuropa. Die Situation bei der Jugendarbeitslosigkeit istsehr gut. 93 Prozent der Jugendlichen in Deutschland ha-ben einen Job. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist unter derRegierung von Angela Merkel und mit einer Bundes-arbeitsministerin Frau von der Leyen um 40 Prozent zu-rückgegangen. Damit ist auch die Zahl der Kinder, dieim Hartz-IV-Bezug leben, um 40 Prozent gesunken.
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Dr. Carsten Linnemann
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– Entschuldigung, um 260 000, Herr Kurth. – Man kanndas alles schlechtreden.
Man kann aber auch einmal sagen: Das sind gute Daten.Diese Koalition hat gute Arbeit geleistet. Wir freuen uns,dass es so ist.
Natürlich gibt es immer Schieflagen und Menschen,die zu Recht sagen: Hier und da geht es nicht gerecht zu.– Davor darf man auch nicht die Augen verschließen.Ich nenne Ihnen nur drei Beispiele, die deutlich machen,wo diese Koalition angesetzt hat, um Schieflagen zu be-seitigen.Wir haben schon damals gesagt, dass Zeitarbeit nurdazu dienen darf, Auftragsspitzen zu bewältigen sowieLangzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten den Ein-stieg in reguläre Beschäftigung zu ermöglichen. WennFirmen dieses Konzept ausnutzen, Mitarbeiter rauswer-fen und die gleichen Mitarbeiter über die Zeitarbeit wie-der ins Unternehmen holen, dann ist das schlicht nichtgesetzeskonform. Wir haben ein Gesetz gemacht. So et-was ist jetzt verboten und findet nicht mehr statt.Ein weiteres Beispiel: die Hinzuverdienstmöglichkei-ten. Wir haben gesagt: Wenn es junge Menschen gibt,die in einem Ferienjob gern etwas dazuverdienen wol-len, dann sollen sie das auch behalten; es wird nicht an-gerechnet.
Ein weiteres Beispiel: der Bundesfreiwilligendienst.Wir haben gesagt: Wenn jemand freiwillig mitmachenwill, dann soll er das Geld auch zum großen Teil behal-ten.
– Nein, Frau Kipping. – Ich möchte an dieser Stelle ein-fach nur sagen: Man bekommt die absolute Gerechtig-keit nicht hin. Aber dort, wo Schieflagen sind, haben wirdas angepackt; ich habe die Beispiele gerade genannt.
Wenn Sie eine Neiddebatte wollen und in Ihrem An-trag davon sprechen, dass Sie Einkommen mit einemSteuersatz von 75 Prozent besteuern wollen, dann kannich Ihnen nur sagen: Wir haben in Deutschland kein Ein-nahmeproblem; wir haben ein Ausgabenproblem. DieMenschen wollen, dass wir mit den Steuergeldern ver-nünftig umgehen. Wir haben noch nie so hohe Steuerein-nahmen gehabt wie im Moment. Es ist Herr Schäublegewesen, der gestern gesagt hat: Im Jahr 2015 bekom-men wir nach 40 Jahren wieder einen ausgeglichenenHaushalt hin. – Dahin muss es gehen! Mut! Nach vorn!Keine Neidgesellschaft! Wir müssen den jungen Men-schen sagen: Ihr habt alle Chancen der Welt. Strengteuch an! Die Welt steht euch offen. – Das begleiten wir.Gleiche Chancen für jedes Kind, egal aus welchem El-ternhaus!Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Linnemann. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte
schön, Kollege Hubertus Heil.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Es ist tatsächlich heute zehn Jahre her, dass der da-malige Bundeskanzler Gerhard Schröder von diesemPult aus eine Regierungserklärung abgegeben hat. Eslohnt sich übrigens, die noch einmal insgesamt nachzu-lesen. Sie stand unter dem Motto „Mut zum Frieden undMut zur Veränderung“. Es war übrigens die Regierungs-erklärung – daran seien Sie in der Union erinnert –, inder er das klare deutsche Nein zum Irakkrieg klarge-macht hat –
in einer Zeit, in der es von Frau Merkel noch sehr peinli-che Ergebenheitsadressen gegenüber George Bush gege-ben hat; aber das nur am Rande.Wir diskutieren hier über den innenpolitischen Teil,über die Reformpolitik, die damals begonnen wurde. Indieser Debatte, an dem, was Frau Kipping und HerrLinnemann gesagt haben, stört mich vor allen Dingeneines: die Unfähigkeit zur Differenzierung. Weder einerosarote Brille noch eine Verelendungsdebatte helfen unsweiter, wenn es darum geht, festzustellen: Was hat sichin den letzten zehn Jahren getan?Ich bleibe dabei: Wenn man die Agenda 2010, dasReformprogramm insgesamt, sieht, wenn man zum Bei-spiel in Erinnerung hat – Frau Kollegin Kipping, Sie ver-drängen das gern, weil das nicht in Ihr Weltbild passt –,dass Teil der Agenda 2010 auch ein 4 Milliarden Euroschweres Ganztagsschulprogramm war,
dass es beispielsweise auch darum ging, die Bundes-agentur für Arbeit besser aufzustellen – sie ist heute bes-ser aufgestellt –,
wenn man etwas über die Vorgeschichte und die wirt-schaftliche Situation weiß, in der wir damals waren,
dann erklärt sich das eine oder andere.
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Hubertus Heil
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Katja Kipping hat darum gebeten – das war die Nach-richt, die sie gegeben hat –, dass wir einräumen, wo wirgeirrt haben, wo es Fehlentwicklungen gab. Ich kommegleich dazu.Aber dem Grunde nach will ich eines ins Gedächtnisrufen: Wo standen wir 1998? 1998, nach 16 JahrenHelmut Kohl, hatte sich in der Bundesrepublik Deutsch-land ein Reformstau aufgebaut.
Tatsache war, dass viele Langzeitarbeitslose, die damalsin der Sozialhilfe waren, den Kommunen sozusagen vordie Tür gekippt wurden. Die sozialen Sicherungssystemewaren durch die Beitragsentwicklung, weil die deutscheEinheit falsch finanziert war, am Rande der Handlungs-fähigkeit.
Wir haben dann 1998 angefangen. Wir haben erst ein-mal versucht, das im guten deutschen System, im Kon-sens – im Konsens! –, nämlich über ein Bündnis für Ar-beit mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, zumachen. Man muss einräumen, dass dieser Versuch nichtgeklappt hat, weil die Interessengegensätze damals – üb-rigens im Gegensatz zu heute, wo in der WirtschaftskriseKooperation zwischen Wirtschaft und Gewerkschaftenstattfand, wo Sozialpartnerschaft wieder höhere Wert-schätzung erfährt – zu groß waren. Dieses Bündnis fürArbeit ist gescheitert, nicht an der Bundesregierung, son-dern an Interessengegensätzen, die nicht überwindbarwaren. Die Debatte war von Verbandsdenken geprägt.Können Sie sich an Hans-Olaf Henkel erinnern, der da-mals durch jede Talkshow lief?Dann war zu entscheiden, weil sich die Lage damals,nach dem Platzen der Dotcom-Blase, verschärfte undwir in Deutschland auf einmal 5 Millionen Arbeitslosehatten. Deshalb haben wir angefangen.Jetzt sage ich Ihnen: Aus heutiger Perspektive gibt eszwei, drei Fehlentwicklungen, die wir dringend korrigie-ren müssen. Frau von der Leyen, ich habe heute Ihre Äu-ßerungen gelesen. Ich bin ganz vorsichtig, aber ich kannmich erinnern, dass Sie 2003 ein anderes Amt hatten. Siewaren damals frisch gebackene Arbeits- und Sozial-ministerin in unserem Land, Niedersachsen. Im Übrigenhaben Sie in dieser Funktion damals wesentliche Teileder Agenda 2010, zum Beispiel das Tagesbetreuungs-ausbaugesetz, blockiert. Außerdem haben Sie über denVermittlungsausschuss mitgeholfen, dass vor allem auchdie Arbeitsmarktgesetzgebung betreffende Punkte in dieAgenda 2010 hineingekommen sind, die sich am Endeals Fehlentwicklung erwiesen haben.Wir haben damals beispielsweise gesagt, dass wir dieZumutbarkeitskriterien auf die Tariflöhne abstellen wol-len. Im Vermittlungsausschuss saßen damals Frau vonder Leyen, Herr Stoiber, Herr Koch, Herr Wulff und wiesie alle hießen, die dagegen waren.
Das meine ich mit den Fehlentwicklungen, die wirheute haben. Diese Fehlentwicklungen zeigen sich amArbeitsmarkt. Wir brauchen eine neue Ordnung am Ar-beitsmarkt. Aus heutiger Perspektive wäre es 2003 ver-nünftig gewesen, einen gesetzlichen Mindestlohn ein-zuführen. Ich will nur darauf hinweisen, dass in derdamaligen Diskussion ein Mindestlohn bis auf die Ge-werkschaften NGG, Verdi, IG BAU – auch von großenIndustriegewerkschaften – eher abgelehnt wurde.Mit Verlaub, es waren auch einige Kolleginnen undKollegen von Bündnis 90/Die Grünen dagegen. KollegeKurth war damals dafür.
Ich war auch dafür. Es gab aber auch andere – um daseinmal freundlich zu formulieren.Heute wissen wir, wie wichtig der gesetzliche Min-destlohn in Deutschland ist, damit Menschen, die hart ar-beiten, von ihrer Arbeit leben können. Seit 2005 erlebenwir aber, dass die Einführung eines gesetzlichen Min-destlohns, der diesen Namen auch verdient, an CDU/CSU und FDP in diesem Land scheitert. Das müssen wirändern.
Schauen wir uns einmal an, welche Fehlentwicklun-gen es noch gegeben hat. Zur Differenzierung gehörtauch, sich selbstkritisch mit dem auseinanderzusetzen,was nicht gut gelaufen ist. Dies betrifft den massivenMissbrauch im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung,im Bereich der Zeit- und Leiharbeit. Damals ist im Ar-beitnehmerüberlassungsgesetz ein Schlupfloch entstan-den, das inzwischen scheunentorweit geöffnet wurdeund das zu Missbrauch geführt hat.Ich bleibe dabei: Arbeitnehmerüberlassung machtSinn, um bei Unternehmen Arbeitsspitzen aufzufangenund Flexibilität zu schaffen. Daraus geworden ist aller-dings ein Einfallstor für Lohndrückerei.
Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass „gleicher Lohn fürgleiche Arbeit“ gilt, dass es Höchstüberlassungsdauerngibt, dass die Mitbestimmungsrechte in diesem Bereichgestärkt werden und dass das Synchronisationsverbotwieder eingeführt wird.Das sind zwei zentrale Baustellen, an denen Verände-rungen notwendig sind.Da Sie jetzt schwadronieren, sage ich Ihnen aberauch, Frau von der Leyen: In den vergangenen vier Jah-ren haben Sie ohne unsere Hilfe gar nichts hinbekom-men. Wir mussten mithelfen, dass es bei der Jobcenter-reform zu einer Lösung kam. Außerdem mussten wir Siebei den Regelsätzen treiben, damit es zu einer Lösungkam.
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Ich sage Ihnen darüber hinaus ganz deutlich: Die Fragendes Arbeitsmarktes und der Wirtschaft in Deutschlandder vergangenen zehn Jahre sind nicht die der nächstenzehn Jahre. Wir haben jetzt eine Entwicklung, die manals Gefahr eines tief gespaltenen Arbeitsmarkts beschrei-ben kann. Immer mehr Unternehmen werden aufgrundder demografischen Entwicklung am Arbeitsmarkt qua-lifizierte Fachkräfte suchen. Auf der anderen Seite gibtes nach wie vor viel zu viele langzeitarbeitslose Men-schen, aber auch Menschen, die sich in prekären Be-schäftigungsverhältnissen befinden und somit abgehängtworden sind.Wir müssen mehr tun für die Vereinbarkeit von Berufund Familie.Frau von der Leyen, wenn Sie sich hier hinstellen undwortreich erklären, dass Sie in Zeiten der Großen Koali-tion das, was die SPD durchgesetzt hat, auch umgesetzthaben, dann sage ich dazu: Das mag stimmen. Aber Siegehören nach wie vor einer Regierung an, die übrigensnicht gegen Ihren Widerstand, sondern mit Ihrer Unter-stützung – vielleicht gegen Ihre eigene Überzeugung;das will ich unterstellen – ein idiotisches Betreuungsgeldausreicht mit allen Folgen, die das für den Arbeitsmarkthat.Wenn wir das Thema der Fachkräftesicherung ernstnehmen, dann müssen wir dafür sorgen, dass vor allenDingen Frauenerwerbsbeteiligung in Vollzeit in diesemLand zum Zuge kommt.
Dass Frau Schröder dieses Thema jetzt entdeckt hat,ist schön. Aber es gilt auch in diesem Fall, Frau von derLeyen: Nicht reden, sondern handeln. Mit diesem idioti-schen Betreuungsgeld handeln Sie aber in die falscheRichtung. Die Mittel dafür brauchen wir, um mehr inBildung investieren zu können.Durch diese Entwicklung stellen sich ganz neue He-rausforderungen. Mit der Agenda 2010 haben wir – dieFehler habe ich eingeräumt – dem Grunde nach eine Si-tuation geschaffen, in der Deutschland in den Jahren2008 und 2009 besser aufgestellt durch die Krise gekom-men ist als andere Volkswirtschaften, die heute unter un-gemein schwierigeren Bedingungen Strukturreformenvor sich haben.Nur, meine Damen und Herren von der Koalition, ei-nes vergessen Sie, wenn Sie heute wortreich von Struk-turreformen in anderen Ländern reden, abgesehen da-von, dass Sie selbst noch gar keine hinbekommen haben:Unsere Strukturreformen waren keine Kürzungspro-gramme. Unsere Strukturreformen waren an Investitio-nen gekoppelt. Ich habe auf 4 Milliarden Euro für dasGanztagsschulprogramm hingewiesen. Wenn man Struk-turreformen macht, ist es notwendig, dass gleichzeitiginvestiert wird. Diesen volkswirtschaftlichen Zusam-menhang haben Sie nicht gelernt.Meine Damen und Herren von der Linkspartei, ichweiß, dass Sie das nicht einsehen werden. Dennochwerde ich Ihnen das noch einmal deutlich machen: Wennwir damals nicht gehandelt hätten und in den Jahren2008 und 2009 die Krise ohne diese Reformen erlebthätten, dann wäre kein Geld für veränderte Regelungenzur Kurzarbeit da gewesen, die dazu beigetragen haben,Beschäftigung in Deutschland zu sichern. Dann wärenuns die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland umdie Ohren geflogen. Wir haben damals gesagt: Wir müs-sen selbst modernisieren, oder wir werden überrannt. –Das ist der Grund, meine Damen und Herren. Es ist keinGrund, stolz zu sein, und wir feiern es auch nicht, weilviele Menschen es persönlich als Härte erlebt haben undes Fehlentwicklungen gegeben hat; das gehört auch zurWahrheit. Natürlich hat meine Partei dafür einen bitterenPreis gezahlt: Wir haben über diese AuseinandersetzungWahlen verloren.Wir haben aber in den letzten vier Jahren die Zeit ge-nutzt, um unsere Fehler aufzuarbeiten und uns nachvorne auszurichten. Deshalb sage ich: Es geht nichtmehr um die Agenda 2010. Jetzt geht es um die Frage,wie es in Deutschland weitergeht. Da stehen wir Sozial-demokraten für einen klaren Grundsatz: Für uns sindwirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit zweiSeiten derselben Medaille.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege Hubertus Heil. – Nächster
Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Heil, Ihre Rede hat noch einmal sehr an-schaulich deutlich gemacht, wie schwer sich Sozialde-mokraten immer noch mit dem Thema Agenda 2010 tun,
auch wenn Sie sich hier sehr nachdenklich gegeben ha-ben. Ich will Ihnen einmal sagen, woran das liegt. IhrParteivorsitzender, Sigmar Gabriel, wird in diesen Tagenmit Sätzen wie diesen zitiert:Wir können sehr stolz auf die Agenda 2010 sein. …Ich habe schon immer darauf hingewiesen, dass dieAgenda 2010 eine große historische Leistung ist,von der wir heute profitieren.Das sagt Sigmar Gabriel, der bei der Agenda 2010 alsAbrissunternehmer unterwegs ist
und bei diesem nach Ihrer Aussage so großen Reform-werk wirklich keinen Stein auf dem anderen lassen will.Wissen Sie, Herr Hubertus Heil, einer, der so agiert,kommt mir vor wie ein Vater, der feiertags gerne den
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Dr. Heinrich L. Kolb
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stolzen Papa geben will und werktags nicht müde wird,zu betonen, wie dumm und hässlich doch das Kind ist.So einer ist unglaubwürdig, und genau das ist auch dasProblem der SPD; das muss man hier sehr deutlich sa-gen.
Ich will einen zweiten Punkt anführen. Frank-WalterSteinmeier bezeichnet die Agenda 2010 als „das wohltiefgreifendste und erfolgreichste … Reformprogrammin der Geschichte der Bundesrepublik“.
Dem ist zu widersprechen, Herr Heil.
Der wesentlichste und umfangreichste Reformanstoß inder Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurdevor mehr als 30 Jahren mit dem damaligen Lambsdorff-Papier gegeben. Das war wirklich ein Reformprogramm,das weit über das hinausging, was damals Standard inder deutschen Politik gewesen ist. Es hat mit einerwachstums- und leistungsfördernden Haushaltspolitik,mit investitionsfördernden Steuermaßnahmen, mit einerKonsolidierung der sozialen Sicherung
sowie beschäftigungsfördernden sozial- und arbeits-marktpolitischen Ansätzen und vor allen Dingen einerPolitik für Marktwirtschaft, Wettbewerb und wirtschaft-licher Selbstständigkeit einen Rahmen aufgezeigt, derwirklich nach vorne wies.
Zu Recht hat Otto Graf Lambsdorff damals gesagt – ichzitiere –:Diese Überlegungen gehen über den konventionel-len Rahmen der bisher als durchsetzbar angesehe-nen Politik hinaus. … Die Entwicklung der Arbeits-losigkeit gebietet es aber, dass die Politik für dieWirtschaft einen neuen Anfang setzt …Das, meine Damen und Herren, sagte damals Otto GrafLambsdorff.So ähnlich ging es auch Ihnen. Bei Lichte besehen, istdie Agenda 2010 nichts anderes als das Ende einer gro-ßen Wahllüge. Rot-Grün hat nämlich damals in der ers-ten Wahlperiode seiner Regierungszeit alle Reformen,die zuvor die Regierung Kohl/Kinkel auf den Weg ge-bracht hatte, zurückgedreht,
um dann nach einiger Zeit feststellen zu müssen, dassSie mit Ihrer verfehlten Politik voll gegen die Wand lau-fen.
Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben dann – derNot gehorchend, nicht dem Triebe – einen radikalenKurswechsel in Ihrer Politik vornehmen müssen.Das ist die Wahrheit, die man zehn Jahre nach derAgenda 2010 einmal in diesem Haus sagen muss.
Mehr war in drei Minuten nicht möglich; aber ich denke,es war erforderlich, dass es hier einmal kundgetanwurde.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Dr. Kolb. – Nächster Redner
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser Kol-
lege Markus Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Esist doch immer wieder interessant, zu sehen, wie Debat-ten um die Agenda 2010 zwischen Überhöhung auf dereinen Seite und tiefer Dämonisierung auf der anderenSeite pendeln, wenn man einmal die Rede von HubertusHeil ausdrücklich ausnimmt. Ich glaube, wir müssen ein-mal mit ein paar Mythen aufräumen: Das war weder einMasterplan aus einem Guss zum Abbau des Sozialstaatsnoch ein Erlösungsprogramm zur Stärkung der Wett-bewerbsfähigkeit, zu dem man sich fortwährend beken-nen müsste. Wir müssen einfach nüchtern auf die ganzeSache blicken.
Übrigens umfassten die Veränderungen der Sozialge-setze in den Jahren 2002 bis 2004 auch weitaus mehr alsdie unglücklich unter dem Schlagwort „Hartz IV“ be-kannt gewordene Zusammenlegung der Arbeitslosen-und Sozialhilfe.Was war die Ausgangslage? Im Abschwung 2002/2003traten einerseits die strukturellen Schwächen im Systemder sozialen Sicherung stärker zutage. Gleichzeitig wur-den auch die Verteilungskämpfe härter; Hubertus Heilhat es angesprochen. Von Arbeitgeberseite bzw. den An-teilseignern der Unternehmen wurde die Auseinander-setzung sehr aggressiv geführt, da ja ihre Gewinnesanken. Es war also keine einfache Ausgangslage fürReformen.Zwei Beispiele. Einerseits war offensichtlich, dassdas Nebeneinander von Sozialhilfe und Arbeitslosen-hilfe zu Verschiebebahnhöfen zulasten der Betroffenen
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Markus Kurth
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geführt hatte, andererseits war ebenso offensichtlich– das war auch uns Grünen immer klar –, dass bei einemReformprozess der Zusammenlegung die Kräfte Mor-genluft wittern würden, die faktisch nur eine Abschaf-fung der Arbeitslosenhilfe wollten.Oder Bereich Gesundheit. Es war klar, dass zum Bei-spiel die Entwicklung der Arzneimittelkosten aus demRuder läuft, dass zahlreiche teure Medikamente ungeöff-net einfach im Müll landeten und dass es dringend einerexternen Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle imGesundheitswesen bedurfte.Auch aus unserer Sicht bestand natürlich stets das Ri-siko, dass diejenigen einen notwendigen Reformprozesskapern, die nichts als eine einseitige Lastenverschiebungzuungunsten der Versicherten und der Arbeitnehmerbei-träge wollten. Das könnte man jetzt auch noch durchde-klinieren. Aber hätte man angesichts des Zeitgeistes undauch des – ich nenne es einmal so – neoliberalen Trom-melfeuers, das dort veranstaltet wurde, von vornhereinauf Veränderungen verzichten und nur in der Defensiveverharren sollen?Wir haben uns durchaus für ein Risiko entschieden,und wir haben auch einiges erreicht: im Gesundheitsbe-reich zum Beispiel das Institut für Qualität und Wirt-schaftlichkeit im Gesundheitswesen. Wir haben Patien-tenbeteiligung in dem sogenannten GemeinsamenBundesausschuss, den Nachhaltigkeitsfaktor in der ge-setzlichen Rentenversicherung und nicht zuletzt dieStrukturentscheidung für die Zusammenlegung von Ar-beitslosen- und Sozialhilfe mit dem Ziel einer einheit-lichen Grundsicherung mit einer Unterstützungsinfra-struktur erreicht.Aber wir sind natürlich in Situationen geraten, in de-nen wir – das erkennen wir klar an – auch Fehler ge-macht haben, und wir sind in Situationen geraten, in de-nen wir uns gegen – man muss es schon so hart sagen –reaktionäre Kräfte auch nicht durchsetzen konnten. DiePraxisgebühr, die Sie wieder abgeschafft haben, habenwir etwa Horst Seehofer zu verdanken.
Wir haben den Niedriglohnsektor der unseligen Rollezu verdanken, die Roland Koch im Vermittlungsaus-schuss gespielt hat.
Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen
Dr. Kolb?
Ja, gerne.
Herr Kollege Kurth, Sie sagen ja, dass Sie sich gegen
reaktionäre Kräfte nicht durchsetzen konnten. Mich inte-
ressiert in diesem Zusammenhang, dass der Kollege
Trittin vor wenigen Tagen gesagt hat, dass die Grünen
damals einen Mindestlohn bei der Zeitarbeit wollten,
aber die SPD das verhindert hätte. Kann man das unter
diesen Begriff auch subsumieren?
Es gab eine lebhafte Debatte um die Zumutbarkeits-
regelung. Daran erinnern Sie sich vielleicht noch.
– Nein, es ging ja allgemein um den Mindestlohn.
– Seien Sie doch bitte still, Frau Kramme.
Wenn immer nur einer reden würde, könnten wir zu-
hören.
Es ging im Sommer 2003 um die Frage: Ist wirklichjeder Job zumutbar oder eben nur derjenige, der entwe-der nach Tariflohn bezahlt wird oder, wenn kein Tarif-lohn da ist, nach ortsüblichem Lohnniveau? Rot-Grünhat sich dafür entschieden, den Tariflohn oder das orts-übliche Lohnniveau zum Maßstab zu machen. Das warder Stand Sommer 2003. Dann ist dieses Gesetz in denVermittlungsausschuss gekommen. Dort ist diese Rege-lung wieder gestrichen worden, und zwar auf Betreibenvon Roland Koch und auch auf Betreiben der FDP-Ver-treter, die dort waren.
Da ich mir dachte, dass Sie die Frage stellen würden,habe ich extra die Financial Times Deutschland vom18. Dezember 2003, vom Vortag der Verabschiedung dersogenannten Hartz-IV-Gesetze, mitgenommen. LesenSie die Überschrift selbst: „Grüne verlangen Zusagen fürMindestlöhne“.
Da wird ein gewisser Markus Kurth zitiert.In der Tat ist es so – Herr Heil hat es angesprochen –:Es gab natürlich auch bei den Sozialdemokraten und teil-weise auch bei den Grünen Leute, die das damals andersgesehen bzw. nicht anerkannt haben, die in dieser Frageauf die IG Metall bzw. andere große Industriegewerk-schaften gehört haben. Die haben aber sehr schnell er-kannt – nachdem ein, zwei Jahre später absehbar war,
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Markus Kurth
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wie der Niedriglohnsektor wächst –, dass man dagegen-halten muss.
Herr Kollege Kurth, gestatten Sie auch eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Hubertus Heil?
Ja.
Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.
Lieber Markus Kurth, ich frage, weil wir versuchen
wollen, den Kollegen Kolb gemeinsam aufzuklären.
– Ich sagte ja „versuchen“. Man soll es nie aufgeben. Im
Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als
über 99 Gerechte, habe ich als ordentlicher evangeli-
scher Christ einmal gelernt.
Tatsächlich ging es damals nicht um die Zeitarbeit,
Herr Kollege Kolb.
Sie wollten eine Frage stellen.
Entschuldigung, ich glaube, nach der Geschäftsord-
nung darf man auch eine Bemerkung machen, Herr Prä-
sident.
Aber ich kann sie in Frageform kleiden.
Gehe ich recht in der Annahme, Herr Kollege Kurth,
dass damals drei Einzelgewerkschaften, nämlich NGG,
Verdi und IG BAU, für den Mindestlohn waren – die
großen Industriegewerkschaften noch nicht –, mittler-
weile aber die Gewerkschaften in ihrer Gesamtheit für
den gesetzlichen Mindestlohn sind – und wir auch –, und
dass es schon damals einzelne Abgeordnete wie den
Kollegen Kurth und den Kollegen Heil gab, die für einen
Mindestlohn waren – Olaf Scholz und ein paar andere
übrigens auch –, aber dass beispielsweise Krista Sager
– ich sage das, um Jürgen Trittin ein bisschen daran zu
erinnern – nicht dazugehörte? Ist es nicht eine gute Sa-
che, dass wir gemeinsam relativ schnell gelernt haben,
dass der gesetzliche Mindestlohn in diesem Land not-
wendig ist, und ist es nicht eigentlich ein Drama, dass
die FDP das bis heute nicht begriffen hat?
Kollege Heil, nach meiner Erinnerung ist es so gewe-
sen – ich habe, wie gesagt, alte Zeitungen ausgegraben –,
dass damals noch nicht einmal die IG BAU für einen
Mindestlohn war. Dafür waren damals wirklich nur die
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten als eine sehr
kleine und mit Organisationsproblemen behaftete Ge-
werkschaft und Verdi. Das hatte seinen Grund. Die ande-
ren Gewerkschaften haben allesamt gesagt: Der Tarif-
lohn ist aus unserer Sicht besser als der Mindestlohn. Sie
haben noch nicht gesehen, wie die Kombination mit der
Flexibilisierung der Zeitarbeit im Zusammenhang mit
der veränderten Zumutbarkeitsgrenze wirken würde.
Natürlich gab es damals auch Politiker wie Herrn
Ludwig Stiegler – das ist der mit dem roten Pullunder –,
die eine Zustimmung zu einem gesetzlichen Mindest-
lohn ablehnten. In der Tat gab es auch grüne Politiker,
die an dieser Stelle mehr als skeptisch waren. Das gehört
mit zur historischen Wahrheit.
Es gehört auch zur historischen Wahrheit, dass Folge-
probleme, zum Beispiel die Zahl der Aufstocker, teil-
weise sehenden Auges vom damals verantwortlichen
Minister, dem Darth Vader der Agenda 2010, Wolfgang
Clement, in Kauf genommen wurden. Die entscheidende
Frage aber ist, ob man, wenn man erkennt, dass eine Sa-
che in die falsche Richtung läuft, rechtzeitig die Kraft
und den Mut hat, gegenzusteuern, oder ob man wider
besseres Wissen im Alten verharrt.
Herr Kurth, es gibt den Wunsch nach einer weiteren
Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Kipping.
Möchten Sie diese auch zulassen?
Ich muss ja das ganze Spektrum zum Zuge kommen
lassen. – Bitte schön.
Frau Kipping, bitte.
Werter Kollege Kurth, ich möchte von der Möglich-keit, eine Zwischenbemerkung zu machen, Gebrauchmachen.Die Aufarbeitung der Vergangenheit erinnert ein biss-chen an ein Schwarzer-Peter-Spiel. Man hat das Gefühl:So richtig will es niemand gewesen sein. Ich kann nursagen: Meine Partei war schon damals geschlossen derMeinung, dass es eines Mindestlohns bedarf und dassLeiharbeit ein Problem ist.
Es freut uns sehr, dass sich diese Erkenntnis jetzt aus-weitet. Das zeigt ja, dass links wirkt.
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Katja Kipping
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Da nun immer wieder die historische Wahrheit be-müht wird und alte Zitate herausgekramt werden,möchte ich an ein Zitat aus der Zeit vom 13. November2003 erinnern. Darin hat Herr Steinbrück seine Positionzur sozialen Gerechtigkeit deutlich gemacht. Ich findesie bemerkenswert und glaube, die SPD ist gefragt, deut-lich zu machen, ob sie immer noch dieser Auffassung ist.In der Zeit hat Herr Steinbrück gesagt:Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, einePolitik für jene zu machen, die etwas für die Zu-kunft unseres Landes tun … die Leistung für sichund unsere Gesellschaft erbringen.Jetzt kommt es:Um die – und nur um sie – muss sich Politik küm-mern.Das ist eine Absage an soziale Gerechtigkeit für Men-schen, die man nicht als Leistungsträger einordnen kann.Das ist ein klassisches Steinbrück-Zitat, nachzulesen inder Zeit. Ich finde, auch diese Form einer Absage an so-ziale Gerechtigkeit gehört zur historischen Wahrheit.
Frau Kipping, ich kann irgendwie nicht so richtig er-
kennen, wo jetzt im Kern die Frage an mich persönlich
war. Ich weiß nicht, was ich mit dem Zitat von Herrn
Steinbrück aus dem Jahr 2003 an dieser Stelle anfangen
soll.
Nach meinem Verständnis jedenfalls streben wir mehr-
heitlich eine Politik an, die sich an diejenigen, die im Ar-
beitsleben stehen, und an diejenigen, die außen vor sind,
gleichermaßen richtet. Da wir gerade bei der geschichtli-
chen Aufarbeitung sind: Man muss sagen, dass damals
diejenigen, die vom System ausgeschlossen waren, häu-
fig nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie
hätten bekommen sollen. Damals gab es eine Struktur
mit Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, die verhindert hat,
dass die Sozialhilfeempfänger auf die Regelförderinstru-
mente zugreifen konnten. Auch meine Fraktion wollte,
dass stärker gefördert wird und dass diese Menschen
eine Teilhabemöglichkeit haben. Diese Debatte – das
gebe ich zu – war damals umstritten und sehr vielfältig.
Zum Schluss meines Beitrags möchte ich nach vorne
blicken. Wir möchten den 1,1 Millionen Menschen Teil-
habemöglichkeiten eröffnen, die seit Einführung des
SGB II dauerhaft im Leistungsbezug sind. Diese Regie-
rung hat die Fördermittel mit dem Verweis darauf ge-
kürzt, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen leicht sinkt.
Sie sehen aber nicht, dass diejenigen, die dauerhaft
Arbeitslosengeld II beziehen, eine viel intensivere und
langfristigere Förderung benötigen. Wenn wir das schaf-
fen und wenn wir außerdem vernünftige Garantieele-
mente in die Altersversorgung einführen, um die Konse-
quenzen der Agenda 2010 abzufedern, wenn wir soziale
Bürgerrechte, Mitspracherechte und die Rechtsposition
stärken – die Prozesskostenhilfe ist angesprochen wor-
den –, dann kommen wir zu einem sozialen Fundament,
das für dieses Land auch in Zukunft eine wirtschaftliche
Entwicklung ermöglicht.
Danke.
Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen
Heil das Wort.
Herr Kollege Kurth, ich fühle mich von dem, was Sie
gesagt haben, angesprochen. Ich weiß, dass Sie jemand
waren und sind, der mit seinen Überzeugungen für so-
ziale Gerechtigkeit kämpft. Das kann man unterschied-
lich machen; aber das Bemühen darum sollte man sich
nicht absprechen lassen. Ich will auch der Linkspartei
nicht absprechen, dass Idealismus dahintersteckt, Dinge
zu verbessern. Die spannende Frage ist, ob das mit den
geeigneten Instrumenten geschieht.
Ich kann aber nicht akzeptieren, Herr Kollege Kurth,
dass Sie mit Zitaten konfrontiert werden, die aus dem
Zusammenhang gerissen sind, und die Fragestellerin, die
nicht einmal stehen geblieben ist, damit Sie auf ihre Be-
merkung antworten können, eines nicht weiß – das kann
Sie vielleicht auch gar nicht wissen, weil ein gewisser
Herr Lafontaine 1998 noch Mitglied einer anderen Partei
war –: Es geht hier nicht nur um Idealismus, sondern ein
Stück weit um Heuchelei.
Ich habe es in der Rede eines gewissen Oskar
Lafontaine auf dem Parteitag 1998 – damals war er Mit-
glied meiner Partei – nach der Regierungsübernahme
durch Rot-Grün nachgelesen. Damals hat dieser Mann
nicht nur die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe gefordert, sondern ausweislich des Protokolls
dafür plädiert, die Arbeitslosenversicherung, also das
Arbeitslosgengeld I, auf Bedarfsorientierung und Steuer-
finanzierung umzustellen.
Frau Kollegin Kipping, Sie haben sich da einen ins Nest
geholt, der nicht Hartz IV wollte, sondern Hartz VIII.
Davon will er heute nichts mehr wissen. Aber auch das
gehört zur historischen Wahrheit.
Herzlichen Dank.
Herr Kurth verzichtet auf eine Reaktion. – Deshalbgebe ich jetzt dem Kollegen Paul Lehrieder für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
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28470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Geburtstag und Jubiläum sind Anlass
zum Feiern und zum Zurückschauen, aber auch Anlass,
nach vorne zu schauen. Ich danke meinem Kollegen
Kurth ausdrücklich, dass er gesagt hat: Rückblick – zehn
Jahre SGB II, zehn Jahre Hartz IV, zehn Jahre Sozial-
reform 2010 – ist das eine. Das andere ist: Wie geht es
weiter? – Lieber Kollege Kurth, im Ausschuss arbeiten
wir dauernd daran, zu korrigieren und nachzusteuern.
– Das verschlimmert nichts. Nur wenn Sie sich ein-
mischen, verschlimmert es sich.
Ich muss aber einiges richtigstellen, Herr Kollege
Heil. – Wenn der rot-rote Dialog beendet ist, kann ich
fortfahren.
Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Heil, dass Sie
vom Redner angesprochen werden sollen. Er legt Wert
darauf, dass Sie ihm zuhören. Vielleicht können Sie sich
nachher mit Frau Kipping verabreden.
Herr Kollege Heil, herzlichen Dank, für Ihre ge-schätzte Aufmerksamkeit. Dies ist ja nicht selbstver-ständlich.Herr Kollege Heil, Sie haben gerade die legendäreRede des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder am14. März 2003 erwähnt. Es ist aber durchaus geboten,nicht nur zehn, sondern auch elf Jahre zurückzuschauen.Im Bundestagswahlkampf 2002 hat Ihre Partei der Be-völkerung vorgegaukelt, es ginge alles so weiter, Sie hät-ten alles im Griff, Sie bräuchten keine Reformen. Nachder Wahl kam dann die Wahrheit ans Licht: Wir müssengegensteuern. – Das war richtig. Deshalb hat die Unionim Bundesrat der Agenda 2010 zugestimmt.
– Nein, nicht verschlimmert; wir haben sie verbessert,das ist unstrittig.Lieber Kollege Heil, wenn Sie mit dem Thema „so-ziale Gerechtigkeit“ in den Wahlkampf ziehen, danndenken Sie bitte auch an die Mittelständler und an dieBezieher kleiner und mittlerer Einkommen, wenn wirüber den Abbau der kalten Progression in Bezug auf dieSteuerbelastung diskutieren. Wir haben im Bundesrat ander Agenda 2010 konstruktiv mitgewirkt. Wenn Sie sichin ähnlicher Weise in der Lage sehen würden, die Blo-ckade im Bundesrat in Bezug auf den Abbau der steuer-lichen Belastung für die Bezieher kleiner und mittlererEinkommen zu beenden, dann wäre ich Ihnen sehr dank-bar.
Stattdessen, sehr geehrter Herr Heil, schelten Sieabermals das Betreuungsgeld. Sie haben es als „idioti-sches Betreuungsgeld“ bezeichnet; aber dadurch wirddie Situation nicht besser. Wenn Sie die Geburtenzahl inunserem Land, die für die Entwicklung unserer sozialenSicherungssysteme elementar wichtig ist, verbessernwollen, dann sollten wir gemeinsam überlegen, welcheAngebote wir den jungen Menschen machen können.Wir haben auf der einen Seite die Krippenbetreuung,sollten aber auf der anderen Seite die häusliche Betreu-ung nicht verteufeln. Darum geht es, um nicht mehr undnicht weniger. Wenn es uns nicht gemeinsam gelingt, dieGeburtenquote zu erhöhen,
dann werden sich die Probleme unserer sozialen Siche-rungssysteme durch die von Ihnen angesprochene demo-grafische Entwicklung verschärfen.Der zehnte Jahrestag der Agenda 2010 bietet nichtnur Gelegenheit, zurückzublicken, sondern auch dieMöglichkeit, nach vorne zu schauen. Herr Heil, bevorman andere soziale Projekte verteufelt, sollte man sichetwas zurückhalten und erst einmal über die eigenenFehler nachdenken.Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition be-schlossen, 4 Milliarden Euro in den Krippenausbau zustecken. Im letzten Jahr haben wir entschieden, für dieweißen Flecken beim Krippenausbau in den diesjährigenHaushalt noch einmal 580,5 Millionen Euro einzustel-len. Wir geben zusätzlich Mittel für den Krippenausbauaus, ohne das Betreuungsgeld zu vernachlässigen. Eswird beides gemacht, Herr Heil, nicht alternativ, sondernkumulativ. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!Frau Kipping, Sie haben angesprochen, dass die Ren-ten in den letzten Jahren gesunken sind. Sie sind abernicht wegen der Agenda 2010 gesunken, sondern auf-grund der Bevölkerungsentwicklung – das wissen Sie sogut wie ich –; denn die Anzahl der Beitragszahler be-dingt ein Stück weit das Rentenniveau, und die demo-grafischen Faktoren mussten bei der RentenberechnungBerücksichtigung finden. Auch deswegen habe ich ebenden Schwenk auf das Betreuungsgeld gemacht. Ichfinde, dass wir gemeinsam daran arbeiten sollten, dassdie deutsche Bevölkerung mehr Mut zu Kindern hat.Die Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt im ver-gangenen Jahr – einige Vorredner haben bereits daraufhingewiesen – kann sich durchaus sehen lassen. Über41,5 Millionen gehen einer Beschäftigung nach, so vielwie noch nie zuvor in Deutschland. Andere Regierungenwürden sich die Finger danach lecken, nur halb so guteErgebnisse zu erzielen. Die Zahl der Erwerbslosen istmit durchschnittlich 2,89 Millionen auf dem niedrigstenStand seit 20 Jahren. Ganz ohne Regierungshandeln sinddiese Ergebnisse nicht zu erreichen gewesen. Blickt manüber die Grenzen hinaus, so stellt man fest, dass
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28471
Paul Lehrieder
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Deutschland im europäischen Vergleich, insbesonderewas die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, mit Abstandam besten dasteht.Herr Kollege Linnemann hat bereits auf die dualeAusbildung in Deutschland hingewiesen. Ich will nichtverhehlen, dass wir die Maßnahmen ergriffen haben, mitdenen wir mit der vor vier Jahren begonnenen Weltwirt-schaftskrise richtig umgehen konnten. Die richtigen Ent-scheidungen wurden damals auch von den Arbeitsminis-tern der Großen Koalition getroffen: die Verlängerungder Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes, die Bildungvon Rücklagen in der Kasse der Bundesagentur für Ar-beit, die jetzt sukzessive wieder aufgebaut werden. Ne-ben der dualen Ausbildung verdient ein weiterer Export-schlager die Aufmerksamkeit anderer Länder: dasKurzarbeitergeld.
– Meine Truppe darf auch klatschen.
Einige Länder Südeuropas werden sich dieAgenda 2010 genauer anschauen müssen; denn ohneeine Sozialreform wird es in einigen verschuldeten Län-dern sicher nicht gehen. Wir können noch so viel Geldnach Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien über-weisen: Wenn die notwendigen Reformen dort nichternsthaft angegangen werden, die vor zehn Jahren auchfür Deutschland schmerzhaft waren, dann wird es in die-sen Ländern kaum zu einer Lösung kommen. Die Be-schäftigungsquote wird sich kaum erhöhen. Wir hattendas Glück, dass wir vor zehn Jahren – das Inkrafttretenerfolgte am 1. Januar 2005 – zu einem relativ frühenZeitpunkt die stellenweise schmerzhafte Agenda-2010-Reform angegangen sind. Dafür gebührt den damals Be-teiligten im Bundesrat, aber auch in der damaligen Bun-desregierung durchaus Lob. Ich glaube, das war der rich-tige Weg.Wir sollten schauen, wie es weitergeht. Sie habenMissstände im Bereich der Leiharbeit – Equal Pay undLohnuntergrenze – angesprochen. Die christlich-liberaleKoalition arbeitet mit Hochdruck daran, diese noch vor-handenen geringen Fehler auszumerzen. Wir werdendiese Arbeit mit Ihrer Unterstützung nach dem 22. Sep-tember 2013 selbstverständlich gerne fortsetzen.Herzlichen Dank.
Jetzt hat Johannes Vogel das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Auch wenn der Kollege Kolb eben zu Recht darauf hin-gewiesen hat, dass Teile der Agenda 2010 nur Korrektu-ren Ihrer Rücknahmen von Reformen aus der Regie-rungszeit vor 2002 waren, ist unbestritten, dass dieAgenda 2010 genauso wie die Politik der jetzigen christ-lich-liberalen Koalition ein Baustein dafür ist, dass esDeutschland jetzt so gut geht und die Perspektiven aufdem Arbeitsmarkt für die Menschen so gut aussehen. Ichglaube, niemand kann das bestreiten.Interessanter ist aber die Frage – das kam in den diffe-renzierten Betrachtungen des Kollegen Kurth und deslieben Kollegen Hubertus Heil nicht so richtig durch –,ob sich die rot-grüne Opposition zu diesen Reformenüberhaupt noch bekennt.
Das kann ich nicht erkennen.
Schauen wir uns doch einmal an, wie Sie auftreten undwas Sie fordern. Wie stünde Deutschland da, wenn wirtun würden, was Sie fordern? „Rente auf zwei Säulenund Rente mit 67 wollen wir nicht mehr“, ist die Be-schlusslage der SPD.
Minijobs halten Sie heute für Teufelszeug. Fördern undFordern? Das wollen Sie nicht mehr, entnehme ich deraktuellen Positionierung der Kolleginnen und Kollegenvon den Grünen. Zeitarbeit? Da wollen Sie das deutscheModell direkt killen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn wirtun würden, was Sie heute fordern, und all Ihre Refor-men rückabwickeln würden, dann würde es auf demdeutschen Arbeitsmarkt schlechter aussehen. Deshalbtun wir das nicht.
Behaupten Sie doch nicht, es ginge um die Korrekturkleinerer Fehlentwicklungen, um Korrekturen aufgrundkleinerer Missbrauchsfälle. Das machen wir schon sehrgut.
Wenn es darum geht, die Finanzlage der Kommunen imBlick zu behalten – Übernahme der Kosten der Grund-sicherung im Alter – oder wirkliche Auswüchse bei derZeitarbeit zu korrigieren, arbeitet diese Koalition sehrgut. Nein, das, was Sie betreiben, ist eine Generalabkehrvon Ihrer eigenen Reform.
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28472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Johannes Vogel
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Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, dassollte eigentlich nicht meine Sorge sein, aber ich sage estrotzdem: Sie tun Ihrem Kanzlerkandidaten, um dessenGlaubwürdigkeit es geht, keinen Gefallen, und daswissen Sie ganz genau.
Ein Zitat von Peer Steinbrück, Deutscher Bundestag,2005:Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Ganggesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennungverdient …
Bei den Jusos sagte er 2006, das sei kein Sozialabbau,sondern ein Sozialaufbau. Das sei mit Zahlen belegbar.Diese Äußerungen, die richtig sind, passen in keinsterWeise zu Ihrer eigenen Politik, liebe Kolleginnen undKollegen von der SPD. Deshalb sind Sie bei diesemThema nicht glaubwürdig. Die glaubwürdige Fortset-zung einer vernünftigen Reformpolitik betreibt dieseKoalition.
Das sollte nicht meine Sorge sein. Das Problem istaber, dass Sie so sehr mit Vergangenheitsbewältigungbeschäftigt sind, dass Sie so sehr damit beschäftigt sind,Ihren Frieden mit dem zu machen, was Sie für diesesLand einmal erreicht haben – andere Leute müssen ihrenFrieden mit Fehlern machen; Sie müssen Ihren Friedenmit dem machen, was Sie für das Land einmal erreichthaben; das war auch in dieser Debatte wieder spürbar –,dass Sie sich leider überhaupt nicht auf die Zukunftshe-rausforderungen konzentrieren. Es geht darum, mehrChancengerechtigkeit zu schaffen, wofür wir durch denAusbau der Qualifikationsmöglichkeiten sorgen. Es gehtdarum, endlich die Dekaden der Staatsverschuldung zubeenden, wie wir es tun. Das zeigt ein Blick auf denBundeshaushalt – gestern vorgelegt –: Er ist erstmalsstrukturell ausgeglichen.
Es geht auch darum, endlich ein modernes Einwande-rungssystem zu schaffen, damit Deutschland auch inzehn Jahren noch gut dasteht. Zu diesem Zweck habenwir beispielsweise die Bluecard eingeführt. Diesen Auf-gaben widmet sich die Koalition. Sie leisten diesbezüg-lich leider keinen Beitrag. Deutschland wäre sicherlichdamit geholfen, wenn Sie die Beschäftigung mit der Ver-gangenheit beendigen könnten. Für dieses Wahljahr solluns das ganz recht sein.Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Vorlage aufDrucksache 17/12683 an die Ausschüsse zu überweisen,die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie of-fensichtlich einverstanden. Dann verfahren wir so.Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 7:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zur Stärkung der Rechte von Op-fern sexuellen Missbrauchs
– Drucksache 17/6261 –– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz,Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und derFraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ei-nes Gesetzes zur Verlängerung der straf-und zivilrechtlichen Verjährungsvorschrif-ten bei sexuellem Missbrauch von Kindernund minderjährigen Schutzbefohlenen– Drucksache 17/3646 –– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-ordneten Ingrid Hönlinger, Ekin Deligöz,Volker Beck , weiteren Abgeordnetenund der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Verlängerung der zivilrechtlichen Ver-jährungsfristen sowie zur Ausweitung derHemmungsregelungen bei Verletzungen dersexuellen Selbstbestimmung im Zivil- undStrafrecht– Drucksache 17/5774 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/12735 –Berichterstattung:Abgeordnete Ansgar HevelingSonja SteffenMarco BuschmannJörn WunderlichIngrid Hönlingerb) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungAktionsplan 2011 der Bundesregierung zumSchutz von Kindern und Jugendlichen vorsexueller Gewalt und Ausbeutung– Drucksache 17/7233 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Tourismus
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Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-regierungAbschlussbericht des Runden Tisches „Sexuel-ler Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- undMachtverhältnissen in privaten und öffentli-chen Einrichtungen und im familiären Be-reich“– Drucksache 17/8117 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Innenausschuss Sportausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für TourismusHierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion derSPD zu ihrem Gesetzentwurf vor.Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. –Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeMarco Buschmann für die FDP-Fraktion.
Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die schrecklichen Verletzungen der Seele, diesexueller Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen im-mer hinterlässt, heilen nie. Wir waren alle erschüttert, alswir im Jahr 2010 erfahren mussten, in welchem Umfangsolcher Missbrauch in unserem Land möglich war undist. Deshalb war es richtig und gut, dass sich die Politikgemeinsam mit dem Runden Tisch der Frage angenom-men hat, wie wir den Opfern helfen können.Über einen Teil der Hilfe, die wir anbieten wollen, de-battieren wir heute während der zweiten und dritten Be-ratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung derRechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Es soll denOpfern eine Brücke bieten, um Hindernisse auf demWeg zu ihrem Recht zu überwinden. Zwar kann niemanddie erlittenen Verbrechen ungeschehen machen; aber derZugang zum Recht soll den Opfern nicht unnötigschwerfallen.Schon der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundes-regierung enthielt dazu sehr gute Beiträge. So sollenetwa durch Bild- und Tonaufzeichnungen Mehrfachver-nehmungen vermieden werden. Ich denke, jeder kannnachfühlen, dass erneute Vernehmungen eine ungeheureBelastung darstellen würden, weil die Opfer gezwungenwären, die traumatisierenden Erlebnisse in ihrer Erinne-rung immer und immer wieder zu durchleben. Wir wol-len weiter eine Verbesserung bei der Bestellung einesRechtsbeistandes für volljährig gewordene Opfer. DieVerjährungsfrist für zivilrechtliche Ansprüche der Opfersoll auf 30 Jahre verlängert werden.Diesen Entwurf hat die Koalition im Laufe des Ver-fahrens im Rechtsausschuss weiter verbessert. Wir ha-ben die Möglichkeit erleichtert, bei der Vernehmungnicht nur minderjähriger, sondern auch volljährigerOpfer sexueller Gewalt die Öffentlichkeit der Hauptver-handlung einzuschränken. Ein solcher Schritt muss si-cherlich gut abgewogen sein, weil die Öffentlichkeit derHauptverhandlung für einen transparenten und demokra-tischen Rechtsstaat ohne Zweifel ein hohes Gut ist. Weraber würde nicht auf Anhieb verstehen, dass wir auchgute Gründe dafür gehabt haben; denn es ist eine mas-sive Belastung des Opfers, sich nicht nur erneut mit denschrecklichen Erlebnissen auseinanderzusetzen, son-dern das auch noch vor Publikum zu tun, und damit danngegebenenfalls auch in medial aufbereiteter Form immerwieder konfrontiert zu werden.Wir haben in der Tat am längsten über die strafrechtli-che Verjährung diskutiert; das hat einen Großteil der Be-ratungen ausgemacht. Dabei haben wir uns in der Koali-tion von unterschiedlichen Perspektiven ausgehend demgleichen Ziel, nämlich dem Ziel des Opferschutzes, ge-nähert. Die einen sagen, dass eine möglichst lange Ver-jährungsfrist bzw. eine möglichst lange Dauer der Hem-mung im Sinne der Opfer sei. Sie hätten dann viel Zeit,um ein Strafverfahren zu initiieren. Das ist die eine Per-spektive. Es gibt aber noch eine andere für den Opfer-schutz ebenso wichtige Position, die von vielen Justiz-praktikern vertreten wird. Danach muss bedacht werden,dass man den Opfern damit möglicherweise Steine stattBrot gibt. Zwar verspricht eine lange Verjährungsdauerscheinbar späte Sühne des Täters und ein Stück weit Ge-nugtuung des Opfers. Die gerichtliche Praxis aber zeigt,dass die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Tä-ters abnimmt, je länger die Tat zurückliegt; denn je mehrZeit vergangen ist, desto größer sind die Beweisschwie-rigkeiten. Hier gilt dann im Strafverfahren: im Zweifelfür den Angeklagten. Eine solche Situation dürfte,glaube ich, für die Opfer die schlimmste sein, nämlichsich in einem Strafverfahren wiederzufinden, an dessenEnde aus Mangel an Beweisen ein Freispruch des Täterssteht, wobei sich das Opfer dann möglicherweise auchnoch der öffentlichen Anfeindung, die Unwahrheit ge-sagt zu haben, ausgesetzt sieht.
Was das seelisch bei einem Opfer auslöst, vermag ichmir nicht vorzustellen.Wir haben uns in Abwägung all dieser Aspekte füreine maßvolle Änderung des Verjährungsrechts entschie-den, nämlich für eine Hemmung der Verjährung bis zum21. Lebensjahr. Diese Altersgrenze stellt auch rechtssys-tematisch den richtigen Schritt dar; denn sie passt inunser Strafrechtssystem – hier endet auch der Anwen-dungsbereich des Jugendstrafrechts –, und sie verhältsich parallel zu der Regelung in § 208 BGB, in dem esum die Hemmung der Verjährung für zivilrechtliche An-sprüche aus sexuellem Missbrauch geht.Ich glaube, dass der vorliegende Gesetzentwurf einguter Schritt ist, um den Opfern sexuellen Missbrauchsauf dem Weg zu ihrem Recht entgegenzukommen, umihnen Steine aus dem Weg zu räumen. Dies kann abernur ein erster Schritt sein. Der nächste Schritt muss sein,dass wir den Hilfsfonds für die Opfer sexuellen Kindes-
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Marco Buschmann
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missbrauchs möglichst schnell aktivieren und ihn ausrei-chend finanzieren. Der Bund ist hier mit seiner Zusagevon 50 Millionen Euro quasi in Vorleistung gegangen.Wir sollten fraktionsübergreifend alle unsere Möglich-keiten nutzen, um dafür zu sorgen, dass die Länder denOpfern nicht länger das schuldig bleiben, was sie ihnenversprochen und bereits zugesagt haben.
Denn die Opfer haben kein Verständnis für politischeFarbenspiele oder Blockaden.Herzlichen Dank.
Jetzt hat Sonja Steffen das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nicht vieleThemen sind in der Öffentlichkeit in den letzten dreiJahren so intensiv diskutiert worden wie der Umgangmit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugend-lichen. Im März 2010 wurde bekannt, dass Kinder undJugendliche in zahlreichen Einrichtungen über Jahre hin-weg Opfer sexueller Gewalt geworden sind: in kirchli-chen Einrichtungen, Internaten, Kinderheimen undKrankenhäusern. Es geht um Zehntausende Fälle, zumTeil aus den 60er- und 70er-Jahren.Viele Betroffene fanden jahrzehntelang nicht denMut, über den Missbrauch zu sprechen. Das ganzeLeben über sind die Folgen für die misshandelten Men-schen furchtbar. Sie entwickeln oft Selbstwertprobleme,Bindungsstörungen oder Störungen im Umgang mit demeigenen Körper. Folgeerkrankungen sind Ängste, De-pressionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhaltenoder Zwänge. Ganz oft stellt sich erst während einerTherapie heraus, dass Missbrauch die Ursache ist. DieOpfer verdrängen das Geschehen häufig komplett, siespalten es regelrecht ab und erkennen auch nicht den Zu-sammenhang zu den späteren Symptomen. Erst ein spä-teres Erlebnis lässt die Erinnerungen wieder wach wer-den. Das kann der erste Freund oder die Geburt desersten Kindes sein. In einem Fall, von dem ich gelesenhabe, war es sogar die Geburt der Enkeltochter.Der Täter hingegen hat ein großes Interesse daran,dass der Missbrauch nicht aufgedeckt wird. Kinder wer-den eingeschüchtert, erpresst oder bedroht, um sie zumSchweigen zu bringen. Das Kind merkt, dass irgendet-was nicht in Ordnung ist. In ihm entsteht dann oft dasGefühl: Ich bin daran schuld. – Das führt dazu, dass esdarüber nicht reden kann. Missbrauchsopfer fühlen sichoft schmutzig, und ihr Selbstwertgefühl ist schwer be-einträchtigt. Da sie sich selbst verachten, glauben sie,dass auch Außenstehende sie verachten.Nach dem ersten Bekanntwerden der Missbrauchs-fälle in den Heimen, die zum Teil zeitlich sehr weit zu-rückreichen, hat die Bundesregierung etwas sehr Klugesgemacht: Sie hat den Runden Tisch mit Vertretern vonOpferverbänden, mit Psychologen, mit Experten aus derKinder- und Jugendarbeit und mit Verantwortlichen ausder Politik einberufen. Eine Hotline wurde eingerichtet,und innerhalb kürzester Zeit meldeten sich dort mehr als20 000 Betroffene. Das Ziel des Runden Tisches warhoch gesteckt. In der Gesellschaft sollte sich etwas än-dern. Opfer sollten eine Stimme bekommen, und ihnensollte geholfen werden.Der Abschlussbericht des Runden Tisches, 245 Seitenschwer, enthält eine lange Liste und eine sehr gute Listevon Ideen, wie Missbrauchsopfern besser geholfen wer-den kann. Nun haben nach der Vorlage des Berichtes dieRegierung und auch die Oppositionsfraktionen an derUmsetzung und Konkretisierung einzelner Vorhaben ge-arbeitet. Ein wichtiger Punkt des Gesetzentwurfes solltesein: verbesserter Opferschutz und längere Verjährungs-fristen für Sexualstraftaten. Der Entwurf eines Gesetzeszur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Miss-brauchs, StORMG, wird heute in der zweiten und drittenLesung beraten und steht gleich zur Abstimmung.Ich muss Ihnen sagen: Ich finde es sehr schade, dasswir bei einem gesellschaftlich so wichtigen Thema keinenfraktionsübergreifenden Konsens finden konnten.
Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über denGesetzentwurf der Bundesregierung auch enthalten.
Wir haben uns nämlich leider nicht einigen können, wieweit die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch an-gehoben werden soll.
Wir haben uns auch nicht einigen können, wann die Ver-jährung von Straftaten beginnen soll. Ich will das kurzerläutern.Unser Recht unterscheidet, wie die meisten von Ihnenwissen, zwischen der strafrechtlichen Verjährungsfristund der zivilrechtlichen Verjährungsfrist. Im Strafrechtverjährt der sexuelle Missbrauch von Kindern derzeit be-reits nach zehn Jahren. Der sexuelle Missbrauch vonminderjährigen Schutzbefohlenen – genau das sind diebekannt gewordenen Fälle in den Einrichtungen – ver-jährt sogar schon nach fünf Jahren. Nach der bisherigenRechtslage ruht im Strafrecht die Verjährung bis zurVollendung des 18. Lebensjahres. Damit sollte ursprüng-lich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass dieAbhängigkeitsverhältnisse ja erst ab 18 Jahren enden.Ich habe schon darauf hingewiesen: Die vielen Miss-brauchsfälle der 60er-, 70er- und 80er-Jahre in den Hei-men und Einrichtungen belegen, dass in Kinderjahrenmissbrauchte Opfer so massiv traumatisiert sind, dass sieerst als Erwachsene und erst Jahrzehnte nach der Tat in
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28475
Sonja Steffen
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der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen. Hier, HerrKollege Buschmann, hat sich die Regierungskoalitionleider nur auf eine minimale Änderung verständigenkönnen. Das Ruhen der strafrechtlichen Verjährungsfristsoll nur um drei Jahre, bis zur Vollendung des 21. Le-bensjahres des Opfers, verlängert werden. Das hilft denOpfern aus unserer Sicht nicht wirklich weiter – der Ge-setzentwurf bietet aus unserer Sicht keine Brücke für dieOpfer –; denn das heißt: Auch zukünftig verjährenSexualstraftaten an Schutzbefohlenen bereits mit Voll-endung des 26. Lebensjahres.Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion verlangt daher,dass die Verjährung erst mit Vollendung des 30. Lebens-jahres beginnt. Darüber hinaus fordern wir, dass diestrafrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem Miss-brauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohle-nen auf 20 Jahre erhöht wird. Nur so können wir errei-chen, dass die Opfer auch in späteren Jahren noch gegendie Täter vorgehen können. Das Strafrecht hat neben vie-len anderen Funktionen auch eine Genugtuungsfunktion.Dieser werden wir gerecht, wenn wir jedem Menschenzumindest die Zeit lassen, die er braucht, bis er das Be-wusstwerden und/oder den Mut findet, gegen die Tätervorzugehen.
Ich finde, Herr Buschmann, wir müssen das den Opfernüberlassen. Wir dürfen nicht vorweg entscheiden, insbe-sondere nicht über die Wahrscheinlichkeit einer Verur-teilung, auch wenn Jahre dazwischenliegen. Das müssenwir den Opfern überlassen. Das ist deren Entscheidung.Es darf nicht unsere sein.Was das Zivilrecht betrifft – das will ich noch kurz er-wähnen –, verhält sich der vorliegende Gesetzentwurfwesentlich großzügiger; das begrüßen wir. Hier soll imGegensatz zur strafrechtlichen Verjährungsfrist die Fristvon drei Jahren auf 30 Jahre erhöht werden. Das ist eingewaltiger Sprung von 27 Jahren. Also hat ein Opfer zu-künftig in allen Fällen die Möglichkeit, sogar noch imAlter von über 50 Jahren zivilrechtlich gegen einen Tä-ter vorzugehen, der das Opfer im Kindesalter misshan-delt hat. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen.Aber sinnvoll ist diese Lösung aus unserer Sicht nur,wenn auch die strafrechtliche Verjährungsfrist auf min-destens 20 Jahre erhöht wird; denn einem Opfer ist alleinmit dem Zivilrecht in aller Regel nicht geholfen. Ein Op-fer verlangt berechtigterweise nach Gerechtigkeit undauch nach Genugtuung. Die strafrechtlichen Institutio-nen – das wissen wir – helfen ihm hier. Die Ermittlungs-behörden gehen seinem Tatvorwurf nach. Oft ist der Be-schuldigte gar nicht ausfindig zu machen. Hier helfenPolizei und Staatsanwälte. Sie führen die Vernehmungendurch; denn es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz.Ein weiterer wichtiger Punkt, den wir im Rechtsaus-schuss besprochen haben – der Vorsitzende des Rechts-ausschusses hat darauf hingewiesen –: Das sogenannteAdhäsionsverfahren ermöglicht es dem Opfer, zivil-rechtliche Ansprüche, die aus einer Straftat erwachsen,statt in einem eigenen Verfahren unmittelbar im Straf-prozess geltend zu machen. Das ist für die Opfer eineganz große Hilfe. Dieses Mittel steht aber nur zur Verfü-gung, wenn die Verjährung im Strafrecht noch nicht er-folgt ist.Nach dem Gesetzentwurf der Regierungskoalitionkönnen strafrechtlich verjährte Taten nur noch isoliert– zivilrechtlich – verfolgt werden. Das Opfer ist dannvöllig auf sich gestellt; denn es gilt der Beibringungs-grundsatz, demzufolge das Opfer alle relevanten Tatsachenallein vorbringen muss. Dies ist ohne Unterstützung derStrafverfolgungsbehörden fast nie zu erreichen, wenndazwischen beispielsweise ein Zeitraum von dreißig Jah-ren liegt. Daher hilft eine Verlängerung der zivilrecht-lichen Verjährungsfrist allein den Opfern nicht weiter.Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Kauder,hat in der letzten Sitzung des Ausschusses etwas gesagt,was mich sehr berührt hat. Er hat gesagt: Sexueller Miss-brauch an Kindern ist Mord an der Seele des Kindes. –Er hat recht.
Sie kommen bitte zum Ende, Frau Kollegin.
Ja. – Ich kann daher nur an Sie alle hier appellieren:
Folgen Sie dem Gesetzentwurf der SPD und verlängern
Sie die strafrechtlichen Verjährungsfristen! Nur so hel-
fen wir den Opfern, die Gerechtigkeit zu finden, die sie
verdienen.
Vielen Dank.
Der Kollege Ansgar Heveling hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zum Zeitpunkt von Thorstens Anruf hatten wir mitdem Puzzle … erst begonnen. Von manchen wur-den bis dahin die Puzzleteilchen nicht als solche er-kannt, weil sie die Erlebnisse verdrängt hatten odernicht zuordnen konnten … Einige erkannten sie undwussten auch, wohin damit. Die wurden vomSchulgelände gejagt oder in Gesprächen von denVerantwortlichen belogen, beschwichtigt und be-droht. Rechtsanwälte rieten ihnen ab, die Täter an-zuzeigen, Therapeuten wiesen auf die Risiken derRetraumatisierung hin, die gerichtliche Auseinan-dersetzungen zwangsläufig mit sich bringen würden.Und so schlummerten die Puzzleteilchen verstreutin den Erinnerungen der einzelnen Beteiligten vorsich hin und stifteten im schlimmsten Falle als ein-gekapselte Traumata ihr Unheil. Ich bin weit davon
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28476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Ansgar Heveling
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entfernt, alle Puzzleteilchen zu sehen, aber das Bildist klar erkennbar. Das Bild des Horrors.Diese Passage aus dem Prolog zu dem Buch Wie lautsoll ich denn noch schreien? über den sexuellen Miss-brauch von Schülern in der Odenwaldschule, dasAndreas Huckele unter dem Pseudonym „Jürgen Dehmers“2011 publizierte und für das er im November 2012 inMünchen mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeich-net wurde, schildert in erschreckender Eindrücklichkeit,welche Mechanismen über Jahrzehnte mit dazu beigetra-gen haben, dass sexuelle Gewalt in den unterschiedlichs-ten Institutionen und Einrichtungen ungeahndet und un-gesühnt stattfinden konnte.Der zitierte Abschnitt offenbart gleichzeitig das Di-lemma des Gesetzgebers: Offenbar haben die geltendenStrafvorschriften – es gibt im materiellen Strafrecht ge-nügend Vorschriften – nicht verhindert, dass es eine sogroße Zahl von Opfern insbesondere in Institutionen undEinrichtungen gab. Was also kann der Gesetzgeber nochtun, was muss er noch tun?Wir als CDU/CSU-Fraktion sehen in dem vorliegen-den Gesetzentwurf einen guten ersten Schritt, konkreteSchlussfolgerungen aus den Beratungen und Beschlüs-sen und Berichten des Runden Tisches „Sexueller Kin-desmissbrauch“ zu ziehen.
Er ist ein Anfang auf einem guten Weg, entschieden ge-gen sexuellen Missbrauch von Kindern vorzugehen unddie Rechte von Opfern zu stärken.Zunächst – das ist besonders wichtig – sieht der Ge-setzentwurf Möglichkeiten vor, Mehrfachvernehmungenzu vermeiden. Gerade minderjährige Opfer sexuellenMissbrauchs können es als äußerst belastend und qual-voll empfinden, wenn sie eine emotional und oft auch in-tellektuell anstrengende Aussage in der ungewohntenUmgebung eines Strafverfahrens mehrmals machen undmöglicherweise in größeren zeitlichen Abständen wie-derholen müssen.Im Weiteren stärken wir die Verfahrens- und Informa-tionsrechte von Verletzten in Strafverfahren. Dazu gehö-ren Veränderungen bei der Gewährung eines kostenlosenanwaltlichen Beistandes für die Verletzten. Bisher be-steht der Anspruch auf einen solchen Opferanwalt fürVerletzte, die zum Zeitpunkt der Antragstellung minder-jährig sind. Zukünftig soll es richtigerweise auf den Tat-zeitpunkt ankommen.Daneben werden stärkere Informationsrechte für dieOpfer konstituiert. Es ist vorgesehen, dass bei der Abwä-gung der Entscheidung über den Ausschluss der Öffent-lichkeit die besonderen Belastungen, die für Kinder undJugendliche damit verbunden sein können, besonders zuberücksichtigen sind.Schließlich soll im Zivilrecht die Verjährungsfrist fürSchadenersatzansprüche, die auf der vorsätzlichen Ver-letzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, derFreiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung beruhen,auf 30 Jahre verlängert werden. Die Regelverjährungnach drei Jahren hat sich für die wirksame Durchsetzungvon Schadenersatzansprüchen in vielen Fällen als zukurz erwiesen.Alle diese Schritte sind gut und wichtig. Daher ist esrichtig, dass wir heute ein Gesetz mit diesen wichtigenRegelungen beschließen.
Ich will aber auch nicht verschweigen, dass der Ge-setzentwurf hinsichtlich der strafrechtlichen Verjährungauch hinter unseren Erwartungen zurückbleibt. Wir alsCDU/CSU-Fraktion bedauern es durchaus, dass wir unsbei der schwierigen Abwägung, auf die Herr KollegeBuschmann aufmerksam gemacht hat – wir haben langemiteinander gerungen –, nicht darauf einigen konnten,die Verjährungsfristen zu verlängern. Immerhin ist esaber zu einer verlängerten Hemmung der Verjährung ge-kommen, und zwar bis zum 21. statt wie bisher bis zum18. Lebensjahr. Das ist zumindest schon ein ersterSchritt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir al-les gesetzlich regeln: Das Dilemma des Gesetzgebersbleibt weiter bestehen. Strukturen des Missbrauchs kannman nicht alleine durch Strafvorschriften beseitigen. Wirbrauchen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber,dass gerade der sexuelle Missbrauch von Kindern in Ab-hängigkeits- und Machtverhältnissen besonders verach-tenswert ist, gleichgültig ob er in privaten oder öffent-lichen Einrichtungen oder etwa in der Familie geschieht.Wir reden viel von der Kultur des Hinschauens. Wirmüssen dann aber auch alle wissen, wo hingeschaut wer-den muss. Um es mit Andreas Huckele, den ich eingangsschon zitiert habe, zu sagen:Solange die Kriterien, an denen ich misshandelteKinder erkennen kann, nicht Allgemeinwissen sind,solange ich Strukturen in Einrichtungen, in denensich Kinder aufhalten, nicht beurteilen kann, solange ist „Hinschauen“ zwar gut gemeint, abernicht wirkungsvoll.Wir beschließen heute ein gutes Gesetz zur Stärkungder Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Darüberhinaus braucht es aber mehr, um sexuellen Missbrauchvon Kindern wirksam zu bekämpfen. Das aber kann derGesetzgeber nicht alleine leisten.Vielen Dank.
Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort
für die Fraktion Die Linke.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Ein Sprichwort sagt: Was lange währt, wird end-lich gut. Es hat zwar lange gedauert, bis es jetzt zu der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28477
Dr. Rosemarie Hein
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Beschlussfassung zu diesem Gesetzentwurf kommt, aberdamit ist noch lange nicht alles gut.Vor nunmehr drei Jahren ging ein Entsetzen durch diebundesdeutsche Öffentlichkeit, als bekannt wurde, dassin manch renommierter Bildungseinrichtung Kinder undJugendliche mit sexuellen Übergriffen konfrontiert wa-ren. Dass dies so lange unentdeckt und ungesühnt blei-ben konnte, war für viele fast überhaupt nicht begreifbar.Danach kamen jede Woche neue Entdeckungen ansLicht. Das geschah auch dank einer medialen Ermuti-gungskampagne, über die oft Jahrzehnte zurückliegen-den traumatischen Erfahrungen zu sprechen und die Ver-brechen anzuzeigen. Das hat die Betroffenen auchJahrzehnte danach noch viel Mut gekostet.Sie alle haben gehofft, dass nun ihr Leid nicht nur insöffentliche Bewusstsein rückt, sondern dass ihnen soviele Jahre danach auch Gerechtigkeit wiederfährt, dasssie Hilfe finden, das Durchlebte zu verarbeiten, soferndas überhaupt geht, und dass die Schuldigen zur Verant-wortung gezogen werden. Es war aber schon sehr baldklar, dass es heute – das gilt auch für die Zukunft – fürdie Verfolgung solcher Straftaten ebenso wie für denVersuch der Wiedergutmachung und noch mehr für dieVerhinderung sexualisierter Gewalt gegen Kinder undJugendliche eigentlich zu wenige gesellschaftlich wirk-same Instrumentarien gibt.Der Runde Tisch hat seinen Abschlussbericht vorüber einem Jahr vorgelegt, in dem er eine Fülle von De-fiziten aufzeigt und Empfehlungen gibt, von denen bis-lang aber kaum etwas abgearbeitet ist. Das hat auch derRunde Tisch bei seiner Beratung am 20. Februar diesesJahres feststellen müssen.Und es ist schon bezeichnend, dass wir erst heute überdiesen Abschlussbericht im Bundestag reden, ein Jahrdanach. Zwar beschließen wir heute endlich ein Gesetzüber die Verlängerung der Verjährungsfristen und überdie Stärkung der Opferrechte, aber viel zu lange hat derBund mit den Ländern über die Beteiligung an dem inAussicht gestellten Hilfsfonds für Betroffene gestritten.Dabei ist Vertrauen verloren gegangen.Nun nehmen wir zur Kenntnis, dass die Mittel desBundes zügig eingesetzt werden sollen und mit klarenRichtlinien für eine entsprechende Antragstellung unter-setzt werden. Das ist gut so. Doch noch immer gibt esaußer vollmundigen Ankündigungen kein ausreichendesNetz von Beratungsstellen, die von sexualisierter Gewaltbetroffene Kinder aufsuchen können, die aber auch Er-ziehenden bei Verdachtsfällen Beratung und Hilfe ge-ben. Noch immer gibt es keine verlässliche Finanzierungsolcher Beratung, hangeln wir uns von einem Modell-projekt zum anderen, deren Fortsetzung ungewiss ist.Was mich als Bildungspolitikerin ganz besonders be-troffen macht, sind die offensichtlichen Defizite in derForschung zu diesem Thema. Wo aber nicht geforschtwird, können keine wirksamen präventiven Strategienentwickelt werden, können Lehrende und Erziehendezum Beispiel keine Hilfen erhalten, können sie nicht hin-reichend sensibilisiert werden. Auch die vom RundenTisch entwickelten Leitlinien und auch die Reaktion derKultusministerkonferenz darauf können ja nur der An-fang sein.Hilfreich wäre es aus unserer Sicht zum Beispiel,Schulsozialarbeit an allen Schulen zu sichern.
Es wäre hilfreich, eine gute und verlässliche, gut er-reichbare schulpsychologische Beratung in den Schulenzu sichern. Das ist wichtig für Kinder, für Eltern und fürLehrende. Aber Schulsozialarbeit gibt es längst nicht anallen Schulen, und dass Schulpsychologen an allenEcken und Enden fehlen, wissen wir seit langem. Fürviele dieser möglichen Hilfen fehlt eine verlässliche unddauerhafte Finanzierung und fehlt teilweise auch einegesetzliche Verankerung im Kinder- und Jugendhilfe-recht.Wenn das so weitergeht, droht der Runde Tisch zurAlibi-Veranstaltung zu werden. Wir haben die Pflicht,das zu verhindern. Die heutige Beschlussfassung darfniemandem zur Beruhigung dienen.
Ich wünsche mir darum, dass der Runde Tisch in je-dem Jahr zusammenkommt und so lange den Finger indie Wunde legt, bis die übertragenen Aufgaben abgear-beitet sind. Das sind wir den Betroffenen schuldig, unddiese Schuld ist noch lange nicht abgetragen.Vielen Dank.
Ingrid Hönlinger hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen
das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir sprechen heute über ein Thema, das eine juristischeSeite hat. Es hat aber auch eine zutiefst menschliche, tra-gische Seite, und das Thema hat in seinen langfristigenAuswirkungen eine nicht absehbare Wirkung.Wir alle sind betroffen von dem, was Tausenden vonKindern und Jugendlichen angetan worden ist, was sieertragen und erleiden mussten, nicht für einen Tag odereine Woche, nein, oftmals über viele Monate und Jahrehinweg. Mein Mitgefühl gilt diesen Menschen, die fürdie psychische und physische Verarbeitung des erlittenenMissbrauchs oft ein Leben lang brauchen. Vor diesemHintergrund steht meine heutige Rede.Die Grundfrage lautet: Wie können wir Recht undGerechtigkeit möglichst nah zusammenbringen?Wir Grünen begrüßen es, dass die Bundesregierungund die Regierungskoalition nun endlich Regelungen zurStärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchsvoranbringen. Fast zwei Jahre lang mussten die Opferund auch wir darauf warten. Das ist eine zu lange Zeit,wenn man bedenkt, dass an jedem Tag bis zum Inkraft-
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28478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Ingrid Hönlinger
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treten des Gesetzes Ansprüche der Opfer verjähren kön-nen.
Immerhin haben Sie von der Koalition sich währenddieser Zeit in einem Punkt zu einer wesentlichen Verbes-serung durchgerungen, die auch im Gesetzentwurf vonBündnis 90/Die Grünen enthalten ist. Die Verbesserungbesagt, dass die Verjährung für die zivilrechtlichen An-sprüche der Opfer nicht schon direkt nach der Tat begin-nen soll, unabhängig davon, ob das Opfer zu diesemZeitpunkt noch ein Kind oder schon ein Erwachsener ist,sondern die Verjährung soll erst im Erwachsenenalterdes Opfers beginnen, und auch der strafrechtliche Ver-jährungsbeginn soll hinausgeschoben werden. Die Fragebleibt aber: Wann soll die Verjährung tatsächlich begin-nen?Wir alle wissen, dass selbst junge Erwachsene häufigemotional noch nicht in der Lage sind, ihre Ansprüchewegen solcher Taten geltend zu machen. Wir Grünenschlagen deshalb in unserem Gesetzentwurf vor, dass dieVerjährungsfrist im Zivil- und im Strafrecht erst mit derVollendung des 25. Lebensjahres des Opfers beginnensoll. Zusätzlich wollen wir die zivilrechtliche Verjäh-rungsfrist bei sexuellem Missbrauch auf 30 Jahre verlän-gern. Das trägt den Erkenntnissen aus den Missbrauchs-fällen besser Rechnung als der Verjährungsbeginn mitder Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie esim Gesetzentwurf der Regierungskoalition vorgesehenist.
Ihr Gesetzentwurf enthält aber auch Vorschläge, diemassiv in die Prinzipien des Rechtsstaats eingreifen,ohne die Opfer in ihren Rechten tatsächlich zu stärken.Es hilft keinem Betroffenen, wenn dem Strafverfahrengegen den Täter mit juristischen Spitzfindigkeiten derMakel des unfairen Verfahrens angehängt wird.Nennen will ich die Fälle, in denen einem mutmaßli-chen Straftäter wegen der Schwere seiner Tat zwingendein Anwalt beigeordnet werden muss. Wird eine richter-liche Zeugenvernehmung durchgeführt, bei der der Be-schuldigte oder sein Anwalt nicht anwesend waren, kön-nen sie sich in diese Vernehmung nicht mit Frageneinbringen. Wiederholt das Gericht die Zeugenverneh-mung in der Hauptverhandlung nicht, sondern spielt sienur per Video vor, kann der Angeklagte seine Verteidi-gungsrechte nicht ausreichend wahrnehmen. Hier be-steht aus unserer Sicht Nachbesserungsbedarf.Uns Grünen ist aber auch klar, dass die Menschen, dievon sexuellem Missbrauch betroffen sind, jetzt die recht-liche Möglichkeit brauchen, die Verjährung ihrer An-sprüche zu vermeiden und die Täter zur Verantwortungzu ziehen.
Wir müssen jetzt ein klares Signal dafür setzen, dass se-xueller Missbrauch kein Kavaliersdelikt ist, sondern einAngriff auf die Würde und persönliche Integrität der da-von Betroffenen. Aus Sicht der Betroffenen ist jetztRechtssicherheit geboten.Der Gesetzesvorlage können wir Grünen aus rechtli-chen Gründen nicht zustimmen. Wir werden uns bei derAbstimmung enthalten.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Michaela Noll hat jetzt das Wort für die Fraktion der
CDU/CSU.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir alle haben in relativ ruhigem Ton gespro-chen. Ich hätte mir einfach ein bisschen mehr Freude ge-wünscht, weil wir heute ein gutes Signal für mehr Opfer-schutz gegeben haben.
Ob durch den Runden Tisch oder durch das Gesetz,das wir heute hier verabschieden wollen: Es ist ein deut-liches Signal an die Opfer, an die Betroffenen, dass wirverstanden haben, dass wir uns kümmern müssen. Kol-lege Buschmann hatte das Risiko mit den Verjährungs-fristen angesprochen. Ich bin ganz ehrlich: An dieserStelle hätte auch ich mir etwas anderes gewünscht. Ichbin Mitglied beim Weißen Ring. Wir wissen, wieschwierig es gerade im Strafrecht mit den Beweisen ist,wenn die Tat 10 oder 20 Jahre zurückliegt und vielleichtdas Opfer dazu befragt wird und keine entsprechendenAuskünfte geben kann. Diese Verunsicherung sehe ich.Ich glaube zwar, dass wir die Verjährungsfristen an-ders hätten regeln können, aber ich beziehe mich auf dieErgebnisse vom Runden Tisch, an dem auch Betroffeneteilgenommen haben. Im Ergebnis kam eindeutig zumAusdruck, dass mehrheitlich die Ansicht vertretenwurde, an den Verjährungsvorschriften nichts zu ändern;am Tisch saßen auch Betroffene. Ich hätte mir mehr ge-wünscht, aber wenn die Betroffenen selber sagen, siewollen keine Veränderung an dieser Stelle, dann müssenwir das so lassen.Kollegin Steffen, Ihnen bin ich dankbar, weil Sie sel-ber gesagt haben: Die Einrichtung des Runden Tischeswar vernünftig, wir haben den Opfern eine Stimme ge-geben. – Kollegin Dr. Hein, Sie haben gesagt: Das hat zulange gedauert. Ich gebe Ihnen recht: Auch mir wäre eslieber gewesen, es wäre schneller gegangen. Aber ichhabe das Entstehen des Bundeskinderschutzgesetzes be-gleitet. Das hat acht Jahre gedauert. Wenn wir etwas Ver-nünftiges auf den Weg bringen und es dauert, dann müs-sen wir uns die Zeit nehmen.Kollegin Hönlinger, ich muss sagen: Im Familienaus-schuss – ich glaube, ich bin die einzige Familienpolitike-rin, die heute zu diesem Thema spricht – ist es anders ge-laufen. Ich war sehr froh: Die grünen Mitglieder habenim Familienausschuss zugestimmt.Zurück zum Thema. 2010 war es für viele von unsschockierend, von den Missbrauchsfällen zu hören.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28479
Michaela Noll
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Viele von uns waren auch wütend und haben sich ge-fragt: Was kann ich als Erwachsener tun, wenn ichmerke, dass ein Missbrauchsverdacht besteht?A und O ist für mich, das Schweigen zu brechen.Wenn aber Kinder bis zu sechs Erwachsene ansprechenmüssen, um von dem zu berichten, was ihnen geschehenist, und erst der siebte Erwachsene es ihnen glaubt, dannmüssen wir uns fragen: Nehmen wir die Kinder eigent-lich ernst? Gehen wir wirklich besonnen genug mit ihrenNöten um?Wir haben in den letzten Jahren die Schwachstellenbeleuchtet. Diese Schwachstellen werden von dem Ge-setzentwurf aufgegriffen. Ich möchte eines ansprechen,das ich im Hinblick auf die Kinder sehr wichtig finde:die Vermeidung von Mehrfachvernehmungen.Ich bin seit 2002 im Deutschen Bundestag. Damalswar ich noch auf der Oppositionsbank. Ich habe dafürgekämpft, dass wir endlich das Mainzer Modell bekom-men. Mainzer Modell heißt: Kleine Kinder, die gegenTäter – oftmals aus dem familiären Bereich – aussagenmüssen, können in einem anderen Raum vernommenwerden. Sie werden nicht mit dem Täter konfrontiert.Ihre Aussage wird aufgezeichnet und in den Gerichtssaalübertragen. Das nenne ich kindeswohlorientierte Ver-nehmung.Das haben wir 2002 gefordert. Heute sind wir sehrviel weiter. Statt Mehrfachvernehmungen lassen wir Vi-deoaufzeichnung zu.Ich stelle gerade fest, dass ich nur noch zwei MinutenRedezeit habe. Eigentlich wollte ich noch etwas ganz an-deres sagen.Es ist zwar alles richtig, was den Entwurf desStORM-Gesetzes angeht, aber als Familienpolitikerinmeine ich mit Blick auf die Zukunft, die richtige Rich-tung muss die Frage sein: Was können wir präventiv ma-chen? Da heißt es für mich: Wir müssen sensibilisierenund den Kindern vermitteln, Nein zu sagen und Grenzenzu setzen. Wir müssen den Kindern auch sagen, wo einsexueller Übergriff anfängt.Ich selber habe eine Einrichtung besucht. Wir habenvon dem Berliner Jesuiten-Gymnasium gehört. ÄhnlicheFälle gab es in Nordrhein-Westfalen. Ich habe an demersten Elternabend nach Bekanntgabe von Missbrauchs-fällen in einer Schule teilgenommen, die davon betroffenwar. Diesen Elternabend habe ich nicht vergessen. DieEltern waren schockiert und verunsichert, ob sie Zei-chen, die ihre Kinder ihnen gegeben haben, nicht gese-hen haben. Die Eltern wollten Antworten. Es gab einenkommissarisch eingesetzten Schulleiter, weil der eigent-liche Schulleiter, der seit Jahrzehnten die Schule geleitethat, versetzt worden war. Der kommissarische Schullei-ter war mit Aufklärung und Transparenz komplett über-fordert und hat sich mehr Sorgen um den guten Ruf derSchule gemacht. So können wir mit der Thematik nichtumgehen.
Die Eltern wollten Aufklärung und Transparenz. DieSchule hat dann ihre Hausaufgaben gemacht. Sie hatLeitlinien herausgebracht, sich mit den Eltern zusam-mengesetzt und aufgeklärt. Das ist der richtige Weg, mitsolchen Fällen umzugehen. Nur so können wir wiederVertrauen schaffen.Mir ist es wichtig: Wir müssen die Elternarbeit ver-stärken, das heißt, wir müssen den Eltern Möglichkeitengeben, Handlungsstrategien zu entwickeln und zu erken-nen, ob das Kind Opfer einer Handlung in dieser Formwar. Wir müssen den Kindern helfen, damit sie selber sa-gen: Dort ist die Grenze erreicht. Das ist besondersschwierig, wenn die Täter aus dem häuslichen Bereichkommen.Wir haben gerade durch den Runden Tisch sehr vieleEmpfehlungen bekommen. Wir haben eine neue Kampa-gne mit dem Theaterstück „Trau dich!“ gestartet. Damitwerden Kinder von acht bis zwölf Jahren für ihre Situa-tion, ihr körperliches Empfinden und dafür sensibilisiert,wie sie selber Grenzen setzen können. Es gibt auch dieKampagne „Kein Raum für Missbrauch“ des unabhängi-gen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmiss-brauchs, deren Spots fast jeden Abend um kurz nach20 Uhr im Fernsehen laufen.Unser Appell muss sich an jeden Einzelnen in der Ge-sellschaft richten, den Kindern und den Eltern zu helfensowie die Lehrer zu sensibilisieren. Denn unsere Auf-gabe, Missbrauch zu verhindern, ist eine gesamtgesell-schaftliche Aufgabe, die die Politik nicht alleine erfüllenkann.Ich bin der Ministerin dankbar: Ins Kinderschutzge-setz haben wir das erweiterte Führungszeugnis aufge-nommen, das immer vorgelegt werden muss, wenn sichPersonen in Bereichen wie Kindergärten bewerben, weilTäter meistens besonders die Orte suchen, die Nähe zuKindern ermöglichen. Mit der Vorlage des erweitertenFührungszeugnisses können wir zumindest ausschlie-ßen, dass einschlägig Vorbestrafte in Kindergärten be-schäftigt werden.Wir haben Kindern einen Anspruch auf Beratung ein-geräumt. Das hat es in der Form noch nie gegeben. Esgibt das Programm „Kein Täter werden“ an der Charitéin Berlin, das ein sehr gutes Projekt ist. Das heißt, wennMänner erkennen, dass sie pädophile Neigungen haben,können sie sich selbst in Therapie begeben.Das sind alles Projekte, die uns zeigen: Wir sind aufdem richtigen Weg. Wir haben einen sehr guten Gesetz-entwurf, den wir heute verabschieden können. Ich würdemich freuen, wenn wir dafür eine Mehrheit finden. Dennbei so einem Thema dürfen wir uns nicht inhaltlich aus-einanderdividieren.Ich appelliere an alle, die sich jetzt enthalten wollen:Bitte stimmen Sie zu! Es wäre ein deutliches Signal andie Betroffenen, dass wir gemeinschaftlich hinter ihnenstehen. Ich würde mich freuen.In diesem Sinne vielen Dank.
Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
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28480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs.Es liegt eine Reihe von Erklärungen nach § 31 unsererGeschäftsordnung vor.1) Der Rechtsausschuss empfiehltunter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/12735, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/6261 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-setzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zu-stimmung durch CDU/CSU und FDP. SPD, Linke undBündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Dagegenhat niemand gestimmt.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, mögesich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit demgleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-tion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurVerlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjäh-rungsfristen bei sexuellem Missbrauch von Kindern undminderjährigen Schutzbefohlenen. Der Rechtsausschussempfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/12735, den Gesetzentwurf derFraktion der SPD auf Drucksache 17/3646 abzulehnen.Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/12737 vor. Wer stimmt für diesenÄnderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustim-mung durch die einbringende Fraktion. Dagegen habengestimmt CDU/CSU, FDP und Grüne. Die Linksfraktionhat sich enthalten.Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf inzweiter Beratung abgelehnt bei Zustimmung durch SPD-Fraktion und Linke. Alle anderen haben dagegen ge-stimmt. – Wie ich höre, gab es einzelne Enthaltungen beider CDU/CSU-Fraktion und bei der Fraktion Die Linke.Ich komme zur Abstimmung über den von der FraktionBündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Ge-setzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungs-fristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelungenbei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zi-vil- und Strafrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt unterBuchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache17/12735, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5774 abzulehnen. Werdem Gesetzentwurf zustimmen will, den bitte ich um dasHandzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da-mit ist der Gesetzentwurf abgelehnt bei Zustimmungdurch die einbringende Fraktion und einen Großteil derLinken. Die Gegenstimmen kamen im Wesentlichen ausden Koalitionsfraktionen. Enthalten hat sich die SPD-Fraktion. Es gab aus allen Fraktionen auch Enthaltun-gen, bis auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und dieFraktion der FDP. Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-ter Beratung abgelehnt. Die dritte Beratung entfällt nachunserer Geschäftsordnung.Interfraktionell wird zudem die Überweisung der Vor-lagen auf den Drucksachen 17/7233 und 17/8117 an diein der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist derFall. Dann werden wir so verfahren.Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a und b so-wie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:8 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten VolkerBeck , Lisa Paus, Ingrid Hönlinger, weite-ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zur abschließenden Beendigungder verfassungswidrigen Diskriminierung ein-getragener Lebenspartnerschaften– Drucksache 17/12676 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Monika Lazar, Ingrid Hönlinger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENGleiches Recht für Lebenspartnerschaft undEhe beim Adoptionsrecht – Entscheidung desBundesverfassungsgerichts vom 19. Februar2013 jetzt umsetzen– Drucksache 17/12691 –ZP 6 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses
gemäß § 62 Absatz 2 der Ge-
schäftsordnung zu dem von den AbgeordnetenVolker Beck , Monika Lazar, EkinDeligöz, weiteren Abgeordneten und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Le-benspartnerschaftsgesetzes und anderer Ge-setze im Bereich des Adoptionsrechts– Drucksachen 17/1429, 17/12731 –Berichterstattung:
ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Einführung desRechts auf Eheschließung für Personen glei-chen Geschlechts– Drucksache 17/12677 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Innenausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO1) Anlage 2
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28481
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeVolker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es gehtheute um gleiche Rechte für homosexuelle Partnerschaf-ten in dieser Gesellschaft. Die Union und die Koalitiondebattieren darüber heftig. So viel von Respekt, von ge-heucheltem Respekt wie in dieser Debatte habe ich langenicht mehr gehört.
Nur einige wenige schrille Töne von Herrn Dobrindt,von Herrn Geis und von Frau Steinbach-Hermann zei-gen, wo sich der Widerstand in der Debatte nährt. BeiHerrn Dobrindts Wort von der schrillen Minderheit, diegegen die scheinbar schweigende Mehrheit sich durch-setzen wolle, musste ich an Franz Josef Strauß denkenund an sein Wort, dass er lieber ein kalter Krieger seinwolle als ein warmer Bruder. Da kommt ans Licht, washinter dieser Debatte steckt.Aber selbst Herr Kauder sagt uns heute:Wir haben nichts gegen Homosexuelle. Ich habegerade in der Kulturszene viele homosexuelle Be-kannte.Dieses „Respekt ja, aber“ ist echt Klischee, Herr Kauder.Das sollten Sie mal lassen.
„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde undRechten geboren.“ So heißt es in der Allgemeinen Erklä-rung der Menschenrechte. Wer Menschen gleiche Rechteabspricht, spricht ihnen damit auch ihre Würde ab. Allesandere als Gleichberechtigung ist verfassungswidrigeDiskriminierung.
Deshalb schlagen wir heute in einem Gesetzentwurfgemeinsam mit der SPD vor, die Ehe für gleichge-schlechtliche Paare zu öffnen. Das würde das ganze un-erträgliche Gewürge um die einzelnen Rechtsfolgen derLebenspartnerschaft mit einem Schlag beenden, und daswäre im Endeffekt auch ziemlich konservativ. Dazu willich einen britischen Kollegen zitieren. David Cameronsagte richtig – das sollten Sie sich in Ihrer programmati-schen Debatte einmal hinter die Ohren schreiben –: Ichunterstütze die Öffnung der Ehe für schwule und lesbi-sche Paare, nicht obwohl ich konservativ bin; ich unter-stütze sie, weil ich konservativ bin. – Ja, es geht darum,Verantwortung und das Einstehen füreinander zu stär-ken. Das können schwule und lesbische Paare genausogut wie heterosexuelle Paare. Deshalb müssen sie auchdie gleichen rechtlichen Möglichkeiten bekommen.
Verfassungsrechtlich, durch die Entwicklung im inter-nationalen Recht – selbst im Heimatland des neuenPapstes ist die Ehe geöffnet –, in der Meinung der Be-völkerung ist diese Frage längst durch. Da hat ein gesell-schaftlicher Wandel des Begriffs der Ehe stattgefunden.
Deshalb können wir verfassungsrechtlich diesen Schrittgehen. Er ist der einzig konsequente. Mit der Öffnungder Ehe schaffen wir gleiches Recht. Wer nichts gegenHomosexuelle hat, kann auch nichts gegen ihre Gleich-berechtigung haben, Herr Kauder.
Wir wissen: Die Öffnung der Ehe wird mit dieserschwarz-gelben Koalition nicht zu machen sein. Dafürbraucht es eine neue Mehrheit im Deutschen Bundestag.Die wollen wir am 22. September mit der Unterstützungvon vielen Schwulen, Lesben, Transgendern schaffen.
Ich bin da ganz zuversichtlich. Die Ungerechtigkeit indieser Debatte regt die Menschen auf. Auch Schwuleund Lesben, auch Transgender-Personen haben Fami-lien. Diese Familien fühlen sich herabgewürdigt, wennSie ihren Kindern, ihren Brüdern, ihren Schwestern, ih-ren Eltern die gleichen Rechte verwehren.
Aber wir sind ja nicht so. Wir versuchen immer, zu-mindest das hinzubekommen, was gerade noch geht.Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, derdie Lebenspartnerschaft in allen Punkten, beim Steuer-recht, beim Adoptionsrecht, bei den diversen Berufs-rechten – das sind 27 Seiten – endlich mit der Ehegleichstellt. Das haben Sie den Wählerinnen und Wäh-lern in Ihrem Koalitionsvertrag bereits versprochen. Nungeht es an die Umsetzung.
Meine Damen und Herren, beim Adoptionsrecht gibtes keine Diskussion mehr. Das Bundesverfassungsge-richt hat entschieden: Die Sukzessivadoption gilt seitdem 19. Februar, und Sie müssen Ehe und Lebenspart-nerschaft bei der Adoption in allen Punkten gleichstel-len, weil es für eine Differenzierung nach der Ansichtdes Gerichts keine Rechtfertigung gibt.
Das Gleiche wird Ihnen das Gericht auch beim Steu-errecht sagen. Herr Papier, der eigentlich Ihrem Lagerangehört, hat gegenüber der Bild-Zeitung, die nicht ge-rade unsere Hauspostille ist, ganz klar gesagt:
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28482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Volker Beck
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Die Privilegierung der Ehe im Verhältnis zur einge-tragenen Lebenspartnerschaft ist rechtlich nichtmehr zu halten.
Herr Kollege!
Wenn Sie das in der Koalition nicht hinbekommen,
helfen wir Ihnen gern durch einen Gruppenantrag oder
durch die Freigabe der Abstimmung.
Jetzt sind Handlungen gefragt. Herr Kauder hat ge-
sagt, die Koalition werde es nicht machen. Wir machen
es gerne mit den Gutwilligen in Ihrer Koalition zusam-
men, aber: hic Rhodus, hic salta.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Ute Granold.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Beck, wir haben an dieser Stelle schon un-zählige Male über das Thema der Lebenspartnerschaftendebattiert.
Zu Beginn bitte ich darum, dass wir ganz sachlich mitei-nander debattieren und die schrillen Töne, die Sie vorhinvorgebracht haben, einfach lassen.
Das ist zwar ein emotionales Thema, dennoch bitte ichum Sachlichkeit.Wir debattieren heute über verschiedene Anträge, dieteilweise widersprüchlich sind. Das betrifft die Gleich-stellung der Ehe mit der Lebenspartnerschaft, die Öff-nung der Ehe und auch die Volladoption. Wir wollen dasalles in Ruhe prüfen.
Über die Sukzessivadoption, die Sie gerade angespro-chen haben, hat das Bundesverfassungsgericht entschie-den. Das wird auch umgesetzt.
Dazu bedarf es aber keiner Eile, weil die Sukzessivadop-tion schon heute möglich und der Gesetzgeber aufgeru-fen ist, bis zum nächsten Sommer eine gesetzliche Rege-lung herbeizuführen.Es gibt das eine oder andere, was wir noch einmal dis-kutieren müssen. Was ist denn zum Beispiel, wenn El-tern ihr Kind zur Adoption freigeben, aber nicht wollen,dass ihr Kind in einer gleichgeschlechtlichen Beziehungaufwächst? Was ist damit? Wie soll das umgesetzt wer-den?
An dieser Stelle möchte ich namens der Union sagen,dass für uns Ehe und Familie die Keimzelle der Gesell-schaft, das Fundament der Gesellschaft sind. Wir legenWert darauf, dass wir jede andere Beziehung, die Men-schen in unserer Gesellschaft leben, respektieren undachten. Wir werben für Toleranz, und wir sind gegenjede Form von Diskriminierung. Das gilt aber auch fürSie, Herr Beck.
– Lassen Sie mich bitte etwas sagen, weil Sie in IhremÜbereifer leider Gottes etwas durcheinander gebrachthaben. Wir sollten schon bei der Sache bleiben.Das Bundesverfassungsgericht hat die Sukzessiv-adoption zugelassen. Das heißt, wenn ein Mann odereine Frau ein Kind adoptiert hat, kann der andere Partnerder gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft diesesKind auch adoptieren. Das ist insofern konsequent, alsdas Bundesverfassungsgericht auch die Stiefkindadop-tion zugelassen hat, sodass das leibliche Kind des Part-ners vom anderen Partner adoptiert werden kann. Nichtmehr und nicht weniger hat das Bundesverfassungsge-richt entschieden, und das wird umgesetzt.
Ich möchte an dieser Stelle etwas zur Volladoption sa-gen – mein Kollege Geis wird zu anderen Punkten Stel-lung nehmen –, weil das ein ganz anderes Thema ist.
Hierbei geht es darum, dass ein fremdes Kind von zweigleichgeschlechtlichen Partnern, also von zwei Frauenoder zwei Männern, adoptiert wird.
Ich bin sehr davon überzeugt, dass Kinder in gleichge-schlechtlichen Partnerschaften gut aufgehoben sind, ver-sorgt werden und auch von ihren Eltern geliebt werden.Wir wollen das aber aus der Perspektive des Kindes be-trachten,
nicht aus der Sicht der Lebenspartner.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28483
Ute Granold
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Ich möchte gerne begründen, warum wir das genau someinen und warum die Entscheidung des Bundesverfas-sungsgerichts deshalb nicht auf die Volladoption ange-wandt und entsprechend umgesetzt werden kann.Kinder brauchen für eine gedeihliche EntwicklungMutter und Vater. Beide Rollenbilder sind für die Ent-wicklung des Kindes wichtig.
Ich nenne eine Reihe von Beispielen. Bei Scheidungs-verfahren ist es so, dass wir hinsichtlich des Sorgerechts,hinsichtlich des Umgangsrechts und bei allen anderenAspekten zusehen, dass Väter und Mütter Umgang mitbzw. Kontakt zu den Kindern haben, weil es für die Ent-wicklung von Kindern wichtig ist, dass sie es mit beidenGeschlechtern zu tun haben.
Auch im Bereich der frühkindlichen Erziehung ist dasso. Wir bemühen uns immer darum, dass es in den Kitasauch Erzieher gibt und dass es in den Grundschulen auchLehrer gibt,
damit das andere Geschlecht die Kinder in der frühkind-lichen Entwicklung auch begleitet. Das ist für uns ganzwichtig. Dazu muss ich sicherlich nicht mehr erzählen.
Frau Kollegin?
Ich lasse keine Zwischenfrage zu. – Beide Perspekti-
ven sollen hier eine Rolle spielen.
Zu den wissenschaftlichen Untersuchungen. Das BMJ
hat 2009 eine Studie in Auftrag gegeben. Es wurde die
Situation von 693 Kindern evaluiert. Davon waren drei
Kinder aus einer Fremdadoption. Die Studie zu den Kin-
dern wie auch die Elternbefragung haben ergeben, dass
es keine verwertbaren, fundierten Aussagen zur Situa-
tion der Kinder in diesen Partnerschaften gibt. Die Auto-
rinnen haben gesagt, dass die Datenlage nicht ausreicht,
um eine gesicherte Empfehlung abzugeben. Es emp-
fehle, Seite 99 des Gutachtens zu lesen.
Auch die Anhörung im Rechtsausschuss im Jahr 2011
hat ergeben, dass die Datenlage noch nicht ausreichend
ist. Die Sachverständigen haben gesagt – das ist im Pro-
tokoll der Anhörung nachzulesen –, dass weitere Studien
erforderlich sind und eine bessere Datenlage vorhanden
sein muss, um eine verbindliche Entscheidung treffen zu
können.
Wenn wir das Adoptionsrecht betrachten, erkennen
wir, dass es eine Fürsorgepflicht des Staates gibt. Es ist
nicht erwiesen, dass es für Kinder gleich gut ist, wenn
sie in einer anderen Partnerschaft aufwachsen und nicht
in einer Partnerschaft, in der Mutter und Vater da sind
und eine gedeihliche Entwicklung der Kinder sicherstel-
len. Wenn es keine gesicherten Daten gibt, hat der Staat
im Bereich der Fremdadoption und der Volladoption im
Zweifel seiner Fürsorgepflicht nachzukommen. Der
Maßstab ist auch in diesem Bereich allein das Kindes-
wohl.
Wenn wir sehen, dass in Deutschland derzeit 859 Kin-
der zur Adoption freigegeben sind und es über 5 900 El-
tern gibt, die gerne ein Kind adoptieren würden, aber es
nicht können – das ist ein Verhältnis von 1:7 –, dann
müssen wir schauen, dass wir zunächst einmal die Kin-
der in einer Beziehung unterbringen, in der Mutter und
Vater zugegen sind.
Ich empfehle, die Situation in Deutschland zur Kennt-
nis zu nehmen: Wir haben über 8 Millionen Familien,
und weit über 90 Prozent der Kinder leben in einer Fa-
milie, in der Mutter und Vater vorhanden sind, oder aber
in einer Beziehung, in der nur die Mutter oder der Vater
mit den Kindern vorhanden ist.
Wir respektieren jede andere Lebensform; aber wir ha-
ben eine besondere Schutzpflicht gegenüber unseren
Kindern. Demzufolge werden wir dann über das Thema
diskutieren, wenn eine gesicherte Datenlage, wenn Stu-
dien vorhanden sind. Solange das nicht der Fall ist, wird
es mit uns keine Änderung geben.
Ich muss auch sagen, dass Ehe und Familie nach
Art. 6 des Grundgesetzes privilegiert sind. Man kann
dieses Grundrecht nicht schleichend außer Kraft setzen.
Dann müssten wir über eine Verfassungsänderung nach-
denken, und dazu bedarf es bekanntlich einer Zweidrit-
telmehrheit.
Vielen Dank.
Zu einer Kurzintervention gebe ich der KolleginBiggi Bender das Wort.
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28484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
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Frau Kollegin, ich fühle mich von Ihnen persönlich
angesprochen, weil Sie gesagt haben, ein Kind brauche
für ein gedeihliches Aufwachsen das Zusammenleben
von Mutter und Vater.
Ich habe als Kleinkind meinen Vater verloren, weil er
gestorben ist. Ich bin deswegen mit einer alleinerziehen-
den Mutter und meiner Schwester aufgewachsen. In den
60er-Jahren wurde mir in meiner Kindheit deswegen
oftmals entgegengehalten, dass das doch eigentlich ein
defizitäres Lebensmodell sei, wenn kein Vater im Haus
sei; da könne doch nichts Gescheites dabei herauskom-
men. – Wollen Sie im Jahre 2013 allen Ernstes dieses
blöde, diskriminierende Geschwätz, das mich in meiner
Kindheit schon genervt hat, weiter aufrechterhalten?
Frau Kollegin Granold, bitte, zur Antwort.
Frau Kollegin, ich habe weder Sie noch jemand ande-
ren diskriminiert.
Ich bin seit 30 Jahren als Familienanwältin tätig. Ich
kenne die Situation in Familien und habe unzählige kin-
derpsychologische Gutachten gelesen, gerade in Bezug
auf das Sorgerecht und das Umgangsrecht. Es heißt im-
mer: Die Kinder brauchen eine Mutter, einen Vater, also
auch eine Bezugsperson, die dem jeweils anderen Ge-
schlecht angehört.
Als Beispiele habe ich die Erzieher bzw. Lehrer in der
Kita und der Grundschule aufgezählt.
Ich habe auf die Volladoption Bezug genommen. Es
geht um die Kinder, die keinen leiblichen Vater und
keine leibliche Mutter mehr haben und zur Adoption
freigegeben sind, also keinen Bezug mehr haben. Diese
Kinder sind in einer besonderen Situation, weil sie keine
leiblichen Eltern mehr haben.
Ich erwähne hier noch einmal die Fürsorgepflicht und
die Schutzfunktion des Staates. Ich habe die Zahl von
860 Kindern genannt, die 2011 zur Adoption vorgemerkt
waren. Angesichts der Zahl von knapp 6 000 Eltern, die
diesen Kindern gegenüberstehen, sollte man versuchen,
die Kinder an diese zu vermitteln. Das habe ich vorge-
schlagen.
Ich habe niemanden diskriminiert. Ich bitte darum,
sachlich zu sein und mittel- und langfristige Studien ab-
zuwarten, um zu sehen, wie sich die Situation der
Kinder, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft
leben, darstellt. Diese Studien gibt es bislang nicht. Vom
Bundesministerium der Justiz wurde eine Studie in Auf-
trag gegeben, um uns gesicherte Daten zu geben.
Lesen Sie es doch einfach nach.
Da steht geschrieben: Es gibt noch keine gesicherte
Datengrundlage. Man möge weitere Gutachten einho-
len. – Das ist bis zur Stunde nicht geschehen.
Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! FrauGranold, ehrlich gesagt, ich bin erschüttert – nicht nurich, sondern, ich glaube, ganz viele Menschen hier indiesem Parlament – über das, was wir gerade hier gehörthaben.
Ich selbst habe drei Töchter und lebe mit meinenTöchtern allein. Die Konsequenz aus der Situation, dieSie jetzt gerade geschildert haben, wäre die, dass ich mirSorgen machen müsste, dass mir irgendwann jemandmeine Kinder wegnimmt.
Ich rede hier nicht für mich allein, sondern ich redefür einen Großteil der Menschen in unserer Gesellschaft,die mit ihren Kindern allein leben oder mit gleichge-schlechtlichen Partnern zusammenleben. Das, was wiruns gerade hier von Ihnen anhören mussten, war wirk-lich das Letzte.
Ich will jetzt einmal versuchen, das Ganze wieder aufein auch für mich vernünftiges Level zurückzubringen.
Lassen Sie mich kurz auf das eingehen, was uns im Au-genblick in der Rechtsprechung beschäftigt. Ich denke,wenn wir ehrlich sind – vielleicht bis auf ein paar Aus-nahmen; herzlich willkommen, Herr Geis –, dann gehen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28485
Sonja Steffen
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wir doch alle hier im Parlament davon aus, dass dasBundesverfassungsgericht noch vor der Sommerpausezum sechsten Mal feststellen wird, dass Lebenspartner-schaften im Vergleich mit Ehen ungleich behandelt wer-den und dass dies verfassungswidrig ist.
Seien wir ehrlich: Wie kann es sein, dass Lebenspart-nerschaften nicht vom Ehegattensplitting profitieren dür-fen, obwohl die gleichen gegenseitigen Pflichten wiezwischen Ehepartnern bestehen? Das versteht keinMensch. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letztenJahren Schritt für Schritt die Lücken in den Rechtsberei-chen geschlossen, in denen Lebenspartner gegenüberEhepartnern benachteiligt wurden. Die Ungleichbehand-lung wird also über kurz oder lang Geschichte sein.Die Diskriminierung von Homosexuellen ist damitaber noch nicht beendet. Der Kollege Beck hat es vorhinschon geschildert. Es ist zwar erfreulich, dass die Men-schen bei uns heute frei darüber entscheiden können, obsie einen Mann oder eine Frau heiraten wollen. Jedochkann aus dieser Entscheidung bereits eine Ungleichbe-handlung resultieren. Die Zuweisung in Ehe und Le-benspartnerschaft, die der Staat an dieser Stelle vorgibt,kann negative Folgen im Leben der Menschen haben.Denn leider sind Lesben und Schwule auch heute nochAnfeindungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Wirhaben vorhin ein schönes Beispiel dafür gehabt – hier imParlament. Das kann schon in dem Moment anfangen, indem man Formulare und Anträge ausfüllen muss.Stellen Sie sich einmal vor: Den Status „verheiratet“dürfen Lebenspartner nicht angeben. „Ledig“ wäre in ei-ner Bewerbung des Lebenspartners zum Beispiel falsch.Somit bleibt nur die Formulierung „nicht verheiratet“,die man bei einer Bewerbung verwenden darf, auchwenn man verpartnert ist. „Verpartnert“ wäre wahr-scheinlich juristisch korrekt. Wie auch immer man esdreht und wendet: Zumutbar ist das alles doch nichtmehr.
Im schlimmsten Fall hat die Angabe, Lebenspartnerzu sein, leider immer noch sehr unangenehme Folgen,zum Beispiel bei der Wohnungssuche oder im Arbeitsle-ben. Eine Studie der Bundeszentrale für politische Bil-dung hat ergeben, dass die Hälfte aller Schwulen undLesben ihre sexuelle Identität am Arbeitsplatz für sichbehält. Insgesamt haben sogar drei Viertel der Befragtendieser Studie von Schwierigkeiten im Berufsalltag be-richtet, die auf ihre Homosexualität zurückzuführensind.Vor kurzem hat die Zeit dazu getitelt: „Homosexuali-tät gilt noch immer als Karrierekiller.“ Dagegen könnenwir etwas tun. Die rechtliche Debatte, die wir hier füh-ren, kann Toleranz in unserem Land nur fördern, und wirkönnen jetzt dafür sorgen, dass Paare wegen ihrersexuellen Orientierung wenigstens vom Staat nicht mehrunterschiedlich behandelt werden.
Es gibt keine Argumente mehr. Das war auch schon inder letzten Sitzung des Rechtsausschusses zu beobach-ten. Da haben wir diese Debatte schon einmal geführt,wenn man sie überhaupt so nennen kann; denn dieUnionsparteien hatten keine Argumente mehr. Also: Wieviel Weile brauchen Sie, Frau Granold, und Sie, sehr ge-ehrte Kollegen von der Unionsfraktion, eigentlich noch,um diesen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen?Eigentlich wollten wir heute über die Änderung desLebenspartnerschaftsgesetzes abstimmen. Den entspre-chenden Gesetzentwurf haben Sie einfach von der Ta-gesordnung genommen. Es ist lächerlich, immer nochdagegenzustimmen, nach dem, was das Bundesverfas-sungsgericht entschieden hat, nach dem, was die Mehr-heit unserer Bevölkerung sagt, und nachdem aktuelleUmfragen zeigen, dass selbst die Mehrheit der CDU-Anhänger – man höre und staune – die Homo-Ehe befür-wortet.
Frau Kollegin.
Lassen Sie sich also nicht noch einmal vom Bundes-
verfassungsgericht auf den Hinterkopf schlagen, wie es
der Kollege Beck in der letzten Debatte so schön formu-
liert hat. Lassen Sie uns ein Gesetz beschließen, das auch
gleichgeschlechtlichen Paaren Eheschließungen ermög-
licht.
Vielen Dank.
Michael Kauch hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! GleichePflichten, gleiche Rechte – das ist der Grundsatz unsererVerfassung, und es ist nicht verständlich, warum dieserGrundsatz nicht auch für gleichgeschlechtliche Le-benspartner gelten soll.
Deshalb, meine Damen und Herren, spricht sichmeine Fraktion für die volle Gleichstellung der Le-benspartnerschaften mit der Ehe aus. Und: Ich unter-stütze nachdrücklich auch im Namen meiner Fraktiondie Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.Denn es macht eben einen Unterschied – das hat die Vor-rednerin gerade sehr klar an einigen Beispielen darge-stellt –, ob man seine sexuelle Orientierung aufgrund derAngabe seines Familienstandes in jeder Situation offen-
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28486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Michael Kauch
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baren muss, etwa bei Bewerbungen. Da muss ich sagen:Das wäre ein Schritt zur Entdiskriminierung von Le-benspartnern; denn es gibt eben immer noch Diskrimi-nierung in dieser Gesellschaft.Meine Damen und Herren, es ist auch nicht so, als gäbees keine gleichgeschlechtlichen Ehen in Deutschland. DasBundesverfassungsgericht hat nämlich eine Bestimmungdes Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärt.Es enthielt eine gesetzliche Regelung mit der Forderung,sich vor einer Geschlechtsumwandlung scheiden zu las-sen. Dazu hat das Verfassungsgericht mittlerweile ge-sagt: Das verstößt gegen Art. 6 des Grundgesetzes; des-halb ist diese Regelung nichtig. Daher gibt es heute inDeutschland gleichgeschlechtliche Ehen, und diesesLand existiert immer noch. Wir haben kein Problemdurch diese gleichgeschlechtlichen Ehen bekommen.
Das Bundesverfassungsgericht hat bei der Sukzes-sivadoption klar entschieden. Es ist erkennbar, wohin dieReise geht. Das gilt auch für andere Entscheidungen, dieanstehen. Wenn das Verfassungsgericht schon bei einerEntscheidung, in der es nicht nur um die Lebenspartner,sondern auch um ein Kind geht, den Gleichheitsgrund-satz nach vorne stellt und sagt: „Der bloße Verweis aufArt. 6 rechtfertigt keine Ungleichbehandlung“, welchesArgument gibt es denn dann noch, dass das Verfassungs-gericht anders entscheiden sollte, wenn es nur um dieLebenspartner und deren gleiche Unterhaltspflichtengeht? Kein Mensch hier in diesem Saal glaubt doch, dasshier eine andere Entscheidung zu erwarten ist. DiesesParlament ist nicht gewählt, um der Notar des Bundes-verfassungsgerichts zu sein. Dieses Parlament ist ge-wählt, um verfassungswidrige Zustände selbst zu besei-tigen.
Deshalb ist diese Debatte für die FDP nicht beendet. De-batten in der Koalition werden gemeinsam beendet, odersie werden geführt. Diese Koalition sollte in dieser undin anderen strittigen Fragen handeln; denn wir werdendann als Koalition erfolgreich sein, wenn wir die Pro-jekte, die einer der Koalitionspartner wichtig findet,während der andere Koalitionspartner sie vielleicht nichtwill, zu einer Lösung führen, statt uns gegenseitig zublockieren.
Frau Granold hat gerade angeführt, dass das Schutz-recht nach Art. 6 Grundgesetz immer weiter ausgehöhltwird. Liebe Frau Granold, der Ehe wird nichts wegge-nommen.
Alle Schutzrechte, die die Ehe nach unserer Verfassunghat, bleiben bestehen. Es ist auch nicht so, dass ein Paarmehr eine heterosexuelle Ehe eingeht, weil es dafürSteuervorteile gibt. Ein schwuler Mann wird keine Frauheiraten, weil ihm bei einer Lebenspartnerschaft dieSteuerprivilegien verwehrt werden und bei der Ehe ge-währt werden. Das ist doch lebensfremd. Deshalb ist dieEhe in keiner Weise betroffen.
Herr Kauch, möchten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Granold zulassen?
Gerne.
Bitte schön.
Herr Kollege Kauch, würden Sie bitte zur Kenntnis
nehmen, dass ich mich zum Thema Splitting überhaupt
nicht geäußert habe, sondern nur zum Thema Volladop-
tion. Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass in
Art. 6 Grundgesetz Ehe und Familie privilegiert werden.
Das haben die Väter unseres Grundgesetzes so gesagt.
Das bedeutet, dass wir dies jetzt nicht nivellieren kön-
nen. Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass Ihr
Vorhaben eine Widerlegung dessen ist, was die Väter
und Mütter des Grundgesetzes uns damals ins Buch ge-
schrieben haben? Art. 6 Grundgesetz sagt: Ehe und Fa-
milie sind privilegiert. Würden Sie mir zustimmen, dass
es, wenn man will, dass sie nicht mehr privilegiert sind,
sondern nivelliert werden sollen, einer Verfassungsände-
rung bedarf?
Ich stimme Ihnen hier nicht zu; denn das Bundesver-fassungsgericht hat bisher in all seinen Entscheidungenanders geurteilt. Man überlege sich einmal, in welcherhistorischen Situation dieser Artikel zustande gekom-men ist: Es handelt sich hier um ein Grundrecht der Fa-milie gegen den Staat.
Vor dem, was während des Nationalsozialismus gesche-hen ist, als der Staat in die Familien eingegriffen und dieErziehung verstaatlicht hat, wollten die Mütter und Vä-ter des Grundgesetzes die Menschen in Deutschland
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28487
Michael Kauch
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schützen. Das geschieht durch Art. 6. Das ist keinGrund, andere Lebensgemeinschaften zu diskriminieren.Das sagt das Verfassungsgericht ganz klar.
Herr Kollege, möchten Sie jetzt auch noch die Zwi-
schenfrage des Kollegen Volker Beck zulassen?
Bitte sehr.
Bitte schön.
Die Kollegin Granold hat gerade angesprochen, dass
die Frage der Volladoption – das heißt eigentlich nur,
dass es um gleiche Rechte bei der Adoption geht – noch
strittig ist. Würden Sie als FDP-Fraktion mit mir die
Rechtsauffassung teilen, dass das Bundesverfassungs-
gericht in seiner Entscheidung vom 19. Februar 2013 re-
lativ eindeutig war? Dort heißt es:
Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener
Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausge-
staltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht ….
Daraus ergibt sich ja ziemlich klar, dass das Bundesver-
fassungsgericht von diesem Hohen Haus erwartet, spä-
testens bis zum Sommer nächsten Jahres gleiche Rechte
bei der Adoption für Lebenspartnerschaft und Ehe zu
schaffen.
Lieber Kollege Beck, ich denke, dieses Zitat des Bun-desverfassungsgerichts spricht für sich.Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, dieFrage zu stellen, welche politische Wirkung es hat, dassdie Sukzessivadoption vom Bundesverfassungsgerichtentsprechend ausgeurteilt ist. Das heißt konkret, dass esmöglich ist, dass ich erst alleine adoptiere und zweiJahre später mein Lebenspartner adoptiert. Ist das im In-teresse des Kindeswohles? Ich glaube nicht.Aus meiner Sicht gibt es noch ein weiteres Argument.Wir haben in Berlin seit Ende der 90er-Jahre Pflegefami-lien, in denen gleichgeschlechtliche Paare Kinder aufzie-hen.
Es ist im Kindeswohlinteresse, und zwar jeweils im Ein-zelfall, dass auch hier eine gemeinschaftliche Adoptionmöglich ist.
Liebe Frau Granold, ich war über Ihre Einlassung et-was schockiert.
Sie haben gesagt: Die abgebende Mutter beispielsweisemöchte vielleicht nicht, dass ihr Kind von einem gleich-geschlechtlichen Paar adoptiert wird. Wenn wir die Ar-gumentation zulassen, dann stellt sich die Frage: Woenden wir? Heißt das dann, ich kann ankreuzen: keineSchwarzen, keine Migranten? Ich glaube, das führt zunichts; das führt auf eine schiefe Bahn.
Es muss um das Kindeswohl gehen und nicht um dieVorurteile, die bestimmte Personen hier haben.
Es wird viel mit Rollenbildern argumentiert. MeineDamen und Herren, glauben Sie denn, Rollenbilder wer-den nur von Vater und Mutter gelernt? Haben die Kinderkein soziales Umfeld, keine Tanten, keine Onkel, keineFreunde? Nein, es gibt im sozialen Umfeld natürlichüberall Frauen und Männer. Auch da frage ich mich, wasdiese Argumentation soll.Aus der heutigen Aktuellen Stunde des SächsischenLandtages gibt es ein sehr schönes Zitat eines CDU-Abgeordneten. Nach Medienberichten hat AlexanderKrauß gesagt, man müsse ungleich behandeln; denn manbrauche – so haben ja auch Sie argumentiert – die Rol-lenbilder. Weiter heißt es:Wenn ich meinen Sohn angucke, dann kann ich mitihm Skifahren. Meine Frau kann das nicht.Meine Damen und Herren, Frauen können auch Skifah-ren.
Tausende von Kindern leben in gleichgeschlechtli-chen Partnerschaften, die wenigsten davon sind adop-tiert. Schwule und Lesben können Kinder kriegen – dastun sie auch –, und die Kinder wachsen gut auf, weil sievon ihren Eltern geliebt werden.
Das Entscheidende ist doch, dass sie in ihrem LebenLiebe erfahren.Wichtig ist, dass wir erkennen, dass die Gesellschaftdas mehrheitlich anders sieht, als wir das hier teilweisedargestellt bekommen.
Die Debatte um die schrille Minderheit möchte ich hiernicht führen. Der Bundesaußenminister hat sehr klug ge-
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28488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Michael Kauch
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sagt: Wenn die Gesellschaft weiter ist als eine Partei,dann ist das nicht das Problem der Gesellschaft.
Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kollegin Steffen, ich muss Ihnen leider widerspre-
chen: Was die CDU/CSU hier abliefert, ist nicht lächer-
lich, das ist einfach bösartig.
Ich finde es skandalös, dass Sie alle, wie Sie hier sit-
zen, beschlossen haben, dass Herr Geis, nach dem, was
er in der letzten Sitzungswoche abgeliefert hat, wieder
sprechen darf, und dass Frau Granold hier solche Thesen
aufstellen darf.
Ich bin ebenfalls alleinerziehende Mutter dreier Kin-
der. Wollen Sie mir demnächst amtlich jemanden zur
Seite stellen, möglichst einen Mann, damit ich meine
Aufgaben richtig mache? Oder wollen Sie Zwangshei-
rat? Oder wollen Sie Scheidung verbieten? Wie hätten
Sie es denn gerne? Was hier geboten wird, ist eine Belei-
digung, nicht nur für Schwule und Lesben, sondern für
alle alleinerziehenden Männer und Frauen.
Frau Höll, Frau Steinbach würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Ja.
Bitte schön.
Frau Kollegin, haben Sie wahrgenommen, dass Sie
nicht mehr in der DDR leben, sondern in einem freien
Land, in dem jeder Abgeordnete reden kann, was er
möchte,
und in dem jeder Abgeordnete das Recht hat, in Reden
seine Auffassung zu vertreten?
Wir müssen Sie ertragen,
und das ist schlimmer als alles, was Sie in einer Demo-
kratie ertragen müssen.
Frau Steinbach, zum Ersten: Es gibt in den alten undin den neuen Bundesländern viele Bürgerinnen und Bür-ger, die sehr wohl bedacht haben, warum sie die Linke inden Bundestag wählen. Mit dieser Äußerung beleidigenSie Wählerinnen und Wähler, nicht uns Abgeordnetehier im Parlament.
Zweitens möchte ich fragen: Wenn es so ist, dass je-der und jede seine Meinung äußern kann, warum habenSie den Fraktionszwang dann nicht aufgehoben? Warumhaben Sie die Abstimmung heute hier verhindert?
Warum gestatten Sie der FDP nicht, aus der Zwangsum-klammerung Ihrer Fraktion herauszukommen? So vielzu Ihrem Freiheitsbegriff.Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Normalerweise istes so, dass Rednerinnen und Redner hier im Namen ihrerFraktion sprechen oder ausdrücklich betonen, dass essich um ihre Einzelmeinung handelt. Also hat FrauGranold im Namen ihrer Fraktion gesprochen, und auchHerr Geis, der gleich wieder so argumentieren wird wievor 14 Tagen, spricht für seine Fraktion. Er vertritt eineAuffassung, die zeigt, dass Sie zutiefst homophob sind. –Danke.
Herr Geis, da Sie sich vor 14 Tagen zum Verteidiger,zum Retter der Ehe aufgeschwungen haben, sage ich Ih-nen Folgendes: Im Schnitt zerbricht mehr als die Hälfteder bürgerlichen Ehen und Familien, und die Geburten-raten sind niedrig. Aber nach wie vor soll die Ehe ge-setzlich vor ihrem angeblichen Verfall geschützt wer-den? Und der Verfall soll ihr insbesondere durchschwule und lesbische Paare drohen? Merken Sie nicht,wie dumm diese Argumentation ist? Da bleibt einem fastnichts mehr zu sagen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28489
Dr. Barbara Höll
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Heute diskutieren wir über zwei Gesetzentwürfe undeinen Antrag. Wir als Linke haben im Juni 2010 einenAntrag zur Öffnung der Ehe eingebracht. 2011 hat dieSPD noch dagegen gestimmt. Ich freue mich, dass Siejetzt diesen Schritt gegangen sind und ebenfalls sagen:Das einzig Konsequente ist die Öffnung der Ehe.
Schauen wir uns einmal an, was ein Kompromiss,wenn er überhaupt zustande käme, bedeutete: Demzu-folge würden wir die Lebenspartnerschaften, die heuteschon die gleichen Pflichten wie die Ehe beinhalten, unddie Ehe rechtlich völlig gleichstellen, aber die verschie-denen Namen beibehalten. Dann hätten wir zweideckungsgleiche Rechtsinstitute; sie hätten nur zwei ver-schiedene Namen. Daraus spricht doch der Versuch, mitder Macht der Worte krampfhaft Ungleiches, Anders-artigkeit zu definieren. Welches Denken steckt dahinter?Es geht dabei darum, eine heterosexuelle Normalität imKonstrukt „Vater, Mutter, Kind“ hochzuhalten, etwas,was der gesellschaftlichen Realität nicht mehr ent-spricht. Genau deshalb hat das Bundesverfassungsge-richt über die Jahre hinweg seine Meinung geändert,korrigiert – immer im Rahmen des Grundgesetzes.
Wir müssen hier endlich einmal darüber diskutieren,was es heißt, dass im Grundgesetz vom Schutz der Ehedie Rede ist. Das heißt nicht automatisch finanzielle Pri-vilegierung. Nein, auch das Ehegattensplitting ist 1953unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen gekom-men. Es ist wichtig und richtig, heute die Ungerechtig-keit zu beseitigen. Das kostet pro Jahr nur etwa 20 Mil-lionen Euro im Gegensatz zu den 20 Milliarden Euro,die das Ehegattensplitting kostet. Das sind in etwa dieZahlen, über die wir hier sprechen. Es geht also darum,genau zu schauen: Fördern wir tatsächlich das, was unsförderungswürdig ist, ausreichend und zielgerichtet, zumBeispiel das Leben mit Kindern und die geleistete Pfle-gearbeit?Abschließen möchte ich mit einem Hinweis. Ich habegestern in Leipzig an der Verleihung des LeipzigerBuchpreises zur Europäischen Verständigung teilgenom-men. Den Preis bekam Professor Klaus-Michael Bogdalfür sein Buch Europa erfindet die Zigeuner – Eine Ge-schichte von Faszination und Verachtung. Er zieht einalarmierendes Fazit:Die Fähigkeit zur Entzivilisierung ist den europäi-schen Gesellschaften nicht abhandengekommen.Ich glaube, solche Debatten mit solchen Äußerungensind Beweise dafür, wie dünn das Eis der Zivilisationzum Teil leider ist.Danke.
Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kol-
lege Norbert Geis.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Es ist guter parlamentarischer Brauch, dass manauch einmal eine andere Meinung erträgt. Ich bitte da-rum: Lassen Sie mich auch meine Meinung noch einmalsagen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es dürfte ei-gentlich unter uns nicht streitig sein, dass Ehe und Fami-lie zu den Grundlagen unseres Staatswesens und unsererGesellschaft zählen.
Daran kann eigentlich niemand ernsthaft zweifeln.
Das Grundgesetz hat Ehe und Familie deshalb unter denbesonderen Schutz des Staates gestellt.
Das gilt nicht nur für das Grundgesetz, sondern auch fürviele Länderverfassungen der Bundesrepublik Deutsch-land. Das muss man auch einmal zur Kenntnis nehmen.Es ist nun einmal so, dass Vater, Mutter und Kind dieGrundlagen menschlicher Gemeinwesen bilden.
Der Großrabbiner von Frankreich, Herr Bernheim, hatin einem Traktat, in welchem er sich mit der Gender-Ideologie auseinandersetzt,
folgenden Satz geprägt: Die wahre Familie sind Vater,Mutter und Kind. – Auch das muss man doch zur Kennt-nis nehmen.
Zumindest muss ich das sagen dürfen.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wollenmit Ihrem Gesetzentwurf die gleichgeschlechtlichen Le-bensgemeinschaften der Ehe vollkommen gleichstellen.Das ist Ihr Weg.
– Ich schlage Ihnen vor, erst einmal abzuwarten. – Siemachen das mit der Begründung, in der Ehe würdenMann und Frau genauso füreinander sorgen, wie das in
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28490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Norbert Geis
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den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften derFall ist.
Das ist für Sie die Begründung der Privilegierung. Ichgebe zu, dass auch das Verfassungsgericht dies sagt. Dasist aber deswegen nicht richtig.
Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Verfas-sungsgericht in seinem Urteil vom 17. Juli 2002 etwasganz anderes gesagt hat. Es hat da nämlich noch festge-stellt, dass die Ehe mit der gleichgeschlechtlichen Le-bensgemeinschaft gar nicht vergleichbar ist.
Meine Damen und Herren, die Privilegierung der Eheim Grundgesetz
– vielleicht ist es möglich, dass Sie mich in Ruhe aus-sprechen lassen – ist nicht deshalb gegeben, damit derStaat die Ehe in besonderer Weise schützt, sondern des-halb, weil niemand sonst als Vater und Mutter das Lebenweitergeben können.
Deswegen ist die Privilegierung gegeben. Das ist stän-dige Rechtsprechung. So steht es übereinstimmend in al-len verfassungsrechtlichen Kommentaren.
Herr Geis, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kol-
legen Volker Beck zulassen?
Ich will noch Ausführungen zu einem zweiten Grund
machen, dann kann er die Zwischenfrage stellen. – Es
gibt noch einen zweiten Grund, meine sehr verehrten
Damen und Herren. Der zweite Grund besteht darin,
dass niemand sonst als Vater und Mutter, wenn sie zu-
sammenleben, dem Kind besser Daseinskompetenz und
soziale Kompetenz – sie gehen der schulischen Kompe-
tenz voraus – vermitteln können. Das geht zwar auch auf
anderem Wege. Hier aber geht es um die generelle Rege-
lung. Auch das müssen Sie berücksichtigen. Sie können
in allen Kommentaren nachlesen, dass das der Grund ist,
weshalb Ehe und Familie privilegiert werden.
Das kann die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft
in diesem Sinne nun einmal nicht leisten.
Wenn Sie im Übrigen nur darauf abstellen, dass man
in der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft fürei-
nander sorgt wie in der Ehe – ich gebe Ihnen das ohne
Weiteres zu –, müssen Sie aber – das hat Herr Papier
übrigens auch gesagt und geschrieben – alle anderen
Einstandsgemeinschaften genauso behandeln. Warum
werden die dann diskriminiert? Das geht doch nicht.
Das wäre nämlich eine Diskriminierung anderer Lebens-
gemeinschaften, in denen man auch füreinander einsteht.
Deswegen gibt es aber nicht die Privilegierung. Warum
privilegiert wird, habe ich vorhin dargestellt. Das ist der
Grund, weshalb es so im Grundgesetz steht. – Bitte, Herr
Beck.
Herr Beck, bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Da Sie ein Zitat aus ei-nem Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli2002 gebracht und behauptet haben, das Verfassungs-gericht habe damals etwas anderes als das gesagt, was esuns seit 2009 immer wieder als Schlag auf den Hinter-kopf präsentiert, frage ich: Sind Ihnen die Leitsätze 3und 4 des Urteils bekannt, in denen eine Antwort auf dievon Ihnen gerade gestellte Frage gegeben wird? Leitsatz 3lautet:Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetrage-nen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtlichePaare verletzt Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Der beson-dere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindertden Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtli-che Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vor-zusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kom-men. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußendurch ein Institut, das sich an Personen wendet, diemiteinander keine Ehe eingehen können.Zu Ihrer Frage der fantasierten möglichen anderenbunten Lebensformen – Kardinal Meisner wollte schonFahrgemeinschaften mit der Ehe gleichstellen – heißt esim Leitsatz 4 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts:Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dassnichtehelichen Lebensgemeinschaften verschieden-geschlechtlicher Personen und verwandtschaftli-chen Einstandsgemeinschaften– das ist Ihr Lieblingsbeispiel –der Zugang zur Rechtsform der eingetragenen Le-benspartnerschaft verwehrt ist.Es geht dem Verfassungsgericht im Grundsatz um ei-nes: In der Lebenspartnerschaft sind Verantwortung undEinstehen mit dem gleichen Unterhaltsrecht und im
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28491
Volker Beck
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Lebenspartnerschaftsfolgenrecht gleich, wie im Ehefol-genrecht geregelt. Deshalb ist es nach Art. 3 Abs. 1gleich zu behandeln.Können Sie mir bestätigen, dass das Bundesverfas-sungsgericht insofern seit 2002 nichts anderes sagt alsdas, was es uns auch im Jahre 2013 gesagt hat?
Herr Beck, wenn ich Sie so höre – Sie haben jetzt
noch einmal eine Rede gehalten und ungefähr das Glei-
che gesagt wie vorhin, jedenfalls dem Inhalt nach –
komme ich zu dem Schluss: Man sollte Zwischenfragen
von Ihnen nicht mehr zulassen – ich werde es auch nicht
mehr tun –,
denn Sie nutzen jede Gelegenheit, um hier Ihre Meinung
zu deklamieren. Sie stellen ja gar keine wirklichen Fra-
gen. Aber ich will Ihnen die Frage beantworten.
– Denken Sie, ich kenne das nicht? Ich kenne das sehr
gut. Ich weiß, was das ist, und ich weiß auch, was darin
steht.
In den Gründen des Urteils des Verfassungsgerichts
steht ganz klar, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist,
ein Institut neben die Ehe zu stellen, das identisch ist mit
der Ehe.
– Damals ging das Verfassungsgericht noch davon aus,
dass ein Unterschied besteht.
– Meine Damen und Herren, wenn Sie nicht zuhören
wollen, dann kann ich mir die Mühe sparen. – In den
Gründen steht es ganz klar. Ich bitte Sie, das einmal
nachzulesen. Ich bitte wirklich darum. Ich bitte auch Sie,
Herr Beck, das einmal nachzulesen.
Denn wenn Sie das tun würden, würden Sie nicht ständig
dieselben Fragen stellen, die längst beantwortet sind. In
den Gründen steht ganz klar, dass es dem Gesetzgeber
verwehrt ist, ein Institut neben die Ehe zu stellen, das
identisch ist mit der Ehe. Lesen Sie es nach; das steht
drin. Es hat keinen Sinn, mit Ihnen darüber zu diskutie-
ren. Sie dürfen sich wieder setzen.
Herr Geis, es gibt noch eine weitere Zwischenfrage
der Kollegin Vogler aus der Linksfraktion. Möchten Sie
diese zulassen?
Nein, ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu. Das
hat ja keinen Sinn.
Ein Austausch von Argumenten ist hier ja nicht mehr
möglich.
– Nein, Sie verschließen sich einfach den Argumenten.
Mein Wort an die FDP: Meine sehr verehrten Damen
und Herren von der FDP, ich habe in den langen Jahren
der Zusammenarbeit immer wieder festgestellt, dass die
FDP eine Verfassungspartei ist. Wenn die gleichge-
schlechtlichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe
gleichgestellt werden sollen – das ist ja der Inhalt des
Gesetzgebungsantrags –,
dann ist das keine Verfassungsänderung, die man über
ein einfaches Gesetz machen kann. Dies wäre vielmehr
eine massive Verfassungsänderung, die Sie gemäß
Art. 79 des Grundgesetzes nur mit einem Gesetz machen
können, das von einer Mehrheit von zwei Dritteln in
Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird. Ich bitte
Sie sehr herzlich, dies mitzubedenken. Es verstößt mei-
ner Meinung nach gegen die Verfassung, wenn wir so
vorgehen, dass wir sagen: Das können wir mit einem
einfachem Gesetz tun. Die Verfassung kann in diesem
Punkt nur über den Weg, der in Art. 79 Grundgesetz be-
schrieben ist, geändert werden.
Lassen Sie mich ein weiteres Wort dazu sagen, meine
sehr verehrten Damen und Herren:
In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass Elternschaft biolo-
gisch zu verstehen sei. Es ist von der sogenannten biolo-
gischen Elternschaft die Rede. Das wird dem Begriff der
Elternschaft, das wird dem Menschenbild des Grundge-
setzes nicht mehr gerecht. Wir müssen bei dem Begriff
„natürliche Elternschaft“ bleiben, weil wir unter Natur
viel mehr verstehen als Biologie.
Herr Geis.
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28492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
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Unter Natur verstehen wir auch, dass der Mensch von
Anfang an seine Würde hat; dies hat ihm das Verfas-
sungsgericht in zwei großartigen Urteilen zugebilligt.
Herr Geis, Ihre Redezeit ist zu Ende.
Ja. Ich komme auch zum Ende.
Dieses Thema kann ich hier nicht in sechs Minuten ab-
handeln.
– Frau Kollegin, ich kenne Sie als ernsthafte Kollegin.
Lassen Sie doch diese Zwischenrufe!
Herr Geis, Ihre Redezeit ist zu Ende!
Ich komme zum Ende. – Meine sehr verehrten Damen
und Herren, ich bitte Sie sehr herzlich, diese Diskussion
nicht mit der Aufgeregtheit zu führen, mit der Sie sie
führen. Ich bitte, wirklich sachlich zu diskutieren. Dann
werden wir vielleicht auch gemeinsam zu sachlichen Er-
gebnissen kommen. Das ist bisher immer gelungen.
Danke schön.
Der Kollege Johannes Kahrs hat jetzt das Wort für die
SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich frage mich, warum ich für diese Debatteneigentlich immer noch eine Rede schreibe, wenn ich sienachher sowieso nicht halten kann.
Ich, Herr Geis – wenn ich auf Ihre Frage einmal ganzsachlich eingehen darf –, bin aufgewachsen in einerziemlich spießigen Familie: Vater, Mutter, drei Kinder.
Ich finde es auch vollkommen richtig, dass keiner etwasdagegen hat und dass wir alle das gut finden. Das betrifftnämlich die Mehrheit der Menschen in diesem Lande.Keiner möchte dieser Mehrheit etwas wegnehmen. Kei-ner findet das schlecht. Wir sind alle so aufgewachsen.Das ist alles wunderbar. Aber darum geht es in dieserDebatte nicht.
Es geht darum, dass man, wenn man Schwulen und Les-ben die gleichen Rechte und auch die gleichen Pflichtengibt, niemand anderem etwas wegnimmt. Darum geht es.
In dieser Debatte, Herr Geis, haben Sie und FrauGranold es ernsthaft geschafft, alle anderen Lebensfor-men, die es in diesem Land gibt, einmal voll gegen dieWand zu kacheln und zu beleidigen, und zwar auf eineziemlich üble Art und Weise. Das ist unerträglich.
Das ist der Grund, warum alle Fraktionen hier geklatschthaben, als der Kollege Kauch einfach einmal durchdekli-niert hat, was die Wahrheit ist. Als ich zu Ihrer Fraktiongeblickt habe, habe ich gesehen: Die Mitglieder IhrerFraktion waren bei Ihrer Rede peinlich berührt, und beider Rede von Frau Granold haben etliche den Kopf ge-schüttelt.
Ernsthaft: Wie wollen Sie als große Volkspartei nochklarkommen, wenn Sie jede andere Lebensform diskri-minieren?
Das kann doch nicht angehen! So kann das doch nichtlaufen!
Da Sie das Verfassungsgericht bemüht haben: ErikaSteinbach – da sie gerade hier sitzt – hat nach einemUrteil des Bundesverfassungsgerichts einmal getwittert:„Wer schützt eigentlich unsere Verfassung vor den Ver-fassungsrichtern?“
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28493
Johannes Kahrs
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Ich glaube, dazu könnte man relativ viel sagen. Wenigs-tens so viel: Das, was Sie und Herr Geis hier laufendabliefern, ist für die CDU/CSU kein Ruhmesblatt. Dasheißt, Sie sind in der Realität in diesem Land nicht ange-kommen. Das, Frau Steinbach, bedeutet, dass Sie IhreBerechtigung nach und nach verlieren.Würden Sie doch auf Herrn Schäuble hören! HerrSchäuble hat Anfang März dieses Jahres gesagt:Wenn die CDU Volkspartei bleiben will, dann musssie veränderte Realitäten zur Kenntnis nehmen.
So gerne ich sonst anderer Meinung bin als HerrSchäuble und mich mit ihm streite: In diesem Fall hat errecht. Direkt danach hat die CDU die Wahl in Wiesba-den verloren. Sie können sich genau überlegen, wer da-ran unter anderem beteiligt war.
Herr Kollege?
Sie verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung, weil
die Menschen merken, dass das, was Sie vertreten, ab-
surd ist. Es geht nicht gegen die Ehe. Es geht nicht gegen
Familien mit Kindern. Im Gegenteil: Das finden wir alle
gut, unterstützenswert und richtig. Es geht darum, auch
andere, alternative Lebensformen zuzulassen und Unter-
stützung zu geben, wenn Menschen füreinander Verant-
wortung übernehmen. Wenn Sie das nicht verstehen,
dann sind Sie hier falsch, dann sollten Sie sich schämen.
Jetzt gerne, Frau Steinbach.
Die Frage ist, ob Sie eine Zwischenfrage von Frau
Steinbach zulassen möchten; das geht nämlich nur inner-
halb Ihrer Redezeit.
Aber immer doch.
Frau Steinbach, bitte.
Herr Kahrs, Sie haben gesagt: „Wenn jemand in einer
spießigen Familie aus Vater, Mutter und drei Kindern
aufwächst“. Das ist Diskriminierung.
Ich habe von mir geredet.
Jetzt frage ich Sie: In unserer Demokratie mit Gewal-
tenteilung ist doch keine unserer Institutionen eine hei-
lige Kuh, noch sind sie unfehlbar wie der Papst, sondern
alle Einrichtungen müssen sich – auch wenn sie von ih-
rer Arbeit überzeugt sind – Kritik gefallen lassen. Wenn
ich der Überzeugung bin, dass das Bundesverfassungs-
gericht einmal auf dem falschen Bein „Hurra!“ geschrien
hat, dann sage ich das auch. Konrad Adenauer hat das
übrigens auch schon gemacht.
Frau Steinbach, einmal angenommen, jemand wie ich– der zugegebenermaßen relativ spießig ist: Ich lebe seitzwanzig Jahren mit meinem Freund zusammen; vergli-chen mit der Dauer mancher Ehen von Kollegen IhrerKoalition ist das ziemlich spießig –
will seinen Freund heiraten. Dann verstehe ich ganz imErnst nicht, warum Sie nicht wollen, dass zwei Men-schen, die füreinander Verantwortung übernehmen undauch die Pflichten übernehmen, nicht auch die gleichenRechte bekommen sollen. Spießig ist nicht immerschlecht – wie gesagt: Ich bin es auch.
In der Sache muss man einfach zur Kenntnis nehmen:Es soll doch in diesem Lande ein jeder leben, wie er will.
Es soll in diesem Lande ein jeder glücklich werden, wieer will. Es soll in diesem Lande möglich sein, dass einer,der die gleichen Pflichten übernimmt, auch die gleichenRechte bekommt. Wenn Sie das nicht verstehen, danntun Sie mir leid.Was das Bundesverfassungsgericht angeht, FrauSteinbach: Man kann natürlich die Verfassungsorganegegeneinander ausspielen und sie abwatschen. Das Bun-desverfassungsgericht war nicht nur meiner Meinung, eshat diese auch sehr ausgewogen begründet. Ich finde,dass man mit Verfassungsorganen vernünftig umgehenmuss. Die Art und Weise, wie Sie das tun, und die Artund Weise, wie Herr Geis das Bundesverfassungsgerichtmissbraucht, indem er dieses Urteil falsch interpretiert,
halte ich inzwischen für unerträglich.
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28494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Johannes Kahrs
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Übrigens, Herr Geis: Ihre Ausführungen zu diesemThema sind peinlich.
– Herr Geis, überlegen Sie einmal, warum – es wurdevorhin gesagt – die Hälfte aller Schwulen und Lesbensich am Arbeitsplatz nicht zu sagen trauen, dass sieschwul oder lesbisch sind. Es ist wegen Menschen wieIhnen, von denen sie diskriminiert werden. Das kannnicht angehen, das ist eine Schande.
Herr Kauch, ich fand Ihre Rede wunderbar – ich habeimmer geklatscht –; aber am Ende gab es ein kleinesProblem für mich: Wenn das, was Sie gesagt haben, allesrichtig war: Warum stimmt die FDP dann nicht richtigab?Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Nun hat der Kollege Volker Beck das Wort zur
Geschäftsordnung gewünscht. Ich erteile ihm das Wort.
Bitte schön.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sichder Kollege Kauder beruhigt hat, dann kann ich sagen:Dass hier Menschen für ihre Rechte streiten und anderediesen Kampf unterstützen, ist kein Meinungsterror, son-dern eine wichtige gesellschaftspolitische Diskussion.
Sie versuchen hier, Opfer und Täter zu vertauschen.
Ich beantrage für meine Fraktion, dass wir heute übereinen Antrag abstimmen, durch den Sie, Frau Justiz-ministerin, aufgefordert werden, im Namen der Bundes-regierung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das Ur-teil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar2013 umsetzt. In diesem Urteil – das haben wir vorhingehört – heißt es: Die Sukzessivadoption gilt sofort, undbei den Adoptionsmöglichkeiten müssen gleiche Rechtehergestellt werden. – Das wäre die Hausaufgabe. Siekennen dieses Urteil, Frau Justizministerin. Deshalb istdiese Frage entscheidungsreif.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich binmit der Rede des Kollegen Kauch in der Sache völligeinverstanden gewesen. Aber dann bleibt die Frage:Wann wird diese Sachposition tatsächlich in politischesHandeln überführt? Es ist heute an Ihnen, diese Ent-scheidung zu treffen.
Es ist doch absurd, wenn wir hier im Deutschen Bundes-tag diskutieren und dann über die Frage abstimmen müs-sen, ob wir abstimmen.Die Frage ist entscheidungsreif. Es gibt bei Ihnen un-terschiedliche Positionen; das mag so sein. Die Koalitionhat in dieser Woche mit ihren Stimmen im Innenaus-schuss einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung bei derAdoption abgelehnt. Da wissen wir, wohin die Sachegeht.
Entscheiden Sie sich jetzt endlich einmal! Wollen Siein dieser Legislaturperiode das Adoptionsrecht regelnund zu einer Gleichstellung kommen? Dann müssen Sieheute unserem Antrag zustimmen. Und erzählen Sie denLeuten draußen nicht, Sie seien zwar für die Gleichstel-lung, würden aber immer wieder, hundertmal in derWahlperiode, total entschieden gegen die Gleichstellungstimmen.
Meine Damen und Herren, der Kollege Kauder hatlaut dpa am Dienstag erklärt, die Debatte über die Le-benspartnerschaft und über die Gleichstellung sei für dieKoalition beendet.
– Ja.
– Das bezieht sich auf die Tagesordnung und darauf, obwir abstimmen. – Er hat die Koalitionstreue des Kolle-gen Brüderle gelobt, der garantiert habe, man stimmenicht mit wechselnden Mehrheiten ab.
Im Koalitionsvertrag steht die Gleichstellung von Le-benspartnerschaften. Wenn ein Koalitionsvertrag gilt,dann gilt er sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch hin-sichtlich des Verfahrens.Bei uns war auch nicht alles einfach, aber so sind wirmiteinander umgegangen und haben die Sachen amEnde vorangebracht. Sonst hätte es das Lebenspartner-schaftsgesetz nie gegeben. Herta Däubler-Gmelin wolltedas nie anpacken. Wir als rot-grüne Koalition haben dieVereinbarung aus dem Koalitionsvertrag dann aber dankLeuten wie Peter Struck auch gemeinsam durchgesetzt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28495
Volker Beck
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Wenn es bei Ihnen so nicht geht, dann müssen Sie heutedafür sorgen, dass die Abstimmung freigegeben undendlich über diese Sache entschieden wird. Sie ist ent-scheidungsreif; neue Argumente sind nicht ersichtlich.Bewegen Sie sich!
Seit 2001 liegt unser Gesetzentwurf vor, 2011 gab esdie Anhörung, und Sie wollen uns hier erzählen, Sie hät-ten noch Beratungsbedarf. Das ist doch ein Stück ausdem Tollhaus.Sie haben in dieser Frage nur noch für eines eine Ge-meinsamkeit in der Koalition, nämlich dafür, dass Siedie Abstimmung verschieben. In der Sache habe Siekeine gemeinsame Position. Sie sind nicht handlungsfä-hig. Deshalb gehören Sie weg, wenn nicht die Leute, dieunserer Meinung sind, endlich sagen: Wir stimmen ge-meinsam mit der Opposition für die Gleichstellung derLebenspartnerschaft und schaffen hier faire Bedingun-gen in unserem Land.
Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsord-
nung? – Das ist nicht der Fall.
Damit kommen wir zu den Abstimmungen.
Zunächst einmal kommen wir zum Tagesordnungs-
punkt 8 a sowie zum Zusatzpunkt 7. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 17/12676 und 17/12677 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.
Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 8 b. Es
geht um den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/12691. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die
Fraktionen CDU/CSU und FDP wünschen Überwei-
sung, und zwar federführend an den Rechtsausschuss
und mitberatend an den Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend. Wir stimmen nach ständiger
Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberwei-
sung ab. Ich frage deshalb, wer für die beantragte Über-
weisung stimmt. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Somit ist die Überweisung mehrheitlich be-
schlossen.
Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Druck-
sache 17/12691 in der Sache nicht ab.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines … Straf-
rechtsänderungsgesetzes – Beschränkung der
Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklä-
rungs- und Präventionshilfe
– Drucksache 17/9695 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 17/12732 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall.
Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejeni-
gen, die ihr nicht zu folgen wünschen, den Saal zu ver-
lassen, damit die übrigen der Aussprache folgen können.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Jörg van Essen von der FDP-Fraktion
das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Es geht um ein Thema, das nicht so vieleEmotionen hervorruft wie das Debattenthema, das wirgerade behandelt haben, und trotzdem ist es eine heißdiskutierte Frage. Es geht nämlich um die Frage derKronzeugenregelung.Ich selbst komme aus der Staatsanwaltschaft und ver-rate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass meine Kolle-gen die Bedeutung der Kronzeugenregelung ganz außer-ordentlich schätzen. Es gibt insbesondere einen Bereich,von dem man sagen muss, dass die Justiz viele ihrer Er-folge ohne eine bereichsspezifische Kronzeugenrege-lung, nämlich in § 31 des Betäubungsmittelgesetzes,nicht verzeichnen könnte. Deshalb kommt von meinerSeite zunächst einmal ein klares Ja zur Kronzeugenrege-lung, weil sie der Schlüssel dafür ist, beispielsweise auchin abgeschottete Kriminalität, insbesondere organisierteKriminalität, einzudringen.
Wir haben den § 46 b StGB schon seit einiger Zeit,und trotzdem ist die Diskussion darüber, ob der § 46 bso, wie er im Strafgesetzbuch steht, richtig ausgestaltetist, nicht beendet. Diese Diskussion findet immer wiederstatt, und ich habe auch Verständnis dafür, dass sie statt-findet. Denn das, was dem Kronzeugen gewährt wird,nämlich Strafnachlass, ist ein Durchbrechen des Prin-zips, dass es eigentlich eine schuldangemessene Strafe
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28496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Jörg van Essen
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geben soll. Deshalb gibt es durchaus auch Unverständ-nis, wenn diese Strafe beispielsweise gemildert wird unddabei Dimensionen erreicht werden, bei denen ein ob-jektiver Betrachter das Gefühl hat, dass Schuld undStrafe nicht mehr in einem vernünftigen Zusammenhangstehen.Einer der besonderen Kritikpunkte, mit dem wir unsauseinandergesetzt haben, ist die Frage, worüber einKronzeuge berichten muss, damit er mit einer Strafredu-zierung rechnen kann. Ich glaube, dass der Vorschlag,den wir heute unterbreiten, ein guter Schritt ist – ichglaube es nicht nur, sondern ich bin davon überzeugt –;denn wir legen fest, dass bei demjenigen, der sich alsKronzeuge zur Verfügung stellt, nur Angaben strafmil-dernd berücksichtigt werden, die mit der eigenen Tat inZusammenhang stehen.
Das führt dazu, dass all das, was er sagt, sich immerauf die eigene Tat bezieht. Wenn man es wie bisher zu-lässt, dass er beispielsweise auch über andere Straftaten,mit denen er selbst gar nichts zu tun hat, berichten kann,dann kann natürlich eine Neigung bestehen, jemand an-deren falsch zu bezichtigen, um so möglicherweise Vor-teile für sich selbst herauszuschlagen. Es tut demRechtsstaat nicht gut, wenn das von Staats wegen mit ei-ner entsprechenden Vorschrift im Strafgesetzbuch unter-stützt wird.Daher eine klare Ansage von meiner Seite: Wir ma-chen einen guten Schritt in Richtung mehr Rechtsstaat-lichkeit. Ich freue mich deshalb, dass unser Vorschlagheute eine breite Mehrheit findet. Die Koalition stehthinter dem Vorschlag. Ich freue mich, dass auch die SPDhinter dem Vorschlag steht. Das ist ein gutes Zeichen,dass wir in einer so wichtigen Frage quer durchs Haus zueiner gemeinsamen, vernünftigen Lösung kommen kön-nen.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ingo
Egloff.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! 2009 verabschiedete die Große Koalition das Gesetzzur Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventions-hilfe, das mit der verfassungsrechtlichen Aufgabe desStaates zur Aufklärung und Verhinderung von Straftatenbegründet wurde. Nach diesem Gesetz kann die Strafeeines Kronzeugen unter der Voraussetzung gemildertwerden, dass seine Aussage tatsächlich zu einem Aufde-ckungserfolg oder der Verhinderung bestimmter Strafta-ten führt.Das war eine bewusst weit gefasste Regelung, die vonder damaligen Koalition getroffen wurde. Wir wolltendamals – so lange ist das noch nicht her – vor allem denhermetisch abgeriegelten Täterstrukturen der organisier-ten Kriminalität zu Leibe rücken. Aber von Anfang anwar es in der Fachwelt hoch umstritten, ob diese Rege-lung angemessen ist und den staatlichen Strafanspruchangemessen berücksichtigt, weil Strafen nicht nur ab-schrecken sollen, sondern auch den Sühnegedanken auf-seiten der von einer Straftat Betroffenen berücksichtigensollen.Der nun vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-rung zielt auf eine Einschränkung dieser Kronzeugenre-gelung ab. Demnach soll zukünftig ein Strafnachlass nurdann gewährt werden können, wenn sich die Offenba-rung des Kronzeugen auf eine Tat bezieht, die mit seinereigenen Tat im Zusammenhang steht. Der Kollege vanEssen hat es eben schon dargestellt: Die Taten müssenzwar nicht aus dem gleichen Deliktsbereich stammen,aber zwischen den Taten muss ein innerer oder inhaltli-cher Bezug bestehen. Wenn die eigene und die offen-barte Tat Teil eines kriminellen Gesamtgeschehens sind,besteht dieser innere Zusammenhang, so der Gesetzent-wurf der Bundesregierung.Die Begründung der Einschränkung der ursprünglichweiten Fassung ist unter anderem, dass anderenfallsStrafmilderungen ermöglicht werden, die aus der Sichtdes Tatopfers nicht mehr schuldangemessen sind. Da-durch könnte das Vertrauen der Bevölkerung in dieRechtsordnung beeinträchtigt werden. Dieser Auffassungkann man sich anschließen. Ich glaube aber, dass man dasRechtsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger unter-schätzt. Wir sollten nicht unterstellen, unserer Rechts-ordnung würde nur dann vertraut, wenn sie von jedemTäter Reue und Mitleid erzwingt.
Allerdings soll das Strafrecht auch den Opfern einerStraftat Genugtuung verschaffen. Es wäre wohl kaum je-mandem verständlich zu machen, wenn eine Aussage zueiner Tat strafmildernd wirken soll, die tatsächlich in garkeinem Zusammenhang zur Tat des Kronzeugen steht.Es ist völlig undenkbar, dass man zum Beispiel denjeni-gen, der ein Kapitalverbrechen begangen hat, straffreistellt, nur weil er bei schwerem Steuerbetrug oder Ähnli-chem zur Aufklärung beigetragen hat.Man kann es auch anders formulieren: Im Rechtsstaatgilt das Prinzip des schuldangemessenen Strafens. DasMaß der Schuld kann sich nur verringern, wenn sich derTäter von der Tat in glaubwürdiger Weise distanziert.Wie soll das gelingen, wenn die eigene Tat mit der offen-barten Tat ohne Zusammenhang ist? Insofern ist diesereinschränkende Ansatz nachzuvollziehen und wird vonuns ausdrücklich begrüßt.
Nachvollziehbar ist für mich das andere Argument,dass geschlossene Täterkreise, besonders solche der or-ganisierten Kriminalität, in vielen Fällen nur dann aufge-brochen werden können, wenn die Hinweisgeber ausdem unmittelbaren Täterkreis stammen. Brauchbare
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28497
Ingo Egloff
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Zeugenaussagen können oft nur von Mittätern erwartetwerden. An der Tat unbeteiligte Dritte werden solcheZeugenaussagen nicht in belastbarer Weise und in glei-cher Art machen können. Hier wird dann aber abgewo-gen zwischen dem Interesse des Staates an der Strafver-folgung in bestimmten Milieus und Täterkreisen oder inFällen, in denen hoher Schaden für die Gesellschaft ent-steht, einerseits und dem Interesse der Rechtsordnung aneiner angemessenen Bestrafung der Täter andererseits.Wenn, wie geschehen, viele Sachverständige vor De-nunziantentum und Falschaussagen warnen, müssen wirbei der jetzigen Regelung besonders darauf achten, dassdiese Gefahr verringert wird. Natürlich ist es nahelie-gend, dass ein Kronzeuge andere fälschlich belastet,wenn er sich davon Strafmilderung für sich selbst erhof-fen kann. Die Distanz der eigenen zur offenbarten Tatspielt dabei die entscheidende Rolle. Je weniger die ei-gene Tat in Beziehung zu dem Verbrechen steht, überdas die Aussage gemacht wird, desto größer ist die Ge-fahr einer Falschaussage – logisch eigentlich, weil dannja Beliebiges behauptet werden kann, ohne dass mansich damit selbst belasten muss.Allerdings sind den Möglichkeiten des Gesetzgebers,Denunziantentum zu verhindern, Grenzen gesetzt. Eskommt auf die Einschätzung und Handhabung durch dieStrafverfolgungsbehörden an; denn die Erfahrungen derStaatsanwaltschaften bestätigen diese Gefahr. Aber ge-rade weil hier das Bewusstsein aufseiten der Staats-anwaltschaften vorhanden ist, bin ich sicher, dass wir inder weit überwiegenden Zahl der Fälle angemessene Ur-teile zu erwarten haben, die dem rechtsstaatlichen Ab-wägungsgebot Rechnung tragen. Auch die bisherigenUrteile zeigen, dass vonseiten der Gerichte hier sehr vor-sichtig agiert wird.Es ist gut, dass der Gesetzgeber hier den zu weit ge-fassten Rahmen anpasst, ohne dabei den Strafverfol-gungsbehörden die Möglichkeiten abzuschneiden, auchin geschlossene Täterkreise einzudringen. Wir werdendeshalb diesem Gesetzentwurf zustimmen.Vielen Dank.
Jetzt hat der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Heute steht die abschließende Beratung des Entwurfs ei-nes Strafrechtsänderungsgesetzes auf der Tagesordnung,dessen Kern die Beschränkung der Möglichkeit zurStrafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfeist. Es geht also heute wieder einmal um eine Justierungder sogenannten Kronzeugenregelung, die seit gut zweiJahrzehnten ständiger Begleiter der Strafrechtspolitik ist.Der Journalist Jochen Bittner hat sie bereits im Jahr 2004als „so etwas wie die große Untote der Rechtspolitik“bezeichnet.Umstritten ist die Kronzeugenregelung also seit ehund je, und es ist nicht zu übersehen, dass dies zu somancher Wende und Volte in der Rechtspolitik in denvergangenen gut 20 Jahren geführt hat.Nicht zu vergessen ist im Übrigen, dass tatsächlicheEntwicklungen die Perspektive der Rechtspolitik querdurch die politischen Lager bestimmt haben. So lief 1999zunächst die zeitlich begrenzte Kronzeugenregelung beiterroristischen Gewalttaten aus, nachdem die Initiativeeines Dritten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes ge-scheitert war.Seither galten nur noch spezielle Kronzeugenregelun-gen. Nicht zuletzt die Erfahrungen bezüglich abgeschot-teter Strukturen im Bereich des islamistischen Terroris-mus führten im Weiteren ab 2001 zu einem erneutenAufflammen der Diskussion um eine allgemeine Kron-zeugenregelung.Dies mündete wiederum zu Zeiten der Großen Koali-tion in die zum 1. September 2009 in Kraft getretene undseitdem geltende Fassung des § 46 b des Strafgesetzbu-ches, dessen Änderung wir heute beschließen wollen.Mit dieser Vorschrift verfügt das Strafgesetzbuch derzeitüber eine allgemeine Kronzeugenregelung mit einem re-lativ weiten Anwendungsbereich, da zwischen der Tatdes Kronzeugen und derjenigen, zu der er Aufklärungs-und Präventionshilfe leistet, kein Zusammenhang beste-hen muss. Dies soll heute korrigiert werden, indem in§ 46 b StGB die Ergänzung aufgenommen wird, dass dieTat, zu der Aufklärungs- und Präventionshilfe geleistetwird, „mit seiner Tat im Zusammenhang“, also mit derTat des Kronzeugen, stehen muss.Im Kern ist dies ein minimalinvasiver rechtspoliti-scher Normeneingriff, dessen praktische Relevanz zuRecht infrage stehen mag, der aber rechtspolitisch kei-neswegs bedeutungslos ist. Zunächst einmal gilt bei al-lem Streit über die Kronzeugenregelung in den vergan-genen Jahren: Wir als CDU/CSU und wir als christlich-liberale Koalition stehen zur Notwendigkeit einer allge-meinen Kronzeugenregelung. Durch die heute zu be-schließende Konnexitätsregelung in § 46 b StGB rückenwir von dieser Position auch keinen Schritt ab.Die Rechtslage vor der Einführung der allgemeinenKronzeugenregelung bot eindeutig nicht genügend An-reiz, Hilfe zur Aufklärung und Verhinderung von Straf-taten zu leisten. Gerade die von hoher Konspirativitätgekennzeichneten Kriminalitätsbereiche wie Terroris-mus, organisierte Kriminalität und schwere Wirtschafts-kriminalität sind wegen ihrer Abschottung den gängigenErmittlungs- und Aufklärungsmethoden eben oftmalsnicht zugänglich. Hier braucht es zusätzliche Anreize,um überhaupt in die abgeschotteten Strukturen nichtoder nur schwer aufklärbarer Kriminalität eindringen zukönnen.Mit einer allgemeinen Kronzeugenregelung steht zu-mindest ein rechtlich definiertes Instrument für denUmgang mit der Kooperationsbereitschaft und Präven-tionshilfe zur Verfügung. Eine allgemeine Kronzeugen-regelung, an der wir trotz der heute zu beschließendenÄnderung festhalten, ist gegenüber einer Vielzahl von
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Ansgar Heveling
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bereichsspezifischen Kronzeugenregelungen, wie sie dasStrafrecht vor der Einführung von § 46 b des Strafge-setzbuches kannte, eindeutig vorzuziehen; denn zwarkonnten durch die bisherigen bereichsspezifischen Rege-lungen Aufklärungs- und Präventionshilfe durchausstrafmildernd gewertet werden. Aber zum einen wird derAnreiz für kooperationsbereite Straftäter durch eine all-gemeine Vorschrift größer, und zum anderen ist der An-wendungsbereich durch die fehlende Bindung an be-stimmte Deliktgruppen wesentlich weiter. Daher ist esrichtig, eine allgemeine Kronzeugenregelung im Strafge-setzbuch verankert zu halten.Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings – und dasist auch ein rechtsdogmatisch beachtliches Argument –,dass eine Kronzeugenregelung die Gefahr in sich trägt,den Weg hin zu einem kooperativen und konsensualenStrafverfahren zu forcieren. Der Rechtsanwalt Dr. Könighat in einem Beitrag im Strafverteidiger 2012 dazu for-muliert, dass die Sachverhaltsermittlung kontaminiertund die Wahrheitsfindung desavouiert werde. Dem istzunächst entgegenzuhalten, dass die Entwicklung hin zuAbsprachen und Deals auch ohne die Diskussion übereine Kronzeugenregelung stattfindet und in der rechtspo-litischen Diskussion steht. Das Bundesverfassungsge-richt wird sich in Kürze dazu äußern.Jedenfalls ist aber eine gesetzliche Kronzeugenrege-lung, um es mit den Worten des StrafrechtskommentarsKindhäuser zu sagen, „insoweit zu begrüßen, als sie ei-nem Wildwuchs entgegenwirkt, da in der Justizpraxisauch ohne gesetzliche Ermächtigung zweifelhafte Zeu-gen-Privilegierungen nach dem Kronzeugenmuster vor-genommen werden. Etwa wird die Vorschrift des § 154StPO herangezogen, um Tatbeteiligte unter Versprechenvon weitgehenden Strafmilderungen zur Kooperation zuveranlassen.“ Eine klar definierte gesetzliche Regelungist da aus unserer Sicht allemal hilfreicher.Soweit eine Kronzeugenregelung grundlegender Kri-tik aus rechtssystematischen und rechtsdogmatischenGründen begegnet, sind diese Bedenken grundsätzlichernst zu nehmen; denn natürlich bedeutet eine allge-meine Kronzeugenregelung einen Eingriff in das Legali-täts- und Öffentlichkeitsprinzip ebenso wie in denGleichheits- und Schuldgrundsatz. Aber man muss auchfesthalten, dass dem Gesetzgeber hier eine Abwägungder unterschiedlichen Interessen zusteht. Grundsätzlichbesteht die Möglichkeit, Strafmilderungsregelungen aus-zugestalten, sofern der Schuldrahmen insgesamt nichtunterschritten wird.Bedenklich würde eine Regelung dort, wo – ich zi-tiere nochmals Kindhäuser – „das auf Gerechtigkeit ru-hende Fundament des Strafrechts durch Regelungen undUrteile gefährdet wird, die von der Allgemeinheit wegenmassiver Schuldunterschreitung nicht mehr als angemes-sen wahrgenommen werden können.“ Hier ist also eineGrenze für den Ausgestaltungsspielraum des Gesetzge-bers zu ziehen. Diese Grenze wird indessen vom Gesetz-geber auch gesehen und wahrgenommen.In der Abwägung zur wesentlichen Aufgabe des Staa-tes, schwere Straftaten aufzuklären und zu verhindern,und im Interesse einer möglichst umfassenden Wahr-heitsfindung im Strafverfahren ist es zu rechtfertigen, imRahmen des gerade aufgezeigten Gestaltungsspielraumseine noch schuldangemessene Bestrafung zu unter-schreiten. Insofern ist auch nicht a priori von einer „Des-avouierung der Wahrheitsfindung“ auszugehen. Im Ge-genteil: Das Instrument der Kronzeugenregelung kannund soll im Rahmen der Ausgestaltungsmöglichkeitengerade auch der Wahrheitsfindung dienen.Zu Recht ist aber die Frage gestellt worden, ob einegänzliche Abkoppelung der Kronzeugentat und der da-mit einhergehenden Strafmilderung von der Tat, zu derAufklärungs- oder Präventionshilfe geleistet wird, denAusgestaltungsspielraum für die Schuldunterschreitungnicht doch schon überdehnt. Hier fehlt jeder Konnexzwischen Aufklärungshilfe und abzuurteilender Straftat.Ein Strafmilderungsinteresse ist hier in der Tat schwerzu begründen, da die Tatschuld durch das Nachtatverhal-ten jedenfalls in keiner Weise gemindert wird.Mit der heute zu beschließenden Ergänzung wird da-mit in rechtssystematischer und rechtsdogmatischer Hin-sicht ein Korrektiv in § 46 b des Strafgesetzbuches ein-gefügt, das die vertretbare Grenze der Möglichkeit zurSchuldunterschreitung klar formuliert und damit letzt-lich zur dogmatischen Stärkung der Kronzeugenrege-lung beiträgt.Hinsichtlich der praktischen Folgen – dies sei zumAbschluss jedenfalls auch angeführt – ist die Notwen-digkeit dieses Korrektivs indessen schwer zu beurteilen.In der Anhörung des Rechtsausschusses wurde dazuvon Sachverständigenseite die Frage formuliert: Waspassiert, wenn nichts passiert? Sie wurde auch beantwor-tet, und zwar mit: Nichts. – Die rein praktische Relevanzder heutigen Begrenzung mag sehr überschaubar sein;denn in der täglichen gerichtlichen Praxis spielt dieFrage der Anwendung der Kronzeugenregelung bei derOffenbarung von Taten, die mit der verfahrensgegen-ständlichen Tat in keinem Zusammenhang stehen, offen-kundig nur eine untergeordnete Rolle. So gibt es wohlnur eine einzige einschlägige Entscheidung des Bundes-gerichtshofs zu diesem Thema.So ist die heutige Entscheidung des Gesetzgebers zurErgänzung von § 46 b des Strafgesetzbuches aus prakti-scher Sicht betrachtet vielleicht eher als Non-liquet-Ent-scheidung zu charakterisieren; in rechtsdogmatischerHinsicht hat sie indessen ihre Berechtigung, weshalb wirheute in zweiter und dritter Lesung der Änderung der all-gemeinen Kronzeugenregelung zustimmen werden.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin
Halina Wawzyniak.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Was hier als sperriger Titel, nämlich „Entwurf eines
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28499
Halina Wawzyniak
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… Strafrechtsänderungsgesetzes – Beschränkung derMöglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- undPräventionshilfe“, daherkommt, ist eine Neuregelungder sogenannten Kronzeugenregelung. Kronzeugen– das muss man vielleicht noch einmal erklären – sindPersonen, die sich als mutmaßliche Straftäter und Straf-täterinnen kooperationsbereit zeigen, Hilfe zur Aufklä-rung oder Verhinderung von schweren Straftaten zu leis-ten.Die derzeitige, durch die schwarz-rosa Koalition ein-geführte Regelung erlaubt die Anwendung der Kronzeu-genregelung auch, wenn zwischen der Tat des Kronzeu-gen und der Tat, bei der er Hilfe zur Aufklärung oderVerhinderung leistet, kein Zusammenhang besteht. Unddamit sind wir beim Grundproblem jeglicher Kronzeu-genregelung.Die Kronzeugenregelung ist nichts anderes als einHandel zulasten der Gerechtigkeit. Straftäter und Straftä-terinnen bekommen Vergünstigungen, weil sie bei derAufklärung von Straftaten oder der Verhinderung vonStraftaten behilflich sind. Damit wird aber mit demSchuldprinzip gebrochen. Das Schuldprinzip nämlichsieht eine angemessene Strafe für eine begangene Straf-tat vor. Das Verhalten des mutmaßlichen Straftäters nachder Tat kann mit der Regelung des § 46 Abs. 2 im Rah-men der Strafzumessung bereits berücksichtigt werden.Wenn es darüber hinausgehende Privilegierungen imHinblick darauf gibt, dass die Strafe für eine begangeneStraftat davon abhängig gemacht wird, dass jemand imHinblick auf eine andere Straftat einen Beitrag oderHilfe zur Aufklärung leistet, hat das nichts mehr mitschuldangemessener Strafe zu tun. Die Hilfe zur Aufklä-rung und Verhinderung schwerer Straftaten ist etwas,was gefördert und unterstützt gehört. Aber mit der Kron-zeugenregelung findet ein Deal zulasten der Gerechtig-keit statt, und das ist für uns nicht hinnehmbar.
Was ist eigentlich das Denken, das dahintersteht? Je-mand, der tief in das kriminelle Milieu verstrickt ist undfolglich überhaupt nur deshalb interessante Kenntnissebesitzen kann, wird gegenüber demjenigen bevorzugt,der nur einmal straffällig geworden ist und allein schondeshalb keine Aufklärungshilfe zu weiteren Straftatenleisten kann.Die Kronzeugenregelung verletzt nicht nur dasSchuldprinzip, sie verletzt auch das Legalitätsprinzipund das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Da dieHilfeleistung des Beschuldigten bereits vor Eröffnungdes Hauptverfahrens, also im Rahmen des Ermittlungs-verfahrens, erfolgen muss, wird auch das Öffentlich-keitsprinzip berührt, und das Zustandekommen derStrafe bleibt letztlich intransparent.Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass eineKronzeugenregelung erforderlich ist, um Straftaten auf-zuklären oder zu verhindern.Darüber hinaus – um bei der grundsätzlichen Kritikzu bleiben – wird mit der Kronzeugenregelung auch indie Wahrheitserforschung des Gerichts eingegriffen. DieGlaubwürdigkeit eines Zeugen, der die Kronzeugenrege-lung in Anspruch nehmen will, ist mindestens ange-kratzt; denn natürlich versucht er, seine Aussagen so zumachen, dass er eine deutlich geringere Strafe erfährt.Ich habe bereits darauf verwiesen: Die Kronzeugenre-gelung ist überflüssig; denn der § 46 Abs. 2 erlaubt, dasNachtatverhalten bei der Strafzumessung zu berücksich-tigen.Nun ist offensichtlich aufgefallen, dass die Kronzeu-genregelung ein Problem darstellt. Statt nun aber diesenunwürdigen Deal ganz abzuschaffen, wird versucht, denHandel etwas zu verringern. Mit der neuen Regelung– das ist hier schon gesagt worden – wird versucht, eineBeziehung zwischen der Tat des Kronzeugen und derTat, zu der er Hilfe zur Aufklärung leistet, herzustellen.Das ist besser als nichts, reicht aber nicht aus, um dieLinke für die Zustimmung zu gewinnen.Die Zustimmung ist uns auch deshalb nicht möglich,weil mit der Änderung des § 31 Betäubungsmittelgesetzdie Kronzeugenregelung im Bereich Drogenkriminalitätnoch ausgeweitet wird. Ich verkneife mir an dieser Stelleden Hinweis auf die Notwendigkeit einer anderen Dro-genpolitik. Mit der Kronzeugenregelung bekommen Siedas Problem nicht in den Griff.
Ich komme zum Schluss. Wir Linke werden einerKronzeugenregelung – egal ob klein oder groß – nichtzustimmen; denn ein Deal zulasten der Gerechtigkeit istmit uns nicht zu machen.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat jetzt das Wort die Kollegin Ingrid Hönlinger von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Eskommt selten vor, dass die Bundesrechtsanwaltskam-mer, der Deutsche Anwaltverein, die Strafverteidiger-vereinigungen und der Deutsche Richterbund einerMeinung sind. 2009, bei der Einführung der Kronzeu-genregelung in ihrer weiten Fassung, waren sie es.Die Kronzeugenregelung beinhaltet – das wissen wiralle hier – Straferleichterungen für Straftäter. Richterdürfen die Strafe des selbst straffälligen Kronzeugenmildern oder ganz von der Strafe absehen, wenn dieserzur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straf-taten beiträgt.Die Rechtspraxis hat im Jahr 2009 geschlossen ge-sagt: Die Kronzeugenregelung ist ein Bruch in unseremRechtsstaatssystem, und wir brauchen sie nicht. – Auchwir Grünen waren und sind dieser Rechtssauffassung.
Heute begrüßen Anwaltskammer und Verbände dievon der Bundesregierung vorgeschlagene Minikorrekturder Kronzeugenregelung. Auch wir Grünen sagen: Dasist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings sagen
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Ingrid Hönlinger
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wir auch: Es ist nur ein Schritt – ein Schritt, der von ei-nem Quantensprung weit entfernt ist.Eingeführt werden soll das Konnexitätsprinzip. Zu-künftig soll ein Kronzeuge nur noch dann eine Strafer-leichterung erhalten können, wenn zwischen seiner eige-nen Straftat und der Tat, zu der er Aufklärungs- oderPräventionshilfe leistet, ein sachlich-inhaltlicher Zusam-menhang besteht.Möglicherweise wird die Zahl der FalschbelastungenDritter ein wenig zurückgehen. Ausgeschlossen werdenDenunziationen zum eigenen Vorteil im Strafverfahrenjedoch nicht. Nach wie vor wird im Rahmen der Kron-zeugenregelung das Motto gelten: Mehr ist mehr. Jemehr Anschuldigungen der Kronzeuge gegenüber ande-ren Personen macht, umso mehr Strafrabatt erhält er.Dem steht kein ausreichender Nutzen gegenüber. ImVerfahren gegen die Person, die der Kronzeuge ange-schuldigt hat, sind die Aussagen als Beweismittel wegenmangelnder Belastbarkeit häufig problematisch. Zu die-sem Zeitpunkt haben sie aber ihren Zweck, nämlichStrafmilderung für den Kronzeugen zu erreichen, bereitsmeistens erfüllt. Der vermeintliche Kronzeuge läuft we-nig Gefahr, wegen falscher Verdächtigung verurteilt zuwerden.Wenn überhaupt die Wahrheit ans Licht kommt, sowird doch häufig der Nachweis scheitern, dass der Kron-zeuge seine Aussage wider besseres Wissen gemachthat. Darauf wird der Kronzeuge setzen, zumal die Versu-chung, mit der der Staat lockt, nämlich Strafmilderungoder Absehen von Strafe, groß ist.Die Kronzeugenregelung verstößt darüber hinaus ge-gen zentrale Prinzipien unseres Rechtsstaats. Zu nennensind das Legalitätsprinzip, das Gleichheitsgebot sowiedas Prinzip des schuldangemessenen Strafens. Polizeioder Staatsanwaltschaft, manchmal sogar Verfassungs-schutzbehörden suchen Aufklärungserfolge, die leidernicht immer nur tatsächlicher, sondern häufig auch nurvermeintlicher Art sind. Dabei machen sie Straftäterndie Zusage, sie vor einer schuldangemessenen Strafe zuschützen. Dem Gericht wird zugemutet, als Notar solcheGeschäfte zu beglaubigen und auf eine Überprüfung derWahrhaftigkeit der Kronzeugenaussage ganz oder zumTeil zu verzichten, weil die Einigung zwischen Straftäterund Staatsanwaltschaft bereits vor der Hauptverhand-lung unter Dach und Fach gebracht werden muss.Ich wiederhole, was wir Grünen 2009 bei der Einfüh-rung der Kronzeugenregelung gesagt haben: Es gibt kei-nen Bedarf für eine solche Regelung.
Den Problemen, die es bei der Prävention zum Schutzder Bevölkerung, bei der Aufklärung von Straftaten so-wie bei einer effektiven und schnellen Bearbeitung an-geklagter Straftaten gibt, müssen die Länder mit einerausreichenden Personal- und Sachausstattung der Er-mittlungsbehörden begegnen. Die Flucht in die Kron-zeugenregelung ist keine Lösung. Die wenigen tatsäch-lich durch Kronzeugen erzielten Aufklärungserfolgerechtfertigen nicht den hohen Verlust an Legitimität, dieein rechtsstaatliches Strafverfahren aber zwingendbraucht.So bleibt der Gesetzentwurf der Bundesregierung einkleiner Schritt in die richtige Richtung. Er verpasst aberdie Chance einer konsequenten und mutigen Korrekturdieses Fremdkörpers im Strafrecht. Wir Grünen werdenuns deshalb bei der Abstimmung enthalten.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsän-derungsgesetzes – Beschränkung der Möglichkeit zurStrafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe.Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/12732, den Gesetzentwurfder Bundesregierung auf Drucksache 17/9695 anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist inzweiter Beratung angenommen mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthal-tung der Linken und der Grünen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmverhältnis wie zuvor angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel
der SPDFür eine bessere Bildungssituation weltweit– Drucksachen 17/6484, 17/11492 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette HübingerDr. Bärbel KoflerJoachim Günther Niema MovassatUte KoczyNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Harald Leibrecht für dieFDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der
Antrag der SPD-Fraktion zur Bildung in der Entwick-
lungszusammenarbeit liest sich eigentlich gar nicht
schlecht; nur ist der Antrag mittlerweile in weiten Teilen
überholt.
Herr Minister Niebel und das BMZ haben den Be-
reich Bildung gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen
zu einem Schlüsselsektor der deutschen Entwicklungs-
zusammenarbeit ausgebaut. Wir haben die Strategie
„Zehn Ziele für mehr Bildung“ entwickelt, die auf einem
ganzheitlichen Bildungsansatz basiert und die Entwick-
lung aller Bildungsbereiche in den Blick nimmt: Über
die Grundbildung hinaus sollen die Bildungssysteme in
den Partnerländern in ihrer Gesamtheit gestärkt werden.
Mit der Bildungsstrategie hat sich das BMZ konzep-
tionell neu aufgestellt und hat den Worten auch Taten
folgen lassen: Die Bildungsausgaben wurden sukzessive
erhöht. Die Grundbildungsausgaben sind 2011 gegen-
über 2010 um 12,3 Prozent, auf 158 Millionen Euro, ge-
stiegen. Den Umfang der Bildungszusagen für Afrika
haben wir, wie angekündigt, verdoppelt. Auch die von
der SPD-Fraktion geforderte Erhöhung des Beitrags zur
Global Partnership for Education ist bereits umgesetzt.
Insgesamt hat Deutschland im Jahr 2011 ODA-Mittel in
Höhe von 1,3 Milliarden Euro für Bildung in Entwick-
lungsländern zur Verfügung gestellt; diese Summe ist
mit dem Gesamtbudget des Bundesumweltministeriums
vergleichbar. Das zeigt, dass Deutschland seine interna-
tionalen Verpflichtungen sehr ernst nimmt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann die Ana-
lyse der Herausforderungen, die die SPD-Fraktion in ih-
rem Antrag vornimmt, durchaus teilen. Neuere Zahlen
der Vereinten Nationen zeigen, dass im Jahr 2010
61 Millionen Kinder im Grundschulalter nicht zur
Schule gingen. In Subsahara-Afrika betraf dies ein Vier-
tel der Kinder im Grundschulalter.
Trotz der weiterhin riesigen Herausforderungen gibt
es aber auch Erfolge – wir sollten hier unser Licht nicht
unter den Scheffel stellen –: Die Erreichung des Ziels ei-
ner Grundbildung für alle ist in greifbare Nähe gerückt.
Heute ist eine Einschulungsrate von 90 Prozent erreicht,
und 90 Prozent der eingeschulten Kinder schließen die
Grundschule ab. Selbst das Sorgenkind Subsahara-
Afrika hat große Fortschritte gemacht. Bis 2010 ist die
Einschulungsrate trotz des hohen Bevölkerungswachs-
tums von 58 auf 76 Prozent gestiegen.
Es ist ein Meilenstein, dass 2012 die Geschlechter-
gleichheit beim Grundschulbesuch erreicht wurde. Dies
ist eine wichtige Voraussetzung zur Erreichung des Millen-
niumsentwicklungsziels 3, nämlich der Gleichstellung
der Geschlechter und der Stärkung der Frauenrechte.
Trotzdem darf uns die Erreichung dieser Zielmarke nicht
darüber hinwegtäuschen, dass Mädchen aus armen Fa-
milien, aus dem ländlichen Raum und solche, die Min-
derheiten angehören oder die mit einer Behinderung le-
ben, immer noch zu wenig von diesen Entwicklungen
profitieren. Gerade bei der Inklusion benachteiligter
Gruppen kann und muss die Entwicklungszusammenar-
beit einen Beitrag leisten.
In Kenia hilft die deutsche Entwicklungszusammen-
arbeit zum Beispiel beim Aufbau eines Stipendiensys-
tems, damit Jugendliche aus Armenvierteln eine Chance
auf eine Sekundarbildung haben.
Die steigende Zahl der Grundschulabsolventen erhöht
aber auch den Druck auf die Sekundarbildung. Meiner
Meinung nach sollte auch Deutschland dieser Entwick-
lung Rechnung tragen. Wir müssen die finanziellen Mit-
tel für diesen Bereich deutlich erhöhen. Noch immer ha-
ben viel zu wenig Kinder Zugang zu Sekundarbildung.
Sekundarbildung ist aber der Schlüssel zu einer guten
Beschäftigungschance und einer akademischen Ausbil-
dung und damit unverzichtbarer Teil eines Bildungssys-
tems.
Deutschland ist der mit Abstand größte Geldgeber im
Bereich der beruflichen Bildung. Viele Länder, Indus-
triestaaten eingeschlossen – die Vereinigten Staaten zum
Beispiel –, sehen Deutschland als Vorbild im Bereich der
dualen Ausbildung. Deutschland hat hier große Exper-
tise und unterstützt viele Partner beim Aufbau solcher
Strukturen. Auch die Auswärtige Kultur- und Bildungs-
politik und die deutschen Schulen im Ausland leisten
hier einen wichtigen Beitrag.
Zu guter Letzt möchte ich einen Punkt erwähnen, bei
dem wir nicht mit der Opposition übereinstimmen. Zwar
sieht auch meine Fraktion den Staat in der Hauptverant-
wortung für die Bereitstellung von Bildung. Die Realität
sieht aber leider oft anders aus. In vielen Teilen der Welt
und insbesondere in Krisenregionen versagt oftmals der
Staat. Hier spielen private und kirchliche Träger sowie
Hilfsorganisationen eine unersetzliche Rolle. Diese
nichtstaatlichen Träger werden in Ihrem Antrag jedoch
mit keinem Wort erwähnt. Ich denke, dass gerade diese
freien Bildungsträger nicht nur unsere Anerkennung und
unseren Dank verdienen, sondern auch unsere politische
Unterstützung.
Ich danke Ihnen.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die KolleginDr. Bärbel Kofler.
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Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Leibrecht, ich finde es schade, dass Sie un-serem Antrag nicht zustimmen können. Sie haben ja ge-schildert, wie die Situation um die Bildung weltweit be-stellt ist: 61 Millionen Kinder sind ohne Grundbildung.Auch die weiteren Zahlen – 70 Millionen Jugendlicheohne Zugang zu Bildung; 775 Millionen Erwachsenesind Analphabeten, zwei Drittel davon Frauen – recht-fertigen, dass wir uns wesentlich intensiver dem ThemaBildung zuwenden, wie das von Ihrer Seite hier auch ge-schehen ist.
Ich finde es spannend, wenn Sie im Rahmen derODA-Quote Bildungsausgaben von 1,3 Milliarden Euroin den Raum stellen. Wir können ja durchaus darüberdiskutieren, ob man hierbei Studienplatzgebühren an-rechnen soll oder nicht. Aber wenn Sie hier in den Raumstellen, das BMZ hätte in diesem Bereich 1,3 MilliardenEuro finanziert, dann muss man einfach zur Kenntnisnehmen, dass Studienplatzgebühren den überwältigen-den Anteil dieser Summe ausmachen.Um das einmal an einem Beispiel zu illustrieren: ImJahr 2010, in dem Jahr, in dem die Ausgaben für dieGrundbildung im Haushalt am höchsten waren, was ichdurchaus anerkenne, wurden 110 Millionen Euro für dieGrundbildung aus dem Haushalt des BMZ finanziert.Aber allein in diesem Jahr wurden Studienplatzkostenfür chinesische Studenten in Höhe von über 140 Millio-nen Euro finanziert. Wir müssen die Dinge einfach ein-mal in eine Gewichtung bringen, wenn wir sie auf diegrundlegenden Probleme der Menschen zurückführenwollen, nämlich das Menschenrecht auf Bildung und denZugang zu diesem Menschenrecht.
Leider haben Sie nichts zum Thema „Qualität in derBildung“, einem wesentlichen Punkt in unserem Antrag,gesagt. Ich möchte dieses Thema noch einmal heraus-stellen. Gerade für Qualität, egal ob in der Grundbil-dung, ob in der frühkindlichen Bildung, in der Sekundar-bildung oder in der beruflichen Bildung, brauchen wir– da sind wir uns doch eigentlich immer alle einig gewe-sen – einen wesentlichen Mittelaufwuchs. Dieser Be-reich ist unterfinanziert. Wir wissen, es fehlen 2 Millio-nen Lehrerstellen weltweit, um überhaupt einmal einenZugang zu Bildung für alle ermöglichen zu können. Wirwissen, dass jedes Jahr fast 250 Millionen Kinder dieSchule nach vier Jahren Grundbildung verlassen undnicht lesen und schreiben können. Das muss uns dochsorgen und zu Anstrengungen beflügeln, die ganz anderssind als das, was wir bisher gemeinsam miteinander ge-macht haben. Dazu hätte ich von Ihrer Seite nach fastvier Jahren Regierung schon gerne etwas gehört.
Dialog mit Partnerländern ist, finde ich, ein wichtigesThema. Dieses Thema haben wir auch in unserem An-trag behandelt. Es geht doch gerade darum, die Partner-länder zu unterstützen, Bildung wirklich in den Mittel-punkt stellen zu können. Die Institution „GlobalPartnership for Education“ schreibt, dass in den nächstenzehn Monaten 32 Länder einen Antrag auf Begleitungim Sektor Bildung stellen wollen. Sie wollen den Bil-dungsbereich in ihren Ländern ändern, um wirklich zuVerbesserungen kommen zu können. Das sind Dinge, diewir gerade jetzt finanziell, mit Know-how, konzeptionellund mit Fachleuten unterstützen müssen. Dazu hätte ichan dieser Stelle gerne etwas von Ihnen gehört.
Es geht dabei auch darum – ich komme zum Thema„Rolle des Staates im Bildungssektor“; Sie haben es an-gesprochen –, Partnerländer im Dialog mit unserer ge-samten Entwicklungspolitik dabei zu unterstützen,selbsttragende Bildungssysteme finanzieren und auf-bauen zu können. Ich schätze das Engagement vielerNichtregierungsorganisationen in diesem Bereich sehr.Unsere Aufgabe als Entwicklungspolitiker ist es, dieRolle des Staates in den Mittelpunkt zu stellen und einenBeitrag dazu zu leisten, dass auch in ärmeren Länderntragfähige, nachhaltige Bildungssysteme finanziert wer-den können, damit die Menschen dort dauerhaft, alsoüber Generationen hinweg, Zugang zu Bildung haben.
Dazu gehören Dinge, die nicht gerade ganz oben aufder Agenda dieses Entwicklungsministeriums stehen.Dazu gehören Dinge wie internationale Verständigung.Man sollte nicht nur das deutsche Fähnchen irgendwodraufstecken, sondern wirklich schauen, wie wir in einerinternationalen Gebergemeinschaft diesem AnliegenRechnung tragen können.Wir haben in unserem Antrag weitere Punkte behan-delt. Wir haben etwa das Thema ILO-Kernarbeitsnor-men sehr bewusst in unseren Antrag aufgenommen, weilwir wissen, was für ein großes Hindernis es für vieleMenschen, für viele Familien ist, dass ihre Kinder, diearbeiten – in vielen Ländern ist das leider der Fall, auchweil sie es müssen –, vom Zugang zu Bildung abgehal-ten werden. Es ist uns ein ganz dringendes Anliegen– das ist auch eine Aufgabe der Bundesregierung, insbe-sondere des Entwicklungsministeriums –, hier voranzu-kommen und Akzente zu setzen, um Kinderarbeit welt-weit zu ächten und zu verhindern.
Zum Thema „Mädchen- und Frauenbildung“ könnteman sicher auch noch vieles sagen. Dass es nicht immerganz oben auf der Agenda dieses Ministeriums war, ha-ben wir in vielen Debatten in den letzten Jahren festge-stellt.
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Dr. Bärbel Kofler
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Ich möchte noch etwas zum Zeitpunkt der Einbrin-gung unseres Antrags sagen. Sie haben so gönnerhaft ge-sagt: Da kommt die SPD mit einem überholten Antrag. –Wissen Sie, wann wir diesen Antrag im Bundestag ein-gebracht haben? Im Juli 2011! Dass wir ihn erst heutedebattieren, dass erst seit November letzten Jahres derBericht des Ausschusses vorliegt, ist beileibe nicht derFehler der Sozialdemokraten oder der Opposition. Die-sen Schuh müssen Sie sich selbst anziehen.
Ich will etwas zur Zeitschiene Ihrer Bildungsstrategiesagen. „BMZ-Bildungsstrategie 2010–2013“ nennt siesich im Untertitel. Vorgelegt wurde sie 2012. Da warenzwei Drittel des Zeitraumes, den sie umfassen soll, of-fensichtlich schon vorbei.
Ist Ihre Strategie nun der große Wurf? Ich würde sa-gen: Nix G’wiss woaß ma net; so heißt es auf Bayerisch.Genaues steht dort nicht. Darin stehen ein paar gute For-mulierungen von Zielen, die wir teilen: Bildung ganz-heitlich fördern, berufliche Bildung stärken. Das alleskann man unterschreiben. Das Rad muss ja auch nichtimmer wieder neu erfunden werden; das ist ganz klar.Wenn man sich ansieht, wie vollmundig Sie gestartetsind, indem Sie das Thema Bildung zum Schlüsselfaktorder Entwicklungszusammenarbeit gemacht haben, undwie Sie nach vier Jahren gelandet sind, dann muss manwieder einmal das Bild bemühen: als Tiger gestartet undals Bettvorleger gelandet.
Zum Thema Grundbildung. Sie haben zu Recht ge-sagt: Hier gab es einen Aufwuchs der Mittel. Das gebeich gerne zu. Darüber freue ich mich auch. Ich freuemich auch, dass es insgesamt im Bildungsbereich einenMittelaufwuchs gegeben hat. Zur Ehrlichkeit gehörtdazu, dass mit dem Aufwuchs 2008 begonnen wurde.Der größte Sprung war 2008/2009. Zu diesem Zeitpunkthatten Sie noch nicht wirklich die Federführung für dasMinisterium. Aber bitte, sei es drum. Hier muss mannicht so kleinlich sein. Hauptsache, ein Mittelaufwuchs.Wenn aber der Höhepunkt bei der Grundbildung imJahr 2010 war und die Mittel für die Grundbildung inden Haushalten 2011 und 2012 wieder sanken, obwohlwir alle wissen, dass hier gehandelt werden muss, dannist dies für mich unbegreiflich; das muss ich an dieserStelle sagen. War das im Jahr 2010 nur ein Strohfeuer?Wie bewerten Sie Ihr eigenes Handeln?Was machen Sie jetzt? Auf die Neuauflage dieserFrage reagieren Sie mit der Bildung von Arbeitskreisenund der Formulierung von Strategiepapieren. Im Herbstletzten Jahres gab es wieder einmal die Einsetzung einesArbeitskreises zum Thema „Positionspapier Grundbil-dung“. 2012 haben Sie Ihr Konzept zur „Bildungsstrate-gie 2010–2013“ vorgelegt; das muss man im Kopfhaben. Dieser Arbeitskreis soll den Input für ein Posi-tionspapier liefern? Wir wissen aber doch, um was esgeht. Der UNESCO-Weltbildungsbericht sagt es uns; derAtlas der Globalisierung sagt es uns in seinem Kapitelüber Bildung. Wir wissen, dass wir die betroffenen Län-der institutionell stärken müssen. Wir wissen, dass wirdie Bildungsstrategien in diesen Ländern stärken müs-sen. All dies ist bekannt. Wir wissen, dass der SektorBildung weltweit unterfinanziert ist. Konzeptionelle undfinanzielle Unterstützung ist also nötig. An dieser Stellebrauche ich keinen neuen Arbeitskreis und keine neuenPositionspapiere. Ich brauche Handeln. Das vermisseich.
Ich komme zum Schluss. Sie wollten sich an diesemStrategiepapier und dessen Umsetzung messen lassen.Auf der letzten Seite Ihres Strategiepapiers unter derÜberschrift „Unsere Überzeugung: Mehr Bildung istmöglich“ heißt es vollmundig:An der Erreichung unserer strategischen„Zehn Ziele für mehr Bildung“ wollen wir unsmessen lassen.Ich finde, diese Chance hat der Wähler am 22. Sep-tember. Ich hoffe, er wird sie wahrnehmen.
Das Wort hat die Kollegin Anette Hübinger von der
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Tat,Frau Kofler, es ist anderthalb Jahre her, dass der Antragder SPD zum Bereich der Bildung in der Entwicklungs-zusammenarbeit zum ersten Mal in diesem Hause disku-tiert wurde. Damals waren wir uns einig, dass zahlreicheAspekte der Bildung wesentliche Bestandteile in unsererEntwicklungszusammenarbeit werden müssen. Überdiese Aspekte haben wir uns auch ausgetauscht.Wir waren uns auch darüber einig, dass der kürzesteund schnellste Weg aus der Armut der Schulweg ist.Aber dieser Schulweg darf nicht beim Besuch derGrundschule enden, sondern er muss weitergehen. Le-benslanges Lernen muss ein wichtiger Bestandteil wer-den.Mittlerweile wartet der neue Weltbildungsbericht derUNESCO mit neuen Zahlen auf. In dem alten Bericht,den Sie in Ihrem Antrag zitiert haben, ging man von67 Millionen Kindern aus, die keine Grundschulbildunghaben. 61 Millionen sind es heute; damit hat sich die Si-tuation leider nur wenig, aber immerhin, verbessert. Auf
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Anette Hübinger
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der anderen Seite sagt der Bericht auch, dass in der Zeitvon 2008 bis 2010 die Grundbildung in der Gesamtheitzum Stillstand gekommen ist. In einigen Ländern gibt eszwar Fortschritte, aber in anderen nicht.Dass 61 Millionen Kinder keine Grundschule besu-chen, ist besorgniserregend. Umso besorgniserregenderist auch, dass von 650 Millionen Kindern im Grund-schulalter 120 Millionen Kinder nicht die vierte Klasseerreichen. Weitere 130 Millionen Kinder erwerben indieser Schulzeit nicht genügend Basiswissen, um richtiglesen und schreiben zu können. Diese Zahl hat für micheine erschreckende Aussagekraft. Erschreckend ist siedeswegen, weil die Akzeptanz der Eltern gegenüber derBildung der Kinder nachlassen wird. Sie werden sichfragen: Warum schicke ich die Kinder zur Schule, wennkein Bildungsfortschritt zu verzeichnen ist?Der zweite erschreckende Aspekt für mich ist, dasssich diese Defizite bis in das Erwachsenalter fortsetzenwerden. Wir müssen bedenken, dass den Menschen da-mit im Grunde genommen die Möglichkeit der persönli-chen Entwicklung genommen wird, sie werden keinselbstbestimmtes Leben führen können. Für die Ent-wicklungsländer bedeutet das, dass sie selbst in ihrerEntwicklung nicht vorankommen.
Frau Kofler, Sie haben die Zahl genannt: Rund750 Millionen Erwachsene sind Analphabeten, zweiDrittel davon sind Frauen. Daher ist es erfreulich, dasszum ersten Mal in der Geschichte des BMZ eine Bil-dungsstrategie vorgelegt wurde – das BMZ ist immerhinschon 50 Jahre alt – und dass in dieser Strategie Bildungals Schwerpunkt formuliert wurde.
Ich halte das Strategiepapier „Zehn Ziele für mehrBildung“ des Ministeriums für gelungen, weil es daslebenslange Lernen als strategischen Schlüssel fürEntwicklung umfassend stärkt. Sachlich und an dendrängenden Problemen orientiert, formuliert die Strate-gie, was unter einer inklusiven und ganzheitlichen Bil-dungspolitik zu verstehen ist.
In den Mittelpunkt gerückt werden neben der früh-kindlichen, der Grund- und Sekundarbildung auch dieberufliche Bildung – was in der Vergangenheit nachge-lassen hatte; auf Reisen werden wir immer wieder daraufangesprochen – sowie die Hochschul- und die wissen-schaftliche Bildung.Qualität steht dabei immer im Mittelpunkt – auch dasist in die Strategie eingeflossen –: Sowohl gute Ausbil-dung der Lehrer und Lehrerinnen als auch gute Arbeits-bedingungen – darum zähle ich auch die Arbeitsbedin-gungen der Kinder, nämlich der Schülerinnen undSchüler auf – werden genannt. Adäquate Bildungsin-halte und gutes Bildungsmanagement gehören genausodazu wie eine Evaluierung und Wirkungskontrolle vonBildungsangeboten. Neue und innovative Methodenwerden in den Projekten zur Anwendung kommen.Vor allem Ihre Beschwerde, Frau Dr. Kofler, dass dieVeröffentlichung der Strategie so lange gedauert hat,kann ich nicht nachvollziehen. Bei der Erarbeitung derStrategie hat das Ministerium zum ersten Mal einenneuen Weg gewählt. Es hat den Weg gewählt, alleAkteure in der Entwicklungscommunity einzubinden.Wenn ich ein Abstimmungsverfahren durchführe, um diebreite Akzeptanz einer Strategie zu erhalten, und das da-raus resultierende Wissen mit einfließen lassen will,dann braucht das eben Zeit.
Die Tatsache, dass wir uns Zeit gelassen haben, hatdazu geführt, dass sich das Ergebnis sehen lassen kann.Wir haben ein Strategiepapier, das mittel- und langfristigüber 2013 hinaus wirken wird. Es ist ein guter Leitfadenfür uns als Entwicklungspolitiker. Es bietet aber aucheine gute Orientierung für unsere Partnerländer, wenn esdarum geht, zu erfahren, in welchen Bereichen der Bil-dung sie mit uns zusammenarbeiten können.
Schwerpunkte werden häufig gesetzt, aber leidernicht so oft mit entsprechenden Haushaltszahlen unter-legt. Damit das Ganze nicht nur ein Lippenbekenntnisbleibt, haben wir das getan. Diese Zahlen können sichsehen lassen. Wir haben den Bereich bilaterale Entwick-lungszusammenarbeit ausgebaut. In diesen Bereich sindrund 17,6 Prozent des gesamten Budgets geflossen. Esist damit – die Zahl wurde bereits genannt – auf 1,3 Mil-liarden Euro anwachsen.Es stellt sich die Frage, ob Studienplätze darin enthal-ten sind oder nicht. Wenn ich den Wissenschaftsbereichund den Hochschulbereich fördern möchte, dann brau-che ich auch Studierende. Ich brauche Menschen vonaußerhalb, die bei uns lernen und studieren dürfen. Auchin diesem Zusammenhang werden wir permanent ge-fragt: Könnt ihr nicht noch mehr jungen Menschen dieGelegenheit bieten, bei euch zu studieren?
Die Regierungszusagen im Bereich Bildung sind von209 Millionen Euro in 2011 auf 350 Millionen Euro in2012 gestiegen. Für dieses Jahr sind Zusagen in Höhevon 302 Millionen Euro geplant. Berücksichtigt man dieBildungsbestandteile in Maßnahmen anderer Sektoren,so liegen die Zusagen für Bildung in 2012 bei 465 Mil-lionen Euro, für 2013 sind 342 Millionen Euro geplant.Aus 2012 wissen wir, dass der Ansatz übertroffen wurde,also ist dies auch 2013 zu erwarten.
Zu begrüßen ist, dass auch die Mittelzusagen für denBereich der beruflichen Bildung ihrer Bedeutung ent-sprechend deutlich angehoben wurden. Das System derdualen Ausbildung wird von unseren Partnerländernvermehrt nachgefragt, vor allem, weil infolge der stei-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28505
Anette Hübinger
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genden Investitionen in unseren Partnerländern – insbe-sondere aus dem europäischen Raum – und der Stärkungder örtlichen kleinen und mittelständischen Unterneh-men vermehrt Fachpersonal gebraucht wird. Das bildenwir aus. Damit bieten wir den jungen Menschen einegute Perspektive für ihr künftiges Leben.
Bei uns müssen Unternehmen für die duale Ausbil-dung geradestehen und finanzielle Leistungen erbringen.Die Unternehmen in unseren Partnerländern können imRahmen von Public-private-Partnership ebenso einenBeitrag leisten. Wir müssen den Unternehmen einenUmdenkungsprozess dergestalt nahelegen, dass sie ein-sehen, dass die Ausbildung junger Fachkräfte in ihrerVerantwortung liegt, dass sie einen Beitrag zur Ausbil-dung der jungen Fachkräfte leisten müssen, damit sieauch in Zukunft Fachkräfte haben.Dennoch bleibt der Staat in der Pflicht – diesbezüg-lich gebe ich Ihnen recht, Frau Dr. Kofler –; denn Bil-dung ist auch und vor allem Staatsangelegenheit. Kinderbrauchen eine ordnungsgemäße Bildungsinfrastruktur.Deshalb unterstützen wir unsere Partnerländer beimAufbau dieser Bildungsstrukturen.
Wenn der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt,müssen andere Institutionen die Lücke schließen dürfen.Ich denke in diesem Zusammenhang insbesondere an dieKirchen, die in diesem Bereich eine sehr wertvolle Ar-beit leisten und daher unsere Unterstützung verdienen.
Aber auch der Hochschul- und Wissenschaftsbereichwird ausgebaut werden, da für Entwicklungs- und Inno-vationsprozesse gut ausgebildete Fach- und Führungs-kräfte benötigt werden. Gerade im Forschungs- undWissenschaftsbereich stelle ich immer wieder fest, dassunsere Partnerländer bei globalen Fragen wie Klima-wandel, Energie und Gesundheit gerne mit uns aufAugenhöhe arbeiten möchten. Sie brauchen junge Wis-senschaftler, damit sie an der Lösung dieser Problemegemeinsam mit uns arbeiten können. Das zeugt von ei-nem neuen Selbstbewusstsein unserer Partnerländer, dasich sehr begrüße.Liebe Frau Kofler, in Ihrer letzten Rede zu diesemThema vor anderthalb Jahren haben Sie zu Recht bemän-gelt, dass die Mädchen im Entwurf der Strategie nichtexpressis verbis benannt wurden. Im Ausschuss warenwir fraktionsübergreifend der Meinung, dass dies einManko ist und man nicht einfach sagen kann, dass Mäd-chen und Frauen immer mitgedacht werden. DieserMangel ist behoben. Unter Punkt 6 der Strategie ist dieMädchen- und Frauenförderung expressis verbis aufge-nommen worden.
Es wurden Probleme und Lösungen benannt. Problem:Ausbildung von Lehrerinnen. Lösung: sicherer Schul-weg, getrennte sanitäre Anlagen. All das wird benannt.Meines Erachtens ist es zur Beseitigung der Diskriminie-rung aber genauso wichtig, dass wir die Entscheidungs-träger in den Dörfern und in den Städten vor Ort aufunsere Seite bringen und ihnen klarmachen, dass dieAusbildung der Mädchen wertvoll ist, und zwar für dieEntwicklung der Mädchen und der Familie, aber auchfür die Entwicklung des Dorfes, der Stadt und des gan-zen Landes. Nur wenn uns das gelingt, wenn wir dieMenschen mitnehmen können, sind unsere Projekte indiesem Bereich nachhaltig.Auch bei allem guten Willen wird Deutschland dieHerausforderungen hinsichtlich der Bildungsproblema-tik weltweit nicht alleine bewältigen können. Dafürfehlen uns ganz einfach die Mittel, auch wenn wir sieaufgestockt haben. Im internationalen Bereich müssenwir die Mittelvergabe besser koordinieren und unsereAnstrengungen verbessern und verstärken. An dieserStelle ist der Blick mit Sicherheit auch auf den Post-MDG-Prozess zu richten; denn der Bildungsbereichmuss in diesem Zusammenhang eine herausragendeStellung einnehmen. Wir als Industrieländer müssen unsgenauso wie die Entwicklungs- und Schwellenländerverpflichten, damit wir gemeinsam zu einer verbindli-chen Erklärung in diesem Bereich kommen.Die christlich-liberale Koalition hatte zu Beginn die-ser Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt, in dem alldie Punkte, die ich eben benannt habe, und noch mehraufgeführt sind. Das Ministerium hat unsere Vorschläge,insbesondere unseren Vorschlag, Bildung zum Schwer-punktbereich unserer EZ zu machen, aufgegriffen.Unsere Forderungen sind in die Bildungsstrategie einge-flossen. Von daher kann ich sagen, dass wir gut daste-hen. Deswegen lehnen wir den Antrag ab.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege
Niema Movassat.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis zumJahr 2015 sollen alle Kinder auf der Welt die Möglich-keit haben, eine Grundschule zu besuchen. Das steht inden Millenniumsentwicklungszielen der internationalenStaatengemeinschaft aus dem Jahre 2000. Die Realitätaber ist, dass dies ungefähr 61 Millionen Kindern weiter-hin verwehrt bleibt. Heute ist es sogar so, dass in Afrikasüdlich der Sahara die Zahl der Kinder ohne Grund-schulzugang teilweise wieder stark ansteigt. Deshalbmuss Deutschland seine globalen Anstrengungen zur Er-reichung des Zugangs zur Grundbildung deutlich stei-gern.
Grundbildung ist insbesondere auch deshalb elemen-tar, weil sie Analphabetismus verhindert. Weltweit kön-
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28506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Niema Movassat
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nen heute über 700 Millionen Erwachsene nicht lesenund schreiben. Wer nicht lesen und schreiben kann, isteher von Armut betroffen und hat es schwerer, sich poli-tisch zu engagieren und für seine Rechte einzutreten. Zueinem gewissen Maß ist dies offenbar leider auch poli-tisch gewollt.Die Kultur- und Erziehungsorganisation der VereintenNationen, die UNESCO, bescheinigt sowohl Regierun-gen als auch Gebern Gleichgültigkeit auf diesem Gebiet.Der verstorbene Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, hateinmal sehr richtig gesagt: Die einzige Form, mit der Ar-mut Schluss zu machen, ist, den Armen Macht zu geben.Bewusstsein und Wissen sind Macht.
Venezuela hat in nur sechs Jahren den Analphabetis-mus im Land besiegt. Das zeigt: Wo der politische Willebesteht, das Menschenrecht auf Bildung durchzusetzen,ist das auch möglich.
Obwohl weltweit etwa 2 Millionen neue Grundschul-lehrer benötigt werden, stagnieren seit 2010 die weltwei-ten Finanzzusagen insbesondere für die Grundbildung.Auch die Bundesregierung hat die Zusagen für dieGrundbildung in den letzten Jahren von 113 MillionenEuro auf 81 Millionen Euro reduziert, während sie dieMittel für die Berufsbildung bzw. -ausbildung fast ver-doppelt hat. Sie zäumen damit das Pferd von hinten auf.
Bei Minister Niebels Fanatismus, was die Zusammen-arbeit mit der deutschen Wirtschaft anbelangt, drängtsich leider der Verdacht auf, dass Sie lieber gezielt Fach-kräfte für deutsche Unternehmen ausbilden, statt derbreiten Masse Grundbildung zu ermöglichen. Das ist derfalsche Weg.
Erst in dieser Woche hat das Entwicklungsministe-rium die Mittel zur Bildung und Ausbildung von Journa-listen in Entwicklungsländern erhöht. Mit großemPathos erklärte Staatssekretär Beerfeltz, dem Recht auffreie Meinungsäußerung müsse weltweit noch mehrGeltung verschafft werden. Gleichzeitig aber übt dasMinisterium im eigenen Land Zensur aus. KritischeNichtregierungsorganisationen müssen ihre Texte vorVeröffentlichung dem Ministerium vorlegen, wenn einestaatliche Förderung besteht.
Gedruckt werden darf nur das, was Herrn Niebelgefällt. Der Geschäftsführer des Forums Umwelt undEntwicklung hat dazu angemerkt, dass das Zustände wiein Weißrussland sind. Recht hat der Mann.
Die Bundesregierung verkündet übrigens gerne stolz,dass Deutschland 1,2 Milliarden Euro für internationaleBildung als Entwicklungshilfe ausgibt. Die Hälfte dieserGelder aber sind Studienplatzkosten für ausländischeStudierende, die in Deutschland studieren. Hierbei gehtes oft nicht darum, den armen Ländern zu helfen, son-dern ihre besten und klügsten Köpfe abzuwerben. DieUNESCO kritisiert das seit Jahren. Mit Entwicklungs-hilfe hat das nämlich nichts zu tun.
Im Übrigen ist dieselbe neoliberale Politik, die FrauMerkel Europa aufzwängt und die zu schwersten sozia-len Verwerfungen führt, seit Jahren für den Verfall desöffentlichen Bildungswesens in den Entwicklungslän-dern mitverantwortlich. So knüpft der InternationaleWährungsfonds bis heute seine Kreditvergabe an dieBedingung, Staatsausgaben zu reduzieren. Meist wirdzuerst im Bildungssektor der Rotstift angesetzt.Die Bundesregierung als IFW-Mitglied muss, wennsie es mit der Schaffung von Bildungszugängen für alleKinder ernst meint, dagegen aktiv werden.
Bildung ist ein Menschenrecht, das nur gebührenfreiestaatliche Bildungssysteme gewährleisten können. Wirstimmen hierin mit dem SPD-Antrag überein und wer-den ihm deswegen auch zustimmen.
Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt
hat das Wort die Kollegin Ute Koczy von Bündnis 90/
Die Grünen.
Von wegen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Am heutigen Tag, einen Tag nach der Vorstel-lung des Eckwertebeschlusses für den Haushalt 2014,kann ich als entwicklungspolitische Sprecherin bei derDiskussion über einen Bildungsantrag nicht einfach zurTagesordnung übergehen. Fakt ist: Die Regierung kün-digt Kürzungen im Haushalt des Entwicklungsministeri-ums an.
– Wenn man alles zusammenrechnet, drohen Einschnittevon bis zu 245 Millionen Euro, Herr Kollege.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28507
Ute Koczy
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– Gegenüber 2013. – Das ist ein Armutszeugnis für dieRegierung Merkel, Rösler und Co. Das ist das finale Ne-gativzertifikat der Entwicklungspolitik von Schwarz-Gelb.
Es entlarvt Kanzlerin Merkel als eine Versprechens-brecherin. Ich erinnere: Das 0,7-Prozent-Ziel wurde derWeltöffentlichkeit in Heiligendamm von Angela Merkelals deutsche Aufbruchspolitik, als deutsches Bekenntniszur internationalen Verantwortung verkauft. UnterMinister Niebel landet dieses Versprechen auf demschwarz-gelben Müllhaufen der Geschichte.
Wenn er seine Mütze nicht schon dem Haus der Ge-schichte vermacht hätte, wäre jetzt die Gelegenheit, siegleich noch hinterher auf diesen Müllhaufen zu werfen.
Diese Kürzungsansage ist angesichts der Ziele, die wirEntwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitikerzu erreichen suchen, nämlich globale Gerechtigkeit undeine Neubestimmung, wie wir in dieser globalen WeltEntwicklungswege innerhalb der planetarischen Gren-zen gehen können, mehr als bitter. Die Kürzungen be-treffen alle Arbeitsbereiche der EZ und damit wahr-scheinlich auch das Themenfeld, über das wir hier heutesprechen, nämlich die Bildung.Wie gefährlich es ist, wenn sich Mädchen zur Bildungbekennen, musste die pakistanische Schülerin Malalaaus dem Swat-Tal erleben. Sie wurde für ihr Bekenntnis,zur Schule gehen zu wollen und dafür auch öffentlicheinzutreten und zu streiten, von Fundamentalisten tätlichangegriffen und schwer verletzt.
– Herr Kollege Fischer, das hat jetzt nichts damit zu tun,aber es hat sehr viel damit zu tun, wie wichtig Bildungist und dass wir dafür streiten müssen.Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Jungen, fürMenschen mit und ohne Handicap, für Alt und Jung, fürKinder aus allen Schichten – das ist doch ein Ziel, fürdas es sich zu streiten lohnt.
Es gibt Erfolge, die Mut machen, die zeigen: Ja, esgeht. Mit entwicklungspolitischen Maßnahmen könnenwir etwas erreichen, und wir dürfen in unseren Anstren-gungen nicht nachlassen. Wir Grüne können diesem An-trag deswegen zustimmen. Denn wir wollen, dass nichtnur der Zugang zu Bildung, sondern auch die Qualitätvon Bildung vergrößert wird. Qualität bedeutet, dass dieLernenden wirklich etwas lernen. Qualität bedeutet, dassdas Lehrpersonal ausreichend qualifiziert ist, dass dieZahl der Kinder in einer Klasse Lernen ermöglicht unddass es Curricula gibt, die Lernbereitschaft und Eigenan-strengung belohnen und fördern. Qualität heißt ebenauch, den Anteil der weiblichen Lehrkräfte zu erhöhen.
Ich finde, da muss man noch mehr tun. Die Bildungs-strategie des BMZ, die nach einem langwierigen ProzessAnfang letzten Jahres endlich vorgestellt wurde, muss fi-nanziell und strategisch mit Substanz gefüllt werden.Unsere Kritik daran ist, dass unklar ist, mit welchenMaßnahmen die Ziele erreicht und finanziert werden sol-len. Es gibt nämlich keine Indikatoren, keine konkretenZahlen. Das bedeutet, dass nicht klar ist, worauf dieseBildungsstrategie konkret abzielt. Wir haben genug An-kündigungen gehört. Wir wollen Taten sehen.Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit demTitel „Für eine bessere Bildungssituation weltweit“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/11492, den Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/6484 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes über die Gewährung eines Altersgeldsfür freiwillig aus dem Bundesdienst ausschei-dende Beamte, Richter und Soldaten– Drucksache 17/12479 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss RechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesVerteidigungsausschussAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO
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28508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Armin Schuster das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Wettbewerb um die besten Köpfe im Landist in vollem Gange, und er ist angesichts einer sich ste-tig verändernden Altersstruktur in der Bevölkerung undeiner immer geringeren Zahl von Kindern eine der gro-ßen Herausforderungen für den öffentlichen Dienst.Wenn der Arbeitgeber Bund der Konkurrenz um guteFachkräfte gewachsen sein will, muss er etwas bieten.Ich habe den Eindruck, heute bewerben sich die Bundes-behörden eher bei den Fachkräften als umgekehrt.Bei den Gehältern werden wir mit der Privatwirt-schaft wohl nicht mithalten können. Deshalb muss derBund als Arbeitgeber andere attraktive Angebote ma-chen können. Genau da haben die Regierung, die Koali-tion und das Parlament ihre Aufgaben. Im Wettbewerbum die besten Fachkräfte hat die christlich-liberaleKoalition in dieser Legislaturperiode deshalb sehr vielgetan, damit der Bund ein verlässlicher und zukunfts-orientierter Arbeitgeber für Beamte, Soldaten und Bun-desrichter bleibt.
So haben wir zum Beispiel die Dienstbezüge gleichzweimal inhaltsgleich zu den Tarifabschlüssen für denöffentlichen Dienst angepasst. Wir haben die Einsatzver-sorgung unserer Soldaten verbessert. Wir haben einFachkräftegewinnungsgesetz auf den Weg gebracht, mitdem wir den Behörden attraktive Instrumente zur Perso-nalgewinnung an die Hand geben. Die Zahlung desWeihnachtsgeldes für die Bundesbeamten wurde 2011wieder eingeführt. Mit der Entscheidung, die pauschalenStellenkürzungen auslaufen zu lassen, hat der Bundesin-nenminister genau zum richtigen Zeitpunkt ein sehrwichtiges Zeichen gesetzt.Apropos wichtige Zeichen zum richtigen Zeitpunkt:Bundesinnenminister Friedrich hat gestern die Bewer-tung von 1 063 Dienstposten der Bundespolizei angeho-ben. Seit 2011 kam es zu rund 3 000 Höherbewertungenund 150 Planstellenhebungen. Auch das ist ein echterAttraktivitätsschub, den sich die Betroffenen übrigensauch verdient haben; das darf ich an dieser Stelle einmalsagen.
Wir werden noch in diesem Jahr die Familienpflege-zeitregelung der Tarifbeschäftigten auf die Beamten desBundes übertragen. Wir wollen, dass auch Beamte diePflege von nahen Angehörigen und ihre Berufstätigkeitvereinbaren können. Vielleicht kann die Bundesverwal-tung hier eine Vorreiterrolle übernehmen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere be-amtenpolitischen Initiativen in dieser Legislaturperiodestellen eine Erfolgsbilanz dieser christlich-liberalen Ko-alition dar, wie sie sich viele Beamtinnen und Beamte ineinigen rot-grün geführten Bundesländern geradezuwünschen würden.
– Es kommt noch besser. – Wir wollen heute, sozusagenauf der Zielgeraden dieser Wahlperiode, eine weitereGesetzesinitiative auf den Weg bringen, die es guten Be-werbern noch attraktiver erscheinen lässt, in der Bundes-verwaltung anzuheuern.
Wir wollen den Wechsel zwischen öffentlichemDienst und Privatwirtschaft zukünftig in beide Richtun-gen erleichtern. In der Koalition haben wir uns auf denvorliegenden Gesetzentwurf – Herr Dr. Ruppert, zugege-benermaßen intensiv – geeinigt,
auf einen Gesetzentwurf übrigens, mit dem wir endlichdie Dienstrechtsreform von 2009 komplettieren wollen.Wir wollten das eigentlich schon damals machen. Jetztsind wir so weit. Wir wollen den Austausch zwischenStaat und Wirtschaft beleben und die besten Köpfe fürden öffentlichen Dienst gewinnen, ihnen dabei abernicht den Eindruck vermitteln, sie müssten sich von Be-ginn an für ihr ganzes Leben unwiderruflich verpflich-ten.Die Bundesverwaltung wird damit für Berufseinstei-ger deutlich attraktiver. – Warum? Wenn aktive Beamtebisher einen Wechsel in die Privatwirtschaft erwogen ha-ben, mussten sie im Rahmen der dann fälligen gesetzli-chen Nachversicherung mit derart hohen Abschlägen inder Alterssicherung rechnen, dass die meisten von die-sem Schritt abgehalten wurden. Das bleibt natürlichauch potenziellen Bewerbern nicht verborgen. Deshalb– das ist der Zustand heute – werden sich diejenigen, diesich eine berufliche Flexibilität von vornherein nichtverbauen wollen, nicht dafür entscheiden, in die öffentli-che Verwaltung zu gehen. Genau diesen Bewerbernmöchten wir die Option eröffnen, möglicherweise nureinen Teil ihres beruflichen Lebens als Beamter zu arbei-ten und die damit erworbenen Versorgungsansprüchewie in der Privatwirtschaft quasi mitzunehmen.Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Regelungnicht nur mehr Gerechtigkeit bringt, sondern vor allenDingen auch mehr Bewerber. Von diesen neu gewonne-nen Bewerbern werden deutlich mehr bleiben als gehen.Erfahrene Fachkräfte oder Studienabsolventen werdenden öffentlichen Dienst, wenn sie erst einmal drin sind,als attraktiven Arbeitgeber erleben und sich wohlfühlen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28509
Armin Schuster
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Deshalb ist das Thema Portabilität für mich ein Modellzum Einstieg.Mit der jetzigen Gesetzesinitiative will die Union da-für sorgen, dass Beamte, die freiwillig ausscheiden wol-len, ihre bis dahin erdienten Pensionsansprüche nicht inerheblichem Umfang verlieren. Der bis zum Ausschei-den erworbene Anspruch soll weitgehend mit dem Errei-chen der gesetzlichen Altersgrenze als Altersgeld ausge-zahlt werden.Das Lebenszeitprinzip bleibt für uns ein wichtigerGrundsatz. Wir wollen keine falschen Anreize setzen;deshalb haben wir einen Abschlag in Höhe von 15 Pro-zent der Altersgeldansprüche und eine Mindestverwen-dungszeit von sieben Jahren im Gesetz verankert.
Entstandene Ausbildungskosten sollen vom Staat gege-benenfalls zurückgefordert werden können.
Mehr Austausch zwischen öffentlichem Dienst undPrivatwirtschaft bringt beiden Seiten Vorteile; dies zei-gen die positiven Erfahrungen der christlich-liberalenGesetzesinitiative von 2011 zur Einführung der Portabi-lität in Baden-Württemberg.
Weitere Länder werden dem folgen. Ich betrachte diesenReformschritt deshalb als eine zukunftsorientierte Fort-entwicklung der hergebrachten Grundsätze des Berufs-beamtentums.Auch die SPD, Herr Hartmann, wollte dieses Vorha-ben eigentlich schon immer umsetzen, hat es aber nichtgeschafft.
Geschätzter Herr Kollege, um Ihnen doch ein wenig Er-folg zu gönnen, darf ich sinngemäß zitieren, was Sieheute morgen in anderem Zusammenhang sagten: dasses einem modernen Gesetzgeber gut zu Gesicht stünde,wenn er die Wirkungen seiner Gesetze regelmäßig be-werten würde.
– Das ist wirklich schlau. Deswegen werden wir dieAuswirkung dieses Gesetzes auf Personalbestand undBudgets zum 31. Dezember 2016 überprüfen.
Das heißt, die SPD darf uns getrost zustimmen und unsfortan, wie Sie es heute morgen getan haben, als moder-nen Gesetzgeber bezeichnen.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir habenunseren Beamtinnen und Beamten, Polizistinnen undPolizisten, Soldatinnen und Soldaten in der Vergangen-heit viel zugemutet durch Neuorganisationen, Reformen,Aufgabenerweiterungen und Stellenkürzungen. Das ha-ben sie alles unter vollen Segeln bewerkstelligt, sodasswir uns glücklich schätzen dürfen, über sehr gut funktio-nierende Behörden zu verfügen. Dass das ein unschätz-barer Standortvorteil für Deutschland ist, sehen wir sehrgut an den EU-Ländern, die jetzt in der Krise sind: Dortgibt es – neben anderen Problemen – auch deutliche De-fizite im öffentlichen Gemeinwesen. Unsere Verwaltungist effizient und verlässlich, sie trägt wesentlich zum Er-folg des Standorts Deutschland bei. Weil unsere Beam-ten uns dies mit ihren Leistungen tagtäglich garantieren,wollen wir das auch angemessen honorieren.
Monetär, aber eben auch durch attraktive und moderneArbeitsbedingungen zu motivieren, das war unser beam-tenpolitisches Ziel. Nach Auffassung vieler Interessen-verbände ist das dieser Koalition in dieser Legislatursehr gut gelungen. Die Einführung eines Altersgeldes istnur ein Beleg dafür, wie wir den öffentlichen DienstSchritt für Schritt modernisieren.Als Baden-Württemberger drängt sich mir natürlichdie Frage auf – ich habe ja zwölf Minuten, HerrHartmann –: Was wäre eigentlich die grün-rote oder dierot-grüne Alternative? Das ist jetzt einfach; denn ichhabe das jeden Tag live zu Hause.Ich zitiere einmal Herrn Stich, den Chef des Baden-Württembergischen Beamtenbundes.
Nach zwei Jahren Regierungszeit von Grün-Rot in Ba-den-Württemberg spricht er von einem Offenbarungseiddieser Regierung.
Ein Beispiel: In Baden-Württemberg werden, so kün-digte Finanzminister Schmid am Montag, nicht einmal48 Stunden nach der Tarifrunde, an, die Ergebnisse derTarifrunde nicht auf die Beamten und Pensionäre über-tragen.
Man habe im Haushalt nicht mit einem solchen Ergebnisgerechnet.
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28510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Armin Schuster
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2,65 Prozent Lohnsteigerung in diesem Jahr und knapp3 Prozent im nächsten Jahr: Damit konnte man nichtrechnen? Hier werden die Beamten hinter die Fichte ge-führt.
Wenn Sie das einmal vergleichen wollen: In Baden-Württemberg werden gerade die Eingangsämter fürBeamte abgesenkt. Mit unserem Fachkräftegewinnungs-gesetz haben wir sie für die speziellen Fachverwendun-gen angehoben.Schauen Sie sich auch an, wie etwa Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen mit den Tarifergeb-nissen umgehen: Sie denken darüber nach, sie nicht zuübertragen. Rheinland-Pfalz hat schon entschieden, sienicht zu übertragen. Und was sagt Bayern? Logisch:gleiche Regierung, inhaltsgleich, voll übertragen wie derBund.
Auf uns, auf die CDU/CSU und die FDP, können sichder Richter, der Soldat, die Richterin, die Soldatin, derBeamte, die Beamtin und die Versorgungsempfängerverlassen. Solange wir das Land regieren, stimmt esauch im öffentlichen Dienst.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine ersteRede zu beamtenpolitischen Themen in diesem Haushabe ich im September 2010 gehalten.
– Ja, ja. Damals haben Sie mich vielleicht gar nicht ernstgenommen, aber jetzt tun Sie es, glaube ich, langsam. –Schon damals habe ich angekündigt, dass wir in dieserWahlperiode gezielt daran arbeiten werden, den öffentli-chen Dienst des Bundes attraktiver zu gestalten. Bishierhin haben wir gegenüber den Beamten, Richtern,Soldaten und Versorgungsempfängern Wort gehalten,und für die kommende Wahlperiode haben wir noch ei-niges im Köcher, worauf sie sich ab Oktober wirklichfreuen dürfen.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Michael Hartmann von der
SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Ich bin noch ehrfurchtsvoll erschüttert obdes großen Selbstlobs dieser Koalition
für alle vermeintlichen Wohltaten für die Beamtinnenund Beamten im Land. Aber man darf auch zu dieserAbendstunde an die Realität erinnern.Herr Schuster, Sie haben so ruhmreich erwähnt, dassdas Weihnachtsgeld nun wieder eingeführt worden sei.Ich kann Ihnen sagen, warum: Beamtenbund, Gewerk-schaften und auch wir sind Sturm gelaufen, und das warso einfach nicht mehr zu halten. Sie haben das Weih-nachtsgeld zunächst gekürzt und es dann nur auf Druckwieder erhöht. Das ist die richtige Erinnerung an dieRealität.
– Nein, das ist nicht wahr. Herr Binninger, regen Sie sichnicht so auf, sonst erzähle ich, wie Sie sich in derGroßen Koalition auf den letzten Metern beim ThemaMitnahmefähigkeit verhalten haben. Das tue ich aber lie-ber nicht.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir redenheute über ein Thema, das hier im Parlament selten ge-nug aufgerufen wird, nämlich über Beamte – und indiesem Falle sogar über die Beamtenversorgung. In derTat: Die Klischees sind mannigfaltig. Nichts ist beliebterals eine Schelte der angeblich faulen und überbezahltenBeamten, die ohnehin auch noch unfähig seien. Viel-leicht wird das nur durch eine allgemeine Politiker-schelte getoppt.Deshalb ist es gut, in der heutigen Debatte jenseits ei-nes durchschaubaren Selbstlobs einmal festzustellen,dass vor allem ein anderer Ton angemessen ist; denn Be-amte sind beispielsweise die Polizistinnen und Polizis-ten, die ihren Dienst in Wechselschichten versehen; dieFeuerwehrleute, die Tag und Nacht unterwegs sind, unddie Soldatinnen und Soldaten, die alle zusammen für un-sere Sicherheit sorgen. Beamtinnen und Beamte sindauch die Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen, diePersonalausweise ausstellen oder Baugenehmigungenerteilen. Beamtinnen und Beamte sind im Bundesdienstbeispielsweise sehr fleißige Menschen, die Rettungs-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28511
Michael Hartmann
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schirme aufspannen, die dafür sorgen, dass Gesetze ver-fassungsgemäß sind, und die schnell und qualifiziert zu-arbeiten. Deshalb meine ich, meine Damen und Herren:Es darf in diesem Parlament sehr deutlich ausgesprochenwerden, dass das Gute an dem Berufsbeamtentum, wiewir es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutsch-land erleben, der Umstand ist, dass jene Beschäftigtennur eine Verpflichtung haben, nämlich der Kommune,dem Land, der Bundesrepublik oder Europa zu dienen,und keinen anderen Zweck verfolgen. Länder wie Grie-chenland wären froh, sie hätten dieses Berufsbeamten-tum.Und auch das ist wahr: Die Stabilität und Berechen-barkeit unseres Landes, das gute Verwaltungshandeln –das ist diesen und anderen Beamtinnen und Beamten inhohem Maße geschuldet, und dafür dürfen wir ihnenauch Dank sagen,
zumal – das vermuten manche – die Besoldung nichtbeim Ministerialdirektor beginnt. Vielmehr beginnt dieBesoldung beim Bund beim Oberamtsgehilfen. Dieserträgt ungefähr 1 800 Euro brutto nach Hause.
Es sind also keine Riesensummen und -beträge. Ich sagedas, weil der Reflex gegen Beamte meistens in eine an-dere Richtung weist.
Allerdings ist es so, dass auch das Berufsbeamtentumin unseren Zeiten einem Wandel unterliegt, dass die An-forderungen wesentlich andere sind und dass die Uhrenbei – Herr Schuster, da sind wir beieinander – derGewinnung von Fach- und Nachwuchskräften in Kon-kurrenz mit der gewerblichen Wirtschaft und angesichtsdes demografischen Wandels anders gestellt werdenmüssen.Dazu sind wir bereit, und dem müssen wir uns stellen.Allerdings sagen wir sehr deutlich in Richtung des Bun-desinnenministeriums, dass die Gralshüter des klassi-schen hoheitlichen Berufsbeamtentums irren, wenn sieerwarten, dass diesem nun mit der Mitnahmefähigkeitder Untergang droht. Diese Argumentation hörten wir inder Großen Koalition – Herr Binninger, unter Ihrem we-sentlichen Mittun –,
als wir bei der Einführung der Mitnahmefähigkeit aufden letzten Metern durch CDU/CSU ausgebremst wur-den.
Also tun Sie nicht so, als seien Sie die Motoren gewesen.Der größte Widerstand gegen das, was wir jetzt auf denWeg bringen, sitzt im Bundesinnenministerium. Siemussten denen all das auf unseren Druck hin abringen,meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit.
Jedenfalls droht mit der Mitnahmefähigkeit nicht derUntergang des Berufsbeamtentums, ganz im Gegenteil:Die Zukunftsfähigkeit wird damit hergestellt. Denndiese klassische Denke „Einmal Beamter, immer Beam-ter“ und „Wer vorher geht, nimmt Netzwerkwissen,seine Ausbildung und anderes mehr mit und wird dasschändlicherweise in der gewerblichen Wirtschaft ver-wenden“ stammt aus dem 19. Jahrhundert. Diese Denkehält junge Menschen eher davon ab, Beamter werden zuwollen, als dass sie zum Exodus der Menschen aus demBerufsbeamtentum führt, wie manche unterstellen.Insofern ist es bereits in der derzeitigen Situation so,dass Beamtinnen und Beamte gehen. Aber das sindmeistens diejenigen, die sehr weit oben in der Besoldungangesiedelt sind, und es sind jene, die mit ihrem zukünf-tigen Arbeitgeber vereinbaren können, dass sie das, wasihnen verloren geht, anderweitig als Ausgleich erhalten.Aber jetzt stellen wir uns einen Moment lang einmalvor, in der gewerblichen Wirtschaft würde jemand sa-gen: Deine Betriebsrente, die du erworben hast, darfstdu, wenn du Firma A verlässt und zu Firma B gehst,nicht mitnehmen. Du verlierst alles, was du bisher anBetriebsrente erworben hast. – Was würden wir dannsagen?Wir haben durchgesetzt, dass es diese Mitnahmefä-higkeit in der gewerblichen Wirtschaft und für die Ange-stellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst gibt, unddeshalb ist es nur konsequent, diese endlich auch auf dasBerufsbeamtentum auszudehnen.
Es kann nicht sein, dass ein Beamter ewig an das Be-amtentum gekettet ist und bestraft wird, wenn er geht.Vielmehr wollen wir junge Leute gewinnen, jungeLeute, die sagen: Wir sind vielleicht interessiert, bei ei-ner Sicherheitsbehörde, bei einer Verwaltungsbehörde,bei einem Ministerium unsere hohen Kenntnissebeispielsweise im IT-Bereich einzubringen. Aber wirwollen nicht bis ans Ende unserer Tage dort sein, undwenn wir bis ans Ende aller Tage dort sein müssen oderanderenfalls unsere Bezüge verlieren, dann fangen wirdort erst gar nicht an.Deshalb ist es wichtig, dass wir die Mitnahmefähig-keit nicht als eine Schleuse ansehen, die alles öffnet, da-mit Beamte abwandern können. Es ist keine Ausstiegs-klausel aus dem öffentlichen Dienst, sondern vielmehreine Einstiegsklausel in den öffentlichen Dienst, umjunge Leute für diesen zu gewinnen.
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28512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Michael Hartmann
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Wir werden den weiteren Prozess aktiv und intensivmitbegleiten. Wir werden Sie darin unterstützen, gegenalle Kritiker in Ihren Reihen und in unseren Reihen dasBeamtenrecht modern zu gestalten. Aber wir werden dasGanze nur wirklich voranbringen können, wenn wir denMut haben, zu sagen, dass das, was Beamtinnen und Be-amte in oftmals schwierigen Situationen leisten, nichtetwa Schimpf und Schande verdient, sondern Anerken-nung. Die SPD ist bereit, unseren Berufsbeamten, unse-ren Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienstdiese Anerkennung entgegenzubringen, und ist deshalbnicht erst seit gestern, sondern schon lange für die Mit-nahmefähigkeit.Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Dr. Stefan Ruppert.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Ich muss sagen, Herr Hartmann, das war eine ausge-
sprochen gute Rede, weil Sie unser Gesetzesvorhaben so
ausdrücklich gelobt haben. Ich verstehe Sie, dass Sie
diese Rede gerne vor vier oder viereinhalb Jahren gehal-
ten hätten. Es ist immerhin anzuerkennen, dass Sie heute
loben, was wir hier tun.
Neulich diskutierten wir mit dem dbb und mit Verdi
über beamtenrechtliche Fragen. Es wurde die Föderalis-
musreform kritisiert und die Frage aufgeworfen, ob sich
das Beamtenrecht zwischen dem Bund und den Ländern
und auch den Ländern untereinander zunehmend aus-
einanderentwickelt. Herr Schuster hat einige wichtige
Hinweise darauf gegeben, dass in der Tat dort, wo bür-
gerliche Koalitionen regieren, mittlerweile die Leistun-
gen für das Berufsbeamtentum um bis zu 20 Prozent hö-
her sind als dort, wo Rot-Rot oder Rot-Grün regieren,
und dass es ein Auseinanderdriften der Systeme und der
Besoldung und der Attraktivität gibt. Den armen Beam-
ten kann man also leider nur sagen: Es ist im Moment
ein wenig Pech, in einem Land zu wohnen, wo keine
bürgerliche Regierung die Geschicke bestimmt.
Ich habe in diesen Jahren hier im Deutschen Bundes-
tag, aber auch schon davor ein sehr positives Bild vom
deutschen Berufsbeamtentum gewonnen: viele sehr leis-
tungsfähige Mitarbeiter in den Ministerien, aber auch bei
der Bundespolizei und andernorts. Ich glaube, wir kön-
nen auf ein leistungsfähiges Berufsbeamtentum zu Recht
stolz sein. Wir sollten darauf achten, dass das Berufs-
beamtentum dort aktiv ist, wo es wirklich um hoheitliche
Aufgaben geht, und nicht darüber hinaus. Wir haben ein
Leitbild des Berufsbeamtentums, das nicht darauf ange-
legt ist, jemanden, der sich einmal für den öffentlichen
Dienst entschieden hat, sein ganzes Leben an diese Tä-
tigkeit zu binden.
Ich nenne ein Beispiel. Eine Bundespolizistin ist in
Sachsen tätig, bekommt zwei Kinder und ist vielleicht
mit A 9 besoldet. Als sie wieder in den Beruf einsteigen
will, merkt sie, dass ihr nächster Dienstort vielleicht der
Frankfurter Flughafen sein könnte. – Wir stellen immer
wieder fest, dass in diesen Fällen gar kein Wiederein-
stieg in den Beruf erfolgt, weil man nicht umziehen will
oder weil man sagt, man kann diese Flexibilität, was die
Mobilität angeht, nicht aufbringen.
Wenn diese Bundespolizistin den öffentlichen Dienst
verlassen würde, würde sie wie eine Straftäterin behan-
delt. Sie würde nach dem Sozialgesetzbuch nachver-
sichert und würde einen Großteil ihrer Altersver-
sorgungsansprüche verlieren. Das ist eine echte
Gerechtigkeitslücke. Herr Hartmann hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass jemand, der von Siemens zu IBM
wechselt, seine Altersversorgungsansprüche natürlich
nicht verliert.
Auf der anderen Seite haben wir natürlich auch kein
Interesse daran, dass manche – neudeutsch würde man
von „Jobhopping“ reden – alle zwei oder drei Jahre ihren
Beruf wechseln und immer dann, wenn die Zeiten viel-
leicht etwas schwieriger sind, in den öffentlichen Dienst
gehen, um in besseren Zeiten wiederum in die Privat-
wirtschaft zu wechseln. Deswegen haben wir klar-
gemacht: Es muss eine siebenjährige Mindestdienstzeit
im öffentlichen Dienst geben, und es muss einen Ab-
schlag gegenüber den normalen Pensionsansprüchen ge-
ben. Aus unserer Sicht hätte man auch mit fünf Jahren
Mindestzeit leben und auf den Abschlag verzichten kön-
nen. Aber es muss klar sein, dass ein Wechsel alle zwei
Jahre von uns nicht toleriert wird.
Die FDP fordert diese Portabilität seit 20 Jahren; das
steht seit 20 Jahren in unserem Programm. Wir sind sehr
froh, dass es heute, nach über 20 Jahren, endlich zu mehr
Flexibilität beim Wechsel zwischen Privatwirtschaft und
öffentlichem Dienst kommen wird.
Herr Kollege Ruppert, nehmen Sie eine Frage des
Kollegen Hartmann an?
Gern.
Bitte schön, Herr Hartmann.
Danke, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Ruppert. –Herr Ruppert, ich habe ein Problem mit dieser Argumen-tation, die häufiger zu hören ist. Wenn es so ist, dass wir
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28513
Michael Hartmann
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die Portabilität wirklich einführen wollen, warum habenSie dann in dem, was jetzt in erster Lesung zur Diskus-sion gestellt und hoffentlich noch verbessert wird,15 Prozent Abschlag und eine Wartezeit von sieben stattfünf Jahren vorgesehen und außerdem noch angekün-digt, dass Ausbildungskosten ebenfalls erstattet werdenmüssen? Glauben Sie tatsächlich, dass noch jemandernsthaft bereit ist, die Mitnahmefähigkeit in Anspruchzu nehmen, wenn dafür so hohe Hürden aufgebaut wer-den?Warum macht man es nicht wie in Baden-Württem-berg, das Sie, Herr Schuster, als glühendes Beispiel undgroßes Vorbild gelobt haben? Warum lässt man dieLeute nicht einfach nach fünf Jahren gehen und allesmitnehmen, was sie bis dahin erworben haben?Last, but not least: Ist es denn nicht wahr, dass in Ba-den-Württemberg entgegen der großen Befürchtung allerGralshüter des Berufsbeamtentums in 2011 gerade ein-mal 80 Leute gegangen sind, und zwar in den Besol-dungsgruppen A 8 bis A 10? Eine Person mit B 3 wardabei.Warum gehen Sie nicht den richtigen Schritt, statthalbherzig zu agieren und am Schluss doch wieder diePortabilität zu verbauen und gar nicht einzuführen?
Herr Hartmann, das ist ein Einstieg. Wir haben einegründliche Analyse durch die Fachleute, die wir bei denBundesbehörden und Bundesministerien in großer Zahlhaben, vornehmen lassen und haben festgestellt, dass eseinige Bereiche gibt, in denen wir darauf angewiesensind, dass man sich für einen längeren Zeitraum für dieTätigkeit als Beamter im öffentlichen Dienst entschei-det.Ich hätte mir auch das baden-württembergische Mo-dell vorstellen können.
Am Ende sind solche Dinge auch Kompromisse. Ichfinde, es ist richtig, wenn man so etwas erstmals einführt– dafür ist die Sache zu ernst –, das nicht als reines Ex-perimentierfeld anzusehen, sondern zu sagen: Wir füh-ren es jetzt mit sieben Jahren und 15 Prozent Abschlagein, evaluieren es dann – das haben wir ja ebenfalls vor-gesehen –, stellen fest, wie es sich in der Praxis ausge-wirkt hat, und die nächste schwarz-gelbe Bundesregie-rung wird dann in der nächsten Legislaturperiodeentweder noch weitergehende Schritte tun, oder wir wer-den feststellen, dass das schon der Weisheit letzterSchluss war.
– Nein, keine Angst. Jeder kann helfen durch seineZweitstimme, die wir gerne annehmen.
– Ja, ich glaube, wenn Sie nachdenken, kommen Sie zu-mindest als beamtenpolitischer Sprecher irgendwann zuder Einsicht, dass es Ihr Gewissen gebietet, dass man ei-gentlich lieber Schwarz-Gelb wählt, weil es dann denBeamten etwas besser geht.
– Herr Kurth weist zu Recht darauf hin, Herr Hartmann:Das gilt nicht nur für die Beamten, sondern auch für diegroße Mehrheit der Gesellschaft.
Ich will noch einen Punkt erwähnen: die Soldaten aufZeit. Das ist ein wichtiger Regelungsbereich. Wir könn-ten uns vorstellen, dass auch bei den Soldaten auf Zeit,etwa bei SaZ 12, noch eine solche Regelung eingeführtwerden kann. Auch das wäre ein Thema für eine Anhö-rung und gegebenenfalls Anlass für ein Tätigwerden inder nächsten Legislaturperiode. Bei uns besteht der klarepolitische Wille, zu sagen: Wir wollen als ein wichtigesInstrument bei der Bundeswehrreform auch die Soldatenauf Zeit noch miteinbeziehen. Wir werden sehen, ob sichda jetzt etwas machen lässt oder ob wir das in der nächs-ten Legislaturperiode machen. Wahrscheinlich werdenwir auch hier sagen: Erst einmal machen wir es bei denBerufsbeamten und Soldaten auf Lebenszeit, und in ei-nem zweiten Schritt beziehen wir auch noch die SaZlerein.Insgesamt ist das für uns Liberale nach 20 Jahren pro-grammatischer Forderungen nach Portabilität ein wirk-lich guter Tag, weil wir jetzt in diese Dinge einsteigen,wie übrigens auch die Landesregierung in Hessen unddie frühere schwarz-gelbe Landesregierung in Baden-Württemberg.
– Man kann sich nur wünschen, dass Ihre Landesregie-rungen diesen Schritt auch außerhalb von Hamburg ge-hen. – So geht es den Beamten in den schwarz-gelb re-gierten Ländern auch in Zukunft besser als in rot-grünoder in rot-rot regierten Ländern.Insofern ist dies eine gute Legislaturperiode für dasdeutsche Berufsbeamtentum. Ich freue mich darüber,dass Sie uns unterstützen – herzlichen Dank dafür.Vielen Dank.
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28514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
(C)
(B)
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Frank Tempel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Der öffentliche Dienst muss attraktiver wer-
den. Darin sind wir uns offensichtlich einig. Das ist auch
kein Wunder: Denn das bekommen wir von den Ge-
werkschaften ständig mit auf den Weg. Das ist auch die
logische Konsequenz aus der Debatte rund um den de-
mografischen Wandel, den prognostizierten Fachkräfte-
mangel und aus der Summe verschiedener Fehlentwick-
lungen der letzten Jahre und Fehlentscheidungen der
letzten Regierung.
Der Grund dieser Debatte ist ganz einfach die Sorge,
auch in den nächsten Jahren eine ausreichende Zahl an
Nachwuchskräften für den öffentlichen Dienst zu gewin-
nen. In einem Punkt sind wir uns alle wohl einig: „At-
traktiver“ heißt nicht immer mehr Geld und mehr Ver-
günstigungen. Es bedeutet hier vielmehr: modernisieren,
flexibilisieren und entwickeln. Wer das Berufsbeamten-
tum verändern will, löst oft Panikattacken aus. Der Un-
tergang des Berufsbeamtentums und der Niedergang der
hergebrachten Grundsätze werden in einem solchen Fall
schnell prophezeit. Wer aber genau hinschaut, erkennt,
dass das Berufsbeamtentum ohne Modernisierung und
ohne Weiterentwicklung bald nicht mehr zukunftsfähig
sein wird.
Das Lebenszeitprinzip ist ein Grundsatz, der die Zu-
kunftsfähigkeit gefährdet. Setzen junge Menschen in Zu-
kunft bei der Berufswahl – Sie haben es eben beschrie-
ben – eher auf die Sicherheit einer lebenslangen
Anstellung, oder geht der Trend nicht doch eher in Rich-
tung flexiblere, offenere Lebensgestaltung? Ich will das
an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Ich bin als
Polizeibeamter Beamter auf Lebenszeit. Während ich
mein Bundestagsmandat ausübe, ruht mein Dienst. Aber
nach Beendigung meiner Abgeordnetentätigkeit würde
ich normalerweise den Dienst als Polizeibeamter wieder
antreten.
– Bei dem, was ich dann vielleicht vorhätte, würden Sie
sich das vielleicht sogar wünschen.
Nehmen wir Folgendes an: Hier habe ich einige Jahre
im Bereich der Drogenpolitik gearbeitet. Ich habe festge-
stellt, dass bei diesem Thema ein erhebliches Bildungs-
defizit bei der Bundesregierung besteht. Ich erkenne also
eine Marktlücke und würde mich selbstständig machen,
um als Berater für die Bundesregierung zu arbeiten.
Dann würde ich freiwillig aus dem Beamtendienst aus-
scheiden. Nach gegenwärtiger Rechtslage würde ich bei
der Nachversicherung in die Rentenversicherung einen
erheblichen wirtschaftlichen Nachteil erleiden. Mit dem
hier richtigerweise vorgeschlagenen Altersgeld – abge-
sehen von der Ausgestaltung – würde dieser Nachteil
ausgeglichen werden, was erst einmal zu begrüßen wäre.
Es bliebe – das ist von Herrn Ruppert richtigerweise an-
gesprochen worden – dann noch die Frage der Zersplitte-
rung in unterschiedliches Landes- und Bundesrecht of-
fen; denn als Landesbeamter von Thüringen fiele ich gar
nicht unter die hier zu beschließende Regelung. Hier be-
steht weiterhin Diskussionsbedarf.
Das vorgeschlagene Altersgeld ist also ein Schritt in
die richtige Richtung. Wenn man aber den Reformbedarf
insgesamt sieht, dann muss man sagen, dass es sich eher
um einen ganz kleinen Schritt handelt. Wenn wir über ei-
nen leichteren Wechsel vom öffentlichen Dienst in die
Privatwirtschaft reden, dürfen wir den Wechsel von der
Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst nicht verges-
sen. Auch hier müssen modernere Ansätze her. Denn ist
es für einen dringend benötigten Experten wirklich at-
traktiv, im Alter von Mitte 40 zum Beispiel zum Bundes-
kriminalamt zu wechseln? Angesichts der im öffentlichen
Dienst benötigten Fachkräfte besteht hier dringender
Diskussionsbedarf.
Es ist dringend erforderlich, die sozialen Belange
mehr im Auge zu behalten. Herr Schuster, hier ist das
Schulterklopfen beendet. Sie wissen sicherlich, was ich
meine: Immer mehr Aufgaben und immer weniger Per-
sonal, das war ein Trend der letzten Jahre. Das hat den
Staatsdienst nicht gerade erstrebenswerter gemacht.
Wenn infolgedessen von hohen Krankenständen, Burn-
out-Syndrom und innerer Kündigung berichtet wird, ist
das ganz sicher keine Werbung für den öffentlichen
Dienst. Gerade hier hilft eine Ausbildungs- und Einstel-
lungsoffensive. Gerade der öffentliche Dienst sollte Vor-
reiter für familienfreundliche Regelungen – auch das
Problem hat Herr Ruppert angesprochen, allerdings ohne
Lösungen anzubieten – und flexible Lebensarbeitszeitlö-
sungen sein.
Die Linke ist gern bereit, solche kleinen Schritte, wie
hier vorgeschlagen, mitzugehen. Wir stellen auch gern
Hinweise als Gehhilfe zur Verfügung. Aber wer den Weg
nicht zu Ende geht, kommt auch nicht ans Ziel.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hatjetzt das Wort der Kollege Dr. Konstantin von Notz vonBündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! DasAltersgeld ist keine Erfindung dieser Koalition. Es istauch nicht das Ergebnis irgendeines heldenhaftenKampfes, weder der FDP noch des Kollegen Ruppert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28515
Dr. Konstantin von Notz
(C)
(B)
Die Einführung der Möglichkeit einer Mitnahme vonVersorgungsanwartschaften bei freiwilligem vorzeitigenAusscheiden aus dem Beamtenverhältnis ist ein seit Jah-ren – auch hier im Bundestag – diskutierter und längstüberfälliger Reformvorschlag.Wem haben wir es zu verdanken, dass die über einJahrzehnt alten Vorschläge – ich zitiere den Gesetzent-wurf – zur Erhöhung von Mobilität und Flexibilität derBeamten und zum Austausch mit der Wirtschaft erstheute im Plenum liegen?
Wolfgang Schäuble! Wolfgang Schäuble war es, meineDamen und Herren,
der noch 2008 eine solche Portabilität grundsätzlich ab-lehnte – Herr Ruppert, Sie waren es nicht – und so dendamaligen Koalitionspartner SPD vorführte.
Wolfgang Schäuble und der CDU/CSU haben wir es alsozu verdanken, dass die dem Altersgeld zugeschriebenennahezu magischen Kräfte in Sachen Fachkräftegewin-nung sich im letzten halben Jahrzehnt nicht haben entfal-ten können.
Wie aber geht das mit dem Satz zusammen, mit demsich der Kollege Krings gern zitieren lässt?
Ich zitiere:Wir wollen mit der Reform die besten Köpfe fürden öffentlichen Dienst gewinnen und den Aus-tausch zwischen Staat und Wirtschaft beleben.Meine Damen und Herren, die Antwort: Das lässt sichüberhaupt nicht zusammenbringen.
Da kann man Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegender CDU/CSU, auch heute die Frage nicht ersparen:Wenn das Altersgeld, Herr Kollege Schuster, so einetolle Sache ist, wie Sie das hier heute vertreten, warumhaben Sie es dann jahrelang im Keller liegen lassen?
Tatsächlich geht es hier um materielle Gerechtigkeit.Es geht um die Anerkennung von Realitäten und um einelange überfällige, allseits geforderte Facette der Moder-nisierung des Beamtenrechts.
Diese Anwartschaften müssen prinzipiell verlustfrei mit-genommen werden können. Die vorgelegten Rechtferti-gungen für die genannten Einschränkungen überzeugenuns nicht.
Dabei räumen die Gewerkschaften ein, dass es allen-falls in wenigen Bereichen der Bundesverwaltung, wiezum Beispiel der IT, überhaupt eine entsprechendeWechselstimmung gibt und insgesamt wohl keine großeNachfrage zu erwarten sein wird. Das ist eine bemer-kenswerte Diskrepanz zu den Superlativen des Wettbe-werbs um die besten Köpfe und der Art und Weise, wieSie sich für dieses Gesetzchen hier feiern lassen.Die Gewerkschaften haben mit Recht angemerkt: Dieim vorliegenden Entwurf gewählte Ausgestaltung desAltersgeldes erst ab einer altersgeldfähigen Dienstzeitvon sieben anstelle von fünf Jahren erscheint will-kürlich. Vor allen Dingen an die CDU/CSU gerichtetsage ich: Die Vorgängerregierung – auch unter FrauMerkel! – hat einen Bericht in Auftrag gegeben, und indiesem Bericht wird genau für eine fünfjährige Mindest-dauer plädiert, von der Sie jetzt abweichen. Dasselbe giltfür den pauschalen Abschlag von 15 Prozent auf den Ge-samtanspruch. Die Sorge, hier werde ein Aussteigerpro-gramm für Beamte gestartet, das außer Kontrolle geratenkönnte, scheint nur auf den ersten Blick plausibel; wahr-scheinlich ist das aber nicht, wie ich schon gesagt habe.Meine Damen und Herren, dieser Tage gab es eineninteressanten Artikel auf Zeit Online über die heran-wachsende Generation Y,
über gut ausgebildete, hoch motivierte junge Leute, diees doch tatsächlich wagen, gerade nicht die Bezahlungund Versorgung, sondern die Qualität ihres Arbeitsplat-zes insgesamt in den Mittelpunkt ihrer Berufswahl zustellen.
Diese sogenannten High Potentials gehen einfach wie-der, wenn sie zum Beispiel auf starre Hierarchien undChefs von gestern treffen.Was hat diese Koalition diesen jungen Menschen inSachen öffentlicher Dienst zu bieten? Und was habenSie als Koalition dem öffentlichen Dienst im Hinblickauf die Gewinnung dieser Fachkräfte zu bieten?
Gar nichts haben Sie denen zu bieten, meine Damen undHerren!
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28516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Dr. Konstantin von Notz
(C)
(B)
Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das ist keine Re-form für die Arbeitswelt von morgen. Was Sie hier vor-gelegt haben, sind überfällige Konzepte von gestern,ohne wirklichen Gestaltungs- und Reformauftrag. Auchim Bereich des Dienst-, Besoldungs- und Versorgungs-rechts haben Sie wertvolle vier Jahre vertan. Das istschade.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12479 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie die Zu-
satzpunkte 8 und 9 auf:
12 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
25 Jahre nach Halabja – Unterstützung für die
Opfer der Giftgasangriffe
– Drucksache 17/12685 –
ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP
Unterstützung für die Opfer von Halabja fort-
setzen
– Drucksache 17/12684 –
ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Anerkennung der irakischen Anfal-Operatio-
nen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf
Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord –
Humanitäre Hilfe für die Opfer
– Drucksache 17/12692 –
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch das beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Uta Zapf von der SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 16. März2013 jährt sich zum 25. Mal ein grauenhaftes Verbrechenam kurdischen Volk, der Giftgasangriff von SaddamHussein auf die Stadt Halabdscha. Irakische Kampfflug-zeuge vom Typ MiG und Mirage bombardierten dieStadt mit Giftgas, mit VX, Sarin und Senfgas, töteten5 000 Menschen; 10 000 wurden verletzt. Noch heuteleiden die Menschen in Halabdscha an den Folgen, anphysischen und psychischen Krankheiten, an Missbil-dungen und Traumata.Ich möchte einen Vertreter dieses geschundenen Vol-kes auf der Zuschauertribüne begrüßen, Herrn AminBabasheikh von der Patriotischen Union Kurdistans.Herzlich willkommen!
Zudem habe ich erfahren, dass eine Delegation des Par-laments aus Arbil anwesend ist. Auch Ihnen ein herzli-ches Willkommen zu dieser Diskussion!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wirspringen mit dem von uns vorgelegten Antrag zu kurz.Es gilt die Morde an den Kurden durch Saddam Husseinals Völkermord anzuerkennen,
wie es jüngst das britische Parlament, die norwegischeRegierung sowie die Parlamente von Schweden und Ka-nada getan haben. In Frankreich wird auch darüber nach-gedacht. Insofern bin ich über unseren Kleinmut ein we-nig beschämt.In der Konvention über die Verhütung und Bestrafungdes Völkermordes ist Völkermord definiert als Hand-lung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale,ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solcheganz oder teilweise zu zerstören. Halabdscha war einVölkermord mit Ansage. Der Cousin von SaddamHussein, Ali Hassan al-Madschid, genannt Chemie-Ali,kündigte den Giftgasangriff an und verhöhnte dabeigleichzeitig die internationale Völkergemeinschaft. Mankann sich das in einem Video auf Youtube ansehen.Human Rights Watch berichtete 1991 von weiterenGiftgasangriffen auf kurdische Siedlungen. Der Angriffauf Halabdscha war nur ein Teil der Vernichtungskampa-gne gegen Kurden. In der sogenannten Anfal-Kampagnewurden etwa 1 800 Männer, Frauen und Kinder umge-bracht und verscharrt. Ich habe 1993 Irakisch-Kurdistanbereist und mit eigenen Augen einige dieser Massengrä-ber gesehen. Heute werden immer neue Massengräbergefunden; die Leichen werden exhumiert, identifiziertund anschließend begraben.Tausende von Dörfern wurden zerstört. Die Überle-benden Anfal-Witwen wurden in Gettostädten zusam-mengetrieben.Nach 1991, als die Flugverbotszone Schutz bot undSaddam sich mit seiner gesamten Administration ausden kurdischen Gebieten zurückgezogen hatte, hattendie Kurden – auch mit deutscher Hilfe – begonnen, ihrLand wieder aufzubauen. Ich habe 1993 einige dieserFrauen getroffen, die sich mühsam mit der Hilfe interna-tionaler Projekte durchschlagen konnten und mussten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28517
Uta Zapf
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(B)
2011 habe ich mit meinem Kollegen WolfgangTiefensee Halabdscha besucht. Liebe Kolleginnen undKollegen, das dortige Mahnmal und die damit verbun-dene Ausstellung zerreißen einem das Herz. Die vomGiftgas getroffenen Menschen starben in ihren Häusern,auf den Straßen, auf der Flucht, und zwar qualvoll. InNachbildungen und Fotografien ist alles dokumentiert.Auch über dieses Verbrechen gibt es auf Youtube zahlrei-che Dokumentationsvideos, die aber nichts für zarte Ge-müter sind. Das will ich hinzufügen.Es besteht kein Zweifel, dass wir es hier mit einemGenozid zu tun haben. Im Irak wurde die Anfal-Kampa-gne vom Hohen Irakischen Kriminaltribunal als Genozidanerkannt. In Großbritannien gab es eine Kampagne ei-ner überfraktionellen Parlamentariergruppe, die Unter-schriften für eine Petition gesammelt hat. Mithilfe derRepräsentantin der kurdischen Regionalregierung fandAufklärung und Werbung für diese Petition statt. Am28. Februar 2013 hat das britische Parlament einstim-mig, über alle Parteien hinweg, beschlossen, die Anfal-Operation als Genozid anzuerkennen. Das ist allerdingsnoch kein Präjudiz für die Anerkennung durch die Re-gierung; ich glaube, das muss man wissen.Ich stehe etwas beschämt vor der Tatsache, wie zöger-lich wir hier vorgehen. Ich glaube, es gebricht uns einwenig an Mut. Man kann es allerdings nicht so machenwie die Linke. Sie fordert eine Entschädigung der Opferwegen Mitschuld der Bundesregierung. Ich möchte aufFolgendes hinweisen: Die Lieferung von Chemikalienwar illegal. Firmen und Firmenchefs standen vor Ge-richt; zum Teil wurden sie verurteilt und haben ihre Stra-fen abgesessen. Andere sind freigesprochen worden; dasist richtig.Die Exporte von Fabrikanlagen, zum Beispiel von derFirma Kolb, wurden mit falschen Angaben – etwa mitVerweis auf die Produktion von Pestiziden – angemeldetund dann genehmigt. Als der Verdacht aufkam, dass dieAnlagen missbraucht werden könnten, hat die Bundes-regierung die Genehmigung zurückgezogen. Die FirmaKolb zog vor Gericht, bekam recht und durfte exportie-ren. Das tut uns sehr weh; aber das ist Tatsache.Als nach dem ersten Golfkrieg durch die Inspektorender UNSCOM aufgedeckt wurde, wozu die von derFirma Kolb exportierten Fabrikanlagen gedient hatten,wurde die Firma angeklagt und vor Gericht gestellt. Eserfolgte ein Freispruch mangels Beweisen; in letzter Mi-nute hatte sich ein Schweizer Gutachter entschieden,keine Aussage vor Gericht zu machen. Damals war ichsehr betroffen; diese Firma ist in meinem Wahlkreis,meinem Heimatort ansässig.Die Bundesrepublik war nicht Täter, Mittäter oder in-direkt mitschuldig. Ob die an den illegalen LieferungenBeteiligten zu belangen sind, muss geprüft werden. Esgab viele Länder, aus denen geliefert wurde; ich glaube,sie müssen in eine Prüfung einbezogen werden.Nach diesen Erfahrungen hat die damalige Regierungdie Exportgesetze verschärft und die Kontrollen verbes-sert. Ich stehe wahrlich nicht im Verdacht, eine Apologe-tin der Regierung Kohl zu sein; aber ich finde, man mussbei der Wahrheit bleiben und darf die Dinge nicht ver-drehen.
Ich bin nicht einverstanden, dass wir uns – das siehtman zum Beispiel am Antrag der CDU/CSU – so knapp-sig geben und die Taschen zuknöpfen. Das, was wir leis-ten können, ist doch in der Tat, etwas mehr für die ge-schundenen Opfer dieser Verfolgung, dieses Terrors zutun.Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, liebe Kol-leginnen und Kollegen. Ich möchte gerne, dass auch wireine überfraktionelle Gruppe bilden, die sich mit diesemGenozid beschäftigt und darüber diskutiert, sodass wirhier im Bundestag zu einer Beschlussfassung kommenkönnen. Der Kollege Hans-Werner Ehrenberg – das habeich im Internet gelesen – hat sich bereits vor Ort infor-miert und gesagt, er werde für die Anerkennung als Ge-nozid kämpfen. Herr Ehrenberg, wir sind an Ihrer Seite.
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Ich möchte zunächst einmal Frau Zapf fürihr Engagement danken, nicht nur, was die Begleitungdes Themas im Ausschuss angeht, sondern insbesonderefür die Beharrlichkeit im Hinblick auf die guten Bezie-hungen Deutschlands zum kurdischen Volk. HerzlichenDank dafür, dass Sie das Thema jetzt schon über so vieleJahre begleiten. Das wird in unserer Fraktion mit gro-ßem Wohlwollen gesehen. Herzlichen Dank, dass Siedieses Thema aufgegriffen haben.
Wir gedenken heute zu später Uhrzeit – immerhin ge-hen die Reden nicht zu Protokoll – eines Ereignisses, dasin Deutschland fast vollkommen in Vergessenheit gera-ten ist, nämlich des Giftgasanschlags vor 25 Jahren, derdurch den Diktator Saddam Hussein verübt worden ist.Damals sind in Halabdscha 5 000 Menschen getötetworden; indirekt waren durch die Aggression vonSaddam Hussein 50 000 bis 100 000 Kurden betroffen.Die Schätzungen dazu gehen bis heute weit auseinander.Allein das zeigt schon, wie schwierig es ist, diese Ver-brechen, die damals im Staat Irak stattgefunden haben,überhaupt in Zahlen zu kleiden, weil vieles verschleiertworden ist und man vielen Opfern gar nicht mehr nach-gehen kann.Die Mitglieder des Hauses, die schon einmal die Gele-genheit hatten, selbst in Kurdistan zu sein, wissen, dassdie meisten Dörfer durch Verbrechen gegen die Mensch-lichkeit gezeichnet sind. Das ist das eigentlich Schlimme.Es geht nicht nur um das Ereignis in Halabdscha selbst,
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28518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Philipp Mißfelder
(C)
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sondern auch um die große Dimension, darum, dass vonBagdad aus systematisch gegen ein Volk vorgegangenworden ist, mit Folgen bis heute. Die körperlichen De-formationen bei den Menschen, die von diesem Giftgas-anschlag betroffen waren, sind bis heute zu sehen. Es be-steht nach wie vor ein erhöhtes Krebsrisiko, und es gibtviele Vorfälle von Atemwegserkrankungen.Das deutsche Generalkonsulat im Nordirak unter-stützt ja auch aktiv Ärzte, die dort helfen, und ist auchsehr aktiv, um den Austausch zwischen deutschen Kran-kenhäusern und ärztlichen Einrichtungen vor Ort voran-zubringen. Deshalb ist es für uns wichtig, dass die Bun-desregierung die Hilfen ausgebaut und stabilisiert hat.Wir arbeiten gerne und erfolgreich mit dem Behand-lungszentrum für Folteropfer in Berlin und auch mit demHalabja Center for Victims of Chemical Attacks zusam-men. Das sind konkrete Dinge, die wir tun. Durch die fi-nanzielle Hilfe des Auswärtigen Amts wird aktuell dasKirkuk-Center für Folteropfer unterstützt. Seit 2010 gibtes dort medizinische und psychologische Betreuung vorOrt. In den letzten drei Jahren haben immerhin1 500 Betroffene das medizinische Angebot in Anspruchgenommen. Das zeigt, dass wir vor Ort sehr konkretHilfe leisten. Sieben angestellte Ärzte, sieben Psycholo-gen und Sozialarbeiter und ein Physiotherapeut habenmit der finanziellen Unterstützung auch dieser Regie-rung ein Fundament gelegt für die weitere Unterstützungder Opfer von Halabdscha, und das 25 Jahre danach.Dass selbst 25 Jahre danach dieser enorme medizinischeAufwand betrieben werden muss, zeigt auch das Aus-maß dieser Katastrophe. Ich glaube, darauf sollten wiruns nicht ausruhen. Vielmehr sollten wir alles tun, diesesEngagement fortzuführen.Es ist für uns politisch nicht unerheblich, dass ein soschlimmes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, einVerbrechen gegen das kurdische Volk, durch SaddamHussein verübt worden ist, weil auch heute chemischeWaffen aktuelle Bedrohungen bei Themen darstellen,mit denen wir uns hier im Deutschen Bundestag beschäf-tigen. Auch in Syrien steht die Frage im Raum, ob Assaddie chemischen Waffen, die er hat, nicht auch nutzenwürde. Das ist ein Punkt, den wir in unserer Syrien-Poli-tik immer im Blick haben müssen. Dass es in der Regionschon einmal vorgefallen ist, dass von einer Assad nichtganz fern stehenden politischen Kraft in einem erhebli-chen Maße chemische Waffen eingesetzt worden sind,ist etwas, was uns immer gegenwärtig sein sollte, auchwenn wir hier im Westen Europas nach 60 Jahren ohnekriegerische und militärische Auseinandersetzung man-ches gar nicht mehr für denkbar halten. Halabdscha istbei uns in Europa undenkbar. Es war vor 25 Jahren bru-tale Realität und hat das Leben vieler Menschen sehr ne-gativ beeinflusst.Wir fordern deshalb die syrische Regierung auchheute auf, auf chemische Waffen zu verzichten. Wir ste-hen fest an der Seite unserer amerikanischen Freunde,insbesondere von Präsident Obama, der gesagt hat, dassdas nach wie vor eine rote Linie ist, die nicht überschrit-ten werden darf. Zur Stunde wird ja über die Syrien-Politik der Europäischen Union diskutiert. Bei allenSchwierigkeiten, die es in diesem Konflikt gibt, wird diewestliche Gemeinschaft stärker gefordert sein, als diesmomentan der Fall ist, da wir uns durch die Handlungs-unfähigkeit der UNO selber Grenzen auferlegt haben.Ich möchte auf die aktuelle kurdische Politik einge-hen und auf die aus meiner Sicht hervorragende Arbeit,die die kurdische Regionalregierung leistet. In diesenTagen jährt sich zum zehnten Mal die umstrittene Ent-scheidung des damaligen US-Präsidenten George W.Bush, der die Invasion und die Befreiung des Iraks vor-angetrieben hat. Bis heute ist dies ein politisches Streit-thema, nicht nur bei uns, sondern vor allem auch in denUSA. Bis heute sind sich die Historiker uneinig darüber,wie dieses Ereignis einzuordnen ist. Ich glaube, dieseDebatte wird uns noch lange beschäftigen.Heute, zehn Jahre nach der Befreiung von SaddamsDiktatur, ist auch aufgrund der hervorragenden Arbeitdes kurdischen Präsidenten Massud Barsani und seinerRegierung festzustellen, dass die Verhältnisse in Kurdis-tan eindeutig besser geworden sind, und zwar in wirt-schaftlicher und in politischer Hinsicht. Es gibt dort trotzaller Schwierigkeiten ein Maß an Gleichberechtigungzwischen Mann und Frau, das man kaum irgendwo an-ders im Nahen Osten findet. Mir ist kaum ein Land imNahen Osten bekannt, wo der Zugang zum Bildungssys-tem für Mädchen und junge Frauen so unproblematischgeregelt ist. Es gibt wirtschaftliche Prosperität undChancen in Kurdistan, die ihresgleichen suchen.Ich wünschte mir, wir würden über den ganzen Irakreden, wenn wir auf das positive Bild von Kurdistan bli-cken. Leider muss ich das Gegenteil feststellen: dass inBagdad immer mehr politische Prozesse verschlepptwerden, dass man sich auch bei wichtigen Themen wieÖl- und Gasexporten nicht einigen kann, was zu einemhöheren Wohlstandsniveau für alle Menschen im Irakführen würde. Ich glaube, dass das Hin und Her zwi-schen den einzelnen Machtfaktoren, das in Bagdad, zumTeil von Teheran beeinflusst, stattfindet, etwas ist, wasuns nicht unberührt lassen kann. Gerade wenn wir The-men wie Hisbollah behandeln, stellen wir immer häufi-ger fest, dass die Zentralregierung in Bagdad leider keinzuverlässiger Partner ist, sondern häufig Probleme ver-schärft. Das ist etwas, was uns große Sorgen bereitet undwas sicherlich auch zur historischen Einordnung der In-tervention gehören wird. Schließlich kann man nicht au-ßer Acht lassen, dass wir, wenn wir über den südlichenTeil Iraks reden, mittlerweile über einen Failed State,also über eine Region ohne funktionierende staatlicheStrukturen, sprechen. In Kurdistan, insbesondere rundum Arbil, erleben wir hingegen das glatte Gegenteil. Dasist etwas, was wir in unserer außenpolitischen Strategiedefinitiv berücksichtigen müssen.Insofern ist es richtig, dass wir den Kurden im Irakund den Kurden in Syrien, aber auch den Kurden in derTürkei die Hand reichen und uns weiterhin stark für ihreRechte einsetzen. Sie reklamieren für sich das Recht aufein eigenes Land. Sie tragen das zugegebenermaßennicht mit der Schärfe vor, wie dies andere ethnischeGruppierungen auf der Welt tun, sondern sehr moderat.Sie verweisen auf die Rechte, die ihnen im Rahmen derSchaffung der autonomen Region Kurdistan im Nordirak
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28519
Philipp Mißfelder
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eingeräumt worden sind, und versuchen, das Beste da-raus zu machen. Wir dürfen bei unserer außenpolitischenKonzeption nicht vergessen, dass es sich bei diesemPartner um einen wirklich verlässlichen Partner, auch imAntiterrorkampf, handelt, mit dem wir gemeinsam dieSicherheit Israels gewährleisten können. Unsere Kanzle-rin hat dies als einen der Punkte unserer Staatsräson be-schrieben, was ich vorbehaltlos unterstütze. Auch dasage ich, dass es im Nahen Osten kaum noch einen Part-ner gibt, der unsere Politik so vorbehaltlos unterstützt.Ich werbe dafür, dass wir die enge Freundschaft zuKurdistan verstetigen. Ich werbe dafür, alles zu tun, dasssich der Fortschritt, der in Kurdistan stattfindet, auf denGesamtirak ausdehnt. Ich werbe dafür, dass wir die bila-teralen Maßnahmen zu verstärken versuchen. Wir habenim vergangenen Jahr das Deutsch-Irakische Wirtschafts-forum in Bagdad aufgebaut. Wir arbeiten engagiert mitunserem Konsul in Arbil zusammen. Wir haben in die-sem Haus unter der Führung von Michael Glos, unseremfrüheren Bundeswirtschaftsminister, einen deutsch-kur-dischen Freundeskreis gegründet.Ich muss auch sagen, dass sich gerade diejenigen ausunseren Reihen, die ein besonders gutes Verhältnis zurTürkei haben, sehr große Verdienste erworben haben,wenn es darum geht, bei unseren türkischen Partnern umVerständnis für die Rechte der kurdischen Minderheitund für die kurdische Regionalregierung im Nordirak zuwerben.Dieses Thema ist für die Tagesordnung unserer Nah-ostpolitik wichtig, selbst wenn es von der deutschen Öf-fentlichkeit nur am Rande wahrgenommen wird. Ichfinde, diese Debatte heute Abend ist wichtig, um auf die-ses Thema hinzuweisen.Herzlich Dank.
Das Wort hat nun Ulla Jelpke für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe De-legation aus dem kurdischen Irak, ich freue mich, dassSie heute hier sind. Als eine, die seit über zehn Jahren indiese Region fährt und daher Halabdscha und die dortigeBevölkerung sehr gut kennt, bin ich sehr froh, dass esheute, 25 Jahre nach dem Giftgasangriff der irakischenLuftwaffe auf die kurdische Stadt Halabdscha, gelungenist, dass alle Fraktionen den Opfern ihr Mitgefühl aus-drücken und dass alle Fraktionen verurteilen, dass deut-sche Firmen die irakische Giftgasproduktion erst ermög-licht haben;
denn in Halabdscha bewahrheitete sich erneut derSpruch: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.
Doch nur die Linke fordert – Frau Zapf hat es ebenschon gesagt – eine Anerkennung der Anfal-Operationenund des Giftgasangriffs auf Halabdscha als Völkermord.Damit greifen wir die zentralen Forderungen von Dele-gationen des kurdischen Volkes im Irak, aber auch vonMenschenrechtsorganisationen auf.Der Angriff auf Halabdscha stellt schon für sich ge-nommen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.Es wurde schon gesagt: 5 000 Menschen starben qual-voll in dem Gift. In Verbindung mit den Anfal-Operatio-nen im gleichen Jahr handelt es sich aber eindeutig umeinen Genozid im Sinne der UN-Konvention über dieVerhütung und Bestrafung von Völkermord. Genozidwird darin definiert als eine Handlung, die in der Absichtbegangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oderreligiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zer-stören. Dies war bei den Anfal-Operationen definitiv derFall. Der als Chemie-Ali bekannt gewordene Oberbe-fehlshaber Ali Hassan al-Madschid gab den Befehl zurTötung aller zeugungsfähigen kurdischen Männer.180 000 Kurden, vor allen Dingen junge Männer, wur-den verschleppt oder ermordet. 4 000 Dörfer, also90 Prozent der Dörfer, wurden zerstört. In über 40 Fällenkam es zu Giftgasangriffen.International wurde dieses Verbrechen bereits durchdas irakische, das schwedische und das britische Parla-ment als Völkermord verurteilt und anerkannt. Eine sol-che Anerkennung durch Deutschland würde für die Op-fer und ihre Hinterbliebenen eine späte moralischeKompensation bedeuten. Eine solche Anerkennungkönnte die Tür öffnen für eine weitere strafrechtlicheVerfolgung der Händler des Todes wegen Beihilfe zumVölkermord. Das steht im Wesentlichen in unserem An-trag und nicht, dass es die Hauptschuld der Bundesregie-rung ist, liebe Frau Zapf.Eine juristische Ahndung fand in Deutschland – an-ders als es im CDU/CSU-Antrag suggeriert wird – leidernicht statt. Obwohl die Bundesregierung seit 1984 überdie Beihilfe deutscher Firmen zum irakischen Chemie-waffenprogramm informiert war, hatte sie nichtsdagegen unternommen. Ermittlungsverfahren wegenVerstößen gegen das Außenwirtschafts- und Kriegswaf-fenkontrollgesetz wurden jahrelang verschleppt. Pro-zesse endeten mit Einstellungen wegen Verjährung, Be-währungsstrafen und Freisprüchen.Ich habe in Halabdscha mit vielen Überlebenden desAngriffs gesprochen. Diese fordern vor allen Dingen Ge-rechtigkeit. Es geht hier nicht in erster Linie um Geld,sondern vor allen Dingen um Gerechtigkeit. Es geht na-türlich auch darum, dass die Firmen verurteilt werden.Auch wenn uns die Anträge der anderen Fraktionennicht weit genug gehen, werden wir ihnen zustimmen,weil wir der Meinung sind, dass es heute, nach 25 Jah-ren, ein historischer Tag ist, diesen Angriff zu verurtei-len.
Wir sind es den Menschen schuldig, dass der Bundestagendlich ein einheitliches Signal setzt und seine Mitver-
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28520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Ulla Jelpke
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antwortung an diesen Verbrechen zeigt. Das ist eine his-torische Chance.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat nun Hans-Werner Ehrenberg für die
FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Der Irak und seine besorgniserregenden ethnischen, abervor allem auch religiösen Probleme beschäftigen uns fasttäglich. Die vielen blutigen Anschläge in Bagdad und inanderen Städten des Irak halten unsere Sorge um dieseswichtige Land wach. Doch all diese grausamen und un-sinnigen Bombenattentate können ein viel schlimmeresVerbrechen nicht verdecken. Der schreckliche Giftgas-angriff auf die Stadt Halabdscha im kurdischen Nordirakhat auch heute, 25 Jahre danach, nichts von seinemGrauen verloren. Nichts von diesen unvorstellbaren Er-eignissen ist vergessen.Ich selber war vor einigen Wochen vor Ort und habemir aus erster Hand von den Gräueltaten jener Tage imMärz 1988 berichten lassen. Ich habe mir die Zerstörungin der Stadt und im Umland angesehen, habe mit Hinter-bliebenen sprechen dürfen. Es war unvorstellbar. Nochheute leidet die Region unter der damaligen systemati-schen Zerstörung der Lebensgrundlagen der kurdischenBevölkerung, unter der gezielten Vertreibung und Ver-nichtung durch Saddam Hussein und seiner Regierung.Das Massaker in Halabdscha setzte dieser jahrzehntelan-gen Aggression gegen die Kurden eine traurige Kroneauf. Bis zu 5 000 Menschen wurden allein in Halabdschaauf qualvolle Weise ermordet. Den gesamten Anfal-Ope-rationen fielen nach internationalen Schätzungen insge-samt zwischen 50 000 und 100 000 Kurden zum Opfer.Wie sehr meine Fraktion und ich die schrecklichenVerbrechen des Diktators Saddam Hussein und seinerBaath-Partei verabscheuen und verurteilen, brauche ichan dieser Stelle nicht zu wiederholen, wohl aber, dassmeine Fraktion und viele andere – ich würde sagen, allehier im Hause – den Opfern der Anfal-Kampagne undihren Hinterbliebenen an dieser Stelle ihr tiefes Mitge-fühl aussprechen.
Es muss immer eine Maxime unserer Außenpolitik sein,sich rückhaltlos dafür einzusetzen, dass so etwas niemalswieder geschehen kann.Heute befindet sich Halabdscha immer noch im Wie-deraufbau und erholt sich nach und nach von den Angrif-fen vor 25 Jahren. Ich habe dort aber immer noch vielArmut gesehen. Die bewegende Geschichte dieser Stadtsoll uns und alle daran erinnern, weshalb wir hier undjetzt zusammengekommen sind: Niemals soll anderenMenschen das Gleiche widerfahren wie den Menschenin Halabdscha.Ich habe aber in meinen Gesprächen vor Ort keineAtmosphäre der Rache und des Hasses, sondern derHoffnung und Zuversicht erfahren dürfen, etwas, wasmich sehr berührte. Daher ist es auch sehr wichtig, dassdie Bundesregierung den Irak weiterhin durch eine Viel-zahl von Projekten bei Fragen der Vergangenheitsaufar-beitung unterstützt. Herr Mißfelder hatte das im Einzel-nen ausgeführt, ich will das nicht wiederholen.Das Gedenken an Halabdscha sollte aber auch zurKonsequenz haben, dass wir uns alle dafür einsetzen, dieinternationale Kontrolle von Massenvernichtungswaf-fen weiter voranzutreiben. Unser Außenminister hat diesseit seinem Amtsantritt sehr vorbildlich getan. Es waraber auch richtig und wichtig, dass illegale Lieferungendeutscher Firmen in den Irak in der Vergangenheit ge-richtlich geahndet worden sind. Sollten in der Zukunftweitere Fälle auftauchen, werden wir dafür sorgen, dassauch diese zur Anzeige gebracht werden. Dies allerdingsgleichzusetzen mit einer Verantwortung der Bundesre-gierung oder deutsche Firmen gar zu Entschädigungs-zahlungen zu zwingen – das sage ich Ihnen ganz offen –,halte ich nicht für angebracht.
Das Gedenken an Halabdscha sollte auch dazu die-nen, vor den Gefahren zu warnen, die den Irak aktuellbedrohen. Wir alle haben ein Interesse an einem stabilenund sicheren Irak in Frieden und Einheit. Da hat der ra-dikale Islamismus, wie wir ihn derzeit in vielen Länderndes Nahen und Mittleren Ostens wieder aufflammen se-hen, keinen Platz. Wir sollten die Kurden daher nicht nurin ihrer Vergangenheitsbewältigung im Irak unterstützen– hier tut die Bundesregierung bereits sehr viel –, son-dern vor allem auch föderale und gemäßigte Strömungenin der aktuellen irakischen Politik fördern. Dazu gehörtauch, dass wir mit der kurdischen Autonomiebehördeauf Augenhöhe sprechen. Unsere amerikanischen, fran-zösischen oder russischen Freunde haben da weniger Be-rührungsängste.Ich bedauere außerordentlich, dass wir keinen inter-fraktionellen Antrag zustande bekommen haben. Ich willdas hier aber gar nicht weiter kommentieren, sondern be-tonen, dass ich mich über die würdigen Beiträge allerFraktionen hier freue.
Ich möchte ganz besonders Frau Zapf nennen und ihrenVorschlag, einen überfraktionellen Antrag zu erarbeiten.Ich glaube, damit würden wir dem Thema gerecht. Dashaben aus meiner Sicht die Opfer von Halabdscha ver-dient.Schönen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28521
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Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Halabdscha ist noch immer eine offene
Wunde. 5 000 Kurdinnen und Kurden starben bei den
kaltblütigen, menschenverachtenden Angriffen der Sad-
dam-Diktatur. Viele wurden nachhaltig traumatisiert.
Die Menschen in der Region können und wollen die
schrecklichen Verbrechen auch ein Vierteljahrhundert
danach nicht vergessen.
Die Giftgasangriffe in Halabdscha sind ein düsteres
Kapitel der jüngeren Geschichte, das seine Schatten weit
über den Irak hinaus wirft; denn die Saddam-Diktatur
wäre ohne die Technologie aus dem Ausland, vor allem
aus Deutschland, gar nicht in der Lage gewesen, die
Chemiewaffen zu entwickeln, die am 16. März 1988 in
Halabdscha eingesetzt wurden. Deshalb trägt auch
Deutschland eine moralische Mitverantwortung für das,
was geschehen ist. Dieser Verantwortung stellen wir uns
mit unserer Debatte im Deutschen Bundestag.
Vieles ist noch nicht abgegolten. Die Strafen für die
Firmen, die hier tätig waren, und ihre verantwortlichen
Mitarbeiter waren gering und konnten nicht zu einer um-
fassenden Aufarbeitung beitragen. Die Frage nach der
Verantwortung der Unternehmen für die Opfer blieb un-
beantwortet. Aber die Spätfolgen der Vernichtungspoli-
tik Saddams sind bis heute spürbar. Viele Menschen lei-
den an Krebs-, Haut- und Atemwegserkrankungen, viele
Kinder und Jugendliche an Missbildungen. Auch die
psychischen Spätfolgen der damaligen Gewalt sind nicht
überwunden, und die Schicksale vieler Vermisster und
Getöteter sind noch immer nicht aufgeklärt.
Dabei ist es uns ein wichtiges Anliegen, auch an die
Verantwortung Deutschlands zu erinnern, insbesondere
an die laxen Waffenexportregelungen und eine Politik,
die sich beim Umgang mit Dual-Use-Technologien an
rein geschäftlichen Interessen orientiert. Genau diese
Blindheit hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich
das Saddam-Regime ein Arsenal an Chemiewaffen zule-
gen konnte. Aus dieser Erfahrung müssen wir endlich
lernen und für eine striktere Rüstungsexportkontrolle
sorgen. Tödliche Waffen sind eben nicht grundsätzlich
ethisch neutral, wie uns der Verteidigungsminister kürz-
lich glauben machen wollte.
Jenseits der Forderungen in unserem Antrag treten
wir für eine proaktive Politik ein und für unterstützende
Initiativen aus Deutschland, die der Gedenkkultur in der
Region Kurdistan neue Impulse verleihen.
Ein Beispiel dafür ist das neue Mahnmal für die Opfer
der sogenannten Anfal-Operationen von Saddams Ar-
mee in Chamchamal. Es ist uns ein besonderes Anliegen,
deutlich zu machen, dass wir die Opfer der Unter-
drückungs- und Vernichtungsmaschinerie von Saddam
und seinem Unrechtsregime nicht vergessen dürfen.
Erfahrungen aus dem Prozess der Aufarbeitung unse-
rer Geschichte können wir weitergeben, zum Beispiel
mit Blick auf die Sicherung und Auswertung von Doku-
menten, die Einbeziehung von Zeitzeugen und die päda-
gogische und museale Bearbeitung der Vorgänge. Wir
sollten in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut das
Gespräch darüber mit den Verantwortlichen in der
Region intensivieren. Ohne Angst vor weiterführenden
Debatten und ohne Scheuklappen kann Deutschland mit
dieser Art von Unterstützung viel zur Aufarbeitung bei-
tragen und deutlich machen, wie wichtig uns ein kriti-
sches Erinnern auch an die deutsche Mitverantwortung
für dieses Verbrechen ist.
Zum Abschluss möchte ich sagen: Ich teile den Vor-
schlag der Kollegin Zapf, in Anbetracht der vorliegen-
den Anträge eine interfraktionelle Gruppe einzurichten.
Letztlich sind die Unterschiede in den Anträgen auffällig
gering. Die eine Seite fügt dem Text des Antrags von
Rot-Grün ein wenig Lob an die Bundesregierung bei.
Die Forderung nach Anerkennung als Völkermord – das
ist der entscheidende Punkt – halte ich durchaus für be-
rechtigt. Nach Prüfung der Sachlage habe ich wenig Be-
denken, das juristisch so einzuordnen. Der Antrag der
Linken ist an der Stelle der Haftungsverantwortung
– Abgrenzung zwischen Bundesregierung, Unternehmen
und Diktatur – nicht ganz klar. Sie haben aber gesagt,
dass es nicht Ihre Absicht war, die Bundesregierung in
Haftung zu nehmen. Von daher wird es vielleicht mög-
lich sein, zu einer gemeinsamen Formulierung zu kom-
men. Das würde ich sehr begrüßen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/12685 mit dem Titel „25 Jahre nachHalabja – Unterstützung für die Opfer der Giftgasan-griffe“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da-gegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen derOppositionsfraktionen abgelehnt.Abstimmung über den Antrag der Fraktionen derCDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/12684 mitdem Titel „Unterstützung für die Opfer von Halabja fort-setzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken gegendie Stimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen ange-nommen.
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28522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Wir kommen zum Zusatzpunkt 9, Abstimmung über denAntrag der Fraktion der Linken auf Drucksache 17/12692mit dem Titel „Anerkennung der irakischen Anfal-Ope-rationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf Halabjavom 16. März 1988 als Völkermord – Humanitäre Hilfefür die Opfer“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mitden Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und derSPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung derGrünen abgelehnt.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Strukturreform des Gebührenrechts desBundes– Drucksache 17/10422 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/12722 –Berichterstattung:Abgeordnete Helmut BrandtKirsten LühmannManuel HöferlinFrank TempelDr. Konstantin von NotzDie Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/12722, den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung auf Drucksache 17/10422 in der Ausschussfassunganzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mitden Stimmen der Koalition und der SPD bei Enthaltungder Linken und Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie inder zweiten Beratung angenommen.Tagesordnungspunkt 14:Beratung des Antrags der Abgeordneten JanKorte, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEPrivatisierung der öffentlichen Sicherheitrückgängig machen– Drucksache 17/10810 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und SozialesDie Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.2)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/10810 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann istdie Überweisung so beschlossen.Tagesordnungspunkt 15:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-nität und Geschäftsordnung
Änderung der Geschäftsordnung des Deut-schen Bundestageshier: Änderung der Verhaltensregeln für Mit-
– Drucksache 17/12670 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Wolfgang GötzerSonja SteffenJörg van EssenDr. Dagmar EnkelmannVolker Beck
Hierzu liegen zwei gemeinsame Änderungsanträgeder Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen so-wie zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor.Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) –Sie sind damit offensichtlich einverstanden.Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Im-munität und Geschäftsordnung auf Drucksache 17/12670.Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor, über die wirzuerst abstimmen.Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12698. Werstimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit denStimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmender Oppositionsfraktionen abgelehnt.Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12699. Werstimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit denStimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-tion abgelehnt.Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/12701. Wer stimmt für diesen Änderungsan-trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auchdieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-tion gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/12702. Wer stimmt für diesen Änderungs-antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der1) Anlage 32) Anlage 43) Anlage 5
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28523
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition ge-gen die Stimmen der Opposition abgelehnt.Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmender Opposition angenommen.Tagesordnungspunkt 16:Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrichSchneider, Kai Gehring, Volker Beck ,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENQueere Jugendliche unterstützen– Drucksache 17/12562 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend InnenausschussSportausschussAusschuss für GesundheitDie Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12562 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatz-punkt 10 auf:17 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zurÄnderung des Energieeinsparungsgesetzes– Drucksache 17/12619 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Ernährung, Landwirtschaft StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Verkehr, Bau undStadtentwicklung zu dem Antragder Abgeordneten Daniela Wagner, BettinaHerlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEnergiewende im Gebäudebestand sozial ge-recht, umweltfreundlich, wirtschaftlich undzukunftsweisend umsetzen– Drucksachen 17/11664, 17/12671 –Berichterstattung:Abgeordneter Volkmar Vogel
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höredazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis-ter Peter Ramsauer das Wort.
Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,Bau und Stadtentwicklung:Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Vor allen Dingen hochverehrte unerbittlichverbliebene Zuhörer und Besucher auf den Rängen! For-dern und Fördern – das sind genau die tragenden Säulenunserer Politik, mit denen wir zur Steigerung der Ener-gieeffizienz im Gebäudebereich beitragen wollen. DasResümee aus den Jahren seit Einführung der KfW-Förderung im Jahr 2006 – ich nehme dies einmal alsMaßstab – ist, dass sich diese Kombination aus Fördernund Fordern als eine ausgezeichnete erfolgsträchtigeKombination erwiesen hat.Dank der Förderinstrumente unseres CO2-Gebäudesa-nierungsprogramms werden wir schon sehr bald – manhöre und staune – die stolze Zahl von 3 Millionen ener-getisch sanierten Wohnungen erreichen. Der erste Moni-toringbericht zur Energiewende, den wir im vergangenenDezember vorgelegt haben, bestätigt – jetzt kommt einesehr interessante Zahl –: Der Energieverbrauch für Hei-zung und auch für Kühlung – es werden immer mehrKlimaanlagen in Häuser eingebaut –, für Warmwasser,für Beleuchtung usw. sank von 40 Prozent Anteil am Pri-märenergiebedarf – das war jahrelang die Marke – aufinzwischen 34 Prozent. 6 Prozentpunkte weniger Pri-märenergiebedarf, das ist eine großartige Zahl.
Ich sage fairerweise dazu: Diese Entwicklung hat2006 angefangen, also in der Zeit vor dieser Regierung.Wir sollten in diesem Hause nicht immer so tun, als wärealles, was vorher gemacht worden ist, falsch gewesen.Nein, hier sind gute Wurzeln gelegt worden. Ich hättedies gern auch meinem hochgeschätzten VorgängerWolfgang Tiefensee gesagt; gerade habe ich ihn nochhier gesehen.Wenn man das zusammennimmt, heißt das: Die vonuns ergriffenen Maßnahmen entfalten ihre Wirkung.Man kann mit Fug und Recht sagen: Deutschland stehtweltweit an der Spitze der Bewegung für Energieeinspa-rung und für mehr Energieeffizienz.
Aber wir können und wollen uns darauf nicht ausru-hen. Unsere Ziele sind bekannt. Der Wärmebedarf imGebäudebereich muss um 20 Prozent und der Primär-energiebedarf bis 2050 muss um etwa 80 Prozent weitersinken. Das heißt, wir wollen die Gebäude in Deutsch-land bis 2050 weitestgehend klimaneutral halten.Neben der Förderung – auch das ist ganz klar – müs-sen natürlich auch ordnungsrechtliche Maßnahmen ei-nen Beitrag leisten. Mit der jetzt vorgelegten Anpassungder Energieeinsparverordnung auf der Basis des Ener-gieeinsparungsgesetzes vollziehen wir hier einen we-sentlichen und wichtigen Schritt. Das Ziel des Gesetzes 1) Anlage 6
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28524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Bundesminister Dr. Peter Ramsauer
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ist die Einführung einer Grundpflicht zur Errichtung vonNeubauten im Niedrigstenergiestandard ab dem Jahr2019 für öffentliche Gebäude bzw. ab 2021. Wir orien-tieren uns dabei strikt am bewährten Gebot der Wirt-schaftlichkeit. Investitionen müssen sich auch in Zu-kunft für die Gebäudeeigentümer wirtschaftlich lohnen,
und sie müssen für die Mieter bezahlbar sein; ich fügedies ausdrücklich hinzu, weil ich gerade unter anderemmit der Kollegin Petra Müller von einer Veranstaltungdes Deutschen Mieterbundes komme.Einen Sanierungszwang nach ideologischem Muster,wie ihn sich manche vorstellen – ich sage auch das in al-ler Klarheit und Entschiedenheit –, lehnen wir ab, undihn wird es mit mir als Bauminister auch nicht geben.
Denn er hätte – wenn man die wirtschaftliche Praxis einbisschen kennt, weiß man das, meine sehr geehrten Da-men und Herren – fatale Auswirkungen auf die Investiti-onsbereitschaft in diesem Bereich.Anspruchsvollere Effizienzstandards definieren wirdeshalb nur für Neubauten. Im Gebäudebestand sehenwir bewusst von einer Verschärfung ab, vor allem, weildie tatsächlich erzielbaren Einsparungen an Primärener-gie nur geringfügig wären, und das bei exorbitantemKosteneinsatz, der manchmal geradezu absurd wäre undzu nicht vertretbaren Grenzkosten führen würde.Zudem, meine Damen und Herren, ist der wirtschaft-lich vertretbare und zumutbare Spielraum für Anhebun-gen im Bestand wesentlich stärker begrenzt, als dies beiNeubauten – aus den verschiedensten Gründen – der Fallist. Wir müssen auch berücksichtigen – das haben viele,so scheint es, vergessen –, dass seit der letzten EnEV-Novelle im Jahr 2009 noch nicht einmal vier Jahre ver-gangen sind.Mehr Transparenz ist uns ein wichtiges Anliegen. DieAngabe energetischer Kennwerte in Immobilienanzei-gen wird künftig ebenso verpflichtend sein wie die Über-gabe des Energieausweises an den Käufer oder an denneuen Mieter.Lassen Sie uns also jetzt konstruktiv in die parlamen-tarischen Beratungen einsteigen und die Reform desEnergieeinsparrechts zum Erfolg führen! Ich bin sicher,liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Hand-lungsfelder Bauen und Wohnen als wichtige und wesent-liche Werkbänke der Energiewende erweisen werden.Ich danke Ihnen.
Das Wort hat Sören Bartol für die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Eine Debatte über den rechtlichen und dendoch sehr technokratischen Ordnungsrahmen der Ener-gieeinsparverordnung gibt, finde ich, dem Parlamentauch zu einer so späten Stunde den dankbaren Anlass, inRuhe Luft zu holen und vielleicht einmal generell zuschauen, wie es eigentlich mit der Energiewende aus-sieht.
Noch einmal zur Erinnerung: Die Energiewende wirdnur ein Erfolg, wenn wir den Energieverbrauch im Ge-bäudebereich drastisch senken. Im Wohnungsbereichmüssen wir, um dieses Ziel zu erreichen, natürlich vorallen Dingen an den Bestand herangehen und ihn energe-tisch sanieren. Sie versuchen ja immer, uns im wahrstenSinne den Schwarzen Peter für das Scheitern der steuer-lichen Förderung zuzuschieben.
Dabei haben Sie die Verhandlungen am Ende vor dieWand gefahren. Die Zeche sollten die Länder zahlen.Nachdem Sie damit für reichlich Zeitverzug gesorgt ha-ben, sind Sie ja nun endlich auf den von uns schon seitlangem geforderten Kurs der KfW-Förderung einge-schwenkt.Die Aufstockung der Mittel für das KfW-Programm„Energieeffizient Sanieren“ erfolgt allerdings etwashalbherzig und vor allen Dingen viel zu spät. Der Um-fang bleibt trotz des angekündigten Zusatzprogrammsim Umfang von 300 Millionen Euro weit zurück hinterden 2 Milliarden Euro, die für die energetische Gebäude-sanierung mindestens nötig wären. Nur so wären die An-forderungen im Gebäudebereich aber zu stemmen, undnur so könnten wir die nötigen Energie- und CO2-Ein-sparungen im Gebäudebereich erzielen.Die KfW-Förderung hat sich bewährt. Sie berücksich-tigt Fördergrundsätze wie Technologieoffenheit und qua-lifizierte Beratung. Bereits jetzt werden rund 70 Prozentder im Rahmen des KfW-Programms „EnergieeffizientSanieren“ geförderten Wohneinheiten von privaten Ei-gentümern saniert. Das zeigt, dass KfW-Programme gutangenommen werden.Trotz der Ergänzungen des Förderprogramms bleibenwichtige Fragen von der Bundesregierung unberücksich-tigt. Energetische Stadtsanierung besteht nicht nur ausdem Sanieren einzelner Wohneinheiten, sondern musssich auf den gesamten Stadtteil beziehen: von der Ener-gieversorgung bis hin zur effizienten Nutzung undSpeicherung erneuerbarer Energien in dezentralen Struk-turen. Deswegen ist eine Verzahnung von Städtebauför-derung und energetischer Gebäudesanierung so wichtig.
Lassen Sie mich zusammenfassen: Unter SPD-Regie-rungsbeteiligung standen für die entsprechenden KfW-Programme am Ende mehr Mittel im Haushalt zur Verfü-gung, als dies jetzt nach der Aufstockung durch dieschwarz-gelbe Bundesregierung der Fall ist – und das,obwohl Sie vollmundig eine allumfassende Energie-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28525
Sören Bartol
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wende angekündigt haben. Die Realität Ihrer Politiksieht allerdings so aus, dass die Energiewende schon aufden ersten Metern im Sande verläuft.Kommen wir zum Energie- und Klimafonds – nochso eine grandiose Meisterleistung –: Ab 2013 sollenauch Mittel aus dem Energie- und Klimafonds für dieenergetische Stadtsanierung und für die energetische Ge-bäudesanierung zur Verfügung stehen. Die SPD hat im-mer angemahnt, die Finanzierung von wichtigen Maß-nahmen zur Verwirklichung der Energiewende auf einesolide und vor allen Dingen auf eine verlässliche Grund-lage zu stellen. Was machen Sie? Sie gründen einenSchattenhaushalt, dessen Einnahmen so konstant sindwie das Wetter im April.
Die alleinige Einnahmebasis des EKF stellt der Erlös ausdem Handel mit CO2-Zertifikaten dar. Ich habe Ihnenschon damals gesagt: Das kann nur schiefgehen. – Unddas geht jetzt auch schief: Der Preis für CO2-Zertifikateliegt derzeit weit unterhalb des von der Bundesregierungangenommenen Betrags. Ungeachtet der Einnahmerisi-ken hält die Regierungskoalition immer noch an ihrenErlösprognosen für 2013 fest, die von einem Preis fürCO2-Zertifikate von ungefähr 10 Euro ausgehen. Dabeihatte sich schon im vergangenen Jahr gezeigt, dass dieseKalkulation auf deutlich überhöhten Preiserwartungenberuht. Zahlreiche Umwelt- und Klimaschutzprogramme,die sich aus dem Sondervermögen EKF speisen, musstenbereits 2012 Mittelkürzungen verkraften; viele Projektemussten eingestellt werden.
Betroffen sind wichtige Bereiche wie Energieeffizienz,kommunaler Klimaschutz, CO2-Gebäudesanierung undnatürlich auch Marktanreizprogramme.Ungeachtet der Einnahmerisiken sollen nach IhremWillen immer neue Programme über den Energie- undKlimafonds finanziert werden. Angesichts dessen, dasssich bereits zu Jahresbeginn 2013 erneut Mindereinnah-men in Höhe von bis zu 1 Milliarde Euro abgezeichnethaben, muss die Bundesregierung langsam einmal darle-gen, wie sie die Finanzierung dieser erfolgreichen Pro-gramme und damit – das will ich hier noch einmal deutlichsagen – das Herzstück der Energiewende in Deutschlandsichern will.
Im Haushaltsentwurf für 2014 steht nun auch nocheine globale Minderausgabe für den Energie- und Kli-mafonds. Waren die EKF-Einnahmen bisher schon sehrunsicher, so ist das nun die große Katastrophe. Das trifftdas CO2-Gebäudesanierungsprogramm am Ende ebensowie die energetische Stadtsanierung. Was das Aller-schlimmste ist: Die Investoren verunsichert es völlig.Es ist schon interessant, dass Sie immer noch an derBewertung festhalten, dass ein derart gestalteter Energie-und Klimafonds eine solide Finanzierungsgrundlage bil-det. Vielleicht erinnern Sie sich an den Satz von AlbertEinstein:Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zuzertrümmern als ein Atom.
Vom Zertrümmern von Atomen wollen wir weg. Viel-leicht schaffen Sie es, auch Ihre vorgefasste Meinungschleunigst zu überdenken.Ich muss an dieser Stelle nämlich sagen: Union undFDP haben keine Konzepte. Nach außen wird eine nach-haltige Klimaschutzpolitik propagiert; aber dazu fehltIhnen eigentlich das entsprechende Klima. Sie habennoch nicht einmal begriffen – doch das ist Ihnen völligfremd –, dass Eigentum eine gesellschaftliche Verpflich-tung mit sich bringt; das ist übrigens schon dem Grund-gesetz zu entnehmen. Sie gönnen noch nicht einmal denMietern, die von Sanierung betroffen sind und durch Sa-nierung belastet werden, das für uns alle selbstverständ-liche Mietminderungsrecht.
Ich glaube, dass Sie damit ein negatives Klima schaffen.Sie stigmatisieren die Mieter; denn auch mit anderenÄnderungen im Mietrecht haben Sie sozusagen einenPauschalverdacht eingeführt. Sie sehen den Mieter nichtals Partner; doch wir brauchen die Mieterinnen und Mie-ter als Partner bei der Mammutaufgabe der energeti-schen Sanierung.Nötig wäre eigentlich eine Sanierungsquote von3 Prozent pro Jahr. Wir sind jetzt ungefähr bei 0,7 Pro-zent pro Jahr. Ich glaube, Sie wissen ganz genau wie ich,dass das vorne und hinten nicht ausreicht.
Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Legen Siedoch endlich ein Programm dafür vor, wie wir die Ener-giewende – hierbei geht es nämlich nicht nur um Strom;wir reden hier im Deutschen Bundestag viel zu oft überStrom – gerade im zentralen Gebäudebereich zum Erfolgführen können. Das, was Sie bis jetzt auf diesem Wegvorgelegt haben, reicht vorne und hinten nicht aus. Daswird auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf nicht ver-ändern.
Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichfreue mich, Sie alle zu später Stunde hier so zahlreich zusehen. Gäste haben wir auch. Herzlich Willkommen!Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Energie-einsparungsgesetzes setzt die christlich-liberale Koali-tion ihren Weg zur Energiewende fort. Wie? Umsichtig,nachhaltig, kontinuierlich.Wir tun dies umsichtig, weil wir energie- und sozial-politische Fragen gemeinsam betrachten. Genau das tunwir, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen. Das fordern Sie auch in Ihren Anträgen undauf Ihrer Webseite.Die Konsequenz, die wir daraus ziehen, ist aber eineandere. Wir wollen hier einen anderen Weg gehen; dennangesichts der hohen Wohnraumnachfrage in verschie-denen Teilen unseres Landes führt jede Verschärfung derEnergieeffizienz im Gebäudebestand zwangsläufig zusteigenden Mieten.
Das genau erreichen Sie mit Ihrer Forderung. Das ist fürmich übrigens kein Ausdruck sozialer Verantwortung.Die Verschärfung von Standards fördert im Neubau-bereich das Hochpreissegment, also genau das, was Sienicht wollen. Mit Ihren Forderungen regen Sie das aberan, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.Sie spitzen die Wohnungssituation für Menschen mitmittleren und kleinen Einkommen – Studenten, Rent-nern, jungen Familien usw. – zu.
Mit diesem Weg, den Sie vorschlagen, erreichen Sie ge-nau das Gegenteil von dem, was Sie wollen.Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, werden weiterhindarauf achten, dass die Mindestanforderungen für dieBauten im Bestand nicht steigen, sondern da bleiben, wosie jetzt sind.
Die Anforderungen an den Effizienzstandard vonNeubauten werden in zwei Stufen – 2014 und 2016 – an-gehoben, und zwar um jeweils 12,5 Prozent Jahrespri-märenergiebedarf und 10 Prozent Wärmedämmung derGebäudehülle. Mehr nicht! Der Niedrigstenergiegebäu-destandard wird für Bürogebäude ab 2019 und für alleübrigen Neubauten ab 2021 verpflichtend.
– Ganz genau. Vielen Dank, Herr Kollege Staffeldt.In Bezug auf den Gebäudebestand gibt es keine neuenAnforderungen – nicht hinsichtlich der Modernisierungder Außenhülle und auch keine neuen Nachrüstpflichten.Ich glaube, das ist eine wichtige Nachricht für alle Haus-besitzer, ob klein oder groß.Damit tragen wir der Wirtschaftlichkeit von Gebäu-den Rechnung. Wirtschaftlichkeit ist ein Begriff, derdem einen oder anderen vielleicht fremd ist, aber ichkann das ja noch einmal erklären. Wenn ich investiere,dann muss sich das in der Miete irgendwann auch nie-derschlagen, sonst passt das Geschäft für keinen von bei-den Partnern. So ist das nun einmal.
Gleichzeitig müssen in Bezug auf diese Wirtschaft-lichkeit auch bautechnische und ästhetische Fragen be-rücksichtigt werden. Auch das ist wichtig; das sollte mannicht aus den Augen lassen.Technologieoffenheit und Wahlfreiheit für Investorenbzw. Eigentümer müssen gewahrt bleiben. Das nenne ichliberale Politik. Das ist die Politik unserer Koalition, unddas ist umsichtig.
– Ja, das ist es.Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Ge-setzentwurf ist nachhaltig, und Nachhaltigkeit ist heut-zutage wirklich mehr als nur Energieeinsparung.Markt und Politik fordern viel von Eigentümern undInvestoren, und es sind nicht immer nur die Großen, son-dern auch die Kleinen betroffen. Hier müssen wir unsdoch nichts vormachen.Die Anpassung der Gebäude an älter werdende Ge-sellschaften und an den demografischen Wandel, dasWohnumfeld, das verbessert werden soll und muss, sta-bile Nachbarschaften – hier denke ich auch an die Quar-tiere –, bessere Sicherheitsstandards – auch das ist heuteeine Anforderung an Investoren und Eigentümer –, bes-sere Mess- und Gebäudetechnik, weil wir damit dochEnergie sparen, Qualitätssicherung, Energiemanage-ment, technische Überwachung: Das ist ein ganzes Maß-nahmenpaket. Das sind Aufgaben und steigende Ansprü-che. Diese erfordern aber auch Ausgewogenheit.Deshalb ist die Wirkung unserer Gesetzesvorlage sonachhaltig,
weil sie umfassende Forderungen im Einzelfall zulässt,aber nicht behindert, und weil sie mit Augenmaß vor-geht, aber nicht überfordert.Bei aller Notwendigkeit zur energetischen Sanierung,bei allen sinnvollen Standards: Wir wollen, dass inDeutschland auch weiterhin gebaut werden kann undauch gebaut wird. Genau deshalb werden wir denGrundsatz der Wirtschaftlichkeit in die Präambel zurEnergieeinsparverordnung aufnehmen. Wir wollen fürInvestoren Startblöcke aufstellen, aber keine Hemm-schuhe an sie verteilen.Das alles möchten wir in den nächsten Jahren konti-nuierlich fortsetzen. Deshalb will die christlich-liberaleKoalition vor 2018 auch keine weiteren Novellierungen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28527
Petra Müller
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Denn das ist das wichtige Signal in den Markt hinein:die Planungssicherheit, die sich positiv auf Neubau undSanierung auswirken wird. Diese wird sich auf den ge-samten Wohnungsmarkt auswirken und schafft Stabilitätund das Klima für Neubauten.Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, viel-leicht noch ein Wort ganz zum Schluss zur Markttrans-parenz: Es wird einen Energieausweis geben. Der wirdin ein paar Jahren genauso normal sein wie die Ampel anjedem Elektrogerät. Jeder Mieter oder Erwerber einesGebäudes wird sich danach richten und kann auf dieserGrundlage seine Kaufentscheidung bedenken. Ichglaube, auch das ist ein ganz wichtiger Aspekt bei derEnergiewende.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freuemich auf meine nächste Kollegin.
Das Wort hat nun Heidrun Bluhm für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdiesem Gesetzentwurf erhebt die Bundesregierung denAnspruch, die Richtlinie der Europäischen Union unddes Europäischen Rates vom 19. Mai 2010 über die Ge-samteffizienz von Gebäuden umzusetzen. Aber genaudas Gegenteil tut sie.Herr Ramsauer, Sie haben es tatsächlich hinbekom-men, in Ihrem Eingangsstatement nicht ein einziges Maldie EU zu erwähnen. Dieser Gesetzentwurf, den Sie hiervorgelegt haben, entspricht in keiner Weise den Ansprü-chen, die wir in einem gemeinsamen Europa miteinandervereinbart haben.
Im Gegenteil: Sie verwässern die Zielsetzungen derEU zum Klimaschutz und verstümmeln diese Richtlinieauf wenige, willkürlich ausgewählte Aspekte.Die Bundesregierung verstößt mit vielen der hier vor-gesehenen Regelungen sowohl gegen ihre eigenen Ziel-marken als auch gegen die mit der EU vereinbarten Ziel-marken.Die Bundesregierung ignoriert die von der EU ange-botenen Hilfen und Vorgaben zur Schaffung angemesse-ner Finanzierungsinstrumente zur Beschleunigung inRichtung einer besseren Gesamteffizienz von Gebäuden.Dass der Minister das nicht hören mag, kann ich mir vor-stellen.
Die Bundesregierung hält sich nicht einmal an denvereinbarten Zeitrahmen für die Umsetzung der Richt-linie in deutsches Recht und müsste sich nach Art. 27 derEU-Richtlinie deswegen schon heute selbst mit Sanktio-nen belegen. Aber der Reihe nach.Die Bundesregierung will erstens die primärenergeti-schen Anforderungen an Neubauten in zwei Stufen je-weils um 12,5 Prozent bis 2016 verschärfen. Die EU-Richtlinie fordert aber 20 bis 30 Prozent bis 2020. DieseVorgabe ist so überhaupt nicht zu erfüllen.Die Bundesregierung will zweitens die Anforderun-gen an die Gebäudehülle in zwei Stufen jeweils um10 Prozent bis 2016 verschärfen – aber nur bei Neubau-ten. Die EU-Richtlinie fordert in Art. 6 und Art. 7, dassalle Neubauten und Bestandsgebäude einzubeziehensind. In Art. 9 fordert sie, dass bis 2020 alle Neubautenund bis 2018 alle öffentlichen Gebäude dem Niedrigst-energiestandard entsprechen sollen.
Die Bundesregierung will drittens keinen eigenenFinanzrahmen für die Förderung dieser Ziele festschrei-ben.
Die EU-Richtlinie schreibt in Art. 10 aber genau diesesvor.Herr Schäubles Eckwerte für den Haushalt 2014– Herr Bartol hat es hier schon einmal näher ausgeführt –haben die Unterdeckung des EKF bereits deutlich wer-den lassen.Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Sie in diesemGesetzentwurf nicht einmal mehr eine verlässliche För-derung für Investoren, auf die Sie, Frau Müller, so sehrabzielen, vorsehen.
Die Bundesregierung ignoriert viertens, dass die Fristzur Umsetzung der EU-Richtlinie bereits am 9. Juli 2012abgelaufen ist, wie es die EU-Richtlinie vorschreibt. Da-rin werden auch Sanktionen für denjenigen gefordert,der diese Richtlinie nicht bis zum 9. Januar 2013 umge-setzt hat. Also sollten wir uns heute schon einmal da-rüber unterhalten, welche Sanktionen wir unserer eige-nen Bundesregierung auferlegen, weil sie diesen Terminschon längst verpasst hat.
Deshalb jetzt dieser Schnellschuss ohne Sinn und Ver-stand, wahrscheinlich aus reiner Angst vor zukünftigenSanktionen der EU.Die Linke schließt sich mit ihren Forderungen denVorschlägen des NABU zur Novellierung des Energie-einsparungsgesetzes und auch der Energieeinsparverord-nung in weiten Teilen an. So werden durch Ihre herabge-setzte Verordnung, Frau Müller, die Mieterinnen undMieter eben nicht geschützt, sondern sie sollen zusätz-lich belastet werden; denn wenn es in den Gebäudebe-ständen zu keinerlei zusätzlicher Sanierung im energeti-schen Bereich kommt, werden die Mieterinnen undMieter an dieser Stelle auch nicht entlastet, sondern wei-
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Heidrun Bluhm
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terhin hohe Nebenkosten zahlen müssen. Diese bleibenletztlich auf der Strecke.
Diesen Gesetzentwurf kann man aus den von mir ge-nannten Gründen einfach nur ablehnen. Er ist nicht nurden Mieterinnen und Mietern und auch den Investorengegenüber unfair. Er ist auch gegenüber den vereinbar-ten Zielen in Europa unfair. Das kann man mit der Lin-ken in diesem Land nicht machen.
Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen.
Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Jetzt habe ich gedacht: Wenn zu so später Stunde derMinister hier ist, dann wird ein Feuerwerk abgebrannt.Er hat aber nicht einmal ein Streichholz entzündet.
Ich komme gleich zu dem, was Sie hier vorlegen,Herr Minister. Ihre Schönrederei beim Thema Gebäude-sanierung kann man Ihnen nicht durchgehen lassen.Wenn wir Mitte des Jahrhunderts einen halbwegs klima-neutralen Gebäudebestand haben wollen – das müssenwir, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen –,dann brauchen wir eine Sanierungsrate von 3 Prozent.Das, was diese Bundesregierung zustande bringt, hateine Null vor dem Komma. Das sind null Komma ir-gendwas, vielleicht sogar 1,2 Prozent, aber von 3 Pro-zent sind wir Welten entfernt. Dass Sie sich hier auf dieSchulter klopfen, ist ein bisschen lächerlich, HerrRamsauer. Es tut mir leid, das so zu sagen.
Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier jetzt vorlegen, löstdie Probleme beim Gebäudebestand kaum. Der Gesetz-entwurf bezieht sich in erster Linie auf Neubauten. DasWesentliche jedoch, was im Gebäudebereich passierenmuss, ist die Sanierung des Bestands. Dafür bringt das,was Sie hier in notdürftiger Umsetzung einer EU-Richt-linie vorlegen, gar nichts.
Vor allen Dingen packen Sie all die Probleme, die ge-rade in der Fachwelt diskutiert werden und die Sie vonden Praktikern hören, dass es ein Durcheinander zwi-schen Energieeinsparungsgesetz, Energieeinsparverord-nung und Erneuerbare-Wärme-Gesetz gibt, dass es hierteilweise widersprüchliche Regelungen gibt, dass Pla-nungen doppelt gemacht werden, an dieser Stelle nichtan.Der Bundesrat hat es Ihnen mit einer klaren Mehrheitins Stammbuch geschrieben: Die Umsetzung dieses Ge-setzes führt zu Akzeptanzproblemen. Das führt nichtdazu, dass wir am Ende klimafreundlicher bauen.
– Zum Thema Blockade: Lesen Sie einmal, was Ihnender Bundesrat aufgeschrieben hat. Vielleicht haben wirim weiteren Verfahren noch die Gelegenheit, hier einigeszu verbessern. Das, was Sie bisher vorgelegt haben, bie-tet überhaupt keine Perspektive.
Ich will Ihnen das anhand des Beispiels der Energie-ausweise erklären. Wir brauchen endlich einen ver-pflichtenden Bedarfsausweis. Es muss klar sein, dass derAusweis tatsächlich vorhanden sein und vorgelegt wer-den muss, dass es keine Ausnahmen und Sonderregelun-gen geben darf. Auch da liefern Sie nicht. Das Problemgehen Sie nicht an.Sie machen das ganze Thema zu einem reinen Papier-tiger, und dann feiern Sie sich dafür, dass in Zukunft derenergetische Standard eines Gebäudes in den Immobili-enanzeigen dargestellt werden soll. Ja, das ist eine rich-tige Sache. Aber in Frankreich und Großbritannien istdas seit Jahren Standard. Sie hinken hinterher. Das allesbringt am Ende überhaupt nichts.
– Dann nennen Sie mir ein anderes Thema. Ein anderesschönes Thema, zu dem Sie nicht liefern, ist das Erneu-erbare-Wärme-Gesetz für den Bestand. Das haben Sieim Koalitionsvertrag vereinbart. Wo bleibt es? Sie hättenjetzt die Chance, etwas vorzulegen. Ihr Kollege Kauchfordert das seit Jahren. Er sagt immer: Die Bundesregie-rung wird liefern. – Es kommt nichts. Sie liefern nichts.Sie liefern am Ende einen Papiertiger, und das ist vielzu wenig. Da können Sie so lange schreien, wie Sie wol-len. Das wird Sie an der Stelle nicht voranbringen.
Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist einEnergieeffizienzfonds. Wir brauchen über die 2 Milliar-den Euro für die energetische Gebäudesanierung imRahmen der KfW hinaus einen Energieeffizienzfonds.Wir haben dazu den Vorschlag gemacht, dass wir ihn mit3 Milliarden Euro ausstatten, finanziert aus dem Abbauumweltschädlicher Subventionen. Das kann man in denGebäudebestand investieren und beispielsweise denKommunen für Quartiere, wo es schwierig ist, zur Verfü-gung stellen.Das alles kriegen Sie nicht hin. Sie liefern seit Jahrennicht, und auch mit diesem Gesetzentwurf werden Sie
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Oliver Krischer
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den Herausforderungen der energetischen Gebäudesa-nierung überhaupt nicht gerecht. Das ist ein Flop. Viel-leicht haben wir die Chance, in den Ausschussberatun-gen noch etwas zu verbessern, aber ich sehe es nicht.Ich danke Ihnen.
Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Volkmar
Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Energieeinsparungsgesetz und Energieeinsparverord-nung sind zwar hochtechnische Begriffe, aber man mussan der Stelle klarmachen: Es betrifft uns alle, sowohl denMieter als auch den Selbstnutzer im Eigenheim und na-türlich auch die gewerbliche Wohnungswirtschaft. DieDebatte eben hat mir gezeigt: Die Argumente der Oppo-sition sind sehr schwach. Das heißt, wir sind auf demrichtigen Weg.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierungfolgt vor allen Dingen unseren politischen Grundsätzen.Ich möchte sie noch einmal zusammenfassen. MinisterRamsauer hat es bereits ausgeführt, und auch PetraMüller hat es deutlich gemacht: Das Wirtschaftlichkeits-gebot ist für uns von ganz großer Bedeutung, genausowie die Vorgabe, dass es keine Sanierungspflicht für denBestand geben darf.
Denn man stelle sich vor, wir setzen einen Ordnungsrah-men, der die Eigentümer verpflichtet, zu sanieren. Ge-rade diejenigen mit kleinem Geldbeutel wie Witwenoder Alleinstehende, die ihr Eigentum erhalten wollen,müssten dann zwangsläufig ihr Eigentum aufgeben. Daskann beim besten Willen nicht sein.
Das beste Mittel, um das zu verhindern, ist – wennwir die Wirtschaftlichkeit tatsächlich in den Mittelpunktstellen – Technologieoffenheit. Wir sollten es den Men-schen vor Ort überlassen, mit welchen geeigneten Maß-nahmen sie das, was wir vorschreiben, umsetzen. Wirsollten nicht hineinregieren. Es gibt regionale Unter-schiede, und es gibt Unterschiede in der Gebäudesub-stanz. Deshalb wollen wir das.Ganz wichtig ist die Planungssicherheit. In der Zeit,seit ich im Deutschen Bundestag bin, habe ich in kurzenZeitabständen eine EnEV 2007 und eine EnEV 2009mitgemacht. Wir reden jetzt über eine EnEV 2014. Wirmüssen sie angehen, weil wir die EU-Gebäuderichtlinieumsetzen müssen. Aber jetzt kommt es darauf an, für ei-nen Zeitraum in diesem Jahrzehnt für Sicherheit zu sor-gen. Dafür sorgen wir, indem wir auch vernünftige Ver-schärfungen im Neubau zum Ansatz bringen. Zweimal12,5 Prozent in 2014 und 2016 sind machbar, wenn-gleich ich an der Stelle sage: Wir sind sehr hart an derGrenze zu dem, was man wirtschaftlich vertreten kann.Deswegen ist es wichtig, dass wir bei der sogenanntenTransmission, also beim Wärmedurchgang, sagen: Beider Außendämmung reichen zweimal 10 Prozent. Mehrist wirtschaftlich vertretbar nicht umzusetzen.Den Bestand muss man differenziert betrachten. Wirwollen keine Sanierung, was den Bestand anbetrifft; wirsetzen vielmehr auf Förderung, Beratung und Informa-tion. Das ist der große Unterschied zwischen uns und derOpposition. Die Opposition, allen voran die Grünen, willdie verpflichtende Sanierung in einem bestimmten Zeit-raum. Das ist der falsche Weg und widerspricht letztlichder Eigentumsgarantie, die uns das Grundgesetz vor-schreibt.
Die EU-Gebäuderichtlinie schreibt Informationen,Kennwerte für den Immobilienbereich und verschärfteAushangspflichten für den Energieausweis nicht nur inöffentlichen Gebäuden, sondern auch in Gebäuden mitöffentlichem Charakter wie Kinos und Kaufhäusern vor.Ich denke, das ist für die wirtschaftlich Beteiligtenmachbar.Förderung heißt aus unserer Sicht, einen höheren Sa-nierungsanreiz in den Bereichen zu setzen, in denen esum Freiwilligkeit geht. Das hilft, die Wirtschaftlichkeits-lücke da, wo sie entsteht, zu schließen. Wir sorgen desWeiteren dafür, dass die CO2-Gebäudesanierungspro-gramme weiter bedient werden, dass sie oberste Prioritätbei der Ausschöpfung des Energie- und Klimafonds ha-ben. Wir stellen zusätzlich 300 Millionen Euro für dienächsten acht Jahre zur Verfügung. Ich appelliere an dieKollegen von SPD und Grünen, das noch einmal aufzu-greifen und die Möglichkeiten der steuerlichen Ab-schreibung der Kosten der energetischen Gebäudesanie-rung erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Ich weiß,dass Sie damit bislang bei den von SPD und Grünen ge-führten Ländern nicht haben punkten können. GreifenSie es noch einmal auf, um hier eine Sanierungsmöglich-keit zu schaffen! Herr Krischer, Sie haben davon gespro-chen, dass eine Sanierungsquote von 3 Prozent wahr-scheinlich nicht erreicht wird. Wenn wir hier dasPotenzial, vor allem das private Kapital, besser hebenkönnten, wäre die Sanierungsquote sicherlich sehr vielhöher.
Lassen Sie mich noch einige Worte zum Sanierungs-fahrplan bis 2050 sagen. Das Ziel ist, bis dahin 80 Pro-zent der bislang benötigten Energie einzusparen. DieEnEV, die wir jetzt auf den Weg bringen, ist ein wichti-ger Baustein für das Erreichen der Ziele bis zum Endedieses Jahrzehnts. Die Menschen wissen nun, in welcheRichtung es geht. Wenn wir mit der EnEV 2014 den
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28530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Volkmar Vogel
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Niedrigstenergiehausstandard entsprechend der EU-Ge-bäuderichtlinie etablieren – und zwar ab 2019 für den öf-fentlichen Bereich und ab 2021 für alle Gebäude –, dannist das ein weiterer Schritt zur Umsetzung des Sanie-rungsfahrplans bis 2050. Wir werden gemeinsam mit al-len Akteuren, also sowohl mit denjenigen, die davon be-troffen sind, als auch mit denjenigen, die es umsetzenmüssen, weiterhin an diesem Sanierungsfahrplan arbei-ten. Wir werden ihn den Menschen als Handlungsemp-fehlung an die Hand geben.Ein allerletztes Wort zum Regelwerk. Der KollegeKrischer hat es angesprochen: Ja, es ist richtig, dass un-ser Regelwerk zu kompliziert ist. Das hat sich an der Be-teiligung der Bundesländer und der Verbände gezeigt.Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, ob es nichtsinnvoll ist, die Regelwerke, die es im Bereich der Ener-gieeffizienz und für die erneuerbaren Energien im Bau-bereich gibt, zu einem einheitlichen, einfacheren Regel-werk zusammenzuführen. Aber das ist nicht Aufgabe inden nächsten Wochen.
Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.
Die Aufgabe in den nächsten Wochen ist, das Ener-
gieeinsparungsgesetz und die EnEV auf den Weg zu
bringen. Wir wollen das im Deutschen Bundestag zügig
erarbeiten. Ich bitte die Opposition, konstruktiv daran
mitzuarbeiten, damit wir eine Lösung hinbekommen,
noch im Sommer eine Entscheidung im Bundesrat fällen
und so für Planungssicherheit sorgen können. Das hilft
dem Klima und unserer Wirtschaft, insbesondere den
Handwerkern in den Regionen.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12619 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Energiewende im Gebäudebestand
sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zu-
kunftsweisend umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12671,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11664 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen
die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken an-
genommen.
Tagesordnungspunkte 18 a und b:
a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-
rung des elektronischen Rechtsverkehrs mit
den Gerichten
– Drucksache 17/12634 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des
elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz
– Drucksache 17/11691 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-rung zielt – ebenso wie derjenige des Bundesrates –auf eine Förderung und deutliche Ausweitung des elek-tronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten. Bundes-regierung und Bundesrat sind sich darüber einig, dassdie Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs in denvergangenen Jahren weit hinter den Erwartungenzurückgeblieben ist. Als Gründe werden fehlendesNutzungsvertrauen, aber auch mangelnde Akzeptanzder elektronischen Signatur genannt. Hinzu kommt,dass die Einreichung von Dokumenten per elektroni-schem Gerichts- und Verwaltungspostfach nicht bei je-dem deutschen Gericht möglich ist.Angedacht ist eine technologieoffene Regelung inder ZPO und anderen Verfahrensordnungen, um derJustiz die Möglichkeit zu geben, auf zukünftigeEntwicklungen der IT-Branche zeitnah reagieren zukönnen.Das auf E-Mail-Technik beruhende, hiervon abertechnisch getrennte, und durch einen Verschlüsse-lungskanal gesicherte Kommunikationsmittel De-Mailebenso wie das elektronische Gerichts- und Verwal-tungspostfach, EGVP, sollen den Verzicht auf eine qua-lifizierte elektronische Signatur möglich machen. Teileder Praxis gehen allerdings davon aus, dass eine qua-lifizierte elektronische Signatur einen zuverlässigenelektronischen Rechtsverkehr zwischen Anwaltschaftund Justiz besser fördert. Gründe für einezurückhaltende Nutzung seien vielmehr eine fehlendeoder verbesserungswürdige Fachsoftware, Diskrepan-zen innerhalb der Verfahren von Bundesland zuBundesland sowie der fehlende Austausch von Struk-turdaten. Ebenso wird angeführt, dass gewährleistetsein müsse, dass ein besonderes elektronisches An-waltspostfach unterschiedliche Nutzungsberechtigun-gen erkennt, sprich: zwischen Anwalt und Angestelltenunterscheiden kann. Das Personal müsse in der Lagesein, gerichtliche Schriftstücke einzusehen, die in das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28531
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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elektronische Postfach eingelegt wurden, und müsseberechtigt sein, solche Schriftstücke aus dem Postfachzu entnehmen und in die kanzleiinternen Arbeits-abläufe einzuspeisen. Andererseits müsse sicherge-stellt sein, dass nur solche Schriftstücke an das Gerichtübermittelt werden, die der Anwalt autorisiert hat. Diequalifizierte elektronische Signatur stelle somit dasÄquivalent zur persönlichen Unterschrift dar. In denweiteren parlamentarischen Beratungen wird zuklären sein, inwieweit sich das Verfahren rund um dasbesondere elektronische Anwaltspostfach von dem der-zeitigen unterscheidet. Auch heute sind in der RegelAngestellte in Kanzleien dafür zuständig, Schriftstückezu versenden und entgegenzunehmen. Wichtig wäredann, dass einer vom Provider qualifiziert elektronischsignierten Absenderbestätigung ein ausreichenderBeweiswert zukommen kann.Eng mit der Übertragung beweissicherer elektroni-scher Erklärungen verbunden ist die geplante Fortent-wicklung des Zustellungsrechts. Geplant ist eineAnpassung an die technische Entwicklung in derForm, als zukünftig gerichtliche Dokumente über De-Mail und EGVP rechtssicher, schnell und kostengüns-tig an das neu zu errichtende elektronische Anwalts-postfach zugestellt werden können. Eine automatischübermittelte Eingangsbestätigung soll in diesem Zu-sammenhang den erforderlichen Zustellungsnachweiserbringen. Während eine solche Regelung vonseitender Justiz ausdrücklich begrüßt und eine deutlicheVereinfachung der gerichtlichen Praxis erwartet wird,ist die Anwaltschaft der Ansicht, dass eine tatsächlicheKenntnisnahme des elektronischen Dokuments durchden Rechtsanwalt für die Akzeptanz des elektronischenRechtsverkehrs in der Anwaltschaft unverzichtbar ist.Des Weiteren soll eine technikoffene Vorschrift inBezug auf rechtssicheres ersetzendes Scannen geschaf-fen werden. Die erheblichen Vorteile einer elektroni-schen Archivierung gegenüber einem Papierarchivsollen genutzt und durch eine neue Beweisvorschriftabgesichert werden.Bei allen technischen Neuerungen ist es heutzutageselbstverständlich, dass ein barrierefreier Zugang zuden Gerichten als zentrale Bedingung für die Chanceauf gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mitBehinderungen gesehen wird. So bekennt sich derRegierungsentwurf klar zur Barrierefreiheit und hältdiese für gesichert. Der Deutsche Verein der Blindenund Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. siehtdagegen weiteren Regelungsbedarf. Natürlich werdenwir auch dies genau prüfen.Um die Rechtswegs- und Verwaltungsvereinfachun-gen zu erreichen, wird es letztendlich darauf ankom-men, in absehbarer Zeit eine bundesweite flächende-ckende Umsetzung der Maßnahmen, ohne föderaleZersplitterung, zu erreichen. In diesem Punkt konnteman Unterschiede bei den Initiativen von Bundesratund Bundesregierung ausmachen. Es ist aber davonauszugehen, dass hier eine Annährung – auch durchdie guten Ergebnisse der Bund-Länder-Kommissionsowie des EDV-Gerichtstages – stattfinden wird. Überdie genaue Ausgestaltung – auch vor dem Hintergrundvon Länderöffnungsklauseln – wird intensiv zu disku-tieren sein. Betrachtet man in diesem Zusammenhangzum Beispiel die Überlegungen zur Einführung einesländerübergreifenden Schutzschriftenregisters, zu demdie Gerichte elektronischen Zugang erhalten sollen,macht eine schnellstmögliche Harmonisierung Sinn.Die Kosten des Projekts für Gerichte, vor allemauch für Anwälte, sind schwer zu beziffern. Auflängere Sicht wird dem technischen und organisatori-schen Umstellungsaufwand aber eine nachhaltigeKostenreduzierung gegenüberstehen, welche denanfänglichen einmaligen Aufwand mehr als kompen-sieren wird.Zahlreiche Punkte des Regierungsentwurfs, aberauch des Bundesratsentwurfs, gehen auf Missständeein und zielen auf deutliche Verbesserungen gegenüberdem Status quo. Natürlich werden auch einige Frageninsbesondere zu Beweiswerten aufgeworfen, die wir imRahmen der geplanten öffentlichen Expertenanhörungim Rechtsausschuss diskutieren werden, seien sie nuntechnischer, wirtschaftlicher oder rechtlicher Natur.
Das Bundeskabinett hat am 19. Dezember 2012 den„Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des elektroni-schen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“ beschlossen.Mit diesem vorgelegten Gesetzentwurf soll der elek-tronische Rechtsverkehr mit und innerhalb der Justizgefördert werden. Damit verbunden soll es zu Zeit- undKostenersparnissen kommen, gleichzeitig soll mehrBürgernähe geschaffen werden. Dies soll insbesonderedurch eine Vereinfachung der Signaturerfordernisseund der Kommunikationswege verbunden mit derSchaffung elektronischer Postfächer für Anwälte er-reicht werden.Bei den Kontakten zwischen Gerichten und Anwäl-ten soll der elektronische Rechtsverkehr in großemUmfang verpflichtend werden. Die Kommunikations-wege Post und Fax werden zurückgedrängt. Bei denGerichten sollen dann auch die Akten elektronischgeführt werden. Zu diesen Zwecken müssen die Zivil-prozessordnung sowie die anderen Gerichtsordnungengeändert werden.Ihr Entwurf geht auf die Initiative einer Länder-gruppe im Deutschen Bundesrat zurück, deren Entwurfin weiten Teilen übernommen worden ist.Demnach wird bei der Bundesrechtsanwaltskammerfür jeden Anwalt ein sicheres elektronisches Anwalts-postfach eingerichtet. Dann soll auch jedes deutscheGericht grundsätzlich ab dem Jahr 2018 elektronischerreichbar sein, und zwar barrierefrei. Die Länderkönnen diesen Zeitpunkt bis spätestens 1. Januar 2022hinausschieben, aber nur einheitlich für alle Länder.Hier weichen Sie von der Position der Länder ab.Der Bundesrat will aber, dass die Länder selbst be-Zu Protokoll gegebene Reden
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28532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Dr. Edgar Franke
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stimmen, wann die elektronische Kommunikation mitden Gerichten vorgeschrieben werden soll, und behal-ten sich sogar vor, hierzu erste Erfahrungen mittelsPilotprojekten zu machen. Die ursprüngliche Länder-initiative sieht die flächendeckende Einführung derelektronischen Kommunikation in kürzerer Zeit vor.Sie dagegen verlängern diese Einführung. Sie seheneine obligatorische Einführung erst ab 2020 vor. EinePflicht zur Nutzung für Rechtsanwälte und Behördenist dann ab 2022 vorgesehen.Diese Verlängerung der Einführungszeit ist offen-sichtlich einem Umstand geschuldet: Die verpflich-tende Einführung soll bundeseinheitlich erfolgen – imInteresse der Anwaltschaft. Damit soll eine Zersplitte-rung der Vorschriften vermieden werden. Die Öff-nungsklausel der Länderinitiative führt dagegen zu ei-ner Rechtszersplitterung, die automatisch auch zuRechtsunsicherheit führt, da das Vertrauen der Nutzererheblich geschwächt würde. In der Tat ist die Vermei-dung von Vorleistungspflichten einzelner beteiligterPersonengruppen wichtig und richtig. Der saure Ap-fel, in den dafür gebissen werden soll, ist die Verlänge-rung der Zeit der Einführung.Ob es nicht doch schneller gehen kann, ist zuprüfen. Ich denke, hier liegt es eher an der Befähigungder Gerichte, sich grundsätzlich auf elektronischenRechtsverkehr einzustellen und elektronische Ge-richtsakten zu führen. Dann müssen eben die Gerichtehierzu befähigt werden.Die Kommunikation erfolgt heute bereits teilweisetechnologieneutral per De-Mail, über EGVP, das Elek-tronische Gerichts- und Verwaltungspostfach, oder an-dere sichere Kommunikationswege. Am Ende soll dasGanze für die professionellen Einreicher – also beson-ders für die Anwälte – verpflichtend sein, für die Bür-ger jedoch nicht.Doch dass einige Gerichte je nach Umsetzung inden Ländern elektronisch erreichbar sind, andere nurper Post und das bei nicht darauf abgestimmten Fris-ten, ist nicht sachgerecht. Hier geben wir Ihnen recht.Wenn der elektronische Rechtsverkehr verpflichtendwird, muss das bundeseinheitlich erfolgen.Parallel liegt uns der Bundesratsentwurf mit glei-cher Zielrichtung vor. Die Länder argumentieren, siewünschten sich mehr Freiräume. Es sollen auch Pilot-projekte für einzelne Gerichtszweige, für einzelne Ge-richtsbezirke oder auch einzelne Gerichte möglichsein. Das können wir auf der einen Seite zwar nach-vollziehen, auf der anderen Seite sollten wir einen ver-wirrenden Flickenteppich an vorgeschriebenen Kom-munikationswegen vermeiden. Deshalb haben wirVerständnis für das Anliegen der Bundesregierung, dienach mehr Einheitlichkeit bei der Einführung strebt.Die Einführung muss für alle verpflichtend sein,weil Angebote auf freiwilliger Basis eben nicht von al-len oder auch nur zögerlich angenommen werden.Sogenannte Medienbrüche, das Nebeneinander vonelektronischer Kommunikation und Papier, bedeutenletztlich nur einen Mehraufwand.Generell ist der sichere gegenseitige Austausch vonDaten zwischen allen Beteiligten vorzusehen. Die Ein-richtung von sicheren elektronischen Anwaltspostfä-chern ist ein wesentlicher Baustein hierzu.Problematisch erscheint daher, dass das Empfangs-bekenntnis von Zustellungen bei den Rechtsanwältenabgeschafft und durch eine durch das künftige elektro-nische Postfach der Rechtsanwältinnen und Rechtsan-wälte automatisch ausgelöste Eingangsbestätigung er-setzt werden soll – so § 174 Abs. 4 ZPO-E. Auf diehaftungsrechtliche Bedeutung für die Anwaltschaft,die hier entsteht, weist die Bundesrechtsanwaltskam-mer zu Recht hin. Haftungs- und Sicherheitsaspektedürfen nicht einseitig durch Effizienzaspekte infragegestellt werden.Die Justizverwaltungen der Länder haben bereits inder Vergangenheit den elektronischen Rechtsverkehrvorangebracht. Überall dort, wo er verpflichtend ein-geführt worden war, sind Effizienzgewinne festzustel-len, so zum Beispiel im elektronischen Mahnverfahrensowie beim Handelsregister. Dies haben mir auch tä-tige Anwälte und Notare bestätigen können.Wir begrüßen daher das Ziel, den elektronischenRechtsverkehr weiter nachhaltig zu fördern und amEnde überall zum Regelfall zu machen. Nur so könnenRationalisierungspotenziale genutzt werden, die diemoderne elektronische Kommunikation ermöglicht.Was die Bürgerinnen und Bürger angeht: Hier istkeine Verpflichtung zum elektronischen Verkehr vorge-sehen. Bürger können weiterhin in Papierform mit denGerichten kommunizieren. Allerdings soll die elektro-nische Kommunikation auch für sie ermöglicht undeingerichtet werden. Das ist der richtige Weg. DasNutzervertrauen ist zu sichern; denn oftmals sind es jarein praktische Gründe sowie unterschiedliche Stan-dards in den einzelnen Bundesländern, die dazu füh-ren, dass die bereits heute möglichen elektronischenÜbermittlungsformen nicht genutzt werden.Generell ist der elektronische Rechtsverkehr mitund innerhalb der Justiz notwendig, und die Länderin-itiative sowie der vorliegende Gesetzentwurf sind da-her zu begrüßen. Wir werden die Dauer der Einführungund weitere Einzelheiten im weiteren Beratungsverlaufnoch zu prüfen haben. An einer bundeseinheitlichenEinführung ist dabei unbedingt festzuhalten.
Bundesrat und Bundesregierung wollen mit den hiervorliegenden Gesetzentwürfen den elektronischenRechtsverkehr mit den Gerichten voranbringen, da inden letzten zehn Jahren die Angebote zu wenig genutztworden sind. Man beruft sich auf fehlendes Nutzer-vertrauen in die tatsächlichen und rechtlichenRahmenbedingungen. Diese wollen Sie nun schaffen,damit das Potenzial der jüngsten technischen Entwick-lung genutzt werden kann.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28533
Jens Petermann
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Wenn man sich die tatsächlichen Gegebenheiten beiden deutschen Gerichten auch hinsichtlich der techni-schen Ausstattung anschaut, dann stellt man fest, dassdie Gesetzentwürfe eine Farce sind und die Leiter derGerichte fragend zurücklassen. So haben wir erst ges-tern in der öffentlichen Anhörung zum Zweiten Kosten-rechtsmodernisierungsgesetz den Direktor eines Amts-gerichts in Nordrhein-Westfalen als Sachverständigengehört. Er hatte über die Ausstattung seines GerichtsFolgendes zu berichten: Die vorhandene Computer-technik an seinem Gericht – und das ist auch an vielenanderen Gerichten so – sei derart veraltet, dass nichteinmal die einfachsten Spracherkennungsprogrammeauf den Personalcomputern liefen. Jetzt erklären Siemir, meine sehr geehrten Damen und Herren derKoalition, einmal: Wie wollen Sie das Potenzial derjüngsten technischen Entwicklungen hinsichtlich deselektronischen Rechtsverkehrs auf prozessualem Ge-biet nutzen, wenn die Gerichte mit Technik aus demletzten Jahrhundert arbeiten müssen? Hier machen Siewieder den zweiten Schritt vor dem ersten.Es ist ja kein Wunder, dass der elektronische Wegbeim Rechtsverkehr nicht genutzt wird, wenn es dieTechnik gar nicht erlaubt. Sie müssten vielmehr ersteinmal viele Justizgebäude baulich und technisch aufeinen akzeptablen Stand bringen, um dann die neues-ten technischen Entwicklungen erproben zu können.Die Landesfinanzminister werten das anders: Von derJustiz kann man jedes Jahr neue Einsparungen verlan-gen, Teilbereiche privatisieren, wie zum Beispiel dieÜbertragung von Aufgaben der freiwilligen Gerichts-barkeit auf Notare, bei den Bedürftigen sparen, wiezum Beispiel durch die Begrenzung der Prozesskosten-und Beratungshilfe. Und das sind nur die aktuellenSparansätze, von den in den letzten Jahren schondurchgesetzten ganz zu schweigen. Das Problem derJustiz ist, dass sie trotz all dieser Sparmaßnahmenimmer noch funktioniert. Lange können das die Mitar-beiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr ausgleichen.Irgendwann ist die Justiz kaputtgespart und das Perso-nal verschlissen.Zurück zu den geplanten Änderungen: Als ersterSchritt soll eine Verwendungspflicht für alle professio-nellen Einreicher geschaffen werden, später für alleEinreicher. Das heißt auf gut deutsch: Wenn ihr unsereAngebote, für die wir ohne Bedarfsplanung, Praktika-bilitätstests und erkennbare Vorteile bereits Millionenausgegeben haben, nicht nutzen wollt, zwingen wireuch dazu. – Das ist meines Erachtens der falscheAnsatz. Großprojekte müssen von langer Hand ge-plant, genügend erprobt und die technischen Voraus-setzungen vorher geschaffen werden.Aber nicht nur die Gerichte und deren Verwaltun-gen werden hier überfordert. Mit „professionellenAnwendern“ sind vor allem Rechtsanwältinnen undRechtsanwälte gemeint. Diese wurden in der Vergan-genheit mehrfach dafür benutzt, digitale Phantasiendes Staates auszubaden, ohne dass vorher sinnvolleStrukturen aufgebaut, technologische Standardsverabschiedet und vor allem ein Mehrwert und eineArbeitserleichterung erkennbar wurden. Stattdessenhatten die Anwälte mit jahrelangen Betatests, Sanktio-nen und Ausfällen der Infrastruktur und einer unein-heitlichen Implementierung des Zugangs zu kämpfen.Das mag den solventen Großkanzleien, die sich ohne-hin auf technisch modernstem Niveau bewegen, zwarrelativ egal sein; doch wir müssen auch an die Einzel-anwältinnen und Einzelanwälte denken, die den Groß-teil der Anwaltschaft in Deutschland ausmachen.Gerade für kleine Kanzleien und für Berufsanfängerist die Anschaffung der speziellen Software schwer zuschultern. Wenn Sie schon alles digitalisieren wollen,dann müssen Sie die Gerichte vorher ordentlich aus-statten und den Einzelkanzleien bei der Einrichtungunter die Arme greifen. So herum wird ein Schuhdaraus.Eine positive Seite hat dieses Vorhaben wenigstens:Die Bundesländer werden gezwungen, die IT-Infra-struktur der Gerichte zumindest auf den technischenStand zu bringen, der ein Funktionieren der Spracher-kennung und des elektronischen Rechtsverkehrs theo-retisch ermöglichen könnte.
Das Internet und die zunehmende Digitalisierungverändern nicht nur das Leben von Menschen und de-ren Verhältnis zur Gesellschaft. Sie verändern auch dieRolle und Funktionsweise des Staates. Meine Fraktionund ich begreifen diese Entwicklung als Chance fürunsere Demokratie, als Chance für mehr Legitimationbei staatlichem Handeln, als Chance für mehr Partizi-pation.Heute befassen wir uns mit der Nutzung elektroni-scher Technologien im Bereich der Justiz. Der ersteallgemeine Rechtsrahmen für den Einsatz elektroni-scher Verfahren in der Justiz wurde vor knapp 13 Jah-ren gelegt. Unter der damals rot-grünen Bundesregie-rung hat der Bundestag 2001 beschlossen, auf derPosteingangs- und der -ausgangsseite der Justiz denEinsatz elektronischer Verfahren zu ermöglichen.Ebenfalls unter der rot-grünen Bundesregierung folgteeine weitere Öffnung der Justiz mit dem 2005 be-schlossenen Gesetz über die Verwendung elektroni-scher Kommunikationsformen in der Justiz.Nun beraten wir über zwei Gesetzentwürfe zur För-derung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justizbzw. mit den Gerichten. Klar ist: Es besteht Hand-lungsbedarf. Die Nutzung des elektronischen Rechts-verkehrs im Bereich der Justiz muss weiter gefördertwerden. Hier gibt es noch erhebliches Verbesserungs-potenzial.Beide Gesetzentwürfe, sosehr sie in ihrem Ziel zurFörderung des elektronischen Rechtsverkehrs zu be-grüßen sind, werfen aber auch Fragen auf. Diese Fra-gen betreffen die Teilhabe von Menschen mit Behinde-rung, das Zivilprozessrecht und den Datenschutz. Siemüssen im weiteren parlamentarischen Verfahren ge-klärt werden.Zu Protokoll gegebene Reden
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28534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Ingrid Hönlinger
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Deutschland hat am 24. Februar 2009 die UN-Be-hindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damitzugleich verpflichtet, gemäß Art. 4, 9 und 13 der Kon-vention alle geeigneten gesetzgeberischen Maßnah-men zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung einengleichberechtigen Zugang zur Justiz und eine selbstbe-stimmte Teilhabe an allen modernen Informations- undKommunikationstechnologien, die elektronisch bereit-gestellt werden oder zur Nutzung offenstehen, zu er-möglichen. Außerdem sollen vorhandene Zugangshin-dernisse und -barrieren beseitigt werden. Die imGesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Än-derungen für mehr Barrierefreiheit sind ein Schritt indie richtige Richtung. Exemplarisch zu nennen ist dieRegelung zu § 31 a Abs. 1 Satz 2 BRAO, wonach dasbesondere elektronische Anwaltspostfach barrierefreiausgestaltet sein soll. Gleichwohl genügen die Ände-rungen nicht den Anforderungen der UN-Behinderten-rechtskonvention. Nicht geregelt wird, dass auch daselektronische Postfach und die elektronische Poststelledes Gerichts nach § 130 a Abs. 4 Nr. 2 ZPO barriere-frei ausgestaltet werden müssen, um den barrierefreienÜbermittlungsweg zu gewährleisten.Beide Gesetzentwürfe zielen darauf ab, durch denEinsatz elektronischer Zustellungsmöglichkeiten diezivilrechtliche Gerichtspraxis zu vereinfachen. Dies istgrundsätzlich zu begrüßen. Jedoch ist dabei stets dasInteresse aller am Prozess Beteiligten schonend zu be-rücksichtigen. Die Änderung des § 174 Abs. 4 ZPOführt zu einem erheblichen Paradigmenwechsel. DasEmpfangsbekenntnis muss nun nicht mehr persönlichzurückgesandt, sondern soll durch eine automatischgenerierte Eingangsbestätigung ersetzt werden. Dabeisoll die Zustellung nach drei Werktagen ab Eingangder Schriftstücke im elektronischen Postfach derRechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als bewirkt gel-ten, es sei denn, eine frühere Zustellung wird durch einEmpfangsbekenntnis nachgewiesen. Der Wertung deraktuellen Rechtslage würde es eher entsprechen, wennzugleich mit dem zuzustellenden Dokument ein Emp-fangsbekenntnis im XJustiz-Standard zugestellt wird,welches nach Kenntnisnahme des Dokuments an daselektronische Gerichtspostfach zurückgesendet wird.Vor diesem Hintergrund sehen wir Grünen an dieserStelle noch Klärungsbedarf.Die zunehmende Digitalisierung führt auch zu ei-nem Bedeutungszuwachs für den Datenschutz im Zivil-und Strafprozess. Im Bereich der Justiz ist die Kommu-nikation besonders vertraulich zu behandeln und ent-sprechend zu sichern. Eine Abkehr vom Standard derqualifizierten elektronischen Signatur, wie es der Re-gierungsentwurf zu § 130 a Abs. 3 ZPO vorsieht, hal-ten wir vor diesem Hintergrund für problematisch. DieÜbermittlung im Wege einer De-Mail bietet grundsätz-lich eine Leitungsverschlüsselung, jedoch keine Ende-zu-Ende-Verschlüsselung. Somit ist diese im Regie-rungsentwurf in § 130 a Abs. 4 Nr. 1 ZPO als „sichererÜbermittlungsweg“ markierte De-Mail keineswegs sosicher wie eine qualifizierte elektronische Signatur.An der weiteren Gesetzesberatung werden wir Grü-nen uns konstruktiv beteiligen.D
Wir alle leben mittlerweile in einer digital vernetztenGesellschaft. Die Entwicklung der Informationstechno-logie schreitet in großer Geschwindigkeit voran undrevolutioniert mit immer neuen technischen Möglich-keiten unser Alltagsleben. E-Justice und E-Governmentsind Zukunftsthemen einer Bundesregierung, die dieNutzung neuer effizienter Informationstechnologienaktiv vorantreibt.Mit den zur Beratung anstehenden Entwürfen sollder rechtliche Rahmen für die digitale Justiz den neuentechnischen Möglichkeiten angepasst werden. Die Jus-tiz soll klare und bürgerfreundliche Regelungen erhal-ten, die Rechtssicherheit herstellen, aber auch Raumfür die weiter voranschreitende technische Innovationlassen.Die Förderung des elektronischen Rechtsverkehrsmit der Justiz ist ein gemeinsames Ziel von Bund undden Ländern. Zwar liegen Ihnen zwei Entwürfe vonBundesrat und Bundesregierung zu dieser Thematikvor. Wir haben aber in intensiven Gesprächen mittler-weile weitgehende Einigkeit mit den Ländern erzielenkönnen. Das wird erkennbar an der moderaten Stel-lungnahme des Bundesrates und der weitgehend posi-tiven Gegenäußerung der Bundesregierung.Kennzeichnend für die gute Zusammenarbeit zwi-schen Bund und Ländern ist der Kompromiss, den wirhinsichtlich des Fahrplans für das Inkrafttreten derRegelungen erzielen konnten. Hier war es notwendig,die unterschiedlichen Interessen der Länder auszuglei-chen, denn noch immer besteht ein sehr unterschiedli-ches IT-Ausstattungsniveau bei den Gerichten.Der Gesetzgeber hatte vor zehn Jahren einen erstenAnlauf zur Förderung des elektronischen Rechts-verkehrs gemacht und die rechtlichen Grundlagen fürE-Justice geschaffen. Die damals geschaffenen Mög-lichkeiten haben sich indes in der Praxis nicht flächen-deckend durchsetzen können. Woran liegt dies?Die qualifizierte elektronische Signatur, die bislangnoch für elektronische Einreichungen bei der Justiz er-forderlich ist, wird vielfach als zu teuer und auch als zukompliziert abgelehnt. Außerdem ist immer nochlängst nicht jedes deutsche Gericht elektronisch er-reichbar. Einige Bundesländer wie Hessen, Sachsenund Berlin haben bereits alle Gerichte für elektroni-sche Eingänge geöffnet; dagegen ist in anderen Län-dern außer den Mahn- und Registergerichten noch garkein Gericht online. Diese Zersplitterung produziertRechtsunsicherheit.Um die Verfahrensbeteiligten zur Nutzung des digi-talen Zugangs zur Justiz zu bewegen, brauchen wireine bundesweite Öffnung aller Gerichte für elektroni-sche Eingänge zu möglichst einfachen und klaren Be-dingungen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28535
Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler
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Der Gesetzentwurf der Bundesregierung definiertzu diesem Zweck sichere Übermittlungswege zu denGerichten und regelt dies einheitlich für alle Verfah-rensordnungen. Die Justiz wird ab 2018 bundesweitüber De-Mail oder für Rechtsanwälte über das Elekt-ronische Gerichts- und Verwaltungspostfach erreich-bar sein. Durch Verordnung können auch andere Tech-nologien als sichere Übermittlungswege zugelassenwerden.Der Entwurf sieht vor, dass die Bundesrechtsan-waltskammer für jeden Rechtsanwalt bis 2016 einPostfach auf der Grundlage eines sicheren Verzeich-nisdienstes einrichtet. Auch für Behörden ist eine sol-che Lösung denkbar, wenn ein sicherer Verzeichnis-dienst eingerichtet ist.Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-rung ist eng verzahnt mit der E-Government-Initiative,die derzeit im Innenausschuss beraten wird. Beide Ge-setzentwürfe sind in kontinuierlicher Abstimmung mit-einander entstanden.Der digitale Zugang zu Gerichten einerseits undBehörden andererseits wird vergleichbar ausgestaltet.Der vorliegende Entwurf enthält überdies neue Be-weisregeln für eine De-Mail-Nachricht, die der ange-strebten Nutzung von De-Mail für die Kommunikationder Behörden an den Bürger erst die notwendigeRechtssicherheit verleihen. Außerdem wird das erset-zende Scannen in der Verwaltung gefördert, indemeine Vermutung für die Echtheit einer aus einer öffent-lichen Urkunde gewonnenen Scandatei begründetwird, wenn die Urkunde in einer Behörde oder durcheinen Notar gescannt worden ist.Durch die elektronische Abwicklung der Korrespon-denz mit der Justiz wollen wir einen wichtigen Beitragfür eine moderne und bürgerfreundliche Justiz leisten.Ein Kernanliegen der Regelungen ist dabei, technischeLösungen dort einzusetzen, wo in der Papierwelt der-zeit noch eine manuelle und zeitaufwendige Tätigkeitder Gerichte erforderlich ist.Der Gesetzentwurf sieht daher für professionelleVerfahrensbeteiligte wie Rechtsanwälte und Behördeneinen Zustellungsnachweis durch eine automatischeEingangsbestätigung vor. Der Entwurf sieht eine Fristvon drei Werktagen nach Eingang als Zustellungszeit-punkt vor. Damit wird das Empfangsbekenntnis in Pa-pierform für die elektronische Welt weiterentwickelt.Diese Regelung ist in der Anwaltschaft indes aufKritik gestoßen. Diese nehmen wir zum Anlass, imRahmen der jetzt anstehenden parlamentarischen Be-ratungen nach Lösungen zu suchen, die sich für dieGerichte ebenso effizient administrieren lassen, aberdas im Empfangsbekenntnis enthaltene voluntativeElement bewahren.Mit den vorliegenden Gesetzgebungsvorhaben be-finden wir uns auf einem guten Weg. Sie geben denLandesjustizverwaltungen die dringend benötigtePlanungssicherheit für den digitalen Ausbau derJustiz. Ich wünsche uns konstruktive und zielführendeBeratungen.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/12634 und 17/11691 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.
Tagesordnungspunkt 19:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD
Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-
Sicherheitsrat
– Drucksachen 17/11576, 17/12242 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Erich G. Fritz
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Stefan Liebich
Kerstin Müller
Wie in der Tagesordnung vorgesehen, sind die Reden
zu Protokoll genommen.
Unter dem Titel „Negativbilanz nach zwei Jahrenim UN-Sicherheitsrat“ wird im vorliegenden Antragaufgelistet, was aus Sicht der SPD in den Jahren 2011/2012 versäumt wurde. Auffällig ist dabei die Wahl derKritikpunkte, bei denen sich der Leser fragt, was nunder spezifisch deutsche Anteil, also deutsches Nicht-handeln, sein soll. Die Feststellung, dass die Zusam-mensetzung des Sicherheitsrates dem Spiegelbild derpolitischen Kräfteverhältnisse von 1945 entspricht, istseit langem bekannt. Reformen sind daher unerläss-lich, um Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit die-ses wichtigsten Entscheidungsgremiums der VereintenNationen zu sichern. Deutschland setzt sich – gemein-sam mit anderen Staaten – seit langem genau dafürein.Wie aber bei vielen weltpolitischen Herausforde-rungen sind auch hier strategische Geduld und konti-nuierliche Anstrengung erforderlich. Im Antrag derSPD werden genau die Hürden aufgelistet, welchegenommen werden müssen, um den Sicherheitsrat zureformieren. Es handelt sich dabei aber nicht umLappalien: So müssen zwei Drittel der 193 Mitglied-staaten der Vereinten Nationen einer Änderung derUN-Charta zustimmen, um die Zusammensetzung desSicherheitsrates zu ändern. Wie bereits ausgeführt,lässt sich so ein Schritt nicht innerhalb von zwei Jah-ren ausführen. Deutschland – und insbesondere die
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28536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Peter Beyer
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Bundesregierung – dafür zu kritisieren, hier nichtgenug getan zu haben, ist daher ein überflüssigerVorwurf.An der Lösung des Syrien-Konfliktes ist Deutsch-land ebenfalls – in unterschiedlichen Gremien – sehraktiv beteiligt. Hinsichtlich des deutschen Engage-ments bei der Konfliktlösung im Sicherheitsrat seidarauf hingewiesen, dass gegen das Veto zweier stän-diger Mitglieder des Sicherheitsrates – in diesem FalleChinas und Russlands – kaum Handlungsspielraumexistiert. Deutschland hat sich daher sehr darumbemüht, den Sicherheitsrat regelmäßig über die Ge-schehnisse in Syrien zu informieren. Ebenfalls setztesich Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern er-folgreich dafür ein, dass die Generalversammlung derVereinten Nationen in mehreren Resolutionen die Ge-walt verurteilte und eine politische Lösung forderte.Am Rande sei zudem erwähnt, dass Deutschland zuden Gründungsmitgliedern der „Freundesgruppe dessyrischen Volkes“ gehört. Auch der Vorwurf, im FalleSyriens nicht genug getan zu haben, ist somit gegen-standslos.Ebenfalls erwähnenswert ist, dass der Antrag derSPD nur en passant die gewaltigen politischen Um-brüche in der arabischen Welt der Jahre 2011/2012 er-wähnt. Somit wird auch nicht ausreichend gewürdigt,dass sich Deutschland von Anfang an auch im Sicher-heitsrat mit der Arabellion befasst hat. Im Zuge derdeutschen Sicherheitsratspräsidentschaft im Septem-ber 2012 hat sich Deutschland beispielsweise erfolg-reich um die Ausrichtung einer Debatte zum Thema„Frieden und Sicherheit im Nahen Osten“ bemüht.Auch war es Deutschland, das sich stets für die Einbin-dung regionaler Akteure, wie der Arabischen Liga unddes Golfkooperationsrates, eingesetzt hat.Ebenso findet der Leser des Antrages keinenHinweis darauf, dass sich Deutschland intensiv umKonfliktlösungen auf dem afrikanischen Kontinent be-mühte. Auch hier hat Deutschland von Anfang an aufdie Stärkung regionaler Kräfte, wie der AfrikanischenUnion, gesetzt.Insgesamt kann daher festgehalten werden, dassDeutschland seine Zeit im obersten Entscheidungs-gremium der Vereinten Nationen konstruktiv genutzthat. Die in dieser Zeit erbrachten Leistungen sind auchein deutliches Signal dafür, dass Deutschland sich zuseinen internationalen Verpflichtungen bekennt undzur Leistung entsprechender Beiträge bereit ist. Nebenseinem starken politischen Engagement gehört unserLand auch nach wie vor zu den wichtigsten Beitrags-zahlern. Ebenfalls leistet Deutschland erheblicheUnterstützung als Truppensteller bei einer Vielzahlvon Missionen der Vereinten Nationen. Dass die Staa-tengemeinschaft unsere Verdienste würdigt, kann andem Ergebnis bei der Wahl im November 2012 in denMenschenrechtsrat der Vereinten Nationen gesehenwerden: Hier hat Deutschland das beste Ergebnis allereuropäischen Kandidaten erzielt. Von einer „Negativ-bilanz“ der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsratder Vereinten Nationen – wie von der SPD konstatiert –kann also bei weitem nicht die Rede sein.
Nach zwei außenpolitisch sehr erfolgreichen Jahrenals nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates derVereinten Nationen zieht die SPD in ihrem Antrag einenegative Bilanz der deutschen Errungenschaften.Wie ich schon in meiner Rede zu diesem Antrag am29. November 2012 ausführte, kann davon nicht dieRede sein. Damals habe ich bereits auf die meinesErachtens nach wichtigsten Erfolge Deutschlands imSicherheitsrat verwiesen, so auf das deutsche Engage-ment im Sicherheitsrat für eine Unterstützung desWandels in der arabischen Welt, auf das deutsche En-gagement zum Schutz von Kindern in bewaffnetenKonflikten, auf deutsche Bemühungen, Klimawandelauch als sicherheitspolitische Herausforderung zu se-hen, sowie auf deutsche Bestrebungen, der internatio-nalen Schutzverantwortung zu stärkerer Beachtung zuverhelfen.Lassen Sie mich daher an dieser Stelle kurz auf dreiPunkte zu sprechen kommen, die Deutschland währendseiner Zeit als nichtständiges Sicherheitsratsmitgliedvorangetrieben hat, die mir aber in dieser Debatte bis-lang zu kurz gekommen scheinen: die Notwendigkeiteiner UN-Reform, die auch das Engagement Deutsch-lands angemessen widerspiegelt, die Einbettung deut-scher UN-Politik in EU-Politik sowie das EngagementDeutschlands bezüglich der Frage des iranischenAtomprogramms.Eine Reform des UN-Systems, die nicht ausreichenddie Realität des geopolitischen Engagements der ein-zelnen Staaten widerspiegelt, läuft Gefahr, zu kurz zugreifen und die Legitimität des UN-Systems infrage zustellen. Deutschland ist als einer der wichtigsten Bei-tragszahler der Vereinten Nationen in allen UN-Gre-mien und Politikbereichen an vorderster Front engagiert.Daher gehört aus unserer Sicht auch eine formelleAufwertung der Rolle Deutschlands im UN-System zuden essenziellen Bestandteilen einer Reform der Ver-einten Nationen. Wir unterstützen daher eine erneuteKandidatur als nichtständiges Mitglied sowie die fort-gesetzten Bemühungen der Bundesregierung um einenständigen Sitz im Sicherheitsrat.Die EU ist einer der wichtigsten Kooperationspart-ner der UN und ihrer Unterorganisationen. Ein ein-heitliches Auftreten der EU-Mitgliedstaaten in denVereinten Nationen stärkt nicht nur die GemeinsameEuropäische Außen- und Sicherheitspolitik, sondernauch die UN, da es sie handlungsfähiger macht. Um inZukunft gemeinsame Interessen und Positionen derEU-Mitgliedstaaten noch besser identifizieren zu kön-nen, hat sich Deutschland für die erstmalige Erstel-lung eines Strategiepapiers eingesetzt, das im Mai2012 angenommen wurde. Deutsche UN-Politik istauch europäische UN-Politik!Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28537
Dr. Wolfgang Götzer
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Lassen Sie mich abschließend noch auf die Fragedes iranischen Atomprogramms zu sprechen kommen,das der internationalen Staatengemeinschaft in denzwei Jahren, in denen Deutschland im Sicherheitsratwar, kontinuierlichen Anlass zur Sorge gegeben hat.Deutschland hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dassdas Expertengremium, das dem Iran-Sanktions-ausschuss zuarbeitet, zunächst um ein Jahr und da-nach nochmals bis Juli 2013 verlängert wurde. DiesemExpertengremium gehört nun auch ein deutscher Ex-perte an. Die Bundesregierung hat sich 2011 auch da-für eingesetzt, dass die EU ihre Sanktionsmaßnahmengegen den Iran erheblich verstärkt. Darüber hinauswarb Deutschland erfolgreich für die Annahme mehre-rer Resolutionen der Internationalen Atomenergie-Or-ganisation, IAEO, in denen Iran zu einer besseren Ko-operation mit der IAEO aufgefordert wurde.Diese Liste der erfolgreichen Initiativen Deutsch-lands als nichtständiges Sicherheitsratsmitglied ließesich noch lange fortsetzen, beispielsweise mit der Un-terstützung Deutschlands für Maßnahmen der Frie-denssicherung, mit dem Engagement der Bundesregie-rung für einen internationalen Waffenhandelsvertrag,mit dem Engagement Deutschlands für die Post-2015-Millenniumsentwicklungsziele oder mit dem deutschenEngagement für die Agenda 21 und die UN-Kommis-sion für Nachhaltige Entwicklung. Eine negative Bi-lanz sieht anders aus!
Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt in einemKommentar zu Deutschlands Ausscheiden aus demUN-Sicherheitsrat vom 1. Januar 2013: „Deutschlandhat sich sehr bemüht“. Würde die Bundesregierung dieSchulbank drücken, müsste sie bei dieser Beurteilungum ihre Versetzung bangen.Wie wir in unserem Antrag darstellen, hat dieBundesregierung nach zwei Jahren im obersten VN-Gremium eine Negativbilanz vorzuweisen. Ich möchtenicht auf alle Punkte eingehen, da vieles bereits bei derersten Lesung des Antrages zur Sprache kam, sonderneinige wichtige herausgreifen.Nehmen wir zum Beispiel die Reform des UN-Sicherheitsrates. Es ist ihr in dieser Frage nichtgelungen, irgendein Ergebnis vorzuweisen. Gerade dieimmer noch andauernde Gewalt gegen die Zivilbevöl-kerung in Syrien zeigt jedoch, wie wichtig diesesUnterfangen ist. Um eine Blockade des UN-Sicher-heitsrates durch Vetomächte wie Russland und Chinazukünftig zu erschweren, muss auf eine schrittweiseÜberwindung des Vetorechts hingewirkt werden.Deutschland als ein bedeutender Beitragszahler solltemit mehr Gewicht im Rat vertreten sein. Da erscheintes wie blanker Hohn, wenn die Regierungskoalitionauf diese Kritik antwortet, man wolle sich für die Jahre2019/2020 wieder um eine Kandidatur als nichtständi-ges Mitglied im Sicherheitsrat bewerben. Gemäß demMotto „Dabei sein ist alles“ scheint es ihr wichtiger zusein, hin und wieder in einen sportlichen Wettstreit mitanderen Staaten zu treten. Sie lässt jeglichen Gestal-tungsanspruch vermissen, da sie nicht erklärt, wie siedie Reform des Sicherheitsrats strategisch voranbrin-gen möchte.Konzeptlosigkeit und einen fehlenden Gestaltungs-anspruch kann man der Bundesregierung auch in an-deren Bereichen ihrer VN-Politik attestieren. So hat siezwar die Umbrüche in der arabischen Welt auf dieTagesordnung des Sicherheitsrates gesetzt, allerdingshat sie sich bei der Abstimmung über ein Vorgehen derinternationalen Gemeinschaft in Libyen zum Schutzder Zivilbevölkerung enthalten. Über die Enthaltungzu Libyen ist schon viel gesagt und geschrieben wor-den, was ich nicht alles wiederholen möchte. Aber esist nur schwer erträglich, wie AußenministerWesterwelle sich nach dem Sturz Mubaraks auf demTahrir-Platz in Ägypten von den Menschen dort umju-beln lassen konnte, aber sich beim Schutz von Libye-rinnen und Libyern vor den mordenden TruppenGaddafis im Sicherheitsrat einfach wegduckt.Der Fall Libyen ist eng mit der internationalenSchutzverantwortung, der Responsibility to Protect,verknüpft, da sie in der UN-Resolution zu Libyen erst-mals als Begründung für ein Vorgehen genommenwurde. Das Konzept erfuhr dadurch insgesamt eineunter völkerrechtlichen Gesichtspunkten bedeutendeAufwertung. Allerdings darf die Schutzverantwortungnicht auf ein militärisches Vorgehen verkürzt werden.Diese Norm, wie sie von der UN-Generalversammlungim Jahre 2005 verabschiedet wurde, ist mit drei Säulenkonzipiert worden: der Verantwortung, vorzubeugen,der Verantwortung, zu handeln und der Verantwor-tung, aufzubauen. Ein militärisches Eingreifen istdabei als letztes Mittel zum Schutz vor massivenMenschenrechtsverletzungen zu sehen, wenn andere,präventive Maßnahmen nicht greifen. Die Bundesre-gierung muss sich zur Schutzverantwortung bekennen.Sie muss aktiv zu ihrer Akzeptanz und Weiterentwick-lung beitragen und darf nicht die bloße Mitgliedschaftin diversen Freundesgruppen vorschieben.Bislang hat die Bundesregierung es auch versäumt,eine aktivere Rolle bei der Lösung des Kernkonflikts inder arabischen Welt, des Nahostkonflikts, einzuneh-men. Nach der Entscheidung der UN, Palästina als Be-obachterstaat in die Vereinten Nationen aufzunehmen,hat die israelische Regierung erneut Beschlüsse zurAusweitung von Siedlungsgebieten getroffen, die mitdem Recht der Palästinenser in Konflikt stehen und diegegen internationales Recht verstoßen. Statt folgenlo-ser Appelle an die Adresse der israelischen Regierungwäre es sinnvoller, im UN-Sicherheitsrat entspre-chende Initiativen zu starten.Wer sich eine wertegeleitete Außenpolitik auf dieFahnen schreibt und sich zum Freund der arabischenWelt stilisiert, wie es Außenminister Westerwelle ge-macht hat, der darf dann auch nicht kneifen, wenn esdarum geht, den dort notleidenden Menschen unmittel-bar zu helfen. So wiederhole ich das, worum ichAußenminister Westerwelle auch schon persönlich ge-Zu Protokoll gegebene Reden
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28538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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beten habe: Die Bundesregierung muss ein Zeichender Menschlichkeit setzen und syrischen Staatsange-hörigen, deren Familienangehörige in Deutschlandleben oder die besonders schutzbedürftig sind,Aufnahme gewähren.Die Beratungen haben leider gezeigt, dass die Re-gierungskoalition sich unserer Kritik verschließt. Siewird unseren Antrag ablehnen. Angesichts ihrer dürfti-gen zweijährigen Bilanz im UN-Sicherheitsrat sollte dieBundesregierung die ihr verbleibende Zeit nutzen, an-dere wichtige UN-Initiativen voranzubringen.Gerade die Umbrüche in der arabischen Welt habenuns noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig ein-heitliche Standards beim Import, Export und Transfervon konventionellen Waffen zum Schutz vor weltweiterAufrüstung und Destabilisierung von Regionen sind.Die Bundesregierung ist daher angehalten, die nächsteWoche beginnenden Verhandlungen für einen interna-tionalen Waffenhandelsvertrag zum Erfolg zu führen.Gleiches gilt für die Verwirklichung einer Zone freivon Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten. DieBundesregierung muss dafür sorgen, dass die Konfe-renz für eine solche Zone, die eigentlich schon im Jahr2012 hätte stattfinden sollen, in 2013 endlich Realitätwird.Sie muss alles daran setzen, die Millenniumsent-wicklungsziele bis 2015 umzusetzen. Dazu gehört vorallem, ausreichende Mittel für Entwicklungsfinanzie-rung bereitzustellen. Die Bundesregierung hat aber ihrVersprechen, die Mittel entsprechend zu erhöhen, nichteingehalten.Jetzt werden auch die Weichen für die Festlegungneuer Entwicklungsziele gestellt. Die Bundesregierungdarf diese Entwicklung nicht verschlafen. Sie musseine Führungsrolle bei der Weiterentwicklung der UN-Millenniumsentwicklungsziele zu Zielen der nachhalti-gen Entwicklung
einnehmen. Diese neuen Entwicklungsziele müssenTeil eines neuen Rahmenwerks für globale Entwick-lungspolitik von 2015 bis 2030 werden.
„Ich sage mehr als Danke schön. Ich sage vielen,vielen Dank.“Schon in meiner letzten Rede zu dem vorliegendenAntrag habe ich mit diesem markanten Zitat begonnen.Und das nicht umsonst: Diese Worte bringen den Er-folg des deutschen Vorsitzes im Sicherheitsrat der Ver-einten Nationen prägnant auf den Punkt.Gesagt hat sie Nabil al-Arabi, Generalsekretär derArabischen Liga, gemäß dem Protokoll am Ende derletzten Sicherheitsratssitzung, die Bundesaußenminis-ter Guido Westerwelle leitete. Diese beiden Sätze drü-cken tiefe Dankbarkeit aus: Dankbarkeit für das deut-sche Engagement in der Syrien-Krise, Dankbarkeit fürdie deutschen Schlichtungsversuche im Nahen Osten,Dankbarkeit für die Aufwertung der arabischen Weltauf der UN-Agenda.Und was wird seitens der Opposition der Bundesre-gierung in diesem Antrag vorgeworfen? Deutschlandhätte sich weder im Syrien-Konflikt noch im Nahen Os-ten durchsetzen können und wäre an einer Reform derVereinten Nationen gescheitert. Insgesamt unterstelltman der deutschen Bundesregierung mangelndes En-gagement. Da sind wohl der Generalsekretär der Ara-bischen Liga sowie unter anderem auch der marokka-nische Außenminister, der sich bei Herrn Westerwelleauf Deutsch ebenfalls bedankte, anderer Meinung.Anscheinend sind die Gesandten des Auslands allesandere als enttäuscht vom deutschen Vorsitz im Sicher-heitsrat der Vereinten Nationen, und zwar zu Recht.Ich werde Ihnen jetzt auch erläutern, warum.Unsere Bilanz sieht in wenigen Worten folgender-maßen aus: Während unseres Vorsitzes hat Deutsch-land Initiativen zum Klimaschutz und zur globalen Ab-rüstung geleitet. Wir haben eine Resolution zum Schutzvon Kindern in bewaffneten Gebieten eingebracht.Deutschland hat aktiv die Friedensbemühungen imNahen Osten unterstützt und eine stärkere Zusammen-arbeit zwischen den Vereinten Nationen und der Arabi-schen Liga durchgesetzt.Es mutet schon realitätsfremd an, wenn man derBundesregierung vorwirft, nicht genug für den NahenOsten zu tun, wenn gleichzeitig AußenministerWesterwelle vor Ort Friedensverhandlungen zwischenIsrael und der Hamas führt.Genauso wirklichkeitsfremd scheint die Forderung,Deutschland hätte während des Vorsitzes die VereintenNationen reformieren sollen. Diese Erwartung istschlicht unerfüllbar. Natürlich, wir setzen uns für ei-nen ständigen Sitz der Bundesrepublik Deutschland imSicherheitsrat ein und wir unterstützen die Reform-pläne der Vereinten Nationen, die der heutigen globa-len Machtverteilung gerecht werden. Aber diese For-derungen kann man nicht alleine im Marschschrittdurchsetzen. Das Interesse der Vetomächte an einergrundlegenden Reform – und damit einhergehend ei-ner Beschneidung ihrer derzeitigen Machtposition –ist äußerst gering. Daher bedarf es einer breit aufge-stellten, umfassenden Bewegung unter den Mitgliedernder Vereinten Nationen, um den Druck auf die Ve-tomächte zu erhöhen. Es schmeichelt ja, dass uns dieOpposition zutraut, innerhalb von zwei Jahren dieWeltorganisation umzukrempeln, aber leider muss ichan dieser Stelle dann doch etwas mehr Realitätssinnfordern.Wir verfolgen weiterhin das langfristige Ziel, stän-diges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu werden. Andieser Prämisse hat sich nichts geändert. Wir habendaran gearbeitet, wir werden daran weiterarbeiten.Aber es geht eben nicht über Nacht.Das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik und de-ren friedensstiftenden Einfluss auf die internationalenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28539
Bijan Djir-Sarai
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Beziehungen ist ungebrochen. Als Beweis der interna-tionalen Zustimmung zum Kurs der Bundesregierungwurde Deutschland in den UN-Menschenrechtsrat ge-wählt. Das ist aller Ehren wert. Und zudem eine Bestä-tigung für unsere gute Arbeit im UN-Sicherheitsrat.Die zwei Jahre im Sicherheitsrat und der deutscheVorsitz in dem Gremium sind eine Erfolgsgeschichtedieser Bundesregierung. Wo die Opposition hier eineNegativbilanz erkennt, ist fraglich. Wir sehen sie nicht,die Gesandten in der arabischen Welt sehen sie nicht,die UN-Mitglieder sehen sie nicht. Und nur noch ein-mal zur Bestätigung möchte ich wieder mit den Wortendes Generalsekretärs der Arabischen Liga enden: „Ichsage mehr als Danke schön. Ich sage vielen, vielenDank.“
Die Fraktion der SPD legt uns einen Antrag vor, der
die Überschrift trägt: „Negativbilanz nach zwei Jah-
ren im UN-Sicherheitsrat“. Sie möchte eine „ernüch-
ternde Bilanz“ der Bundesregierung feststellen lassen.
Wenn es nur darum ginge, könnten wir dem Antrag
ohne Weiteres zustimmen.
Doch dabei bleibt es nicht.
Schwerpunkt eins der Kritik der SPD an der Bun-
desregierung ist der mangelnde Einsatz der Bundes-
regierung für einen ständigen Sitz Deutschlands im
Sicherheitsrat der Weltorganisation. Hier sind wir an-
derer Auffassung. Eingebettet darin ist eine Kritik am
fehlenden Engagement der Bundesregierung für eine
Reform des Sicherheitsrates. Diese Kritik jedoch teilen
wir.
Zweiter Punkt ist die – aus Sicht der SPD – falsche
Entscheidung der Bundesregierung, der Resolution,
die den Militäreinsatz in Libyen 2011 legitimierte,
nicht zuzustimmen. Das kritisieren wir nun überhaupt
nicht, sondern diese Entscheidung der Bundesregie-
rung findet unsere ausdrückliche Zustimmung.
Punkt drei der Kritik: fehlendes Engagement für
eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts. Das se-
hen auch wir so.
Punkt vier: keine Initiativen der Bundesregierung
zur Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungs-
waffen. Richtig. Hier könnte man mehr tun.
Und schließlich Punkt fünf: das Nichtzustandekom-
men des Waffenhandelsvertrags bzw. der mangelnde
Einsatz der Bundesregierung für sein Zustandekom-
men. Auch hier hätte die SPD unsere Unterstützung.
Sie sollte aber besser selbst handeln, wenn sie es denn
kann.
Ergo: Die Linke teilt die Kritik an der schleppenden
Reform der Vereinten Nationen, vor allem die fehlende
Repräsentanz des globalen Südens im Sicherheitsrat.
Ein Streben nach einem deutschen Sitz wird hier aller-
dings keine Abhilfe schaffen. Ganz im Gegenteil, und
deshalb lehnen wir dies auch ab.
Völlig im Widerspruch zur antragstellenden Frak-
tion sind wir aber, wenn es um den Einsatz in Libyen
geht. Wir finden, dass die Bundesregierung sich, wie
auch die Regierung Schröder/Fischer, als es um den
Irakkrieg ging, grundsätzlich richtig verhalten hat.
Gerade an den Entwicklungen in Mali sehen wir, dass
der Militäreinsatz in Libyen keine wirkliche Lösung
für ein komplexes und tiefergehendes Problem war. Im
Übrigen meine ich, dass wir auch am Afghanistan-Ein-
satz, der uns damals von SPD und Grünen als humani-
tärer Einsatz verkauft wurde, sehen: Militärische Ge-
walt schafft neues Leid und trägt eben nicht nachhaltig
zur Lösung von Problemen bei.
Das kann unseres Erachtens nur ein andauernder
Dialog, wie ihn die SPD eben auch zwischen Palästina
und Israel fordert, wo sich die Bundesregierung, als es
um den Beobachterstatus Palästinas ging, nur der
Stimme enthalten hat. Auch meiner Fraktion wäre eine
Zustimmung lieber gewesen.
Was Abrüstung, insbesondere atomare Abrüstung,
angeht, hat sich die Bundesregierung mit Absichtser-
klärungen ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Fol-
gen hatte dies bekanntlich keine.
Unsere Position zu Waffenexporten dürfte bekannt
sein, doch ich wiederhole sie gern: Wir wollen, dass
Deutschland keine Waffen mehr exportiert; ein erster
Schritt könnte ein Verbot von Waffenexporten in
Kriegs- und Krisengebiete sein.
Die Kritik der SPD an der Waffenexportpolitik der
Bundesregierung höre ich wohl, teile sie auch; allein
mir fehlt der Glaube an besseres Handeln. Bereits im
ersten Jahr der SPD-geführten Bundesregierung,
1999, verdoppelte sich der Wert der exportierten
Kriegswaffen von 683 Millionen Euro auf 1,454 Mil-
liarden Euro. In den Jahren der Großen Koalition
2006 bis 2009 gab es kein Jahr, in dem es weniger als
1,3 Milliarden Euro waren.
Internationale Verträge zur Begrenzung internatio-
nalen Waffenhandels wären nicht schlecht, aber eige-
nes Handeln wäre noch besser. Hier hätte Deutschland
unter SPD-Kanzlern und mit der SPD in der Bundesre-
gierung selbst aktiv werden können.
Nicht nur an dieser Stelle ist der Antrag inkonse-
quent.
Deshalb bleibt für uns nur eins: Wir werden gegen
ihn stimmen, auch wenn wir uns natürlich eine bessere
Bilanz der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat ge-
wünscht hätten.
Am 1. Januar 2011 war Deutschland in den Sicher-heitsrat der Vereinten Nationen gewählt worden. Am17. März kam es schon zum ersten Stresstest: In Libyentobte der Bürgerkrieg, die Armee des Diktators Muam-mar al-Gaddafi stand vor den Toren Bengasis unddrohte der Zivilbevölkerung mit Massakern. Der Sicher-heitsrat stimmte darüber ab, ob die Staatengemein-Zu Protokoll gegebene Reden
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28540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Tom Koenigs
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schaft gemäß der Schutzverantwortung intervenierensollte.Deutschland hat sich enthalten – an der Seite vonRussland, China, Brasilien und Indien, gegen Frank-reich und die Vereinigten Staaten. Das war der prä-gende Eindruck unserer zwei Jahre im Sicherheitsrat.Das Signal an unsere traditionellen Bündnispartner:Wenn es ernst wird, dann ist auf Deutschland kein Ver-lass.Ungeachtet dieses diplomatischen Fauxpas bemän-geln deutsche Kritiker gern, dass der Sicherheitsrat jadysfunktional sei, dass Strukturreformen nötig seien,zum Beispiel indem man das Vetorecht abschafft. AmBeispiel des Syrien-Konfliktes könne man ja sehen, wieRussland und China mit ihrem Veto den Sicherheitsratin die Handlungsunfähigkeit führen können.Drei Thesen zu dieser Kritik:Erstens. Eine Reform des Sicherheitsrats, die dieneuen Gewichte in der Welt besser abbildet, wäre si-cher angemessen. Sie ist aber äußerst riskant, weil dieGeneralversammlung dafür die Charta ändern müsste.Da ist es unberechenbar, ob nicht gleich weitere Kern-prinzipien, wie der Schutz der Menschenrechte, miterodieren würden.Zweitens ist aber auch die Forderung nach einempermanenten Sitz Deutschlands nicht mehr zeitgemäß.Mehr Zusammenarbeit mit unseren europäischen undtransatlantischen Partnern ist nötig – keine Allein-gänge, wie in der Causa Libyen. Schließlich entschul-digt der Verweis auf Reformbedarf nicht mangelndesEngagement. Deutschland muss im bestehenden VN-System aktiver werden.Als Mitglied der Europäischen Union ist unsere Au-ßenpolitik multilateral. Mit einem multilateralen, euro-päischen Ansatz wollen wir deshalb auch die VereintenNationen im bestehenden System stärken. Unsere zen-trale Forderung lautet: Europa muss im Sicherheitsratmit einer Stimme sprechen.Die VN könnten schon jetzt viel besser sein, wennDeutschland und Europa engagierter in den Gremiender VN arbeiten würden.Niemand bestreitet die Notwendigkeit, die VN stän-dig den neuen Gegebenheiten anpassen zu müssen, alsozu reformieren. Ganze Kontinente, vor allem Afrika,sind unterrepräsentiert. Aufstrebende Regionen undStaatenverbünde, wie die BRICS-Staaten, müssen stär-ker einbezogen werden. Sonst droht die Gefahr, dassdie dahinter stehenden Staaten sich einseitig zurück-ziehen. Eine Fragmentierung der Vereinten Nationenwäre die Folge.Doch anstatt die Rolle multilateraler Verbände imSicherheitsrat zu fördern, setzen einzelne Mitglied-staaten immer noch auf nationalstaatliche Repräsen-tanz. Deutschland ist nach wie vor mit Japan, Indienund Brasilien in der Gruppe der G 4 aktiv. Man unter-stützt sich gegenseitig darin, jeweils einen permanen-ten Sitz zu beanspruchen, und spaltet damit mehr, alsdass man eint.Deutschland hat viel Energie darauf verschwendet,einen eigenen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu er-langen. Es hat nichts gebracht.Deutschland sollte sich von dieser Forderung expli-zit verabschieden. Der nationale Traum eines perma-nenten deutschen Sitzes im Sicherheitsrat ist ausge-träumt.Realistisch ist es, die nichtständigen europäischenSitze unter Einbeziehung des Vereinigten Königreichsund Frankreichs als permanente europäische Vertre-tung auszubauen. Ein neuer diplomatischer Stab solldie Arbeit der Europäer intern vorbereiten, koordinie-ren und abwickeln. Die Repräsentation im Sicherheits-rat kann dann rotieren.Für diese Europäisierung auf Arbeitsebene wärekeine Reform des Sicherheitsrats nötig, nur europäischerWille zur Zusammenarbeit. Alle Länder der EU unddie EU als Ganzes müssen sich vertreten fühlen und indie interne Sicherheitsratskoordination aktiv und per-manent eingebunden sein. Das sieht die GemeinsameAußen- und Sicherheitspolitik nach dem Vertrag vonMaastricht vor. Der Art. 34 des Lissabon-Vertrages be-kräftigt es. Entsprechend treten wir dafür ein, dassauch gemeinsame europäische Sitze in den Aufsichts-gremien der Unterorganisationen, Sonderorganisationen,Programmen und Fonds der VN angestrebt werden.Ein Friedensnobelpreisträger Europa mit geeinterStimme im Sicherheitsrat könnte unser gemeinsamesStreben nach Frieden unterstützen und den Menschen-rechten weltweit zu mehr Geltung verhelfen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/12242, den Antrag der Fraktion der SPDauf Drucksache 17/11576 abzulehnen. Wer stimmt fürdiese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der Regierungskoalition und der Linken gegendie Stimmen von SPD und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 20:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-zung der Verbraucherrechterichtlinie und zurÄnderung des Gesetzes zur Regelung derWohnungsvermittlung– Drucksache 17/12637 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28541
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Den neuen Bestseller, die Skiausrüstung oder ein
schickes Paar Schuhe – heute bestellt man solche Pro-
dukte europaweit im Internet so einfach wie eine Pizza
beim Lieferdienst um die Ecke. Das ist ein Wachstums-
markt – zum Leidwesen mancher Innenstädte.
Einkaufen im Internet geht meist schneller und ist
vor allem bequemer als der Einkaufsbummel durch die
Kaufhäuser. Innerhalb weniger Stunden kommt die be-
stellte Ware zum Kunden nach Hause – und das ohne
langes Warten vor den Umkleidekabinen oder Anste-
hen an der Kasse. Das ist ein Grund, warum der
Onlinehandel in Europa in den letzten Jahren deutlich
gewachsen ist – mit steigender Tendenz.
2011 wurden innerhalb Europas 5,5 Milliarden Pa-
kete versendet. In Deutschland wurden 2012 Waren im
Wert von etwa 30 Milliarden Euro im Internet bestellt.
Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Zuwachs von etwa
30 Prozent. Nach aktuellen Schätzungen wird es auch
in diesem Jahr wieder einen kräftigen Zuwachs geben.
Dies ist ein beachtlicher Erfolg, und zwar umso mehr,
wenn man bedenkt, dass wir innerhalb der EU keine
einheitlichen Rechtsvorschriften haben.
Mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbrau-
cherrechterichtlinie werden im Wesentlichen die Berei-
che Verbraucherverträge und besondere Vertriebsfor-
men sowie Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen
neu gefasst.
Die Richtlinie zielt in erster Linie darauf, das Ver-
braucherschutzniveau zu erhöhen und zu einem besse-
ren Funktionieren des Binnenmarkts für Geschäfte
zwischen Unternehmen und Verbrauchern beizutra-
gen. Wir schaffen Klarheit für Kunden und Händler.
Bisher hatten wir in Europa einen Mindestharmoni-
sierungsansatz. Es bestanden beispielsweise keine ein-
heitlichen Widerrufsfristen. Dies sorgte aufseiten der
Händler und der Verbraucher für Rechtsunsicherheit.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Umsetzung
der Verbraucherrechterichtlinie wird der Handel für
beide Seiten einfacher und sicherer.
Das Widerrufsrecht wurde umfassend überarbeitet:
Die Widerrufsfrist wird europaweit auf 14 Tage verein-
heitlicht und ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenom-
men; die Unternehmer müssen den Kunden zukünftig
ein Widerrufsformular bereitstellen und sind verpflich-
tet, sie über das Bestehen oder auch Nichtbestehen
bzw. Erlöschen des Widerrufsrechts verständlich und
umfassend zu informieren; die Widerrufsfrist für die
Kunden beginnt erst, wenn die komplette Ware bei ihm
eingetroffen ist und der Unternehmer seinen gesetzli-
chen Informationspflichten zum Widerrufsrecht nach-
gekommen ist; Voreinstellungen, die der Verbraucher
aktiv ablehnen muss, damit keine Zusatzleistungen ent-
stehen, sind nicht zulässig.
Auf der anderen Seite wird auch die Rechtssicher-
heit für die Unternehmer verbessert: Der Kunde muss
kenntlich machen, wenn er vom Widerrufsrecht Ge-
brauch machen will, die bloße Rücksendung ist nicht
ausreichend. Zudem trägt der Verbraucher zukünftig
die Kosten der Rücksendung, sofern der Händler sich
nicht bereit erklärt, diese zu übernehmen, weil das ja
durchaus auch ein Wettbewerbsvorteil ist. Da es für
kleinere Unternehmen schwierig sein kann, selbst eine
gesetzeskonforme Widerrufsbelehrung zu formulieren,
enthält der Richtlinienvorschlag sogar ein Muster.
Durch die Angleichung der Rechtsvorschriften
sorgen wir in Europa für eine Vollharmonisierung.
Den Mitgliedstaaten wird aber ermöglicht, durch
Öffnungsklauseln in verschiedenen Bereichen, ein
noch höheres Verbraucherschutzniveau vorzusehen.
Dies hilft sowohl den Verbrauchern als auch den
Händlern und sorgt auch weiterhin für einen florieren-
den Onlinehandel!
Das Potenzial ist riesig, das Internet macht es mög-lich: Der grenzüberschreitende Warenverkehr stehtfast noch in den Startlöchern seiner Entwicklung. VieleVerbraucher zögern jedoch vor dem Abschluss einesKaufvertrages gerade mit einem ausländischen Anbie-ter. Sie zögern nicht nur, wenn der Vertragspartner inden USA oder im fernen China sitzt, sondern oftmalsauch bereits dann, wenn dieser seine Ware von Frank-reich, Holland oder einem anderen benachbarten EU-Land aus anbietet.Die Gründe hierfür sind vielfältig, reichen vonSprachbarrieren über Nichtkenntnis ausländischerRechtssysteme bis hin zur latenten Befürchtung, imFalle verspäteter oder gar Nichtlieferung bereits be-zahlter Güter einem fremden Rechtssystem „ausge-setzt“ zu sein, das hinter dem bekannten nationalenVerbraucherschutzniveau zurückbleibt. Aufgrund derFragmentierung der Verbraucherschutzregeln in denEU-Mitgliedstaaten fehlt es vielen Verbrauchern– ebenso wie kleineren Unternehmern – in erster Liniean Vertrauen, außerhalb des Landes einzukaufen bzw.zu verkaufen.Speziell im voranschreitenden Onlineverkehr istdies nicht weiter verwunderlich. Die aktuellen EU-Vorschriften zum Verbraucherschutz wurden vor der„digitalen Revolution“ verabschiedet. So sind insbe-sondere die Verbraucher nicht ausreichend geschützt.Rechtssicherheit ist jedoch aus Sicht von Verbrauchernwie Unternehmern gleichermaßen ein wesentlichesElement für das Funktionieren des europäischen Bin-nenmarktes.Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucher-rechterichtlinie, zur Änderung des Verbrauchsgüter-kaufrechts und zur Änderung des Gesetzes zur Rege-lung der Wohnungsvermittlung werden Rechte undPflichten der Beteiligten am Erwerb von Waren oderDienstleistungen europaweit vereinheitlicht. Mit die-ser Verbesserung der Rahmenbedingungen wollen wirdas Vertrauen in den Markt stärken.Zu Protokoll gegebene Reden
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28542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Marco Wanderwitz
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Die Bundesregierung setzt damit um, wofür sie – inPerson der Ministerinnen Aigner und Leutheusser-Schnarrenberger – im politischen Brüssel bereits imVorlauf der Erarbeitung der Verbraucherrechterichtli-nie konsequent eingetreten ist: mit einheitlichen Re-geln die Attraktivität des grenzüberschreitenden Han-dels insbesondere über das Internet zu stärken, dabeiaber das hohe deutsche Verbraucherschutzniveau zuwahren.In diesem Sinne wurde bereits auf Drängen derBundesregierung eine Regelung gegen Kostenfallen imelektronischen Geschäftsverkehr in die am 12. Dezem-ber 2011 in Kraft getretene Verbraucherrechterichtli-nie aufgenommen. Nach der sogenannten Schaltflä-chenlösung kommt ein im Internet geschlossenerVertrag nur dann zustande, wenn dem Verbraucheralle wesentlichen Informationen verständlich zur Ver-fügung gestellt werden, bevor er einen unmissver-ständlich als zahlungspflichtige Bestellung ausgewie-senen Button anklickt. Aufgrund des dringendenHandlungsbedarfs haben wir diese Regelung dannauch bereits in Rekordzeit im August 2012 vorzeitigumgesetzt.Mit dem heutigen Gesetz wird der restliche Vorga-benkatalog der Verbraucherrechterichtlinie, der dieSituation für Verbraucher und Unternehmer beim Er-werb von Waren und Dienstleistungen im Fernabsatzoder außerhalb von Geschäftsräumen weiter verbes-sern wird, geregelt.Insbesondere bei Einkäufen in Internetshops im EU-Ausland gelten künftig grundsätzlich dieselben Infor-mations- und Widerrufsrechte wie bei Einkäufen indeutschen Internetshops. Die Frist, innerhalb dererVerbraucher im Fernabsatz oder an der Haustür ge-schlossene Verträge ohne Angabe von Gründen wider-rufen können, wird europaweit einheitlich auf 14 Tagefestgelegt. Bisher war lediglich eine Mindestfrist vonsieben Tagen vorgegeben, die EU-weit mehrheitlichgenutzt wurde.Das bislang „ewige“ Widerrufsrecht bei unterlasse-ner oder nicht ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrungerlischt künftig nach einem Jahr und 14 Tagen. Diesgibt Unternehmern mehr Rechts- und Planungssicher-heit, kommt im Ergebnis aber auch den Verbraucherin-nen und Verbrauchern zugute, da Missbrauch ausge-schlossen wird. Der Richtlinienvorschlag enthältzudem eine gesetzliche Musterwiderrufsbelehrung, dadie korrekte Widerrufsbelehrung insbesondere für klei-nere Unternehmen schwierig sein kann.Ferner vereinheitlicht werden künftig die Informa-tionen, die ein Unternehmer dem Verbraucher vor Ab-schluss eines Fernabsatzvertrages oder Haustürge-schäftes unaufgefordert zur Verfügung zu stellen hat.Sie sind in Papierform oder auf einem anderen dauer-haften Datenträger zu geben oder – bei Fernabsatz-verträgen – entsprechend nach Vertragsschluss zu be-stätigen. Dabei gelten für Verträge, die bei einembestellten Besuch geschlossen werden, sowie bei sofortdurchgeführten Reparaturen oder Wartungsarbeitenerleichterte Anforderungen an die Informationspflicht,wenn der Wert weniger als 200 Euro beträgt.Verwendet ein Unternehmer im Internet Voreinstel-lungen, die der Verbraucher ablehnen muss, um eineVereinbarung über eine Zusatzleistung wie zum Bei-spiel eine Reiserücktrittsversicherung etc. zu vermei-den, muss der Verbraucher diese Zusatzleistung nachder neuen Richtlinie nicht bezahlen. Vorab ange-kreuzte Felder sind in der Europäischen Union künftigunzulässig. Ein sehr wichtiger Punkt.Eine weitere wesentliche Veränderung besteht inder Regelung, dass der Verbraucher die Kosten derRücksendung einer bestellten aber nicht mehr gewoll-ten Ware grundsätzlich zu tragen hat. Die bisherigeRegelung, wonach der Händler ab einem Rücksende-warenwert von 40 Euro die Rücksendekosten zu tragenhat, fällt. Der Verbraucher muss über eine Kostentra-gungspflicht jedoch ausdrücklich informiert werden.Es ist zu erwarten, dass die Übernahme der Rücksen-dekosten ein Wettbewerbsfaktor sein wird, Verbrau-cher künftig hiervon also weiter profitieren können.Die Grenze war allerdings nicht begründbar.Die Verbraucherrechterichtlinie leitet das Prinzipder umfassenden Vollharmonisierung. Im Rahmen derVereinheitlichung konnte die Bundesregierung erfolg-reich für die Bewahrung des hohen Verbraucher-schutzniveaus des deutschen Rechts werben. Aufgrundvon vereinzelten Öffnungsklauseln können wir diesesnational an einigen Stellen sogar noch weiter verbes-sern. Im Sinne des Bürokratieabbaus wird dabei ande-rerseits insbesondere dort unnötige Bürokratie abge-schafft, wo die Pflichten für Unternehmer in keinemVerhältnis zum Nutzen für die Verbraucher stehen.Der Gesetzentwurf ist bereits ein weitgehend gelun-gener Kompromiss zwischen Verbraucherrechten undInteressen der Wirtschaft. Im parlamentarischen Ver-fahren werden wir die letzten kleinen Kanten schleifen.Die Umsetzungsfrist für die Verbraucherrechte-richtlinie läuft bis 13. Juni 2014. Die christlich-libe-rale Bundesregierung will das Gesetz frühzeitig im Ge-setzesblatt haben, nicht zuletzt, um den Adressatenausreichend Vorbereitungszeit zu geben.
Endlich, endlich legt die Bundesregierung nun ei-nen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbraucher-rechterichtlinie vor.Grundsätzlich begrüßen wir diesen Gesetzentwurf;denn es ist in der Tat gelungen, im Rahmen der sehrwünschenswerten und notwendigen Vollharmonisie-rung im Bereich Verbraucherschutz das hohe Schutzni-veau des deutschen Verbraucherschutzes zu erhalten.Es ist aber auch wirklich an der Zeit gewesen, end-lich die Umsetzung auf den Weg zu bringen und für ei-nen besseren Schutz von Verbraucherinnen undVerbrauchern zu sorgen. Die verbraucherpolitischenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28543
Marianne Schieder
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Baustellen sind zahlreich, und vielerorts wäre Regie-rungshandeln dringend nötig. Doch die Bundesregie-rung handelt in Verbraucherschutzfragen leider oftnur dann, wenn sie von Europa dazu aufgefordertwird, wieder einmal ein Lebensmittelskandal die Men-schen aufschreckt oder die Opposition zu Verbesserun-gen antreibt.Heute reden wir über die Umsetzung der Verbrau-cherrechterichtlinie, zu der wir durch europäischeVorgaben verpflichtet sind. Verbraucherinnen undVerbraucher sollen beim Erwerb von Waren oderDienstleistungen europaweit einheitliche Rechte er-halten. Es können europaweit einheitliche Muster fürdie Widerrufsbelehrungen genutzt werden, und die In-formationspflichten sind vollständig harmonisiert.So werden deutsche Verbraucher in Zukunft zumBeispiel beim Einkauf in EU-ausländischen Online-shops in den Genuss derselben Informations- undWiderrufsrechte kommen wie beim Einkauf in inländi-schen Onlineshops.Das ist sehr gut für die Kunden. Auch dass Verbrau-cherverträge, die im Fernabsatz oder an der Haustürgeschlossen wurden, künftig europaweit ohne Angabevon Gründen innerhalb von 14 Tagen widerrufenwerden können, ist sehr begrüßenswert.Was die Bundesregierung aber dringend überprüfensollte, ist die neue Regelung, wonach das Widerrufs-recht bei unterbliebener oder nichtordnungsgemäßerBelehrung über das Widerrufsrecht zwölf Monate nachAblauf der ursprünglichen Widerrufsfrist erlöschensoll. Bislang erlöscht das Widerrufsrecht nämlich ineinem solchen Fall gar nicht.Der Gesetzentwurf enthält zahlreiche gute Vor-schläge. Allerdings möchte ich mit Blick auf die Ver-braucherinnen und Verbraucher auch feststellen, dassdie Ausgestaltung bisweilen in wenig verständlicherArt und Weise formuliert wird.Als ein sehr bezeichnendes Beispiel ist § 312 g zunennen. In Abs. 2 Nr. 5 geht es um Alkoholverkauf, wodas Widerrufsrecht nicht bestehen soll für „Verträgezur Lieferung alkoholischer Getränke, deren Preis beiVertragsschluss vereinbart wurde, die aber frühestens30 Tage nach Vertragsschluss geliefert werden könnenund deren aktueller Wert von Schwankungen auf demMarkt abhängt, auf die der Unternehmer keinen Ein-fluss hat“. Nicht nur hier wäre wirklich eine verständ-lichere Ausdrucksweise erforderlich.Auch teile ich die Bedenken des Bundesrates bezüg-lich notariell beurkundeter Verträge und der fragli-chen Notwendigkeit eines Widerrufsrechts.Ich fordere die Bundesregierung aber auch auf,dringend über eine Anpassung der Regelungen zurNacherfüllung im Verbrauchsgüterkaufrecht nachzu-denken. Denn diese Regelung genügt den verbraucher-schützenden Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufricht-linie nicht vollständig. Im Referentenentwurf zu demGesetzentwurf, den wir heute beraten, war eine Neu-regelung der Nacherfüllung noch enthalten. In diesemZusammenhang sollte die Bundesregierung auchernsthaft darüber nachdenken, im Rahmen der nachden Vorgaben des EuGH erforderlichen Neuregelungdes § 439 BGB die Vorschrift nicht lediglich mit Wir-kung zugunsten der Verbraucher abzuändern, sonderneine Regelung vorzusehen, die uneingeschränkt gilt,also auch für Unternehmer.Ich hoffe für unsere Fraktion auf fruchtbare Bera-tungen.
Mit diesem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucher-rechterichtline hat die Bundesregierung leider dieChance vertan, Verbraucherinnen und Verbraucher inzentralen Bereichen besserzustellen.Die Liste der verpassten Gelegenheiten ist lang:Erstens: Widerrufsrecht bei Telefonverträgen.Wir als Linke finden es besonders bedauerlich, dassauch diesmal keine Regelung zu telefonisch geschlos-senen Verträgen existiert, sondern lediglich ein Wider-rufsformular. Das ist ein Fortschritt gegenüber der be-stehenden Situation. Dennoch müssen die potenziellBetrogenen hier selbst aktiv werden, wenn ihnen amTelefon etwas angedreht wurde.Verbraucherinnen und Verbraucher sind allerdingsleider nach wie vor windigen Callcenterfirmen ausge-liefert. Immer noch genügt ein falsches Wort am Tele-fon oder einmal nicht richtig hingehört zu haben, undschon hat man ein Zeitschriftenabo oder etwas Ähnli-ches, was sie nie wollten. Das bereits seit August 2009geltende Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefon-werbung hat sich als ineffektiv erwiesen. Verbraucher-verbände sprechen nach wie vor von einer großen An-zahl unerlaubter Anrufe, die sogar oft unter falscherFlagge segeln und sich als vermeintlich seriöse Fir-men und Institutionen ausgeben. Dabei liegt die Lö-sung einfach und praktikabel auf der Hand liegt: Tele-fonisch geschlossene Verträge müssen noch einmalschriftlich und in Ruhe bestätigt werden. Eine Bestäti-gungslösung fordert die Linke bereits seit Anfang2009. Unser damaliger Antrag wurde von CDU/CSU,SPD und FDP im Plenum abgelehnt, und seitdem istnichts mehr passiert. Ob ein Widerrufsformular sich inder Praxis überhaupt bewährt, bleibt dabei die offeneFrage. Die Bestätigungslösung hätte sich auf jedenFall bewährt. Mehr noch: Die EU-Richtlinie hättediese Möglichkeit eröffnet, aber die Bundesregierungnutzt diese Chance nicht.Zweitens: Kaffeefahrten.Oder nehmen wir das Beispiel der sogenanntenKaffeefahrten. Es ist kein Geheimnis, dass Verkaufs-veranstaltungen ein wesentliches Element dieser Aus-flüge sind. Statt die Rechte der Verbraucherinnen undVerbraucher bei Kaffeefahrten zu verbessern, ver-schlechtern sie sich sogar. Noch kann man vom Kaufeiner Rheumadecke oder einer Pauschalreise zurück-Zu Protokoll gegebene Reden
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28544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Caren Lay
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treten. Tritt dieses Gesetz in Kraft, kann man die Deckezurückgeben, die Pauschalreise aber nicht mehr. Waseinmal unterschrieben ist, hat Gültigkeit. Ein Widerrufist künftig nicht mehr möglich. Die Bundesregierungeröffnet hier nun ein riesiges neues Geschäftsfeld fürBetrüger, die ihre vermeintlichen Reisegäste mit über-teuerten Reiseangeboten prellen können.Drittens: Beweislastumkehr und Gewährleistungen.Die Bundesregierung versäumt, die Gewährleis-tungsmöglichkeiten zu verbessern. Die Gewährleis-tung für ein gekauftes Produkt geht zwar theoretischüber zwei Jahre; in der Praxis ist dieses Recht bereitsnach sechs Monaten wertlos. Das heißt: Einen neuge-kauften Toaster kann man theoretisch zwei Jahre langzurückgeben, wenn er kaputtgeht. Aber schon nach ei-nem halben Jahr muss man beweisen, dass der Defektschon vorher da war. Da die wenigsten von uns Inge-nieure sind, ist das praktisch unmöglich.Die Chance wurde hier vertan. Der vorliegendeEntwurf ist ein verwässertes Papier mit zahllosen Aus-nahmen. Beim Wohneigentum, bei den Reise- und Be-förderungsleistungen, den Telefonverbindungen, denFinanzdienstleistungen, bei Versicherungen sowie beiBehandlungsverträgen: Verbraucherinnen und Ver-brauchern werden weiterhin Informationen vorenthalten.Dabei sind das zentrale Bereiche, die fast ausnahmslosjeden Menschen betreffen. Durch ihre Untätigkeit lie-fert die schwarz-gelbe Koalition weiterhin MillionenBürgerinnen und Bürger der Abzocke aus.Insgesamt gibt es nach wie vor eine Vielzahl von Re-geln, die für den juristisch nicht vorgebildeten Nor-malverbraucher weder verständlich noch nachvoll-ziehbar sind. Es ginge auch einfacher. In Österreichgibt es das Konsumentenschutzgesetzbuch, welchesnur 42 Paragrafen enthält und dennoch den Verbrau-cherschutz umfassend regelt. Eine derartige Transpa-renzoffensive wünschen sich sowohl Juristinnen undJuristen als auch die Linke.Wieder einmal hat diese Bundesregierung bewiesen,dass sie kein Interesse an der Stärkung der Rechte vonVerbraucherinnen und Verbrauchern hat.
Der Gesetzentwurf soll die EU-Verbraucherrechte-richtlinie umsetzen, die die Regelungen zu Haustür- undFernabsatzgeschäften europaweit zusammenführen undüberarbeiten soll. Neben einigen Verbesserungen bringtdie Richtlinie für die deutschen Verbraucherinnen undVerbraucher auch Verschlechterungen mit sich.Unter anderem sind das Verschlechterungen bezüg-lich der Widerrufsrechte im Versandhandel. Kosten fürdie Rücksendung von Produkten beim Widerruf könnenkünftig komplett den Verbrauchern aufgebürdet wer-den, während bislang die Rücksendekosten ab einemWarenwert von 40 Euro vom Verkäufer übernommenwerden mussten. Hier hätte die Bundesregierung inBrüssel härter kämpfen müssen.Doch auch jetzt – bei der Umsetzung der Richtliniein deutsches Recht – macht die Bundesregierung ihreHausaufgaben nicht ordentlich. Obwohl die Richtliniegrundsätzlich auf europaweite Vollharmonisierung derVerbraucherschutzvorschriften ausgelegt ist, lässt sieden Mitgliedstaaten in einigen Artikeln durch Öff-nungsklauseln die Möglichkeit, Regelungen einzufüh-ren oder beizubehalten, die ein höheres Verbraucher-schutzniveau beinhalten.Diese Chance nutzt die Bundesregierung nicht. ImGegenteil! Der Gesetzentwurf verschlechtert das Ver-braucherschutzniveau an einigen Stellen sogar:Erstens. Die Richtlinie ermöglicht explizit die Ein-führung einer sogenannten Bestätigungslösung fürtelefonisch geschlossene Verträge auf nationalerEbene. Diese Möglichkeit lässt Schwarz-Gelb unge-nutzt. Angesichts der immensen Anzahl der infolge vonCold Calling untergeschobenen Verträge ist die Ein-führung der Bestätigungslösung dringend erforder-lich. Auch im gestern im Kabinett verabschiedetenGesetzentwurf gegen unseriöse Geschäftspraktikenwird dies nur halbherzig umgesetzt. Es soll zwar inZukunft eine Bestätigung für am Telefon geschlosseneGewinnspielverträge verbindlich werden, doch alleanderen Verträge bleiben weiter außen vor. Unseriö-sen Unternehmen wird damit nicht das Handwerk ge-legt.Zweitens. Auch die vorgesehenen Ausnahmen beimWiderrufsrecht sind unnötige und unverständlicheVerschlechterungen der Verbraucherrechte. So sollenbeispielsweise Verträge über Pauschalreisen, die vorallem alten Menschen auf sogenannten Kaffeefahrtenuntergejubelt werden, nach dem Willen der Bundesre-gierung künftig nicht mehr widerrufen werden können.Auch Verträge über die Lieferung von Lebensmittelnoder Getränken – wie zum Beispiel Biokisten oder Ge-tränkelieferungen ins Büro – sollen selbst bei längererLaufzeit nicht mehr widerrufbar sein. Die bisherigeMöglichkeit, zumindest laufzeitgebundene Lebensmit-telabos, die bei Haustürgeschäften geschlossen wur-den, zu widerrufen, soll damit gestrichen werden.Anstatt hier die Rechte weiter zu beschneiden, wäreeine Ausdehnung des Widerrufsrechts notwendig.Drittens. Nachgebessert werden muss auch bei denInformationspflichten im Fernabsatz bezüglich mögli-cher zusätzlicher Fracht-, Liefer- und Versandkosten,sodass der Verbraucher weiß oder zumindest berech-nen kann, welche Kosten im Gesamten auf ihn zukom-men.Viertens. Auch die notwendigen Änderungen imGewährleistungsrecht wurden nicht vorgenommen.Hier muss klargestellt werden, dass Verbraucher inZukunft tatsächlich ihr Recht auf zweijährige Gewähr-leistung wahrnehmen können und nicht mehr, wieheute faktisch oft, eine Gewährleistung nur innerhalbvon sechs Monaten; danach müssen sie beweisen, dassein Defekt oder Kaputtgehen nicht selbst verschuldetZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28545
Nicole Maisch
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ist. Da dies in der Praxis häufig unmöglich ist, ist einevolle Beweislastumkehr notwendig.Auch bezüglich der Garantieregelungen muss klar-gestellt werden, dass die Rechte der Käufer gegenüberVerkäufern nicht durch eine Abhilfe durch den Herstel-ler eingeschränkt werden dürfen. Käufer dürfen auchbei Inanspruchnahme einer Herstellergarantie keineNachteile bezüglich ihrer Gewährleistungsrechte ge-genüber dem Verkäufer erfahren.Fünftens. Daneben sind auch die im Gesetzentwurfvorgenommenen Änderungen des Gesetzes gegen denunlauteren Wettbewerb zu schwach und beheben die inder Praxis bestehenden Probleme der Verbraucherver-bände, etwa bezüglich der Abschöpfung von Unrechts-gewinnen, nicht.Ich könnte noch weitere Punkte aufzählen, auchPassagen, die unbestimmt und damit nicht rechtssicherformulier sind. Aber die Auswahl macht deutlich: Hierbesteht noch dringender Nachbesserungsbedarf. Diebeim Widerrufsrecht vorgenommenen Ausnahmenmüssen gestrichen oder zumindest erheblich nachge-bessert werden. Eine Bestätigungslösung ist bei allenTelefonverträgen einzuführen. Rechtsunsicherheitenund unbestimmte Rechtsbegriffe müssen verhindertund nachgebessert werden. Die Legislatur ist nichtmehr allzu lang; insofern muss die Bundesregierungzügig nachlegen und im Zuge der Anhörung und derBeratungen in den Ausschüssen die berechtigte Kritikaufnehmen und aus dem mäßigen Gesetzentwurf eingutes Gesetz machen.Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-ministerin der Justiz:Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bun-desregierung die europäische Verbraucherrechtericht-linie in das innerstaatliche Recht umsetzen. Hierdurchschaffen wir Rechtssicherheit, erhöhen das Vertrauenin den grenzüberschreitenden Einkauf und verbessernsowohl die Situation der Verbraucherinnen und Ver-braucher als auch die Situation der Unternehmerinnenund Unternehmer.Die umzusetzende Verbraucherrechterichtlinie folgtdem Grundsatz der Vollharmonisierung; das heißt, dieMitgliedstaaten dürfen im von der Richtlinie erfasstenBereich grundsätzlich weder strengere noch wenigerstrenge Regelungen erlassen oder aufrechterhalten.Hierdurch wird die bislang uneinheitliche Rechtslagebei Verträgen, die im Fernabsatz oder außerhalb vonGeschäftsräumen geschlossen werden, europaweitvereinheitlicht. Allein hierin liegt schon ein Vorteil fürUnternehmen, die in Zukunft ohne hohe Rechtsbera-tungskosten grenzüberschreitend tätig werden können.Spiegelbildlich werden auch die Verbraucher von ei-nem erhöhten grenzüberschreitenden Angebot profitie-ren können.Aber wir nutzen auch die uns durch die Richtlinieeröffneten Spielräume in Form von Bereichsausnah-men und Öffnungsklauseln konsequent und intelligent:Auf der einen Seite erhalten wir das im europäischenVergleich hohe Verbraucherschutzniveau des deut-schen Rechts aufrecht und heben es an verschiedenenStellen sogar noch an. Auf der anderen Seite setzen wirkonsequent darauf, Bürokratie für Unternehmen dortzu vermeiden, wo ihr kein Vorteil für Verbraucher ge-genübersteht. Damit erkennen wir Win-win-Situatio-nen und beweisen, dass Verbraucherschutz und Büro-kratieabbau kein Gegensatzpaar sind. Lassen Sie micheinige Beispiele nennen:Erstens. Die verbraucherschützenden Regelungendes geltenden Rechts für Fernabsatzverträge überFinanzdienstleistungen gelten zukünftig auch für au-ßerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträgeüber Finanzdienstleistungen. Der Verbraucher ist inbeiden Situationen in gleicher Weise schutzbedürftig.Unternehmer haben den Vorteil, dass sie bei beidenVertriebsformen einheitliche Informationsunterlagenverwenden können.Zweitens. Obwohl soziale Dienstleistungen undGesundheitsdienstleistungen von der Verbraucher-rechterichtlinie vollständig ausgenommen sind, solldem Verbraucher nach unserem Entwurf auch in die-sen Bereichen ein Widerrufsrecht zustehen. Denn auchhier kann der Verbraucher überrumpelt werden, zumBeispiel beim Verkauf von Medizinprodukten aufKaffeefahrten. Ausgenommen sind aus gutem GrundHausbesuche des Arztes.Drittens. Unternehmer werden in Zukunft eine euro-paweit einheitliche Musterwiderrufsbelehrung ver-wenden können. Hierdurch werden Kosten und Risikenim Fall eines grenzüberschreitenden Angebots deutlichverringert. Auch für Verbraucher ist es hilfreich, ineinheitlicher Weise über ihr Widerrufsrecht belehrt zuwerden.Viertens. Im Fall einer fehlenden oder falschenWiderrufsbelehrung erlischt das bislang „ewige“Widerrufsrecht zukünftig nach Ablauf eines Jahres.Dies gilt auch für Altverträge, also Verträge, die vorInkrafttreten des Gesetzes geschlossen worden sind.Hierdurch erhalten Unternehmen mehr Rechts- undPlanungssicherheit. Verbraucher haben im Fall einernicht ordnungsgemäßen Belehrung ein Jahr Zeit, zuentscheiden, ob sie den Vertrag widerrufen wollen.Fünftens. Schließlich nutzen wir solche Bereichs-ausnahmen konsequent aus, durch die wir weitereBürokratie verhindern können. So werden zum Beispielim Laden geschlossene Geschäfte des täglichenLebens, die sofort erfüllt werden, auch zukünftig kei-nen umfangreichen Informationspflichten unterliegen.Diese wären im Verhältnis zum Wert des Geschäftsunverhältnismäßig. Auch die Verbraucher erwarten indiesem Fall keine umfangreichen Informationen, diezudem mitunter noch eingepreist würden.Die Bundesregierung hat eine gute Grundlagevorgelegt. Als Gesetzgeber sind wir nun gemeinsamdazu aufgefordert, die für die Umsetzung notwendigenVorschriften bis zum 13. Dezember dieses Jahres zuZu Protokoll gegebene Reden
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28546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger
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erlassen. Ich bitte Sie, sich engagiert und konstruktivdaran zu beteiligen, damit wir dieses Ziel gemeinsamerreichen.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12637 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 21:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung
– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD
Stillstand in der Verkehrspolitik überwin-
den – Zukunftskommission zur Reform der
Infrastrukturfinanzierung einrichten
– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Thomas Lutze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Grundlegende Neuausrichtung der Ver-
kehrsinvestitionspolitik für Klima- und Um-
weltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerech-
tigkeit und neue Arbeitsplätze
– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Durch eine neue Investitionspolitik zu mehr
Verkehr auf der Schiene
– Drucksachen 17/5022, 17/1971, 17/1988,
17/8386 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Simmling
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Eine zukunftsorientierte Verkehrsinfrastruktur unddie damit verbundene Mobilität von Personen und Gü-tern bildet eine entscheidende Grundlage für denWohlstand in unserem Land. Das stellt auch die SPD inihrem Antrag fest. Da es der christlich-liberalen Ko-alition in den letzten Jahren gelungen ist, Wachstum zukreieren, Beschäftigung zu schaffen und Arbeitslosig-keit drastisch abzubauen, haben wir nach der Defini-tion der SPD eine gute Verkehrsinfrastruktur geschaf-fen und eine gute Verkehrspolitik betrieben. Für diesesLob möchten wir uns bedanken.Ja, Deutschland ist mit seinen geringen Rohstoffre-serven, der zentralen Lage in der Mitte Europas undseiner sehr exportorientierten Wirtschaft auf eine leis-tungsfähige und moderne Infrastruktur angewiesen.Deshalb hat diese Bundesregierung große Anstrengun-gen unternommen, die Verkehrsinfrastruktur nicht nurzu erhalten, sondern auch auszubauen. Auch aus die-sem Grunde haben wir die Infrastrukturbeschleuni-gungsprogramme I und II in Milliardenhöhe gestartet,um den Ausbau voranzutreiben.Sie sehen, wir bauen unsere Infrastruktur immerweiter aus. Wir ruhen uns nicht auf den Erfolgen derVergangenheit aus, sondern passen die Verkehrspolitikimmer wieder den neuen Gegebenheiten an. Deshalbarbeiten wir derzeit am Bundesverkehrswegeplan2015. Gemeinsam mit den Ländern erstellt das Bun-desverkehrsministerium ein Konzept für die Zukunft;denn wir wissen, dass eine leistungsfähige Verkehrsin-frastruktur das Rückgrat eines starken und dynami-schen Wirtschaftsstandortes Deutschland ist.Aber wir haben natürlich auch die Haushaltskonso-lidierung und insbesondere die Schuldenbremse zu be-rücksichtigen. Plan- und maßlose Forderungen aufzu-stellen, ist einfach unseriös. Die Linken stellen einenForderungskatalog auf, ohne zu berücksichtigen, dassdie Haushaltskonsolidierung die Höhe des Gesamt-und Verkehrsetats massiv beschränkt. Einen Wunsch-katalog abgeben ohne Rücksicht auf die Kosten, ist zueinfach und bei den Linken rein ideologisch motiviert.Zudem sind die Forderungen teilweise von der Realitätüberholt. So hat die Bundesregierung eine Förderungder Investitionen in den Ersatz der Schienenwege deröffentlichen nicht bundeseigenen Eisenbahnen imSchienengüterfernverkehrsnetz schon längst beschlos-sen.Wir wissen, dass die Bahn eines der umweltfreund-lichsten Verkehrsmittel ist, das Fahrrad einmal ausge-nommen. Weder Pkw noch Lkw, geschweige denn dasFlugzeug, sind so klimaschonend wie die Bahn; dennsie weist unter dem Gesichtspunkt Energieeffizienzeindeutige Vorteile auf.Deshalb ist es auch im Interesse des Umwelt- undKlimaschutzes unser Ziel, einen großen Teil des in Zu-kunft zusätzlich anfallenden Güterverkehrsaufkom-mens auf die Schiene zu verlagern. Auch dies gehört zuunserem Konzept zur Vermeidung von CO2-Emissio-nen und zum Erreichen unserer Klimaschutzziele. DieBahn der Zukunft wird in diesem Zusammenhang eineherausragende Rolle spielen. Wir wissen, dass es bis2025 im Personenverkehr einen Zuwachs von circa26 Prozent und im Güterverkehr von circa 65 Prozentgeben wird.Aus diesem Grund setzen wir uns auch für den Aus-bau des Schienennetzes ein, um mehr Güter auf dieSchiene zu bekommen, um mehr Menschen zu gewin-nen, das Auto stehen zu lassen und mit den öffentlichenVerkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28547
Ulrich Lange
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Um die Bahn aber wirklich attraktiver zu machen,ist es notwendig, das Schienennetz auszubauen. Undgenau hier setzt meine Kritik an den Grünen an. InBerlin stellen sich die Grünen hin und fordern denAusbau zahlreicher Schienenwege, sowohl für denPersonen- als auch für den Güterverkehr. Wenn esdann aber vor Ort um die konkrete Umsetzung geht,tauchen die Grünen nicht einfach unter. Nein, siewechseln die Position und sind auf der Seite der Aus-baugegner zu finden. Teilweise organisieren die Grü-nen den Widerstand sogar. Gründe lassen sich immerfinden. Mal ist es ein Biotop, das nicht berührt, dannist es ein wertvoller Wald, der nicht beeinträchtigtwerden darf.Es stellt sich die Frage: Ist es Taktik? Fehlt denGrünen einfach der Gesamtüberblick und verlieren siesich im Kleinklein, oder ist es Politikstrategie und Ar-beitsteilung: In Berlin für den Ausbau, vor Ort gegenjegliche Änderungen?Es gibt noch Baustellen, an denen wir arbeiten.Derzeit verhandeln wir die Fortsetzung der Leistungs-und Finanzierungsvereinbarung sowie des Eisenbahn-regulierungsgesetzes. Seien Sie versichert, dass dieseKoalition auch weiterhin sicherstellen wird, dass In-vestitionen in unsere Verkehrsinfrastruktur dorthin ge-lenkt werden, wo sie den größten Nutzen für unsereBürgerinnen und Bürger und unsere Wirtschaft haben.
Ich danke Ihnen ausdrücklich für die heutigeDebatte, in der wir uns mit unserer Verkehrsinfrastruk-tur und ihrer Weiterentwicklung beschäftigen. GebenSie uns damit doch die Gelegenheit, einmal aufzuzei-gen, wie erfolgreich wir doch in den letzten dreiein-halb Jahren die Infrastrukturpolitik in diesem Landweiter nach vorne gebracht haben – und das trotz gro-ßer Herausforderungen im Rahmen der Haushaltskon-solidierung.Während andere vorher unsere Infrastruktur aufVerschleiß gefahren haben, hat die unionsgeführteBundesregierung in der Infrastrukturpolitik eindeutigdem Erhalt Priorität eingeräumt, also Erhalt vorAusbau. So haben wir die Mittel für Erhalt und Sanie-rung massiv aufgestockt. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen. Wenn dort aktuell Brückensperrungen ander A 1 vorgenommen werden müssen und teilweiseBrücken für den Schwerlastverkehr nicht befahrbarsind, dann sind das heute die Folgen Ihrer Politik,nicht rechtzeitig investiert zu haben. Die enormenStaus im Kölner Raum und anderswo, die aktuell täg-lich gemeldet werden, sind nicht nur eine Belastungfür Mensch und Umwelt, sie verursachen auch einennicht bezifferbaren volkswirtschaftlichen Schaden undsind das Erbe eines Jahrzehnts SPD-dominierter Ver-kehrspolitik. Hingegen danke ich unserem Ministerausdrücklich, dass er sich mit dem Brückensanie-rungsprogramm dieser Thematik angenommen hat,und hoffe sehr, dass so weitere Brückensperrungenvermieden werden können.Bei engen finanziellen Spielräumen stehen bei denBedarfsmaßnahmen die Engpässe, Verkehrsknoten so-wie Lückenschlüsse ganz oben auf der Agenda. Mitden vorhandenen Investitionsmitteln gilt es vor allem,die Qualität der Bestandsnetze von Schiene, Straßeund Wasserwegen zu sichern. Mit Blick auf die schonerwähnte Haushaltskonsolidierung sind wir stolz, dasses uns in den vergangenen Jahren gelungen ist, die In-vestitionslinie auf hohem Niveau über 10 MilliardenEuro zu verstetigen. Mit den Infrastrukturbeschleuni-gungsprogrammen haben wir in den letzten beidenJahren noch einmal fast 2 Milliarden Euro zusätzlichzur Verfügung stellen können.Das sind deutlich mehr investive Mittel für die Ver-kehrsinfrastruktur als in den Jahren vor der Krise, unddas ist ein Erfolg, den wir uns auch hier und heute indieser Debatte nicht zerreden lassen!Mit Blick auf die Substanzerhaltung unserer Ver-kehrswege stehen wir natürlich auch neueren Ansätzender Optimierung von Bestand und Ausbau mit großemInteresse gegenüber, vor allem wenn sie Einsparpoten-zial und mehr Transparenz bieten. Hier sind öffentlich-private Partnerschaften ein ausgezeichneter Ansatz.Dazu bringen die Koalitionsfraktionen in dieserWoche einen Antrag ein. Nach den ersten vier erfolg-reichen Pilotprojekten läuft die zweite Staffel mit wei-teren acht teilweise modifizierten Projekten. Durch dieBündelung der baubedingten Staus auf einen kürzerenZeitraum ist ÖPP von enormem volkswirtschaftlichemNutzen und eine echte wirtschaftliche Alternative zumkonventionellen Bau.Allerdings sehen auch wir Verbesserungspotenziale:So gilt es, die Transparenz zu erhöhen; denn Transpa-renz schafft mehr Akzeptanz. Hierzu zählen genausoeine frühzeitige Information und Beteiligung der Öf-fentlichkeit wie auch eine möglichst weitreichendeTransparenz während der Betriebsphase. Mehr Infor-mation, mehr Kommunikation, mehr Dialog zwischenAuftraggeber, Öffentlichkeit und Betroffenen vor Ortsollen die Variante öffentlich-privater Partnerschaftnoch attraktiver machen.Interessant ist, dass auch die SPD im heute debat-tierten Antrag die Fortentwicklung dieser Beschaf-fungsvariante fordert, unter anderem auch in meinemHeimatland Nordrhein-Westfalen, jedoch weiter Vor-behalte gegen diese Variante des Ausbaus äußert. ÖPPist schon jetzt eine Erfolgsgeschichte, und die christ-lich-liberale Koalition hat ÖPP weiter vorangebracht.Mehr Transparenz hat die Koalition auch mit demFinanzierungskreislauf Straße hergestellt, und das istgut so! Die Koalitionsvereinbarung der christlich-libe-ralen Regierung sieht einen Prüfauftrag zur Herstel-lung eines Finanzierungskreislaufs Straße unter direk-ter Zuweisung der Lkw-Maut an die VIFG vor. Genaudas haben wir umgesetzt. Die Einnahmen aus derLkw-Maut fließen jetzt eins zu eins zurück in dieStraße. Mit Interesse schauen wir auf die Ergebnisseder Daehre-Kommission. Gleichwohl gilt es, richtigeZu Protokoll gegebene Reden
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28548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Reinhold Sendker
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Ansätze zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zusam-menzuführen und die Lasten gezielt zu verteilen.Ferner gilt es, den gegebenen Rechtsrahmen zu be-rücksichtigen. Diese Koalition kämpft um mehr Mittelfür die Verkehrsinfrastruktur. In dieser Legislatur ha-ben wir viel erreicht; diese erfolgreiche Politik werdenwir in den nächsten Jahren fortsetzen!
Mit der heutigen Debatte über die uns vorliegendeBeschlussempfehlung schließt sich der Kreis einer seitdem Beginn der Legislaturperiode laufenden Diskus-sion über die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur fürunser Land und die dafür notwendige Finanzierung.Die heutige Diskussion gibt uns die Chance, eine Bi-lanz der schwarz-gelben Bundesregierung und der sietragenden Regierungskoalition von CDU/CSU undFDP in der Verkehrspolitik zu ziehen.Bereits vor zwei Jahren hat die SPD-Bundestags-fraktion allen Fraktionen im Deutschen Bundestagvorgeschlagen, in einer konzertierten Aktion eine Zu-kunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinan-zierung in Deutschland einzurichten. Unser Ziel wares, den damals nach wenigen Monaten bereits vorhan-denen Stillstand in der Verkehrspolitik zu überwinden,der mit dem damals neuen BundesverkehrsministerDr. Peter Ramsauer und der schwarz-gelben Regie-rungskoalition eingetreten war.Ich denke, damals wie heute sind wir uns fraktions-übergreifend einig, dass eine gute Verkehrsinfrastruk-tur das wirtschaftliche Wachstum, Beschäftigung undWohlstand in Deutschland sichert. Sie ermöglicht einebezahlbare Mobilität für alle und garantiert den Un-ternehmen, den Transport ihrer Waren und Produktesicher zu organisieren. Sie sichert den Menschen inunserem Land gesellschaftliche Teilhabe am öffentli-chen Leben wie auch die notwendige räumliche Flexi-bilität, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können.Obwohl die Verkehrspolitiker von CDU/CSU undFDP in dem ersten Entwurf des Koalitionsvertrags imHerbst 2009 bereits den Vorschlag einer Regierungs-kommission selbst in die Diskussion gebracht hatten,hat die Mehrheit der Regierungskoalition im Verkehrs-ausschuss des Deutschen Bundestages unseren Vor-schlag nicht aufgegriffen und unseren Antrag abge-lehnt. Bereits damals wurde offensichtlich, dass esBundesverkehrsminister Peter Ramsauer an dem not-wendigen Mut fehlt, sich den drängenden Fragen einermodernen Politik für die Verkehrsinfrastruktur und de-ren Finanzierung zu stellen. Dabei war die schwarz-gelbe Regierungskoalition ambitioniert gestartet. Inden Verhandlungen des Verkehrshaushalts im Früh-jahr 2010 forderten die Vertreter von CDU/CSU undFDP im Verkehrsausschuss mit einem eigenen Antragden Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer auf, einFinanzierungskonzept vorzulegen. Dabei definiertensie Eckpunkte.Schauen wir heute gemeinsam zurück auf die Zeitder schwarz-gelben Bundesregierung und die Bilanz inder Verkehrspolitik seit 2009, erkennen wir eine große,weite Leere. Zentrale Forderungen des Koalitionsver-trags waren schon in der ersten Hälfte der Legislatur-periode klammheimlich beerdigt worden. Es fehlte dieKraft, sie ernsthaft – auch im Konflikt mit dem Bundes-umweltminister oder Bundesfinanzminister – durchzu-setzen.Ich will an dieser Stelle nur einige Punkte aufzäh-len: Die Kreditfähigkeit der Verkehrsinfrastrukturfi-nanzierungsgesellschaft, VIFG, kommt nicht. Die Di-rektzuweisung der Lkw-Maut an die VIFG kommtnicht. Der sogenannte Finanzierungskreislauf Straßeist Verkehrspolitik aus dem 20. Jahrhundert. Mit gro-ßem Impetus verkündet, besteht er de facto nur aufdem Blatt Papier und wird bei sinkenden Lkw-Maut-einnahmen zum Bumerang, der den VerkehrsträgerStraße und den dort notwendigen Investitionen massivschadet. Eine klare Prioritätensetzung bei den Projek-ten des Bundesverkehrswegeplans heißt bei Bundes-verkehrsminister Ramsauer, die Investitionsmittelnach Gutsherrenart zu verteilen. Bei dem Ausbau vonÖPP-Projekten verheddert sich der Bundesverkehrs-minister mit intransparenten Wirtschaftlichkeitsunter-suchungen, und die Regierungsfraktionen brauchenüber drei Jahre, um in einem Antrag ihre eigene Posi-tion im Deutschen Bundestag zum Thema zu finden.Bei der Abstufung von Bundesfernstraßen schafft esder Bundesverkehrsminister, sich mit den Bundeslän-dern lediglich auf rund 2 000 Kilometer zu einigen.Möglich und notwendig wäre eine Länge von bis zu20 000 Kilometern. Die Einführung einer Leistungs-und Finanzierungsvereinbarung, LuFV, Straße ist imGestrüpp von Zuständigkeiten zwischen Bundesver-kehrsministerium, externen Beratern und Bundeslän-dern geendet. Ob die geplanten Modellvorhaben dennotwendigen Erfolg bringen, ist mehr als zweifelhaft.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-rungskoalition, ich habe damals nicht verstanden, wa-rum Sie als Vertreter der Regierungskoalition auf un-seren Vorschlag nicht eingegangen sind. Das magsicherlich dem Reflex geschuldet sein, dass man Vor-schläge einer Oppositionsfraktion pflichtschuldig vonvornherein ablehnt. Dass die Bundesregierung jedochdem mit schwarz-gelber Mehrheit beschlossenen Auf-trag des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundes-tages vom Frühjahr 2010 nicht nachgekommen ist undein umfassendes Konzept zur Finanzierung unsererVerkehrsinfrastruktur verweigert hat, finde ich igno-rant.Ich bin mir sicher, dass Sie vor drei Jahren eineChance verpasst haben. Die Diskussion über ein zu-kunftsfähiges Konzept wurde damit nicht dort geführt,wo sie hingehört: in die Bundesregierung und in denDeutschen Bundestag. Es bildeten sich Nebenschau-plätze wie die Daehre-Kommission der Verkehrsminis-terkonferenz. In letzter Konsequenz haben sich Bun-desverkehrsminister Peter Ramsauer und die schwarz-gelbe Regierungskoalition aus der Diskussion übereine auskömmliche Finanzierung unserer Verkehrsin-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28549
Sören Bartol
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frastruktur und die dafür notwendigen Strukturrefor-men verabschiedet. Damit haben die Vertreter vonCDU/CSU und FDP einen Stillstand der Verkehrspoli-tik zu verantworten, der einzigartig ist.Während der Bundesverkehrsminister zu schwachwar, entscheidende Reformen auf den Weg zu bringen,ist die SPD-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundes-tag aktiv geworden. Unser Ziel: ein neuer gesellschaft-licher Konsens für unsere Verkehrsinfrastruktur. Mitunserem Projekt „Infrastrukturkonsens 2020“ hatmeine Fraktion einen neuen Politikstil bestritten: NeuePolitikinhalte haben wir im regelmäßigen Dialog mitBürgerinnen und Bürger wie auch mit Vertretern vonVerbänden und Unternehmen entwickelt, breit disku-tiert und in neuen Konzeptpapieren vorgelegt.Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer kannte inden letzten Jahren nur eine Debatte: die Einführungder Pkw-Maut. Damit stellte er die weitere Belastungder Nutzer in den Vordergrund. Wir haben eine andereReihenfolge der Diskussion gewählt: Wir haben erstüber das „Was“ und die Prioritäten diskutiert und da-mit eine breite Basis für einen Konsens gelegt, welcheVerkehrsprojekte vorrangig finanziert werden sollten.Darauf aufbauend haben wir mit allen Beteiligten überdas „Wie“ diskutiert und damit über notwendigeStrukturreformen gesprochen, die für eine effektiveVerwendung der Mittel notwendig sind. Aus meinerSicht sind diese beiden Schritte die Voraussetzung da-für, dass wir mit allen Vertretern von Verbänden undUnternehmen über neue Modelle der Finanzierung re-den können. Auch hier haben wir in dieser Woche un-sere Vorschläge vorgelegt.Die SPD-Bundestagsfraktion ist bereit. Wir wollennach vier Jahren Stillstand in der deutschen Verkehrs-politik wieder die Verantwortung in unserem Landübernehmen. Unsere Vorschläge liegen für alle trans-parent auf dem Tisch. Alle Bürgerinnen und Bürger inunserem Land wissen, was wir wollen. Während Bun-desverkehrsminister Peter Ramsauer ideenlos in Rich-tung Bundestagswahl stolpert, machen wir konkreteVorschläge, die wir nach der Bundestagswahl am22. September 2013 umsetzen wollen. Das breite Inte-resse unter den Menschen in unserem Land, aber auchunter den Vertretern der Verbände und Unternehmenfür unsere Ideen des Projekts „Infrastrukturkonsens2020“ gibt uns recht: Wir haben die besseren Konzepteals die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP. Wäh-rend dort Leere herrscht, ist unser Instrumentenkoffervoll gefüllt.Das Konzept zur Bürgerbeteiligung und Planungs-beschleunigung ist ein gutes Bespiel dafür, wie es unsgelungen ist, in der Verkehrspolitik einen neuen Kon-sens zu schaffen und zugleich eine Vorreiterrolle zuübernehmen. Denn wir waren die Ersten im Bund, dieein solches Konzept vorgelegt haben.Wir ziehen damit die Konsequenzen aus den gesell-schaftlichen Konflikten aus Großvorhaben wie Stutt-gart 21. Aber nicht in dem Sinne, dass wir diese ver-hindern wollen, sondern dass wir sagen: Die für unserLand notwendige Infrastruktur schaffen wir nur, wennwir sie frühzeitig zusammen mit den Bürgerinnen undBürgern diskutieren und auf den Weg bringen.Das Konzept enthält deshalb konkrete Vorschläge,wie die Bürgerbeteiligung bei Planungsverfahren durchfrühzeitige Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürgerverbessert und zugleich Planungsverfahren beschleu-nigt werden können. Es geht uns um eine neue Kommu-nikations- und Planungskultur, Transparenz statt Pla-nung hinter verschlossenen Türen und einen Dialogauf Augenhöhe. Bürgerbeteiligung und Planungsbe-schleunigung sind dabei für uns keine Gegensätze. Wirmachen eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie sich Pla-nungen weiter verkürzen lassen. So sollten wir Dopp-lungen bei der Untersuchung der Umweltverträglich-keit vermeiden.Wir sind aber überzeugt, dass wir die Gesamtpla-nungs- und Umsetzungszeiten gerade für umstritteneProjekte am besten dadurch verkürzen, dass wir dieBürgerinnen und Bürger frühzeitig in Entscheidungenüber Infrastrukturvorhaben einbinden und Transpa-renz über die Planung herstellen.Dies betrifft sowohl die Entscheidung bei der Bun-desverkehrswegeplanung, welche Projekte überhauptgebaut werden, also auch die Festlegung der konkre-ten Trassen und der Dimensionierung. Hier wollen wirim Fachplanungsrecht die Verpflichtung aufnehmen,dass alle interessierten Bürgerinnen und Bürger beiNeubauvorhaben bereits vor dem Planfeststellungs-verfahren zu beteiligen sind. Wir sind dabei derMeinung, dass man es Behörden und öffentlichenPlanungsträgern nicht freistellen kann, ob sie nun dieBürgerinnen und Bürger beteiligen oder nicht. Wirbrauchen vielmehr verbindliche Standards; denn nurdann haben die Bauträger auch Rechtssicherheit.Ich will mit Blick auf die Finanzierung unserer Bun-desverkehrswege aber auch betonen: Wir müssen unsvon der Illusion verabschieden, dass jedes Wunschpro-jekt finanzierbar ist, wenn man nur lange genug war-tet. Verkehrspolitik muss im eigentlichen Wortsinn wie-der Wirtschaftspolitik werden. Wirtschaftlich handelnbedeutet: mit knappen Mitteln möglichst viel Nutzenherausholen. Und: Wir müssen deutlich effizienterbauen mit einer überjährigen Projektfinanzierung undeinem verbesserten Management.Am Ende werden wir jedoch auch bei einer klarenPrioritätensetzung und einer realistischen Projektpla-nung mehr Geld benötigen. Baukostensteigerungen,Bürgerbeteiligung, verbesserter Lärmschutz erhöhenin der Summe die Kosten der einzelnen Projekte. EineErhöhung des Etats innerhalb des Rahmens der Schul-denbremse kann aber nur unter der Beteiligung derSteuerzahler und der Nutzer erfolgen.Allein durch das Umschichten von Mitteln im Bun-deshaushalt werden wir eine auskömmliche Finanzie-rung nicht erreichen. Die SPD-Bundestagsfraktionschlägt daher vor, die Steuern dort, wo es verträglichZu Protokoll gegebene Reden
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Sören Bartol
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ist, für einige wenige zu erhöhen und einen Teil derMehreinnahmen in unsere Verkehrswege zu investie-ren. Das wird jedoch auch nicht ausreichen. Bei derLkw-Maut sehe ich daher grundsätzlichen Überprü-fungsbedarf. Wir werden nach dem vierjährigen Maut-moratorium in der nächsten Legislaturperiode dieLkw-Maut fortentwickeln müssen. Dies gilt übrigensfür alle möglichen Regierungsparteien von FDP überUnion bis zu den Grünen. Unser Ziel ist die Ausdeh-nung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen. Ich hoffe,dass die aktuelle Bundesregierung einer neuen Folge-regierung die dafür notwendigen Voraussetzungenhinterlässt. Das sich andeutende Desaster um dieNachfolge des derzeit geltenden Maut-Konzessions-vertrags mit dem Unternehmen Toll Collect lässt michSchlimmstes erwarten.In dieser Legislaturperiode haben sich die Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP einer Reformdebatte ver-weigert. Ich hoffe, dass sich dies in der kommendenLegislaturperiode nicht fortsetzen wird. Noch einmalkönnen wir uns vier verschenkte Jahre nicht leisten.
Die uns vorliegenden Anträge der Oppositionsfrak-tionen beziehen sich nicht auf punktuelle Änderungenin der Verkehrspolitik, sondern befassen sich – indemsie die Infrastruktur thematisieren – mit ganz grund-sätzlichen Weichenstellungen der Verkehrspolitik. Neusind uns allerdings Ihre Positionen nicht. Sie werdenvon Ihnen in regelmäßigen Abständen übermittelt, undso kommt es mir vor, als hätte ich diese Rede in Reaktionauf Ihre Forderungen schon einige Male gehalten.Was mir insbesondere an dem Antrag der SPD deut-lich missfällt, ist, dass Sie auf der einen Seite eingrundsätzlich neues Konzept der Verkehrsinvestitions-politik fordern, auf der anderen Seite aber wenig kon-krete Vorschläge anbieten. Vollmundig sprechen Sievon einem Stillstand in der Verkehrspolitik, ohne aberaufzuzeigen, an welchen Stellschrauben Ihrer Meinungnach gedreht werden müsste. Sie fällen Globalurteile,aber bieten keine Lösungsvorschläge. Wie Sie selbstwissen, orientiert sich die effektive Politikgestaltungan dem politisch Machbaren. Ihr Antrag ist daherWahlkampf, aber keine ernsthafte Auseinandersetzungmit den verkehrspolitischen Notwendigkeiten.Was davon abgesehen aber sicherlich zu konstatie-ren ist, sind die zentralen Probleme der Infrastruktur-politik. Über diese herrscht auch durchaus interfrak-tioneller Konsens. Dabei handelt es sich erstens umdie frappierende Unterfinanzierung der Verkehrsinfra-struktur, die bereits seit vielen Jahren die Regierungenbeschäftigt, zweitens die unbedingte Notwendigkeitvon Effizienz im Mitteleinsatz und drittens die zuneh-menden Anforderungen an ökologische Kriterien. DieseFeststellungen dürfen wohl als „common sense“ be-zeichnet werden. Vor uns hat sie bereits die Pällmann-Kommission artikuliert, und die jetzige Bundesregie-rung hat sie in den Koalitionsvertrag geschrieben.Was Sie bei aller Fundamentalkritik in Ihren Anträ-gen allerdings unterschlagen, sind die maßgeblichenSchritte, die bereits eingeleitet worden sind!Erstens. Die Bundesregierung hat jüngst ihre Neu-konzeption des Bundesverkehrswegeplanes vorgelegt.Der nächste BVWP gilt als entscheidende Richtschnurfür die zukünftige Infrastrukturentwicklung, und erwird dank der aktuellen Bundesregierung das ersteMal eine effiziente Gesamtnetzplanung darstellen. Dieneue Grundkonzeption legt eine verkehrsträgerüber-greifende Netzstrategie fest, sodass den verkehrlichenAnforderungen sehr viel besser entsprochen werdenkann.Wichtigste Aufgabe in der Grundkonzeption ist dieEntwicklung von Kriterien zur Priorisierung der Ver-kehrsinfrastrukturinvestitionen, um ein realistischesund finanzierbares Gesamtkonzept aufzustellen. Kern-stück des Regierungsvorschlags ist daher die bedarfs-gerechte Priorisierungsstrategie, die jetzt zuerst demErhalt die nötige Priorität vor dem Neu- und Ausbauzusichert und dann erst die verbleibenden Finanzmit-tel auf die drei Verkehrsträger verteilt – und dies nichtnach ideologischen Kriterien, so wie es Oppositions-politik ist, sondern nach dem Kriterium der Gesamt-wirkung des Budgetplans. Das beinhaltet die Auftei-lung des Budgets sowohl aus gesamtwirtschaftlicherals auch aus umwelt- und naturschutzfachlicher Sicht.Um weiterhin sicherzustellen, dass die Projekte in-nerhalb der einzelnen Verkehrsträger nach Umset-zungsdringlichkeit unterschieden werden, wird einezusätzliche Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher BedarfPlus“ eingeführt. Darunter werden die Projekte zu-sammengefasst, die aus fachlicher Sicht eine hohe Be-deutung haben. Die Länderquoten sind damit ein gro-ßes Stück weit ausgehebelt! Die Grundkonzeption derBundesregierung ermöglicht so eine Mittelverwendungnach Bedarf und nicht nach Proporz!Zweitens. Auch das Thema Finanzierung ist dieBundesregierung angegangen. Es ist unumstritten,dass die Umstellung auf die sogenannte Nutzerfinan-zierung im Sinne des Mittelzuwachses wäre, dass aberdie Einführung weiterer Fahrzeugklassen oder zusätz-licher Straßen, die mit der Maut taxiert würden, alshochkompliziertes Unterfangen gilt. Die Ausweitungder Maut ist sowohl technisch risikobehaftet als auchein ernsthaftes Akzeptanzproblem in der autofahrendenBevölkerung. Rot-Grün stand in seinen vergangenenAmtszeiten bekanntlich vor denselben Herausforderun-gen und hat in sieben Jahren Regierungsverantwortungdas Problem nicht gelöst. Wir sind in dieser Legisla-turperiode hingegen schon einige wichtige Schritte ge-gangen.Am 15. April 2011 hat der Deutsche Bundestag denGesetzentwurf zur Neuregelung mautrechtlicher Vor-schriften für Bundesfernstraßen angenommen. Die Ein-führung der Bundesstraßenmaut wurde zum 1. August2012 umgesetzt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Werner Simmling
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Sie artikulieren an dieser Stelle gerne den Vorwurf:Die Einführung eines Finanzierungskreislaufes Straßedurch die Bundesregierung, der die Einnahmen ausder Lkw-Maut lediglich für Investitionen in die Straßevorsieht, schwächt das Gesamtverkehrsnetz und machtdie Schiene damit komplett von den Steuereinahmender öffentlichen Hand abhängig. Wir sagen: DieSchiene hat gezeigt, dass es positiv sein kann, wennMautmittel, also Trassenentgelte , fürInvestitionen zur Verfügung stehen, weil sie von denBegehrlichkeiten der jährlichen Haushaltsplanungentkoppelt werden und ein verlässlicher Finanzierungs-kreislauf entsteht.Die Straße ist erheblich konjunkturanfälliger als dieSchiene – eine verlässlichere Finanzierungsgrundlagefür die Unterhaltung und den Ausbau der Bundesfern-straßen ist entsprechend dringlich. Den Finanzie-rungskreislauf Straße hat man uns zu verdanken.In dem Kontext sei noch bemerkt: Wir ergänzen diefehlenden Mautmittel bei Schiene und Wasserstraßedurch zusätzliche Haushaltsmittel.Der wirksamste und auch gerechtfertigte Weg, umdie Mittel für die Schiene zu erhöhen, ist die Kappungder Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge.Die FDP hält, wie auch die Europäische Kommission,an einer stärkeren Unabhängigkeit der DB Netz AGvon der Konzernmutter fest. Der integrierte Konzernkann zwar bestehen bleiben, aber nicht in der heutigenForm. Innerhalb der Bundesregierung gibt es keine ge-genteilige Festlegung. Aus Sicht der FDP ist eine stär-kere Unabhängigkeit des Netzes notwendig, um mehrWettbewerb auf die Schiene zu bringen und um einenunangemessenen Finanzmittelabfluss aus dem Netz zuverhindern.Drittens. Wir haben auch im ökologischen Kontexteine erhebliche Entscheidung gefällt. Die Grünen ar-gumentieren doch gerne, dass die Verlagerung trans-portierter Güter von der Straße auf die Schiene einesder wichtigsten verkehrspolitischen Ziele sei, weil daseinen wichtigen Effekt im Sinne des Klimaschutzes be-deute. Um dieses Ziel zu erreichen – so ihre Argumen-tation weiter – müsste der Schutz von Bahnlärm ver-bessert und der Schienenbonus abgeschafft werden.Und wie so oft bei den Anträgen der Opposition inder Vergangenheit ist die Regierungskoalition auchhier in ihren Überlegungen und Maßnahmen schonviel weiter. Wir, die Koalitionsfraktionen von Unionund FDP, haben in unserem Antrag zum Ausbau derRheintalbahn die Abschaffung des Schienenbonus unddie Einführung lärmabhängiger Trassenpreise im No-vember 2011 verankert und beschlossen. Es ist derBundesrat, der die Wirksamkeit des Beschlusses bis-lang hemmt.Mein Fazit auf Ihre Anträge ist also: Einer differen-zierten Betrachtungsweise halten Ihre Kritik und For-derungen nicht stand. Die Regierung hat bis hierhingute Arbeit geleistet.
Die Verkehrsinvestitionspolitik muss vom Kopf aufdie Füße gestellt werden. Es ist Unsinn, dem schädli-chen Verkehrswachstum hinterherzubauen. Ausgangs-punkt einer grundlegend neuen Ausrichtung müssenklare Zielvorgaben sein, denen der Einsatz der öffent-lichen Mittel dienen muss: Klima- und Umweltschutz,Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und gute Ar-beitsplätze.Die drei Oppositionsanträge zur Neuausrichtungder Verkehrsinvestitionspolitik stammen aus dem Juni2010. Wir werden unsere Positionen und Vorschlägesicher in der nächsten Wahlperiode wieder einbringen.Die Chance, einen Richtungswechsel einzuleiten– weg vom Straßen- und Flugverkehr, weg von Ver-kehrswachstum, hin zur Schiene und Verkehrsvermei-dung –, hat diese Bundesregierung gänzlich vertan.Dass in der Verkehrsinvestitionspolitik einiges imArgen liegt, darüber sind sich alle einig. Bei derSchiene braucht es für die Realisierung des Bedarfs-plans noch fast 40 Milliarden Euro. Der Horizont liegthier also etwa beim Jahr 2050. Das macht keinen Sinn,das weiß eigentlich auch jede und jeder, nur sträubtsich die Regierung vor dem Offenbarungseid.Bei der Straße sieht es nicht besser aus. Eine Ant-wort auf eine Nachfrage zum Haushalt 2010 ergab,dass derzeit planfestgestellte Projekte mit einem Volu-men von knapp 3,5 Milliarden Euro nicht gebaut wer-den können. 2012 können keine neuen Projekte in denStraßenbauplan aufgenommen werden.Während aber die Koalition und leider auch dieSPD Defizite vor allem darin sehen, dass es zu wenigMittel für den „bedarfsgerechten Ausbau“ der Ver-kehrsinfrastruktur gibt, ziehen wir grundsätzlich an-dere Schlussfolgerungen aus der derzeit offenkundigenmisslichen Lage: Die Lösung besteht nicht darin, mehrGeld ins System zu pumpen. Nein, es geht auch hierums UmFAIRteilen – nach sozial-ökologischen Krite-rien.Weil die Teilhabe aller Menschen an Mobilität mitden Erfordernissen von Klima- und Umweltschutz ver-bunden werden muss, ist eine weitgehende Abkehr vomNeu- und Ausbau von Straßen hin zum deutlichen Aus-bau des öffentlichen Verkehrsangebotes und der Ver-besserung der Bedingungen des nichtmotorisiertenVerkehrs nötig.Der am meisten klimaschädliche Flugverkehr weistseit Jahren die größten Zuwachsraten auf. EineVulkanaschewolke hat sichtbar gemacht, dass mehrals die Hälfte aller Flüge innereuropäisch sind; einViertel ist innerdeutscher Luftverkehr. Statt des unko-ordinierten und hochsubventionierten Ausbaus von
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richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck
, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Nationale Stelle zur Verhütung von Folter
stärken
– Drucksachen 17/11207, 17/12730 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Christoph Strässer
Marina Schuster
Katrin Werner
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle
zur Verhütung von Folter
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Jahresbericht 2010/2011 der Nationalen
Stelle zur Verhütung von Folter
– Drucksachen 17/3134, 17/3578 Nr. 1.2, 17/9377,
17/9802 Nr. 5, 17/10085 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Christoph Strässer
Marina Schuster
Katrin Werner
Volker Beck
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.
Auch wenn heute ein eher formales Thema auf der
Tagesordnung steht, nämlich die finanzielle Ausstat-
tung einer Bundesstelle, so steht dahinter doch nicht
weniger als ein Thema von hoher Brisanz und men-
schenrechtlicher sowie völkerrechtlicher Relevanz:
Wir reden über Folter.
Folter zerstört Leben. Wer Menschen foltert, zielt
darauf ab, eine Persönlichkeit in ihrer Substanz zu er-
schüttern und zerstören. Professor Volker Faust führt
Rede von: Unbekanntinfo_outline
„Umihr Ziel zu erreichen, gehen die Folterer planmäßigvor. Die psychische Zermürbung muss schrittweise er-folgen. Das ist ein genau kalkulierter Prozess, der kalt-blütig und den individuellen Eigenschaften des jeweili-gen Opfers entsprechend durchgeführt wird. Es hättewenig Sinn, sofort mit den härtesten Maßnahmen zubeginnen. Dem Opfer muss man genügend Zeit lassen,damit es die Qualen und Erniedrigungen ausgiebig er-lebt, sich mit ihnen identifiziert und stückweise denWillen zum Widerstand verliert: ‚Zuerst dachte ich, siewürden mich totschlagen, darauf war ich gefasst. Undhätten sie es doch nur getan. Aber das schlimmste wa-ren die Pausen‘ . Der Gefolterte muss völlighilflos jeden inneren Halt und jedes Selbstbewusstseinverlieren, er muss weinen und um Gnade betteln, ermuss in panischer, unkontrollierter Angst Urin undStuhl lassen, er muss wünschen, endlich getötet zuwerden, anstatt so dahinzuvegetieren. Grausamer alsder Schmerz ist oft auch das Alleinsein nach der Fol-ter. Dabei wird man fast verrückt. Man fühlt sich wieein Tier, abhängig von der Gnade seines sadistischenHerrn. So findet sich das Opfer selbst nach seiner Ent-lassung als körperlich noch irgendwie lebendig wie-der – jedoch seelisch zerstört. Das ist der Sinn der mo-dernen Folter.“Die Folgen von Folter können neben den augenfäl-ligen oder versteckten körperlichen Schädigungenauch vielfältige traumatische Störungen sein: phobi-sche Ängste, Lähmungen, Beziehungsstörungen, Schlaf-und Konzentrationsstörungen und vieles mehr. WerMenschen foltert, zerstört ihr Leben.Neben den Auswirkungen auf den einzelnen Men-schen hat Folter auch gravierende zivilisatorischeKonsequenzen. Folter ist ein Kernmerkmal jeder Dik-tatur. Eine Gesellschaft, die systematisch Folter an-wendet, schüchtert die Menschen ein, verunsichert siein ihrem Sicherheits- und Rechtsbewusstsein. Eine fol-ternde Regierung hintergeht die Rechtsstaatlichkeitauf perfide und grausame Weise, sei es, dass diese Fol-ter aktiv von staatlicher Gewalt angewendet wird, oderaber dass durch einen Staat Folter billigend in Kaufgenommen wird. Wer Folterer nicht strafrechtlich ver-folgt, macht sich zum Mittäter.Auch die Glaubwürdigkeit eines Rechtssystems wirddurch unter Folter erzielte Aussagen unterminiert. WerMenschen unter seelischen oder körperlichen Drucksetzt, um Informationen zu bekommen, kann sich ihresWahrheitsgehaltes nie wirklich sicher sein. Folter zer-stört Wahrheit und damit Rechtssicherheit.Daher verabschiedeten die Vereinten Nationen am10. Dezember 1984 vor dem Hintergrund der Allge-meinen Erklärung der Menschenrechte und dem Inter-nationalen Pakt über bürgerliche und politischeRechte eine völkerrechtlich verbindliche Anti-Folter-Konvention. Nach dieser Konvention bezeichnet Folter„jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlichgroße körperliche oder seelische Schmerzen oder Lei-
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Frank Heinrich
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den zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder ei-nem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu er-langen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlichvon ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafenoder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oderzu nötigen …“.Auch die Europäische Konvention zum Schutze derMenschenrechte enthält in Art. 3 ein niedergeschriebe-nes Folterverbot. Nach Art. 2, Abs. 1 der VN-Anti-Fol-ter-Konvention gibt es darüber hinaus eine Aufforde-rung zur Prävention von Folter: „Jeder Vertragsstaattrifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige,gerichtliche oder sonstige Maßnahmen, um Folterun-gen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Ge-bieten zu verhindern.“Auf dieser völkerrechtlichen Grundlage wurde dieBundesstelle zur Verhütung von Folter im November2008 eingerichtet und damit den VerpflichtungenDeutschlands nachgekommen. Dies stellt der vorlie-gende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auch fest.Allerdings nehmen die Verfasser und die NationaleStelle zur Verhütung von Folter eine zu geringe perso-nelle und auch multidisziplinär unausgewogene sowieeine mangelnde finanzielle Ausstattung der NationalenStelle zur Verhütung von Folter wahr. Und je nachMaßstab für die Notwendigkeiten der Auftragserfül-lung ist dies auch nachvollziehbar. Sie fordern dahereine Änderung der Verwaltungsvereinbarung des Bun-des und der Länder über die Nationale Stelle zur Ver-hütung von Folter, um die Mittel für diese erhöhen zukönnen.Die Stelle wird zu einem Drittel vom Bund und zuzwei Dritteln von den Ländern finanziert. Insgesamtstehen durch die gemeinsame Finanzierung von Bundund Ländern dieser nationalen Einrichtung zur Verhü-tung von Folter 300 000 Euro im Jahr 2013, wie auchschon 2012, zur Verfügung.Der Antrag schließt sich an den Änderungsantragzum Bundeshaushalt aus dem Monat September 2012an. Darin wurde eine Erhöhung des Ansatzes fürdie Nationale Stelle zur Verhütung von Folter von100 000 Euro – Einzelplan 07, Titel 63205 – auf300 000 Euro gefordert – eine legitime Forderung derOpposition, deren Angemessenheit hier allerdings zurDebatte steht.Was wir dabei nicht diskutieren – und ich bitte, diesfein säuberlich zu trennen –, ist die fachliche Qualitätund die Kompetenz der Mitarbeiter der Präventions-stelle, über deren Arbeit uns die Berichte vorliegenund über die ich mir bei Begegnungen im Bundestagund beim Besuch einer Justizvollzugsanstalt auch eineigenes Bild machen konnte. Hier wird hervorragendeArbeit geleistet!Doch nun zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.Die Bundesstelle hat durch die große Zahl der zu be-suchenden Gewahrsamseinrichtungen einen umfang-reichen Aufgabenbereich. Diese sind jedoch nicht in-nerhalb einer bestimmten Frist zu inspizieren. DieInspektion kann und soll spontan und stichprobenartigerfolgen. Die Erkenntnisse der Untersuchungen lassensich zusammenfassend positiv beschreiben: Die men-schenrechtliche Situation in den deutschen Gewahr-samseinrichtungen gibt keinen Anlass zur großenSorge. Die baulichen, fachlichen und personellenStandards in Deutschland sind, vor allem im Vergleichzu anderen Staaten der Welt, sehr hoch. Die menschen-rechtliche Situation Inhaftierter ist mindestens gut.Und sollte tatsächlich ein Verstoß gegen die Anti-Folter-Konvention vorliegen, bietet Deutschland allerechtsstaatlichen Mittel, sich dagegen zur Wehr zu set-zen, wie der Teilerfolg des Kindermörders MagnusGäfgen vor dem Europäischen Gerichtshof für Men-schenrechte, EGM, im vergangenen Jahr zeigte. Schonfür die Androhung von Folter durch Polizisten wurdedie Bundesrepublik verurteilt. Gerade dieser Einzelfallzeigt die Seltenheit entsprechender Vorkommnisse.Daher gilt: Prävention ist wichtig, eine Ausweitungder Arbeit der Bundesstelle ist angesichts der Fakten-lage zur Folter, der menschenrechtlichen Gesamtsitua-tion sowie der verfügbaren Rechtsmittel in Deutsch-land aber nicht notwendig. Insofern besteht auch füreine Erhöhung des Betrags im Haushalt kein aktuellerAnlass. Wir halten die momentane Praxis der Stichpro-ben und Reaktionen auf Hinweise für ausreichend, umdie Pflichten der VN-Anti-Folter-Konvention zu erfül-len.Das geht insbesondere aus den vorliegenden Jah-resberichten der Bundesstelle hervor. Im Jahresbericht2009/2010 wurden auf der Grundlage von Besuchenbei der Bundespolizei und der Bundeswehr sowie inZusammenarbeit mit der Länderkommission zur Ver-hütung von Folter Empfehlungen abgegeben. DieseEmpfehlungen zeigen, auf welch hohem Niveau derGewahrsam und der Strafvollzug in Deutschlanddurchgeführt werden. Tatsächliche Folter konnte nichterkannt werden, stattdessen wurden Empfehlungen wiedie nachfolgende gegeben: Bei künftigen Neubautensolle unbedingt auf einen Tageslichtzugang in den Ge-wahrsamszellen geachtet werden. Auch bei kurzfristi-gen Aufenthalten werde dies als dringend notwendigerachtet. Weiter heißt es, die Hausordnung solle durchdas Bundespolizeipräsidium in die gängigen Sprachenübersetzt und allen Dienststellen zur Verfügung ge-stellt werden.Beide Empfehlungen sind richtig und wichtig, ver-deutlichen aber, dass bereits stichprobenartige Besu-che durch die Mitarbeiter der Bundesstelle ausreichen,um die strukturellen Standards zu überprüfen und Ver-besserungen vorzuschlagen. Noch deutlicher sind dieFeststellungen im Jahresbericht 2010/2011: Nach Be-suchen von Einrichtungen der Bundespolizei und derBundeswehr gibt die Bundesstelle Empfehlungen ab.Dem Bericht zufolge wird die Beantwortung von Anre-gungen und Empfehlungen in der Regel hochrangigwahrgenommen, jedoch nicht immer zeitgerecht. DieAufsichtsbehörden zeigten sich jedoch häufig gegen-über den Empfehlungen sehr aufgeschlossen. LautZu Protokoll gegebene Reden
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Frank Heinrich
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dem Bericht sind keine Hinweise auf Folter oder ent-würdigende Behandlung festgestellt worden.All dies zeigt: Die Bundesstelle arbeitet gut, sie legtErgebnisse vor, und ihre Ergebnisse werden von denEmpfängern angemessen rezipiert und grundsätzlichumgesetzt, auch wenn es zu zeitlichen Verzögerungenkommt. Angesichts dieser Situation kann man nicht voneiner Unterfinanzierung der Bundesstelle zur Verhü-tung der Folter sprechen. Meine Fraktion lehnt denvorliegenden Antrag ab. Nichtsdestotrotz bleibt auchin Deutschland das Thema Folter auf der Agenda, unddas ist gut so. Wir dürfen hinter unser erreichtes Ni-veau nicht zurück. Daher begrüße ich ausdrücklich denBesuch des UN-Unterausschusses für Folterpräven-tion vom 8. bis 12. April in Deutschland. Bei diesemBesuch wird es auch um die Frage der Ausgestaltungund Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütungder Folter gehen.Die Justizministerkonferenz wird sich im Anschluss– am 24./25. April – ebenfalls mit der Ausstattung derNationalen Stelle beschäftigen. Sollten hier neue fi-nanzielle Notwendigkeiten sichtbar werden, zeigt sichauch meine Fraktion gesprächsbereit; denn eines giltes in aller Deutlichkeit zu sagen: Folter zerstört. Da-her ist sie zu verurteilen und zu unterbinden – um derMenschen willen und zum Schutze der Demokratie.
Ich möchte meiner Rede ein Zitat voranstellen, wel-ches Anliegen und Inhalt des Antrages, den wir heutedebattieren, ziemlich genau auf den Punkt bringt.Albert Schweitzer hat das Wichtigste dazu gesagt, wasman sagen kann; ich zitiere: „Das gute Beispiel istnicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen,es ist die einzige.“Ich möchte, dass Sie dieses Zitat im Hinterkopf be-halten, wenn wir über die Ausstattung unserer deut-schen Stelle zur Verhütung von Folter reden. WelchesBeispiel geben wir in einer Welt ab, in der der Ruf unddie Reputation von Rechtsstaatlichkeit, Demokratieund Menschenwürde gerade aufgrund des Verhaltenseben dieser Rechtsstaaten nicht nur in Konfliktregio-nen, sondern auch in ihren eigenen Gesellschaften aufdem Spiel stehen, in einer Situation, in der wir Deut-sche oft genug in Richtung anderer zeigen und auf dievollständige Umsetzung internationaler Menschen-rechtsnormen – zu Recht übrigens – drängen? Die Le-gitimität dazu haben wir aber nur dann, wenn wir auchzu Hause unsere Aufgaben erledigen.Die bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wies-baden angesiedelte Nationale Stelle zur Verhütung vonFolter besteht aus der 2008 eingerichteten Bundesstelleund der 2010 geschaffenen Länderkommission. Beidekooperieren eng miteinander. Die Bundesstelle ist fürdie etwa 360 Gewahrsamseinrichtungen des Bundes– Bundespolizei, Bundeswehr, Zoll – zuständig, dieLänderkommission für die weit über 1 000 Gewahr-samseinrichtungen der Länder – Polizei, Justiz, Psychia-trien, Heime.Grundlage der Nationalen Stelle zur Verhütung vonFolter ist das Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention. Für Deutschland ist es am 3. Januar 2009völkerrechtlich in Kraft getreten. Es verpflichtet Deutsch-land, einen nationalen Präventionsmechanismus füralle Einrichtungen zu schaffen, in denen Menschen dieFreiheit entzogen ist. Dies ist geschehen – aufgrundder föderalen Struktur institutionell und finanziellzweigleisig mit der Bundesstelle und der Länderkom-mission.Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter istlaut ihrem Bericht in Deutschland auf keine Anzeichenvon Folter gestoßen. Dies ist die gute Nachricht. Dieschlechte Nachricht ist, dass sie personell und finan-ziell absolut unzureichend ausgestattet ist und ihrengesetzlichen Auftrag nicht erfüllen kann. Die SPD-Fraktion hat die mangelhafte Ausstattung schon mehr-mals scharf kritisiert und bereits letzten Herbst bei denHaushaltsberatungen für 2012 eine Aufstockung bean-tragt. Und um dies noch einmal zu betonen und keinMissverständnis aufkommen zu lassen: Es geht nichtdarum, zu bezweifeln, dass in deutschen Gewahrsams-einrichtungen auf allen Ebenen hohe menschenrecht-liche Standards eingehalten werden. Es geht darum,dafür Sorge zu tragen, dass das auch so bleibt – es gehtum Prävention!Von Anbeginn an litt der nationale Präventionsme-chanismus in Deutschland an unzureichender finan-zieller und personeller Ausstattung. Bei einem Budget
Stelle mit fünf ehrenamtlichen Mitgliedern, einer Büro-kraft und drei wissenschaftlichen Mitarbeitern ihreumfangreichen Aufgaben nicht erfüllen. Damit ist dasZusatzprotokoll zwar möglicherweise formal umge-setzt, nicht aber materiell.Meine sehr geehrten Damen und Herren von derRegierungskoalition, in der Beschlussempfehlung zumAntrag der Grünen heißt es – ich zitiere: „Der Deut-sche Bundestag begrüßt die Empfehlungen der Natio-nalen Stelle zur Verhütung von Folter sowie das oftumgehende Aufgreifen und nachfolgende Umsetzender Empfehlungen durch die Bundes- und Länderein-richtungen. Die intensive Auseinandersetzung der zu-ständigen Bundes- und Ländereinrichtungen mit demBericht der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folterund die Umsetzung der Empfehlungen in einer Vielzahlvon Fällen sind Beleg für die große Bedeutung der Na-tionalen Stelle zur Verhütung von Folter innerhalbDeutschlands.“ Und weiter heißt es dort: „Der Deut-sche Bundestag zeigt sich erfreut, dass die NationaleStelle zur Verhütung von Folter nach eigener Aussage,auf allen Handlungsebenen auf Offenheit und positiveResonanz‘ gestoßen ist. Darüber hinaus nimmt derDeutsche Bundestag erfreut zur Kenntnis, dass derUN-Antifolterausschuss in seinem nach Art. 19 desÜbereinkommens vorgelegten Bericht die Schaffungder Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter aus-drücklich lobt.“Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28561
Christoph Strässer
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Aufgrund der totalen Unterfinanzierung dieserStelle müssen diese Freude und dieses Lob durch dieBundesregierung in den Ohren der Verantwortlichen,derjenigen, die den Auftrag zu erledigen haben, wieblanker Hohn klingen.Schlimmeres ist in der Stellungnahme der Unionnachzulesen. Zitat: „Nach Auskunft des Leiters derBundesstelle zur Verhütung von Folter, Klaus Lange-Lehngut, könnten in drei Jahren 10 Prozent der Ein-richtungen besucht werden. Möglicherweise habe diesja doch einen ausreichenden präventiven Effekt, schließ-lich verfahre man in anderen gesellschaftlichen Be-reichen genauso, so zum Beispiel in der Gastronomie.Es sei unmöglich, alle Restaurants und sonstigen gast-ronomischen Einrichtungen regelmäßig zu kontrollie-ren.“Es ist schon ein Skandal, dass Sie hier einen Ver-gleich zwischen der Situation von Gastronomien undder Verhütung von Folter herstellen. Natürlich ist esäußerst wichtig, in Deutschland eine qualitativ hoch-wertige Gastrowirtschaft zu haben. Aber bei der Foltergeht es um beabsichtigte Gewaltstraftatbestände aufKosten von Leib und Leben der Betroffenen. Es magsein, dass eine schlechte Gastronomie den Gesund-heitszustand ihrer Gäste gefährdet, aber dass sie es aufdie gezielte Schmerzzufügung oder gar den Tod ihrerGäste abgesehen hätte, ist wohl eher unwahrschein-lich. Ganz abgesehen von der desaströsen Außenwir-kung, die eine fehlende Ausstattung unserer Stelle zurVerhütung von Folter weltweit haben kann – auch dasist in der Gastronomiewirtschaft wahrscheinlich eherweniger der Fall. Meine sehr geehrten Damen undHerren von der Union, diesen Vergleich hätten Sie sichwirklich sparen können. All das muss bei den Verant-wortlichen einen verheerenden Eindruck hinterlassenhaben.Nicht ohne Grund hat Professor Hansjörg Geigerim August 2012 seinen ehrenamtlichen Vorsitz in derLänderkommission niedergelegt. Nämlich aus Protestgegen die chronische Unterfinanzierung der Nationa-len Stelle. Zum Vergleich: Den 300 000 Euro für diedeutsche Stelle zur Verhütung von Folter stehen mehrals 3 Millionen Euro für den nationalen Präventions-mechanismus Frankreichs gegenüber. Innerhalb vondrei Jahren konnte in Frankreich fast ein Drittel allerGewahrsamseinrichtungen besucht werden. Daransollten wir uns orientieren!Bereits in ihrem Jahresbericht 2009/2010 be-schreibt die Bundesstelle, dass sie ihre Aufgaben „nuransatzweise“ erfüllen konnte, da die vorhandenen per-sonellen und finanziellen Ressourcen unzureichendseien. Trotz dieser Kritik wurde die personelle und fi-nanzielle Ausstattung der Nationalen Stelle nicht ver-bessert. Die Nationale Stelle bemängelt dies daher inihrem Jahresbericht 2010/2011 weiterhin.Die Präventionsmechanismen Deutschlands zur Ver-hütung von Folter dürfen kein Feigenblatt sein. Des-halb haben wir uns auf Bundesebene mehrfach für eineErhöhung des Bundesanteils eingesetzt, beim Haus-haltsentwurf 2013 auf 180 000 Euro. Unsere Ände-rungsanträge wurden stets von Schwarz-Gelb abge-lehnt, nicht zuletzt mit dem Hinweis auf denkorrespondierenden Anteil der Länder. Deshalb mussdas Problem von Bund und Ländern gemeinsam gelöstwerden.Anfang April wird der UN-Unterausschuss für Fol-terprävention nach Deutschland kommen und sich mitdem nationalen Präventionsmechanismus befassen.Die Peinlichkeit der Fragen und noch mehr der Ant-worten wird hoffentlich zu einer Verbesserung der Aus-stattung durch Bund und Länder führen.Deutschland setzt sich weltweit dafür ein, dass mög-lichst viele Staaten das Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-Konvention ratifizieren und einen nationalenPräventionsmechanismus schaffen. Bei dessen Ausge-staltung sollte Deutschland beispielhaft vorangehen;denn wir befürchten, dass sich menschenrechtlich pro-blematische Vertragsstaaten an der knappen hiesigenAusstattung orientieren könnten. 63 Staaten haben dasZusatzprotokoll bislang ratifiziert, unter anderemAserbaidschan, Mali und Mexiko. Ein schwacher na-tionaler Präventionsmechanismus geht zulasten jenerMenschen, für die das Zusatzprotokoll geschaffenwurde. Die Bundesrepublik Deutschland gibt in diesemZusammenhang kein gutes Bild ab; denn – ich kommeauf mein Ausgangszitat zurück –: „Das gute Beispielist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beein-flussen, es ist die einzige.“
Ende des 19. Jahrhunderts war Folter als Praxisdes europäischen Strafrechts so unüblich geworden,dass Victor Hugo gar zu dem Schluss kam, Folter habe„aufgehört zu existieren“. Hugos Feststellung be-schreibt jedoch leider eher einen Trend als eine abge-schlossene Entwicklung. Zwar hatte die Zahl der Vor-fälle von Folter in Europa im 19. Jahrhundert imVergleich zum Mittelalter tatsächlich stark abgenom-men, gleichzeitig wurden jedoch in europäischen Ko-lonien weiterhin Foltermethoden angewandt. Undauch heute ist Folter in vielen Staaten immer nochPraxis. Laut Amnesty International werden in mehr als150 Ländern weltweit Gefangene gefoltert oder miss-handelt.Das Verbot der Folter ist ein absolutes Menschen-recht. Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Men-schenrechte legt fest: „Niemand darf der Folter odergrausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Be-handlung oder Strafe unterworfen werden.“Dieses Verbot gilt ausnahmslos und unmissver-ständlich, es ist sogenanntes zwingendes Völkerrecht.Folter ist mit unserem Verständnis von Demokratie,Rechtsstaat und Menschenrechten unvereinbar.Die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationenlegt eine Reihe von Maßnahmen fest, die den Schutzvor Folter gewährleisten und durchsetzen sollen. SehrZu Protokoll gegebene Reden
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28562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Marina Schuster
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genau müssen zum Beispiel die Menschenrechte vonPersonen, die in Gewahrsam genommen sind, in denBlick genommen werden. Das asymmetrische Macht-verhältnis macht sie besonders schutzbedürftig. ImRahmen des Europarates gibt es mit dem Europäi-schen Komitee zur Verhütung von Folter und un-menschlicher oder erniedrigender Behandlung oderStrafe bereits seit über 20 Jahren eine unabhängigeKontrollinstanz, die unangekündigte Inspektionen jeg-licher Gewahrsamseinrichtungen in allen Mitglied-staaten vornehmen kann. Das Zusatzprotokoll der VN-Anti-Folter-Konvention greift diesen Mechanismus aufinternationaler Ebene auf und führt ein System unab-hängiger Kontrollen durch internationale und natio-nale Institutionen ein.Gerade in einem Rechtsstaat wie Deutschland müs-sen wir immer wieder sicherstellen, dass die Men-schenrechte besonders Schutzbedürftiger ausreichendAufmerksamkeit erfahren. Mit der Einrichtung der Na-tionalen Stelle zur Verhütung von Folter 2008 hatDeutschland seine Verpflichtungen aus dem Zusatz-protokoll der VN-Anti-Folter-Konvention erfüllt undeine unabhängige Kontrollinstitution auf den Weg ge-bracht.An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern derBundesstelle und der Länderkommission für ihren he-rausragenden Einsatz danken. In den vergangenenvier Jahren haben sie zahlreiche Gewahrsamseinrich-tungen in ganz Deutschland überprüft. 2010 und 2011führte die Nationale Stelle insgesamt 42 Inspektions-besuche von Justizvollzugsanstalten, psychiatrischenKliniken, Abschiebehafteinrichtungen sowie Gewahr-samseinrichtungen der Polizei, der Bundeswehr unddes Zolls durch.Zwar vermerkten die Kontrolleure keine Vorfällevon Folter; sie stellten jedoch in mehreren Fällen inak-zeptable Missstände fest. Es ist dringend notwendig,dass wir die Beanstandungen der Nationalen Stellesehr ernst nehmen. Ich begrüße es sehr, dass die Emp-fehlungen, die im Anschluss an die jeweiligen Inspek-tionen an die zuständigen Aufsichtsbehörden weiterge-leitet wurden, bereits zu einer ganzen Reihe vonVerbesserungen geführt haben.Ich weiß, dass die finanzielle und personelle Aus-stattung der Nationalen Stelle immer wieder in derKritik steht. Nicht zuletzt die Nationale Stelle selbst hatvermehrt auf ihre schwierigen Arbeitsbedingungenhingewiesen. Auch die Bundesregierung ist sich derThematik der Ausstattung durchaus bewusst. Der10. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschen-rechtspolitik vom Oktober letzten Jahres schlägt eineÜberprüfung der Ausstattung nach dem Vorliegen ers-ter Praxisberichte vor.Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Bun-desregierung hier nicht allein in der Verantwortungsteht. Die Ausstattung der Nationalen Stelle wirddurch eine Verwaltungsvereinbarung zwischen Bundund Ländern geregelt. Diese legt nicht nur ein Fi-nanzierungsverhältnis von eins zu zwei, sondernauch die genauen Summen fest. Zur Finanzierung wer-den durch den Bund 100 000 Euro und durch die Län-der 200 000 Euro zur Verfügung gestellt. Um eine bes-sere Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütungvon Folter zu gewährleisten, muss zunächst diese Ver-waltungsvereinbarung geändert werden.Liebe Kollegen und Kolleginnen von den Grünen,Sie stellen diesen Umstand in Ihrem Antrag richtigfest, denken ihn aber nicht bis zur letzten Konsequenzzu Ende. Eine einseitige Anhebung der Haushalts-mittel durch die Bundesregierung ist nicht möglich.Bisher gab es zu einer Änderung der bestehenden Ver-waltungsvereinbarung unter den Ländern keine ein-heitliche Position. Diese kann die Bundesregierungauch nicht erzwingen.Der Vorstoß durch Hessen, das 2012 den Vorsitz derJustizministerkonferenz innehatte, ist jedoch ein posi-tives Signal. Auf der Justizministerkonferenz im letztenNovember wurde eine Überprüfung der Ausstattungder Nationalen Stelle beschlossen. Hessen prüft nununter Beteiligung des Bundes, ob eine Verbesserungder Ausstattung notwendig ist, und erarbeitet einenVorschlag, wie diese umgesetzt werden kann. Die Emp-fehlung soll auf der Konferenz der Amtschefinnen undAmtschefs im April diskutiert werden.Wir sollten dieser Prüfung nicht vorgreifen. Bevorwir Forderungen stellen, sollten wir die Bestandsauf-nahme abwarten und uns dann am Vorschlag der Jus-tizministerkonferenz orientieren. Der vorliegende An-trag ist daher abzulehnen, auch wenn ich klar sage:Wir unterstützen die Arbeit der Stelle ausdrücklich!Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt auf-merksam machen. Obwohl die finanziellen und perso-nellen Kapazitäten der Nationalen Stelle immer wiederbemängelt werden, gibt es gleichzeitig Bestrebungen,ihren Aufgabenbereich auszuweiten. Erst im Januarwurde bekannt gegeben, dass die Nationale Stelle inZukunft auch Kontrollen in deutschen Pflegeheimendurchführen soll. Ich halte dieses Vorhaben für nichtunproblematisch.Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte keines-falls abstreiten, dass es Missstände in Pflegeheimengibt, dass Pflegebedürftige einen besonderen Schutzgenießen müssen und dass eine Überwachung inhalt-lich dem Mandat der Nationalen Stelle zugeordnetwerden kann. Allerdings werden durch den Medizini-schen Dienst der Krankenversicherung sowie denPrüfdienst der privaten Krankenversicherungen be-reits regelmäßige Kontrollen durchgeführt.Bevor wir der Nationalen Stelle neue Aufgaben zu-weisen, sollte der Fokus darauf liegen, sie für ihr jetzi-ges Mandat bestmöglich auszustatten.
Das Folterverbot ist in allen zentralen Menschen-rechtsverträgen verankert: in Art. 5 der AllgemeinenErklärung der Menschenrechte, in Art. 7 des Interna-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28563
Katrin Werner
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tionalen Paktes über bürgerliche und politische Rechtesowie in Art. 3 der Europäischen Konvention zumSchutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten.Darüber hinaus haben gegenwärtig 146 Staaten auchdie UN-Anti-Folter-Konvention ratifiziert. Damit sindausreichende vertragsvölkerrechtliche Grundlagenvorhanden, um die Geißel der Folter endgültig aus derWelt zu schaffen. Durch die langjährige Anwendungs-praxis ist das Folterverbot zudem inzwischen als Völ-kergewohnheitsrecht zu interpretieren.Es ist einerseits ein beachtlicher Erfolg, wenn mitt-lerweile offenbar selbst zahlreiche autoritäre Regimemeinen, das Folterverbot als Verhaltenskodex akzep-tieren zu müssen. Gleichwohl gilt auch hier: Vertrauenist gut, Kontrolle ist besser!Es ist unbestreitbar, dass in zahlreichen Unterzeich-nerstaaten zum Teil massiv bzw. systematisch gegendas Folterverbot verstoßen wird: Kasachstan, Belarus,Sri Lanka und Saudi-Arabien sind einige solcherFälle. Jedoch müssen eben auch die USA mit zu die-sem Kreis gezählt werden wegen ihrer bekannt gewor-denen „Verhörmethode“ des „Waterboarding“ undden anderen schrecklichen Folterpraktiken, die vor al-lem gegenüber Terrorverdächtigen in Guantanamosystematisch praktiziert wurden.Das Beispiel Guantanamo lehrt zudem, dass auchDemokratien nicht per se vor Rückfällen in antihuma-nistische Zustände gefeit sind, auch wenn dies beiDiktaturen systembedingt häufiger der Fall ist. Wenndie Demokratie die Auseinandersetzung mit der Dikta-tur aber für sich entscheiden will, muss sie sich als dashumanere, politisch freiere und sozial gerechtere Ge-sellschaftssystem behaupten. Dies verlangt von allenDemokratien eine Vorbildrolle bei der Einhaltung derMenschenrechte und hohe Standards zu deren Umset-zung und Anwendung in der gesellschaftlichen Alltags-realität.Leider muss bei dem wichtigen Thema Folterprä-vention festgestellt werden, dass Deutschland seineVorbildfunktion als Demokratie geradezu sträflich ver-nachlässigt. Es gibt zwar formal seit Ende 2008 eineBundesstelle zur Verhütung von Folter mit Sitz inWiesbaden, die den gesetzlichen Auftrag hat, Orte derFreiheitsentziehung aufzusuchen und auf möglicheMissstände zu untersuchen. Bereits in ihrem erstenJahresbericht 2009/2010 hat die Bundesstelle jedochdarauf hingewiesen, dass sie wegen unzureichenderpersoneller und finanzieller Ressourcen ihren gesetz-lichen Auftrag bestenfalls „nur ansatzweise“ erfüllenkönne. Der Jahresbericht 2010/2011 knüpft hierannahtlos an. Die Bundesstelle ist allein für 360 Gewahr-samseinrichtungen zuständig. Ihr bisheriges Budget inHöhe von 100 000 Euro ermöglicht lediglich die An-stellung von maximal drei wissenschaftlichen Mitar-beiterinnen und Mitarbeitern in Vollzeit sowie einerFachangestellten für Bürokommunikation. Zusammenmit den jeweiligen Länderkommissionen müssten so-gar mehrere Tausend Gewahrsamseinrichtungen inDeutschland überwacht werden, was mit dem gegen-wärtigen Personaltableau faktisch unmöglich ist. Un-ser Nachbar Frankreich gibt übrigens bei einer deut-lich geringeren Gesamtbevölkerungszahl in diesemBereich jährlich rund 3,3 Millionen Euro aus!Das ist nicht nur Ausdruck der typischen Placebo-politik von Schwarz-Gelb, die wir beim Thema Men-schenrechte schon zur Genüge kennen. Die Vernach-lässigung der Folterprävention in Deutschland istvielmehr ein handfester politischer Skandal, weil dieBundesregierung damit bewusst riskiert, dass schlimms-tenfalls schwerwiegende Menschenrechtsverletzungenin bundesdeutschen Gewahrsamseinrichtungen unent-deckt bleiben und die Betroffenen unter menschen-rechtslosen Umständen leben müssen. Hierbei hilftletztlich nur die regelmäßige Kontrolle von außen unddurch unabhängige Dritte, um zu verhindern, dass sichmenschenrechtswidrige Praktiken dauerhaft etablie-ren können. Genau darum geht es bei der Folterprä-vention.Es entspricht einer schallenden Ohrfeige für dieBundesregierung, dass der UN-Ausschuss gegen Fol-ter in seinen abschließenden Bemerkungen vom12. Dezember 2011 zum Fünften StaatenberichtDeutschlands eben diese Defizite gerügt hat. Wer dieUN-Anti-Folter-Konvention ernst nimmt, kann dieseKritik nur begrüßen. Solange die Bundesregierungnämlich immer nur bestimmte Länder wie vor allemRussland, China, Vietnam, Kuba, Venezuela, Aserbai-dschan, Serbien, Belarus oder die Ukraine wegen ihrerMenschenrechtsdefizite durch den Kakao zieht, aberzu Menschenrechtsverletzungen in befreundeten, west-lichen bzw. prowestlich orientierten Ländern vornehmschweigt und ihre eigenen Hausaufgaben unerledigtlässt, ist sie vollkommen unglaubwürdig. Dies giltebenfalls für die anderen Oppositionsfraktionen. Wiedem aktuellen „Spiegel“ zu entnehmen ist, betätigensich schon seit geraumer Zeit prominente Sozialdemo-kraten als eifrige Lobbyisten für das Nasarbajew-Re-gime in Kasachstan, in dessen Gefängnissen Folter aufder Tagesordnung steht und das friedliche Gewerk-schaftsproteste zusammenschießen lässt. Wie will dieSPD eigentlich die Defizite bei der Folterprävention inDeutschland kritisieren, wenn sie gleichzeitig einemausländischen autoritären Folterregime dabei hilft,sein Prestige im Westen aufzupolieren? Der „Spiegel“bezeichnet Kasachstan sogar als die „Lieblingsauto-kratie“ der Sozialdemokratie. So sieht also die Dop-pelmoral der SPD aus: Menschenrechtsverstöße inLändern mit unabhängigen politischen Führungenwerden skandalisiert und diejenigen in prowestlichenkooperationswilligen Diktaturen dürfen sogar nochschlimmer sein, ohne dass aus der SPD auch nur einLaut ertönt! Für die Linke ist klar: Menschenrechts-verstöße müssen überall und gegenüber jeder Regie-rung thematisiert werden, die hierfür die politischeVerantwortung trägt – allerdings ohne dabei in derPose des Oberlehrers und Moralapostels aufzutreten,die uns ohnehin niemand abnimmt. Die praktische In-strumentalisierung der Menschenrechte und die Ver-wendung von doppelten Standards beruhen immer aufZu Protokoll gegebene Reden
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28564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Katrin Werner
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politischem Kalkül. Dafür gibt es von uns keine Unter-stützung!Der aktuelle Antrag der Grünen weist dagegen zuRecht auf die Missstände bei der Folterprävention inDeutschland hin. Er ist im Analyse- wie im Forde-rungsteil richtig. Ich will an dieser Stelle auch erwäh-nen, dass sich die Grünen und die Linke in denzurückliegenden Haushaltsberatungen im Menschen-rechtsausschuss wechselseitig bei ihren Änderungsan-trägen zu Mittelerhöhungen für die nationale Anti-folterstelle unterstützt haben. Dies zeigt, dass trotzfortbestehender politischer Unterschiede zwischenden beiden genannten Oppositionsfraktionen dennochSachentscheidungen zugunsten der Betroffenen mög-lich sind. Parteitaktische Abgrenzungsrituale sind beimThema Menschenrechte völlig fehl am Platz. Undselbstverständlich stimmt vor diesem Hintergrund dieLinke auch dem vorliegenden Antrag der Grünen zu.
Das Verbot von Folter und unmenschlicher Behand-lung ist eine der wichtigsten Menschenrechtsgarantienund ein Teil von verschiedenen Menschenrechtsverträ-gen, die die Bundesrepublik Deutschland ratifizierthat. Um unserer menschenrechtlichen Verantwortunggerecht zu werden und um glaubwürdig für Menschen-rechte eintreten zu können, müssen auch wir inDeutschland immer weiter an der Umsetzung und Ver-wirklichung des Folterverbots arbeiten.Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland dasÜbereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folterund das Zusatzprotokoll zu dem Übereinkommen rati-fiziert. Dieses Zusatzprotokoll fordert, den Schutz vorFolter und Misshandlung zu verstärken. Dazu müssenalle Staaten nationale Präventionsmechanismen er-richten.In Deutschland haben wir diese Verpflichtung durchdie Errichtung der Nationalen Stelle zur Verhütungvon Folter allerdings nur der Form nach erfüllt. Siehat die Aufgabe, Orte der Freiheitsentziehung aufzusu-chen, auf Missstände aufmerksam zu machen und denBehörden Empfehlungen zu unterbreiten. Mit den vonder Bundesregierung zur Verfügung gestellten Mittelnkann die Nationale Stelle zur Verhütung von Folteraber ihre Kontrollpflichten nicht erfüllen und damitauch ihrem gesetzlichen Auftrag nicht nachkommen.Mit insgesamt weniger als zehn Mitarbeitern fürBund und Länder, darunter fünf ehrenamtliche Mit-glieder, können nicht mehrere Tausend Gewahrsams-einrichtungen in Deutschland regelmäßig besucht undMissstände aufgedeckt werden. Das ist einfach nichtmöglich, auch wenn die wenigen Mitarbeiter mit denbegrenzten Ressourcen eine hervorragende Arbeit leis-ten.Für die ehrenamtliche Leitung der Bundesstelle istnur eine einzige Person und noch nicht einmal eineStellvertretung vorgesehen. Bei der Abwesenheit desBundesstellenleiters, zum Beispiel wenn er krank ist,können gar keine Inspektionsbesuche durchgeführtwerden. Er allein ist für etwa 360 Gewahrsamseinrich-tungen des Bundes zuständig. Auf Landesebene siehtes leider nicht besser aus: Nur vier ehrenamtliche Mit-arbeiter können für die Länderkommission Kontrollender Gewahrsamseinrichtungen der Länder durchfüh-ren. Das sind fast 2 000 Gewahrsamseinrichtungen,von denen wir hier reden – die geschlossenen Abtei-lungen in Altersheimen noch nicht einmal mitgezählt.International ist Deutschland damit ein Negativbei-spiel. Frankreich gibt beispielsweise das Zehnfacheaus und stellt über 3 Millionen Euro für seinen natio-nalen Präventionsmechanismus zur Verfügung. Im Ge-gensatz zu Deutschland sind nicht fünf ehrenamtlicheMitglieder angestellt, sondern 16 hauptamtliche Kon-trolleure in Vollzeit und zusätzliche 16 Kontrolleure inTeilzeit.Das Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommender Vereinten Nationen gegen Folter fordert regelmä-ßige Besuche. In der Praxis jedoch können Gewahr-samseinrichtungen im Schnitt nur alle 15 Jahre aufge-sucht werden. Von regelmäßigen Kontrollen kann alsohier keine Rede sein.Oft denken wir, das Thema Folter sei in Europanicht mehr aktuell. Aber gerade im Zusammenhang mitder Terrorismusbekämpfung und den außergerichtli-chen CIA-Flügen wurde deutlich, dass auch hier, mit-ten in Europa, die Verhinderung von Folter eine Auf-gabe bleibt, die wir weiter ernst nehmen müssen. Unddarum brauchen wir die Nationale Stelle zur Verhü-tung von Folter. Ihre Bedeutung darf nicht unterschätztwerden. Sie leistet wertvolle Arbeit. Dennoch wird dieNationale Stelle zur Verhütung von Folter von derBundesregierung nicht ausreichend gewürdigt, ja garstiefmütterlich behandelt.Auch der VN-Ausschuss gegen Folter kritisiert inseinen „Abschließenden Bemerkungen“ vom 12. De-zember 2011 die mangelnde personelle und finanzielleAusstattung der Nationalen Stelle und empfiehlt derBundesregierung diese „mit angemessenen personel-len, finanziellen, technischen und logistischen Mittelnauszustatten“. Der VN-Ausschuss gegen Folter machtdeutlich, dass die Nationale Stelle durch die fehlendenRessourcen „an einer angemessenen Erfüllung ihresÜberwachungsauftrags gehindert wird“.Aus Protest gegen die defizitäre Ausstattung der Na-tionalen Stelle zur Verhütung von Folter ist im Septem-ber 2012 Hansjörg Geiger als Mitglied der Länder-kommission zurückgetreten. Sein Rücktritt war und istblamabel für die Bundesregierung. Seine Entschei-dung überrascht jedoch nicht. Obwohl die NationaleStelle zur Verhütung von Folter schon in ihrem erstenJahresbericht von 2009/2010 die mangelnde Ausstat-tung kritisiert hat, wurden die Mittel nicht erhöht. Siemusste daher ihre Kritik in ihrem Jahresbericht 2010/2011 wiederholen: „Mit nur fünf ehrenamtlichen Mit-gliedern und Mitteln für nur drei wissenschaftlicheMitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie einer Fachan-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28565
Tom Koenigs
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gestellten für Bürokommunikation sind die Kapazitä-ten für die regelmäßige Prüfung mehrerer tausend Ge-wahrsamseinrichtungen absolut unzureichend.“Auch an der multidisziplinären Aufstellung des Per-sonals, die das Zusatzprotokoll fordert, fehlt es bishernoch. Insbesondere für Inspektionsbesuche ist es wich-tig, dass der Nationalen Stelle Mitglieder mit medizini-schem und psychiatrischem Sachverstand angehören.Dies ist bisher nicht der Fall, sodass auf externe Sach-verständige zurückgegriffen werden muss.Bis heute ist die Bundesregierung diesen Forderun-gen der Nationalen Stelle und des VN-Ausschusses ge-gen Folter nicht nachgekommen. Wir Grüne haben be-reits am 26. September 2012 einen Haushaltsantrageingereicht, der die finanzielle und personelle Ausstat-tung verbessert hätte. Die Bundesregierung hat unse-ren Haushaltsantrag abgelehnt, selbst aber keine kon-struktiven Schritte vorgenommen.Wir fordern die Bundesregierung deshalb dazu auf,ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Fa-kultativprotokoll zum VN-Übereinkommen gegen Fol-ter nachzukommen. Der Anteil des Bundes muss aufmindestens 300 000 Euro erhöht werden, um die Bun-desstelle in die Lage zu versetzen, ihre Aufgaben in an-gemessener Weise zu erfüllen. Menschenrechtsinstru-mente dürfen kein Feigenblatt sein.Im Mai 2013 findet zum zweiten Mal im Menschen-rechtsrat der Vereinten Nationen eine ÜberprüfungDeutschlands in der Universal Periodic Review statt.Die Bundesregierung sollte diese Chance ergreifenund zeigen, dass sie zu der menschenrechtlichen Ver-antwortung Deutschlands steht. Das UPR-Verfahrenbietet der Bundesregierung eine Plattform, deutlich zumachen, dass sie glaubwürdig für Menschenrechte ein-tritt – im eigenen Land und in der Welt. Der Preis füreine bessere finanzielle und personelle Ausstattung derNationalen Stelle zur Verhütung von Folter ist sehr ge-ring im Vergleich zu dem hohen Wert an Integrität undGlaubwürdigkeit, den Deutschland dadurch gewinnt.
Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Nationale Stelle zur
Verhütung von Folter stärken“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12730,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11207 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/10085 zu den Un-
terrichtungen durch die Bundesregierung mit den Titeln
„Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle zur Verhü-
tung von Folter“ und „Jahresbericht 2010/2011 der Na-
tionalen Stelle zur Verhütung von Folter“. Der Aus-
schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtungen auf
den Drucksachen 17/3134 und 17/9377 eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen.
Tagesordnungspunkt 24:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung der Professorenbesoldung und zur Än-
derung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften
– Drucksachen 17/12455, 17/12662 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Am 14. Februar 2012 hat das Bundesverfassungs-gericht der Klage eines hessischen W-2-Professorsstattgegeben und entschieden, dass dessen Besoldungnicht den Anforderungen an eine amtsangemesseneAlimentation im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG ent-spricht. Aufgrund unserer föderalen Ordnung sind dieLänder für die Besoldung der großen Mehrheit derProfessorinnen und Professoren in Deutschland ver-antwortlich. Auch gilt das Urteil unmittelbar nur fürdas Land Hessen. Jedoch besteht aufgrund ähnlicherRechtsgrundlagen auch Änderungsbedarf auf Bundes-ebene. Hier werden in erster Linie Professoren derBundeswehrhochschulen sowie das Spitzenpersonalaußeruniversitärer Forschungseinrichtungen von derNeufassung des Gesetzes profitieren.Mit der Verabschiedung des Professorenbesol-dungsgesetzes im Jahr 2002 wurde ein zweigliedrigesVergütungssystem eingeführt, bestehend aus einem fes-ten Grundgehalt und variablen Leistungsbezügen. Ichmöchte ausdrücklich hervorheben, dass das BVerfGam zweigliedrigen Vergütungssystem keinen Anstoßgenommen hat. Deshalb soll es auch beibehalten wer-den. Zum 1. Januar 2005 löste schließlich die W-Be-soldung die alte C-Besoldung ab. Um bei gleichblei-benden Ausgaben finanzielle Spielräume für dieVergabe von Leistungsbezügen zu erhalten, wurden dieW-Grundgehälter gegenüber der C-Besoldung abge-senkt.Das BVerfG hat in seinem Urteil festgestellt, dassdiese Leistungsbezüge keinen alimentativen Charakterim Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG haben und folglich beider Klärung der Frage, ob die Besoldung eines Profes-sors den Anforderungen an eine amtsangemessene Ali-mentation genügt, nicht einbezogen werden dürfen.
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28566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Tankred Schipanski
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Bei der Urteilsfindung zog das BVerfG Vergleiche mitden Bezügen in der Besoldungsgruppe A. Das Gerichtkritisierte insbesondere, dass das Grundgehalt einesW-2-Professors lediglich der Besoldung eines 40-jäh-rigen Oberregierungsrats entspreche und somit unter-halb der Eingangsstufe A 15 bzw. der Endstufe A 13läge. Beim Vergleich zwischen den BesoldungsgruppenA und W stünden Qualifikation und Besoldung in ei-nem Missverhältnis.Mithilfe von drei Veränderungen wollen wir diesesMissverhältnis nun beseitigen und dem Urteil Rech-nung tragen:Erstens sollen die Grundgehälter der Besoldungs-gruppen W 2 und W 3 angehoben werden. Wie starkwerden die Grundgehälter erhöht? In der Urteils-begründung wurde deutlich, dass das BVerfG die maß-gebliche Vergleichsgruppe für W-2-Professoren in Be-amten der Besoldungsgruppe A 15 sieht; für W-3-Professoren sind es Beamte der BesoldungsgruppeA 16. Auf dieses Niveau werden die Grundgehälter fürW-2- und W-3-Professoren künftig angehoben. Mit die-sem ersten Schritt stellen wir die vom BVerfG ange-mahnte amtsangemessene Alimentation sicher.Zweitens werden diese Grundgehälter in Erfah-rungsstufen gestaffelt. Vorgesehen sind drei Stufen miteiner Laufzeit von jeweils sieben Jahren; die Endstufewird folglich nach 14 Jahren erreicht. Künftig erhältein W-2-Professor in Stufe 1 ein Grundgehalt in Höhevon 5 100 Euro, in Stufe 2 sind es 5 400 Euro und inStufe 3 schließlich 5 700 Euro. Aufgrund des ausArt. 33 Abs. 5 GG hergeleiteten Abstandsgebotes – einW-3-Professor muss auch in Zukunft mehr verdienenals ein W-2-Professor – werden zudem die Grundge-hälter von W-3-Professoren erhöht. Sie erhalten künf-tig ein Grundgehalt in Höhe von 5 700 Euro, Stufe 1,bzw. 6 100 Euro, Stufe 2, und 6 500 Euro, Stufe 3. Diebeiden vorgeschalteten Erfahrungsstufen dienen inerster Linie dem Zweck, bei in etwa gleichbleibendenGesamtausgaben auch in Zukunft in möglichst großemUmfang Mittel für Leistungsbezüge zur Verfügung zuhaben.Drittens werden bislang gewährte Leistungsbezügezum Teil auf die neuen Grundgehälter angerechnet.Hierbei wird jedoch – aus gutem Grund – zwischenverschiedenen Leistungsbezügen unterschieden. Be-sondere Leistungsbezüge, die Professorinnen und Pro-fessoren für hervorragende Leistungen in Forschungund Lehre gewährt werden, bleiben von der Anrech-nung ebenso ausgenommen wie Funktionsleistungsbe-züge, die für die Übernahme von Aufgaben im Rahmender Hochschulleitung und der Hochschulselbstverwal-tung – zum Beispiel Rektor, Prorektor, Dekan, Prode-kan etc. – erfolgen. Angerechnet werden hingegen Be-rufungs- und Bleibeleistungsbezüge. Aus Sicht derWissenschaft halte ich dies für eine gute Regelung, daauch in Zukunft finanzielle Anreize gesetzt werden, umhervorragende Leistung und die Übernahme verant-wortungsvoller Ämter zu belohnen.Insgesamt entstehen dem Bund durch das neue Ge-setz Mehrkosten in Höhe von voraussichtlich 0,6 Mil-lionen Euro pro Jahr. Diese Summe ist überschaubarund muss in die Hand genommen werden, um das Ver-fassungsgerichtsurteil vonseiten des Bundes umzuset-zen. Zudem stehen diesen Ausgaben einmalige Entlas-tungen in Höhe von 0,2 Millionen Euro gegenüber.Als Vertreter der Bildungs- und Forschungspolitikerist es mir wichtig, hervorzuheben, dass gegenüber demersten Referentenentwurf vom 19. November 2012 be-reits zwei Verbesserungen im Sinne der WissenschaftEingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Zu-nächst ist es gelungen, zu erreichen, dass bei der An-rechnung von Erfahrungszeiten, die zur Eingruppie-rung in eine Erfahrungsstufe maßgeblich sind, auchhauptberufliche wissenschaftliche Tätigkeiten an eineröffentlich geförderten in- oder ausländischen For-schungseinrichtung berücksichtigt werden. Durchdiese Regelung tragen wir sowohl den politischen Zie-len der Internationalisierung als auch dem Austauschzwischen universitärer und außeruniversitärer For-schung Rechnung.Zweitens werden, wie bereits dargelegt, besondereLeistungsbezüge – die für sehr gute Leistungen in For-schung und Lehre gewährt werden – nicht auf das neueGrundgehalt angerechnet. Demgegenüber sah der Re-ferentenentwurf noch vor, besondere Leistungsbezügemaximal bis zur Hälfte auf das neue Grundgehalt an-zurechnen. Eine solche Verrechnung wäre mit demLeistungsprinzip in der W-Besoldung jedoch nicht zuvereinbaren. Durch die neue Regelung werden auchweiterhin Spitzenleistungen von Professorinnen undProfessoren in Forschung und Lehre belohnt und dierichtigen Anreize gesetzt.Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten: Füruns Bildungs- und Forschungspolitiker ist dieser Ge-setzentwurf eine gute Verhandlungsgrundlage für dasbevorstehende parlamentarische Gesetzgebungsver-fahren.
Heute beraten wir ein ganzes Bündel dienstrechtli-cher Vorschriften, die geändert werden sollen.Der Änderung der Professorenbesoldung liegt eineEntscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Fe-bruar 2012 zur Professorenbesoldung im Land Hessenzugrunde. Die strukturell ähnlichen Regelungen desBundes müssen entsprechend ebenso geändert werden.Die Grundgehälter der Besoldungsgruppen W 2und W 3 werden erhöht, um den amtsangemessenenUnterhalt sicherzustellen. Es werden drei Erfahrungs-stufen eingeführt. Auf die zusätzlichen leistungsabhän-gigen Besoldungsbestandteile soll auch künftig keinRechtsanspruch bestehen.Ein zweiter und ausdrücklich begrüßenswerterBestandteil des vorgelegten Gesetzentwurfs ist dierückwährende Gewährung des Familienzuschlags beieingetragenen Lebenspartnerschaften. Auch dieserZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28567
Wolfgang Gunkel
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Gesetzesänderung liegt eine Entscheidung des Bun-desverfassungsgerichts zugrunde. In diesem Fall hattedas Gericht am 19. Juni 2012 entschieden, dass dieUngleichbehandlung von eingetragener Lebenspart-nerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichen Familien-zuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbesoldungsge-setz seit dem 1. August 2001 unvereinbar mit demallgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grund-gesetz ist.Der Gesetzgeber wird mit dem Beschluss desBundesverfassungsgerichts verpflichtet, den festge-stellten Verfassungsverstoß rückwirkend zum Zeit-punkt der Einführung des Instituts der eingetragenenLebenspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001zu beseitigen. Allerdings wird hier der Anspruch nurgewährt, wenn er bereits in der Vergangenheit geltendgemacht wurde und noch nicht bestandskräftig abge-lehnt wurde. Deshalb ist die Zahl der Empfänger auchsehr überschaubar. Nichtsdestotrotz ist dies ein wichti-ges politisches Signal.Weiterhin enthält der vorgelegte GesetzentwurfÄnderungen zur Praxis der Dienstpostenbündelung.Diese soll nun nach einer Entscheidung des Bundes-verwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 geändert wer-den. Dass eine rechtssichere Regelung nun gefundenwerden soll, ist durchaus zu begrüßen. Ob der vorlie-gende Gesetzentwurf diesen Anforderungen gerechtwird, ist zu prüfen.Insofern verweise ich auf die Anhörung des Innen-ausschusses zu diesem Gesetzentwurf und weiterenÄnderungen im Dienstrecht am 18. März 2013.
Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Profes-sorenbesoldung setzt die christlich-liberale Koalitioneinen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um. ImFebruar 2012 hatte das Gericht die Vergütung vonProfessoren im Bundesland Hessen wegen eines zuniedrig angesetzten Grundgehalts in der Besoldungs-gruppe W 2 für verfassungswidrig befunden und diezweite Komponente der Professorenvergütung in Formflexibler Leistungsbezüge nicht für ausreichend aner-kannt, um die Defizite bei den Grundgehältern zu kom-pensieren.Insbesondere kritisierte das Gericht, dass mit demGrundgehalt der Besoldungsgruppe W 2 weder derAusbildung oder dem Dienstrang eines Professorsnoch der Verantwortung, die mit seinem Amt verbun-den ist, angemessen Rechnung getragen wird. Dieslässt sich insofern nachvollziehen, als im Vergleich dieVergütung eines W-2-Professors niedriger war als dieeines jungen Gymnasialdirektors oder eines dienstäl-teren Grundschullehrers.Aus dem Urteil ergab sich gesetzgeberischer Hand-lungsbedarf nicht nur für Hessen, sondern auch für dieübrigen Bundesländer und den Bund. Betroffen vonder Bundesreform sind die rund 850 Professoren inden Hochschulen des Bundes, zum Beispiel an denBundeswehruniversitäten oder der Fachhochschulefür öffentliche Verwaltung, und in Forschungseinrich-tungen, die vom Bund mitfinanziert werden, wiebeispielsweise die Institute der Max-Planck- undFraunhofer-Gesellschaft oder der Helmholtz-Gemein-schaft.Mit der Reform führt die Koalition in der Bundesbe-soldungsordnung W für die Besoldungsgruppen W 2und W 3 drei Erfahrungsstufen mit einer Dauer von jesieben Jahren ein. Professoren können also diehöchste Erfahrungsstufe bereits nach 14 Jahren errei-chen. Das Grundgehalt wird für die erste Erfahrungs-stufe um gut 400 Euro angehoben; für W-2-Professo-ren, die bereits 14 Jahre im Amt sind, beläuft sich dieErhöhung auf rund 1 000 Euro, für W-3-Professorenauf der höchsten Erfahrungsstufe um rund 830 Euro.Durch die Stufenregelung wird die zunehmende Be-rufspraxis honoriert; besonders leistungsstarke Pro-fessoren können jedoch auch vor Ablauf der siebenJahre in die nächsthöhere Stufe aufsteigen.Gleichzeitig besteht weiterhin die bewährte Mög-lichkeit, flexible Leistungsbezüge als Anreiz oder zurMotivation zu vergeben, erstens bei Berufungs- undBleibeverhandlungen, zweitens wegen besondererLeistungen in Forschung und Lehre und drittens beiÜbernahme eines Hochschulamtes. Während diebesonderen und die Funktionsleistungsbezüge anrech-nungsfrei bleiben, sollen Berufungs- und Bleibeleis-tungsbezüge voll auf das erhöhte Grundgehalt ange-rechnet werden. Das heißt, bisher gewährteBerufungs- und Bleibeleistungsbezüge werden um dengleichen Betrag reduziert, wie sich das Grundgehalterhöht. Übersteigt der Leistungsbezug diese Erhö-hung, bleibt der restliche Betrag dem Professor erhal-ten.Im Zuge der parlamentarischen Beratungen des Ge-setzentwurfs muss aus Sicht der FDP-Fraktion undnach meiner persönlichen Meinung bei der Anrech-nung der Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge nach-gesteuert werden. Wir Liberale setzen uns dafür ein,das Leistungsprinzip im öffentlichen Dienst weiter zustärken. Würden Bleibeleistungsbezüge, die zeigen,dass ein Professor überdurchschnittliche Arbeit leistet,nach der Reform komplett verrechnet, setzte das ausunserer Sicht ein falsches Zeichen. Benachteiligt wür-den diejenigen, die in der Vergangenheit diese beson-dere Anerkennung erhalten haben, gegenüber denjeni-gen ohne solche Leistungsbezüge, deren Grundgehalterhöht wird. Wir schlagen deshalb eine bloß anteiligeAnrechnung nach Vorbild der Gesetzesvorlage ausSachsen vor, wo ein Sockelbetrag von mindestens30 Prozent unangetastet bleibt. Damit erhalten wirden wesentlichen Anreiz des Leistungsbezugs; neueProfessoren werden im Gegensatz zu bereits berufenenaber auch nicht dauerhaft benachteiligt. Denn wegendes erhöhten Grundgehalts werden – das haben Hoch-schulen bereits angekündigt – die Leistungsbezügekünftig niedriger ausfallen als in der Vergangenheit.Zu Protokoll gegebene Reden
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28568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Dr. Stefan Ruppert
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Über diese und weitere Anpassungen im Dienst-recht wird im Zuge einer Expertenanhörung am18. März 2013 weiter diskutiert werden, die sich nebender Professorenbesoldung mit den Gesetzesinitiativender Koalition zur Familienpflegezeit und zum Alters-geld befassen wird. Der vorliegende Gesetzentwurfstellt dafür eine gute Beratungsgrundlage dar undwird nach Abstimmung unserer Änderungsvorschlägevon der Koalition sicher erfolgreich zum Abschlussgebracht.
Derzeit wird viel über die Agenda 2010 und ihreFolgen geredet – die Folgen der Idee des „flexiblenMenschen“, wie es der Soziologe Richard Sennett kri-tisch formulierte. Aber der Leitsatz „Fördern und For-dern“ wurde nicht nur auf Erwerbslose gemünzt, die esauf die nicht vorhandenen Arbeitsplätze zu platzierengalt. Auch für Professorinnen und Professoren meintedie damalige rot-grüne Koalition diesen Leitspruchder neoliberalen Ära anwenden zu müssen. Pate standoffensichtlich das noch nie stimmige Klischee des fau-len Professors, der sich im Beamtenverhältnis ausruht,mit Unlust lehrt und schon seit Jahren nichts veröffent-licht hat. Dem wollte man nun wohl auf die Sprüngehelfen.Auf diese Weise entstand die W-Besoldung, die dieGrundgehälter absenkte und sogenannte leistungsab-hängige Entgeltbestandteile für Professorinnen undProfessoren einführte. Als wäre die intrinsische Moti-vation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlernnicht ihr bestimmender Antrieb, musste nun derschnöde Mammon als Stimulanz herhalten.Man setzte die Hochschullehrerinnen und -lehrer ineinen Wettbewerb zueinander, ohne jedoch dessen Kri-terien und Rahmenbedingungen zu definieren. Ich er-innere mich gut an die damaligen Debatten. In denHochschulen und Landesministerien zerbrach mansich den Kopf, wie ein entsprechendes Verfahren der„Leistungsbemessung“ denn gestaltet und in konkreteSatzungen gegossen werden sollte. Sollte die Zahl derbetreuten Promotionen ein Kriterium sein? Die dereingeworbenen Drittmittel für die Forschung? Die dergehaltenen Lehrstunden? Schnell wurde klar, dassLeistung in der Wissenschaft eine kaum trennscharfund präzise zu bewertende Maßeinheit ist. Leistungkann die eine nobelpreistaugliche Entdeckung, einegute Personalführung, aber auch eine hervorragendeLehre sein. Sie ist nicht in Gehaltsbestandteilen ab-bildbar.Trotzdem wurden die entsprechenden Satzungen ge-schaffen. Im Ergebnis bildete sich ein föderaler Fli-ckenteppich an Besoldungsmodalitäten heraus, derkaum noch zu überschauen ist. Wir haben mittlerweileeine große Spreizung in den Professorengehältern, diewie üblich ein starkes Nord-Süd-Gefälle aufweist.Nach einer Erhebung des Deutschen Hochschulver-bands variieren die durchschnittlichen Jahresgehälterfür Hochschullehrer in der Besoldungsgruppe W 2zwischen 48 968 Euro in Berlin und 56 932 Euro inBayern. In der Besoldungsgruppe W 3 werden zwi-schen 59 324 Euro und 67 889 Euro (Bayern)bezahlt. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergensich ihrerseits große Spannen. Nicht nur die einzelnenProfessorinnen und Professoren, sondern auch dieBundesländer wurden in einen problematischen Wett-bewerb gesetzt, der Sieger und Verlierer kennt.Dem hat das Bundesverfassungsgericht im vergan-genen Jahr erste Grenzen gesetzt. Ein Grundgehaltvon 3 890 Euro und eine Leistungszulage von23,72 Euro seien zu wenig und dem Amt nicht ange-messen. Geklagt hatte ein frisch berufener Professorder Chemie aus Marburg. Die Uni Marburg begrüßtedas Urteil, weil die mittlerweile entstandenen Unter-schiede in den Gehältern nicht mehr zeitgemäß seien.Alle Professorinnen und Professoren hätten die gleichenDienstaufgaben. Die grassierende Wettbewerbsunkul-tur bekam eine klare Grenze aufgezeigt – nicht weil dieGewinner zu viel, sondern weil die Verlierer zu wenigverdienen.Das Urteil hat den Ländern, aber auch dem Bunddie Aufgabe gegeben, mehr Gleichheit und mehrGerechtigkeit in der Bezahlung von Hochschullehre-rinnen und -lehrern umzusetzen. Diese wenigen Min-destanforderungen hat die Bundesregierung im vorlie-genden Gesetzentwurf erfüllt – vor allem höhereGrundgehälter sowie die Wiedereinführung von Erfah-rungsstufen. Der Entwurf sieht vor, dass insbesonderedie Spitzenverdiener ihre in Bleibe- oder Anwerbungs-verhandlungen erlangten Bezüge weiter erhalten.Niedrigere Leistungsbezüge werden mit dem nun ange-hobenen Grundgehalt verrechnet. Die zusätzlichenMehrkosten sollen von den Hochschulen und For-schungseinrichtungen selbst getragen werden undkönnten sich negativ auf die Beschäftigungsbedingun-gen des übrigen Personals auswirken. Wir meinen:Der Bund sollte die anfallenden 600 000 Euro jährlichzuschießen. Das zahlt er aus der Portokasse.Der uns hier vorliegende Gesetzentwurf kann kaumnoch eine leitende Funktion für die Bundesländer be-anspruchen, betrifft er doch nur die etwa 850 Lehr-stuhlinhabenden an Hochschulen und Instituten desBundes. Die Länder können, Föderalismusreform seiDank, eigenständig auf das Urteil reagieren. Wir wer-den daher auch zukünftig einen intransparenten undteilweise grotesken Abwerbungswettbewerb um dievermeintlich „Exzellenten“ der restlichen etwa 40 000Professorinnen und Professoren im Landesdienst erle-ben. Die strukturellen Schwächen der W-Besoldungbleiben uns ebenfalls erhalten: intransparente Zula-gen, der unsinnige Unterschied zwischen W 2 und W 3oder die schlechten Bedingungen der Juniorprofesso-rinnen und -professoren etwa, die bei einem geringenGehalt gar keine Leistungszulagen erhalten können.Man hat widerwillig an den Symptomen einer ver-korksten Besoldungsstruktur herumgedoktert.Wir sollten nach alldem schon fragen, ob das Beam-tentum für die heutigen, kollektiven Methoden vonZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28569
Dr. Petra Sitte
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Wissenschaft in autonom agierenden Institutionenüberhaupt eine angemessene Beschäftigungsform ist.Der Ordinarius erscheint doch eher wie ein histori-sches Relikt, nicht wie ein Zukunftsmodell. 90 Prozentder Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeitenangestellt, wiederum 85 Prozent von ihnen befristet.Kaum ein Land leistet sich eine derartige Hierarchiein seinen Hochschulen. Wer eine wünschenswerte Per-sonalstruktur für morgen entwickelt, sollte sich umbessere Arbeits- und Tarifbedingungen für alle wissen-schaftlich Tätigen bemühen. Hier sollten wir ebensofix zu Ergebnissen kommen, und zwar ohne dass einVerfassungsgericht dies der Politik erst ins Stammbuchschreiben muss. Meine Fraktion hat wie die anderenauch dazu Vorschläge gemacht, die der Umsetzungharren.
Der große Wurf zum Recht des öffentlichen Dienstesist Bundesregierung und Koalition in dieser Wahlpe-riode wahrlich nicht gelungen – aber das war bei die-sem Bündnis wohl auch nicht anders zu erwarten.Teilweise richtige, aber meist viel zu zaghafte An-sätze zur Modernisierung des Dienstrechts wechselnsich bis heute mit ausgemachten Zumutungen, ja Un-verschämtheiten gegenüber den Beamtinnen und Be-amten des Bundes ab.Das Beamtenrecht ist zugegebenermaßen eine kom-plexe Materie, bei der der Teufel häufig im Detailsteckt. Oft geht es darum, an kleinen Stellschrauben zudrehen. Aber auch kleine Stellschrauben lassen sich,statt plump und halbherzig, mit dem richtigen Augen-maß und der nötigen Konsequenz bewegen.Mit dem Entwurf, der uns heute vorliegt, liefert unsdie schwarz-gelbe Bundesregierung bloßes Stückwerk,das es allerdings in sich hat.Ich will mit dem Thema Gleichstellung von Le-benspartnerschaften beginnen. Hier liefert die Koali-tion – wenn auch in anderem rechtlichen Zusammen-hang – erneut ein Paradebeispiel sowohl ihrer innerenZerstrittenheit als auch ihrer politischen Unentschlos-senheit und Handlungsunfähigkeit. Der kleine Koali-tionspartner würde gerne in Richtung Gleichstellunggehen; der große kommt wieder einmal mit den Errun-genschaften einer modernen Gesellschaft nicht klar.Vor diesem Hintergrund bekommt es die Bundesregie-rung nicht hin, eine europa- und verfassungsrechts-konforme Gleichbehandlung im Besoldungsrecht desBundes vorzulegen. Denn zutreffenderweise müssendie Leistungen rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Be-gründung der Lebenspartnerschaft erbracht werden.Und zwar nicht nur beim Familienzuschlag, sondern,wie das BVerfG festgestellt hat, auch bei der Hinter-bliebenenversorgung, Beihilfe und sonstigen Leistun-gen. Auch die Einschränkung auf zeitnah geltend ge-machte Leistungen und abschließend entschiedeneAnsprüche ist unzulässig. Wir werden dazu einen Än-derungsantrag in den Innenausschuss einbringen undder Koalition so hoffentlich weiterhelfen.Nächstes Thema: Dienstpostenbündelung. Das Bun-desverwaltungsgericht hat Mitte 2011 klargestellt,dass Funktionen , die eine Beamtin oderein Beamter ausübt, „nicht ohne sachlichen Grund ge-bündelt, das heißt mehreren Statusämtern einer Lauf-bahngruppe zugeordnet werden“ dürfen. Gleichwohlist anerkannt, dass sich eine Bündelung von Dienst-posten sachlich rechtfertigen lässt. Leistungsprinzip,Alimentationsprinzip und vor allem der Grundsatz deramtsangemessenen Beschäftigung setzen hier aberGrenzen. In bestimmten Konstellationen wird es zurWahrung einer optimalen Aufgabenerledigung nütz-lich und sinnvoll sein, auf dieses Instrument zurückzu-greifen, zum Beispiel wenn aufgrund mangelndenNachwuchses ein Dienstposten kurzfristig nicht besetztwerden kann.In Anbetracht des nach wie vor ungebremsten Auf-gabenaufwuchses in manchen Teilen der Verwaltung– man denke nur an die Bundespolizei – darf dieDienstpostenbündelung allerdings nicht überstrapa-ziert werden. Grundsätzlich muss gelten, was wir stetsbetonen: Eine funktionsfähige, Bürger- und Allgemein-wohlinteressen unterstützende Verwaltung brauchtPersonal. Öffentlicher Dienst zum Spartarif? Dazuvon uns ein klares Nein! Dies nur ganz grundsätzlich.Im Detail müssen wir insbesondere auf einen im Ge-setzentwurf eher unauffälligen Punkt kritisch hinweisen.Eine pauschale Bündelung von bis zu fünf Dienstpos-ten im Bereich der Postnachfolgeunternehmen lehnenwir ab. Genau hier droht eine Überstrapazierung derDienstpostenbündelung.Dabei geht es nicht allein um die Zahl der Posten,die gebündelt werden können, sondern vor allem auchdarum, dass die Bündelung im Falle der rund 110 000Beamtinnen und Beamten in den Postnachfolgeunter-nehmen laufbahnübergreifend stattfinden kann. Auchwenn der Einsatz dieser Bundesbediensteten nicht sta-tus-, sondern aufgabenbezogen erfolgt, so sprechenwir hier nach wie vor von Bundesbeamtinnen und -be-amten, vor die sich der Bund als Dienstherr schützendstellen muss. Dies haben wir bereits im Rahmen desGesetzentwurfs zur Postbeamtenversorgungskasse aus-drücklich betont und bleiben dabei. Die betriebswirt-schaftliche Ausrichtung des Nachfolgeunternehmensdarf nicht dazu führen, dass eine Beamtin aus demgehobenen Dienst per Bündelung mit Aufgaben deseinfachen Dienstes betraut wird. Die kommende Anhö-rung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf wird Gelegen-heit bieten, auch dieses Thema näher zu beleuchten.Ein Gesetzentwurf dieser Bundesregierung aberwäre natürlich nicht komplett ohne eine versteckteBoshaftigkeit. Der Entwurf enthält bezüglich der Bun-desbesoldungsordnungen A und B eine Neuregelungder Stellenzulage für Soldaten und Beamte in fliegeri-scher Verwendung. Nach dem Entwurf sind soge-nannte sonstige ständige Luftfahrtbesatzungsangehö-Zu Protokoll gegebene Reden
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28570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Dr. Konstantin von Notz
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rige der Bundespolizei von der Stellenzulage, andersals bisher, ausgeschlossen. Hier zeigt sich die Bundes-regierung von ihrer hinterhältigen Seite, indem sie diehöchstrichterliche Feststellung, dass sogenannte Wärme-bildoperatoren der Bundespolizei unter den Begriffder sonstigen ständigen Luftfahrtbesatzungsangehöri-gen fallen und ihnen folgerichtig eine Stellenzulage zu-steht, mit einem gesetzlichen Federstrich aushebelt.Nicht nur vonseiten der polizeilichen Interessenver-tretung wundert man sich über dieses Vorgehen. Manmag über eine Differenzierung der Höhe der Zulagefür die sogenannte WBO sprechen; pauschal wegkür-zen sollte man sie nicht. Insbesondere dann nicht,wenn man daran interessiert ist, das Nachwuchspro-blem bei der fliegenden Polizei in Angriff zu nehmen.Auch wenn wir das Thema „Attraktivität des öffent-lichen Dienstes“ nicht auf monetäre Aspekte reduzie-ren: Derartige Signale sind in jedem Fall kontrapro-duktiv. Auch darüber wird in der Anhörung am Montagzu reden sein.Für die eigentliche Regelung zur Professorenbesol-dung nehmen wir zur Kenntnis, dass die Gewerkschaf-ten wohl keinerlei Einwände mehr vortragen wollen.Wir wollen dagegen von Sachverständigen hören, obangesichts der vorgesehenen, von vielen dem Gesetz-geber nicht zugetrauten Anhebung der Grundgehältertatsächlich die Kuh vom Eis ist oder angesichts dersehr ausführlichen weiteren Vorgaben aus Karlsruhezur Amtsangemessenheit weitere Nachbesserungen zubesorgen sind.Rechtspolitisch bleiben Leistungselemente in derBesoldung ganz zentral, wenn es um eine motivierendwirkende individuelle Einkommensgerechtigkeit geht.Diese müssen aber mit den gerichtlichen Vorgabenzum Alimentationsprinzip vereinbar bleiben. Karls-ruhe hat mit seiner Entscheidung gleichwohl ver-dienstvoll die Tür dafür geöffnet, überhaupt Zulagen-systeme als alimentationskompensierend in Betrachtzu ziehen. Das ist wichtig für ein reformorientiertesDienstrecht. Denn die Zukunft auch des Beamtentums– ich zitiere diesen Satz von Gisela Färber gerne –liegt nicht in seiner Vergangenheit.D
Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Profes-sorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienst-rechtlicher Vorschriften greift die BundesregierungÄnderungsbedarf aus verschiedenen Bereichen des öf-fentlichen Dienstrechts auf.Im Mittelpunkt des Vorhabens steht die Neuregelungder Professorenbesoldung. Diese Neuregelung berück-sichtigt die Entscheidung des Bundesverfassungs-gerichts vom Februar des vergangenen Jahres zurAusgestaltung der Besoldung verbeamteter Professo-ren. Das Bundesverfassungsgericht hat – vereinfachtgesprochen – einen höheren Anteil der den Professo-ren gesetzlich garantierten Bezüge verlangt. Dies setztder Entwurf für die direkt und indirekt betroffenenrund 850 Professoren in den Hochschulen und in denvom Bund mitfinanzierten Forschungseinrichtungendes Bundes um.Die Grundgehälter in den Besoldungsgruppen W 2und W 3 werden, gestaffelt in drei Erfahrungsstufen,rückwirkend zum 1. Januar 2013 deutlich erhöht. Diebewährten leistungsabhängigen Besoldungsbestand-teile – dies betrifft Bezüge, die Professoren anlässlichihrer Berufung, wegen besonderer Leistungen inForschung und Lehre oder bei Übernahme einesHochschulamtes erhalten können – bleiben bestehen.Zugleich wird die besoldungsrechtliche Begrenzungfür diese Leistungsbezüge, der sogenannte Vergabe-rahmen, abgeschafft.Die neue Gehaltsstruktur gilt sowohl für neuberu-fene als auch für Bestandsprofessoren. Die bereits be-rufenen Professoren werden sachgerecht übergeleitet;die bisherigen Leistungsbezüge werden überwiegendnicht angerechnet.Insgesamt stellen die ausgewogenen Regelungenein positives Signal für den WissenschaftsstandortDeutschland dar.Der Gesetzentwurf greift daneben Regelungsbedarfin einem Bereich auf, der für die personalwirtschaftli-che Praxis in der Bundesverwaltung von erheblicherBedeutung ist. Unter Bezugnahme auf ein in einem Be-förderungsstreitverfahren ergangenes Urteil des Bun-desverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 haben ver-schiedene Instanzgerichte die Dienstpostenbündelung,das heißt die Zuordnung einer Funktion zu mehrerenÄmtern, infrage gestellt. Mit dem Gesetzentwurf wirddie Zulässigkeit dieses Instruments klargestellt. DieDienstpostenbündelung trägt dem Umstand Rechnung,dass die auf einem Dienstposten wahrzunehmendenAufgaben nicht immer einheitlich sind und einem stän-digen Wechsel unterliegen können. Dies gilt in beson-derem Maße für oberste Bundesbehörden, ist abernicht auf diese beschränkt. In personalwirtschaftlicherHinsicht gewährleistet die Dienstpostenbündelung ei-nen kurzfristigen Personaleinsatz, weil mit ihr sicher-gestellt werden kann, dass die Besetzung vakanterDienstposten nicht in Fällen scheitert, in denen eineNeubewertung des Dienstpostens kurzfristig nichtmöglich ist und die bisherige Wertigkeit dem Statusamtmöglicher Umsetzungsbewerber nicht entspricht.Darüber hinaus ermöglicht sie die in der Bundes-verwaltung eingeführte und in den vergangenen Jahr-zehnten von der Rechtsprechung auch nicht beanstan-dete Praxis von Beförderungen ohne Wechsel derFunktion. Die damit eröffneten Möglichkeiten derPersonalförderung dienen letztlich auch der Aufga-benwahrnehmung.Schließlich schafft der Gesetzentwurf neben einerrückwirkenden Gewährung des Familienzuschlags anBeamte in eingetragenen Lebenspartnerschaften auchdie rechtlichen Rahmenbedingungen zur Verlagerungeinzelner Aufgaben aus der Bundeswehrverwaltung inZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28571
Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner
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die Geschäftsbereiche des Bundesministeriums des In-nern und des Bundesministeriums der Finanzen.Ergänzt wird dieses Paket, mit dem die umfangrei-che Dienstrechtsagenda für diese Legislaturperiodeabgeschlossen wird, durch das Gesetz zur Übertra-gung der Familienpflegezeit auf Beamte sowie den vonden Koalitionsfraktionen eingebrachten Entwurf einesAltersgeldgesetzes.Zu allen drei Vorhaben hat die CDU/CSU-Fraktioneine Anhörung beantragt, um auf dieser Grundlage zueinem fundierten und gleichzeitig möglichst raschenGesetzesbeschluss zu kommen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf den Drucksachen 17/12455 und 17/12662 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie
an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. – Anderwei-
tige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Bessere Krankenhauspflege durch Mindest-
personalbemessung
– Drucksache 17/12095 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Betrachtet man die immer wieder aufkommendeDiskussion um die aktuelle Situation im Pflegebereichund besonders den jetzt zu debattierenden Antrag,stellt man fest, dass stets zu kurz kommt, dass die in derPflege beschäftigten Menschen eine hervorragendeund ausgezeichnete Arbeit machen. Hierfür möchte ichihnen persönlich meinen Dank aussprechen.Dass die Personalsituation in der Pflege stets ange-spannt war und durch einen massiven Stellenabbaunoch verschärft wurde, ist seit langem bekannt. AlsReaktion hierauf wurde für die Jahre 2009 bis 2011das sogenannte Pflegestellensonderprogramm auf-gelegt.An diesem Programm nahmen im genannten Zeit-raum insgesamt 1 133 Krankenhäuser teil; das sindüber zwei Drittel der anspruchsberechtigten Kliniken.Durch die Bereitstellung von insgesamt über 1 Mil-liarde Euro wurden so in den drei Jahren des Sonder-programms über 14 400 zusätzliche Vollzeitpflegestel-len geschaffen. Das Pflegestellensonderprogrammwar also ein voller Erfolg und entschärfte die ange-spannte Personalsituation im Pflegebereich massiv.Um eine adäquate Qualität sicherzustellen, ist dieWeiterentwicklung von Qualitätsindikatoren ein wich-tiger und erforderlicher Schritt, an welchem auch dieKrankenhäuser selber ein originäres Interesse haben.Ziel muss sein, die Qualität der Versorgungsleistungennoch mehr in den Vordergrund zu rücken.Zusätzlich zur Strukturqualität nehmen auch dieProzessqualität und die Ergebnisqualität eine wichtigeRolle ein. Durch sie wird verhindert, dass aufgrundder undifferenzierten Einsparung von Ressourcen ver-meintlich mehr Wirtschaftlichkeit zu erzielen ist. DennStrukturqualität bedeutet, durch qualifiziertes Perso-nal und den am Bedarf orientierten Einsatz von Sach-kosten sowie Investitionen vernünftige Bedingungenfür die Behandlung der Patientinnen und Patienten zuschaffen. Hierzu gehört selbstverständlich auch diePflege. Niemand anders kann besser beurteilen, anwelcher Stelle im Krankenhaus Ressourcen optimaleingesetzt werden sollen, als das Krankenhaus selber.Darüber hinaus wird über die Definition von Pro-zessqualität sichergestellt, dass Leistungen und Ziel-setzungen – gerade auch im Pflegebereich – objektivbeurteilt werden können.Entscheidend ist letztlich die Ergebnisqualität– also der Gesundheitsfortschritt, die Zufriedenheitund das Wohlbefinden der Patientinnen und Patientenim Rahmen der Behandlung – letztlich der Behand-lungserfolg.Selbstverständlich müssen Daten zur Qualität öf-fentlich zugänglich sein und einfach abgerufen werdenkönnen. Damit sich Patientinnen und Patienten zu-künftig über die Qualität informieren können, solltendie Ergebnisse der Qualitätssicherung, soweit diesezur Information geeignet sind, noch mehr als bisherveröffentlicht werden, beispielsweise in den Qualitäts-berichten der Krankenhäuser.Ein generelles Problem, mit dem sich die Kranken-häuser in Deutschland auseinandersetzen müssen, istder Rückzug der Länder aus der dualen Krankenhaus-finanzierung. Die Bundesländer sind verpflichtet,Mittel für Investitionen der Krankenhäuser zur Verfü-gung zu stellen, kommen dieser Verpflichtung aller-dings in nicht ausreichendem Umfang nach. Die Mittelfür den Krankenhausbereich sinken seit Jahren undJahrzehnten stark.Dieser Rückgang führt dazu, dass Krankenhäusernotwendige Ausgaben für Investitionen durch Quer-subventionen aus Krankenhausentgelten finanzieren.Diese sind hierfür nicht gedacht, und die Mittel wer-den vor allem durch Mengenausweitungen, also einenAnstieg der Fallzahlen, aufgebracht. Derartige Men-genausweitungen, soweit sie aus Finanzierungsgrün-den und nicht aus der medizinischen Notwendigkeitheraus geschehen, sind nicht zielführend und müssenvermieden werden.Laut Statistischem Bundesamt betrugen die Fallkos-tensteigerungen zwischen dem Jahr 2007 und dem
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28572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Lothar Riebsamen
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Jahr 2011 12,7 Prozent, während die Steigerung derFallkostenerstattung laut WIdO 13,3 Prozent betrug.Ich gehe davon aus, dass die Differenz in die Finanzie-rung von Investitionen floss. Das Geld fehlt jedoch imlaufenden Betrieb. Hiermit sollten Pflegestellen finan-ziert werden.Gerade im Zusammenhang mit einer drohendenVerschärfung des Pflegenotstands war jüngst die Ver-meidung eines – von der EU geplanten – erschwertenZugangs zu Pflegeberufen ein großer Erfolg. DieseAktion, die zu einer Akademisierung der Ausbildungim Pflegebereich geführt hätte, konnte durch starkenpolitischen Einsatz der Bundesregierung und unsererKollegen der EVP-Fraktion im Europaparlament er-folgreich vermieden werden.Das Abwenden dieses Damoklesschwertes einesverschärften Ausbildungszugangs muss dabei unterdem Aspekt des demografischen Wandels betrachtetwerden. Um das Niveau an Pflegekräften annäherndkonstant zu halten, müssten in den nächsten Jahrzehn-ten – bei unveränderten Rahmenbedingungen – nachmanchen Schätzungen bis zu 50 Prozent eines Schul-abschlussjahrgangs in Pflegeberufen arbeiten. Dieskann man sich nur sehr schwer vorstellen. Allerdingswird der Anteil der Pflegekräfte an allen Beschäftigtenvon 2 Prozent im Jahr 2009 auf 8 Prozent im Jahr 2050ansteigen.Das Gesundheitssystem im Allgemeinen und dasKrankenhauswesen im Besonderen sind bei der christ-lich-liberalen Koalition in guten Händen. NotwendigeHilfen werden kurzfristig gewährt. In der kommendenLegislaturperiode werden wir grundlegende Struk-turfragen angehen.
Zu den zentralen Zukunftsaufgaben aller Kranken-häuser gehören die Fachkräfteausstattung, die Fach-kräftesicherung und -entwicklung sowie das Vorhaltenattraktiver Arbeitsplätze. Krankenhausträger tragenVerantwortung und Fürsorge für ihre Beschäftigten.Sie tragen im Rahmen ihrer ArbeitgeberfunktionVerantwortung für die Steigerung der Attraktivität derGesundheitsfachberufe, tragen Verantwortung für dieUmsetzung von Professionalisierungsstrategien in derPflege. Nur so wird der Sicherheit und der qualitativhochwertigen Versorgung der Patientinnen und Pa-tienten gedient.Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt allerdings,dass die Personalsituation in den Krankenhäusernmehr und mehr an Brisanz gewinnt. Seitens derKrankenhausträger wurde bei den Expertinnen undExperten in der Pflege dramatisch gespart.Der aus Kosteneinsparungsgründen erfolgte mas-sive Stellenabbau insbesondere im Pflegedienst betrafnicht alle Qualifikationsniveaus gleichermaßen. Ver-liererinnen und Verlierer waren vor allem die Gesund-heits- und Krankenpflegehelferinnen und -helfer
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Ungelernte , während sich Service-kräfte sowie -helferinnen und -helfer neue Beschäfti-gungsperspektiven erschlossen haben. Deutlichzugenommen hat die Zahl der atypischen Beschäfti-gungsverhältnisse . Esfanden eine deutliche Leistungsverdichtung und eineErhöhung der Arbeitsbelastung bei den Beschäftigtenstatt. Insbesondere der Aufwand in der Pflege ist ge-stiegen, unter anderem auch aufgrund der gestiegenenqualitativen Anforderungen in der Begleitung undBetreuung von immer mehr demenziell erkrankten,hochaltrigen und multimorbiden Patientinnen undPatienten bei gleichzeitig immer kürzer werdendenVerweildauern.Die SPD-Bundestagsfraktion steht hinter den in derPflege Beschäftigten in den Krankenhäusern: Es istZeit, mehr deutliche Zeichen der Wertschätzung für dieBeschäftigten in den Krankenhäusern zu setzen. Dazugehört, dass die Beschäftigten an der allgemeinenTariflohnentwicklung teilhaben können. Wir brauchenleistungsgerechte tarifliche Entlohnungssysteme, dieSicherung professioneller Handlungsautonomie, flexibleArbeitszeitmodelle, qualitativ hochwertige Weiterbil-dungsangebote, moderne teamorientierte Kommunika-tions- und Kooperationsstrukturen, Modelle zur Verein-barkeit von Beruf und Familie oder Beruf und Pflegesowie alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze.All dies sind Entscheidungsfaktoren für den Einstiegbzw. den Verbleib im Berufsfeld Pflege. All dies sindangesichts der bestehenden Konkurrenz um Fach-kräfte Entscheidungsfaktoren für den Verbleib an ei-nem konkreten Krankenhaus.Zur Verbesserung der Situation der Beschäftigten,zur Verbesserung einer qualitativ hochwertigen statio-nären Versorgung wurde von der sozialdemokrati-schen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Pflege-stellen-Förderprogramm ins Leben gerufen. Dies warein großer Erfolg: Auswertungen zufolge sind dadurchzwischen 2009 und 2011 über 15 000 Pflegestellengeschaffen worden. Leider haben einzelne Kranken-hausträger dieses Programm durch „Mitnahme-effekte“ missbraucht. Diese Möglichkeiten sind künf-tig zu unterbinden. Zu verhindern ist auch, dassKrankenhäuser aus rein wirtschaftlichen Gründen aufMengenausweitungen setzen, die nicht der Sicherheitund guten Versorgung der Patientinnen und Patientendienen.Als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen wir nichtnur am Equal Pay Day die Forderungen der Beschäf-tigten – zumeist Frauen – in der Pflege. Wir Sozial-demokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns fürstrukturelle Verbesserungen im Interesse der Beschäf-tigten und der Patientinnen und Patienten ein. Des-halb machen wir uns für Personalmindeststandards inKrankenhäusern stark.Auch der Antrag „Bessere Krankenhauspflegedurch Mindestpersonalbemessung“ der Linksfraktionspricht wichtige Probleme der stationären VersorgungZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28573
Mechthild Rawert
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an. Ich hoffe auf eine baldige umfassende Debatte imGesundheitsausschuss. Gespannt bin ich darauf, wasSchwarz-Gelb anführen wird, um die Situation der Be-schäftigten in den Krankenhäusern in den wenigenMonaten dieser Legislaturperiode noch zu verbessern;bis jetzt ist auf jeden Fall noch nichts erreicht. Ichschlage eine öffentliche Anhörung mit Beschäftigten-vertreterinnen und -vertretern, den Tarifpartnerinnenund -partnern und entsprechenden Fachverbändenvor. Die Beschäftigten in der stationären Pflege habenes verdient.
Der Antrag der Linken „Bessere Krankenhaus-pflege durch Mindestpersonalbemessung“ ist in seinerAbsicht gut. In seinem analytischen Teil beschreibt erdie personelle Situation an einigen deutschen Kran-kenhäusern durchaus zutreffend.Man müsste blind sein, wollte man nicht sehen, dassin der Tat die Qualität der Patientenversorgung unterPersonalmangel leidet. Auch die Stichwörter von„enormem wirtschaftlichen Druck“ auf die Kranken-häuser und in dessen Folge „unhaltbaren Zuständen“,„massiven Überstunden“, „gefährlicher Pflege“ und„lebensbedrohlichen Situationen“ sind leider nichtnur rhetorische Übertreibung.Leider ist gut gemeint aber nicht automatisch gutgemacht. Im Gegenteil, manchmal sind die gut ge-meinten Vorschläge die gefährlichsten.Es ist ein klassisch linker Ansatz, zu glauben, diebeschriebenen Zustände seien durch schlichtes Vor-schreiben der gewünschten Endeffekte in einem Geset-zestext zu ändern. Die Illusion, der Staat könnte ingeradezu naiver Vereinfachung der vielfältigen Wirk-faktoren der Krankenversorgung ein bestimmtes Er-gebnis festlegen, ist etwas für einfache Geister. Hiermeinen Sie, liebe Kollegen von der Linken, offenbar,durch die simple Vorschrift eines pauschalen Perso-nal-Patienten-Quotienten eine so komplexe Größe wiedie Qualität der Pflege nicht nur steuern, sondernauch noch restlos vereinheitlichen zu können.Dabei sprechen wir über eine enorme Vielfalt vonregionalen oder lokalen Faktoren, der individuellenOrganisation der einzelnen Häuser, ihres Fächer- undLeistungsspektrums, ihrer bestehenden Personalstruk-tur, ihrer Traditionen, ihrer Trägerschaft, ihrer Kon-zepte, ihres Patientenguts, ihres Versorgungsumfeldesim ambulanten und stationären Bereich, kulturelle Un-terschiede und solche der flankierenden Leistungs-angebote im Umfeld und vieles andere mehr.All das ignoriert der Antrag der Linken und behaup-tet, die einheitliche, für alle gleiche Personaldichtewürde automatisch die Pflege verbessern und überallgleichmachen. Eine Standardisierung von Personalbe-messungen betreibt im Übrigen bereits das InEK durchseine kalkulierten Pflegebedarfe. Diese ändern nichtsan den beschriebenen Missständen.Es ist immer wieder verblüffend: Wie gut starrePlanwirtschaft funktioniert und wie wenig bedrucktesPapier wert ist, wenn die komplexe Wirklichkeit unddie realen Funktionsweisen von Menschen und Orga-nisationen außer Acht gelassen werden, sollte geradedie Linke wissen. Schließlich ist ihre Vorgängerparteibrutal daran gescheitert, Ergebnisse komplexer Pro-zesse staatlich festlegen und gleichschalten zu wollen,ohne die tatsächlich wirksamen Kräfte und vielfältigenMotivationen von Menschen zu beachten.Deshalb ist es beim Stichwort Motivation besondersschade, liebe Kollegen von der Linken, dass Sie in Ih-rem Antrag eigentlich den entscheidenden Hinweis füreine vernünftige Problemlösung selber geben, ohneihn aufzugreifen.Sie beklagen nämlich, dass eine hohe Qualität inder Pflege nicht gesondert vergütet werde. Sie habenvollkommen recht in diesem Befund! Leider gilt diesnicht nur bei der Pflege. Verrückterweise ziehen Sieaber daraus nicht die logische Konsequenz, dass maneben genau das tun sollte: gute Pflegeergebnisse be-lohnen. Stattdessen wollen Sie dieses Nichtbelohnenguter und Nichtbestrafen schlechter Pflege gar nichtantasten, sondern allen an dieser Stelle dieselbe perso-nelle Infrastruktur vorschreiben. Absurd!Wenn wir wollen, dass in einer Situation knapperKassen die Krankenhäuser ihre Pflege so organisie-ren, dass das Ergebnis dieser Pflege qualitativ gut ist,dann müssen wir erstens diese Qualität objektiv undunabhängig erfassen und zweitens dann auch beloh-nen. Das wäre eine echte Investition von Versorgungs-forschung und Krankenkassen. Langfristig würde dasnicht nur die Qualität verbessern. Gute Versorgungs-ergebnisse sparen auch Kosten. Zu ihrem eigenenSchaden bewegen sich die Kassen aber hier nur wenigund reagieren auf jedes Risiko kurzfristiger Mehrkos-ten mit einem Blockadereflex. Leider verhindert dieseKurzfristhysterie immer wieder langfristigen Nutzen.Statt hier anzusetzen, kommen Sie zu einem ganz an-deren Schluss. Sie ignorieren die Finanz- und Nach-wuchssituation aus Einfachheitsgründen und sagen:Wir schreiben einfach jedem Krankenhaus dasselbeZahlenverhältnis Pflegekräfte-Patienten vor. Unddann sind Sie noch so naiv zu glauben, dies würde Ih-ren ultimativen Gleichheitstraum erfüllen, dass esdann keine Unterschiede mehr im Niveau der Pflegegäbe. Man kann sich nur wundern.Außerdem machen Sie weder einen Vorschlag, auswelcher Quelle das Personalplus finanziert werdensoll – ich vermute, am Ende wird auch hier irgendwieschließlich doch wieder der universelle linke Deus exMachina auftauchen, der am Ende alle linken Blüten-träume finanziert, nämlich „die Reichen“ –, noch er-klären Sie, wie Pflegeberufe so attraktiv werden kön-nen, dass überhaupt mittelfristig genug Nachwuchszur Verfügung steht.In Berlin war es in der letzten Legislaturperiode un-ter anderem Ihre linke Gesundheitssenatorin, die eineZu Protokoll gegebene Reden
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28574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Lars Lindemann
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von der FDP geforderte einjährige Krankenpflegehel-ferausbildung abgelehnt hat, durch deren AbsolventenKrankenschwestern und -pfleger von nichtpflegerischenAufgaben hätten entlastet werden können.Auch im Bundestag sind es immer die Linken, diesich gegen differenzierte, leistungsabhängige Vergü-tungselemente wehren, weil eine Belohnung der Besse-ren eben immer auch einen Druck auf die Schlechterenbedeutet. Dafür müsste man Vielfalt und Differenzie-rung akzeptieren können. Das widerspricht aber dia-metral dem linken Gleichheitsdogma. Deshalb ist Ih-nen der Ansatz der Belohnung guter Leistung sounsympathisch. In der Regel wollen sie Gutleister– „die starken Schultern“ – ja mehr belasten, damitsie schwächer werden.Aber nochmals: In dem Ziel und auch der Notwen-digkeit einer besseren personellen Ausstattung derPflege sind wir uns einig. Hier muss mehr geschehen,und die begonnenen Reformschritte müssen mutig er-gänzt werden.Außerdem müssen die Krankenhäuser endlich ausder fatalen Zwangslage befreit werden, ihre enormenInvestitionsstaus und die daraus resultierenden Mehr-kosten immer wieder durch Personaleinsparung ge-genfinanzieren zu müssen. Hier sind im Übrigen in derdualen Finanzierung ganz wesentlich die Bundeslän-der gefragt. Sie lassen die Häuser allzu oft im Regenstehen. Berlin ist hierfür ein trauriges Beispiel: DerInvestitionsstau der Charité steigt seit Jahren rapideund liegt mittlerweile bei 1 Milliarde Euro! Der Vor-stand der Charité hat klargemacht, dass die absoluteGrenze des Personalabbaus erreicht und die Patienten-sicherheit bedroht ist, sollte hier weiterer Einspardruckentstehen. Die Tarifbewegung, die innerhalb der Cha-rité – und übrigens nicht bundeseinheitlich für allegleich – eine Verbesserung der Personalbemessungfordert, ist deshalb verständlich. Das Land Berlin musshier ebenso wie andere Bundesländer seine Pflicht zurFinanzierung der Investitionskosten der Krankenhäu-ser erfüllen und in der Haushaltspolitik neue Prioritä-ten setzen. Hier verdienen die Krankenhäuser definitiveinen höheren Stellenwert.Wenn die Häuser durch die Länder von diesen Las-ten befreit und von den Krankenkassen für ihre stei-genden, auch sächlichen Betriebskosten fair vergütetwerden, wenn zusätzlich hohe Pflegestandards undgute Ergebnisse auch belohnt werden, dann brauchensie keine Zahlenverhältnisse vorzuschreiben, die alsPapiertiger enden. Und nur dann entsteht eine origi-näre und langfristige Motivation zur Investition in gutePflege. Wie das einzelne Haus dies organisiert, istseine Sache.Die Häuser sollten nicht in totaler Ignoranz ihrerVielfalt und regionalen Unterschiede dabei bevormun-det werden. Wir Liberale wollen auch hier ausdrück-lich Vielfalt; denn wenn sich gute Pflege lohnt, dann istVielfalt die Grundlage für bessere Pflegekonzepte, fürDifferenzierung, Fortschritt und Entwicklung. Evolu-tion braucht Vielfalt, sonst stirbt das Leben aus. Dasgilt auch für die notwendige Evolution der Pflege.Bevormundung der Krankenhäuser durch Gleich-schaltungs- und Vorschriftswahn, Ignoranz der Reali-täten und zentrale Gleichschaltung der Personalbe-messung einer vielfältigen Krankenhauslandschaftwürden gute Pflege erschweren. Deshalb lehnen wirIhren Antrag ab.
Mit diesem Antrag wollen wir die Pflege in Kran-kenhäusern verbessern. Dass da was im Argen liegt,das ist mittlerweile offenkundig. Fast jede/r, die/der inder letzten Zeit in einem Krankenhaus war, hat es be-merkt: Die Pflegekräfte sind am Limit; sie müssen vonJahr zu Jahr immer mehr Arbeit schultern. Obwohl diemeisten Pflegenden sich für ihre Patientinnen und Pa-tienten selbstaufopfernd einsetzen, bleibt am Ende ei-ner Schicht oft ein flaues Gefühl zurück. Die Pflege-kräfte wissen, dass eine bessere Pflege möglich wäre,wenn sie mehr Zeit für die Patientinnen und Patientenhätten.Die „Fließband-Pflege“ macht auch die Pflegendenkrank: Überlastungsanzeigen und Burn outs habensprunghaft zugenommen; kaum ein Pflegender hältdurch bis zur Rente.Zu wenig und überlastetes Personal in der Pflegekann auch gefährlich sein. Wenn in der Nacht auf einerStation nur ein einziger Krankenpfleger Dienst hat,aber 2 von 30 Patientinnen gleichzeitig auf Hilfe ange-wiesen sind, dann wird der Pfleger entscheiden müs-sen, wen er vernachlässigt. Zu wenig Zeit in der Pflegebedeutet auch, dass die Hygiene, zum Beispiel dieHändedesinfektion, weniger ernst genommen wird.Dazu gibt es mittlerweile Untersuchungen, die das be-legen. Das führt zu mehr Infektionen der Patientinnenund Patienten mit multiresistenten Keimen, die in meh-reren Hunderttausend Fällen jedes Jahr krankmachen,Amputationen nach sich ziehen können und in Zehn-tausenden Fällen sogar zum Tod führen.Das Schlimme ist: Diese Verhältnisse sind nicht des-wegen so, weil es nicht anders ginge. Es sind die poli-tischen Weichenstellungen der Krankenhauspolitik inden letzten 15 Jahren, die Einsparungen gerade in derPflege zum Ziel hatten. Krankenhäuser stehen im Wett-bewerb miteinander und werden nach Fällen bezahlt.Das Krankenhaus also, das möglichst viele Fälle, zumBeispiel Operationen, bearbeitet, arbeitet profitabel.Ein Krankenhaus, das auf gute Pflege setzt, wird esnicht lange geben, denn es erwirtschaftet hohe Ver-luste. Mit den unter Rot-Grün eingeführten Fallpau-schalen wurden die Pflegedienste zu reinen Kostenstel-len degradiert, die angeblich keinen Anteil an derWertschöpfung im Krankenhausbetrieb haben. Unddementsprechend werden sie von den Krankenhausma-nagern auch behandelt: Die Zahl der Patientinnen undPatienten ist von 2003 bis 2011 von 17,30 Millionenauf 18,34 Millionen gestiegen, während die Zahl derPflegekräfte von 2003 bis 2011Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28575
Harald Weinberg
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von 320 158 auf 310 817 zurückgegangen ist. Undschon 2003 war die Situation äußerst angespannt.Gegen diese Arbeitsverdichtung regt sich nun erst-mals organisierter Widerstand. Die Verdi-Tarifkom-mission an der Charité hier in Berlin verhandelt mitdem Arbeitgeber derzeit über einen neuen Tarifver-trag. Dabei geht es nicht um höhere Löhne. Die Be-schäftigten wollen unter anderem erreichen, dass fürjede Station festgestellt wird, wie viel Pflegekräfte be-nötigt werden. Der Arbeitgeber soll sich verpflichten,dieses Minimum einzuhalten.Diese Forderung ist gut für die Beschäftigten, undsie ist gut für die Patientinnen und Patienten. Sie stelltsich aber völlig gegen die derzeitige Logik der Kran-kenhausfinanzierung. Ich wünsche den Kolleginnenund Kollegen daher viel Erfolg in dieser Auseinander-setzung. Aber selbst wenn diese Forderungen durchge-setzt würden, und selbst wenn andere Krankenhäuserdiesem guten Beispiel folgen würden: Es würde einFlickenteppich aus einzelnen tariflichen Lösungen ent-stehen. Unter den Bedingungen der DRGs würde esden Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern sogarweiter anheizen. Die Pflegekräfte haben aber überallin der Bundesrepublik Anspruch auf gute Arbeitsbe-dingungen, und die Patientinnen und Patienten habenüberall den Anspruch auf eine gute Pflege.Deshalb fordert die Linke in dem heute zur Debattestehenden Antrag: Wir brauchen eine bundesweite ge-setzliche Mindestpersonalbemessung für jedes Kran-kenhaus. Wir können nicht weiter zusehen, wie Patien-tinnen und Patienten darunter zu leiden haben, dassPflegekräfte mehr leisten müssen, als sie können. Undwir können auch nicht weiter zusehen, wie die Pflegen-den unter derart ungesunden und belastenden Bedin-gungen arbeiten.Klar ist: Das wird Geld kosten. Und ich bin mir si-cher, Sie werden mir gleich vorwerfen, in dem Antragstünde nicht, woher dieses Geld kommen soll. Abereinmal abgesehen von dem dann von mir immer wiedervorgetragenen Hinweis auf unser Bürgerversiche-rungskonzept: Derzeit befinden sich fast 30 MilliardenEuro Rücklagen im System. Der Finanzminister ist of-fenbar der Ansicht, dass das Gesundheitssystem zu vielGeld hat, sonst würde er nicht gerade diese Wochewieder weitere 1,5 Milliarden Euro für seine Haus-haltssanierung entnehmen. Ich finde, dieses Geld wärein mehr Pflegekräften, besseren Arbeitsbedingungenund gesünderen Patienten besser angelegt.
Seit Tagen, Wochen und Monaten steht die Situationder Krankenhäuser im öffentlichen Fokus. Es wird mit-unter hochemotional über Finanzhilfen, Personalman-gel und Rettungsprogramme diskutiert.Leider hat die Diskussion bisher nicht dazu geführt,einmal tiefer in das System der Unter-, Fehl- undÜberversorgung einzudringen. Sie führt bislang auchnicht dazu, dass die wirklichen Herausforderungen ineiner immer älter werdenden Gesellschaft in den Vor-dergrund rücken. Und es wird nicht deutlich, worin dieUrsachen für den Personalmangel bei den Gesund-heitsberufen im Krankenhaus bestehen.Unserer Meinung nach hapert es an einer umsichti-gen Krankenhausplanung, an der berufsgruppenüber-greifenden Zusammenarbeit. Es gibt keine wirklichtransparente Personaleinsatzplanung. Pflege ist Aus-tausch und Kommunikation – doch dieser Aspekt gerätimmer mehr in den Hintergrund. Es fehlt der Kranken-pflege an Anerkennung von oben und an Freiraum fürEntscheidungen. Die kurz- wie auch die langfristigePersonalplanung läuft oft völlig am tatsächlichen Be-darf vorbei.Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bezifferte imFebruar den Personalmangel in der Pflege auf70 000 Vollzeitstellen. Die Deutsche Krankenhausge-sellschaft spricht lediglich von 3 000 Stellen. Wir wis-sen also noch nicht einmal, wie hoch der eigentlichePersonalbedarf ist.Was wir aber wissen, ist, dass sich in den letztenJahren die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäu-sern nicht zum Besseren entwickelt haben. Die zuneh-mende Arbeitsverdichtung, die Überforderung durchdie wachsende Anzahl von Menschen, die nicht nur derPflege, sondern auch der Betreuung bedürfen, weil siezum Beispiel sehr alt oder dement sind, belasten dieGesundheitsberufe im Alltag enorm.Obendrein wurde das Pflegepersonal in einigenKrankenhäusern in den letzten Jahren noch ausge-dünnt, während zugleich das ärztliche Personal weiteraufgestockt wurde. Das verstehe, wer will. Eigentlichsollte es für jedes Krankenhaus ein natürliches Anlie-gen sein, Personal in der Pflege auszubilden, weiterzu-bilden und dieses qualifizierte Personal dann auch zuhalten. Eine einseitige Fokussierung auf die Sicherungder ärztlichen Belegschaft führt auf Dauer nicht zurQualitätssteigerung der Behandlung im Krankenhaus.Eine Operation kann eben nicht stattfinden, wenn dieOP-Schwestern und Pfleger fehlen, mögen dabei nochso viele Ärzte anwesend sein. Die Genesung der Pa-tienten und Patientinnen ist nach einem gelungenenEingriff nicht selbstverständlich, wenn danach diepflegerische Versorgung schlecht ist. Wir wissen doch,dass sich die Rationierung von Pflegeleistungen aufdie Pflegequalität und somit auf die Ergebnisqualitätauswirkt.Durch die Pflegestudie RN4Cast – eine der bislangumfassendsten Datensammlungen zur Personalpla-nung in der Pflege – wissen wir, dass die Unzufrieden-heit des Pflegepersonals in den letzten Jahren zuge-nommen hat. Das hat viele Ursachen; eine davon istdie permanente Überlastungssituation durch Unterbe-setzung. Auch die fehlende Vereinbarkeit von Berufund Familie, die mangelnde Anerkennung in der Orga-nisation und noch vieles mehr führen zu Unzufrie-denheit. Und unzufriedene Pflegekräfte erzielenschlechtere Arbeitsergebnisse. Gerade in einem sopersonenbezogenen Beruf ist diese Entwicklung nichtakzeptabel.Zu Protokoll gegebene Reden
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28576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Elisabeth Scharfenberg
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Die Studie machte auch deutlich, dass eineschlechte Bedarfsplanung von Pflegekräften in einemLand die Arbeitsmigration in andere Länder erhöht.Können wir uns das leisten?Es darf nicht dazu kommen, dass innerhalb derKrankenhauspersonalplanung die Pflege als Stiefkindbehandelt wird, dass die Pflege als der Bereich gilt, beidem man als Erstes kürzen kann, wenn das Budgetknapper zu werden droht. Doch genau diese Entwick-lung sehen wir derzeit.Deshalb sehen auch wir Grüne die Notwendigkeiteiner Personalbemessung in der Pflege. Aber wir dür-fen dabei die anderen Faktoren nicht aus den Augenverlieren, die die Arbeitszufriedenheit beeinflussen.Und es muss uns klar sein, dass wir derzeit über keinwirklich gutes Instrumentarium verfügen. Die Pflege-Personalregelung, PPR, ist aus heutiger Sicht nichtmehr ausreichend. Sie ist zu oberflächlich und nichtmehr aktuell.Was wir also brauchen, ist ein neues Personalbe-darfsermittlungsverfahren. Das muss sowohl den fixenAufwand pro Patient und Patientin als auch den varia-blen und zusätzlichen Aufwand abbilden. So sind bei-spielsweise bei einer OP-Vorbereitung immer gleicheMaßnahmen notwendig, die gut kalkulierbar und plan-bar sind. Es gibt variable Aufwendungen, wie dieVersorgung einer Wunde, die sich unterschiedlich, un-vorhersehbar, entwickeln können und auch an die Auf-enthaltsdauer im Krankenhaus gebunden sind. Zudemgibt es einen Zusatzaufwand, der je nach Anzahl derErkrankungen des Patienten und der Patientin weiterePflegetätigkeiten erfordert. All diese Positionen müs-sen jeweils an die unterschiedlichen Fachbereiche ei-nes Krankenhauses angepasst werden.Das ist kein leichtes Unterfangen, und das solltenwir bei allem Eifer auch berücksichtigen.
Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/12095 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da es keine ander-weitigen Vorschläge gibt, ist das so beschlossen.Tagesordnungspunkt 26:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutzund Reaktorsicherheit
– zu der Verordnung der BundesregierungVerordnung zur Änderung der Vorschriftenüber elektromagnetische Felder und dastelekommunikationsrechtliche Nachweisver-fahren– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungVierter Bericht der Bundesregierung überdie Forschungsergebnisse in Bezug auf dieEmissionsminderungsmöglichkeiten der ge-samten Mobilfunktechnologie und in Bezugauf gesundheitliche Auswirkungen– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-rungFünfter Bericht der Bundesregierung überdie Forschungsergebnisse in Bezug auf dieEmissionsminderungsmöglichkeiten der ge-samten Mobilfunktechnologie und in Bezugauf gesundheitliche Auswirkungen– Drucksachen 17/12372, 17/12441 Nr. 2.4,17/4408, 17/4588 Nr. 3, 17/12027, 17/12238Nr. 1.4, 17/12738 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael PaulDirk BeckerMichael KauchSabine StüberSylvia Kotting-UhlDer Ausschuss hat in seine Empfehlung den Viertenund Fünften Bericht der Bundesregierung über die For-schungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminde-rungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologieund in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen miteinbezogen. Diese Vorlagen sollen jetzt ebenfalls ab-schließend beraten werden. – Sie sind damit einverstan-den. Dann ist das so beschlossen.Zu der Beratung der Verordnung der Bundesregierungliegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linkevor.Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegebenwerden. – Sie sind damit einverstanden.1)Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschussfür Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehltin seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12738,in Kenntnis der Unterrichtungen auf den Drucksachen17/4408 und 17/12027 der Verordnung der Bundesregie-rung auf Drucksache 17/12372 zuzustimmen. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Regierungsfraktionen gegen dieStimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12742.Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Werstimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen undder SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltungder Grünen abgelehnt.Tagesordnungspunkt 27:Beratung des Antrags der Abgeordneten MemetKilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENDas Kindernachzugsrecht am Kindeswohlausrichten– Drucksache 17/12395 –1) Anlage 7
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28577
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Überweisungsvorschlag:Innenausschuss RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Der Antrag der Grünen impliziert zu Unrecht, dassdas Kindernachzugsrecht in Deutschland dem Kindes-wohl entgegenstehen würde. Es wird ein Bild einer un-menschlichen Abwehrhaltung heraufbeschworen, dasmit der Realität nichts gemein hat. Betrachten wir andieser Stelle die Rechtslage einmal realistisch. DieGrundsätze der Familienzusammenführungsrichtliniewerden unter anderem durch die Grundrechtecharta,die UN-Kinderrechtskonvention und die Menschen-rechtskonvention gewährleistet.Als Erstes zu der Forderung, die Integrationsbedin-gungen für über 16-jährige Kinder beim Nachzug auf-zuheben. Diese Forderung sieht nur bei oberfläch-licher Betrachtung wie ein Segen für die Jugendlichenaus.Hier ist zunächst anzumerken, dass die Familien-zusammenführungsrichtlinie grundsätzlich Einschrän-kungen für Kinder ab 12 Jahren gestattet. Die deutscheRegelung setzt hingegen erst bei Jugendlichen ab16 Jahren an.Je jünger Kinder bei der Einreise sind, desto ein-facher fällt ihnen das Erlernen der Sprache des Auf-nahmelandes. In der Regel ist ihre Integrationsfähig-keit hoch, da sie bei ihren Eltern in der neuen Kulturaufwachsen. Anders ist die Situation von über 16-jäh-rigen Jugendlichen, die bereits ein recht eigenständi-ges Leben führen, in ihrer Heimat sozialisiert und inte-griert sind und nicht wie jüngere Kinder auf ihrElternhaus angewiesen sind. Da sich die Vorausset-zungen der Kinder mit steigendem Alter zum Zeitpunktdes Nachzugs verändern, sind auch die unterschied-lichen Regelungen gerechtfertigt. Ein Jugendlicher,bei dem entweder aufgrund seiner Sprachkenntnisseoder aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Le-bensverhältnisse zu vermuten ist, dass er sich in dieLebensverhältnisse in Deutschland einfügen kann,kann sich in unserem Land eine Zukunft aufbauen. DasZiel der geforderten positiven Integrationsprognosedient dem Jugendlichen, der nicht aus seiner Heimatherausgerissen werden soll, wenn die Prognose zeigt,dass er in Deutschland keine Zukunft hat.Als Integrationsbeauftragter der CDU/CSU-Frak-tion weiß ich, dass Integrationspolitik erfolgreich undpraktikabel organisiert werden muss, sodass wir zu ei-nem gedeihlichen Miteinander kommen. Wer das nichttut, wird den Menschen nicht gerecht. Nicht für alleMenschen ist der Zuzug nach Deutschland der besteWeg. Es ist weder für die Menschen noch für das Auf-nahmeland praktikabel, die Möglichkeiten für den Zu-zug losgelöst von der Möglichkeit einer erfolgreichenIntegration zu betrachten.In einer Studie des Sachverständigenrats deutscherStiftungen für Integration und Migration befand von1 220 befragten Drittstaatsangehörigen in Deutsch-land – also die Menschen, die von der Regelung betrof-fen sind – eine Mehrheit von 69,8 Prozent die von denGrünen kritisierten Sprachanforderungen als hilf-reich! Nur 3,3 Prozent nahmen an, dass die Anforde-rungen den neu zuwandernden Familienangehörigennicht helfen, sich von Anfang an in Deutschland zu-rechtzufinden.Die Einzigartigkeit jeder familiären Situation bringtes mit sich, dass in Einzelfällen der Nachzug einesKindes geboten ist, obwohl grundsätzlich kein recht-licher Anspruch gegeben ist. Für diese Fälle existierteine Härtefallregelung in § 32 Abs. 4 AufenthG.Die Grünen fordern nun statt der Berücksichtigungeiner besonderen Härte lediglich die Orientierung alleinam Kindeswohl. Wie bereits ausgeführt, dienen die ge-forderten Integrationsbedingungen bereits dem Kindes-wohl.Der Vollzug des Aufenthaltsgesetzes liegt in derKompetenz der Länder. Bei der Anwendung der Härte-fallregelung ist jeder Sachbearbeiter an Recht und Ge-setz gebunden. Er muss für seine Ermessensentschei-dung alle Aspekte des Einzelfalls berücksichtigen.Auch die Kritik an der Prüfung ausländischer Ur-kunden und der Möglichkeit, im Familiennachzugsver-fahren das Verwandtschaftsverhältnis mittels DNS-Test nachweisen zu lassen, zeigt, dass die Verfasser desvorliegenden Antrags nicht mit den tatsächlichen Ge-gebenheiten und Bedürfnissen der Antragsteller ver-traut sind.Der Vorwurf, es würden pauschal Zweifel an derEchtheit von Urkunden geäußert, obwohl die Antrag-steller keine Möglichkeit hätten, auf die Zuverlässig-keit des Urkundenwesens einzuwirken, zeigt das man-gelnde Verständnis für den Sinn und Zweck einerUrkundenprüfung. Es geht bei der Prüfung der Echt-heit von Urkunden nicht um ein eventuelles Verschul-den der Antragsteller, sondern um die Tatsache, dasses Länder mit gravierenden Mängeln im Urkundenwe-sen gibt, die den Beweiswert der Urkunde tangieren.Für diese Fälle bieten die Auslandsvertretungen imRahmen der Amtshilfe die Vermittlung eines Urkun-denüberprüfungsverfahrens an.Wenn dennoch ein entscheidungserheblicher Nach-weis der Abstammung nicht erbracht werden kann, be-steht die Möglichkeit eines freiwilligen DNS-Abstam-mungsgutachtens. Die Forderung, diesen freiwilligenNachweis nur noch als Ultima Ratio zuzulassen, ver-kennt, dass in einigen Fällen ein DNS-Beweis für dieBetroffenen leichter und schneller zu erbringen ist alsdie vermeintlich weniger belastenden Beweismittel.Ein Zwang zur Durchführung eines DNS-Abstam-mungsgutachtens besteht nicht.
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28578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Michael Frieser
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Zusammenfassend ist festzustellen, dass der vorlie-gende Antrag den praktischen Anforderungen an dasNachzugsverfahren nicht gerecht wird und deshalb ab-zulehnen ist.
Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen wollen mit dem vorliegendenAntrag erreichen, dass das Kindernachzugsrecht amKindeswohl ausgerichtet wird. Auch für uns ist dasWohlergehen von Kindern von besonderer Wichtigkeit.So fordern wir in unserem Gesetzentwurf zur Verbesse-rung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- undAsylverfahrensrecht: Im Aufenthalts- und im Asylver-fahrensgesetz wird klargestellt, dass bei der Rechtsan-wendung das Wohl des Kindes ein vorrangig zu be-rücksichtigender Gesichtspunkt ist.“In § 32 Abs. 2 AufenthG werden für den Nachzugvon Kindern über 16 Jahren besondere – die Nach-zugsmöglichkeiten beschränkende – Bedingungen er-hoben. Deutschland ist der einzige Staat in der Euro-päischen Union, der solchermaßen verfährt.Es mag zunächst dahingestellt bleiben, ob die Ant-wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage derKolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,Drucksache 17/10279, eine befriedigende Auskunftgibt, was wissenschaftlich belastbare Erkenntnisseangeht, nach denen über 16-jährige nachziehende Kin-der mehr Probleme bei der Integration in Deutschlandaufwiesen als im Familienverband eingereiste Kinder.Die vage Antwort, Kinder im schulpflichtigen Alterintegrierten sich oftmals besser als solche, die fast bisins Erwachsenenalter in einer anderen Kultur auf-wüchsen, stellt meiner Ansicht nach eher eine schlichteBehauptung dar als eine empirisch nachgewiesene Tat-sache.Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch das im vor-liegenden Antrag von den Kolleginnen und Kollegenvorgetragene Argument, dass das Spracherfordernisdes § 32 Abs. 2 AufenthG für den Nachzug eines Kin-des über 16 Jahren, das Beherrschen der deutschenSprache – was laut den Allgemeinen Verwaltungsvor-schriften zum Aufenthaltsgesetz, AVwV-AufenthG, dieStufe C 1 der kompetenten Sprachanwendung des Ge-meinsamen europäischen Referenzrahmens für Spra-chen, GER, bedeutet –, wesentlich höher ist als das fürdie Einbürgerung eines Ausländers geforderte Sprach-niveau B 1 GER. Das ist auch in meinen Augen einWertungswiderspruch.Andererseits ist das Beherrschen der deutschenSprache gemäß § 32 Abs. 2 AufenthG nur ein Erforder-nis für die Einreise eines über 16-jährigen Kindes. Da-neben kann der Nachzug auch gewährt werden, wenn„gewährleistet erscheint, dass es sich aufgrund seinerbisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse“ inDeutschland wird einfügen können. Diese Alternativesetzt dann nicht mehr so gute Sprachkenntnisse voraus,wenngleich Sprachkenntnisse auch hier Indizien füreine positive Integrationsprognose sind. Laut den All-gemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsge-setz soll das dann angenommen werden können, wenndas Kind in einem Mitgliedstaat der EuropäischenUnion, des Abkommens über den Europäischen Wirt-schaftsraum oder einem der in § 41 Abs. 1 Aufenthalts-verordnung genannten Staaten aufgewachsen ist. Wa-rum sich Kinder aus Australien, Israel, Japan, Kanada,der Republik Korea oder Andorra und Honduras leich-ter bei uns integrieren können als zum Beispiel türki-sche Kinder, vermag ich nicht nachzuvollziehen undfinde es auch vom Ansatz her diskriminierend. Insofernist auch diese Alternative des § 32 Abs. 2 AufenthGeher eng.Diese letztgenannten Voraussetzungen finden sichallerdings wohlgemerkt nicht im Gesetz, sondern inden Verwaltungsvorschriften. Der Gesetzestext selbstist hier nicht so restriktiv.Der Forderung der Antragstellerinnen und -stellernach einer Angleichung der Nachzugsansprüche vonsubsidiär geschützten Personen an die von GFK-Flüchtlingen können wir uns anschließen. Wir teilendie Argumentation der Antragsteller auch dahin ge-hend, dass eine Gleichstellung von subsidiär geschütz-ten Personen mit GFK-Flüchtlingen unter anderemdeswegen erfolgen muss, weil Deutschland im Septem-ber 2011 die Neufassung der sogenannten Qualifika-tionsrichtlinie beschlossen hat, in der eben gerade dieGleichbehandlung von GFK-Flüchtlingen mit Perso-nen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, be-schlossen wurde. Außerdem trifft die Aussage der Bun-desregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrageder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zu, dass„der Schutzbedarf von Personen mit Anspruch aufsubsidiären Schutz … häufig zeitlich begrenzt“ sei.Dies ist, soweit mir bekannt, eine nirgends nachgewie-sene Behauptung.Die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/DieGrünen wollen des Weiteren den Familiennachzug füralle Personen mit einem humanitären Aufenthaltsrechtöffnen, was bislang nicht geltendes Recht ist. Begrün-dung hierfür war immer, dass der Aufenthalt dieserPersonen ein vorübergehender ist. Die Praxis hat aberlängst gezeigt, dass dies nicht zutrifft. Zudem mussauch die Trennung der Familie eines sich mit einemhumanitären Aufenthaltsrecht in Deutschland aufhal-tenden Flüchtlings an Art. 6 GG gemessen werden. Diegesetzliche Fixierung einer quasi unüberwindlichenTrennung für diese Personengruppe erscheint imLichte des Art. 6 GG als nicht haltbar.Allerdings vermag ich dem Antrag nicht zu entneh-men, wie der Anspruch konkret ausgestaltet werdensoll, also ob das Ergebnis eine Ermessens- oder An-spruchsnorm sein soll. Eine Anspruchsnorm bedürftewohl doch noch ein paar mehr und vor allem genaue-rer Voraussetzungen.Unter Nr. II Lit. 1 Buchstabe f fordern die Kollegin-nen und Kollegen, den Kindernachzug in den nicht vonden Abs. 1 bis 3 des § 32 AufenthG erfassten Fallkon-Zu Protokoll gegebene Reden
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Rüdiger Veit
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stellationen allein am Kindeswohl zu orientieren undnicht an einer im Einzelfall nachzuweisenden Härte.Laut dem Gesetzestext ist das Kindeswohl – so wört-lich – bereits jetzt bei der Beurteilung einer besonde-ren Härte zu berücksichtigen.Dies wird jedoch durch die Allgemeinen Verwal-tungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz verschärft,wo es heißt, dass bei der nach § 32 Abs. 4 AufenthG zu-treffenden Ermessensentscheidung „insbesondere dasWohl des Kindes und die einwanderungs- und integra-tionspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutsch-land zu berücksichtigen“ sind. Ich finde es schon pro-blematisch, wenn ein Entscheider bei einem Antrag aufKindernachzug prüfen soll, ob der Nachzug dem Kin-deswohl entspricht und außerdem einwanderungspoli-tisch gesehen Sinn macht. Sollte er zu dem Ergebniskommen, dass dies nicht der Fall ist, würde er dann ge-gen das Kindeswohl entscheiden?Mir ist klar, dass wir hier keine Verwaltungsvor-schriften entwerfen, aber mein Erstaunen über die vor-handenen wollte ich an dieser Stelle doch einmal geäu-ßert haben.Des Weiteren dringt die Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen mit dem vorliegenden Antrag darauf, dieDurchführung von DNS-Abstammungstests an klareRegeln zu binden und grundsätzlich nur in begründe-ten, nicht anders zu lösenden Einzelfällen zur Bestim-mung der Familienzugehörigkeit anzuwenden. Insbe-sondere ist es ungerecht, einem Antragsteller, der alleihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorgelegthat, mit dem generellen Hinweis zu begegnen, dass dievon Behörden seines Landes ausgestellten Urkundengenerell nicht glaubhaft seien. Das hat er schwerlichzu vertreten. Aus Datenschutzgründen und Gründen,die das Persönlichkeitsrecht eines jeden Menschenschützen, halten wir eine Einschränkung der Möglich-keit der Durchführung von DNS-Tests grundsätzlichfür unterstützenswert. Ich kann auch nicht erkennen,dass solche Tests aufenthaltsrechtlich notwendig wä-ren.Schließlich soll mit dem Antrag der Anspruch aufKindernachzug auch zu einem getrennt lebenden El-ternteil ermöglicht werden, wenn die Eltern das Sorge-recht gemeinsam ausüben und der andere Elternteilzugestimmt hat. Abgesehen davon, dass der Begriff des„alleinigen Sorgerechts“ in vielen Staaten so nichtvorhanden ist, ist es in der heutigen Zeit bei der Viel-zahl der verschiedenen Lebensentwürfe und Familien-zusammensetzungen nicht mehr angebracht, die Ent-scheidung, wo ein Kind leben darf und wo nicht, vondem alleinigen Sorgerecht abhängig zu machen. Viel-mehr sollte auch hier das Kindeswohl im Mittelpunktstehen und die Zustimmung beider Eltern dazu, wo dasKind am besten leben soll.In vielen Fragen stimmen wir den im vorliegendenAntrag erhobenen Forderungen zu. Einige sind uns je-doch noch etwas zu ungenau. Wir gehen davon aus,dass sie in den Ausschusssitzungen und laufenden Be-ratungen konkretisiert werden.Hartfrid Wolff (FDP):Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Wirsehen die Chancen einer durch Zuwanderung berei-cherten Gesellschaft und wollen diese stärken.Zuwanderer sind aber selbst auch klar gefordert.Die deutsche Sprache, die Grund- und Menschen-rechte sowie Demokratie und Rechtsstaat sind das füralle geltende Fundament unserer Gesellschaft.Grüne, Linke und Sozialdemokraten wollen, wie siewieder einmal in Antragsform zeigen, etwas anderes:Sie wollen die Abschaffung einer Deutschlernpflichtfür nachzugswillige Familienmitglieder. Damit werdensie, wie immer mit solchen Anträgen zur Migrations-politik, die Akzeptanz von Ausländern in Deutschlanderschweren, indem sie falsche Erwartungen weckenund statt Engagement nur Anspruchsdenken fördern.Die Oppositionsparteien und vor allem Linke undGrüne verwenden jeden beliebigen Vorgang aus derZuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zuwande-rung das Wort zu reden. Wachsende Belastungen für diesozialen Sicherungssysteme und ansteigende Auslän-derfeindlichkeit nehmen sie dafür billigend in Kauf.Wer, wie die Grünen mit dem vorliegenden Antrag,systematisch verhindern will, dass Menschen, die nachDeutschland kommen, hier auch eine Lebensperspek-tive haben und Chancen entwickeln können, der schadetvor allem diesen Zuwanderern. Er schadet überhauptder Öffnung Deutschlands für qualifizierte Zuwande-rung.Wir sollten alle so ehrlich sein, gemeinsam anzuer-kennen, dass abgeschottete Migrantenmilieus ohnejegliches Interesse an deutscher Sprache und Integra-tion in Deutschland nicht zum friedlichen Zusammen-leben in Deutschland beitragen.Wer dann noch, wie die Grünen im vorliegendenAntrag, trotz anerkannt fragwürdiger Urkundenlage inbestimmten Ländern in jedem Fall eine Einzelfallprü-fung verlangt und die Kosten des Anliegens der Ein-wanderer dem deutschen Steuerzahler aufbürden will,der will durch uneingeschränkte Bürokratieaufblähungjegliche Kontrolle der Einwanderung unterbinden.Die Grünen freilich zielen auf eine nichtintegrierteund daher im politischen Diskurs unmündige Men-schenschar ab, die sie nach Möglichkeit trotzdem amWahlrecht teilhaben lassen wollen.Wenn die Oppositionsparteien endlich nicht nur mitAnträgen der vorliegenden Art um Migrantenstimmenbuhlen würden, sondern auch einmal die Anliegen desfriedlichen Zusammenlebens und der Bekämpfung derGettobildung aufgreifen wollten, wäre eine solche Ini-tiative vielleicht ernst zu nehmen.Wir Liberalen gestalten dagegen eine zukunftsträch-tige Zuwanderungspolitik gemeinsam in der KoalitionZu Protokoll gegebene Reden
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28580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Hartfrid Wolff
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mit der Union. Statt politischer Nachsicht mit Integra-tionsfehlleistungen einerseits und daraus resultieren-den Ressentiments der Bevölkerung gegen Zuwandererandererseits wollen wir eine Steuerung der Zuwande-rung nach zusammenhängenden, klaren, transparentenund gewichteten Kriterien, die die Integrationszieleklar benennt und einfordert.Wer dauerhaft hier leben und Bürgerrechte ausübenwill, muss Deutscher werden wollen. Die Vorausset-zungen dazu gehören dabei gerade hinsichtlich derzeitlichen Anforderungen auf den Prüfstand.Umgekehrt wollen wir das dann aber auch ohneWenn und Aber zugestehen: Wir wollen eine neue Kul-tur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungenauf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancenund Perspektiven eröffnet: für die, die nicht nur „terri-torial“ nach Deutschland kommen, sondern in unse-rem Land und unserer Gesellschaft auch wirklich an-kommen wollen.Wir halten es nicht für unzumutbar, Deutsch zu ler-nen. Wir halten Zuwanderer nicht, wie SPD oderLinke, für bemitleidenswerte und unfähige Menschen,denen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnetwerden kann und die auf Generationen hinaus mit demUnwort „Migrationshintergrund“ stigmatisiert werdensollen.Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfol-gen muss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedri-genden Mitleids und des Verzichts auf Integrationsfor-derungen muss Deutschland in der Integrationspolitikendlich positiv denken.In dieser Hinsicht sagen natürlich auch wir: Kin-dernachzug ist ein wichtiges Thema. Aber wenn dieAntragsteller so tun, als würde das Kindeswohl beimNachzug missachtet, dann ist das einfach nicht hin-nehmbar. Und die Antragsteller vergessen, dass es na-türlich auch Missbrauchsmöglichkeiten gibt, die wirim Blick behalten müssen.Selbstverständlich muss man ständig prüfen, obman nicht etwas verbessern kann. Wir, FDP und CDU/CSU, haben im Rahmen des Richtlinienumsetzungsge-setzes das Kindeswohl ganz klar in den Mittelpunkt ge-rückt – so stark wie keine Regierung zuvor.Beispielhaft sei zudem erwähnt: Erstmals gibt esdank der schwarz-gelben Koalition ein bundesgesetz-liches Bleiberecht für Kinder und Jugendliche – unab-hängig vom Status der Eltern.Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung für die-jenigen Zuwanderer, die die Integration in Deutsch-land geschafft haben. Wir halten integrierte Zuwande-rer mit ihren Erfahrungen für eine große Bereicherungunserer Gesellschaft. Wir beglückwünschen diejeni-gen, die sich erfolgreich integriert haben. Sie könnenstolz auf ihre Leistung sein, und wir sind dankbar undstolz, dass sie sich für Deutschland entschieden haben.Die Grünen wollen ein Deutschland, in dem eth-nisch klar voneinander segregierte Gruppen sprachlosnebeneinanderher existieren.Wir wollen ein Deutschland, in dem Menschen– egal welcher Herkunft – friedlich miteinander lebenund sich über die Ziele ihres Zusammenlebens verstän-digen und Vorbehalte, Vorurteile und Ängste durchKommunikation abbauen können.Das ist der Unterschied zwischen der rot-rot-grü-nen „Toleranz durch Ignoranz“ und der liberalen Kul-tur des Willkommens.
Die Linke setzt sich seit langem für ein möglichstumfassendes Recht auf Familienzusammenführungein, das insbesondere auch nicht von der wirtschaftli-chen und sozialen Lage der Betroffenen abhängig ge-macht werden darf. Die Linke fordert, dass die zahlrei-chen Einschränkungen des Menschenrechts aufFamilienzusammenleben in der Praxis endlich ohneWenn und Aber beendet werden. So wie die Gesetzes-lage und die Verwaltungspraxis insgesamt von einergenerellen Abwehrhaltung, von Misstrauen, Unterstel-lungen und Generalverdacht geprägt sind, zeigt sichauch beim Nachzug von minderjährigen Kindern aus-ländische Eltern dieser (Un-)Geist der „Steuerung“,und das meint vor allem „Begrenzung“ von Migration.Auch wenn die Bundesregierung 2010 nach jahrelan-gem Verzögern den Vorbehalt zur UN-Kinderrechts-konvention zurückgenommen hat, lässt dies leidernicht darauf schließen, dass ihr das Kindeswohl im Zu-sammenhang mit der Migration tatsächlich am Herzenliegt. Dagegen spricht bereits die Auffassung der Bun-desregierung, dass die Rücknahme des Vorbehalts keinGesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsgesetzund insbesondere bezüglich der Frage der aufent-haltsrechtlichen Handlungsfähigkeit Minderjährigerab 16 Jahren bedarf. Die Beschränkung des Kinder-nachzugs auf das 16. Lebensjahr verhindert oft, dassder Aufenthaltswechsel zu einem für den Jugendlichengünstigeren Zeitpunkt erfolgen kann, also zum Beispielerst nach Abschluss einer Ausbildung. In jedem Fallverhindert sie in vielen Fällen das Zusammenlebenvon 16- und 17-jährigen Jugendlichen mit ihrenEltern. Die Linke fordert auch die Berücksichtigungvon familiären Bindungen über die Kernfamilie hi-naus, wie es zum Beispiel im EU-Freizügigkeitsrechtder Fall ist, auch wenn diese Regelungen uns nochnicht weit genug gehen.Auch wenn § 32 des Aufenthaltsgesetzes, AufenthG,und einige Stellen der Allgemeinen Verwaltungsvor-schrift zum Aufenthaltsgesetz, insbesondere bezüglichder Familienzusammenführung, eine Kindeswohlprü-fung beim Kindernachzug vorsehen – ein systematischund wirksam zu berücksichtigender Vorrang des Kin-deswohls ist im Asyl- und Aufenthaltsrecht nicht ver-ankert. Dass es letztlich wie beim Ehegattennachzugauch um eine soziale Selektion geht, zeigt, dass schonder theoretische Anspruch auf Leistungen des SGB IIZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28581
Sevim Dağdelen
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die Familienzusammenführung verhindert – und das,obwohl in Deutschland generell Familien und Allein-erziehende besonders von Armut bedroht sind. Bei Mi-grantinnen und Migranten und hierbei insbesonderebei Ausländerinnen und Ausländern wissen wir, dasszu den finanziellen noch ausländerrechtliche Problemehinzukommen, die ihnen das Leben schwer machen
. Eine tatsächliche Inanspruchnahme von so-
zialen Leistungen kommt für viele gar nicht oder nurteilweise infrage, weil das den weiteren Aufenthalt ge-fährden könnte oder die Betroffenen dies zumindestfürchten müssen. Zwar wird der Bezug von Ausbil-dungsförderung bei der aufenthaltsrechtlichen Beur-teilung inzwischen nicht mehr als „schädlich“ angese-hen; ein indirekter Druck auf ausländische Kinder undJugendliche, längere Ausbildungen zu meiden, bestehtjedoch nach wie vor, weil sich das geringe oder feh-lende Einkommen während einer Ausbildung oder desStudiums negativ auf den Status insbesondere auch vonFamilienangehörigen auswirken kann.Auch die Verstöße gegen EU-Recht und die Recht-sprechung des Europäischen Gerichtshofs beim Kin-dernachzug sind eklatant. Insbesondere fehlt eine ernstzu nehmende individuelle Einzel- und Verhältnismä-ßigkeitsprüfung, wie es zum Beispiel im Chakroun-Urteil des EuGH gefordert wurde, wenn auch nur eineNachzugsvoraussetzung nicht erfüllt ist. Den Nachzugvon Kindern zu ihren Eltern mit der Begründung zuverhindern, dass der Lebensunterhalt um 20 Euro zuniedrig liegt, ist eben nicht nur offenkundig unmensch-lich, sondern auch ein Verstoß gegen EU-Recht.Eine besondere ausländerrechtliche Schikane undDiskriminierung ist im Gendiagnostikgesetz festge-schrieben, wonach ausländischen und binationalenFamilien weniger Schutzrechte zugestanden werdenals anderen Personen, die sich einem Gentest unterzie-hen. Die Regelungen zur Durchführung eines Abstam-mungstestes dienen ausschließlich der Feststellungvon biologischen Verwandtschaftsverhältnissen. Die in§ 17 Abs. 8 des Gendiagnostikgesetzes enthaltene Son-derregelung beim Nachweis eines Verwandtschaftsver-hältnisses unter anderem im aufenthaltsrechtlichenVerfahren zum Familiennachzug muss ersatzlos gestri-chen werden; denn Migrantinnen und Migranten ausüber 40 Staaten sind von einer diskriminierendenPraxis betroffen. Von ihnen werden Urkunden zumNachweis der Verwandtschaft nicht anerkannt undauch andere behördliche Belege oftmals nicht akzep-tiert. Den biologischen Abstammungsnachweis durcheinen DNA-Test für diese Menschen zum maßgeblichenKriterium für die Beurteilung der Familienbeziehungzu machen, haben wir damals abgelehnt und lehnenihn heute ab; denn Kindern von sozialen Vätern wirddamit faktisch ihr Grundrecht auf Familienzusammen-leben verwehrt. Beim Nachweis eines Verwandt-schaftsverhältnisses bei Staatsangehörigen aus so-genannten Problemstaaten mit – aus Sicht derBundesrepublik Deutschland – unzureichenden Ur-kundssystemen dürfen keine überhöhten Anforderun-gen gestellt werden. Im Zweifelsfall muss zum Beispieldie Abgabe von Versicherungen an Eides statt zur Klä-rung der Familiensituation ausreichen, wenn keine ge-genteiligen gesicherten Erkenntnisse vorliegen.Im Zuwanderungsrecht hat das Kindeswohl grund-sätzlich nur unzureichend Niederschlag gefunden,ganz zu schweigen vom Vorrang des Kindeswohls. DieUN-Kinderrechtskonvention verlangt eine vorrangigeBerücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatli-chen Maßnahmen, unabhängig von Herkunft undStatus des Kindes. Die bisherigen Bundesregierungenhaben keine Abhilfe dafür geschaffen, die konventions-widrige Missachtung des Kindeswohls endlich zu be-enden bzw. zu verhindern. Die Linke fordert deshalbeine ausdrückliche Verankerung der vorrangigen Be-rücksichtigung des Kindeswohls im Asylverfahrens-,Asylbewerberleistungs- und Aufenthaltsgesetz. DieFamilienzusammenführung muss so gestaltet werden,dass das Kindeswohl dabei Priorität hat. Das Rechtauf ein wohlwollendes, humanes und beschleunigtesVerfahren muss in der Verwaltungspraxis umgesetztwerden.Den Antrag der Grünen begrüßen wir unabhängigvon unseren im Detail weitergehenden Forderungen,weil er unstrittige Probleme und Einschränkungen desKindernachzugs aufzeigt und beseitigen will. Schadeist nur, dass er so spät in der Legislaturperiode einge-bracht wird; denn eine ernst zu nehmende, gründlicheBeratung dieses Antrags ist in der verbleibenden Zeitbis zur Sommerpause wohl nicht mehr zu erwarten.
Im deutschen Recht wird der Kindernachzug durchverschiedene Vorschriften erheblich erschwert. Pro-bleme gibt es insbesondere bei dem Nachzug von über16-jährigen Kindern sowie bei Kindern von Personenmit einem humanitären Aufenthaltstitel und getrenntlebenden Elternteilen, die die Personensorge gemein-sam ausüben.Es ist Zeit, die familienfeindlichen Regelungen imNachzugsrecht zu überwinden und endlich die Interes-sen der Kinder in den Vordergrund zu stellen. Ichmöchte im Folgenden auf einige unserer Vorschlägeeingehen.Minderjährige ab dem 16. Lebensjahr müssen fürden Nachzug zu ihren hier lebenden Eltern entwederSprachkenntnisse oder sonstige Integrationsvoraus-setzungen nachweisen. Die von den Kindern geforder-ten Sprachkenntnisse liegen sogar deutlich über denAnforderungen für eine Einbürgerung. Dadurch wer-den der Nachzug und die Familienzusammenführungstark erschwert und teilweise sogar verhindert.Hinzu kommt, dass Kinder aus bestimmten Ländernbenachteiligt werden. Die Bundesregierung prognosti-ziert zum Beispiel bei Kindern aus Australien, Israel,Japan, Kanada, der Republik Korea, Neuseeland undden USA in der Regel gute Integrationsvoraussetzungen,während bei Kindern aus anderen Staaten pauschalschlechtere Integrationsvoraussetzungen vermutet wer-Zu Protokoll gegebene Reden
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28582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
Memet Kilic
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den. Möglicherweise sind die Lernvoraussetzungen fürKinder in den restlichen Staaten schlechter als bei deneben aufgezählten. Jedoch kann niemand belegen,dass die Kinder aus den nichtprivilegierten Staatenspäter spezifische Integrationsprobleme aufweisen.Das ist reinste Wahrsagerei und bedenklich im Hin-blick auf das Diskriminierungsverbot. Hinter jedemEinzelfall stecken individuelle menschliche Schicksale.Eine pauschale Betrachtung kann nicht infrage kom-men.Deutschland hat damit die härtesten Regeln inner-halb der Europäischen Union; denn kein anderes EU-Land hat diese Sonderregelungen für 16- bis 18-jährigeKinder. Es ist verfehlt, für den Zuzug nach Deutsch-land höhere Sprachanforderungen zu stellen, als füreine Einbürgerung erforderlich sind. Die Integrations-bedingungen für über 16-jährige Kinder beim Nach-zug müssen aufgehoben werden.Im deutschen Kindernachzugsrecht werden subsi-diär geschützte Personen gegenüber Flüchtlingennach der Genfer Flüchtlingskonvention benachteiligt.Dabei sollten beide Personengruppen nach der EU-Qualifikationsrichtlinie von 2011 gleichbehandeltwerden. Die Bundesregierung hat dieser Richtliniezwar zugestimmt, jedoch setzt sie den Beschluss nichtum. Es gibt absolut keinen Grund die überfälligeGleichstellung dieser Personengruppen nicht schonheute umzusetzen. Deshalb fordern wir eine sofortigeGleichbehandlung im Kindernachzug.Nach geltendem Recht sind Personen mit bestimm-ten, insbesondere humanitären Aufenthaltstiteln vomKindernachzug ausgeschlossen. Das hat das Bundes-verfassungsgericht schon 1987 klargestellt: Auchnichtdeutsche Familienangehörige stehen nach Art. 6Grundgesetz unter dem besonderen Schutze der staat-lichen Ordnung. Der dauerhafte Ausschluss des Fami-liennachzugs ist ein gravierender Eingriff in das Rechtauf familiäres Zusammenleben. Wir gehen davon aus,dass die Regelung grundrechtswidrig ist. Dem soll die-ser Antrag abhelfen.Darüber hinaus wird besonders der Nachzug vonKindern getrennt lebender Elternteile in unzumutbarerWeise erschwert. Sie dürfen grundsätzlich nur zu ihremElternteil nachziehen, wenn dieser das alleinige Sor-gerecht hat. Damit wird der Nachzug von Kindern ausLändern, die ein alleiniges Sorgerecht nach unseremVerständnis nicht kennen, weitgehend ausgeschlossen.Zwar sieht das Aufenthaltsrecht noch eine Härtefallre-gelung vor. Wir wissen aber alle, dass es praktisch un-möglich ist, die zuständigen Behörden von einer be-sonderen Härte zu überzeugen. Auch hier gibt esdringenden Änderungsbedarf. Maßgeblich sollte al-lein sein, dass der zusammenführende Elternteil sorge-berechtigt ist und der andere Elternteil dem Nachzugzugestimmt hat.Besonders wichtig ist uns schließlich eine Öffnungdes Kindernachzugs im Ermessen. Bei den Verhand-lungen zum Zuwanderungsgesetz hatten wir damalsmit der SPD in die Härtefallregelung aufgenommen,dass das Kindeswohl und die familiäre Situation vor-rangig berücksichtigt werden sollten. Die Bundesre-gierung hat die Absicht des damaligen Gesetzgebersjedoch konterkariert. Nach der von ihr entworfenenAllgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthalts-gesetz soll der Rechtsanwender – gleichberechtigtneben dem Kindeswohl – den auf „Steuerung undBegrenzung“ ausgerichteten „integrations- und ein-wanderungspolitischen Belangen der BundesrepublikDeutschland“ Geltung verschaffen. Der Kindernach-zug im Ermessen ist dadurch weitgehend zum Erliegengekommen. Wir schlagen daher vor, den Kindernach-zug nicht vom Vorliegen einer besonderen Härte ab-hängig zu machen und das Ermessen der zuständigenBehörden allein am Kindeswohl zu orientieren.Wir müssen die unzumutbaren Steine auf dem Wegzur Familienzusammenführung beseitigen. Mit unse-rem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, dasKindernachzugsrecht am Kindeswohl auszurichten.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12395 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die
nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen,
Freitag, den 15. März 2013, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.
Ich wünsche Ihnen eine freundliche Nacht.