Protokoll:
17228

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 228

  • date_rangeDatum: 14. März 2013

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:01 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 21:28 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/228 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 228. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag des Parlamen- tarischen Staatssekretärs Thomas Kossendey sowie der Abgeordneten Wolfgang Wieland und Matthias Lietz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 8 c . . . Nachträgliche Ausschussüberweisung . . . . . . Begrüßung des Präsidenten der Nationalver- sammlung der Sozialistischen Republik Viet- nam, Herrn Nguyen Sinh Hung . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Eine starke Energieinfra- struktur für Deutschland . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Zwei- ten Gesetzes über Maßnahmen zur Be- schleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze (Drucksache 17/12638) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Dirk Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Strom-Versor- gungssicherheit in Deutschland erhal- ten und stärken (Drucksache 17/12214) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Ausbau der Übertragungsnetze durch Deutsche Netzgesellschaft und finanzielle Bürge- rinnen-/Bürgerbeteiligung voranbrin- gen (Drucksache 17/12518) . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 2: Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Den Netzausbau bürgerfreundlich und zu- kunftssicher gestalten (Drucksache 17/12681) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister  BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sigmar Gabriel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE) . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Kelber (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . 28377 A 28377 B 28379 B 28379 B 28387 D 28379 C 28379 C 28379 C 28379 D 28379 D 28380 A 28384 A 28388 A 28389 A 28390 C 28391 D 28393 C 28395 A 28397 B 28397 D 28399 A 28401 C 28401 D 28402 B Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: Antrag der Abgeordneten Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil (Peine), Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Deutschland 2020 – Zu- kunftsinvestitionen für eine starke Wirt- schaft: Infrastruktur modernisieren, Ener- giewende gestalten, Innovationen fördern (Drucksache 17/12682) . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Georg Nüßlein (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Birgit Homburger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Vogel (Kleinsaara)  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Scheuer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Martin Dörmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Einführung eines Datenbank- grundbuchs (DaBaGG) (Drucksache 17/12635) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012 über die abschlie- ßende Aufteilung des Finanzvermögens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertra- ges zwischen dem Bund, den neuen Ländern und Berlin (Finanzvermögen- Staatsvertrag) und zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung (Drucksache 17/12639) . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Finanz- und Per- sonalstatistikgesetzes (Drucksache 17/12640) . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Karl Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/ CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic, Patrick Döring, Petra Müller (Aachen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Öffentlich-Private Part- nerschaften – Potentiale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich gestalten und Transparenz erhöhen (Drucksache 17/12696) . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Renate Künast, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Haltung von Delfinen beenden (Drucksache 17/12657) . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Harald Ebner, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Bienen und andere Insekten vor Neonicotinoiden schützen (Drucksache 17/12695) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Gesetzes gegen Wett- bewerbsbeschränkungen zur gesetzli- chen Absicherung des Presse-Grossos (Drucksache 17/12679) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur Än- derung des Pressefusionsrechtes (Drucksache 17/12680) . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Swen Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Hoch- schulpakt aufstocken – Finanzierung von wachsenden Studienkapazitäten an den Hochschulen langfristig sicher- stellen (Drucksache 17/12690) . . . . . . . . . . . . . . 28403 B 28404 B 28406 B 28408 A 28408 B 28410 B 28412 B 28415 A 28417 C 28419 A 28421 B 28422 A 28422 C 28423 B 28424 A 28424 D 28425 B 28426 A 28427 A 28427 D 28429 D 28430 B 28431 C 28431 D 28431 D 28431 D 28432 A 28432 A 28432 B 28432 B 28432 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 III d) Antrag der Abgeordneten Maria Klein- Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Korruption im Gesundheitswesen straf- bar machen (Drucksache 17/12693) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Europäische Tonnagesteuer statt Steu- ersparmodell (Drucksache 17/12697) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 35: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai 2012 zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung der Re- publik Korea über die Seeschifffahrt (Drucksachen 17/12336, 17/12574) . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung seever- kehrsrechtlicher und sonstiger Vor- schriften mit Bezug zum Seerecht (Drucksachen 17/12348, 17/12594) . . . . . c) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Internationalen Übereinkommen von Nairobi von 2007 über die Beseitigung von Wracks  (Drucksachen 17/12343, 17/12595) . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Fünfundneunzigste Verordnung zur Änderung der Außenwirtschafts- verordnung (Drucksachen 17/12226, 17/12441 Nr. 2.1, 17/12728) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . e) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie zu der Verordnung der Bundesregie- rung: Einhundertzehnte Verordnung zur Änderung der Ausfuhrliste – An- lage AL zur Außenwirtschaftsverord- nung –  (Drucksachen 17/12227, 17/12441 Nr. 2.2, 17/12729) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . f) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung über die Hinweispflichten des Handels beim Ver- trieb bepfandeter Getränkeverpackun- gen (GvpHpV) (Drucksachen 17/12303, 17/12441 Nr. 2.3, 17/12739) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . g)–m) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 546, 547, 548, 549, 550, 551 und 552 zu Petitionen (Drucksachen 17/12511, 17/12512, 17/12513, 17/12514, 17/12515, 17/12516, 17/12517) . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zu dem Antrag der Abgeord- neten Renate Künast, Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Führungspositionen umsetzen (Drucksachen 17/7953, 17/8643) . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des In- nenausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Josef Philip Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Residenzpflicht abschaf- fen (Drucksachen 17/11356, 17/11725) . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion der SPD: Standpunkt der Bundesregierung zu den beschlossenen Verfassungsänderun- gen in Ungarn im Hinblick auf die Einhal- tung europäischer Grundwerte . . . . . . . . . . Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD) . . . . . . . . Gunther Krichbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Joachim Spatz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Michael Roth (Heringen) (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Kerstin Griese (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Dörflinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . 28432 C 28432 C 28432 D 28433 A 28433 B 28433 C 28433 C 28433 D 28434 A 28434 C 28434 D 28435 A 28435 B 28436 A 28436 D 28438 A 28438 D 28439 D 28441 A 28442 C 28443 C 28445 A 28446 B 28447 C IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Tagesordnungspunkt 5: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU, SPD und FDP eingebrachten Ent- wurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des Conterganstiftungsgesetzes (Drucksache 17/12678) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Rupprecht (Tuchenbach)  (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin  BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Grübel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Thomas Strobl (Heilbronn) (CDU/CSU) . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Katja Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaft- licher Spaltung – Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010 (Drucksache 17/12683) . . . . . . . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Linnemann (CDU/CSU) . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinrich L. Kolb (FDP) . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . Katja Kipping (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Johannes Vogel (Lüdenscheid) (FDP) . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Ent- wurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) (Drucksachen 17/6261, 17/12735) . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz, Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und der Frak- tion der SPD eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjäh- rungsvorschriften bei sexuellem Missbrauch von Kindern und min- derjährigen Schutzbefohlenen (Drucksachen 17/3646, 17/12735) . . . – Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Ekin Deligöz, Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten und der Frak- tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN ein- gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verlängerung der zivilrechtli- chen Verjährungsfristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelun- gen bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zivil- und Strafrecht (Drucksachen 17/5774, 17/12735) . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Aktionsplan 2011 der Bundesregierung zum Schutz von Kindern und Jugendli- chen vor sexueller Gewalt und Ausbeu- tung (Drucksache 17/7233) . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Abschlussbericht des Runden Tisches „Sexueller Kindesmissbrauch in Ab- hängigkeits- und Machtverhältnissen in privaten und öffentlichen Einrichtun- gen und im familiären Bereich“ (Drucksache 17/8117) . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE) . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michaela Noll (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 8: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Lisa Paus, Ingrid Hönlinger, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur abschließenden Beendigung der 28448 B 28448 C 28449 C 28450 D 28451 D 28453 C 28455 A 28456 A 28457 C 28458 B 28459 C 28460 C 28461 B 28461 B 28462 B 28463 C 28465 D 28466 C 28467 B 28468 A 28468 D 28469 C 28470 A 28471 C 28472 C 28472 C 28472 C 28472 D 28473 A 28473 A 28474 A 28475 D 28476 D 28477 D 28478 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 V verfassungswidrigen Diskriminierung eingetragener Lebenspartnerschaften (Drucksache 17/12676) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gleiches Recht für Lebenspartnerschaft und Ehe beim Adoptionsrecht – Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar 2013 jetzt umsetzen (Drucksache 17/12691) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Bericht des Rechtsausschusses gemäß § 62 Absatz 2 der Geschäftsordnung zu dem von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin Deligöz, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Ge- setzes zur Ergänzung des Lebenspartner- schaftsgesetzes und anderer Gesetze im Be- reich des Adoptionsrechts (Drucksachen 17/1429, 17/12731) . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ein- führung des Rechts auf Eheschließung für Personen gleichen Geschlechts (Drucksache 17/12677) . . . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Erika Steinbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Zur Geschäftsordnung Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines ... Strafrechtsänderungsgesetzes – Beschrän- kung der Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe (… StrÄndG) (Drucksachen 17/9695, 17/12732) . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag der Abge- ordneten Dr. Bärbel Kofler, Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abge- ordneter und der Fraktion der SPD: Für eine bessere Bildungssituation weltweit (Drucksachen 17/6484, 17/11492) . . . . . . . . . Harald Leibrecht (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Bärbel Kofler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die Gewährung eines Altersgelds für freiwillig aus dem Bundes- dienst ausscheidende Beamte, Richter und Soldaten (Drucksache 17/12479) . . . . . . . . . . . . . . . . . Armin Schuster (Weil am Rhein)  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hartmann (Wackernheim)  (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28480 C 28480 C 28480 D 28480 D 28481 A 28482 A 28484 A 28484 A 28484 C 28485 D 28486 C 28487 A 28488 A 28488 B 28489 C 28490 C 28492 B 28493 B 28494 B 28495 C 28495 D 28496 B 28497 B 28498 D 28499 D 28500 D 28501 A 28502 A 28503 D 28505 D 28506 D 28507 D 28508 A 28510 C VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hartmann (Wackernheim)  (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Fraktionen SPD und BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: 25 Jahre nach Halabja – Unterstützung für die Opfer der Giftgasangriffe (Drucksache 17/12685) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP: Unterstützung für die Opfer von Halabja fortsetzen (Drucksache 17/12684) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Ulla Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Aner- kennung der irakischen Anfal-Operationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf Halabja vom 16. März 1988 als Völker- mord – Humanitäre Hilfe für die Opfer (Drucksache 17/12692) . . . . . . . . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Ehrenberg (FDP) . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform des Gebüh- renrechts des Bundes (Drucksachen 17/10422, 17/12722) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Jan Korte, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion DIE LINKE: Privati- sierung der öffentlichen Sicherheit rück- gängig machen (Drucksache 17/10810) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Wahlprüfung, Immunität und Ge- schäftsordnung: Änderung der Geschäfts- ordnung des Deutschen Bundestages – hier: Änderung der Verhaltensregeln für Mit- glieder des Deutschen Bundestages (An- lage 1 der Geschäftsordnung) (Drucksache 17/12670) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Ulrich Schneider, Kai Gehring, Volker Beck (Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Queere Jugendliche unterstützen (Drucksache 17/12562) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Vierten Geset- zes zur Änderung des Energieeinsparungs- gesetzes (Drucksache 17/12619) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Energiewende im Gebäudebestand sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zukunftsweisend umsetzen (Drucksachen 17/11664, 17/12671) . . . . . . . . Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister  BMVBS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Petra Müller (Aachen) (FDP) . . . . . . . . . . . . . Heidrun Bluhm (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Volkmar Vogel (Kleinsaara)  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28512 A 28512 D 28514 A 28514 D 28516 A 28516 A 28516 B 28516 B 28517 C 28519 B 28520 A 28521 A 28522 A 28522 B 28522 C 28523 A 28523 B 28523 B 28523 C 28524 B 28526 A 28527 A 28528 A 28529 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 VII Tagesordnungspunkt 18: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten (Drucksache 17/12634) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des elektronischen Rechts- verkehrs in der Justiz (Drucksache 17/11691) . . . . . . . . . . . . . . . Elisabeth Winkelmeier-Becker  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär  BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn, Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-Sicherheitsrat (Drucksachen 17/11576, 17/12242) . . . . . . . . Peter Beyer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD) . . . . . . . . Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der Verbraucherrechterichtli- nie und zur Änderung des Gesetzes zur Re- gelung der Wohnungsvermittlung (Drucksache 17/12637) . . . . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . Caren Lay (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Stillstand in der Verkehrspoli- tik überwinden – Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzie- rung einrichten – zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine Leidig, Herbert Behrens, Thomas Lutze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Grundlegende Neuausrich- tung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klima- und Umweltschutz, Barriere- freiheit, soziale Gerechtigkeit und neue Arbeitsplätze – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton Hofreiter, Winfried Hermann, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Durch eine neue Investi- tionspolitik zu mehr Verkehr auf der Schiene (Drucksachen 17/5022, 17/1971, 17/1988, 17/8386) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Reinhold Sendker (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Sören Bartol (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leidig (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Be- schuldigten im Strafverfahren (Drucksache 17/12578) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Patrick Sensburg (CDU/CSU) . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Halina Wawzyniak (DIE LINKE) . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär  BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28530 C 28530 C 28530 C 28531 C 28532 D 28533 C 28534 C 28535 C 28535 D 28536 C 28537 B 28538 B 28539 A 28539 D 28540 D 28541 A 28541 C 28542 D 28543 C 28544 B 28545 B 28546 A 28546 B 28547 B 28548 A 28550 A 28551 C 28552 B 28553 B 28553 C 28555 A 28555 C 28556 B 28557 A VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Tagesordnungspunkt 23: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe zu dem Antrag der Abge- ordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Nationale Stelle zur Ver- hütung von Folter stärken (Drucksachen 17/11207, 17/12730) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Menschenrechte und Hu- manitäre Hilfe – zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Jahresbericht 2009/ 2010 der Bundesstelle zur Verhü- tung von Folter – zu der Unterrichtung durch die Bun- desregierung: Jahresbericht 2010/ 2011 der Nationalen Stelle zur Ver- hütung von Folter (Drucksachen 17/3134, 17/3578 Nr. 1.2, 17/9377, 17/9802 Nr. 5, 17/10085) Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Katrin Werner (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neuregelung der Professorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienstrechtli- cher Vorschriften (Professorenbesoldungs- neuregelungsgesetz) (Drucksachen 17/12455, 17/12662) . . . . . . . . Tankred Schipanski (CDU/CSU) . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christoph Bergner, Parl. Staatssekretär  BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Bessere Krankenhauspflege durch Mindestpersonalbemessung (Drucksache 17/12095) . . . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Mechthild Rawert (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Lars Lindemann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Umwelt, Naturschutz und Reak- torsicherheit – zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Änderung der Vor- schriften über elektromagnetische Fel- der und das telekommunikationsrecht- liche Nachweisverfahren – zu der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung: Vierter Bericht der Bundesre- gierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungs- möglichkeiten der gesamten Mobilfunk- technologie und in Bezug auf gesund- heitliche Auswirkungen – zu der Unterrichtung durch die Bundesre- gierung: Fünfter Bericht der Bundesre- gierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungs- möglichkeiten der gesamten Mobilfunk- technologie und in Bezug auf gesund- heitliche Auswirkungen (Drucksachen 17/12372, 17/12441 Nr. 2.4, 17/4408, 17/4588 Nr. 3, 17/12027, 17/12238 Nr. 1.4, 17/12738) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Antrag der Abgeordneten Memet Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das Kindernachzugsrecht am Kindeswohl ausrichten (Drucksache 17/12395) . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Frieser (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Rüdiger Veit (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP) . . . . . . . Sevim Dağdelen (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Memet Kilic (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28558 A 28558 A 28558 B 28560 A 28561 D 28562 D 28564 A 28565 C 28565 C 28566 D 28567 B 28568 A 28569 A 28570 B 28571 A 28571 B 28572 B 28573 A 28574 C 28575 B 28576 B 28576 D 28577 A 28578 A 28579 C 28580 C 28581 D 28582 D Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 IX Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Jens Petermann, Raju Sharma, Halina Wawzyniak und Jörn Wunderlich (alle DIE LINKE): zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) (Tagesordnungspunkt 7a) . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturre- form des Gebührenrechts des Bundes (Tages- ordnungspunkt 13) Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Kirsten Lühmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Steffen Bockhahn (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär  BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Privatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig machen (Tagesord- nungspunkt 14) Armin Schuster (Weil am Rhein)  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingo Wellenreuther (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Wolfgang Gunkel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: Änderung der Geschäftsordnung des Deut- schen Bundestages  hier: Änderung der Verhaltensregeln für Mit- glieder des Deutschen Bundestages (Anlage 1 der Geschäftsordnung) (Tagesordnungspunkt 15) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . Bernhard Kaster (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Christian Lange (Backnang) (SPD) . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörg van Essen (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Raju Sharma (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Queere Jugendliche unterstüt- zen (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Christel Humme (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE). . . . . . . . . . . Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: – Verordnung zur Änderung der Vorschrif- ten über elektromagnetische Felder und das telekommunikationsrechtliche Nach- weisverfahren – Vierter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen – Fünfter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . 28583 A 28584 A 28584 C 28585 C 28586 B 28587 B 28588 B 28589 A 28589 D 28590 C 28591 C 28592 C 28593 B 28594 C 28595 B 28596 B 28596 D 28597 D 28598 C 28598 D 28599 C 28599 D 28601 A 28602 C 28603 B 28604 A 28605 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Dirk Becker (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Stüber (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin BMU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28607 A 28608 B 28609 C 28610 B 28611 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28377 (A) (C) (D)(B) 228. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 Beginn: 9.01 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28583 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Bleser, Peter CDU/CSU 14.03.2013 Buchholz, Christine DIE LINKE 14.03.2013 Canel, Sylvia FDP 14.03.2013 Dr. Enkelmann, Dagmar DIE LINKE 14.03.2013 Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 14.03.2013 Gohlke, Nicole DIE LINKE 14.03.2013 Groß, Michael SPD 14.03.2013 Dr. Happach-Kasan, Christel FDP 14.03.2013 Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 14.03.2013 Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Hintze, Peter CDU/CSU 14.03.2013 Hörster, Joachim CDU/CSU 14.03.2013 Hoff, Elke FDP 14.03.2013 Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 14.03.2013 Korte, Jan DIE LINKE 14.03.2013 Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Kühn, Stephan BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Leidig, Sabine DIE LINKE 14.03.2013 Luksic, Oliver FDP 14.03.2013 Dr. Luther, Michael CDU/CSU 14.03.2013 Mast, Katja SPD 14.03.2013 Mayer (Altötting), Stephan CDU/CSU 14.03.2013 Möller, Kornelia DIE LINKE 14.03.2013 Montag, Jerzy BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Paus, Lisa BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 14.03.2013 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 14.03.2013 Pronold, Florian SPD 14.03.2013 Reinhold, Hagen FDP 14.03.2013 Remmers, Ingrid DIE LINKE 14.03.2013 Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 14.03.2013 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Sager, Krista BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Schäffler, Frank FDP 14.03.2013 Schieder (Weiden), Werner SPD 14.03.2013 Schlecht, Michael DIE LINKE 14.03.2013 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 14.03.2013 Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Schreiner, Ottmar SPD 14.03.2013 Strothmann, Lena CDU/CSU 14.03.2013 Wagner (Schleswig), Arfst BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 14.03.2013 Zimmermann, Sabine DIE LINKE 14.03.2013  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 28584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) Anlage 2 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Jens Petermann, Raju Sharma, Halina Wawzyniak und Jörn Wunderlich (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über den Ent- wurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG) (Tagesordnungspunkt 7 a) Wir haben uns bei dem benannten Gesetzentwurf ent- halten. Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Schutz- befohlenen ist ein sehr sensibles Thema. Dabei müssen der Schutz der Opfer und die Wiedergutmachung im Zentrum der Debatte stehen. Schutz der Opfer meint in allererster Linie Prävention. Der beste Opferschutz ist Prävention. Aus der Sicht der Opfer von sexualisierter Gewalt spricht viel dafür, die zivilrechtlichen Verjährungsvor- schriften zu verlängern. Alle Abgeordneten sprechen sich für die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfris- ten aus. Die existierende Frist von drei Jahren zur Gel- tendmachung von Schadenersatz- und Schmerzensgeld- ansprüchen ist deutlich zu kurz. Es ist richtig, dass Opfer sexualisierter Gewalt im Kindesalter oft massiv traumati- siert sind und erst als Erwachsene und nach Jahrzehnten in der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen. Dass Schmerzensgeld- und Schadenersatzansprüche dann nicht mehr geltend gemacht werden können, sehen wir als erhebliches Problem an. Insoweit begrüßen wir ausdrücklich, dass in den Drucksachen 17/3646 und 17/5774 die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjäh- rungsfrist auf 30 Jahre gefordert wird, sowie in der Drucksache 17/5774 die Anhebung der Regelung zur Hemmung der zivilrechtlichen Verjährung. Aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch ist die Ver- längerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen in beiden Gesetzentwürfen. Die Einführung der strafrecht- lichen Verjährungsregelung in Drucksache 17/3646 knüpft nicht mehr an die für die jeweilige Straftat vorge- sehene Höchststrafe an, sondern schafft eine bislang nicht bekannte Sonderregelung. Diese Regelung wie auch die Verschiebung des Beginns des Laufens der strafrechtlichen Verjährung auf das 25. Lebensjahr – Drucksache 17/5774 – sind aber aus rechtspolitischer Sicht im Hinblick auf den Gesichtspunkt der Rechts- sicherheit aus unserer Sicht nicht sachgerecht. Damit wird eine Strafverfolgung noch zu einem Zeitpunkt nach der Tat gestattet, zu der eine strafrechtliche Sachver- haltsaufklärung nach rechtsstaatlichen Maßstäben kaum noch möglich sein dürfte. In vielen Fällen wird eine un- zureichende Sachverhaltsaufklärung wegen des strafpro- zessualen Grundsatzes „in dubio pro reo“ zum Frei- spruch des mutmaßlichen Täters führen, was sich aus Sicht der Opfer als eine nachträgliche „amtliche Legiti- mierung der Tat“ darstellen und den Zweck des Verfah- rens aus Opfersicht konterkarieren würde. Anlage 3 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Strukturreform des Gebührenrechts des Bun- des (Tagesordnungspunkt 13) Helmut Brandt (CDU/CSU): Eine für Bürgerinnen und Bürger, Wirtschaft und Verwaltung transparente und nachvollziehbare Gebührenerhebung ist derzeit aufgrund der stark zersplitterten und heterogenen Struktur des Verwaltungsgebührenrechts des Bundes in weit mehr als 200 Gesetzen und Rechtsverordnungen kaum möglich. Das ist lästig, teuer und bürokratisch. Ob es beispiels- weise um Informationen geht, die Personen oder Unter- nehmen benötigen, ob es um die Beantragung eines Per- sonalausweises oder um eine TÜV-Plakette geht – wir brauchen eine einheitliche Grundlage, aufgrund derer je- der die Kosten, die durch behördliches Handeln auf ihn zukommen, schnell, leicht und verlässlich nachvollzie- hen kann. Wie erreichen wir das? Mit der Allgemeinen Gebührenverordnung des Bundes sollen insbesondere einheitliche und anwenderfreund- liche Vorgaben für die Kalkulation kostendeckender Ge- bühren geschaffen werden. Dabei sollen die Gebühren grundsätzlich auf Grundlage von allgemein ermittelten Kostenpauschalen festgestellt werden, sodass die Behör- den in der Regel allein anhand von Zeitermittlungen die Gebühren für ihre Leistungen einfach und rechtssicher berechnen können. Zudem wird durch die grundsätzliche Bindung der Gebühr an eine nach betriebswirtschaft- lichen Maßstäben berechenbare Kostengrenze der „Preis“ für die öffentliche Leistung für Bürger sowie Unterneh- men verständlich und klar nachvollziehbar. Insgesamt wird nicht nur erheblicher Verwaltungsaufwand abge- baut, sondern Bürger, Unternehmen und Verwaltung werden auch von unnötigen Rechtsverfolgungskosten entlastet. Tragender Grundsatz der Gebührenbemessung ist künftig das Kostendeckungsprinzip. Das bedeutet, dass die Kosten, die auf Bürger und Unternehmen für eine in Anspruch genommene Verwaltungsleistung zukommen, nicht höher sein dürfen als die Personal- und Sachkos- ten, die auf Verwaltungsseite für diese Leistung entste- hen. Bürger und Unternehmen sollen also künftig vor zu hohen, die tatsächlichen Kosten übersteigenden Gebüh- ren geschützt werden. Nach dem bisherigen Recht sind für die Gebührenhöhe auch die Bedeutung, der wirt- schaftliche Wert oder der Nutzen der öffentlichen Leis- tung maßgeblich. Diese Kriterien sind unscharf und ha- ben in der Vergangenheit teils zu weit über den tatsächlichen Kosten liegenden Gebührenforderungen geführt. Die Folge waren zahlreiche gerichtliche Aus- einandersetzungen. Mit der Deckelung der Gebühren durch eine klar nachweisbare Kostengrenze erreichen wir ein dringend gebotenes Mehr an Rechtssicherheit. Gebührenermäßigungen und sogar Gebührenbefreiun- gen sind sowohl durch die Gebührenverordnungen als Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28585 (A) (C) (D)(B) auch durch die Behörde im Einzelfall möglich. Sie erlau- ben Ausnahmen vom Kostendeckungsprinzip, um sozia- len Belangen Rechnung zu tragen und fachspezifische Regelungsziele angemessen bei der Gebührenbemes- sung zu berücksichtigen. Damit ist im Sinne einer bür- gerfreundlichen Verwaltung sichergestellt, dass einkom- mensschwache Bürgerinnen und Bürger angemessen entlastet werden. Im Zeitalter des Computers und des Internets halten wir außerdem eine Privilegierung digitaler Kopien für notwendig. Mit Blick auf die Förderung einer elektroni- schen Verwaltung, die notwendige Entbürokratisierung und die Beschleunigung von Prozessen in der Verwal- tung ist es uns ein Anliegen, digitale Kopien zu fördern. Daher sollten diese günstiger sein als Papierkopien. Für die Verwaltung bedeutet es gerade bei umfangreichen Unterlagen weit weniger Aufwand, ein Dokument elek- tronisch zu versenden als der Kopiervorgang und die postalische Versendung. Um die Verwaltung zu entlas- ten, aber auch aus Gründen der Bürgerfreundlichkeit und der Umweltfreundlichkeit haben wir deshalb im Gesetz verankert, dass digitale Kopien gebührenmäßig privile- giert werden. Mit den Besonderen Gebührenverordnungen der Bun- desministerien wird das bislang in circa 200 Gesetzen und Verordnungen geregelte, stark zersplitterte Gebühren- recht des Bundes in einheitlich aufgebauten Gebühren- verordnungen gebündelt. Durch die Zusammenführung sämtlicher Gebührentatbestände im Zuständigkeitsbe- reich der Bundesministerien jeweils in Gebührenverord- nungen werden künftig Bürgerinnen und Bürger sowie Unternehmen in die Lage versetzt, sich schnell und ein- fach einen Überblick über für sie relevante Gebühren zu verschaffen. Die Bundesregierung wird bei der Konzipierung der Allgemeinen und Besonderen Gebührenverordnungen auf die ausgewogene Entwicklung der Gebühren achten. Zentrales Ziel ist es, einen für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen bezahlbaren Zugang zu Verwal- tungsleistungen des Bundes sicherzustellen. Obwohl be- reits der Europäische Gerichtshof entschieden hat, dass Gebühren angemessen sein müssen, wird nun im Gesetz- entwurf noch einmal ausdrücklich festgehalten, dass die Höhe der Gebühren kein Hindernis für die Inanspruch- nahme einer Leistung sein darf. Künftig sind die Gebühren für öffentliche Leistungen der Länder grundsätzlich durch Landesrecht zu regeln. Dies vermeidet aufwendige Abstimmungsprozesse zwi- schen Bund und Ländern und vereinfacht die Rechtsan- wendung. Damit entspricht der Bund den Forderungen der Länder im Rahmen der Föderalismusreform, diesen im Gebührenrecht eigenständige Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume zu verschaffen. Eine Ausnahme gilt für Gesetze, in denen ein Bedürfnis nach bundesein- heitlichen Gebührenregelungen für Leistungen von Län- derbehörden besteht. Dies ist beispielsweise im Straßen- verkehrsrecht der Fall, da in diesem Bereich eine von Land zu Land unterschiedliche Gebühr zu einem Wett- bewerb zulasten der Verkehrssicherheit führen könnte, zum Beispiel bei Gebühren für die Hauptuntersuchung an Kfz. In diesen Fällen bestimmt weiterhin der Bund – in Abstimmung mit den Ländern – die Gebühren. Viele Länder haben bereits einheitliche Gebührenge- setze, sodass es auch aus diesem Grund sinnvoll ist, dass der Bund nachzieht. Mit dem vorliegenden Gesetzent- wurf tragen wir zu mehr Transparenz und Verlässlichkeit im Rahmen der Gebührenberechnung und der Gebühren- erhebung bei. Wir bringen sozusagen Licht ins Dunkel. Das neue Bundesgebührengesetz, mit dem das mehr als 40 Jahre alte Verwaltungskostengesetz abgelöst wird, modernisiert, bereinigt und vereinheitlicht das Verwal- tungsgebührenrecht für die gesamte Bundesverwaltung. Die Umsetzung der Reform erfolgt über einen Zeitraum von höchstens fünf Jahren durch die Allgemeine Gebüh- renverordnung der Bundesregierung und die Besonderen Gebührenverordnungen der Bundesministerien. Kirsten Lühmann (SPD): „Auch ein blindes Huhn findet einmal ein Korn“, hat meine Großmutter immer gesagt. Es ist ein seltener Glücksmoment, dessen Zeuge wir heute hier werden. Der Innenminister legt einen Ge- setzentwurf vor, der zum einen nicht in den Mühlen des schwarz-gelben Koalitionsbetriebes zermahlen wurde und zum anderen wirklich sinnvoll ist. Die Strukturreform des Gebührenrechts – nun ja, sie gehört nicht zu den drängendsten innenpolitischen Fra- gen unserer Zeit, aber es handelt sich dabei dennoch um eine sinnvolle Maßnahme. Schaut man sich an, wo das Verwaltungsgebührenrecht geregelt ist, findet man über 200 Gesetze und Verordnungen des Bundes und der Län- der, von der Abfallverbringungskostenverordnung über die De-Mail-Kostenverordnung, die Projekt-Mechanis- men-Kostenverordnung, die Kostenverordnung für die Registrierung homöopathischer Arzneimittel bis zur Elektro- und Elektronikgerätegesetz-Kostenverordnung usw. Das vorliegende Gesetz bündelt nun Regelungen aus diesen zahlreichen Fachgesetzen, und das ist sinnvoll; denn es ist nicht notwendig, dass jede Fachverordnung einzeln regelt, wie zum Beispiel Gebühren für eine Aus- kunft berechnet werden. Das Recht wird durch die Bün- delung einfacher und unbürokratischer. Bei der Berech- nung von Gebühren wird zukünftig stärker das Prinzip der Kostendeckung zugrunde gelegt. Damit sollen die Behörden in die Lage versetzt werden, kostendeckende Gebühren festzulegen – in der Regel gemessen am Zeit- aufwand. Das ist nicht nur notwendig für die Kostende- ckung, sondern auch transparent für die Bürger und Bür- gerinnen. Ein weiteres Anliegen des Gesetzes ist die Entflech- tung von Bund-Länder-Recht. Dieses Ziel entspricht den Beschlüssen der Föderalismuskommission II. Die Fest- setzung von Gebühren durch den Bund ist teilweise sehr aufwendig: Erst muss in allen Ländern der Aufwand ab- gefragt werden, dann wird ein Durchschnittswert ermit- telt, der dann wiederum aber nicht für alle kostende- ckend ist. Es gibt zum Beispiel keinen Grund, warum die Ge- bühr für das Ausstellen eines Parkausweises für Anwoh- 28586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) ner durch Bundesrecht geregelt werden muss. Besser ist es, Gebührentatbestände, die sich auf Leistungen bezie- hen, die durch Landesgesetze geregelt sind, auch durch die Länder oder Kommunen festlegen zu lassen. Das spart Abstimmungsaufwand, und dabei können regio- nale Besonderheiten berücksichtigt werden. Die Bundesregierung ist allerdings bei der Entflech- tung etwas übers Ziel hinausgeschossen. Im Verkehr soll- ten bundesweit einheitliche Regelungen bestehen blei- ben. Der Luftverkehr zum Beispiel wird ausschließlich durch Gesetzgebung des Bundes bzw. der EU geregelt. Hier wäre es nicht sinnvoll, die Gebühren in jedem Bun- desland einzeln zu regeln. Das wäre einerseits für die Bürger und Bürgerinnen nicht nachvollziehbar, und ande- rerseits wollen wir hier keinen Unterbietungswettbewerb. Insofern ist es gut, dass die Einwände des Bundesrates be- rücksichtigt wurden und die bundeseinheitlichen Gebüh- renregelungen im Verkehrsbereich beibehalten werden. Unter dem Strich sehen wir hier eindeutige Verbesserun- gen und stimmen daher dem Gesetzentwurf zu. Es wäre allerdings schön, wenn die Bilanz des Innen- ministers außer der Strukturreform des Gebührenrechts noch weitere Erfolge vorzuweisen hätte. Wenn wir das auch sagen könnten bei der Reform der Bundespolizei, dem NPD-Verbot, der Informationsfrei- heit und der Armutsmigration! Leider ist das in allen die- sen Fragen nicht der Fall. Die Bundespolizei verwaltet den Mangel, ein Konzept für die Zukunft hat der Innen- minister über seine gesamte Amtszeit hinweg nicht ent- wickelt. Beim NPD-Verbot ist er einmal dafür, einmal dagegen. Wofür er steht, ist niemandem klar. Bei der In- formations- und Pressefreiheit gibt es keine Fortschritte. Dabei liegen durch die Evaluierung des Informations- freiheitsgesetzes und das aktuelle Urteil zum Presseaus- kunftsgesetz klare Empfehlungen vor. Beim Thema Ar- mutsmigration schlägt Friedrich schrille Töne an und schürt Ressentiments, anstatt Lösungen auf den Tisch zu legen. Nun kann er sich immerhin die Gebührenstrukturre- form ans Revers heften. Schön und gut. Aber ich muss ehrlich sagen, von einem Bundesinnenminister erwarte ich mehr als das! Im Hahnenkampf kann man übrigens folgendes Phänomen beobachten: Wenn der Hahn sich nicht entscheiden kann, ober er angreifen oder fliehen soll, fängt er an zu picken – eine klassische Über- sprungshandlung. Einmal hier und einmal da ein Korn aufzupicken, mag einen kurzen Glücksmoment ver- schaffen, es bringt aber unser Land nicht weiter. Es wäre gut, wenn der Minister sich in den verbleibenden Mona- ten dieser Wahlperiode einen Ruck geben und die drän- genden innenpolitischen Entscheidungen endlich in An- griff nehmen würde. Manuel Höferlin (FDP): Die Erhebung von Verwal- tungsgebühren ist derzeit für Bürgerinnen und Bürger noch schwer durchschaubar und sehr unübersichtlich. Mehr als 200 verschiedene Gesetze und Verordnungen regeln für zahlreiche Einzelfälle, welche Gebühren in welcher Höhe erhoben werden. In zahlreichen Fachge- setzen mussten spezielle Regelungen zur Erhebung von Verwaltungsgebühren erlassen werden. Das Ergebnis: ein Wildwuchs unterschiedlicher Regelungen zu Gebüh- renerhebungen in unterschiedlichen Bereichen. Und die- ser Zustand ist nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger ein Problem, die sich einer vorgeblichen verwaltungs- politischen Willkür ausgesetzt sehen; er stellt auch die Verwaltung vor ein Problem. Die uneinheitlichen Rege- lungen für die Erhebung von Verwaltungsgebühren sorgen für Rechtsunsicherheit und schaffen den Verwal- tungsgerichten unnötig viel Arbeit. Die christlich-liberale Koalition hat es sich zum Ziel gemacht, diesen Missstand zu beheben. Die Verwaltung in Deutschland muss schlank, effizient und bürgernah sein. Verwaltungsgebühren sollten – wenn sie schon er- hoben werden müssen – transparent sein. Sie sollten auf einer gemeinsamen Rechtsgrundlage erhoben werden. Und sie dürfen nicht dazu dienen, Bürger von der Durch- führung von Verwaltungsakten abzuschrecken. Das ist uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts auch gelungen. Lassen Sie mich kurz die wichtigsten Verbes- serungen darstellen, die uns mit dem vorliegenden Ge- setzentwurf gelungen sind. Wir haben im Änderungsantrag der Koalition klar ge- regelt, dass zukünftig Gebühren für Verwaltungsakte nicht mehr so hoch sein dürfen, dass sie Bürgerinnen und Bürger, aber auch Unternehmen davon abhalten, die für die Gebühr erbrachte Verwaltungsleistung in Anspruch zu nehmen. Diesen sogenannten Prohibitiv- gebühren haben wir einen Riegel vorgeschoben. Eine Verwaltung sollte eine Leistung anbieten und für diejeni- gen, die sie in Anspruch nehmen wollen, auch tatsäch- lich zugänglich machen. Das ist ihre Aufgabe. Diesen Anspruch untermauern wir, indem wir das Kostendeckungsprinzip stärken. Es gilt nun pauschal für alle von Verwaltungen erhobenen Gebühren. Ver- waltungsgebühren dürfen ab sofort nur noch in der Höhe erhoben werden, in der sie tatsächlich individuell zu- rechenbare Kosten verursachen. Das ist gerechte Gebüh- renerhebung. Ein weiterer Aspekt, den wir mit dem neuen Verwal- tungsgebührenrecht auch stärken und fördern wollen, ist die elektronische Verwaltung. E-Government ist der Motor der Verwaltungsmodernisierung, und Deutsch- land muss hier mit anderen modernen Demokratien Schritt halten. Wir konnten bereits erste Erfolge im Planungsverein- heitlichungsgesetz erzielen und bringen hierzu auch das E-Government-Gesetz auf den Weg, mit dem die elek- tronische Verwaltung eine grundsätzliche Stärkung er- fährt. Aber solche strukturellen Reformen dürfen am Ende nicht an hohen Verwaltungsgebühren für elektroni- sche Verwaltungsakte scheitern. Wir haben daher durch- gesetzt, dass die einfache elektronische Kopie zukünftig für alle Bürgerinnen und Bürger kostenfrei zur Verfü- gung gestellt wird. Auch haben wir erreicht, dass die ein- fache elektronische Auskunft bei einer Bundesbehörde zukünftig kostenfrei ist. Behörden werden hierfür also Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28587 (A) (C) (D)(B) den Bürgerinnen und Bürgern keine Gebühren in Rech- nung stellen. Das ist bürgernahe und moderne Verwaltung. Denn eine elektronische Kopie lässt sich in der Regel schneller erstellen als eine Papierkopie. Und sie lässt sich auch leichter zustellen, zum Beispiel mit einer einfachen E-Mail. Die besondere Privilegierung der elektronischen Kopie ist in Sachen Bürokratieabbau, Beschleunigung der Verwaltungsarbeit und Kosteneffizienz der Verwal- tung ein Gewinn für die Bürgerinnen und Bürger. Eine weitere Verbesserung, die mit dem vorliegenden Entwurf erreicht wird, ist die Vereinheitlichung der Grundsätze für Verwaltungsgebühren. Das Kosten- deckungsprinzip habe ich in diesem Zusammenhang be- reits angesprochen. Daneben ist mit den zentralen Regelungen im Gesetz zur Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts eine bundesweit einheitliche Regelung für die Berechnung und Erhebung von Gebühren bei Bundesbehörden ge- funden worden. Das schafft nicht nur Klarheit für Bürge- rinnen und Bürger. Es entschlackt auch zahlreiche Fach- gesetze und entlastet so Bürokratie und Justiz. Denn es ist jetzt eben nicht mehr unklar, nach welchem Prinzip Gebühren berechnet werden müssen. Es ist jetzt eben nicht mehr nötig, gegen Gebühren zu klagen. Und es ist auch nicht mehr unklar, woher die Regelung für die Ge- bühren überhaupt stammt. Wie Sie sehen, konnten wir mit dem neuen Gesetz zur Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts eine Reihe von Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bür- ger in Deutschland durchsetzen und die Modernisierung der Verwaltung in Deutschland vorantreiben. Mit dem neuen Verwaltungsgebührenrecht haben wir einen weite- ren Baustein für unsere moderne, bürgernahe Verwal- tung geschaffen, die wir mit dem E-Government-Gesetz und dem Planungsvereinheitlichungsgesetz weiter mo- dernisieren wollen. Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Verbesse- rungen ebenfalls anerkennen, und bitte um Ihre Unter- stützung. Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Die Neuordnung des Gebührenrechts des Bundes ist überfällig und im Grundsatz auch zu begrüßen. Allein die beabsichtigte Entschlackung von 99 Gesetzen und 110 Rechtsverord- nungen kann nur als Erfolg gewertet werden. Die Ab- sicht, klare Regelungen zu schaffen, die verhindern, dass man eine Gebührenregelung auf der dritten Seite des vierten Anhangs der fünften Ergänzung einer Verord- nung übersieht und damit in eine Falle läuft, ist zu unter- stützen. Mehr Übersichtlichkeit und Transparenz bei der Frage der zu zahlenden Gebühren sind besser für die Bürgerinnen und Bürger, für die Unternehmen und auch für die zuständigen Verwaltungen, die sich dann ja auch auf einer stabileren und verständlicheren Grundlage be- wegen. Wenn es richtig gut läuft, lassen sich eine Reihe von Streitigkeiten bis hin zu zähen Verwaltungsgerichts- verfahren vermeiden, wenn man diese Neuordnung wirklich gut macht. Natürlich ist das Gegenteil bei einer schlechten Reform auch denkbar, wenngleich nicht wün- schenswert. Doch dieses Gesetz wäre keines dieser Bundesregie- rung, wenn es nicht auch eine streng neoliberale Logik selbst bei diesem Thema verfolgen würde. Natürlich kann man es begrüßen, dass der Bund und die Länder Ei- genständigkeit bei der Gestaltung der Gebühren bekom- men und damit der Föderalismus gelebt wird. Auf der anderen Seite – und da kommen wir zum Neoliberalis- mus – ist die Ausgestaltung wieder so gewählt, dass es nicht den Föderalismus, sondern nur den Wettbewerb unter den Ländern stärkt. Wieder wird es so sein, dass die Länder, die eine bes- sere Finanzausstattung haben, sich gegenüber denen mit klammen Kassen einen Vorteil verschaffen können. Wer es sich leisten kann, wird auf Gebühren verzichten, um beispielsweise Unternehmensansiedlungen zu befördern oder Bauanträge für besondere Vorhaben, die finanz- starke Einwohnerinnen und Einwohner anlocken, attrak- tiver zu machen. Und die Länder, die sich den Verzicht auf Einnahmen aus Gebühren leisten können, werden es dabei nicht be- lassen. Von den finanzschwachen Ländern werden sie verlangen, dass Gebühren in voller zulässiger Höhe er- hoben werden. So müsse man sich dann um eigene Ein- nahmen bemühen, und das wäre dann ja auch nur ge- recht. Doch das ist es genau nicht. Den Vorteil aus der eigenen Stärke noch zum zusätzlichen Nachteil der Schwächeren zu machen, ist ungerecht und unsolida- risch. Das Bestehen solcher Absichten muss konkret ver- mutet werden, schaut man sich die Äußerungen des hes- sischen Staatsministers Boddenberg im Bundesrat zum Thema an. Diese Verfahrensweise ist denen, die kommunalpoli- tisch aktiv sind, bestens vertraut. Eine finanzstarke kleine Gemeinde im Umland einer größeren Stadt wirbt gewöhnlich mit niedrigen Steuern und Abgaben. Sie bie- tet einen niedrigeren Gewerbesteuerhebesatz, eine gerin- gere Grundsteuer B als die Großstadt an und zieht so In- vestoren und Besserverdienende aus der Stadt ab. Die meist in Haushaltsnotlage befindliche Großstadt kann aber diesen Wettlauf nach unten nicht mitmachen, weil sie durch die jeweilige Rechtsaufsichtsbehörde gezwun- gen wird, ihre Einnahmen um das maximal Mögliche zu erhöhen. Dabei geht es dann immer wieder um die bei- den genannten Steuerquellen und natürlich immer wie- der auch um Verwaltungsgebühren. Die Großstadt hat also einen erheblichen Nachteil, den sie de facto nie aus- gleichen kann. Wettbewerb unter Gleichen geht anders. Dieses Prinzip ist in den Kommunen schon so oft ge- scheitert, dass man sich fragen muss, warum die Bundes- regierung es nicht erkennt oder erkennen will, dass der Weg der falsche ist. Zudem entfernen wir uns so noch weiter vom Anspruch gleichwertiger Lebensverhältnisse in allen Teilen der Republik. Schließlich werden die rei- chen Länder in der Lage sein, ihren Vorteil gegenüber den schwächeren weiter auszunutzen und deren Ent- wicklung so zu bremsen. 28588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) Ein weiterer Aspekt ist die gewollte volle Ausnutzung des Kostendeckungsprinzips. Auch hier ist es möglich, etwas Gutes zu tun oder alles noch schlimmer zu ma- chen. Auf den ersten Blick erscheint es sinnvoll, dass eine Leistung des Staates auch finanziert werden soll. Und wer eine besondere Leistung der Verwaltung in An- spruch nimmt, muss diese auch bezahlen. Klingt erst ein- mal vernünftig, doch Vorsicht! Auch hier kann es wieder passieren, dass es zu einer schlimmen Sache für die klei- nen Leute wird; denn wenn der Bund und die Länder sich darauf einigen, eine Vollkostendeckung bei Gebüh- ren einzuführen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das auch von den Kommunen für alle Bereiche verlangt wer- den wird. Das kann dann teuer werden. Schließlich müssten im schlimmsten Fall für Bauanträge, Personal- ausweise oder Reisepässe oder auch für Eheschließun- gen oder Eintragungen nach Geburten volle kosten- deckende Gebühren gezahlt werden. Im Ergebnis müssten nach jeder – zweifelsfrei begrüßenswerten – Ta- rifsteigerung im öffentlichen Dienst auch die Gebühren erhöht werden. Die Kosten sind dann gestiegen, also muss auch die Gebühr steigen. Strompreiserhöhungen oder andere Kostensteigerungen können das gleiche Er- gebnis hervorbringen. Hier gilt es, wirklich wachsam zu sein und eine solche Entwicklung zu verhindern. Wenn die Bundesregierung auf solche Dinge Rücksicht nimmt, kann es eine gelun- gene Sache werden. Die Hinweise dafür sind aber bis jetzt ausgeblieben. Wir empfehlen eine Anhörung zum Thema. Schlechter werden kann der Gesetzentwurf da- durch nicht. Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung sieht eine umfangreiche Reform des Gebührenrechts des Bundes vor. Es handelt sich hierbei um eine überfällige Fleißarbeit des Bundesinnenministeriums. Seit 2008 hat der Rechnungshof kontinuierlich entsprechende Regelungen angemahnt und schließlich sogar auf einen konkreten Fahrplan bis zur 17. Wahl- periode gedrängt. Die zentralen Vorschläge des Rech- nungshofes wurden jetzt übernommen. Das begrüßen wir. Inhaltlich geht es um die Bemessung von Gebühren nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und eine grundsätzliche Ausrichtung am Kostendeckungsprinzip. Dafür wird ein Bundesgebührengesetz geschaffen, das das bestehende Verwaltungskostengesetz und das darin festgelegte Äquivalenzprinzip ablöst. Eine möglichst einfache und rechtssichere Gebühren- ermittlung soll grundsätzlich durch die Verwendung von Kostenpauschalen gewährleistet werden. Die Möglich- keit zu Gebührenermäßigungen und -befreiungen zielt auf die Vermeidung von Unbilligkeiten. Erreicht werden die Konzentration der allgemeinen Regelungen in einem neuen Bundesgebührengesetz und die Bündelung der bisher in rund 200 Fachgesetzen und -verordnungen ent- haltenen Gebührenregelungen in Gebührenverordnun- gen der Bundesministerien. Eine Übergangsfrist von fünf Jahren ist vorgesehen. Durch die Zusammenfüh- rung sämtlicher Gebührentatbestände im Zuständig- keitsbereich der jeweiligen Bundesministerien in ein- heitlich aufgebauten Gebührenverordnungen sollen das Recht vereinfacht und mehr Transparenz für Bürgerin- nen und Bürger sowie die Wirtschaft geschaffen wer- den. Die Verwaltung soll durch den besseren Zugang zu den Gebührenvorschriften entlastet werden, wenn sich der Bearbeitungsaufwand für den Erlass der Gebühren- bescheide verringert. Schließlich sollen gebührenrechtliche Regelungen für öffentliche Leistungen der Behörden in den Ländern grundsätzlich den Ländern überlassen werden. Dies ent- spricht der Verantwortung der Länder für die Gebühren- erhebung von Behörden in den Ländern und Gemeinden. Die Entkopplung der Gebührenkompetenz zwischen Bund und Ländern soll die Rechtsetzung vereinfachen und beschleunigen. Der Bundesrat hatte umfangreiche Änderungen ange- mahnt, denen die Bundesregierung unserem Eindruck nach weitgehend entgegengekommen ist. Dabei wurde allerdings deutlich, dass es in einzelnen Bereichen durchaus sachgerechter erscheint, durch Bundesregelun- gen sicherzustellen, dass es gerade nicht zu einer Ent- flechtung der Gebührenverantwortung oder gar zu einem Gebührenwettbewerb kommt. Im Verkehrsbereich hat man sich dementsprechend geeinigt. Ich meine, damit wird deutlich, dass bei allem Harmonisierungs- und Entflechtungswillen stets gefragt werden muss, ob die zentralen Grundsätze dieses Rege- lungsansatzes für den jeweiligen Bereich am Ende durchtragen. Wir sollten deshalb in den kommenden Jah- ren, auch mithilfe des Bundesrechnungshofes, sorgfältig die Konsequenzen dieses Gesetzes beobachten. Das gilt sowohl hinsichtlich der Transparenz als auch hinsichtlich möglicher ungerechtfertigter Belastungen Einzelner. In puncto Transparenz bleibt doch nicht von der Hand zu weisen, dass mit einer Rückverlagerung der Gebührenhoheit an die Länder zwar in gewissem Umfange wegen der Regelungen des Bundesgebühren- gesetzes einerseits mehr Struktur in die Berechnungen etwa der Gebührensätze kommt. Zugleich aber kommt es doch automatisch zu 16 verschiedenen Ländertarifen, die auch erst einmal ermittelt werden müssen. Das ist ambivalent, und die Wirkungen sind abzuwarten. In Sachen möglicher Mehrbelastungen der Bürger wird zu beobachten sein, ob es tatsächlich durch das Kosten- deckungsprinzip und betriebswirtschaftliche Berech- nungsmodi zu einer disziplinierenden Bindungswirkung in der Festsetzungspraxis kommt oder ob in bestimmten Fällen der über 200 Gesetzeswerke auch Fehlentwick- lungen zu erwarten sind, so zum Beispiel der Wegfall bislang eingeübter sozialer Aspekte bei der Gebühren- festsetzung. Gerade weil es offenbleiben muss, ob die den Län- dern verschafften eigenständigen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume in allen 200 Gesetzen und Ver- ordnungen sachgerechte Ergebnisse nach sich ziehen werden, werden wir uns bei diesem komplexen Geset- zeswerk der Stimme enthalten. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28589 (A) (C) (D)(B) Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes- minister des Innern: Mit dem heute zur Beratung vorlie- genden Gesetzentwurf soll eine grundlegende Moderni- sierung des gesamten Verwaltungsgebührenrechts des Bundes erreicht werden. In den mehr als 40 Jahren seit dem Inkrafttreten des Verwaltungskostengesetzes hat sich ein großer Ände- rungsbedarf aufgestaut. Derzeit sind die einzelnen Gebühren in rund 200 Gesetzen und Verordnungen über das gesamte Bundesrecht verstreut. Dies erschwert das Auffinden und die Anwendung der Regelungen erheb- lich. Die Gebührenerhebung ist deshalb für Bürgerinnen und Bürger sowie für Unternehmen oft nur schwer nach- vollziehbar. Darüber hinaus bestehen erhebliche rechtliche Unsi- cherheiten bei der Kalkulation der Gebühren. Dadurch kam es in der Vergangenheit zu zahlreichen gerichtli- chen Auseinandersetzungen. Folge waren beispielsweise bei der Bundesnetzagentur Rückerstattungsansprüche in Millionenhöhe. Vor diesem Hintergrund wird mit dem Gesetzentwurf mehr Transparenz, Rechtssicherheit und Bürgerfreund- lichkeit im Gebührenrecht des Bundes herbeigeführt. Bürokratie wird abgebaut. Dabei haben wir nicht nur die Kosten der Verwaltung im Blick. Wichtig ist es auch, die Angemessenheit der Gebühren sicherzustellen. Die Reform orientiert sich an den in den Gebührenge- setzen der Länder bewährten Strukturen. Zugleich kön- nen die Länder künftig für die Leistungen ihrer Behör- den die Gebühren selbst bestimmen. Damit setzt der Bund die Forderungen der Länder im Rahmen der Föde- ralismusreform auch im Gebührenrecht um. Das Herzstück der Reform ist das neue Bundesgebüh- rengesetz. Nach diesem Gesetz soll die Gebühr grund- sätzlich nach dem Kostendeckungsprinzip bestimmt werden. Berechnet wird die kostendeckende Gebühr nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben. Diese klaren und verbindlichen Vorgaben stellen in Zukunft die Ge- bührenkalkulation auf ein solides Fundament. Zudem wird die Gebührenberechnung verständlich und klar nachvollziehbar. Zusätzlich vereinfachen betriebswirtschaftlich be- rechnete Kostenpauschalen die Gebührenberechnung. Dies verbessert die Effizienz und Effektivität der Ver- waltung. Durch die Reform sollen die Leistungen der Bundes- behörden nicht teurer werden. Eine Gebührenerhöhung ist nicht bezweckt. Im Gegenteil: Künftig sollen den Bürgern und der Wirtschaft keine kostenüberdeckenden Gebühren mehr auferlegt werden. Zudem sind durch Gebührenermäßigungen und sogar Gebührenbefreiungen weitreichende Ausnahmen vom Kostendeckungsprinzip möglich. Dies erlaubt es, bei- spielsweise sozialen Belangen durch eine angemessene Entlastung einkommensschwacher Bürger Rechnung zu tragen. Die klaren gesetzlichen Vorgaben sorgen für die notwendige Rechtssicherheit sowie eine transparente und gleichmäßige Rechtsanwendung. Zusätzlich wird in das Gesetz ein ausdrückliches Verbot von Gebühren aufgenommen, die eine wirtschaft- liche Barriere für die Inanspruchnahme von Verwal- tungsleistungen bilden. Dies ist eine wesentliche Weichenstellung im Sinne einer bürgerfreundlichen Ver- waltung. Ein weiterer wesentlicher Schwerpunkt der Reform ist die grundlegende Bereinigung und Vereinfachung des Verwaltungsgebührenrechts des Bundes. Zu diesem Zweck werden künftig die bislang zersplittert und unein- heitlich geregelten Gebühren in den nur wenigen Gebüh- renverordnungen der Bundesministerien übersichtlich nach Sachgebieten geordnet zusammengefasst. Damit kann sich jedermann schnell, einfach und zuverlässig ei- nen Überblick über die Gebühren des Bundes verschaf- fen. Die Umsetzung der Reform erfolgt durch eine Allge- meine und mehrere Besondere Gebührenverordnungen über einen Zeitraum von fünf Jahren. Die Bundesregie- rung wird bei der Konzipierung dieser Verordnungen auf die ausgewogene Entwicklung der Gebühren achten. Zentrales Ziel ist es, für jedermann einen bezahlbaren Zugang zu Verwaltungsleistungen des Bundes sicherzu- stellen. Die Zeit drängt. Die Reform ist längst überfällig. Wenn wir jetzt nichts tun, bleibt es bei der zersplitterten Struktur des Gebührenrechts des Bundes und den rechtli- chen Unsicherheiten bei der Gebührenkalkulation. Dies sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern sowie der Wirtschaft in unserem Land nicht mehr länger zumuten. Ich bitte Sie, das Vorhaben zu unterstützen. Anlage 4 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Privatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig machen (Ta- gesordnungspunkt 14) Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Die öffentliche Sicherheit und Ordnung ist Sache des Staa- tes, und das bleibt auch so. Es gilt das Gewaltmonopol des Staates, und das stellt in der Bundesrepublik auch niemand ernsthaft infrage. Nun suggerieren Sie bereits in der Überschrift Ihres Antrags, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der Linken, dass der Staat das Gewaltmonopol schon aus der Hand gegeben hat. Um dann wiederum nachzuschieben, dies sei zumindest das subjektive Empfinden der Bürge- rinnen und Bürger. Wie denn jetzt? Sie sind dann doch so seriös, diese abstruse Behauptung nicht selbst aufstel- len zu wollen, und deshalb müssen jetzt die armen Bür- ger herhalten? Die werden sich für diese unfreiwillige Einvernahme sicher bedanken. Wir sind meilenweit davon entfernt, Sicherheit nur dem zu ermöglichen, der sich das auch privat leisten kann. Wir wollen keine Bürgerwehren oder privat gesi- cherte Wohnviertel für Wohlhabende. Wir haben auch 28590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) keine Polizei light, die Grundrechte nicht respektiert und das Gewaltmonopol mutwillig oder unwissentlich durch- bricht. Solche Szenarien gibt es leider auf dieser Welt; sie haben aber mit der Realität in diesem Land rein gar nichts zu tun. Und genauso wenig geben wir hoheitliche polizeiliche Aufgaben auf. Richtig ist: Zum Beispiel im Bereich der Luftsicher- heit oder der Bahn greifen Unternehmen und der Staat auf private bzw. beliehene Sicherheitskräfte zurück. Da- für gibt es gute Gründe. Die Deutsche Bahn schützt ihre Objekte mit Unterstützung privater Sicherheitsdienste und setzt ihr privates Hausrecht durch; hier werden keine hoheitlichen Aufgaben wahrgenommen. Die hoheitlichen Aufgaben im Bereich der Bahnanlagen nimmt die Bun- despolizei gemäß § 3 des Bundespolizeigesetzes wahr, zum Beispiel im Bereich der betriebsbedingten Gefah- ren. Dazu gehört aber eben aus gutem Grund nicht die Durchsetzung von Eigentümerrechten; das bleibt allei- nige Aufgabe der DB AG. Anderer Fall: Auf Flughäfen werden durch die Bun- despolizei private Sicherheitsfachkräfte eingesetzt, und zwar, um Gepäck und Personen einer Luftsicherheits- bzw. Fluggastkontrolle zu unterziehen. In Ihrem Antrag verschweigen Sie allerdings – oder Sie wissen es nicht besser –, dass die eingesetzten Sicherheitskräfte Belie- hene der Bundespolizei sind und dass an diesen Kont- rollstellen für Eingriffsmaßnahmen Bundespolizisten vor Ort jederzeit zur Verfügung stehen. Dabei üben die anwesenden Bundespolizisten auch die Fachaufsicht aus. Verfassungsrechtlich wird die Möglichkeit, Aufga- ben zur Gewährleistung der Luftsicherheit in privat- rechtlicher Organisationsform wahrnehmen zu lassen, durch Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG eingeräumt. Problema- tisch wäre der Einsatz privater Sicherheitskräfte erst dort, wo der potenzielle Eingriff in die Grundrechte der Bürger hoch wäre. An Flughäfen ist das nicht der Fall, da die Personenkontrolle Teil des Vertrags ist, den der Fluggast abgeschlossen hat. Sie erfolgt nicht unter Zwang oder Gewaltanwendung, sondern mit Einwilli- gung des Reisenden. Weigert sich der Fluggast, sich kontrollieren zu lassen, so kann er das Flugzeug nicht besteigen. In Zeiten knapper Ressourcen ist es auch bei der Polizei ökonomisch durchaus sinnvoll, einfache Unterstützungs- leistungen ohne Eingriffscharakter in einem Beleihungs- verhältnis durch private Unternehmen wahrnehmen zu lassen. Gleichwohl: Wo Unterstützungsaufgaben auf Private übertragen werden, müssen staatlicherseits eindeutig de- finierte Qualitätsstandards vorausgesetzt werden. Des- halb unterstütze ich das Vorhaben, private Sicherheits- dienste künftig zu zertifizieren und regelmäßig zu auditieren. Führungs- und Personalqualität, Ausbildung und regelmäßige Fortbildungen, Arbeitsbedingungen und Prozessstandards gehören für mich zum Anforde- rungsprofil an diese Unternehmen. Ich begrüße es daher sehr, dass die Innenministerkonferenz an einer solchen Zertifizierung arbeitet. Die Bandbreite der Aufgaben hat sich bei der Bundes- polizei in den letzten Jahren erheblich erweitert. Neben neuen Anforderungen an die Sicherheitsarchitektur gibt es dafür aber auch einen Grund, der hier zur Sprache kommen muss: Rationalisierungen und Stellenkürzun- gen bei den Polizeien einzelner Länder. Eine Folge da- von sind auch verstärkte Unterstützungsanforderungen an die Bundespolizei durch Länder, die ihre Aufgaben nicht mehr alleine bewältigen können. Da haben Sie doch immer gerne mitgemacht, die Damen und Herren der Linken, als es darum ging, die Landespolizei in Brandenburg zur Ader zu lassen: Über 20 Prozent der Stellen wurden mit Ihrer Hilfe bei der Brandenburger Polizei gestrichen. In Brandenburg, wo Sie regieren, ver- schwindet die Polizei aus der Fläche. Dort entsteht der Nährboden für eine private Sicherheitskultur, weil unzu- friedene Bürger sich nicht mehr sicher fühlen. Dort muss die Bundespolizei unterstützen und daher sorgfältig abwägen, wo sie im eigenen Bereich Polizeibeamte einsetzt oder bei einfachen Sicherheitstätigkeiten auf Unternehmen zurückgreift. Und jetzt wundern Sie sich hier wortreich darüber, dass der von Ihnen mitgetragene Rückzug staatlicher Sicherheitsbehörden dazu führt, dass Aufgaben an Private übertragen werden. Meine Damen und Herren von den Linken, Ihr Antrag ist eine Mischung aus Unkenntnis und populistischer Propaganda. Im Bereich der inneren Sicherheit geht das gar nicht. Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Die Fraktion Die Linke beantragt: „Privatisierung der öffentlichen Sicher- heit rückgängig machen“. Schon allein wegen dieses Titels ist der Antrag abzulehnen; denn er ist falsch, weil er suggeriert, die öffentliche Sicherheit in Deutschland sei komplett in private Hände gelegt worden. Das wider- spricht zum einen der Realität und wäre zum anderen verfassungsrechtlich auch unzulässig. Deshalb sage ich für CDU und CSU unmissverständ- lich vorneweg: Das staatliche Gewaltmonopol gilt unan- gefochten und steht nicht zur Disposition. Unsere Hal- tung ist eindeutig, und dazu bedarf es nicht Ihres Antrags. Um es klar zu sagen: Es ist ureigene Aufgabe des Staates, die innere Sicherheit für unsere Bürger zu gewährleisten. Ein Rückzug des Staates aus diesem Kernbereich hoheitlichen Handelns kommt nicht in Be- tracht. Daher dürfen auch zukünftig private Sicherheits- dienste nur dort ergänzend tätig werden, wo es sinnvoll und rechtlich zulässig ist, aber niemals die staatliche Ordnungsmacht ersetzen. Um die Qualität im sensiblen Sicherheitsbereich zu wahren, ist es deshalb auch richtig, dass derzeit auf Beschluss der Innenministerkonferenz eine länderoffene Arbeitsgruppe prüft, wie Unternehmen im privaten Sicherheitsgewerbe zertifiziert werden kön- nen. Im Mai sind Ergebnisse der Arbeitsgruppe zu er- warten. Neben der Überschrift geht in Ihrem Antrag aber auch sonst einiges durcheinander, und ich möchte einmal ei- nige Stellen entflechten bzw. richtigstellen. Das Grundproblem Ihres Antrags ist, dass Sie alles, was unter dem Stichwort der Privatisierung – zu Recht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28591 (A) (C) (D)(B) und zu Unrecht – diskutiert wird, über einen Kamm scheren und einer vollkommen undifferenzierten Kritik unterziehen. Sie sprechen beispielsweise Fälle an, in denen private Sicherheitsdienste Einrichtungen der Bundeswehr über- wachen oder Personen- und Gepäckkontrollen auf Flug- häfen durchführen dürfen. Dies kritisieren Sie pauschal mit dem Hinweis, dass private Sicherheitsdienste nicht dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Damit liegen Sie falsch, denn Sie verkennen, dass die Privaten in den ge- nannten Fällen rechtlich als sogenannte Beliehene tätig werden. Das heißt: Der Beliehene ist eine durch Gesetz geschaffene Privatperson, die vom Staat ermächtigt wird, im eigenen Namen öffentlich-rechtliche Aufgaben wahrzunehmen. Deshalb ist die Thematisierung dieser Bereiche unter dem Begriff der Privatisierung fehl am Platz. Den Status des Beliehenen kennzeichnet, dass er einer von einem Beamten wahrgenommenen Fach- und Rechtsaufsicht untersteht und Teil der Verwaltungsorga- nisation ist. In dieser Eigenschaft hat er die Grundrechte zu beachten, und er unterliegt auch einer Gemeinwohl- bindung. Ich bin mir nicht sicher, ob Sie es nicht besser wissen oder ob Ihr Antrag einfach nur eine Methode ist, um mit solchen Ungenauigkeiten Unsicherheit bei den Men- schen zu streuen oder sie in die Irre zu führen. Ein weiteres Beispiel: Private Sicherheitsdienste neh- men oftmals lediglich „einfache“ Bewachungsaufgaben wahr, zum Beispiel im Bereich der auch in Ihrem Antrag erwähnten Bahnhöfe. Dabei handelt es sich rechtlich zu- meist um sogenannte Verwaltungshelfer, die unterstüt- zend einzelne Teilleistungen erbringen. Im Falle des Bahnhofs unterstützen die privaten Wachdienste die Bundespolizei. Die Privaten verfügen hier aber nicht über eine eigene Entscheidungsbefugnis; diese verbleibt bei der Verwaltungsbehörde, im Falle des Beispiels Bahnhof also bei der Bundespolizei bzw. bei der Bahn. Diese Verwaltungshelfer üben daher selbst keine Staats- gewalt aus. Insofern greift hier weder die verfassungs- rechtliche Privatisierungsschranke des Art. 33 Abs. 4 des Grundgesetzes, noch findet hier die von Ihnen kritisierte Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols überhaupt statt. Stichwort Gewaltmonopol: Sie irren in Ihrem Antrag über die Bedeutung dieses Begriffs. Das Gewaltmonopol ist die durch den Staat wahrgenommene ausschließliche Befugnis, auf seinem Staatsgebiet physische Gewalt ein- zusetzen oder ihren Einsatz zuzulassen. Das Gewalt- monopol darf aber weder als Sicherheitsmonopol noch als Gewaltausübungsmonopol missgedeutet werden. Seine Bedeutung ist vielmehr, dass dem Gesetzgeber das Gewaltmonopol zusteht und es bei der Ausgestaltung rechtsstaatlicher Standards nicht geschmälert werden darf. So ist sogar eine Gewaltübertragung und Gewalter- mächtigung dann gestattet, wenn sie eine vom Staat abgeleitete Befugnis bleibt und dadurch die Funktions- fähigkeit des Staates nicht beeinträchtigt, sondern opti- miert wird. Diese Grenzen müssen auch zukünftig strikt eingehalten werden. Richtiggestellt werden müssen auch die Hinweise in Ihrem Antrag zum Mindestlohn im Wach- und Sicher- heitsgewerbe. Ihr Antrag, datiert vom 24. Oktober 2012, spricht von einer tarifvertraglichen Vergütung im Jahr 2011 von durchschnittlich 7,03 Euro brutto je Stunde. Sie erwähnen nicht, dass die Bundesregierung aus CDU/ CSU und FDP im Jahr 2011 den Tarifvertrag für das Wach- und Sicherheitsgewerbe für allgemeinverbind- lich erklärt hat und dass danach bereits zum 1. März 2012 regional gestaffelt Mindestlöhne von 7 Euro bis zu 8,75 Euro bestanden, die seit dem 1. Januar 2013 noch- mals auf mindestens 7,50 Euro und bis zu 8,90 Euro in Baden-Württemberg gestiegen sind. Es ist einfach unredlich, dass Sie diese Fakten in Ihrem Antrag unter- schlagen. Zusammenfassend: Ihr Antrag ist getragen von Popu- lismus, gespickt mit Fehlern, Reizworten und Ungenau- igkeiten und verfasst im Geiste Ihrer Ideologie, wonach die Staatsquote in allen Bereichen unserer Gesellschaft wachsen soll. Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Wolfgang Gunkel (SPD): Es ist ein sehr wichtiges und sensibles Thema, das wir heute diskutieren. Immer mehr hoheitliche Aufgaben werden von privaten Sicher- heitsunternehmen übernommen. Mitunter kann die Übertragung solcher Aufgaben sinnvoll sein. Der Werk- schutz für Betriebe ist zum Bespiel eine solche Sache. Oder wenn anlässlich der vielen Piraterievorfälle im Golf von Aden und vor der Küste Ostafrikas die Reeder zum Schutz ihrer Schiffe Wachleute engagieren, halte ich das für eine vernünftige Lösung; denn ein flächen- deckender Schutz von deutschflaggigen Handelsschiffen durch Einsatz der Polizei angesichts der hohen Zahlen von Schiffspassagen ist weder personell und logistisch noch finanziell möglich. Was ich nicht unterstützen kann, ist die auch in dem Antrag erwähnte steigende Privatisierung in einigen Ländern, zum Beispiel beim Strafvollzug. Einer der größten Fehler der ohnehin missglückten Föderalismus- reform war die Kompetenzverlagerung für den Strafvoll- zug vom Bund auf die Länder. Dass hier dann Politik nach Kassenlage betrieben wird, war abzusehen, dass dies kein positiver Effekt ist, auch. Es gibt einen Kernbe- reich hoheitlicher Gewalt, der beim Staat bleiben muss. In meinen Augen gehört der Strafvollzug dazu. Ein ebenso unsägliches Beispiel sind die sogenannten Bürgerwehren. Ich kenne solche Zusammenkünfte selbst- ernannter Beschützer, die auch einmal Polizei spielen wollen, aus meiner Arbeit als Polizeibeamter, aber auch aus meinem Wahlkreis in einer Grenzregion. Das sind Entwicklungen, die dem Rechtsstaat in keiner Weise gut- tun. Derartiges ist nicht im Geringsten unterstützens- wert. Wenn nun private Dienstleister Sicherungsaufgaben, wie zum Beispiel beim Werkschutz, übernehmen, müs- sen höhere Standards als bisher für die Aus- und Weiter- bildung für das Personal gelten. Schwarze Schafe gibt es 28592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) schließlich genug, wie ich Ihnen an zwei Beispielen deutlich machen möchte. Schon in meiner aktiven Zeit im Polizeidienst in Ber- lin haben wir ausgesprochen schlechte Erfahrungen mit dem Wachschutzpersonal im Europacenter gemacht. Die Mitarbeiter des dort tätigen Sicherheitsdienstes hatten massiv ihre Kompetenzen überschritten und Menschen nicht nur festgehalten, wie es auch das „Jedermanns- recht“ in der Strafprozessordnung erlaubt, sondern auch mit Schlagstöcken Gewalt eingesetzt. Mit ihrem martia- lischen Auftreten in komplett schwarzer Kleidung ver- mittelten sie optisch den Eindruck einer paramilitäri- schen Einheit. Der Sicherheitsdienst wurde schließlich aufgelöst; denn die Zustände waren nicht mehr tragbar. Ein anderes Beispiel zeigt der Fernsehbericht zu Amazon vor einigen Wochen. Dieser wurde vor allem unter einem arbeits- und sozialpolitischen Blickwinkel auch hier im Bundestag diskutiert. Aber es war auch die Sicherheitsfirma massiv in die Kritik geraten; denn der Sicherheitsdienst hatte zum einen Verbindungen zur rechtsextremen Szene. So trugen denn die Mitarbeiter im Film der ARD auch Kleidung der bei Neonazis so be- liebten Marke Thor Steinar. Zum anderen hatten auch die Mitglieder dieser Firma eindeutig ihre Kompetenzen überschritten, indem sie die Mitarbeiterinnen und Mitar- beiter von Amazon schikanierten. Amazon hat jetzt die Verträge mit dem Sicherheitsdienst gekündigt. Aller- dings hätte es so weit nicht kommen dürfen. Die beiden Vorfälle zeigen ganz deutlich, dass es in dieser Branche einige Menschen gibt, die ihre übertra- gene Macht ausnutzen. Solche Hilfssheriffs darf es na- türlich nicht geben. Umso wichtiger ist gut geschultes Personal. Hier muss der Staat tätig werden und angemes- sene Ausbildungsstandards formulieren und umsetzen. Für den vorhin bereits erwähnten Schutz von Schiffen und für nichtstaatliche militärische Sicherheitsunterneh- men hat die SPD-Bundestagsfraktion dies in zwei Anträ- gen bereits formuliert. Der Verweis auf die Gewerbeord- nung, die auch in dem Antrag der Linken erwähnt wird, ist an dieser Stelle sinnvoll. Doch nicht nur Wissen und Ausbildung sind ein Pro- blem, sondern es müssen auch annehmbare Arbeitsbe- dingungen herrschen. Dazu gehört, dass angemessene Löhne gezahlt werden. Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn ist unverzichtbar. Die in dem Antrag geforderte Erhöhung der Staats- quote auf Flughäfen und Bahnhöfen halte ich aus ganz praktischen Gründen nicht für durchsetzbar. Die Bun- despolizei ist mit den bereits anstehenden Aufgaben mehr als genug ausgelastet. Dies zeigen auch die Zahlen zum Burn-out, die in einer von der GdP in Auftrag gege- benen Studie veröffentlicht wurden. Insofern ist eine sol- che Übertragung zurück zur Bundespolizei schlicht nicht möglich. Die Sicherheitsdienste auf Flughäfen und bei der Deutschen Bahn sind von der Bundespolizei gut aus- gebildet worden und erledigen die Aufgaben kompetent und zuverlässig. Die Frage nach einer angemessenen Be- zahlung wurde bereits angesprochen. Gisela Piltz (FDP): Es ist schon faszinierend, dass bei der Linken ersichtlich die Ablehnung privatwirt- schaftlicher Tätigkeit und im Grunde die Ablehnung der Marktwirtschaft als solcher noch stärker ausgeprägt ist als die Ablehnung gegenüber der Polizei. Vor ziemlich genau zwei Jahren, am 7. April 2011 nämlich, debattier- ten wir hier im Plenum einen Antrag der Linken, in dem diese behauptete, Polizistinnen und Polizisten in unse- rem Lande hätten „das Gefühl …, in voller Einsatzmon- tur und mit heruntergeklappten Visieren faktisch außer- halb des Gesetzes zu stehen“. Liest man hingegen den heute hier zu debattierenden Antrag, reibt man sich verwundert die Augen, dass die Linke nun doch anerkennt, dass Polizistinnen und Poli- zisten an Recht und Gesetz gebunden sind und mithin bei deren Einsatz sichergestellt ist, dass alles mit rechten Dingen zugeht. Da könnte man ja spontan sagen: Glück- wunsch! Endlich haben auch Sie verstanden, dass Poli- zistinnen und Polizisten wie keine andere Berufsgruppe für Recht und Gesetz stehen. Endlich anerkennen Sie, dass Polizistinnen und Polizisten in Deutschland keine prügelnden Schergen willkürlich angewandter Gewalt sind. Allein, ich fürchte, dass diese Glückwünsche an der Sache vorbeigehen. Der Linken geht es nicht um späte Erkenntnis, sondern an diesem Antrag zeigt sich die krude Logik linker Ideologie, die schon in sich nicht stimmig ist. Was wollen Sie denn nun? In Ländern, in denen Sie mitregieren, also zum Beispiel im Land Brandenburg – oder auch, solange Sie noch nicht aus der Regierung ab- gewählt waren, in Berlin –, bauen Sie massiv Stellen bei der Polizei ab. Und nicht nur das. Ich fliege ja gelegent- lich von und nach Tegel – und da hat sich, völlig unab- hängig davon, wer im Land Berlin regiert, also auch unter Beteiligung der Linken etwa, bei den Sicherheitskräften nichts verändert. Was hat denn die Linke da in der Berli- ner Landesregierung gemacht? Nach Ihrer Logik hätten Sie das doch sofort in Ihre staatliche Obhut nehmen und mit Berliner Staatsangestellten erledigen müssen. Ob diese dann allerdings a) besser bezahlt und b) zartfühlen- der beim Abtasten und Durchleuchten der Passagiere ge- wesen wären, mag dahingestellt bleiben. Und dann kommt hier so ein Antrag. Statt solche Anträge zu schrei- ben, sollten Sie einfach einmal mit Ihren Kollegen in den Ländern reden; denn dort spielt bei der Polizei die Musik. Das ist wiederum deshalb schade, weil man über die- ses Thema ja durchaus vernünftig diskutieren könnte, beispielsweise darüber, dass es selbstverständlich mit unserem Rechtsstaat nicht vereinbar ist, wenn „schwarze Sheriffs“ die Menschen in Angst und Schrecken verset- zen. Oder auch darüber, dass wir Entwicklungen, wie wir sie in anderen Ländern beobachten können – dass Bürgerwehren eingesetzt werden, die quasi in Selbstjus- tiz tätig werden –, in Deutschland nicht hinnehmen könnten. Darum geht es der Linken aber nicht. Es geht Ihnen nicht darum, Fehlentwicklungen zu verhindern, sondern darum, einfach einmal mit Ihrer sozialistischen Staatsideologie gegen wirtschaftlich handelnde Unter- nehmen vorzugehen. Dazu passt dann auch Ihre – an die- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28593 (A) (C) (D)(B) ser Stelle ohnehin völlig deplatzierte – Forderung nach dem gesetzlichen Mindestlohn. Da haben Sie dann doch noch einen Platz gefunden, um Ihren Textbaustein dazu unterzubringen. Durch stete Wiederholung wird die For- derung aber nicht besser. Und im Übrigen: An Flughäfen zum Beispiel, wo gerade gestreikt wird für höhere Löhne, liegt das Lohnniveau schon jetzt über den von Ih- nen geforderten 10 Euro pro Stunde, nämlich zum Bei- spiel in NRW bei 12,36 Euro zuzüglich Zuschläge. Private Sicherheitsunternehmen tragen schon längst erheblich zur Sicherheit in Deutschland bei und arbeiten als verlässlicher Partner für Sicherheitsbehörden und staatliche Einrichtungen wie auch Körperschaften er- folgreich. Es ist dabei selbstverständlich, dass überall da, wo es um sensible Bereiche geht – und das ist im Sicher- heitsbereich ja regelmäßig der Fall – eine ausreichende Kontrolle sichergestellt sein muss. Die FDP-Fraktion hat sich bereits in der vergangenen Wahlperiode für eine effektive Kontrolle privater Sicherheitsdienste ausge- sprochen. Dazu gehört etwa, dass bei Abschluss entspre- chender Verträge zwischen der öffentlichen Hand und Sicherheitsunternehmen bestimmte Vereinbarungen ge- troffen werden, was etwa Sicherheitsüberprüfungen an- geht oder auch den Umgang mit Erkenntnissen, die im Rahmen der Tätigkeit gewonnen werden. Zudem sind selbstverständlich die gewerberechtlichen wie auch zum Beispiel waffenrechtlichen Vorgaben strikt einzuhalten. Selbstverständlich darf das Gewaltmonopol des Staa- tes nicht angetastet werden. Aber nicht überall, wo zum Beispiel Bewachungsaufgaben wahrgenommen werden müssen, müssen dafür Polizisten eingesetzt werden. Kei- ner will, dass „schwarze Sheriffs“ Leute verhaften, nach- dem sie sie mit körperlicher Gewalt bedroht haben. Aber es ist doch auch nicht so, als sei das irgendwo in Deutschland Realität, so, wie es die Linke hier glauben machen will. Jan Korte (DIE LINKE): Wir behandeln heute einen Antrag der Fraktion Die Linke, der zum Ziel hat, die Pri- vatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig zu machen. Die Branche der privaten Wach- und Sicher- heitsdienste stellt mit 3 700 Unternehmen, die rund 171 000 Angestellte beschäftigen und jährlich einen Umsatz von 4,6 Milliarden Euro verzeichnen, einen nicht unerheblichen Wirtschaftssektor der Bundesrepu- blik dar. Sicherheit ist ein profitables Geschäft, und die Branche boomt seit Jahren. Das ist ja im Prinzip nichts Falsches, könnte man mei- nen. Diese Zahlen beschreiben aber vor allem verschie- dene negative Entwicklungen der letzten Jahre: den Boom des Niedriglohnsektors zum Beispiel, aber auch den schleichenden Rückzug des Staates und die Privati- sierung von eigentlich öffentlichen Ordnungs- und Sicherheitsaufgaben. Ich möchte das mit einer letzten Monat erschienenen Meldung des Bezirks Bundespolizei der Gewerkschaft der Polizei, GdP, dokumentieren. Nicht zu irgendeinem allgemeinen sicherheitspolitischen Thema, sondern dies- mal zu einem Punkt, von dem die Gewerkschaft wirklich etwas versteht: zu den Arbeitsbedingungen der Bundes- polizei und der privaten Luftsicherheitsassistenten an den Flughäfen. Die Gewerkschaft bemängelt, dass – ich zitiere – „die Bundespolizei seit Jahren jeden frei wer- denden Arbeitsplatz eines bundeseigenen Luftsicher- heitskontrolleurs nicht mehr neu besetzt, sondern nur noch an einen privaten Sicherheitsdienst vergibt und dessen Mitarbeiter auf Stundenbasis ‚beleiht‘.“ Der Vor- sitzende der GdP, Bezirk Bundespolizei, Josef Scheu- ring, wird in dem Artikel auf der Gewerkschaftshome- page folgendermaßen zitiert: „Sobald der Arbeitsplatz nicht mehr mit Bundesbeschäftigten besetzt ist, sondern von ‚Beliehenen‘ privater Sicherheitsfirmen ausgeübt wird, beginnt das Diktat inakzeptabler Arbeitsbedingun- gen. Insbesondere durch die Anweisung von nur stun- denweisen, über den ganzen Tag mit großen Lücken ver- teilten Einsatzzeiten, ist eine sinnvolle und verträgliche Organisation des Arbeitstages gar nicht mehr möglich.“ Und weiter: „Durch die Beleihung dieser Aufgabe sind die Rahmenbedingungen massiv verschlechtert worden. Das hat gravierende Folgen für die dort eingesetzten Be- schäftigten und für die Sicherheit.“ Als Lösung für die- ses Sicherheitsproblem schlägt die GdP vor, „den Fehler der Privatisierung rückgängig zu machen und sicher- heitssensible Aufgaben wieder zurück in die öffentliche Hand zu holen.“ Eine gute Idee. Aber was macht die Bundesregie- rung? Sie verfolgt lieber die Einführung von Nacktscan- nern, die dann von den unterbezahlten und prekär be- schäftigten privaten Luftsicherheitsassistenten bedient werden sollen. Man muss sich das einmal vor Augen führen: In den letzten Jahren gab es einen Bürgerrechts- eingriff nach dem anderen, im Namen der Sicherheit. Und wenn es nach Innenminister Hans-Peter Friedrich ginge, würden noch mehr Daten gesammelt und noch mehr Bürger überwacht. Diese Sicherheitsprojekte kosten übrigens Millionen, ohne dass ihr Nutzen bislang erwiesen wurde. Aber am Sicherheitspersonal wird ge- spart. Das ist eine absurde Sicherheitsstrategie. Liebe Kolleginnen und Kollegen in den Koalitionsfraktionen: Wenn Sie schon nicht auf uns hören wollen, dann hören Sie auf die Polizeigewerkschaften! In diesem Fall ist das völlig okay. Ein anderer Punkt: Zunehmend werden private Wach- und Sicherheitsdienste von Städten und Gemeinden damit beauftragt, im Rahmen von Public-private-Part- nership-Modellen für Sicherheit und Ordnung zu sorgen. Obwohl immer wieder behauptet wird, private Sicher- heitsfirmen hätten keine Sonderrechte, führen sie Tätigkeiten aus, die hoheitliche Befugnisse bzw. Amts- trägerschaften erfordern. Die Erweiterung ihrer Zustän- digkeiten erfolgt dabei oftmals ohne ausreichende De- ckung durch das geltende Recht. Denn theoretisch haben die Angestellten der Unternehmen keinerlei Befugnisse, die über die Jedermannsrechte – also Notwehr, Nothilfe und Festnahmerecht – hinausgehen. In einigen Kommunen existieren sogenannte City- streifen. Das sind von der Kommune bestellte Privat- streifen, die gegen sämtliche Ordnungsverstöße im je- weiligen Stadtgebiet vorgehen sollen. Während ihrer Streifengänge erteilen die privaten Sicherheitsleute Platzverweise, stellen Personalien und begangene Ord- 28594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) nungswidrigkeiten fest, verhängen Buß- und Warngelder und führen Alterskontrollen durch. Tätigkeiten, die ei- gentlich in die Zuständigkeit der Polizei fallen. Den Bür- gerinnen und Bürgern wird der Eindruck vermittelt, die privaten „Ordnungskräfte“ hätten hoheitliche Befugnisse und praktisch die gleichen Rechte wie die Polizei. Haben sie aber nicht – und zwar zu Recht: Private Sicherheits- leute sind nicht, wie die Polizei, dem Schutz der Rechte von Bürgerinnen und Bürgern, sondern ihrem Arbeitge- ber und ihrem Auftraggeber verpflichtet und werden al- les Mögliche tun, um ihren Auftrag umzusetzen. Dass dabei oft, absichtlich oder in Unkenntnis der Rechtslage, Grenzen überschritten werden, ist genauso bekannt wie die unterirdischen Arbeitsbedingungen in der privaten Sicherheitsbranche. Im besten Fall sollen Sicherheitsdienste zu objektiver Sicherheit beitragen. In der Realität sieht das meist an- ders aus. Schwarze Sheriffs machen Bürgerinnen und Bürgern eher Angst, als ihnen Sicherheit zu vermitteln. Das ist aber auch gar nicht im Interesse der Sicherheits- unternehmen. Der Politikwissenschaftler Volker Eick spricht davon, die Branche lebe „von der Dramatisierung vermeintlicher Kriminalitätsbelastungen“. Diese Aus- sage ist keineswegs eine Gemeinheit gegenüber den pri- vaten Sicherheitsdienstleistern: Es gehört schlichtweg zum Tagesgeschäft eines jeden privaten Unternehmens, den Bedarf nach dem eigenen Produkt oder der eigenen Dienstleistung hochzuhalten. Eick führt weiter aus, es lasse sich beobachten, „wie das kommerzielle Sicher- heitsgewerbe sozialpolitische Problemlagen zu kriminal- politischen umdefiniert“ .Tatsächlich wird privates Si- cherheitspersonal im öffentlichen Raum oft eingesetzt, um die öffentlich sichtbaren Zeichen einer völlig ver- fehlten Sozialpolitik der letzten Bundesregierungen zu beseitigen oder zu kaschieren. Spätestens hier wird dann klar, dass es am Ende ums Geldmachen geht und nicht um eine tatsächliche Verbesserung der öffentlichen Sicherheit. Wir fordern in unserem Antrag eine Politik, welche die Staatsquote in den Bereichen der öffentlichen Sicher- heit erhöht, vordringlich in den sicherheitsrelevanten Bereichen der Bahn und der Flughäfen. Wir fordern klare Regelungen, die garantieren, dass keine in Grund- rechte eingreifenden Aufgaben auf Private übertragen werden. Und wir fordern erhöhte Standards für die Aus- und Fortbildung des Personals von Sicherheitsfirmen so- wie eine Bezahlung nach den Tarifen des öffentlichen Dienstes. Denn es geht nicht nur darum, unmenschlichen Arbeitsbedingungen ein Ende zu setzen, sondern auch darum, dass private Sicherheitskräfte die rechtlichen Rahmenbedingungen ihres Handelns und die Rechte an- derer kennen. Außerdem fordern wir die Abkehr von einer Politik der inneren Sicherheit, die sich bewusst der rechtlichen Grauzonen bedient, die der Einsatz privater Sicherheits- dienstleister eröffnet. Als Teil der Exekutive des Staates ist die Polizei an Recht und Gesetz gebunden. Aus gu- tem Grund gibt es Gesetze, welche die Befugnisse der Polizei regeln. Jede Abweichung und jedes Bestreben, das staatliche Gewaltmonopol durch Kooperationen mit privaten Dienstleistern gleichzeitig zu verwässern wie zu erweitern, stellt eine erhebliche Gefährdung von Bürger- rechten und Demokratie dar. Dieser Gefahr wollen wir mit unserem Antrag entgegenwirken. Auch wenn ich davon ausgehe, dass Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dies aus ideolo- gischen Gründen nicht hinbekommen werden, so hoffe ich doch, im Sinne einer nachhaltigen Stärkung von De- mokratie und Bürgerrechten, dass Sie unseren Antrag unterstützen werden. Selbstverständlich gilt dies auch für die Union; aber hier ist meine Hoffnung, dass Sie eine vernünftige Politik zu machen in der Lage sind, noch geringer. Aber lassen wir uns überraschen. Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Antrag ist – man kennt das von der Linksfraktion – ein Gemischtwarenladen mit inneren Widersprüchen. Da wird zum einen der fraktionseigenen Skepsis gegen gewinnorientierte Unternehmen insgesamt gefrönt, dies- mal eben bei den Sicherheits- und Bewachungsdienst- leistern. Dann wird – an sich ja eine sehr richtige Forde- rung – ein Mindestlohn gefordert, allerdings hier für Tätigkeiten, die laut der anderen Forderungen des Antra- ges gar nicht mehr ausgeübt werden sollten. Ähnliches gilt beim Thema Qualifikation: Es sollen laut Antrag Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser für Aufgaben qualifiziert werden, die sie gar nicht mehr übernehmen sollen. Man mag darin Pragmatismus erkennen, nämlich die Einsicht, dass diese Bundesregierung wohl kaum die Forderungen des Antrages umsetzen wird und man dann vielleicht lieber noch eine Rückfallposition hat. Es ist also ein ganzer Strauß an Themen aufgeschrieben und angesprochen: Könnte ja sein, dass irgendwas dann doch hängen bleibt. Dieses etwas bunte Zusammenwürfeln verdeckt aber leider auch den Blick auf das Wesentliche, nämlich die Frage, ob das staatliche Gewaltmonopol auch durchgän- gig vom Staat ausgeübt werden muss, also von Beamtin- nen und Beamten, die in einem besonderen Pflicht- verhältnis stehen und sich darin bewährt haben. Beim Ansprechen dieser Thematik kann man übrigens ein be- eindruckend klares Bekenntnis zu eben diesem staatli- chen Gewaltmonopol lesen, was man so aus den Reihen der Linkspartei auch nicht gewohnt ist. Wir haben hier eine klare Position, die sich aus dem Grundgesetz direkt ableiten lässt: Hoheitliche Befug- nisse gehören als ständige Aufgaben in die Hände von Beamten; denn gerade die Ausübung des Gewaltmono- pols – sprich: die Anwendung von unmittelbarem kör- perlichem Zwang – muss unter striktester Beachtung der Verhältnismäßigkeit stattfinden, und ihre parlamentari- sche Kontrolle und gerichtliche Anfechtung darf nicht auf Hindernisse stoßen, die sich aus unklaren Verant- wortlichkeiten, privatrechtlichen Verträgen oder Ähnli- chem ergeben. Das Gewaltmonopol hat die Gesellschaft über Jahr- hunderte entwickelt, es ist eine zivilisatorische Errun- genschaft, die man nicht aufgeben darf; denn ihr Sinn und Zweck ist es, das Recht des Stärkeren – und damit Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28595 (A) (C) (D)(B) pure Gewalt – als Mittel der Interessendurchsetzung ab- zulösen durch eine Gewalt, die von der Stärke des Rechts gebunden wird. Deswegen dürfen und wollen wir nichts tun, was diese Errungenschaft infrage stellt. Das bedeutet kein totales und vollständiges Aus für jegliche Erledigung durch Private, aber es macht die Leitplanken deutlich, innerhalb derer eine Übertragung an Private nur stattfinden kann, und es zeigt, dass es hier nicht um eine organisatorische Entscheidung geht, sondern um zentrale Wertentscheidungen. In einem Umfeld wie der Personenkontrolle am Flughafen, wo sich die Aufgabe und die möglichen Ge- fahrenlagen recht gut prognostizieren lassen, verläuft die Bewertung vielleicht anders als bei einer unübersichtli- cheren Situation. Aber da es um eine Säule des Rechts- staates an sich geht, heißt die Devise: im Zweifel für den Staat. Das gilt auch, weil wir die Entstehung zum Bei- spiel einer Strafvollzugsindustrie, wie sie in den USA mit ihren privaten Gefängnissen entstanden ist und die heftig für Gesetzesverschärfungen und damit mehr „Kundschaft“ lobbyiert, mit Schrecken sehen. Ein zu wenig beachtetes Detail möchte ich an dieser Stelle hervorheben: Das ist die Frage des hoheitlichen Anscheins privater Sicherheitsleute, die aber keineswegs Beliehene sind. Wenn ein gesetzlich mit der Ausübung unmittelbaren Zwangs Betrauter äußerlich nach Staats- gewalt aussieht, geht das in Ordnung. Aber wenn priva- tes Sicherheitspersonal, das lediglich die Jedermann- rechte oder ein Hausrecht ausübt, aussieht wie ein SEK, dann ist das nicht richtig. Denn Effekte der Einschüchte- rung und der Selbstbeschränkung des eigenen Verhaltens beim Anblick solch nur vermeintlicher Autorität gehört nicht in eine offene Gesellschaft, das Äußere als Droh- gebärde darf nicht die Regel sein. Die weiteren Fragen, die der Antrag eröffnet, sollte man nicht außer Acht lassen. Wir stehen als Partei und Fraktion schon lange für einen Mindestlohn. Der muss auch im Sicherheitsgewerbe gelten, auch wenn über die Höhe noch zu reden ist. Der Forderung nach einer guten Ausbildung und insbesondere auch einer rechtlichen und rechtsstaatlichen Schulung können wir uns ebenfalls nur anschließen. Anlage 5 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: – Änderung der Geschäftsordnung des Deutschen Bundestages – hier: Änderung der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deut- schen Bundestages (Anlage 1 der Geschäftsord- nung) (Tagesordnungspunkt 15) Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Mit dem heute zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf der Koali- tionsfraktionen soll das bisherige Drei-Stufen-Modell zur Veröffentlichung der Nebeneinkünfte um weitere sieben Stufen auf insgesamt zehn Stufen erweitert wer- den. Damit soll mehr Transparenz geschaffen werden. Transparenz ist freilich kein Selbstzweck. Transpa- renz bei der Frage der Verhaltensregeln, insbesondere bezüglich der sogenannten Nebeneinkünfte von Bundes- tagsabgeordneten, soll nicht die Neugier interessierter Kreise befriedigen oder Neidgefühle bedienen. Worum es hier geht und gehen muss, ist, mögliche Interessens- kollisionen aufzuzeigen, eventuelle Abhängigkeiten of- fenzulegen und auch die Frage, ob die Mandatsausübung im Mittelpunkt der Tätigkeit eines Abgeordneten steht. Ich möchte erneut – wie bei jeder Diskussion zu diesem Thema – klarstellen: Diesen Zielen müssen Verhaltens- regeln dienen. Verhaltensregeln müssen also danach be- urteilt werden, ob sie insoweit aussagekräftig und damit zielführend sind. In fast jeder Sitzung der Rechtsstellungskommission in dieser Wahlperiode diskutieren wir nun auf Betreiben interessanterweise von SPD und Grünen, ob die von ih- nen selbst im Jahr 2005 eingeführten Regelungen wirk- lich so gut sind. Wir von der Union haben uns der Dis- kussion über eine Verbesserung der geltenden Regelung – freilich unter Maßgabe der von mir gerade vorher ge- nannten Zielsetzung – zu keiner Zeit verweigert und deutlich gemacht, dass wir offen sind für eine sinnvolle Neuregelung. Mit der heute zur Abstimmung stehenden Zehn-Stu- fen-Regelung wollen wir mehr Transparenz schaffen; denn die höchste Stufe beginnt jetzt nicht mehr bei über 7 000 Euro, sondern bei über 250 000 Euro. Dies bringt in bestimmten Fällen in der Tat einen weiteren Erkennt- nisgewinn. Ich bleibe aber dabei: Die von Rot-Grün seinerzeit beschlossene Regelung der Veröffentlichung von Neben- einkünften leidet an einem Grundfehler, nämlich dem Bruttozuflussprinzip. Denn dieses kann den Eindruck er- wecken, die von einem Kollegen angegebenen Beträge seien gleichzusetzen mit seinem Einkommen bzw. Ge- winn. Auch bleiben Zweifel daran, ob aus der Höhe der sogenannten Nebeneinkünfte allein immer auch Er- kenntnisse über Abhängigkeiten bzw. Interessenkollisio- nen gewonnen werden können. Ich wiederhole auch meine Kritik aus früheren Debat- ten, dass die Regelung nicht klar differenziert zwischen Einkünften aus dem erlernten Beruf und Nebenverdiens- ten aus der – ich nenne es zugespitzt so – Vermarktung von Amt oder Mandat. Eine nicht unerhebliche Verbesserung im Hinblick auf das untaugliche Bruttozuflussprinzip haben wir im- merhin heute Morgen in der Rechtsstellungskommission noch beschlossen: Jeder Abgeordnete kann Erläuterun- gen zu seinen veröffentlichten Beträgen auf seiner Homepage einstellen, auf die künftig ein deutlich er- kennbarer Link auf der entsprechenden Bundestags- homepage direkt verweist. Wie gesagt, meine Zweifel an einigen grundlegenden Punkten der Veröffentlichungsregelung bleiben, und ich will auch nicht verhehlen, dass es in unserer Fraktion bei vielen diese Bedenken gibt. Gleichwohl wollen wir den Versuch unternehmen, mit einer neuen Stufenregelung mehr Transparenz zu erreichen. 28596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) Für ganz sicher nicht zielführend halten wir aber die Forderung nach Veröffentlichung in Euro und Cent, wie sie jetzt von der Opposition gefordert wird. Ich habe bis- her kein einziges Argument gehört, dass damit ein Transparenzgewinn erzielt werden kann. Im Gegenteil würde noch viel mehr der Anschein erweckt, dass der angegebene Betrag identisch ist mit dem wirtschaftli- chen Vorteil. Bis zum Fall Steinbrück wollte übrigens ja auch die SPD nur eine neue Stufenregelung. Aber angesichts der Debatte über die Vortragshonorare ihres mit beachtli- chen Nehmerqualitäten ausgestatteten Kanzlerkandida- ten hat sie dann die Flucht nach vorn angetreten. Auch die vorliegenden Anträge lehnen wir ab, wo- nach Berufsgeheimnisträger die Branche ihrer Auftrag- geber angeben müssen. Dies ist zum einen nicht prakti- kabel. Vor allem aber beinhaltet es die Gefahr der Verletzung von Verschwiegenheitspflichten. Lassen Sie mich abschließend einmal mehr davor warnen, die Rechtsstellung und das Berufsbild des Ab- geordneten in eine Richtung zu verändern, die dem freien Mandat und dem Parlament insgesamt Schaden zufügen würde. Wir brauchen ein Parlament, das aus der Breite der Gesellschaft zusammengesetzt ist. Es darf nicht dazu kommen, dass bestimmte Berufsgruppen wie Freiberufler, Handwerker, Gewerbetreibende immer schwerer für die Übernahme eines politischen Mandates zu gewinnen sind. Außerdem brauchen wir Abgeord- nete, die nicht nur einen Beruf erlernt haben, sondern ihn auch noch ausüben; denn dies stärkt die politische Unab- hängigkeit und ist damit im Interesse des Parlamentaris- mus. Und schließlich möchte ich auch eindringlich davor warnen, dass durch all die Debatten über Nebentätigkei- ten, Veröffentlichungspflichten, Abgeordnetenbeste- chung etc. der Eindruck erweckt wird, Parlamentarier seien faul, abhängig, raffgierig und korrupt. Dies ent- spricht in keiner Weise der Wirklichkeit und schadet des- halb dem Ansehen des Parlamentarismus. Bernhard Kaster (CDU/CSU): Um was geht es ei- gentlich im Kern dieser Debatte? Geht es hier um einen populistischen Überbietungs- wettbewerb? Geht es um Neiddebatten? Geht es um par- teistrategische Schachzüge? Oder geht es womöglich um Schadensbegrenzung für eine verunglückte Kanzlerkan- didatur, weil, um im aktuellen Sprachgebrauch zu blei- ben, das Konklave wohl zu kurz und vor allem unterbe- setzt war? Es geht hier um ein sehr wichtiges Thema des Parla- mentes, ein sehr wichtiges Thema im Verhältnis zwi- schen Parlament und Bürgern und der Transparenz ge- genüber den Wählern. Dafür müssen wir aber über die richtigen Sachver- halte sprechen, die tatsächlich relevanten Fälle. Ja, es geht um Transparenz, es geht um die Unabhängigkeit von Abgeordneten. Grundlage ist hier das Abgeordne- tenrecht. Und da haben wir eine große Verantwortung gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern wie auch ge- genüber den Kolleginnen und Kollegen. Zur Chronologie der jetzigen Verhaltensregeln, den Problemen in der Praxis und dem Zerrbild, das sich teil- weise hieraus ergibt, könnte viel gesagt werden. Aber jetzt geht es darum – das hat die Praxis auch gezeigt – dass die Verhaltensregeln, die Transparenz, einer Erwei- terung bedürfen. Dieses erforderliche Mehr an Transpa- renz schaffen wir mit der jetzigen Einführung von zehn statt bisher drei Einkunftsstufen. Die Debatte aber, so wie sie geführt wird, geht an der Wirklichkeit dieses Parlamentes vorbei, einer Parla- mentswirklichkeit, auf die wir ruhig ein wenig stolz sein können. 70 Prozent der Kolleginnen und Kollegen haben überhaupt keine Nebeneinkünfte. Um wen geht es denn hier? Im Deutschen Bundestag sind derzeit 15,5 Prozent Selbstständige aus den Bereichen Handwerk, Gewerbe und Landwirtschaft. Und das ist außerordentlich erfreu- lich. Weitere 15,9 Prozent sind freiberuflich Tätige, also Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Apotheker und Inge- nieure; auch das ist sehr erfreulich! Wir als Union begrü- ßen diese Zusammensetzung ausdrücklich. All diese Kolleginnen und Kollegen, die sich dazu entschieden ha- ben, ihre eigene Berufs- und Lebensbiografie für viel- leicht zwei oder drei Legislaturperioden zu unterbrechen – das ist bei über 50 Prozent der Kollegen der Fall –, müssen doch verständlicherweise Wege finden, wie sie ihren Betrieb, ihr Büro, ihre Kanzlei für eine solche Zeit weiterlaufen lassen können. Deswegen werden wir als Koalition keiner Regelung zustimmen, die es diesen Be- rufsgruppen weiter erschwert oder sogar unmöglich macht, sich um ein Bundestagsmandat zu bewerben. Die jetzigen Regelungen, insbesondere das Bruttozu- flussprinzip, führen bereits jetzt in der Darstellung zu ei- nem vollkommenen Zerrbild bei vielen Kolleginnen und Kollegen. Mit der heutigen Beschlussempfehlung des 1. Ausschusses wird der Deutsche Bundestag das bishe- rige Drei-Stufen-Modell auf insgesamt zehn Stufen er- weitern. Wir sorgen damit für einen weiteren und not- wendigen Transparenzgewinn im eigentlichen Kern der Sache, nämlich mögliche Abhängigkeiten von Abgeord- neten aufzuzeigen. Allein darum geht es; der gläserne Bürger darf nicht das Ziel sein, der gläserne Abgeord- nete auch nicht. Wir wollen für die Zukunft kein Funk- tionärsparlament, wir wollen auch in Zukunft Selbststän- dige und Freiberufler in einer guten Mischung im Deut- schen Bundestag. Die Debatte über Einzelfälle – ja, sogar über einen Extremfall – darf nicht dazu führen, dass berufliche Ne- bentätigkeiten von Handwerkern, Unternehmern, aber auch Rechtsanwälten und Ärzten in Bausch und Bogen einem Generalverdacht ausgesetzt werden. Das schadet letztlich dem Parlament und dem Ansehen der Abgeord- neten – und zwar auch dem Ansehen derer, die über- haupt keine entgeltlichen Nebentätigkeiten ausüben! Christian Lange (Backnang) (SPD): Ich begründe die beiden Änderungsanträge der SPD-Bundestagsfrak- tion. Wir wollen die Veröffentlichung der Nebenein- künfte auf Euro und Cent sowie die Nennung der Bran- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28597 (A) (C) (D)(B) chen. Dies entspricht den Vorschlägen der CDU/CSU und FDP, von denen Sie heute nichts mehr wissen wol- len. Ich begrüße das Vorgehen von Peer Steinbrück. Er ist unser Vorbild. Was für ihn gilt, muss für alle gelten. Dieser Vorschlag entspricht meiner eigenen ursprüng- lichen Forderung und ist jetzt gemeinsamer Antrag von SPD und Grünen. Wie dringend notwendig eine Ver- schärfung der Transparenzregeln ist, zeigt der Fall von Michael Fuchs. Auf Fuchs’ Bundestagsseite war jahrelang zu lesen, dass er Vorträge für die britische Hakluyt Society gehal- ten hatte. Nach Recherchen von abgeordnetenwatch.de und stern, 9. Januar 2013, wurde deutlich, dass es sich in Wahrheit nicht um die gemeinnützige geografisch-histo- rische Gesellschaft, sondern einen privaten Nachrichten- dienst mit ähnlichem Namen, Hakluyt & Company, han- delte. Fuchs hat nach Recherchen des stern seit August 2008 mehr als 13 bezahlte Vorträge für die Londoner Be- ratungsfirma Hakluyt & Company gehalten und erhielt dafür insgesamt mindestens 57 000 Euro. Hakluyt & Company wurde 1995 von ehemaligen Mitgliedern des britischen Geheimdienstes gegründet. Die Firma beschafft für Unternehmen unveröffentlichte Informationen, zum Beispiel über andere Unternehmen, über Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen, aber auch über Regierungsvorhaben. Die Verwechslung der umstrittenen Firma mit der ge- meinnützigen Hakluyt Society nahm ihren Ausgang in einer unvollständigen Meldung von Michael Fuchs, der 2008 den ersten Vortrag dort nur mit „Hakluyt London“ bei der Bundestagsverwaltung meldete. Wie daraus „Hakluyt Society“ wurde, ist bis heute ungeklärt. Es wundert deshalb nicht, dass Michael Fuchs, der in den vergangenen drei Jahren mindestens 100 000 Euro zusätzlich eingenommen hat, sich gegen die Veröffentli- chung konkreter Zahlen ausspricht und darüber hinaus- gehend auch zumindest die Nennung der Branche, in der Einkünfte erzielt werden. Er könne sich höchstens vor- stellen, „dass wir die gegenwärtige Transparenzregelung um einige Stufen ergänzen“, sagte Fuchs, 14. Oktober 2012, dapd. Der Vorgang zeigt, wie wichtig es ist, dass wir weit- gehende Nachvollziehbarkeit schaffen, wie hoch die Einnahmen aus Nebentätigkeiten sind, und zwar auf Euro und Cent, aber auch von wem bzw. aus welcher Branche die Einnahmen stammen. Dies wurde von CDU/CSU und FDP bislang kategorisch abgelehnt. Das Bundesverfassungsgericht hat aber in seinem Ur- teil vom 4. Juli 2007 mit einer 4:4-Entscheidung die der- zeit geltende Stufenregelung bekräftigt. Einer Offenle- gung genauerer Zahlen stünde damit nichts im Wege, solange die schützenswerten Interessen, zum Beispiel spezielle Verschwiegenheitspflichten von Ärzten oder Anwälten, gewahrt bleiben. Mit der Nennung lediglich der Branche, in der die Nebeneinkünfte erzielt werden, kommen wir gebotenen Verschwiegenheitspflichten nach. Mit den Transparenzregelungen sollen berufliche und sonstige Verpflichtungen des Abgeordneten neben dem Mandat und daraus zu erzielende Einkünfte den Wählern sichtbar gemacht werden. Sie sollen sich mithilfe von In- formationen über mögliche Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten ein besseres Urteil über die Wahrnehmung des Mandats durch den Abge- ordneten auch im Hinblick auf dessen Unabhängigkeit bilden können. Diesbezügliche Kenntnis ist nicht nur für die Wahl- entscheidung wichtig. Sie sichert auch die Fähigkeit des Deutschen Bundestages und seiner Mitglieder, unabhän- gig von verdeckter Beeinflussung durch zahlende Inte- ressenten das Volk als Ganzes zu vertreten. Das Volk hat Anspruch darauf, zu wissen, von wem – und in welcher Größenordnung – seine Vertreter Geld oder geldwerte Leistungen entgegennehmen. Das Interesse des Abge- ordneten, Informationen aus der Sphäre beruflicher Tä- tigkeiten vertraulich behandelt zu sehen, ist gegenüber dem öffentlichen Interesse an der Erkennbarkeit mögli- cher Interessenverknüpfungen der Mitglieder des Deut- schen Bundestages grundsätzlich nachrangig. Wichtig ist außerdem, dass Verstöße entsprechend empfindlich geahndet werden können. Wenn Abgeord- nete Nebeneinkünfte verschweigen und dies bekannt wird, soll ein Betrag in gleicher Höhe von ihrer Diät ab- gezogen werden. Ich fordere Sie deshalb auf: Stimmen Sie den Anträ- gen von SPD und Grünen zu! Sonja Steffen (SPD): Das Volk hat Anspruch darauf, zu erfahren, von wem – und in welcher Größenordnung – seine Volksvertreter Geld oder geldwerte Leistungen entgegennehmen. Bisher müssen die Abgeordneten ihre Nebeneinkünfte in drei Stufen offenlegen. Diese Offenlegungspraxis hat zu viel Kritik geführt, beispielsweise von Transparency International Deutschland, nach deren Einschätzung sich die Veröffentlichung in drei Stufen als kontraproduktiv und eher verwirrend erwiesen hat. Dies sei besonders bei Angaben zur dritten Stufe der Fall, mit der alle Ein- künfte ab 7 000 Euro erfasst werden. Hinter dieser Stufe können sich vier-, fünf- oder sechsstellige Eurobeträge verbergen. Die Koalition möchte hier nun mit einem Vorschlag Abhilfe schaffen, der die Stufen von drei auf zehn Stufen ausbaut und so genauere Einsicht bis zu einer Höhe von 250 000 Euro ermöglicht. Auch wenn dies eine Verbesserung gegenüber der bis- herigen Praxis darstellt, lehnen wir diesen Vorschlag ab. Das bedeutet nicht, dass wir die Ausübung von Nebentä- tigkeiten durch Abgeordnete grundsätzlich ablehnen. Für ehrliche Arbeit braucht man sich nicht zu schämen, und diese soll auch weiterhin neben dem Mandat ausge- übt werden dürfen. Gerade Selbstständige müssen si- cherstellen können, dass mit der Annahme des Mandats die eigene, oft mühsam aufgebaute Existenz nicht aufge- geben werden muss. Anders wäre eine Rückkehr in den eigenen Beruf und damit eine Absicherung für die Zeit 28598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) nach dem Mandat für diese Gruppe oft nicht möglich. Insbesondere gilt es, die eigene Familie, den Lebenspart- ner und die Kinder über die vier Jahre des Mandats hi- naus abzusichern. Und es kann auch um Verpflichtungen Dritten gegenüber gehen, wie beispielsweise den eige- nen langjährigen Mitarbeitern im Betrieb oder der Kanz- lei. Aber wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern, die mit ihren Steuergeldern auch unsere Diäten, Büroaus- stattungen und Mitarbeiter finanzieren, schuldig, unsere Einkünfte auf Euro und Cent offenzulegen. Ohne Trans- parenz gibt es kein Vertrauen, und ohne Vertrauen gibt es auch langfristig keine parlamentarische Demokratie mit einer breiten Akzeptanz. Die von der Koalition vorgeschlagene neue Regelung ist leider genauso verwirrend wie die alte, nur dass sie die höheren Einkünfte stärker einbezieht. Die tatsächli- chen Bruttoeinkünfte eines Abgeordneten, der jährlich einmal Stufe zwei, einmal Stufe drei und einmal Stufe vier verdient, liegen mindestens bei 25 503 Euro. Sie können aber auch bis zu 52 000 Euro betragen – das nen- nen Sie transparent? Wenn ich achtmal Stufe vier verdiene, liegt mein Ein- kommen zwischen 120 000 und 240 000 Euro. Ich weiß ja nicht, wie es den Kollegen der Koalitionsfraktionen geht, aber für mich macht das schon einen ganz schönen Unterschied. Zudem fällt auf, dass Ihre Sprünge zwischen den Stu- fen von eins bis zehn immer größer werden. Liegt der Unterschied zwischen Stufe zwei und drei noch bei 8 000 Euro, sind es zwischen Stufe fünf und sechs schon 25 000 Euro und schließlich zwischen Stufe acht und neun 100 000 Euro. Heißt das, je mehr ich verdiene, desto unwichtiger ist eine möglichst exakte Offenle- gung? Ich bin mir außerdem sicher, dass der Großteil der Menschen automatisch immer von den oberen Grenz- werten ausgeht. Nach dem Motto: Der verdient dreimal Stufe eins? Na, dann hat der doch mindestens 10 000 Euro zusätzlich! – Dabei könnten es, wie wir wissen, auch nur 3 000 Euro sein. Ganz abgesehen da- von, dass wir hier immer noch von Bruttoeinkommen sprechen, das noch versteuert werden muss. Ich meine daher, dass es auch in unserem eigenen In- teresse ist, hier für mehr Transparenz zu sorgen. Diese bekommen wir aber nur mit einer Offenlegung der tat- sächlichen Höhe der Einkünfte. Ich bitte Sie daher, unse- rem Antrag für eine Offenlegung auf Euro und Cent zu- zustimmen. Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem festge- stellt, dass das Interesse des Abgeordneten, Informatio- nen aus der Sphäre beruflicher Tätigkeiten vertraulich behandelt zu sehen, gegenüber dem öffentlichen Inte- resse an der Erkennbarkeit möglicher Interessenver- knüpfungen grundsätzlich nachrangig ist. Wir fordern daher, dass bei der Veröffentlichung der Nebentätigkei- ten von Abgeordneten, die als Berufsgeheimnisträger wie Rechtsanwälte und Steuerberater tätig sind, zumin- dest die Branche des Vertragspartners, Auftraggebers oder Mandanten offengelegt werden muss. Das Argument der Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, die Kennzeichnung der Branche sei abzuleh- nen, da das Risiko vor allem im ländlichen Raum zu groß sei, über die Branchenangabe den Vertragspartner des Abgeordneten identifizieren zu können, ist schein- heilig. Es ist sogar eher ein Argument für die Branchen- angabe. Denn gerade in einer solchen von Ihnen geschil- derten Situation kann es zu großen Interessenkonflikten kommen. Mit den Transparenzregelungen sollen den Wählerin- nen und Wählern mögliche Interessenverflechtungen und wirtschaftliche Abhängigkeiten aufgezeigt werden, damit sie sich über die Unabhängigkeit ihres Abgeordne- ten ein Bild machen können. Denken Sie daran: Ohne Transparenz gibt es kein Vertrauen, und ohne Vertrauen gibt es keine funktionierende parlamentarische Demo- kratie. Jörg van Essen (FDP): Anknüpfend an die große öffentliche Debatte über die Vortragstätigkeit des Kolle- gen Peer Steinbrück hat sich auch in meiner Fraktion eine Diskussion darüber entwickelt, ob die bisher in den Verhaltensregeln genannten drei Stufen für Nebenein- künfte geeignet sind, der Öffentlichkeit die notwendige Transparenz zu ermöglichen. Für meine Fraktion lege ich Wert darauf, dass wir Ne- bentätigkeiten von Abgeordneten grundsätzlich ermögli- chen wollen. Im Gegensatz zu Beamten sind Freiberufler nicht abgesichert, wenn sie durch den Willen des Wäh- lers oder der Partei nicht wieder für eine weitere Tätig- keit im Deutschen Bundestag nominiert werden. Es macht deshalb Sinn, dass diese Kollegen einen Fuß in der Tür zu ihrem bisherigen Beruf haben und deshalb dann auch die Chance, in diesen nach einem Ausschei- den aus dem Bundestag zurückzukehren. Meine Fraktion lehnt die betragsgenaue Darlegung der Nebeneinkünfte ab. Durch die zehn nunmehr zur Verfügung stehenden Stufen kann sich der Bürger ein zutreffendes Bild von der Wertigkeit einer Nebentätig- keit machen. Das Bundesverfassungsgericht – darauf weise ich ausdrücklich hin – hat so eine betragsgenaue Darlegung auch nicht gefordert. Von daher halten wir die nun zu verabschiedende Veränderung der Verhaltensre- geln für einen guten Fortschritt, der zu zusätzlicher not- wendiger Transparenz führen wird. Raju Sharma (DIE LINKE): Wir befassen uns heute erneut mit der Frage, wie Politik transparent gestaltet werden kann. Speziell geht es um Transparenz in eigener Sache, nämlich um die Offenlegung von Nebentätigkei- ten, von Auftraggebern und von Nebeneinkommen. So begrüßenswert es ist, dass das Thema Transparenz im Bundestag endlich Konjunktur hat, so frustrierend ist es zugleich, weil sich einfach nichts bewegt. Die Bundesre- gierung mauert, wo sie kann: beim Lobbyistenregister, bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Parteienfinan- zierung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28599 (A) (C) (D)(B) Nun gab es eine öffentliche Debatte über Nebenein- künfte. Der Begriff ist schon nicht ganz richtig, weil bei manchem Kollegen das „Nebeneinkommen“ die Jahres- diät schnell einmal um ein Mehrfaches übersteigt. Mit dieser Debatte wurde die Bundesregierung jetzt sozu- sagen zum Jagen getragen. Jetzt lautet der Vorschlag, die Verhaltensregeln für die Abgeordneten so zu ändern, dass Nebeneinkünfte nicht mehr in drei, sondern in zehn Stufen veröffentlicht werden müssen. Das ist nun das Gegenteil von Transparenz. Das ist vielmehr eine Verschleierungstaktik. Ob 3, 10 oder 15 Stufen: Die Bürgerinnen und Bürger wollen zu Recht wissen, für wen ihre Abgeordneten sonst noch tätig sind und wie viel Geld fließt. Das ist ein berechtigtes Inte- resse; denn nur so kann man sich ein Bild davon ma- chen, in welche Abhängigkeiten oder Interessenkon- flikte sich ein Abgeordneter möglicherweise begibt. Diese Klarheit schafft eine Veröffentlichungspflicht mit zehn Stufen nicht. Im Gegenteil: Genauso gut könnten CDU und FDP vorschlagen, Nebeneinkommen in islän- dischen Kronen, in römischen Ziffern und mit kyrilli- schen Buchstaben zu veröffentlichen. Dann ist zwar alles gesagt, das aber praktisch trotzdem nicht zu gebrauchen. Die Linke sagt: Schluss mit dieser Verschleierungs- taktik! Wir haben zwei übersichtliche Änderungsanträge vorgelegt, denen jeder Abgeordnete ohne größere Pro- bleme zustimmen könnte. Wir wollen die Veröffentli- chung aller Nebeneinkünfte – und zwar auf Heller und Pfennig. Natürlich sollen auch die Auftraggeber genannt werden. Es ist doch relevant, zu wissen, ob ein Gesund- heitspolitiker beispielsweise auf den Gehalts- und Hono- rarlisten von Pharmakonzernen oder Lobbyorganisatio- nen steht und, wenn ja, wie viel Geld genau fließt. Das muss nicht zwangsläufig anrüchig sein. Damit sich aber genau dazu jeder ein Bild machen kann, ist Transparenz – echte Transparenz – notwendig. Keine Fraktion, kein Abgeordneter sollte sich hier zieren. Das Mandat ist unser Hauptberuf. Wir haben von den Wählerinnen und Wählern einen Auftrag erhalten. Wer glaubt, der Diener mehrerer Herren sein zu müssen, soll sich wenigstens nicht in Schweigen hüllen, sondern ehrlich und aufrecht Klarheit schaffen. Ein beliebter Einwand ist das Problem mit Berufsge- heimnisträgern wie Rechtsanwälten oder Ärzten. Hier ist tatsächlich Fingerspitzengefühl und eine besondere Re- gelung notwendig. Das Prinzip dabei sollte sein: So viel Transparenz wie möglich, so viel Vertraulichkeit wie nö- tig. Natürlich achtet die Linke beispielsweise die ärztliche oder anwaltliche Schweigepflicht. Weder soll ein Straf- verteidiger seine Mandanten preisgeben noch soll ein Abgeordneter, der im Nebenberuf als Schönheitschirurg tätig ist, seine Kundschaft in einer Drucksache des Bun- destages outen müssen. Die Linke schlägt daher eine Re- gelung vor, nach der in diesen und ähnlichen, klar ab- grenzbaren Fällen statt des Auftraggebers die Branche zu nennen ist. Wir halten das für einen praktikablen Weg. Die Abgeordneten der Linken leisten diese eigentlich selbstverständliche Transparenz schon heute. Die Kolle- ginnen und Kollegen meiner Fraktion veröffentlichen freiwillig ihre Nebeneinkünfte centgenau. Nehmen Sie sich daran ein Beispiel. Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Meine Fraktion hat die anderen Fraktionen im Bundes- tag zu einer umfassenden Transparenzinitiative aufge- fordert. Transparenz schafft Vertrauen in politische Ent- scheidungen, schützt sie vor Manipulationen mit dem Scheckbuch und stützt die Legitimität unserer Demokra- tie. Dazu zählt auch echte Transparenz bei Nebeneinkünf- ten von Abgeordneten. Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht, zu erfahren, welchen Nebentätigkeiten Abge- ordnete neben ihrem Mandat nachgehen. Sie haben ein Recht, zu erfahren, wie hoch die Einkünfte aus diesen Nebentätigkeiten sind und welche Interessen die Abge- ordneten in diesem Rahmen vertreten. Nur so ist für Bür- gerinnen und Bürger nachvollziehbar, ob Abgeordnete den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit tatsächlich auf ihr Man- dat legen. Und nur so ist für Bürgerinnen und Bürger er- kennbar, ob eine Beeinflussung der Abgeordnetentätig- keit droht. Wir haben zu den heute zur Abstimmung stehenden Änderungen der Verhaltensregeln für Abgeordnete er- neut zwei Änderungsanträge eingebracht, die zu einem echten Mehr an Transparenz führen sollen. Wir fordern darin nicht zum ersten Mal die betragsge- naue Offenlegung der Nebeneinkünfte in Euro und Cent. Erst auf unsere beständigen Forderungen und auf das Drängen der Öffentlichkeit nach mehr Transparenz hin hat die Koalition sich veranlasst gesehen, Nebenein- künfte nun nicht mehr in drei, sondern in zehn Stufen veröffentlichen zu wollen. Ob Abgeordnete nun 8 000 oder 15 000 Euro aus einer Nebentätigkeit verdienen, ob eine Tätigkeit 160 000 oder 250 000 Euro einbringt, das spielt dabei weiterhin keine Rolle. Von den lauten Forde- rungen aus der Koalition nach detailgenauer Offenle- gung der Nebeneinkünfte des Kanzlerkandidaten der SPD im letzten Jahr blieb erwartungsgemäß wenig übrig, als es um die Offenlegung der eigenen Einkünfte ging. Wir meinen, Bürgerinnen und Bürger sollen ganz ge- nau erfahren, wie viel Geld Abgeordnete aus Nebentä- tigkeiten beziehen, und fordern die Koalition erneut auf, bei allen Abgeordneten des Bundestages das gleiche Maß anzulegen, auch bei sich selbst. Deutlich werden soll aber auch, wer bei Nebenein- künften hinter den Aufträgen steckt. Deswegen verlan- gen wir, dass Berufsgeheimnisträger, die den Namen ih- rer Mandanten verschweigen dürfen, dann wenigstens die Branche angeben müssen, aus der diese stammen. Anlage 6 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Queere Jugendliche unterstützen (Tagesordnungspunkt 16) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Wir hatten in den zu- rückliegenden Jahren mehrfach die Gelegenheit, uns 28600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) über die Situation insbesondere von schwulen und lesbi- schen Jugendlichen auszutauschen. Stets hat dabei die Sachlichkeit und der Respekt vor diesem Personenkreis im Vordergrund gestanden. Ich bin mir insofern sicher, dass wir auch dieses Mal eine von gegenseitigem Re- spekt geprägte Debatte führen werden. Junge Menschen, die ein Coming-out als Lesbe, als Schwuler, als Transsexueller haben, sind vor eine ganze Reihe von Problemlagen gestellt, mit der sie umgehen müssen. Neben der Frage der Reaktion ihres engsten Umfelds wie Familie und Freunde ändern sich auch Per- spektiven am Arbeitsplatz oder in der Schule. Nach wie vor ist es in Deutschland so, dass ein Verständnis oder eine Akzeptanz nicht selbstverständlich ist. Reaktionen können noch immer sehr unterschiedlich ausfallen. Junge Menschen in Deutschland müssen noch immer eine Menge an Mut aufbringen, um zu ihrem Lebensent- wurf offen zu stehen. Nicht selten ist davon zu hören, dass Freunde oder sogar Eltern sich abwenden, wenn sie mit einem Coming-out konfrontiert werden. Andererseits sind wir uns alle einig, dass sich das Ver- halten der Gesellschaft in vielfacher Art und Weise grundlegend geändert hat. Schritt für Schritt geht unsere Gesellschaft einen Weg hin zu einem respektvollen und diskriminierungsfreien Umgang mit der Verschiedenheit sexueller Orientierung. Dies ist jedoch noch längst nicht selbstverständlich. Wie das individuelle Umfeld reagiert und Formen einer gefühlten Andersartigkeit aufnimmt, ist noch immer begleitet von Unberechenbarkeit. Für Betroffene ist dies besonders quälend und belastend. Un- ser Anspruch kann nicht sein, die Aufnahme dieses Per- sonenkreises in unsere Mitte von Zufälligkeiten abhän- gig zu machen. Dies wird unserem selbst gesetzten Anspruch an eine diskriminierungsfreie Gesellschaft, die auf gegenseitigem Verständnis füreinander und der Ak- zeptanz verschiedener Lebensformen beruht, noch nicht gerecht. Vieles wird nicht mehr offen ausgesprochen, aber auch subtiles oder implizites Verhalten kann sehr schmerzhaft und belastend sein. Es muss eine Kultur der Vielfalt entstehen, allerdings ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verlieren. Aus diesem Grund ist es wichtig, besonders den Jugend- lichen und jungen Erwachsenen ein Umfeld zu ermögli- chen, in dem sie selbstbestimmt ihre sexuelle Orientie- rung leben können. Wahr ist aber auch: Die deutsche Gesellschaft ist be- reits einen weiten Weg gegangen, wenn man betrachtet, wo wir herkommen, und vor allen Dingen wenn wir uns vergegenwärtigen, wie anderswo mit diesen Fragen der Andersartigkeit umgegangen wird. Da brauchen wir nicht bis in den muslimischen Kulturkreis zu gehen, da reicht der Blick in das östliche Europa, wo Menschen noch immer körperlicher Gewalt und anderen Formen von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Und ich brauche an dieser Stelle nicht zu erwähnen, dass die Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität erst 1990 von der Liste psychischer Krankheiten strich. Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie bereits eine ganze Reihe von Maßnahmen unterstützt, die auf ei- nen Abbau noch bestehender Vorurteile und auf die Schaffung eines besseren Klimas hinwirken. Ich möchte an dieser Stelle betonen, dass die christlich-liberale Ko- alition bei ihren jugendpolitischen Bemühungen die Un- terschiedlichkeit von Jugendlichen berücksichtigt. Über das Förderinstrument des Kinder- und Jugendplans des Bundes unterstützt sie unterschiedliche Angebote zum Beispiel für lesbische und schwule Jugendliche. Eine de- taillierte Aufstellung des Engagements hat das BMFSFJ bereits vor einiger Zeit vorgelegt. Beispiel für das BMFSFJ ist das bundesweit agie- rende Jugendnetzwerk Lambda e. V. Es vertritt die Inte- ressen junger Lesben, Schwuler, Bisexueller und Trans- gender in der Öffentlichkeit und wird seit 1990 regelmäßig aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans ge- fördert. Lambda bietet für Jugendliche eine Jugendbera- tung an, in der die Jugendlichen in einer Peer-to-Peer- Beratung Unterstützung bei Themen wie „Coming-out“, „Partnerschaft“ und „Diskriminierung“ erhalten. Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung zum Beispiel adressiert lesbische, schwule und bisexu- elle Jugendliche zum Themenbereich „Sexualaufklä- rung“ und „Aidsprävention“. Die Broschüre „Hetero- sexuell? Homosexuell? Sexuelle Orientierung und Coming-out“ informiert spezifisch zum Coming-out und spricht damit sowohl Jugendliche als auch ihre Eltern an. Dies, um nur einige zentrale Beispiele zu benennen. Eine ganze Reihe von Forderungen, die die Grünen in ihrem Antrag stellen, fallen jedoch nicht in die Zustän- digkeit des Bundes. Darauf wurde bereits mehrfach im Rahmen der Debatten zu diesem Thema hingewiesen. Bei allem Engagement in der Sache bleibt es dabei, dass die verfassungsmäßigen Kompetenzen beachtet werden müssen. Besonders erfreulich ist, dass wir in den zurücklie- genden Monaten beim Thema Intersexualität ein gutes Stück weitergekommen sind. Durch die Änderung des Personenstandrechts ist es in der Zukunft möglich, dass intersexuelle Menschen sich nicht mehr entscheiden müssen, ob sie in ihren offiziellen Dokumenten die binä- ren Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ angeben müssen. Es steht den intersexuellen Menschen frei, sich für eines der beiden Geschlechter zu entscheiden oder die Eintragung offen zu lassen. Mit diesem Schritt gehö- ren wir weltweit zu den Vorreitern. Ich hoffe, dass sich viele weitere Staaten anschließen werden, und ich bin guten Mutes, dass unser Beispiel in Europa Schule ma- chen wird. Ich freue mich, dass das BMFSFJ meinem Vorschlag gefolgt ist und noch in diesem Jahr einen großen Kon- gress zum Thema Intersexualität plant, in dem auf brei- ter Basis ein Erfahrungsaustausch, eine Standortbestim- mung und eine Koordination weiterer Maßnahmen erfolgen wird. Ich denke, dies ist sehr wichtig. Insbeson- dere ist es mir ein wichtiges Anliegen, das Thema „Ver- bot von geschlechtsfestlegenden Operationen bei Min- derjährigen“ anzugehen. Ich habe den Eindruck, dass wir hier parteiübergreifend am gleichen Strang ziehen. Und ich bin auch hier zuversichtlich, zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen, die im Sinne der intersexuellen Menschen in Deutschland ist. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28601 (A) (C) (D)(B) Christel Humme (SPD): Heute debattieren wir über einen Antrag der Grünen mit einem sperrigen Titel und doch einem sehr berechtigten Anliegen. Worum geht es? Es geht darum, alle Jugendliche bei der Entwicklung ihrer Persönlichkeit so zu stärken, dass sie ihre sexuelle Orientierung und ihre Geschlechtsidentität selbstbe- stimmt und angstfrei entdecken, akzeptieren und leben können. Bereits 2005 hat die damalige rot-grüne Koalition mit dem Antrag „Schwule und lesbische Jugendliche – Mit- tendrin statt außen vor“ die richtige Richtung vorgege- ben: „Lesben und Schwule dürfen nicht länger als ‚Randgruppen‘ angesehen werden, sondern haben ganz selbstverständlich ihren Platz in der Mitte der Gesell- schaft.“ Diese Selbstverständlichkeit bezieht sich nicht nur auf lesbische oder schwule Jugendliche, sondern auf alle jungen Menschen, die für sich eine andere Form der Sexualität und Geschlechtsidentität entdecken. Gay, lesbian, bisexual, transsexual, transgender, intersexual: Diese Varianten sexueller Orientierungen und Identitäten verstecken sich hinter der vermutlich für viele Bürgerin- nen und Bürger nicht unbedingt geläufigen englischen Abkürzung GLBTTI. Alle diese Menschen eint die Er- fahrung, anders zu sein als ihre Umgebung, anders als die meisten ihrer Freunde, Bekannten, anders als das, was sie bisher als vermeintlich normal und üblich ken- nengelernt haben. Vor diesem Hintergrund schrecken viele Jugendliche vor dem sogenannten Coming-out, also dem offensiven Umgang mit der eigenen Andersartigkeit, zurück. Und das nicht ohne Grund. Spott, verletzende Kommentare oder gar körperliche Gewalt gegenüber Lesben, Schwu- len, bi-, trans- oder intersexuellen Menschen sind noch immer weit verbreitet. Die Angst vor den Reaktionen der eigenen Familie, der besten Freunde oder Freundinnen führt viele dieser jungen Menschen in die Isolation und Verzweiflung. Ihr Selbstmordrisiko ist Studien zufolge signifikant höher als bei heterosexuellen Jugendlichen. Was ist zu tun? Wir müssen dafür sorgen, dass es endlich als normal wahrgenommen wird, verschieden zu sein. Wir müssen überall in unserer Gesellschaft eine Kultur der Anti- diskriminierung und der Wertschätzung von Vielfalt verankern. Dazu sind wir Politikerinnen und Politiker gefordert. Wir müssen den Rahmen für eine diskriminie- rungsfreie Gesellschaft setzen und mit nachhaltigen Prä- ventionsstrategien gegensteuern. Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, hat in diesem Zusammenhang eine wichtige Signalwirkung. Denn es hat ausdrücklich auch zum Ziel, Benachteili- gungen aufgrund der sexuellen Identität zu verhindern oder zu beseitigen. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha- ben uns darüber hinaus stark dafür gemacht, das Gleich- behandlungsgebot in Art. 3 unseres Grundgesetzes um den entscheidenden Satz „Niemand darf wegen seiner sexuellen Identität benachteiligt oder bevorzugt werden“ zu erweitern. Leider, meine Damen und Herren von der Regie- rungskoalition, haben Sie 2011 die Gesetzentwürfe von SPD, Grünen und Linken ebenso abgelehnt wie vorher- gehende Initiativen aus den Ländern. Damit wurde fahr- lässig eine Gelegenheit für eine wichtige Botschaft ver- worfen. Über alle Parteigrenzen hinweg hätten wir dokumentieren können, dass Diskriminierungen unserer Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihrer sexuellen Identi- tät alles andere als ein Kavaliersdelikt sind. Auch die aktuellen Diskussionen und die heutige Plenardebatte über die volle Gleichstellung von Lebenspartnerschaften mit der Ehe und vor allem um das Adoptionsrecht für lesbische und schwule Paare senden die mehr oder weniger subtile Botschaft: Einige Bürge- rinnen und einige Bürger sind durch ihre Art zu leben und zu lieben weniger schützenswert als andere. Diese Botschaft, die die Regierung Merkel damit aussendet, ist beschämend und ein schleichendes Gift für eine bunte und solidarische Gesellschaft. Woher noch kommen eigentlich die Vorbehalte, die Verachtung und der Hass, die vielen schwulen und lesbi- schen Jugendlichen im Alltag noch immer entgegen- schlagen? Das Magazin der Süddeutschen Zeitung befragte kürzlich Kinder aus sogenannten Regenbogenfamilien, welche Erfahrungen sie machen, wenn sie anderen von ihrer Familienkonstellation mit zwei Vätern oder zwei Müttern erzählen. „Kinder nehmen das alles total normal auf. Wenn, dann waren es immer die Eltern, die damit ein Problem hatten.“ So bringt es ein Mädchen auf den Punkt. Ich finde diese Einschätzung ganz zentral. Sie zeigt: Wir müssen gerade Erwachsene sensibilisieren, dass zu dem traditionellen Familienbild, das sie als „normal“ an- sehen, längst weitere Beziehungsformen getreten sind, in denen Menschen füreinander langfristig Verantwortung übernehmen. Keine ist der anderen überlegen, und alle verdienen Unterstützung und Respekt. Gleichzeitig – das macht auch der vorliegende Antrag deutlich – brauchen vor allem die Jugendlichen selbst passende Beratungs- und Unterstützungsangebote. Ne- ben entsprechenden Angeboten vor Ort gehört für ratsu- chende junge Menschen auf jeden Fall der Austausch mit Gleichaltrigen dazu. Oft ist hier das Internet der erste Schritt zur Vernetzung. Hier können häufig wichtige Im- pulse gegeben werden, um das Selbstbewusstsein der verunsicherten Jugendlichen zu stärken. Stellvertretend für eine gelungene Ansprache möchte ich die Internetplattform dbna erwähnen, die sich unter dem Mut machenden Namen „du bist nicht allein“ seit 1997 ausschließlich an schwule und bisexuelle Jugendli- che wendet. Schule und vielfach auch der Sport sind die beiden wichtigsten Bereiche im Alltag von Kindern und Ju- gendlichen, in denen es zu diskriminierenden Situatio- nen kommt und Aufklärung und Hilfe geleistet werden 28602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) muss. Die Lösungen sind bekannt, aber noch immer nicht flächendeckend umgesetzt. Sexuelle Vielfalt muss positiv vermittelt werden und selbstverständlich auch Bestandteil in Schulbüchern sein. Denn Schwule, Les- ben, Trans- und Intersexuelle gehören längst zur Lebens- wirklichkeit unserer Gesellschaft, schaffen es aber noch immer zu selten in die Lehrpläne der Schulen. Lehrerinnen und Lehrer müssen schon während ihres Studiums stärker für die Thematik sensibilisiert und ebenso wie Beschäftigte in Jugend- und Sporteinrichtun- gen entsprechend weitergebildet werden. Für dies alles brauchen wir die Bereitschaft der Län- der. Vielfach ist sie schon vorhanden. Mein Bundesland NRW beispielsweise hat im Oktober 2012 einen „Ak- tionsplan für Gleichstellung und Akzeptanz sexueller und geschlechtlicher Vielfalt“ verabschiedet. Damit hat die rot-grüne Landesregierung unter Hannelore Kraft Antidiskriminierungspolitik erstmals zu einer Quer- schnittsaufgabe aller Ressorts gemacht. Insgesamt über 100 Maßnahmen sollen dazu beitragen, wichtige gesell- schaftliche Veränderungen anzustoßen und die Rechte sexueller Minderheiten nicht nur auf dem Papier, son- dern auch im Alltag zu stärken. Ich bin stolz auf diesen Aktionsplan, an dem im Vor- feld in einem breiten Beteiligungsprozess maßgeblich auch Nichtregierungsorganisationen mitgewirkt haben. Ich hoffe, dass das Beispiel von NRW, ebenso wie gute Initiativen etwa aus Berlin und Rheinland-Pfalz, auch in anderen Bundesländern Schule machen werden – und so auch die Bundesregierung endlich dazu bringen werden, einen nationalen Aktionsplan gegen Homo- und Transphobie vorzulegen. Ebenso wichtig ist eine fundierte Bestandsaufnahme der Lebenssituation homosexueller Jugendlicher in Deutschland, die wir bereits 2005 gefordert haben. Lassen Sie mich nun noch auf eine Gruppe Jugendli- cher zu sprechen kommen, über deren spezielle Nöte und Bedürfnisse wir alle vermutlich erst durch die Anhö- rung im Familienausschuss im Juni vergangenen Jahres mehr erfahren haben. Ich rede von intersexuellen Jugendlichen, die von den geschilderten Problemen bei ihrer Identitätsfindung in besonderem Maße betroffen sind. Sie – und ihre Angehörigen – benötigen daher spe- zifische Beratungs- und Unterstützungsangebote. Intersexuelle müssen in ihrem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung ge- stärkt werden. Wir fordern – außer in Fällen akuter Lebensgefahr – ein Verbot sämtlicher Geschlechtsopera- tionen an minderjährigen intersexuellen Menschen. Nur mit ihrer Einwilligung und auf ihren ausdrücklichen Wunsch hin sollen diese Operationen mit ihren weitrei- chenden Folgen künftig möglich sein. Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ste- hen für eine demokratische und tolerante Gesellschaft, in der jede und jeder seine Persönlichkeit frei und ohne Angst entfalten kann. Gerade Jugendliche, deren sexu- elle Orientierung und geschlechtliche Identität nicht mit den heterosexuell geprägten Strukturen übereinstimmen, benötigen Hilfe und Unterstützung bei dem schwierigen Prozess ihrer Selbstfindung. Daher unterstützen wir den vorliegenden Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Michael Kauch (FDP): Für die FDP gilt: Diskrimi- nierung ist nicht zu akzeptieren – egal wo und in welcher Form sie in unserer Gesellschaft stattfindet. Deshalb ist es für uns auch ein wichtiges Anliegen, dass schwule, lesbische, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Ju- gendliche gleichberechtigte Chancen haben, ohne Dis- kriminierung aufzuwachsen. Auch die Studie im Auftrag des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Lebens- situation und Diskriminierungserfahrungen von homo- sexuellen Jugendlichen macht den gesellschaftlichen Handlungsbedarf deutlich. Es ist daher richtig, dass wir uns im Deutschen Bun- destag mit diesem Themenkomplex befassen. Dennoch muss uns allen klar sein, dass der Großteil der Vor- schläge im vorliegenden Antrag, insbesondere zur Schul- politik und Jugendhilfe vor Ort, in die Kompetenz der Bundesländer fällt. Die Länder und Kommunen sind hier in der Verantwortung und müssen dafür auch entspre- chende Mittel bereitstellen. Auch ein möglicher Ak- tionsplan muss diese föderale Aufgabenverteilung be- achten. Weiterhin ist es mir ein persönliches Anliegen, dass die im Antrag erwähnten Zielgruppen nicht alle über ei- nen Kamm geschoren werden. Ein schwuler Jugendli- cher im Coming-out hat andere Bedürfnisse als ein trans- sexueller Jugendlicher – und dieser oder diese wiederum andere als ein intersexueller. Gleichzeitig ist gerade die Gruppenidentität unterschiedlich: Kaum ein schwuler Junge, kaum ein lesbisches Mädchen definiert sich als „queer“. Sie sind zunächst froh, wenn sie ihre Identität als schwul oder lesbisch gefunden haben. Der Begriff LGBTTI mag politisch korrekt sein – An- gebote, die auf LGBTTI als Gesamtgruppe zielen, dürf- ten aber an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen vor- beigehen. Unterstützen kann man diese Jugendlichen als Gesamtgruppe allerdings sehr wohl, und zwar in der ge- sellschaftlichen Unterstützung einer vielfältigen und to- leranten Gesellschaft, in der das Individuum in seiner Einzigartigkeit im Mittelpunkt steht. Es besteht kein Zweifel, dass auch heute noch das Co- ming-out eine Herausforderung ist. Lesbische und schwule Jugendliche müssen ebenso wie trans- und in- tersexuelle junge Menschen ihre Identität finden. Sie müssen in Teilen der Gesellschaft stärker um ihre Ak- zeptanz kämpfen und brauchen dafür Anerkennung und Unterstützung. Unterstützung für Jugendliche im Co- ming-out muss dabei auf eins achten: Sie darf die Ju- gendlichen nicht durch eine falsche Antidiskriminie- rungsrhetorik in eine Opferecke stellen. Stattdessen müssen wir sie stolz und stark machen, dass sie ihre Identität finden; denn selbstbewusste Jugendliche sind seltener Opfer von Diskriminierung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28603 (A) (C) (D)(B) Gute Beispiele wie das schwul-lesbische Schulaufklä- rungsprojekt SchLAu NRW, das Nachahmer in anderen Bundesländern gefunden hat, müssen bundesweit ver- breitet werden. Dazu leistet die Bundesstiftung „Magnus Hirschfeld“ einen wichtigen Beitrag. Sie finanzierte als ihr erstes Projekt die Bundesvernetzung der Schulaufklä- rungsprojekte. Das ist ein gelungener Beitrag des Bun- des. Es waren die Liberalen, die in dieser Wahlperiode da- für gesorgt haben, dass die Bundesstiftung Realität wurde. Die Stiftung wurde bereits im Jahr 2000 vom Bundestag versprochen. Dieses Versprechen wurde we- der von Rot-Grün noch von Schwarz-Rot in die Realität umgesetzt. Wir haben es gemacht und haben damit eine Struktur geschaffen, die durch Bildung und Forschung der Diskriminierung Homosexueller entgegenwirkt. 10 Millionen Euro Stiftungskapital haben wir dafür be- reitgestellt. Wir Liberale arbeiten daran, dass die Finanz- ausstattung der Stiftung in der nächsten Wahlperiode noch weiter ausgebaut wird. Und als Kuratoriumsmit- glied der Stiftung war und ist es mir ein vorrangiges An- liegen, dass die Aufklärung in Schule und Jugendarbeit dabei vorangebracht wird. Abschließend danke ich den Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern in den schwul-lesbischen Jugendzentren, aber vor allem den vielen ehrenamtlichen Helfern in den Schulaufklärungsprojekten. Sie leisten die wertvolle Ar- beit vor Ort, die wir von politischer Seite nur begleiten, aber nicht ersetzen können. Unser Ziel ist klar: Wir wollen, dass schwule, lesbi- sche, bi-, trans- und intersexuelle Jugendliche so fühlen, so lieben und so leben können, wie sie es wollen – frei von Diskriminierung und stolz darauf, wie sie sind. Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): „Manchmal ist es erschreckend, wenn ich den Anruf von Eltern erhalte, die mir erklären, dass dies eine der letztgewählten Nummern mit dem Handy gewesen sei, welches ihr transsexuelles Kind gewählt habe, bevor es sich das Leben nahm, und ich ihnen antworte: Ja, ihr Kind hatte einen Termin bei uns, jetzt weiß ich, warum es nicht gekommen ist.“ So Mari Günther, Leiterin des Zentrums „Queer leben“, einem Beratungs- und Hilfeprojekt für Transsexuelle, Transgender und Intersexuelle. Diese bedrückenden Sätze sagte Mari Günther gestern in einem Gespräch zu mir. Mit dem Projekt „Queer leben“ wird Kindern, Ju- gendlichen, jungen Erwachsenen und ihren Eltern gehol- fen, wenn sie Probleme aufgrund ihrer sexuellen und ge- schlechtlichen Identität und/oder der Diskriminierung erfahren haben. Mehr als 20 Fachkräfte arbeiten dort. Seit zwei Jahren existiert das Zentrum, an das sich Men- schen aus dem gesamten Bundesgebiet wenden. Der Be- darf ist riesig, deshalb werden fast im Wochentakt neue Mitarbeiter eingestellt. Finanziert wird dies über die Sozialhilfeträger der Kommunen, aus denen die Jugend- lichen ursprünglich stammen. Junge Menschen brauchen Hilfe und Unterstützung, wenn sie im schwierigen Prozess der Findung ihrer sexu- ellen und geschlechtlichen Identität sind, insbesondere wenn sie nicht mit einer heterosexuellen „Normalität“ übereinstimmen. Hier können Konflikte entstehen. Selbst wenn das familiäre Umfeld das Coming-out un- terstützt, können die jungen Menschen mit Vorurteilen in der Schule oder der Ausbildung konfrontiert werden. Die Kinder und Jugendlichen wissen in den Konflikt- situationen oftmals nicht, wo sie Hilfe und Unterstüt- zung bekommen können. Manche Eltern, Betreuer und Erzieher sind mit dieser Thematik überfordert. Dann lei- den diese jungen Menschen massiv unter der fehlenden Unterstützung. Berliner Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die obdachlose Jugendliche auf dem Berliner Alexander- platz betreuen, berichten davon, dass etwa ein Viertel der Jugendlichen wegen Diskriminierungserfahrungen auf- grund ihrer sexuellen Identität von zu Hause weglaufen und auf der Straße landen. Internationale Studien bele- gen, dass Obdachlosigkeit überproportional lesbische, schwule und Trans*Jugendliche betrifft. Auch das Sui- zidrisiko ist enorm hoch. Leider gibt es zu Deutschland keine systematischen Untersuchungen und nur eine schlechte Datenlage zur Problemlage dieser Jugendlichen. Umso unverständ- licher ist es, dass die bereits 2005 angekündigte Studie zur Situation von lesbischen und schwulen Jugendlichen dem Deutschen Bundestag noch immer nicht vorgelegt wurde. Wir müssen handeln, deswegen unterstützen wir den Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als Zusammenfas- sung notwendiger Maßnahmen. Der rot-rote Berliner Senat verabschiedete im Jahr 2009 ein umfangreiches Maßnahmenpaket unter dem Ti- tel „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und die Akzep- tanz sexueller Vielfalt“ auf Anregung der Fraktion Die Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. Mit dem mit etwa 2,1 Millionen Euro ausgestatteten Paket wurde die Ak- zeptanzförderung in Verwaltungen, Institutionen, der Privatwirtschaft und bei Schulen sowie Kitas in Angriff genommen. Der Schwerpunkt lag auf dem Bildungs- bereich, also der Unterstützung queerer Jugendlicher. Obwohl die Evaluation der Maßnahmen weiteren Hand- lungsbedarf anmahnte, kürzte die nachfolgende Koa- lition aus SPD und CDU die Mittel für diese Projekte. Aber Berlin setzte ein Zeichen, das von den Bundes- ländern Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Ham- burg und jüngst Sachsen-Anhalt aufgegriffen wurde, die ähnliche Maßnahmenpakete in Angriff nahmen und um- setzten. Doch Kinder und Jugendliche können sich nicht aus- suchen, wo sie geboren werden und wie sie aufwachsen. In einigen Bundesländern und Regionen werden queere Jugendliche unterstützt und bekommen Hilfe, in anderen nicht. Doch der Bund steht in der Pflicht. Er muss dafür Sorge tragen, dass junge Menschen in allen Bundeslän- dern und Regionen ähnlich gefördert werden, wenn sie existenzielle Probleme bekommen. Es besteht Hand- lungsbedarf. 28604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) Ich wünsche mir, dass die jungen Menschen bald aus- reichend gefördert werden, damit Mari Günther nie wie- der derartige Anrufe von Angehörigen erhält. Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In diesen Tagen wird viel über lesbische und schwule Paare diskutiert – in den Medien, vor dem Verfassungsgericht und auch hier im Bundestag. Diese Debatten sind richtig und wichtig. Aber wir dürfen über diese Debatten nicht vergessen: Lesben und Schwule werden nicht in dem Alter geboren, in dem man eine Partnerschaft eingeht, eine Familie gründet oder gar für diese Familie vor Ge- richten streitet. Nein, Lesben und Schwule sind anfangs Kinder und später Jugendliche, die die gleichen Nöte und Sorgen haben wie andere Jugendliche in der Puber- tät auch. Sie fragen sich, ob ihre Klassenkameraden sie hübsch finden. Sie fragen sich, ob sie jemandem ihre Liebe gestehen sollen. Sie regen sich über ihre Eltern und die Ungerechtigkeiten in der Welt auf. Aber bei allen diesen Gemeinsamkeiten gibt es eben auch wichtige Unterschiede: Erstens. Lesbischen und schwulen Jugendlichen fehlen die Role Models, die Bezugspersonen. Sie haben oftmals keine Vorbilder in ihrer Familie, an ihrer Schule oder im Freundeskreis. Zweitens. Lesbische und schwule Jugendliche haben sehr häufig das Gefühl, allein zu sein. Das einzige Mädchen zu sein, das Herzklopfen beim Anblick ihrer besten Freundin bekommt. Der einzige Junge zu sein, der seinen Klassenkameraden hinterherguckt. Drittens. Junge Lesben und Schwule wachsen immer noch häufig in einem Umfeld auf, das strukturell homo- phob ist. Hinzu kommt: Lesbische und schwule Jugend- liche finden in Deutschland medial nicht statt. Lesben und Schwule sind heute sichtbarer in den Medien als noch vor 20 Jahren, aber es sind Menschen, die dem Ju- gendalter längst entwachsen sind. So bleibt „schwul“ eines der häufigsten Schimpfwör- ter auf deutschen Schulhöfen. Lehrerinnen und Lehrer gehen bei ihren Klassen unausgesprochen von deren Heterosexualität aus. Mädchen, die Fußball spielen, wer- den als Lesben denunziert, „Schwuchtel“ ist gleichbe- deutend mit Versager. Und auch die Familie bietet oft keinen Schutzraum. Die Frage „Wie sag ich’s meinen Eltern?“ stellt sich fast allen lesbischen und schwulen Jugendlichen. Viele Jugendliche scheitern an ihrem Coming-out; lesbische und schwule Jugendliche sind überdurch- schnittlich häufig obdachlos. Ihr Suizidrisiko ist um ein Mehrfaches höher. Dennoch gibt es kaum spezialisierte Beratungsstellen in Deutschland. Und gibt es ein Bewusstsein für diese Lücke bei der Bundesregierung? Es ist erschreckend, wie unsensibel die Bundesregie- rung mit diesem Thema umgeht. Auf eine Kleine Anfrage meiner Fraktion hat die Bundesregierung im letzten Jahr geantwortet, dass in Deutschland „ein um- fangreiches Netzwerk an Schwangerschaftsberatungs- stellen“ zur Verfügung stünde. Kann das wirklich ernst gemeint sein? Schwangerschaftskonfliktberatung ist doch keine Beratung für Lesben und Schwule; es ist Be- ratung für Heterosexuelle. Das ist kein Programm zur Beratung von lesbischen und schwulen Jugendlichen. Das ist nicht geschlechtersensibel. Das ist einfach nur ig- norante Politik. Des Weiteren stehen Notunterkünfte für queere Ju- gendliche nur in wenigen Städten zur Verfügung. Und auch Eltern, die Beratung suchen, finden häufig kein passendes Angebot, insbesondere wenn sie schlecht Deutsch sprechen. Die Gruppen der transsexuellen Jugendlichen und der intersexuellen Jugendlichen mögen zahlenmäßig klein sein. Aber: Eine inklusive, diverse Gesellschaft verlangt nicht nur die Gleichbehandlung aller, sondern auch das Eingehen auf die speziellen Probleme von allen. Bei transsexuellen Kindern und Jugendlichen scheint der Fall klar zu sein: Die Altersbeschränkung im Transsexu- ellengesetz gilt schon seit den frühen 80ern nicht mehr; Kinder und Jugendliche können ihr gelebtes und gefühl- tes Geschlecht in ihre Ausweispapiere eintragen lassen. Aber wie der Fall Alex im letzten Jahr sehr deutlich ge- macht hat: Nur weil etwas auf dem Papier steht, heißt das noch lange nicht, dass es umgesetzt wird. Das Ju- gendamt war wenig sensibel gegenüber diesem Mäd- chen, das auf dem Papier noch ein Junge war. Intersexuelle Jugendliche wiederum wissen oftmals gar nichts von ihrer geschlechtlichen Besonderheit. Sie müssen in ihren Rechten gestärkt und umfassend infor- miert werden. Und mehr als das: Wie vom Deutschen Ethikrat gefordert, müssen sie in die Entscheidungen über medizinische Eingriffe einbezogen werden. Im Dezember schrieb die Bundesregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zum Thema In- tersexualität, dass ihre Meinungsbildung an diesem Punkt noch nicht abgeschlossen sei. Für Bündnis 90/Die Grünen ist klar: Jugendliche sind selbstständige Men- schen und haben eigene Rechte. Sie dürfen Auto fahren, sie dürfen eine Ausbildung beginnen, sie dürfen arbei- ten. Aber sie dürfen nicht über medizinische Eingriffe bestimmen, die ihnen im Extremfall die Chance nehmen, Kinder zu bekommen und ein erfülltes Sexualleben zu haben? Wir sagen: Deshalb brauchen wir eine konzertierte Aktion. Wir brauchen einen bundesweiten Aktionsplan gegen Homophobie und Transphobie. Wir brauchen ei- nen Aktionsplan für Toleranz und Vielfalt. Viele Bun- desländer setzen ähnliche Pläne bereits um; Nordrhein- Westfalen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz seien als Beispiele angeführt. Der bundesweite Aktionsplan muss die für Jugendli- che besonders wichtigen Bereiche Elternhaus, Schule, Jugendhilfe und Sport umfassen und gezielte Beratungs- angebote und Antidiskriminierungsmaßnahmen enthal- ten. Denn darum sollte es uns allen gehen – allen jungen Menschen das Gefühl zu geben: So, wie ihr seid, seid ihr in unserer Gesellschaft willkommen! Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28605 (A) (C) (D)(B) Anlage 7 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: – Verordnung zur Änderung der Vorschriften über elektromagnetische Felder und das te- lekommunikationsrechtliche Nachweisverfah- ren – Vierter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der ge- samten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen – Fünfter Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminderungsmöglichkeiten der ge- samten Mobilfunktechnologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen (Tagesordnungspunkt 26) Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Technische Entwick- lungen machen uns an vielen Stellen das Leben leichter. Beinahe jeder hier im Saal benutzt täglich elektronische Geräte – ob zur Kommunikation, zur Datenübertragung oder im modernen Auto. Aber die zunehmende Nutzung dieser Technologien bedeutet gleichzeitig auch eine ansteigende Zahl von elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern. Dabei unterscheidet man zwischen niederfre- quenten Feldern, etwa im Bereich der Stromnetze mit den bekannten 50 Hertz, und den hochfrequenten Fel- dern, etwa im Handy, bei bis zu 1 800 Hertz. Was vor 80 Jahren mit dem flächendeckenden Ausbau der Stromnetze und der Erfindung von Rundfunk und Fernsehen begann, setzt sich heute in der alltäglichen Nutzung von Handys oder Smartphones, WLAN und LTE-Netzen, Navigationssystemen oder Bluetooth-Ge- räten fort. Die meisten von uns können sich diese An- wendungen gar nicht mehr aus dem täglichen Leben wegdenken. Sosehr sie aber dem Menschen nutzen, muss bei jeder bewährten und neuen Technologie sichergestellt sein, dass von ihrer Nutzung keinerlei Schaden für Mensch und Umwelt ausgeht. Genau diesem Ziel, dem Schutz der Menschen und der Umwelt vor elektrischen, magne- tischen und elektromagnetischen Feldern, dient die heute debattierte Regelung: die Verordnung zur Änderung der Vorschriften über elektromagnetische Felder und das te- lekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren. Dass mit dieser Regelung das Ziel, Mensch und Um- welt zu schützen, erreicht wird, bestätigen zahlreiche re- nommierte Wissenschaftler, die jahrelange Erfahrung auf dem Gebiet der Wirkung solcher elektromagneti- scher Felder auf den menschlichen Körper gesammelt haben. International führend ist auf diesem Gebiet die Inter- nationale Kommission für den Schutz vor nichtionisie- render Strahlung, ICNIRP: International Commission on NonIonizing Radiation Protection, in der Wissenschaft- ler aus Schweden, Australien, Finnland, den USA, Ita- lien, den Philippinen, Großbritannien, den Niederlanden, Japan, Österreich und Deutschland zusammenarbeiten. Der Vorsitzende dieser hochrangigen Kommission, Herr Rüdiger Matthes, der gleichzeitig im Bundesamt für Strahlenschutz für den Schutz vor nichtionisierender Strahlung zuständig ist, war Sachverständiger in der An- hörung des Bundestags-Umweltausschusses am 27. Fe- bruar 2013. Dort teilte er mit – ich zitiere –: „Die in der Novelle“ – 26. BImSchV – „vorgeschlagenen Grenz- werte sind nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnis- stand geeignet, vor allen nachgewiesenen Gesundheits- wirkungen und den damit verbundenen Gefahren zu schützen.“ Meine Fraktion und ich persönlich halten es für sehr wichtig, die berechtigten Befürchtungen der Menschen vor negativen Auswirkungen elektromagnetischer Felder auf die Gesundheit ernst zu nehmen. Wir alle in diesem Haus sollten – bei aller auch notwendigen Auseinander- setzung in der Sache – uns nicht gegenseitig den Willen absprechen, die menschliche Gesundheit und unsere Umwelt vor negativen Einwirkungen schützen zu wol- len. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition: Angst machen ist kein Beitrag zur Lösung! Es ist richtig, dass wir transparent mit den möglichen Einwirkungen elektromagnetischer Felder auf den mensch- lichen Körper umgehen und diese offen aussprechen. Denn dass hoch- und niederfrequente elektrische und magnetische Felder hier negative Folgen haben können, steht fest. Ebenso steht aber fest, dass Art, Größenord- nung und Verteilung der Felder durch die technische Ausgestaltung erheblichen Einfluss auf die Folgen haben und diese zum Positiven verändern können. Ebenso gilt der Grundsatz, dass elektromagnetische Felder mit wachsendem Abstand zur Quelle abnehmen. Zentrale Bestandteile der hier vorliegenden Neurege- lung sind deshalb die festgelegten Abstände und Feld- grenzwerte. Für beide Punkte setzen die Regelungen die Empfehlungen des Rates der Europäischen Union, der ICNIRP und der deutschen Strahlenschutzkommission ohne jede Einschränkung um. Die Opposition macht es sich leicht, indem sie nach jeder neuen Grenzwertfestlegung noch strengere Grenz- werte fordert und nach noch geringeren Abständen ruft. Das führt aber in der Sache nicht weiter. Mehr noch: Der Vorwurf der Opposition, die Grenzwerte seien im Aus- land viel strenger als bei uns, ist nicht nur in der Sache haltlos, sondern zeigt auch noch, dass die Systematik ei- nes Grenzwerts nicht verstanden wurde. Zum einen haben im internationalen Vergleich von 52 Ländern mit bekannten Grenzwerten genau drei Län- der scheinbar strengere „Grenzwerte“ festgelegt als wir in Deutschland. Das hieße, dass Deutschland die viert- strengsten Grenzwerte hätte, was für sich genommen ja schon nicht schlecht wäre. Tatsächlich aber muss man wissen, dass in diesen drei Ländern die Werte entweder 28606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) nur Empfehlung sind und daher keinen zwingenden rechtlichen Charakter haben oder sie für eine durch- schnittliche Anlagenauslastung festgelegt wurden – also bei halber Leistung der Anlage gemessen –, während sich unsere Grenzwerte auf die volle Anlagenauslastung beziehen. Hier werden also Äpfel mit Birnen verglichen. Bei einem objektiven Vergleich haben wir bei uns die anspruchsvollsten Grenzwerte! Andererseits ist die Funktion der Grenzwerte sicherzu- stellen, dass bei ihrer Unterschreitung nach ständig ak- tualisiertem Stand von Wissenschaft und Technik keine Gesundheitsbeeinträchtigungen beim Menschen entste- hen können. Genau das hat die Internationale Strahlen- schutzkommission für die hier festgelegten Grenzwerte nachgewiesen. Das bedeutet: Strengere Grenz- und vor allem Ab- standswerte würden zwar die Kosten zum Beispiel des Netzausbaus – zulasten der Verbraucher – verteuern, auf der anderen Seite aber den Schutz von Mensch und Na- tur kein Stück voranbringen. Mehr noch: Der durch die Energiewende nötige Ausbau der Stromnetze würde we- sentlich erschwert. Damit in Zukunft in Ballungsräumen wie dem Ruhrgebiet die Menschen und die Industrie mit dem Windstrom von der Nord- und Ostsee versorgt wer- den können, sind nun einmal Tausende Kilometer neuer Hochspannungsleitungen nötig. Das gilt erst recht, wenn ich Sie, meine Damen und Herren von der Opposition, ernst nehmen würde in Ihrer Forderung, nach dem Aus- stieg aus der Kernenergie auch aus der Kohle aussteigen zu wollen. Das zeigt: Ihre Forderungen passen nicht zu- sammen! Eine wichtige Frage, die viele Menschen bewegt, ist, ob bei Einführung der hier vorgesehenen Grenzwerte für elektromagnetische Felder die Gefahr besteht, dass diese Felder beim Menschen Krebserkrankungen hervorrufen. Die Opposition verkürzt daraus die Aussage: Elektro- magnetische Felder sind krebserregend – obwohl sie es besser weiß. Denn in der Sachverständigenanhörung des Umweltausschusses hat Herr Professor Leitgeb, Vorsit- zender der deutschen Strahlenschutzkommission, SSK, die Hintergründe dieses angstschürenden, plakativen Satzes erklärt: Basis der Behauptung ist eine Untersu- chung der International Agency for Research on Cancer, IARC, eines Untergremiums der Weltgesundheitsorgani- sation, WHO. Diese Kommission untersucht Stoffe und Geräte daraufhin, ob durch sie, bei entsprechender An- wendung oder Verwendung, die Gefahr einer möglichen Krebserkrankung besteht. Die IARC hat 2002 bezie- hungsweise 2011 festgestellt, was auch schon zuvor be- kannt war: Durch elektromagnetische Felder kann mög- licherweise dann Krebs entstehen, wenn diese in entsprechender Dauer und Intensität auf den Menschen einwirken. Aber eben auch nur unter dieser Bedingung. Oder, um es mit Paracelsus’ Worten zu sagen: Die Dosis macht das Gift! Genau aus diesem Grund ist zum Beispiel auch der Stoff „Kaffee“ in die gleiche Kategorie der Krebsgefahr eingestuft worden wie die elektromagnetischen Felder, weil bei entsprechend intensivem Konsum die Besorgnis von Darmkrebs festgestellt wurde. Diesen Zusammenhang, dass es auf die Dauer und die Intensität der Einwirkung entscheidend ankommt, muss man kennen und benennen, wenn man die Menschen in unserem Land nicht verängstigen will. Das wird aber in der Diskussion von Ihnen, den Damen und Herren der Opposition, schlicht außen vor gelassen. Damit schüren Sie Angst! Das hat nichts damit zu tun, die berechtigten Sorgen und Befürchtungen der Menschen ernst zu neh- men. Lassen Sie mich die wesentlichen Änderungen dieser Regelung zusammenfassen: Zwar bestehen im Moment bereits hinreichende Ab- stands- und Grenzwertfestlegungen für Strom- und Bahntrassen, Transformatoren und Schaltanlagen, je- doch nur im Bereich des Wechselstroms und auch nur im gewerblichen Bereich. Diese Regelungslücken schließen wir. Es werden erstmals Regeln für Gleichstromanlagen getroffen. Das ist deshalb wichtig, weil die Windkraft vom Norden über weite Strecken nach Westen und Sü- den transportiert werden muss. Das erfordert erstmalig den Bau neuer, verlustfreier Hochspannungsgleich- stromübertragungsleitungen, die bisher in Deutschland nicht verwendet wurden. Die digitale Funktechnologie macht Polizei, Feuer- wehr und Katastrophenschutz einsatzfähiger, aber auch diese Technik erzeugt elektromagnetische Felder. Die öffentlichen und privaten Anlagen werden nun wie die gewerblichen erfasst. Die Regelungen werden nun an die technischen Neuerungen der vergangenen 15 Jahre angepasst. Denn die Elektromobilität spart zwar CO2-Emissionen, aber die Ladestationen für die Fahrzeuge schaffen durch ihre Induktionsladetechnik neue elektrische Felder. Für diese neuen Techniken werden jetzt erstmalig Grenzwerte ein- geführt, die die Gesundheit der Menschen und den Schutz der Umwelt sicherstellen. Damit dieser Schutz aber dauerhaft und auch trotz al- ler zukünftigen technischen Entwicklungen stets ge- währleistet ist, werden durch diese Neuregelung darüber hinaus erstens eine regelmäßige Überprüfung der beste- henden Grenz- und Abstandswerte und gegebenenfalls die Anpassung an den Stand von Wissenschaft und Tech- nik festgelegt, zweitens eine neue Minderungspflicht für Betreiber von Niederfrequenz- und Gleichstromanlagen eingeführt, die gewährleistet, dass der Betrieb dieser An- lagen den maximalen Schutz von Bevölkerung und Umwelt sicherstellt, und drittens im Bereich der Mobil- funknetze die Selbstverpflichtung der Betreiber weiter- entwickelt. Dadurch soll die dauerhafte Finanzierung bestehender Forschungsprogramme gesichert werden, damit auch zu- künftig noch unbekannte Gefahren von hochfrequenten elektromagnetischen Feldern für die Gesundheit des Menschen erforscht werden. Darüber hinaus wünsche ich mir, dass eine entsprechende Selbstverpflichtung auch von den Übertragungsnetzbetreibern abgegeben wird, in der sie sich an den Kosten der Forschung im Be- reich der niederfrequenten Netze beteiligen. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28607 (A) (C) (D)(B) Dirk Becker (SPD): Die Bundesregierung legt einen Entwurf für eine Verordnung vor, die die Guidelines der Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtioni- sierender Strahlung, ICNIRP, von 2010 sowie die ent- sprechend angepasste EU-Ratsempfehlung umsetzt. Es wird damit versucht, neue und neuartige Technolo- gien mit der 26. Bundes-Immissionsschutzverordnung, 26. BImSchV, zu erfassen und zu regeln. Die SPD-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass unter die Regelung auch Hochspannungsgleichstromanlagen, HGÜ, fallen sollen sowie der Anwendungsbereich auf gewerbliche, hoheitliche und private ortsfeste Anlagen ausgeweitet werden soll. Auch die Erfassung des Be- reichs der Niederfrequenzen von 1 Hertz bis 100 Kilo- hertz und das neu eingeführte Minimierungsgebot begrü- ßen wir. Ich muss jedoch sagen, dass die Bundesregierung mit ihrem Verordnungsentwurf weit hinter dem Möglichen und Nötigen geblieben ist. Nach langen Diskussionen wurden 2001 noch unter der rot-grünen Bundesregierung Regelungen getroffen und Grenzwerte festgelegt, die ausdrücklich nicht in Stein gemeißelt sein sollten. Die Strahlenschutzkommis- sion, SSK, stellte bereits damals fest, dass es großen Forschungsbedarf gebe, der gegebenenfalls eine Neube- wertung der Thematik und eine Neufestsetzung von ver- schärften Grenzwerten nötig machen könnte. Bereits seit nunmehr über zehn Jahren wird intensiv geforscht, und weltweit erzielte Studienergebnisse wer- den aufgearbeitet. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungs- programm, DMF, mit seinen über 50 Projekten sei hier nur stellvertretend erwähnt. Weltweit liegen mittlerweile über 20 000 Studien vor. Auch wenn es bisher keine wissenschaftlich anerkannten Beweise für gesundheits- relevante Wirkungen elektrischer, magnetischer und elektromagnetischer Felder über die bisher bekannten – insbesondere thermischen – Wirkzusammenhänge gibt, so verdichten sich doch die Hinweise auf potenzielle athermische Gefährdungen. Das mag daran liegen, dass die Beweisführung in diesem Bereich äußerst schwer ist, weil es noch an Erfahrungen mit Langzeitwirkungen mangelt. Auch ist es schwierig, mit experimentellen Un- tersuchungen die erhöhten Expositionen und chronische Erkrankungen in Zusammenhang zu setzen, der Beweis- kraft erlangen könnte. Die Internationale Krebsforschungsagentur, IARC, der Weltgesundheitsorganisation hat aber bereits auf die Datenbasis reagiert und nieder- und auch hochfrequente elektromagnetische Felder als möglicherweise krebser- regend eingestuft. Leider muss ich feststellen, dass die Bundesregierung aus all dem keine Konsequenzen zieht. Wir werfen der Bundesregierung daher vor, dass sie mit der Verordnung den aktuellen wissenschaftlichen Forschungs- und Er- kenntnisstand nicht aufnimmt. Wider besseres Wissen hält sie an den überkommenen Grenzwerten fest. Es wird immer deutlicher, dass die Grenzwerte zu nah an den real nachweisbaren Wirkzusammenhängen liegen, also den nötigen Vorsorgeabstand vermissen lassen. Eine verantwortungsbewusste Politik schaut anders aus. Wir kritisieren die Bundesregierung außerdem, weil die Verordnung handwerklich schlecht gemacht ist. Für was lässt sich die Bundesregierung von der Strahlen- schutzkommission beraten und finanziert diese, wenn die SSK offensichtlich bei der Erarbeitung der Verord- nung nicht mitwirken durfte? Daraus folgt die weitere Frage, auf welche Daten und Beratung die Bundesregie- rung überhaupt zurückgegriffen hat. Nachvollziehbare und transparente Rechtssetzung schaut ebenfalls anders aus. In Zeiten wie diesen, in denen die Menschen zuneh- mend den verschiedenartigsten Belastungen und gesund- heitlichen Risiken ausgesetzt sind, muss der Staat seine Aufgaben und Pflichten zum Schutz der Bevölkerung und zur Minimierung von gesundheitsrelevanten Risiken konsequent erfüllen. Wie in vielen Bereichen des Verbraucher- und Ge- sundheitsschutzes kommt diese Bundesregierung auch mit dieser Verordnung ihrer Schutz- und Vorsorgepflicht nicht nach. Auch kritisieren wir, dass sich die Bundesregierung offensichtlich um keine internationale und europäische Harmonisierung der Grenzwerte und rechtlichen Rege- lungen bemüht. Die EU regelt viele Lebensbereiche bis ins kleinste Detail gemeinschaftlich. Im Bereich der Grenzwerte für elektromagnetische Felder ist Europa aber noch immer ein bunter Flickenteppich. Und be- trachtet man die einzelnen Regelungen, kann man davon ableiten, dass der Bundesregierung der Vorsorgeschutz weitgehend egal ist. Andere Länder sind wesentlich kon- sequenter und weiter. Klar ist hier an erster Stelle die Schweiz zu nennen. Aber auch Polen, Großbritannien und die Niederlande nehmen das Schutzbedürfnis ihrer Bürger ernster. Die SPD-Fraktion fordert die Bundesregierung daher auf – so wie sie es bereits mit ihrem Entschließungsan- trag in den Ausschüssen getan hat –, diesen Verord- nungsentwurf zurückzuziehen und grundlegend zu über- arbeiten. Dem aktuellen Erkenntnisstand der bisher erfolgten Forschungsanstrengungen muss Rechnung getragen werden, und die Grenzwerte für elektromagnetische Fel- der müssen mit einem sinnvollen Vorsorgefaktor ver- schärft werden. Hier gibt es in anderen Ländern teils sehr gute Beispiele, wie das geschehen könnte. Wir brauchen also vorsorgeorientierte und insbeson- dere auch kindgerechte Grenzwerte für sensible Orte wie Kitas, Schulen und Krankenhäuser, aber auch für Privat- räume wie Schlaf-, Kinder- und Wohnzimmer – und das sowohl für den Niederfrequenzbereich als auch für den Hochfrequenzbereich. In unserem Entschließungsantrag haben wir dazu konkrete Vorschläge unterbreitet. Künftige auftretende starke Feldquellen müssen von der Verordnung ebenfalls erfasst werden, damit von An- fang an eine Regelung für diese neuen Technologien be- steht. Das geplante Minimierungsgebot soll unter An- 28608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) wendung des Standes der Technik auf alle Bereiche der nichtionisierenden Strahlung ausgeweitet und regelmä- ßig evaluiert werden. Überhaupt müssen alle von einer Anlage erzeugten Frequenzen wie Oberwellen und Sei- tenbänder für die Grenzwertermittlung herangezogen werden. Alle neuen Stromübertragungsanlagen wie Höchst- und Hochspannungsleitungen – und nach Übergangsfris- ten auch bestehende Altanlagen – müssen in das Über- spannungsverbot einbezogen werden. Mit Blick auf die Energiewende und den damit ver- bundenen Bedarf nach Ausbau und Neubau von Strom- netzen ist ein Pilotprojekt zur Demonstration der Vorteile von modernen Kompaktbauweisen bei Strommasten mehr als sinnvoll. Damit könnte der Stand der Technik beim Leitungsbau überprüft und die Akzeptanz neuer Stromtrassen erhöht werden. Weiter soll sich die Bundesregierung um zumindest eine europäische Harmonisierung bemühen. Es kann nicht angehen, dass in diesem hochsensiblen Bereich noch immer mit vielen unterschiedlichen Maßstäben ge- arbeitet wird. In der Begründung zum Verordnungsentwurf schreibt die Bundesregierung selbst, dass „die Exposition durch elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder in der heutigen Umwelt infolge der Nutzung moderner Technologien, dem Ausbau des Hochspannungsnetzes und der technischen Weiterentwicklung seit Jahren zu- nehmen“. Es ist auch mit einer weiteren Zunahme – Stichworte: smart grids, smart homes, Fernablesung etc. – zu rechnen. Die Bundesregierung muss sich also endlich ihrer Verantwortung bewusst werden und ihre Pflichten zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung wahrnehmen. Die SPD-Fraktion ist dann auch zur Zu- sammenarbeit bereit. Judith Skudelny (FDP): Deutschland ist ein High- techland. Darauf sind wir stolz und wollen unseren Stan- dard stetig verbessern. Dazu gehört auch der Umgang mit elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern, die von den meisten der Geräte – Handy, Lap- top etc. – ausgehen. Die vorliegende Verordnung wird der schwierigen Balance zwischen dem Erfordernis des Schutzes und der Vorsorge vor schädlichen Umwelteinwirkungen und dem offensichtlichen Bedarf an der Nutzung moderner Technologien gerecht. Beispielsweise dem dringend not- wendigen Leitungsausbau zur Umsetzung der Energie- wende und der Nutzung von Mobilfunkgeräten. Die Novellierung dient der Anpassung an den neues- ten technischen und wissenschaftlichen Stand. Dabei bleiben die Grenzwerte im Wesentlichen bestehen. Diese Beibehaltung der Grenzwerte ist richtig, da auch nach Erkenntnissen der Strahlenschutzkommission, SSK, keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die eine Änderung des bisherigen Schutz- und Grenzwert- konzepts rechtfertigen. Dies bestätigen auch der vorlie- gende vierte und fünfte Bericht der Bundesregierung über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissi- onsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunk- technologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswir- kungen. So kommt die Strahlenschutzkommission zu dem Schluss, dass auch nach Bewertung der neueren Litera- tur keine wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hinblick auf mögliche Beeinträchtigungen der Gesundheit durch niederfrequente elektrische und magnetische Felder vor- liegen, die ausreichend belastungsfähig wären, um eine Veränderung der bestehenden Grenzwertregelung der 26. BImSchV zu rechtfertigen. Aus der Analyse der vor- liegenden wissenschaftlichen Literatur ergeben sich auch keine ausreichenden Belege, um zusätzliche verrin- gerte Vorsorgewerte zu empfehlen, von denen ein quan- tifizierbarer gesundheitlicher Nutzen zu erwarten wäre. Zu den wesentlichen Neuerungen der vorliegenden Verordnung zählt die Erweiterung des Anwendungsbe- reichs auf alle Frequenzbereiche. Erfasst wird damit auch die Hochspannungs-Gleichstromübertragung, HGÜ. Diese spielt im Rahmen der Energiewende beim Leitungsausbau eine wesentliche Rolle und war bisher nicht geregelt. Auch die Beschränkung der Regelung auf gewerblich betriebene Anlagen entfällt. Damit wird künftig auch der Digitalfunk der Behörden und Organi- sationen mit Sicherheitsaufgaben, BOS-Anlagen, von der Verordnung erfasst. Außerdem soll beim Bau neuer Stromtrassen künftig die Überspannung von Wohngebäuden untersagt wer- den. Eine weitere wesentliche Neuerung stellt das soge- nannte Minderungsgebot dar, wonach in der Verordnung festgelegt ist, dass auch beim Ausbau der Stromnetze elektrische und magnetische Felder zu mindern sind. Bei der Debatte werden immer die Gefahren der Strahlung angeprangert. Welchen Nutzen uns beispiels- weise die moderne Telekommunikation und die Strom- leitungen bringen, wird immer nur am Rande themati- siert. Doch wenn man ehrlich ist, besitzt nahezu jeder ein oder sogar mehrere Handys und Laptops. Wir alle, auch die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, möchten überall und rund um die Uhr erreichbar sein. So sind technische Anwendungen, die elektromagnetische Fel- der nutzen, wie drahtlose Informationsübertragungs- und Kommunikationsverfahren, ein nicht mehr wegzuden- kender Bestandteil unseres Lebens geworden. Dies zeigt, dass wir uns bewusst für diese Technik entschieden ha- ben und diese befürworten. Beispielsweise haben wir es den Handys zu verdan- ken, dass Hilfe wesentlich schneller am Unfallort ein- trifft. Viele Eltern geben ihren Kindern Handys, damit sie sich im Notfall immer melden können und so auch selbstständiger sein können. Bei der Verfolgung von Straftaten wird die Möglichkeit der Ortung durch das Handy erfolgreich eingesetzt, um nur einige Beispiele zu nennen. Der Ausbau der Stromleitungen, insbesondere der HGÜ-Leitungen, ist enorm wichtig für die von allen Bürgern zu Recht geforderte Versorgungssicherheit. Es ist scheinheilig von der Opposition, auf der einen Seite Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28609 (A) (C) (D)(B) die Energiewende zu fordern, aber auf der anderen Seite den Bürgern gegenüber nicht offen und ehrlich zu sagen, dass wir hierfür neue Leitungen brauchen, von denen entsprechende Felder ausgehen. Wir müssen also eine angemessene Balance finden, um mit den positiven Errungenschaften der Nutzung mo- derner Technologien einerseits und den elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen Feldern anderer- seits umzugehen. Dieser Anforderung wird die vorliegende Novelle ge- recht. So wird mit ihr eine ausgewogene Regelung zum Schutz und zur Vorsorge vor gesundheitlichen Auswir- kungen nichtionisierender Strahlung geschaffen. Außer- dem flankiert die Novellierung der Verordnung den zügi- gen Ausbau der Übertragungsnetze im Hoch- und Höchstspannungsbereich. Vorsorgender Gesundheitsschutz mit Augenmaß führt insgesamt zu einer Verbesserung des Strahlenschutzes und dadurch zu einer höheren Akzeptanz des Netzaus- baus durch die Bevölkerung vor Ort, ohne die Kosten des Netzausbaus und damit die Stromkosten weiter in die Höhe zu treiben. Wenn die Opposition erwähnt, dass die Schweiz und Italien niedrigere Grenzwerte als Deutschland haben und als sie zum Beispiel von der Internationalen Kom- mission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung, ICNIRP, empfohlen werden, ist es wichtig zu wissen, dass diese Werte nicht auf dem Nachweis neuer Gesund- heitsbeeinträchtigungen oder auf einem konkreten Ver- dacht, wissenschaftlich mit allgemeinen wissenschaftli- chen Unsicherheiten begründet, beruhen. Auch werden die Grenzwerte der 26. BImSchV in den meisten Fällen nicht ausgeschöpft. Interessant ist, dass die Opposition in ihren beiden Entschließungsanträgen einige der Anregungen unseres Sachverständigen Professor Norbert Leitgeb der Anhö- rung am 27. Februar 2013 aufgenommen hat, beispiels- weise die Forderung nach der Erfassung neuer Technolo- gien durch die vorliegende Novellierung. Dies ist auch für uns ein sehr wichtiges Anliegen, da wir eine techno- logieoffene Entwicklung fördern. Wir sind diesen Anre- gungen nachgegangen. Der Anwendungsbereich der Verordnung sowie die Begriffsbestimmungen für Hoch- frequenz- und Niederfrequenzanlagen sind so gefasst, dass grundsätzlich auch künftig häufig auftretende Feld- quellen neuer Technologien erfasst werden. So werden beispielsweise Anlagen zur induktiven Energieübertra- gung, wie zum Beispiel Ladestationen für Elektroautos, erfasst. Richtig ist, dass es in Bezug auf die Langzeitwirkung von Handystrahlung und auf die Reaktion von Kindern auf hochfrequente elektromagnetische Felder noch keine ausreichenden Erkenntnisse gibt. Hier besteht weiterer Forschungsbedarf. Entsprechende Studien wurden auch bereits begonnen. Das Wissen über die biologischen Wirkungen von Feldern insgesamt ist aber bereits so um- fangreich, dass durchaus eine verantwortliche Entschei- dung über die Festsetzung von Grenzwerten zum Schutz der Bevölkerung erfolgen kann. Bei der Novellierung der 26. BImSchV kann es nicht darum gehen, die weitere Nutzung der Mobilfunktech- nologie nur dann zuzulassen, wenn ihre Unschädlichkeit bewiesen ist. Ein solcher Nachweis kann für keine Tech- nologie gelingen, da nur das Vorhandensein von Gefah- ren und Risiken bewiesen werden kann, nicht aber ihre Abwesenheit. Dies gilt für alle Lebensbereiche. Es muss vielmehr darum gehen, die mit einer Techno- logie verbundenen Risiken so umfassend wie möglich zu erkennen, um dann eine informierte und bewusste Ent- scheidung über die Akzeptanz oder Inakzeptanz be- stimmter (Rest-)Risiken zu treffen. Diesen Anforderun- gen wird die vorliegende Verordnung gerecht. Sabine Stüber (DIE LINKE): In Deutschland sind die Vorschriften zum Schutz der Menschen vor gesund- heitlichen Schäden durch elektromagnetische Felder über 15 Jahre alt. Das ist eine lange Zeit. Und die Tech- nik, auch die Mobilfunktechnik, hat seither, wie wir alle wissen, eine rasante Entwicklung durchlaufen. Änderungen dieser Vorschriften werden von der EU- Kommission seit Jahren angemahnt. Denn wissenschaft- liche Untersuchungen belegen, dass elektromagnetische Felder Menschen krankmachen können. Ich sage be- wusst „krankmachen können“, nicht zwangsläufig müs- sen; denn ein wissenschaftlicher Nachweis, vor allem für Langzeitwirkungen, steht noch aus. Wir alle sind elektromagnetischen Feldern durch Sendefunkanlagen und Stromübertragungsnetze ausge- setzt, ohne dies beeinflussen zu können. Deshalb steht der Staat in der Pflicht, für den Schutz der Bevölkerung vor gesundheitlichen Risiken zu sorgen. Elektromagne- tische Felder haben mit Handys, Smartphones oder Tab- lets unseren Alltag erobert – ob am Arbeitsplatz oder unterwegs. Nur zu Hause legen wir selber fest, ob es noch ein elektrisches Gerät sein soll, noch eine Telefon- ladestation oder eine Funkuhr – ich könnte die Liste endlos fortführen. Die Bundesregierung will nun mit der vorgelegten Verordnung Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkun- gen und entsprechende Vorsorge gewährleisten. So sol- len außer für gewerbliche Funkanlagen auch für den Betrieb privater und hoheitlicher Sendeanlagen und Stromleitungsnetze Vorschriften gelten. Das sind durchaus Verbesserungen. Im Ganzen gese- hen bleibt die Verordnung jedoch weit hinter den Erwar- tungen und vor allem hinter den technischen Möglich- keiten zurück. Das haben Experten in einer öffentlichen Anhörung vorige Woche im Bundestag mit deutlicher Mehrheit bestätigt. Selbst der Vertreter aus dem Bundesamt für Strahlen- schutz, auf den sich die Regierungskoalition – so vehe- ment – beruft, rudert bei der Frage nach den gesundheit- lichen Risiken zurück. Er ist der Meinung, dass selbst wissenschaftliche Ergebnisse, die nicht hundertprozentig gesundheitliche Risiken belegen, allemal ausreichen, um „eine Besorgnis zu begründen“. Nach seiner Empfeh- lung sollten Wohngebiete beim Neubau von Stromtras- sen generell gemieden werden. Da ist viel Auslegungs- 28610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 (A) (C) (D)(B) spielraum, und das heißt für mich: jwd, also janz weit draußen! Andere Gutachter waren da mit ihren Empfeh- lungen von 400 bis 600 Metern Abstand zu Wohnhäu- sern konkreter. Für Kinder besteht bei einer dauerhaften Belastung durch elektromagnetische Felder ab 0,3 Mikrotesla durch Stromleitungen ein erhöhtes Leukämierisiko. Das ist wissenschaftlich exakt belegt. Und dann schauen Sie sich draußen um, und rechnen Sie die Funksendemasten dazu. Die Mobilfunkstrahlung steht immer wieder unter dem Verdacht, Krebs und Alzheimer auszulösen. Das Hauptproblem sind und bleiben die viel zu hohen Grenzwerte, denen Menschen dauerhaft ausgesetzt sein dürfen, und daran ändert die Verordnung nicht viel. Die Linke fordert deshalb Vorsorgegrenzwerte von 0,2 Mi- krotesla für Orte, an denen sich Menschen lange aufhal- ten. Technisch machbar sind unsere Grenzwerte und sollten zumindest für Wohnungen als geschützte Orte verbindlich sein. Dabei darf nicht vergessen werden: Es geht hier um Grenzwerte für elektromagnetische Felder von draußen, denen die Bürgerinnen und Bürger ausge- setzt sind, ohne sie beeinflussen zu können. Wir wissen: Alle Grenzwerte sind politische Werte. Sie orientieren sich an wissenschaftlichen Erkenntnis- sen, nur leider viel zu selten an den neuesten. Auch in diesem Verordnungsentwurf folgt die Politik nicht den neuesten wissenschaftlichen Empfehlungen. Aber was heißt hier die Politik? Wir, die Abgeordne- ten sind es, die heute darüber entscheiden, wie hoch das Gesundheitsrisiko sein darf, dem die Menschen in die- sem Land unfreiwillig durch elektromagnetische Felder weiterhin ausgesetzt sein werden. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Auseinandersetzung über die Frage, ob langfristig wirkende elektrische, magnetische und elektromagneti- sche Felder zu Gesundheitsgefährdungen führen können, wird seit Jahren zum Teil erbittert geführt. Die Hinweise auf Risiken sind inzwischen so konkret, dass sowohl die WHO als auch der Europarat Handlungsbedarf sehen. Die Internationale Krebsforschungsagentur, IARC, der Weltgesundheitsorganisation, WHO, hat inzwischen sowohl niederfrequente als auch hochfrequente elektro- magnetische Felder neu bewertet. 2002 stufte die IARC bereits niederfrequente und statische Felder in die Gruppe 2 B ihrer Skala ein, 2011 dann auch die hochfre- quenten Felder. Das heißt, elektromagnetische Felder werden nun als „möglicherweise krebserregend“ bewer- tet. Sie stehen damit auf einer Stufe mit Methylquecksil- ber, Blei, Kobalt, Schiffsdiesel, Chloroform und DDT. Das ist eine Aufforderung, vorsorglich tätig zu werden. Ganz aktuell legt die Europäische Umweltagentur in Kopenhagen in ihrem im Januar veröffentlichten Bericht „Späte Lehren aus frühen Warnungen, Band II“ dar, wa- rum sie, um Gefahren zu reduzieren, auch bei den elek- tromagnetischen Feldern die breitere Anwendung des „Vorsorgeprinzips“ empfiehlt. Der Bericht legt dar, dass wissenschaftliche Unsicherheit keine Rechtfertigung für Untätigkeit ist, wenn plausible Hinweise auf potenziell schwerwiegende Gefährdungen vorliegen. Die Bundesregierung legt uns nun einen Entwurf für die Novellierung der 26. Bundes-Immissionsschutz- verordnung, BImSchV, vor, der die Chance, endlich vor- sorgeorientierte Grenzwerte in Deutschland einzuführen, vergibt. Er setzt gerade einmal die längst von neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen überholten EU- Ratsempfehlungen von 1999 um. Für die nieder- frequente elektromagnetische Strahlung wird immerhin ein Minimierungsgebot eingeführt, für die hochfre- quente Strahlung aber nicht. Das Gebäudeüberspan- nungsverbot für neue Anlagen soll es erst ab 2015 ge- ben, für Altanlagen soll es das überhaupt nicht geben und für alle 110-kV-Leitungen unverständlicherweise auch nicht. Auch die Expertenanhörung des Deutschen Bundes- tags zur vorgelegten Novelle am 27. Februar 2013 hat leider bei der Bundesregierung nicht dazu geführt, ihren Entwurf stärker auf neuere Erkenntnisse abzustimmen. Mehrheitlich machten die Experten deutlich, dass die bisherigen Regelungen nur auf die bestätigten, mit ei- nem Kausalzusammenhang zu beschreibenden akuten Wirkungen elektrischer, magnetischer und elektromag- netischer Felder beruhen und der Sicherheitsfaktor nicht ausreichend ist. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse, die bei der IARC zur Höherstufung in der Bewertungs- skala führten, wurden für die vorgelegten Regelungen nicht berücksichtigt. Das ist vor allem vor dem Hinter- grund völlig inakzeptabel, dass konsistente Befunde aus epidemiologischen Untersuchungen zur niederfrequen- ten Strahlung vorliegen, wonach magnetische Felder der Energieversorgung schon in deutlich geringeren Intensi- täten als von der Verordnung zugelassen mit dem Auftre- ten von kindlicher Leukämie korrespondieren. Ähnli- ches gilt im Bereich der hochfrequenten Strahlung zu erhobenen Daten bezüglich bestimmter Hirntumore. Es ist nach den Erfahrungen mit anderen chronisch wirksa- men Noxen, zum Beispiel Tabakrauch, nicht zu erwar- ten, dass es in absehbarer Zeit gelingen wird, die in epidemiologischen Studien festgestellten Zusammen- hänge zwischen erhöhten Expositionen und chronischen Erkrankungen durch experimentelle Untersuchungen in allen Details zu stützen oder gar vom biophysikalischen Primärmechanismus bis zum Eintritt des nachweisbaren physiologischen Schadens zu erklären. Es gibt aber eben aus experimentellen Untersuchungen genug Hinweise auf gesundheitsrelevante Wirkungen technogener elek- trischer, magnetischer und elektromagnetischer Felder. Für genau solche Zusammenhänge wurde das Vorsorge- prinzip entwickelt. Die bei der Beratung der Novelle im Umweltaus- schuss am 13. März von der Union vorgetragene Be- hauptung, es gebe in Europa nur drei Länder, die ambi- tioniertere Grenzwerte als Deutschland festgelegt hätten, ist angesichts der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage von mir (Drucksache 16/6133) nicht nachvollziehbar. Aus der Antwort ergibt sich, dass Italien, die Schweiz, Luxemburg, Großbritannien, die Niederlande, Schweden, Dänemark und Irland in min- destens einem der Bereiche Niederfrequenz oder Hoch- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28611 (A) (C) (D)(B) frequenz niedrigere Grenzwerte als Deutschland haben. All diese Länder orientieren sich nicht an der Empfeh- lung des Rates der Europäischen Union von 1999, son- dern am Vorsorgeprinzip. Die Grünen lehnen die vorgelegte Novelle der 26. BImSchV aus den dargelegten Gründen als unzurei- chend ab. Der Entschließungsantrag der Linken enthält die glei- che Kritik, die auch wir an der Novelle haben, fordert dann aber Grenzwerte, die nicht hergeleitet und begrün- det sind. Deshalb enthalten wir uns zu diesem Antrag. Gemeinsam mit der SPD haben wir dagegen im Aus- schuss einen Antrag eingebracht, der vorsorgeorientierte und kindgerechte Grenzwerte fordert. Außerdem müssen alle Stromübertragungsleitungen im Hoch- und Höchst- spannungsbereich in das Überspannungsverbot einbezo- gen werden, also auch die 110-kV-Leitungen und – mit angemessener Übergangszeit – die Altanlagen. Zukünf- tig häufig auftretende starke Feldquellen müssen in die Verordnung aufgenommen werden. Alle von einer An- lage erzeugten Frequenzen, also auch Oberwellen oder Seitenbänder, müssen für die Grenzwertermittlung mit herangezogen werden. Auf EU-Ebene muss eine Überarbeitung der Empfeh- lung des Rates der Europäischen Union 1999/519/EG erfolgen, die den aktuellen Wissensstand aufgreift und unter konsequenter Anwendung des Vorsorgeprinzips in allen Mitgliedstaaten ein hohes, harmonisiertes Schutz- niveau festlegt. Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktor- sicherheit: Die zur Novellierung anstehende Verordnung über elektromagnetische Felder regelt unter anderem Grenzwerte für so unterschiedliche Anlagenarten wie Hochspannungsleitungen und Mobilfunkanlagen. Die Verordnung ist seit ihrem Inkrafttreten Anfang 1997 nicht geändert worden. Sie bedarf dringend der Anpassung an den heutigen technischen und wissen- schaftlichen Stand. Bisherige Regelungslücken sollen nun geschlossen werden. Dazu wird der Anwendungsbereich der Verord- nung zum Beispiel auf Anlagen, die privat oder hoheit- lich betrieben werden, erweitert. Damit gelten die Grenz- werte künftig auch für die ortsfesten Anlagen des Digitalfunks der Behörden und Organisationen mit Sicher- heitsaufgaben. Aktuell bedeutsam ist auch die Einbezie- hung der Anlagen der Hochspannungsgleichstromüber- tragung, der sogenannten HGÜ-Leitungen. Einen Beitrag zum Bürokratieabbau leistet die Novelle durch die geplante Reduzierung von Anzeigepflichten, die entfallen können, soweit die bislang anzuzeigenden Daten bereits elektronisch bei der Bundesnetzagentur vorhanden sind. Diese Änderungen sind bislang auf eine breite Zu- stimmung gestoßen. Von manchen wird die Frage aufge- worfen, ob die in der Verordnung vorgesehenen Grenz- werte die Bevölkerung ausreichend schützen. Festzuhalten ist, dass die Grenzwerte der Regierungs- vorlage auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse festgelegt worden sind. Dabei sind alle nach wissen- schaftlichen Standards und Grundsätzen erhaltenen For- schungsergebnisse einbezogen worden. Es gibt auch heute keine belastbaren wissenschaft- lichen Hinweise, diese Grenzwerte infrage zu stellen. Dies belegen die Ergebnisse umfangreicher Forschungen der letzten Jahre. Im Dezember 2001 hat die damalige rot-grüne Bun- desregierung von einer Verschärfung der Grenzwerte für den Mobilfunk Abstand genommen und stattdessen ihre sonstigen Vorsorgeanstrengungen im Bereich Mobilfunk verstärkt. Ich weise hier zum Beispiel auf die Einrich- tung einer Standortdatenbank bei der Bundesnetzagentur und das „Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm“ hin. Außerdem hat die damalige Bundesregierung die freiwillige Selbstverpflichtung der Mobilfunknetzbetrei- ber entgegengenommen, die Anfang 2012 ergänzt wor- den ist. Die Bundesregierung achtet in den jährlich durchzuführenden Überprüfungsgesprächen darauf, dass die Betreiber ihre freiwilligen Zusagen einhalten. Für Niederfrequenz- und Gleichstromanlagen, also Anlagen der Stromübertragung, enthält die Novelle übri- gens auch Vorsorgeregelungen. Diese umfassen folgende Punkte: Der Grenzwert für den Bahnstrom wurde der Empfehlung der Internationa- len Strahlenschutzkommission, ICNIRP, aus dem Jahr 2010 entsprechend halbiert. Der bisherige Grenzwert von 100 Mikrotesla für das magnetische Feld bleibt un- verändert. Entgegen der Empfehlung der ICNIRP, den Grenzwert auf 200 Mikrotesla zu erhöhen, soll das bis- herige Schutzniveau beibehalten werden. Neu ist ein all- gemeines Minderungsgebot: Betreiber von Niederfre- quenzanlagen werden verpflichtet, die Möglichkeiten auszuschöpfen, die Exposition durch nichtionisierende Strahlung nach dem Stand der Technik zu vermindern. Diese allgemeine Minderungspflicht ist noch durch eine allgemeine Verwaltungsvorschrift zu konkretisieren. Und schließlich ein Überspannungsverbot: Werden neue Stromtrassen errichtet, dürfen die Hochspannungsstrom- leitungen Wohngebäude nicht mehr überspannen. Diese Vorsorgeregelungen haben eine unmittelbare Bedeutung für den Stromnetzausbau. Entsprechend in- tensiv sind sie mit allen Verfahrensbeteiligten auf ihre Angemessenheit und Ausgewogenheit hin geprüft worden. Ziel war es, den Schutz der Bevölkerung sicher- zustellen, ohne dabei den Ausbau der Stromnetze unan- gemessen zu erschweren. Dies wird mit der Novelle erreicht. Letztlich erkennen alle, die am Rechtsetzungs- verfahren beteiligt waren, an, dass die Novelle insgesamt eine deutliche Verbesserung für den Strahlenschutz bringt. 228. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 3, ZP 2 Regierungserklärung zur Energieinfrastruktur TOP 4 Zukunftsinvestitionen in die Wirtschaft TOP 34, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 35, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 5 Aktuelle Stunde zu Verfassungsänderungen in Ungarn TOP 5 Conterganstiftungsgesetz TOP 6 Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010 TOP 7 Sexueller Missbrauch TOP 8, ZP 6, 7 Gleichstellung von Lebenspartnerschaft und Ehe TOP 9 Kronzeugenregelung im Strafrecht TOP 10 Weltweite Bildungssituation TOP 11 Altersgeld für freiwillig ausscheidende Beamte TOP 12, ZP 8, 9 Hilfe für Opfer des Giftgasangriffs auf Halabja TOP 13 Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes TOP 14 Privatisierung der öffentlichen Sicherheit TOP 15 Änderung der Geschäftsordnung - Verhaltensregeln TOP 16 Unterstützung queerer Jugendlicher TOP 17, ZP 10 Energieeinsparungsgesetz TOP 18 Elektronischer Rechtsverkehr mit Gerichten TOP 19 Deutschland im UN-Sicherheitsrat TOP 20 Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie TOP 21 Verkehrsinfrastruktur TOP 22 Verfahrensrechte Beschuldigter im Strafverfahren TOP 23 Verhütung von Folter TOP 24 Professorenbesoldung TOP 25 Mindestpersonalbemessung in der Krankenhauspflege TOP 26 Vorschriften über elektromagnetische Felder TOP 27 Kindernachzugsrecht Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722800000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

begrüße Sie alle herzlich und möchte Sie zunächst davon
in Kenntnis setzen, dass am 4. März der Parlamentari-
sche Staatssekretär beim Bundesminister der Verteidi-
gung, Thomas Kossendey, seinen 65. Geburtstag und
der Kollege Wolfgang Wieland am 9. März den glei-
chen Geburtstag gefeiert hat.


(Beifall)

Am 12. März hat der Kollege Matthias Lietz seinen
60. Geburtstag begangen. Ihnen allen wünsche ich auch
auf diesem Wege im Namen des ganzen Hauses alles
Gute für die nächsten Jahre.


(Beifall)

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die

Tagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:
ZP 1 Aktuelle Stunde 

auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Verhalten von SPD und BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN im Bundesrat beim Fiskalpakt

(siehe 227. Sitzung)


ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Den Netzausbau bürgerfreundlich und zu-
kunftssicher gestalten
– Drucksache 17/12681 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-
fahren
Ergänzung zu TOP 34

a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-

wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-
zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur
gesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos

– Drucksache 17/12679 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe-
schränkungen zur Änderung des Pressefusions-
rechtes

– Drucksache 17/12680 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Kultur und Medien

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Hochschulpakt aufstocken – Finanzierung von
wachsenden Studienkapazitäten an den Hoch-
schulen langfristig sicherstellen

– Drucksache 17/12690 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Korruption im Gesundheitswesen strafbar
machen

– Drucksache 17/12693 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Arbeit und Soziales

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Tonnagesteuer statt Steuerspar-
modell

– Drucksache 17/12697 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

ZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-
sprache
Ergänzung zu TOP 35

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Renate Künast, Monika
Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Füh-
rungspositionen umsetzen
– Drucksachen 17/7953, 17/8643 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön (St. Wendel)
Christel Humme
Nicole Bracht-Bendt
Jörn Wunderlich
Monika Lazar

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Residenzpflicht abschaffen
– Drucksachen 17/11356, 17/11725 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

ZP 5 Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD

Standpunkt der Bundesregierung zu den be-
schlossenen Verfassungsänderungen in Un-
garn im Hinblick auf die Einhaltung europäi-
scher Grundwerte

ZP 6 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses

(6. Ausschuss) gemäß § 62 Absatz 2 der Ge-

schäftsordnung zu dem von den Abgeordneten

Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin
Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Ergänzung des Le-
benspartnerschaftsgesetzes und anderer Ge-
setze im Bereich des Adoptionsrechts

– Drucksachen 17/1429, 17/12731 –

Berichterstattung:

(VillingenSchwenningen)


ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Einführung des
Rechts auf Eheschließung für Personen glei-
chen Geschlechts

– Drucksache 17/12677 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Unterstützung für die Opfer von Halabja fort-
setzen

– Drucksache 17/12684 –

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Anerkennung der irakischen Anfal-Operatio-
nen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf
Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord –
Humanitäre Hilfe für die Opfer

– Drucksache 17/12692 –

ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina
Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Energiewende im Gebäudebestand sozial ge-
recht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und
zukunftsweisend umsetzen

– Drucksachen 17/11664, 17/12671 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara)


ZP 11 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Finanzstabilität sichern – Regulierung system-
relevanter Finanzinstitute und des internatio-
nalen Schattenbankensystems

– Drucksache 17/12686 –





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


ZP 12 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanz-
märkte: Erpressungspotenzial verringern –
Geschäfts- und Investmentbanking trennen

– Drucksache 17/12687 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Haushaltsausschuss

ZP 13 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Brugger, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck

(Bremen), weiterer Abgeordneter und der Frak-

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Konsequent vorangehen für eine atomwaffen-
freie Welt

– Drucksachen 17/9983, 17/12733 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Uta Zapf
Dr. Rainer Stinner
Jan van Aken
Marieluise Beck (Bremen)


ZP 14 Aktuelle Stunde 
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Haltung der Bundesregierung zur Durchset-
zung des Leistungsprinzips bei exorbitanten
Managergehältern

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden. Der Ta-
gesordnungspunkt 8 c soll abgesetzt werden.

Schließlich mache ich noch auf eine nachträgliche
Ausschussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste
aufmerksam:

Der am 29. November 2012 (211. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem

(9. Ausschuss)


Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Innenentwicklung in den Städten
und Gemeinden und weiteren Fortentwick-
lung des Städtebaurechts

– Drucksache 17/11468 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Tourismus 
Ausschuss für Kultur und Medien

Ich frage, ob irgendjemand gegen irgendeinen dieser
veränderten Tagesordnungspunkte Einwände hat? – Das
ist nicht der Fall. Dann haben wir das so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a bis 3 d sowie
den Zusatzpunkt 2 auf:

3 a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie

Eine starke Energieinfrastruktur für Deutsch-
land

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes
über Maßnahmen zur Beschleunigung des
Netzausbaus Elektrizitätsnetze

– Drucksache 17/12638 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Dirk
Becker, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Die Strom-Versorgungssicherheit in Deutsch-
land erhalten und stärken

– Drucksache 17/12214 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Oliver
Krischer, Bärbel Höhn, Sylvia Kotting-Uhl, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Ausbau der Übertragungsnetze durch Deut-
sche Netzgesellschaft und finanzielle Bürgerin-
nen-/Bürgerbeteiligung voranbringen

– Drucksache 17/12518 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Haushaltsausschuss

ZP 2 Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Hubertus Heil (Peine), Ulrich
Kelber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Den Netzausbau bürgerfreundlich und zu-
kunftssicher gestalten

– Drucksache 17/12681 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache im Anschluss an die Regierungserklä-





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


rung 90 Minuten vorgesehen. – Auch das ist offensicht-
lich einvernehmlich. Dann können wir so verfahren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Philipp Rösler.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Wir haben in Deutsch-
land eine starke Volkswirtschaft, einen starken Mittel-
stand mit einem starken industriellen Kern. Es ist diese
Struktur, die Wachstum möglich macht, die Beschäfti-
gung sichert und damit für den Wohlstand in unserem
Lande steht. Weil wir das wissen, kämpft diese Regie-
rungskoalition genau für diese Struktur. Das gilt insbe-
sondere in dem wichtigen Bereich der Energiepolitik.

Es gibt fünf Felder – Kraftwerke, neue Netze, natür-
lich erneuerbare Energien, Energieeffizienz und Energie-
forschung –, in denen es sich besonders lohnt, genau für
diese Struktur zu kämpfen. Die Leitlinien, die für eine
kluge Energiepolitik immer gelten, sind zum Ersten eine
umweltfreundliche Erzeugung, zum Zweiten das wich-
tige Thema Versorgungssicherheit und zum Dritten die
Bezahlbarkeit von Energie, und zwar nicht nur für Un-
ternehmen, sondern für Menschen und private Haushalte
gleichermaßen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Aspekt der Umweltverträglichkeit – ich finde, da-
ran kann man zwei Jahre nach der Katastrophe von
Fukushima erinnern – ist der eigentliche Grund für unse-
ren gemeinsamen Beschluss, aus der Kernenergie auszu-
steigen. Er wurde hier im Deutschen Bundestag gefasst.
Er ist getragen von einer breiten Mehrheit im Bundesrat
und in der Gesellschaft.

Anders als die frühere rot-grüne Bundesregierung ha-
ben wir uns nicht darauf beschränkt, einfach nur den
Ausstieg zu beschließen und danach die Hände in den
Schoß zu legen, so wie Sie es sehr selbstzufrieden getan
haben.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD)


Wir haben gewusst: Wir müssen alles dafür tun, dass das
Ziel, bis zum Jahr 2022 auszusteigen, auch erreicht wer-
den kann. Sie haben sich nach Ihrem Beschluss zurück-
gelehnt. Wir haben die Hände in die Hand genommen


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Die Hände in die Hand genommen“! Bravo!)


– die Dinge in die Hand genommen – und haben ange-
fangen, die Energiepolitik in allen wichtigen Feldern,
gerade im Bereich der Energieinfrastruktur, umzusetzen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der erste Bereich ist der Bereich der neuen Netze.
Wir haben dafür die notwendigen Gesetze beschlossen,

zum Beispiel das Netzausbaubeschleunigungsgesetz.
Unser Ziel ist es, die bisherigen Planungs- und Bauzei-
ten von derzeit bis zu zehn Jahren auf vier Jahre zu ver-
kürzen. Ein Teil dieser Gesetze beinhaltet die Vorgabe,
einen Netzentwicklungsplan auf den Weg zu bringen,
der die Strukturen, aber auch die weiteren Maßnahmen
für den Netzausbau in Deutschland festlegt. Genau das
ist in enorm kurzer Zeit gelungen. Man darf nicht ver-
gessen: Bisher gab es einen solchen Netzentwicklungs-
plan nicht. Man musste ihn also im wahrsten Sinne des
Wortes aus dem Nichts heraus definieren, um zu sehen,
wie die neuen Netzstrukturen in Deutschland aussehen
sollen.

Der Netzentwicklungsplan liegt jetzt vor. Wir wissen,
dass 2 900 Kilometer ertüchtigt oder im Bestand erneu-
ert werden müssen. Es gibt weitere 2 800 Kilometer, die
tatsächlich neu gebaut werden müssen. Es ist gut, dass
wir diesen Netzentwicklungsplan haben. Entscheidend
ist aber auch das Umsetzen dieses Netzentwicklungs-
plans; denn wir haben sehr frühzeitig – schon bei der
Gesetzgebung – gesagt: Wenn wir in Deutschland Indus-
triepolitik betreiben wollen, bedeutet dies das Durchset-
zen, das Umsetzen von Infrastrukturmaßnahmen.

Wenn Sie in Deutschland Infrastrukturmaßnahmen
umsetzen wollen, brauchen Sie die Akzeptanz, das Ver-
ständnis der Bevölkerung. Deswegen wurde sehr früh
ein Konsultationsverfahren eröffnet, damit die betroffe-
nen Menschen vor Ort und die betroffenen Kommunen
Stellung nehmen konnten. Diese wurden von den Über-
tragungsnetzbetreibern einbezogen und später auch von
der Bundesnetzagentur.

Es gab in diesem einjährigen Verfahren über
3 300 Einwendungen von Privatpersonen. Alle konnten
in den Diskussionsprozess einfließen. Es ist quasi revo-
lutionär für die Bundesnetzagentur, dass die Behörde die
Anliegen nicht nur in Form von schriftlichen Stellung-
nahmen behandelt hat, sondern sie ist in die Fläche ge-
gangen, sie hat mit den betroffenen Kommunen und den
betroffenen Menschen gesprochen.

In Stuttgart zum Beispiel wird das, was im Schlich-
tungsverfahren vereinbart wurde, immer noch nicht um-
gesetzt, weil man nicht bereit ist, dafür das notwendige
Geld zur Verfügung zu stellen. Da weiß man, was man
an dieser Bundesregierung hat; denn wir sprechen mit
den Menschen, um Infrastrukturprojekte umzusetzen. So
sieht richtige Bürgerbeteiligung aus.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Dann sprechen Sie einmal mit den europäischen Nachbarn!)


Als Folge des Netzentwicklungsplans diskutieren wir
heute gemeinsam in erster Lesung das Bundesbedarfs-
plangesetz. Dabei geht es nicht nur darum, wie die neuen
Trassenverläufe aussehen sollen, sondern wir müssen
uns konkret überlegen, wie wir die Voraussetzung dafür
schaffen, dass Projekttrassen, zum Beispiel für die Erd-
verkabelung, entstehen können.

Wir sehen auch eine Instanzenwegverkürzung vor,
das heißt, dass man sich mit einer Klage direkt an das
Bundesverwaltungsgericht wenden kann, das dann end-





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


gültig entscheidet. Damit können wir die Geschwindig-
keit im Bereich Netzausbau erreichen, die wir uns vorge-
nommen haben, ebendiese vier Jahre.

Was noch viel entscheidender ist: Wir arbeiten her-
vorragend mit den Bundesländern zusammen. Das ist
keine Selbstverständlichkeit; denn derzeit ist es so, dass
sich mindestens 8 von 16 Bundesländern autonom ver-
sorgen möchten, weitere möchten sich in Bezug auf er-
neuerbare Energien nicht nur autonom versorgen, son-
dern sie sogar exportieren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Blödsinn!)


– Das ist Blödsinn, wenn 16 Bundesländer nur jeweils an
sich denken und nicht an die gemeinsame Umsetzung
dieser Energiewende.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was Sie erzählen, das ist Blödsinn! – Zuruf des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Wir sagen Ihnen: Der Erfolg wird nur möglich sein,
wenn alle 16 Bundesländer, der Bund und Europa bei
dem wichtigen Thema Netzausbau zusammenstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Hören Sie sich das in Brüssel einmal an!)


Deswegen schaffen wir mit dem Bundesbedarfsplange-
setz die Voraussetzung dafür, dass erstmalig auch die
großen und raumbedeutsamen Strecken, die mehrere
Länder übergreifen, in die Planungszuständigkeit des
Bundes, der Bundesnetzagentur übergehen können. Bis-
her haben wir immer gesehen: Dort, wo zwei Länder-
grenzen aneinanderstoßen, kommt es zu Schwierigkei-
ten, kommt es zu Verzögerungen. Das muss geändert
werden. Deswegen hoffen wir sehr, dass der Bundesrat
bereit ist, auch wenn es um die konkreten Strecken geht,
wenn es auf die einzelnen Maßnahmen ankommt, seine
Zusage einzuhalten und die Zuständigkeiten von den
einzelnen Ländern auf den Bund zu übertragen. Sonst
wird es schwierig mit der Verkürzung von Bau- und Pla-
nungszeiten bei dem wichtigen Netzausbau in Deutsch-
land.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Mindestens genauso wichtig wie die großen Fern-
übertragungsnetze ist das Verteilnetz. Wir diskutieren
darüber im Rahmen der Netzplattform in meinem Minis-
terium, aber auch in anderen Gremien. Wir überlegen:
Wie muss ein solches Verteilnetz eigentlich aussehen?
Wir werden ungefähr die gleiche Anzahl an Kilometern
brauchen, nur um das Verteilnetz zu ertüchtigen und zu
modernisieren.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Wesentlich mehr!)


Hier geht es nicht nur darum, Produktion und Verbrauch
räumlich zusammenzubringen, sondern Sie müssen Pro-
duktion und Verbrauch auch zeitlich zusammenbringen.
Deswegen brauchen wir nicht nur Verteilnetze mit vielen

Tausend Kilometern, sondern wir brauchen auch intelli-
gente Netze


(Caren Marks [SPD]: Wir brauchen einen intelligenten Minister! – Gegenruf des Abg. Manuel Höferlin [FDP]: Das war aber ein intelligenter Spruch! Wow!)


– manche Netze sind intelligenter als manche Zwischen-
rufe –,


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Caren Marks [SPD]: Versenkt!)


die in der Lage sind, Produktion und Verbrauch zusam-
menzubringen. Wenn wir die beiden Dinge zusammen-
bringen wollen, dann brauchen wir nicht nur die Netze,
sondern dann müssen wir uns auch darüber Gedanken
machen, wie der Markt für den konventionellen Kraft-
werksbereich aussieht.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Warum macht ihr es nicht?)


Ich will hier für die Bundesregierung und die Regie-
rungskoalition sehr klar sagen: Wenn wir aus der Nut-
zung der Kernenergie aussteigen, werden wir, auch wenn
wir auf den stärkeren Ausbau des Bereichs der erneuer-
baren Energien setzen, auch in Zukunft konventionelle
Kraftwerke brauchen, Gaskraftwerke genauso wie Koh-
lekraftwerke.


(Zuruf des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Wenn die Grünen beschließen, dass man gerne auf Koh-
lekraftwerke verzichten möchte, dann ist das den Men-
schen gegenüber schlichtweg unehrlich; denn irgendwo
muss der Strom für die Menschen und die Unternehmen
ja herkommen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das macht doch gar keiner mehr!)


Dass wir für Versorgungssicherheit stehen, haben wir
bei der Winterregelung gezeigt, die Sie im Bundestag im
Rahmen des Energiewirtschaftsgesetzes beschlossen ha-
ben.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir nicht! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat die Koalition beschlossen!)


Natürlich wissen wir, dass all die Maßnahmen, die darin
enthalten sind, nicht vollumfänglich die Schönheit der
sozialen Marktwirtschaft widerspiegeln.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Marktwirtschaft pur!)


Aber bei der Abwägung zwischen der Versorgungs-
sicherheit auf der einen Seite und der Schönheit mancher
Instrumente auf der anderen Seite war und ist es immer
richtig, sich für die Versorgungssicherheit der Menschen
und Unternehmen gleichermaßen zu entscheiden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


Wir brauchen Ähnliches auch bei der Marktstruktur
im Bereich der konventionellen Kraftwerke. Allein auf
den Strom und nicht auf die Erzeugung zu achten, wird
auf Dauer nicht mehr funktionieren. Trotzdem warne ich
davor, zu glauben, dass man nur Kapazitätsmärkte for-
dern müsse und schon wäre das Problem gelöst. „Kapa-
zitätsmärkte“ ist ein schönes Wort dafür, dass man das
Vorhalten von Kraftwerken mit dem Geld der Stromkun-
den in Deutschland subventionieren will.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was wollen Sie denn?)


Wenn Sie ein Problem, das durch die Förderung des Be-
reichs der erneuerbaren Energien, also durch ein Sub-
ventionsgesetz entstanden ist, durch eine weitere Sub-
vention lösen wollen, dann handeln Sie entgegen dem
Prinzip der sozialen Marktwirtschaft. Das kann nicht die
alleinige Lösung für das zukünftige Marktdesign in
Deutschland sein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Die Frage ist doch, wie teuer es wird! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das, was Sie machen, ist die teuerste Lösung!)


Wenn Sie ein solches Marktdesign auf den Weg brin-
gen wollen, gerade für konventionelle Kraftwerke, dann
müssen Sie auch an die Förderung des Bereichs der er-
neuerbaren Energien herangehen; denn beides gehört
zusammen, die konventionelle Energieerzeugung in
Deutschland und die Erzeugung durch die Nutzung er-
neuerbarer Energien. Das bisherige Gesetz zur Förde-
rung der erneuerbaren Energien ist ein Gesetz, das ei-
gentlich nicht zur sozialen Marktwirtschaft passt. So,
wie es momentan aufgebaut ist, ist es ein planwirtschaft-
liches Gesetz.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! Da klatscht nicht einmal einer von Ihnen!)


Es ist damals entstanden, als man eine Nischenbranche
größer machen wollte. Das war absolut gerechtfertigt;
jetzt aber haben wir ein Gesetz, das sich mit einem
Markt befasst, der längst nicht mehr einem Nischen-
markt entspricht, sondern einen Marktanteil von 25 oder
35 Prozent hat. Deswegen dürfen Sie ein solches Gesetz
nicht länger zulassen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Wo sind eure Vorschläge? – Sigmar Gabriel [SPD]: Diagnose können wir selber! Machen Sie ein neues Gesetz!)


Das ist ein Gesetz, mit dem der Gesetzgeber, der Deut-
sche Bundestag, den Preis für jede einzelne Erzeugungs-
art auf den Cent genau festlegt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Machen Sie einen Vorschlag! – Sigmar Gabriel [SPD]: Legen Sie mal ein neues vor!)


Das ist Planwirtschaft und führt natürlich auch zu all den
Verzerrungen und zu Ineffizienzen, die die Planwirt-
schaft mit sich bringt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Machen Sie doch einmal einen konkreten Vorschlag! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie blockieren doch alles!)


– Frau Höhn, gerade Sie haben doch dieses Gesetz auf
den Weg gebracht.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es verschlechtert!)


Es ist doch Ihre Verantwortung, dass wir momentan
– mit all den Verzerrungen – in der Planwirtschaft leben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn Sie sich ein Windrad in den Hintergarten stellen
– egal ob Sie einen Netzanschluss haben oder nicht –,
bekommen Sie bis zu 95 Prozent Ihrer Kosten vergütet.
Was ist das für ein Geschäftsmodell?


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie die Netze nicht gebaut haben! Herzlichen Glückwunsch!)


Frau Höhn, stellen Sie sich vor, unser Wirtschaftsaus-
schussvorsitzender Herr Hinsken – er ist Bäcker – würde
ständig Brötchen produzieren, die er nicht verkaufen
müsste, und er würde trotzdem 95 Prozent der Kosten als
Vergütung bekommen. Was für ein großartiges Ge-
schäftsmodell wäre das?


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Bauen Sie doch Netze! Das ist Ihre Verantwortung!)


Es hat nur zwei Nachteile: Erstens. Die Menschen in
Deutschland müssten es bezahlen. Zweitens. Es wäre
kein zur sozialen Marktwirtschaft passendes Modell,
und deswegen verzichtet Herr Hinsken auf ein solches
Modell. Das Gleiche gilt auch für die Energiepolitik in
Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wer regiert denn hier, verdammt noch mal? Sie regieren hier!)


– Herr Steinmeier, wir regieren, und es wird – damit wir
das auch gleich geklärt haben – auch nach der nächsten
Bundestagswahl so bleiben.


(Beifall bei der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das mit Sicherheit nicht! – Sigmar Gabriel [SPD]: Da klatscht nur noch die FDP!)


Deswegen brauchen wir ein anderes Modell, ein Men-
genmodell, mit dem endlich die unterschiedlichen Er-
zeugungsarten – so, wie es sich für die soziale Markt-





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


wirtschaft gehört – in einen Wettbewerb miteinander
gestellt werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fangen Sie doch an zu regieren!)


Sonst wird Energie am Ende nicht mehr bezahlbar sein.

Wir erleben gerade die Diskussion über eine EEG-
Umlage in Höhe von 5,277 Cent, die vielleicht bis zum
Ende des Jahres sogar noch auf 6 Cent die Kilowatt-
stunde ansteigen wird.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Altmaier erzählt 7 Cent!)


Ich finde, diese Zahlen zeigen eines sehr deutlich: Wir
müssen schon jetzt – nicht zum Zweck der Integration
von konventionellem Markt und dem Bereich der erneu-
erbaren Energien, sondern gerade im Interesse der Be-
zahlbarkeit von Energie für den Mittelstand, aber auch
für private Haushalte – an einer grundlegenden Reform
des Gesetzes zur Förderung Erneuerbarer Energien ar-
beiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Energiepreise sind das Entscheidende für unseren
Mittelstand und unseren industriellen Kern.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Legen Sie doch etwas vor!)


Die deutsche Wirtschaft steht in einem internationalen
Wettbewerb mit günstigen Energiepreisen in Europa,
mehr aber noch außerhalb Europas. Wir sprechen über
Strompreise für Industrieunternehmen von 10 bis
15 Cent die Kilowattstunde hier in Deutschland und in
Europa. Wir sprechen, was beispielsweise die USA an-
geht, über Strompreise im Bereich von 2 bis 5 Cent die
Kilowattstunde.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Quatsch! Das entspricht doch nicht den Fakten! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch Unsinn!)


Wenn künftig viele Unternehmen in Deutschland In-
vestitionsentscheidungen zulasten des Standortes
Deutschland bzw. Europa treffen, indem sie in die USA
gehen, wäre das gerade für unseren industriellen Kern
fatal; denn wir brauchen die gesamte Bandbreite einer
industriellen Wertschöpfungskette. Das betrifft chemi-
sche Grundstoffe, Stahl und Aluminium genauso wie
Hightechprodukte. Deswegen ist es notwendig, dass die
Bezahlbarkeit von Energie als prioritäre Aufgabe der
Wirtschaftspolitik anerkannt wird.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie treiben die Preise hoch! – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Das ist nicht zu fassen! Sie kriegen nichts zustande! – Rolf Hempelmann [SPD]: Große Schnauze!)


– Auch von Ihnen, Frau Höhn.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie kommen aus Nordrhein-Westfalen. Ich sage Ih-
nen: Die Unternehmen werden sich sehr genau ansehen,
wie Politiker aus Nordrhein-Westfalen agieren, wenn es
darum geht, für die Bezahlbarkeit von Energie zu kämp-
fen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das müssen Sie dem Altmaier mal sagen und der Frau Merkel!)


Daran hängen hier Hunderttausende Arbeitsplätze. Sie
zeigen, dass Sie kein Interesse an den Arbeitsplätzen in
Deutschland haben. Das ist doch das wahre Gesicht von
Roten, Grünen und Linken in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sagen Sie mal dem Altmaier Bescheid, der die Industrie gerade kaputt macht! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Sie gefährden die Arbeitsplätze! – Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])


– Die Opposition zeigt – das spüren wir – ihr schlechtes
Gewissen, indem sie umso lauter schreit.


(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Sie haben den Ausstieg aus der Nutzung der Kern-
energie beschlossen


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Ach! Sie nicht?)


und nichts für unser Land bzw. für neue Netze getan.
Auch für neue Kraftwerke und den Bereich der erneuer-
baren Energien haben Sie nichts getan – und schon gar
nichts für Energieforschung und Energieeffizienz. Im
Gegenteil, bei Energieeffizienz halten Sie es bis heute
nicht für nötig, etwas für die Menschen zu tun. Sie blo-
ckieren nach wie vor Gesetze im Bundesrat, bei denen es
darum geht, Energieeffizienz für die Menschen durchzu-
setzen. Das ist doch Ihr Gesicht, wenn es um Energiever-
sorgung in Deutschland geht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Was machen Sie für Energieeffizienz? – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Laiendarsteller!)


Ich halte also fest: Diese Regierungskoalition hält
sich an die drei energiepolitischen Grundsätze


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nicht zuhören! Nichts reden! Nichts tun!)


Umweltverträglichkeit, Versorgungssicherheit und Be-
zahlbarkeit in den fünf wesentlichen Feldern Netzaus-
bau, Kraftwerksausbau, erneuerbare Energien, Energie-
forschung und Energieeffizienz.


(Zuruf von der SPD: Dann fangen Sie mal an!)


Viele Unternehmen aus dem Ausland beneiden uns um
unsere starke Volkswirtschaft. Sie haben sich zu Anfang
die Frage gestellt: Kann Deutschland den Ausstieg bis
zum Jahre 2022 schaffen? Wenn man sich jetzt die Pläne
ansieht, wenn man die Dinge erklärt, wenn man die Vor-
bereitung erkennt, dann weiß man: Wenn es einer schaf-





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


fen kann, dann ist das unser Land. Diese Regierungsko-
alition steht und kämpft dafür, dass genau das gelingen
kann.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722800100

Das Wort erhält nun der Kollege Sigmar Gabriel für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Jetzt kommt die geballte Energie!)



Sigmar Gabriel (SPD):
Rede ID: ID1722800200

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn man

eben bei der Rede des Kollegen Rösler eine Sekunde die
Augen geschlossen und sich überlegt hätte, wer da ei-
gentlich redet,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


dann hätte man den Eindruck haben können, dass da ein
Oppositionspolitiker die aktuelle Regierung beschimpft.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Herr Rösler, ich bin nicht sicher, ob Sie es wissen, aber
für all die Probleme, die Sie eben diagnostiziert haben,
sind Sie und Ihr Kollege Brüderle seit fast vier Jahren
zuständig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Übrigens, als Sie gesagt haben, dass Sie wieder in der
Regierung sein werden, hat nur die FDP geklatscht, die
CDU/CSU wohl vorsichtshalber nicht. Die Kollegen in
der CDU/CSU ahnen, was bei den Wahlen herauskom-
men wird.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD – Volker Kauder [CDU/CSU]: Herr Gabriel, Sie werden es nicht sein!)


Sie können das übrigens heute in der Süddeutschen
Zeitung nachlesen. Sie haben sich ja selber für Ihre Ar-
beit so gelobt und eben hier versucht, den Schwarzen
Peter anderen zuzuschieben. Dabei sitzt der Schwarze
Peter bei Ihnen ganz in der Nähe am Kabinettstisch.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Er hat heute auf die Frage der Süddeutschen Zeitung,
was er von Ihrer Arbeit hält, geantwortet – ich lese es
einmal vor –: „Ich urteile grundsätzlich nicht über die
Arbeit befreundeter Kabinettskollegen.“


(Heiterkeit bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das ist ja einmal ein richtiges Lob. So stellt man sich
Freundschaften bei Ihnen vor.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Herr Rösler, ich will einmal versuchen, auf ein paar
der Probleme, die Sie, wie ich finde, treffend beschrie-
ben haben, einzugehen – Sie haben sie zwar jetzt be-
schrieben, aber Sie haben dreieinhalb Jahre nichts getan,
um sie zu lösen – und darauf hinzuweisen, was Sie ei-
gentlich hätten tun müssen. Wie sieht eigentlich der
Stand des Ausbaus der Netze in der Realität aus, nach-
dem Sie und Ihr Vorgänger Herr Brüderle hier dem Par-
lament mehrfach große Ankündigungen gemacht haben?
Sie haben Beschleunigungsgesetze eingebracht, Sie ha-
ben gesagt, dass Sie den Netzausbau richtig in den Griff
bekommen wollen. Das ist das Versprechen Ihres Kolle-
gen Brüderle – man ist sich bei Ihnen immer nicht so si-
cher, ob er gerade Nachfolger oder Vorgänger ist – und
auch Ihr Versprechen gewesen.

Ich sage Ihnen: Das Energieleitungsausbaugesetz von
2009 hat die wichtigsten Strecken für den Netzausbau
per Gesetz begründet. Von 2009 bis heute, Herr Rösler,
sind ganze 12 Prozent von Ihnen realisiert worden:
214 Kilometer von 1 834 Kilometern, die Sie bauen
müssen. Keines der damals benannten Pilotvorhaben für
die Erdverkabelung in der Gleichstromtechnik, um die
durch Windkraft im Norden erzeugte Energie zu den
Lastschwerpunkten in den Süden zu bringen, haben Sie
in Ihrer Regierungszeit bis heute umgesetzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


16 der 24 Vorhaben von damals sind im Zeitverzug; die-
ser beträgt ein bis sieben Jahre.

Herr Rösler, damit Sie es nicht völlig verdrängen, er-
innere ich Sie daran: Der dafür verantwortliche Minister
sind Sie und nicht Vorgängerregierungen, die übrigens
diesen irren Weg des Ausstiegs nicht gewählt haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wären Sie beim rot-grünen Energieumstieg geblieben,
hätten Sie diese Probleme nie in dieser Art auf den Tisch
bekommen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie scheinen ja völlig verdrängt zu haben, was Sie da
angerichtet haben. Sie haben doch in das Herz-Kreis-
lauf-System der deutschen Wirtschaft – das haben Sie
eben zu Recht so genannt; es ist das Herz-Kreislauf-Sys-
tem der deutschen Wirtschaft – eingegriffen. Sie haben
in den letzten dreieinhalb Jahren zweimal am offenen
Herzen operiert. Aber Ihr Ärzteteam – einschließlich der
Chefärztin, die gerade hinausgegangen ist – hat bei die-
sen Operationen wechselnde Diagnosen gestellt und
wechselnde Therapievorstellungen gehabt. Dass der Pa-
tient noch lebt, liegt nicht an der Kunst Ihres Ärzteteams,
sondern an der guten Konstitution des Patienten. Sie ha-
ben ihn allerdings fast ans Ende gebracht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Petra Sitte [DIE LINKE])






Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


Wir sind nicht diejenigen gewesen, die erst beschlos-
sen haben, 14 Jahre länger an der Atomenergie festzu-
halten, und dann gesagt haben: Nun aber schneller raus!


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: So ist es!)


Wir haben übrigens auch keinen Prozess verloren, wie
Sie ihn gerade wegen der illegalen Stilllegung von
Atommeilern verlieren.


(Zuruf von der SPD: Genau!)


Wo im Bundeshaushalt findet man eigentlich die 15 Mil-
liarden Euro, die Sie an Regressforderungen der Ener-
giekonzerne wegen Ihrer damaligen Kumpanei mit ihnen
zu erwarten haben?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die waren dann nämlich enttäuscht. Die Rechnung für
die Kumpanei mit diesen Konzernen müssen jetzt die
Steuerzahler bezahlen. Das ist das Ergebnis Ihres Atom-
ausstiegs von vor zweieinhalb Jahren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zurück zum Netzausbau. 12 Prozent wurden bisher
realisiert. Wenn die Bundesregierung beim Netzausbau
in diesem Tempo weitermacht, Herr Rösler, dann wird
die Energiewende tatsächlich ein Jahrhundertprojekt;
das kann man wohl sagen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD)


Zwischen der Realität beim Netzausbau in Deutschland
und dem, was Sie hier erklären, gibt es einen Riesenun-
terschied. Sie legen hier einen Gesetzentwurf vor, nach
dem bis 2022 auf einer Strecke von insgesamt 2 800 Ki-
lometern neue Leitungen gebaut werden sollen; das ent-
spricht der Entfernung zwischen Stockholm und Madrid.
Bei Beibehaltung Ihres bisherigen Schneckentempos
– bisher wurden, wie gesagt, erst 12 Prozent realisiert –
werden diese Leitungen nicht bis 2022 fertig sein, son-
dern frühestens 2060. Mit anderen Worten: Sie legen ei-
nen Netzausbauplan vor, von dem Sie schon heute wis-
sen, dass er mit Ihrer Regierungskunst nie und nimmer
realisiert werden wird.

Was haben Sie eigentlich die letzten dreieinhalb Jahre
getan, damit das Nord-Süd-Gefälle, dass der Windstrom
im Norden produziert, aber an den Lastschwerpunkten
im Süden und Westen gebraucht wird, endlich abgebaut
wird? Das Gegenteil ist eingetreten: Dieses Gefälle ver-
schärft sich von Jahr zu Jahr. Inzwischen produzieren
wir, weil die Netze verstopft sind, Wegwerfstrom. Wir
bezahlen ihn, aber wir können ihn nicht nutzen. Bezah-
len müssen das die Steuerzahler, die Stromkunden und
all diejenigen, die da zur Kasse gebeten werden. Das,
Herr Rösler, ist Ihre Verantwortung. Sie sind derjenige,
der das zulässt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Und Sie verhindern!)


– Wir verhindern gar nichts, Herr Kollege. Sie legen
doch noch nicht einmal einen Plan vor, wie man das ma-
chen soll.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich werde Ihnen gleich erzählen, was Sie alles verhindern!)


– Ich verstehe ja, dass Sie den armen Kerl jetzt verteidi-
gen müssen. Aber ich habe ihn nicht gebeten – ausge-
rechnet ihn! –, hier eine Regierungserklärung zu seinem
eigenen Versagen während seiner Regierungszeit abzu-
geben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie versagen komplett, was die Steuerungskompetenz
angeht. Sie sagen hier: Die 16 Bundesländer können
nicht machen, was sie wollen. – Da haben Sie recht.
Aber sagen Sie einmal: Was tun Sie eigentlich, um mit
Ländern, Kommunen, der Energiewirtschaft und Stadt-
werken den geplanten Netzausbau oder eine Kopplung
des Netzausbaus und des Ausbaus der Nutzung erneuer-
barer Energien hinzubekommen? Bis heute gar nichts!
Sie beschreiben die Probleme richtig. Aber Sie sind der
Minister, der dafür da ist, sie zu lösen. Das machen Sie
seit dreieinhalb Jahren nicht.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Oh, Sie sind ja noch im Stimmbruch! – Rolf Hempelmann [SPD]: Der braucht seine volle Kraft an der FDP-Front!)


Kurz vor der Bundestagswahl kommen Sie hierher und
erklären, was man alles machen muss. Wissen Sie, es
gibt ein altes Sprichwort für Leute wie Sie. Es lautet:
Am Abend werden die Faulen fleißig. Das beschreibt,
was Sie machen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Herr Rösler, nun können Sie ja sagen: Na ja, es ist
doch klar, dass die Opposition über mich schimpfen
muss; das ist ein altes Spiel im Parlament. – Deshalb lese
ich Ihnen einmal vor, was außerhalb Ihrer eigenen Wirk-
lichkeit, außerhalb dieses Parlaments über Sie, Ihre Re-
gierung und die Kanzlerin gedacht wird.

Der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der
Deutschen Industrie, Herr Kerber, meint – ich zitiere –:
Es fehlen eindeutige Verantwortlichkeiten. Der Konkur-
renzkampf innerhalb der Bundesregierung muss aufhö-
ren. Wir brauchen den Aufbau eines „Kontrollzentrums
Energiestrategie Deutschland“.

Der Vorsitzende der Energiegewerkschaft IG BCE,
Michael Vassiliadis, erklärte vor wenigen Wochen:

Es fehlt der Bundesregierung an Koordination und
Entscheidungen. Wenn das so weitergeht wie bis-
her, dann wird das nichts mit der Energiewende.

Vor wenigen Tagen wurde der Unternehmer Ulrich
Grillo, zugleich der neue Präsident des Bundesverbands
der Deutschen Industrie, gefragt, wie er das Manage-
ment der Energiewende durch die Bundesregierung





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


bewertet – hören Sie gut zu, Herr Rösler! –, und die
Antwort von Herrn Grillo lautete: „Es gibt kein Manage-
ment.“


(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Rösler, sagen Sie das auch Ihrer Kanzlerin; denn
auch sie ist damit gemeint. Ich habe aufgehört, zu zäh-
len, wie oft die Kanzlerin die Energiewende zur Chefsa-
che erklärt hat. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: Entwe-
der beherrscht sie die Chefsache nicht, oder Sie, Herr
Rösler, lassen nicht zu, dass das Ganze geführt wird.

Ich könnte zwar noch mehrere ähnliche Zitate vortra-
gen, aber ich beende diese Aufzählung mit einem Kom-
mentar aus der Passauer Neuen Presse von der letzten
Woche. Unter der Überschrift „Verlorenes Jahr“ fasst der
Kommentator das wie folgt zusammen:

Für das Gelingen der Energiewende wird 2013 ein
weitgehend verlorenes Jahr werden.

Leider hat er recht, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Dietmar Bartsch [DIE LINKE])


Alle, aber auch ausnahmslos alle, Herr Rösler, die in
Deutschland etwas von Energiepolitik verstehen, sagen,
dass diese Regierung ein Totalausfall ist hinsichtlich ei-
ner Energiepolitik, die Versorgungssicherheit und be-
zahlbare Preise während der Energiewende sicherstellen
soll.

Meine Damen und Herren, wie sieht das aus mit der
Chefsache der Bundeskanzlerin, dem neuen Strom-
marktdesign? Fehlanzeige. Wie sieht das aus mit dem
von der Ethik-Kommission zum Ausstieg aus der Atom-
energie dringend geforderten Aufbau eines Kapazitäts-
marktes, vor allem mit Gaskraftwerken? Fehlanzeige.

Sie erklären hier, die Bundesländer sollten nicht ma-
chen, was sie wollen. Was macht Ihr Koalitionspartner,
die CSU? Ministerpräsident Seehofer hat als Erster er-
klärt, sein Land, Bayern, würde energieautark.


(Lachen des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Wenn man an den Industriestandort Deutschland denkt,
muss man sagen: Die sind völlig verrückt geworden. –
Und was passiert? Gar nichts passiert. Im Gegenteil, an-
statt dass neue Gaskraftwerke gebaut werden – dafür
sind Sie übrigens verantwortlich –, werden in Deutsch-
land neue Gaskraftwerke stillgelegt, und wir stehen an
den Tagen, an denen die Sonne nicht scheint und der
Wind nicht weht, vor massiven Problemen mit der Ver-
sorgungssicherheit und der Stabilität im Netz. Genau das
bewirkt Ihre Politik.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Dann sollten Sie auch sagen: Wer soll das bezahlen?)


– Na, hören Sie einmal zu: Sie sind dafür verantwortlich,
das sicherzustellen. In normalen Jahren braucht es zehn
technische Eingriffe, um das Netz stabil zu halten. Jetzt

haben wir 900 gehabt. Das verschweigen Sie hier. Sie
sind sich über die Dimension Ihrer Aufgabe überhaupt
nicht im Klaren – oder jedenfalls Ihr Minister nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das geht ja noch weiter: Sie jammern zwar über stei-
gende Strompreise – zu Recht übrigens –, aber gleichzei-
tig verhindern Sie, dass Effizienzmaßnahmen den
Stromkunden helfen, ihren Stromverbrauch zu senken
und Geld zu sparen. Warum verhindern Sie das eigent-
lich?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Sie stehen in Europa auf der Bremse, wenn es um
Energieeffizienz geht. Sie verhindern – gemeinsam mit
Ihrer Bundesregierung und anderen –, dass der europäi-
sche Emissionshandel wieder in Gang kommt. Ihrem Fi-
nanzminister fehlen jetzt 1 bis 2 Milliarden Euro im
Haushalt, um Maßnahmen zur Energieeinsparung zu fi-
nanzieren. Sie erklären öffentlich, wie schlimm das ist,
aber Sie helfen keinem einzigen Verbraucher. Vielmehr
stoppen Sie die Programme, weil Sie die Mittel dafür
nicht mehr haben, weil Sie den Emissionshandel durch
Ihr Verhalten in Europa ruiniert haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Steigende Strompreise, steigende Versorgungsunsi-
cherheit, das ist das Ergebnis Ihrer Politik und nicht etwa
die Schuld von Rot-Grün oder irgendwelcher Außerirdi-
scher. Sie sind Minister, auch wenn Sie es manchmal
nicht glauben können. Wir würden es ja auch gerne an-
ders sehen;


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das dauert noch!)


aber es ist nun einmal so. Dann müssen Sie einmal arbei-
ten in diesem Land.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Sie müssen übrigens nicht einmal für irgendetwas kämp-
fen: Über alles, was wir hier bereden, besteht doch Ein-
vernehmen. Aber Sie setzen nichts um. Bei der Umset-
zung der Energiewende sind Sie ein Totalversager; das
ist das eigentliche Problem in Deutschland.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt kommt – alle Achtung! – die Strompreisbremse.
Kurz vor Toresschluss erklären Sie: Keine Sorge! Wir
bremsen die Strompreise. –


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Und wer behindert das?)


Wie wollen Sie das eigentlich machen? Obwohl die stei-
genden Strompreise nach Ihren eigenen Aussagen und
nach Aussagen Ihres Ministeriums praktisch nichts mit
dem Ausbau der erneuerbaren Energien zu tun haben
– selbst wenn kein einziges Windrad mehr gebaut
würde, würden aktuell die Strompreise steigen –, wollen





Sigmar Gabriel


(A) (C)



(D)(B)


Sie den Ausbau der erneuerbaren Energien und damit die
Energiewende selbst stoppen; das ist Ihr Vorschlag.

Damit nicht genug: Sie beherrschen das kleine Ein-
maleins eines Wirtschaftsministers nicht, das da lautet:
Wir brauchen Investitionssicherheit und keine ständigen
Veränderungen der Rahmenbedingungen. – Ausgerech-
net der Bundeswirtschaftsminister schlägt, gemeinsam
mit seinem Kabinettskollegen Altmaier, vor, in be-
stehende Verträge einzugreifen. Ausgerechnet der Bun-
deswirtschaftsminister schlägt vor, dass die im interna-
tionalen Wettbewerb stehende Rohstoffindustrie in
Deutschland – von Aluminium über Stahl zu Kupfer –
jetzt höhere Strompreise zahlen soll. Und so etwas for-
dert ein FDP-Bundeswirtschaftsminister!


(Thomas Oppermann [SPD]: Unglaublich! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Industriefeind!)


Was Sie da vorschlagen, ist doch irre. Weil Sie offenbar
von allen guten Geistern verlassen sind, wollen Sie das
jetzt im Schweinsgalopp durchsetzen. Sie müssen wirk-
lich, Entschuldigung, nicht mehr ganz bei Trost sein.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Keine dieser Maßnahmen, Herr Rösler, behebt die Ursa-
chen steigender Strompreise. Nichts von dem, was Sie
vorschlagen, hält länger als bis zum Wahlabend,
18.01 Uhr. Und jede dieser Maßnahmen verunsichert
sämtliche Investoren. Herr Rösler, Unberechenbarkeit
wird zum Markenzeichen Ihrer Energiepolitik. Das ist
das, was die Investoren in Deutschland von Ihnen lernen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn Sie, wie wir auch, Sorgen wegen steigender
Strompreise haben: Warum verdienen Sie in der Bundes-
regierung dann noch heimlich mit? Aufgrund steigender
EEG-Umlage haben Sie nämlich bis zu 1 Milliarde Euro
Mehreinnahmen über die Mehrwertsteuer. Warum geben
Sie nicht wenigstens das, was Sie über steigende Strom-
preise sozusagen für Ihren Haushalt abkassieren, an die
Verbraucherinnen und Verbraucher zurück? Warum ma-
chen Sie das eigentlich nicht?


(Beifall bei der SPD)


Sie können übrigens mit uns reden, wenn Sie nicht
generell 1 000 Kilowattstunden stromsteuerfrei stellen
wollen, sondern Ermäßigungen lieber an bestimmte
Gruppen geben wollen, zum Beispiel an Familien, Nied-
rigverdiener oder BAföG-Empfänger. Das alles können
wir machen. Sie können aber doch nicht mitkassieren
und gleichzeitig öffentlich darüber jammern, dass die
Strompreise steigen.


(Beifall bei der SPD)


Ich finde es wirklich eine erbärmliche Bilanz, die wir
hier vorgestellt bekommen. Das alles wird dann auch
noch mit großen Zielen beschrieben.

Es wird Zeit, dass in der Bundesregierung einmal
Ordnung geschaffen wird. Sie müssen erstens aufhören,
über Kompetenzen zu streiten.

Zweitens brauchen wir wirklich auch im Rahmen der
Energiewende eine Gerechtigkeitswende; denn sin-
kende Börsenstrompreise werden nicht an die Verbrau-
cher weitergegeben, sondern nur an die Großindustrie,
und die von CDU/CSU und FDP massiv ausgeweiteten
Ausnahmen bei der Stromsteuer – weit über die Roh-
stoffindustrie hinaus – führen dazu, dass der Rest höhere
Strompreise zahlt. Daneben verdienen an Windparks und
Solardächern immer mehr Grundstücks- und Hauseigen-
tümer, während die Mieter die Zeche zahlen.

Es ist völlig klar, was zu tun ist.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Wer verhindert denn, dass wir etwas ändern?)


– Entschuldigung, wir machen Ihnen doch Vorschläge.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Ich bin ja gleich dran!)


Dann stimmen Sie doch zu! Wir wollen den Verbrau-
chern das zurückgeben. Stimmen Sie doch zu, dass wir
endlich ein neues Strommarktdesign machen!


(Beifall bei der SPD)


Schaffen Sie einen Kapazitätsmarkt! Sorgen Sie dafür,
dass wir endlich zu einer Koppelung zwischen Netzaus-
bau und Ausbau der erneuerbaren Energien kommen!
Das sind Vorschläge, für die Sie hier im Haus eine breite
Mehrheit bekommen würden. Sie müssen es aber umset-
zen, Herr Kollege. Es gibt kein Erkenntnisproblem, wir
haben kein Diagnoseproblem, sondern wir haben ein
massives Umsetzungsproblem.

Es gibt böse Zungen, die sagen, Herr Rösler als alter
Freund der Atomenergie habe gar kein Interesse daran,
dass das am Ende funktioniert. Ich glaube, das ist nicht
so. Ich nehme Ihnen ab, dass Sie die Energiewende wirk-
lich wollen. Offensichtlich ist aber: Parteien, die jahr-
zehntelang sozusagen auf die „Bruttoregistertonnenmen-
talität“ der Atomenergie gesetzt haben, scheint die
Fantasie dafür zu fehlen, sich vorzustellen, wie das
Ganze intelligent hin zu mehr Dezentralität umgebaut
werden kann, sodass ein möglichst hoher Anteil erneuer-
barer Energie erreicht wird. Sie sind in Ihrem alten Den-
ken verhaftet, und das führte dazu, dass Sie, als Sie sich
hier hingestellt haben und beschrieben haben, was fehlt,
Ihr eigenes Versagen beschrieben haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722800300

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Auf der Ehrentri-

büne hat der Präsident der Nationalversammlung der
Sozialistischen Republik Vietnam, Herr Dr. Nguyen
Sinh Hung, mit seiner Delegation Platz genommen. Ihn
möchte ich im Namen aller Mitglieder des Bundestages
herzlich begrüßen.


(Beifall)






Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Sie haben in den letzten Tagen nicht nur in Berlin viele
politische Gespräche geführt. Wir wünschen Ihnen für
die weiteren Reformanstrengungen in Ihrem eigenen
Land viel Erfolg.


(Beifall)


Vielen Dank.

Nun hat der Kollege Michael Fuchs für die CDU/
CSU das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1722800400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Ich freue mich
sehr, dass unsere vietnamesischen Freunde heute hier
sind. Wir möchten noch auf vielen Gebieten mit ihnen
zusammenarbeiten. Eine ganze Reihe von Punkten ha-
ben der Bundeswirtschaftsminister und der Bundes-
außenminister in Vietnam ja schon angeschoben. Gott
sei Dank wird auch in Bälde das Deutsche Haus gebaut.
Darüber freuen wir uns.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Der Teil der Rede war in Ordnung!)


Herr Kollege Gabriel, Freundschaft in der SPD er-
kennt man schon daran, dass Ihr Kanzlerkandidat bei der
Rede seines Parteivorsitzenden nicht im Deutschen Bun-
destag war. Daran lässt sich ablesen, wie sich die Situa-
tion darstellt. Ich würde an Ihrer Stelle nicht über andere
lästern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Schauen Sie mal nach vorne hin! Der leere Stuhl! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Frau Merkel? – Thomas Oppermann [SPD]: Die soll mal kommen! – Weitere Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Merkel auch nicht!)


– Die Bundeskanzlerin war bei der Rede des Bundes-
wirtschaftsministers anwesend. Die Bundeskanzlerin hat
auch noch ein paar Dinge zu tun, die sie das eine oder
andere Mal daran hindern können, im Plenum zu sein.
Aber wenn Ihr eigener Kanzlerkandidat es noch nicht
einmal für nötig hält, bei der Rede seines Parteivorsit-
zenden anwesend zu sein, dann ist das bezeichnend da-
für, was er von ihm hält, nämlich genauso viel wie ich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Mehr haben Sie hier nicht zu sagen? Ist das Ihr Ernst? Ist das alles, was Sie hier zu sagen haben?)


Herr Kollege, Sie haben eben über das Thema Ener-
gieeffizienz gesprochen. Energieeffizienz ist mit Sicher-
heit eine der besten Möglichkeiten, in Deutschland Ener-
gie einzusparen. Da sind wir uns einig. Insofern frage ich
mich, warum Ihre Mehrheit im Bundesrat seit mehreren
Monaten 1,5 Milliarden Euro blockiert,


(Thomas Oppermann [SPD]: Das läuft doch inzwischen! Das haben wir doch geklärt! Sie sind nicht auf dem neuesten Stand!)


die wir in die Sanierung von Häusern stecken wollen,
um sie energieeffizienter zu machen. Das ist doch
scheinheilig, was Sie hier machen. Sie haben doch gar
nicht das Recht, darüber zu reden, wenn Sie nicht einmal
in der Lage sind, solche Dinge umzusetzen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Sie sind nicht auf der Höhe der Zeit!)


Diese Scheinheiligkeit, die Sie hier permanent an den
Tag legen, geht mir ziemlich auf den Geist. Sie wissen
ganz genau, warum diverse Ausbaumaßnahmen nicht
vorgenommen werden. Sie wissen ganz genau, dass Sie
sie vor Ort verhindert haben. Das ist mehr als traurig. In
all den Ländern, in denen wir Ausbaumaßnahmen vorha-
ben, sitzen Sie zum großen Teil mit in der Regierung.
Und das ist der Grund, warum es nicht vorangeht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sigmar Gabriel [SPD]: Nennen Sie doch einmal ein Beispiel! – Thomas Oppermann [SPD]: Haben Sie sonst keine Ausreden?)


Meine Damen und Herren, Gott sei Dank ist die
Stromversorgung in Deutschland zuverlässig. Sie funk-
tioniert. Laut der Bundesnetzagentur – und auch das
sollten Sie wissen, Herr Gabriel; Lesen bildet – ist es im
letzten Jahr insgesamt zu nur rund 15 Minuten Stromun-
terbrechung in Deutschland gekommen. Wir sind damit
Weltspitze. Es gibt kein einziges Land, in dem es so we-
nige Stromunterbrechungen gab wie bei uns. In den
USA waren es bis zu 500 Minuten, in Frankreich immer-
hin bis zu 100 Minuten. Die Qualität der Stromversor-
gung ist gut, und das ist in einem so hoch industrialisier-
ten Land wie unserem auch notwendig. Die
Chipindustrie in Deutschland könnte nicht funktionie-
ren, wenn es eine solch gute Stromversorgung nicht
gäbe.

Wir wissen aber auch ganz genau, dass aufgrund der
Maßnahme, die wir mit vollem Herzen ergriffen haben
– ich meine den Ausstieg aus der Kernenergie und das
Abschalten diverser Anlagen –,


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das sagen Sie mit vollem Herzen? Das ist ja wohl eine Lachnummer! – Sigmar Gabriel [SPD]: Herr Fuchs, das war Ihr Herzensprojekt?)


jetzt eine Kompensation her muss. Es nützt uns über-
haupt nichts, darüber zu diskutieren, dass im Jahre


(Thomas Oppermann [SPD]: Sie haben damals das Gegenteil behauptet!)


2020 der Anteil von erneuerbaren Energien bis zu
57 Prozent betragen kann, wenn wir nicht gleichzeitig si-
cherstellen, dass permanent Strom zur Verfügung steht.





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)


Denn es ist dummerweise so, dass der Wind nicht immer
weht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe mir einmal beispielhaft von der Bundesnetz-
agentur das Diagramm eines Tages ausdrucken lassen,
das ich Ihnen gerne zeige. Hier sehen Sie den geringen
Beitrag der erneuerbaren Energien zur Lastdeckung am
13. Februar 2013. Die kleine Fläche unten – das können
Sie sogar von Ihren Sitzen aus sehen – zeigt den Anteil
der erneuerbaren Energien.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Da sehen Sie einmal, wie viel wir noch zu tun haben!)


Die große Fläche darüber stellt den Anteil konventionel-
ler Energie dar, die erzeugt werden musste, weil dieser
Tag ein wunderschöner grauer Wintertag war, der Him-
mel voller Wolken und windstill. Es herrschte eine typi-
sche Inversionswetterlage, und diese Inversionswetter-
lage hatten wir in den letzten sechs Wochen leider
permanent. Das zeigt, dass wir nach wie vor einen ver-
nünftigen Kraftwerkspark brauchen, der in dem Moment
anspringt,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Den macht ihr doch kaputt!)


in dem keine erneuerbare Energie produziert wird. Die
einzige grundlastfähige erneuerbare Energie, die es über-
haupt gibt, ist die Biomasse. Alles andere ist nicht mach-
bar.

Und machen wir uns bitte auch nichts vor: Wir kön-
nen noch so viel darüber reden, aber in diesem Land ha-
ben wir keine Speicherkapazitäten. Eine Ausnahme sind
die paar Stauseen, die wir haben, und die wenigen Mög-
lichkeiten, mit Hochdruckwasserspeichern zu arbeiten.
Ich würde Ihnen in diesem Zusammenhang einmal raten,
nach Baden-Württemberg zu fahren; dort tragen Sie Re-
gierungsverantwortung. Fahren Sie doch einmal in den
Hotzenwald, und schauen Sie sich an, was Ihre Kollegen
dort machen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fahren Sie mal in die Eifel!)


Ihre Kollegen verhindern dort seit langer Zeit den Bau
eines großen Pumpspeicherwerkes, das uns bei der Si-
cherstellung der Versorgung helfen könnte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn an der Spitze dieser Bürgerinitiative?)


– Das ist doch Ihre Gegend. Das müssten Sie eigentlich
am besten wissen.

Dann sage ich Ihnen auch: Wir müssen beim Netzaus-
bau genau so weitermachen. Wer den Netzausbau will,
der muss auch dafür sorgen, dass er in allen Bundeslän-
dern umgesetzt wird: Der muss für die Thüringer Strom-
brücke sorgen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn in Thüringen an der Macht?)


Der muss auch in allen anderen Bereichen dafür sorgen,
dass es vorangeht. Das sollten wir schon gemeinsam tun.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722800500

Herr Kollege Fuchs, darf Ihnen der Kollege Krischer

eine Frage stellen?


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1722800600

Aber selbstverständlich.


(Rainer Brüderle [FDP]: Oh, jetzt kommt was Feines!)



Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722800700

Herr Fuchs, Sie haben gerade über Pumpspeicher-

kraftwerke gesprochen. Ist Ihnen bekannt, dass die
Firma Trianel ein Pumpspeicherkraftwerk in der Eifel
plant, Ihre Parteifreunde aber nicht bereit sind, ein er-
gebnisoffenes Genehmigungsverfahren zuzulassen, Ihre
Bürgermeister und Landräte den Bau dieses Pumpspei-
cherkraftwerks verhindern, ein Mitglied dieser Bundes-
regierung, in dessen Wahlkreis das geplante Pumpspei-
cherkraftwerk liegt, nicht bereit ist, einen Aufruf zu
unterzeichnen, wenigstens ein ergebnisoffenes Geneh-
migungsverfahren zuzulassen, weil man sich dem Popu-
lismus vor Ort anheimgibt und sich nicht traut, das
Kreuz gerade zu machen, um diese wichtige Maßnahme
für die Energiewende zu realisieren?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich frage Sie: Ist Ihnen das bekannt?


Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1722800800

Ich weiß, dass dieses Pumpspeicherkraftwerk geplant

wird. Wir warten jetzt als Allererstes eine vernünftige
Planung ab, die mit Ihrer Landesregierung erst einmal
abzustimmen ist.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


– Herr Krischer, jetzt hören Sie bitte genauso zu, wie ich
Ihnen staunend zugehört habe. – Ihre Landesregierung in
Rheinland-Pfalz hat beschlossen, autark zu werden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich komme aus Nordrhein-Westfalen!)


Eben wurde gesagt: Das wollen wir gar nicht. Wir wol-
len nicht 16 verschiedene Energieversorgungen. Im ent-
sprechenden Koalitionsvertrag steht – ich empfehle Ih-
nen das Lesen dieses Koalitionsvertrages –,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Beantworten Sie bitte die Frage!)


dass bis zum Jahre 2030 Rheinland-Pfalz autark sein
soll, und zwar mit einer Stromversorgung ausschließlich
aus erneuerbaren Energien. Gleichzeitig soll Rheinland-
Pfalz bei ausschließlicher Versorgung mit erneuerbaren
Energien auch noch zum Stromexporteur werden.





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)



(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage!)


Wir haben in Rheinland-Pfalz keine Möglichkeit, Energie
sinnvoll zu speichern. Das Trianel-Projekt wird dieses
Problem nie lösen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Verspargelung der Landschaft, Zerstörung von Land-
schaftsschutzgebieten – all das verursachen Sie.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Frage! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Verspargelung der Landschaft? Aha, Sie wollen Energie verhindern! Sehr schön!)


Es wird höchste Zeit, dass wir gemeinsam in diesem
Hohen Hause bereit sind, den Leitungsausbau stärker zu
unterstützen. Wir haben dazu jetzt die nötigen Gesetze.
Wir haben über den Netzentwicklungsplan entspre-
chende Möglichkeiten geschaffen. Wir haben auch eine
ganze Reihe von anderen Maßnahmen ergriffen. Gott sei
Dank haben wir beschlossen, dass es – Herr Bundes-
minister Rösler hat es eben gesagt – nur noch eine einzü-
gige Gerichtsbarkeit gibt. Das ist notwendig, damit wir
überhaupt so schnell wie möglich die Netze ausbauen.


(Zuruf des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Wenn wir das nicht tun, dann funktioniert die ganze
Energiewende nicht; denn was nützen uns die schönsten
Offshorewindanlagen, wenn der Strom nicht dahin
kommt, wo er gebraucht wird? Also, sorgen Sie an aller-
erster Stelle in den Bundesländern, in denen Sie Verant-
wortung tragen, dafür, dass auch dort der Netzausbau so
schnell wie möglich umgesetzt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage Ihnen eines: Es ist völlig richtig, dass die
Bundeskanzlerin in diesem Zusammenhang die Minis-
terpräsidenten eingeladen hat. Diese haben genauso viel
Verantwortung dafür zu tragen, dass die Energiewende
funktioniert. Sie funktioniert nur dann, wenn das ge-
meinsam geschieht, und zwar in allen Bereichen dieses
Landes. Wenn nicht jeder an seiner Stelle seine Arbeit
macht – ich habe das Gefühl, Sie glauben, wir könnten
das hier alleine machen, ohne dass die Bundesländer
mithelfen –,


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Rolf Hempelmann [SPD]: Das Gefühl habe ich gerade nicht!)


dann funktioniert das nicht. Eine solche Aufgabentei-
lung kann in unserem Land einfach nicht funktionieren.
Meine Damen und Herren, es wird Zeit, dass die Bun-
desländer das begreifen und ihre Blockadehaltung im
Bundesrat aufgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722800900

Für die Fraktion Die Linke hat der Kollege Dietmar

Bartsch nun das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Dietmar Bartsch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722801000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zunächst

freue ich mich, Herr Fuchs, dass Sie die Genossen der
KP so freundlich begrüßt haben. Das ist wirklich sehr
nett. Ich will mich dem ausdrücklich anschließen.


(Beifall bei der LINKEN – Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Gestatten Sie mir eine Vorbemerkung zu Herrn
Rösler. Herr Rösler, ich glaube, Sie waren noch zu sehr
im Parteitagsmodus der FDP. Sie haben auf Ihrem Par-
teitag die schöne Geschichte von Brüderle und Schwes-
terchen erzählt, die im Märchen sehr gut ausgeht. So wie
Sie allerdings an die Energiewende herangehen, wird
dieses Märchen leider nicht gut ausgehen. Sie regieren
seit vier Jahren. Wer sich die Ergebnisse anschaut, das,
was Sie gerade auch bei dem heutigen Thema vorzule-
gen haben, sieht, dass das wirklich mehr als dürftig ist.
Sie haben insgesamt dazu beigetragen, dass es bei den
Menschen und Unternehmen in diesem Land Verunsi-
cherung gibt.

Es wundert mich schon sehr, dass Herr Fuchs auf ein-
mal als Kämpfer für den Atomausstieg dasteht.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich habe das ein bisschen anders in Erinnerung: Da gab
es ein „Rein in die Kartoffeln, raus aus den Kartoffeln“.
All das ist schon sehr eigenartig.

Was wir heute in erster Lesung behandeln, hat mit ei-
nem verantwortungsbewussten Beitrag zur Energie-
wende sehr wenig zu tun. Man fragt sich sowieso immer:
Ist das die Bundesregierung? Ich habe gerade gehört,
dass Herr Altmaier und Herr Rösler gar nicht mehr zu-
sammen in den Umweltausschuss gehen, weil sie sich
dort wahrscheinlich beharken würden. Das ist also wirk-
lich sehr wenig Bundesregierung.

Im Kern handelt es sich schlicht und ergreifend um
einen Gesetzentwurf, durch den die Profite der Energie-
monopolisten und die Profite der Netzbetreiber weiter
abgesichert werden sollen. Denen ist es im Übrigen völ-
lig egal, welcher ökologische und welcher soziale Preis
für welche Energie bezahlt werden muss, die transpor-
tiert wird. Versorgungssicherheit übersetzt Schwarz-
Gelb letztlich mit Profitsicherheit.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich wissen auch wir: Energietransport braucht
moderne Netze. Da muss etwas geschehen. Aber wer die
Energiewende wirklich will, der muss dafür einen Plan
haben, auch was die Netze betrifft. Dabei muss das
Thema Energieverbrauchssenkung natürlich eine wich-
tige Rolle spielen. Dann kommt man aber im Ergebnis





Dr. Dietmar Bartsch


(A) (C)



(D)(B)


zu der Erkenntnis, so viel Netz wie nötig, und nicht, so
viel Netz wie möglich.


(Beifall bei der LINKEN)


In dem Gesetzentwurf geht es um Rechtswegeverkür-
zung und die Beschleunigung von Planungs- und Geneh-
migungsverfahren. Das alles ist durchaus sinnvoll, aber
löst letztlich kein grundsätzliches Problem. Die Bundes-
regierung hat eben keinen Plan, was die Energiewende
betrifft.

Sie reden hier davon, dass man sich mit den 16 Län-
dern ins Benehmen setzen muss. Aber es geht natürlich
nicht, dass die Bundesregierung ansagt und die Länder
zu folgen haben. Warum haben Sie eigentlich nicht die
Bundesratsstellungnahme vom Februar bei Ihrem Ge-
setzentwurf in irgendeiner Weise beachtet? Es gab auch
eine Stellungnahme auf Initiative des Bundeslandes der
Bundeskanzlerin, das zufälligerweise auch meines ist,
nämlich Mecklenburg-Vorpommern. Ist es Ignoranz oder
handwerkliche Schluderei, dass Sie das einfach nicht be-
achten? Es darf nicht heißen: „Die Bundesregierung sagt
an, und die Länder haben zu machen“, sondern das muss
gemeinsam umgesetzt werden. Sie müssen sich von die-
sem hohen Ross herunterbegeben.


(Beifall bei der LINKEN)


Mit diesem Gesetzentwurf lassen sich die schweren
politischen Fehler bei der Planung und Durchsetzung der
Energiewendepolitik nicht korrigieren. So stärkt man
nicht das dringend notwendige Vertrauen in die Energie-
wende, und man organisiert sich auch keine Unterstüt-
zung bei der Bevölkerung. Es gibt eher eine ganz große
Verunsicherung.

Die wahren Innovationsfeinde sitzen auf der Regie-
rungsbank. Was ist denn innovativ daran, eines der größ-
ten Zukunftsprojekte in Deutschland, den Umbau der
Stromerzeugung, zwar politisch auszurufen, aber dann
einfach zu hoffen, dass die notwendige Infrastruktur sich
quasi von alleine plant und baut? Was ist innovativ da-
ran, den großen Energiekonzernen in weiten Teilen diese
Planung zu überlassen, die schon betriebswirtschaftlich
keinen Grund sehen, die alten Kraftwerke der Konkur-
renz regenerativer Energien auszusetzen? Was ist inno-
vativ daran, die Netzplanung an den Bedürfnissen dieser
Konzerne und ihrer Lobbygruppen auszurichten, obwohl
technisch eine dezentralere Stromerzeugung in effektiven
Einheiten vor Ort, bürgernah, kostengünstig und flächen-
deckend möglich ist?


(Beifall bei der LINKEN)


Sie haben auch über Bürgerbeteiligung und Bürger-
interessen geredet. Ich habe einmal nachgelesen, was in
Ihrem Gesetzentwurf zu Ziel und Problemstellung steht.
Das kommt bei Ihnen überhaupt nicht vor.

Was das Thema Bezahlbarkeit angeht, will ich auf ei-
nes aufmerksam machen: Auf Seite 16 ist von einem
„Anstieg der Netzentgelte auf Übertragungsnetzebene
und damit auch der Strompreise“ die Rede. Das ist offen-
sichtlich ehrlich. Sie gehen davon aus, dass die Strom-
preise steigen. Das ist letztlich ein Offenbarungseid in

Ihrem eigenen Gesetzentwurf, dass Sie hier nichts tun
wollen und die Bürgerinnen und Bürger diejenigen sein
sollen, die letztlich die Energiewende bezahlen. Das
kann nicht sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will auf eines hinweisen: Sie haben in Ihren Ko-
alitionsvertrag hineingeschrieben, dass es eine unabhän-
gige Netzgesellschaft geben soll. Das ist ein vernünftiger
Ansatz. Das will die Linke auch. Wir wollen eine in öf-
fentlicher Hand befindliche Netzgesellschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Was ist in den vier Jahren passiert? Gar nichts ist pas-
siert. Sie haben nichts in diese Richtung gemacht. Da-
rum ist das, was sowohl SPD als auch Grüne vorschla-
gen, durchaus vernünftig. Wir wollen, dass alles, was
öffentliche Daseinsvorsorge betrifft, in öffentlicher Hand
ist. Das betrifft nicht nur die Bereiche Wohnen, Gesund-
heit und Bildung, sondern auch die Energienetze. Das
schreiben Sie zwar in Ihrem Koalitionsvertrag, aber Sie
brechen ihn ein weiteres Mal.

Die Energiewendepolitik muss letztlich vom Kopf auf
die Füße gestellt werden. Die Frage ist: Wollen wir de-
zentrale Energieversorgung in Bürgerhand, oder erhalten
wir die Macht der großen Vier? Es geht dabei nicht an,
zu sagen: Die Bürgerinnen und Bürger dürfen die Ener-
giewende bezahlen. Es muss vielmehr darum gehen, zu
rekommunalisieren und auch die Neuvergabe von Netz-
konzessionen durchzusetzen sowie vieles andere mehr.

Deswegen sage ich ganz klar und eindeutig: Die
Energiewende ist bei dieser Koalition in schlechten Hän-
den und in falschen Händen. Statt einer Politik, mit der
Vertrauen zurückgewonnen werden kann,


(Zuruf des Abg. Dr. Michael Fuchs [CDU/ CSU])


betreiben Sie eine Politik, der alles zuzutrauen ist. Statt
den Menschen Sicherheit zu geben, dass sie morgen
noch Strom, Wasser und Gas bezahlen können, sorgen
Sie sich um die Profite der Energiemonopolisten und der
Netzbetreiber. Diese Politik, meine Damen und Herren,
muss im Herbst abgewählt werden.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1722801100

Das Wort erhält nun der Kollege Klaus Breil für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Die Latte liegt niedrig nach Fuchs und Rösler, Herr Breil! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt ist Ihre Stunde, Herr Breil!)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1722801200

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Ja, die Latte liegt hoch.





Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)



(Zurufe von der SPD und vom BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Nein, niedrig!)


Aber ich habe viel Sport in meinem Leben gemacht. Ich
bemühe mich immer, auch die Höhen zu erreichen.

Herr Dr. Bartsch, eine Bemerkung vorab: Die Ener-
giewende ist bei dieser christlich-liberalen Koalition in
guten Händen. Ich widerspreche Ihnen ausdrücklich.


(Beifall bei der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Gut, dass das wenigstens einer glaubt!)


„Ja zum Netzausbau. Damit die Energiewende ge-
lingt.“ Das ist der Titel, unter dem die Bundesregierung
mit ihrer Informationsinitiative den Bürgerinnen und
Bürgern bundesweit die Dringlichkeit des Netzausbaus
in Deutschland näherbringt; denn nur mit neuen Strom-
leitungen können wir erneuerbare Energien überall
nutzen. Doch diese Kampagne in Zeitungen sowie an
Hauswänden und Bushaltestellen ist nur das Sichtbare,
sozusagen das, was nach außen passiert. Tatsächlich aber
haben die Bundesregierung sowie die christlich-liberale
Koalition schon eine ganze Reihe von Gesetzen für den
schnelleren Ausbau unserer Stromautobahnen beschlos-
sen und damit zur Erreichung des Zieldreiecks Bezahl-
barkeit, Versorgungssicherheit und Umweltverträglich-
keit beigetragen.

Gestatten Sie mir einen kleinen Exkurs. Einige von
uns haben gestern an der Veranstaltung der AmCham,
der amerikanischen Handelskammer, teilgenommen.
Dort hat der CEO einer europäischen Tochtergesell-
schaft eines großen amerikanischen Grundstoffprodu-
zenten der Chemieindustrie ausgeführt, welche Investi-
tionen die Unternehmen für die Zukunft planen. Wenn
wir nicht darauf achten, dass die Energiepreise in
Deutschland bezahlbar bleiben, dann gehen an uns mit-
telfristig und langfristig wichtige Investitionen vorbei.
Deshalb muss das EEG dringend reformiert werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zurück zu den Netzen. Wir sind mit dem Netzaus-
baubeschleunigungsgesetz einen großen Schritt hin zu
kompakteren Planungs- und Genehmigungsverfahren
gegangen. Meine Damen und Herren von der Opposi-
tion, Rot-Grün hat zwar das EEG auf den Weg gebracht,
aber die spätere Entfaltung völlig unterschätzt und für
den Netzausbau nichts getan.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Klaus, jetzt hast du die Latte gerissen!)


Das holen wir nun nach. Erst wir haben im Energiewirt-
schaftsgesetz ein neues, strukturiertes und nachvoll-
ziehbares Verfahren zur Planung des Netzausbaubedarfs
eingeführt. Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes über
Maßnahmen zur Beschleunigung des Netzausbaus Elek-
trizitätsnetze, über das wir heute in erster Lesung bera-
ten, ist Teil davon. Insgesamt öffnen wir den Prozess der
Netzplanung durch zahlreiche Beteiligungsmöglichkei-
ten einer interessierten Öffentlichkeit. Das ist unser
oberster Grundsatz.

Auf Grundlage der angesprochenen Gesetze haben
die vier Übertragungsnetzbetreiber schon Mitte des letz-
ten Jahres den Netzausbaubedarf errechnet. Die Ergeb-
nisse haben scheinbar reflexartig zu viel Kritik aus den
Reihen der Opposition geführt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Es geht nichts über gesunde Reflexe!)


An dieser Stelle sei mir noch ein deutlicher Hinweis
in Richtung Opposition erlaubt: Aus Ihren Reihen spre-
chen noch immer ein paar Unbelehrbare im Energiebe-
reich von Konzernen, auch bei den Übertragungsnetzbe-
treibern, und sie suggerieren damit der Öffentlichkeit,
dass diese Unternehmen nur daran interessiert seien,
Atom- und Kohlestrom zu transportieren, und dass sie
nur dafür so viele Netze und Leitungen bräuchten.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Jetzt aber mal konkrete Tatsachen!)


Zu den Fakten: Das Übertragungsnetz mit 50 Hertz
gehört zu 40 Prozent dem australischen Infrastruktur-
fonds IFM; 60 Prozent gehören einem niederländischen
Netzbetreiber. Das Übertragungsnetz von Amprion ge-
hört unter der Führung der Commerzbank mehreren Un-
ternehmen aus der Versicherungsbranche. Das Übertra-
gungsnetz von TenneT gehört der deutschen Tochter
eines niederländischen Staatsunternehmens. Das Über-
tragungsnetz von TransnetBW ist eine 100-prozentige
Tochter von EnBW, dessen Hauptanteilseigner das rot-
grün geführte Baden-Württemberg ist.

Meine Damen und Herren von der Opposition, sind
das für Sie nicht Hinweise genug, dass dort in den Unter-
nehmen keine Lobbyisten alter Energiestrukturen mehr
sitzen und Sie mit Ihrem notorischen Misstrauen gegen-
über Unternehmen vollkommen falsch liegen?


(Beifall des Abg. Dr. Edmund Peter Geisen [FDP] – Rolf Hempelmann [SPD]: Es geht um Kapitalkraft!)


Oder machen Sie das ebenso mit Absicht wie Claudia
Roth, die der Öffentlichkeit am Montag weismachen
wollte, dass 16 000 Menschen an den Folgen der Atom-
katastrophe von Fukushima starben?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wird jetzt der Atomausstieg wieder relativiert? – Rainer Brüderle [FDP]: Unmöglich!)


Frau Roth, Sie haben damit in den sozialen Netzwerken
nicht nur einen Shitstorm – Frau Präsidentin, Sie erlau-
ben mir bitte diesen Ausdruck –, sondern einen Tsunami
ausgelöst.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist geschmacklos!)


Meine Damen und Herren von der Opposition, Ihr Ar-
gument, dass die Übertragungsnetzbetreiber absichtlich
den Netzbedarf zu hoch veranschlagen, um die Energie-
wende teuer zu machen, ist ein Musterbeispiel für Ihren
systematischen Populismus.





Klaus Breil


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es geht um Baurecht. Baurecht ist Ländersache, und Ihre
Freunde in den Landesregierungen sind dringend aufge-
rufen, konstruktiv hier mitzuwirken, dass es schneller
geht.


(Beifall bei der FDP)


Ich möchte auf den Ablauf des jetzt etablierten struktu-
rierten Verfahrens zum Netzausbau zurückkommen. Der
von den Übertragungsnetzbetreibern berechnete Netzaus-
baubedarf wurde der Öffentlichkeit vorgestellt. Mehr als
2 100 Akteure nahmen zum NEP 2012 ausführlich Stel-
lung. Dann überprüfte die Bundesnetzagentur gemeinsam
mit Wissenschaftlern die Plausibilität der Ergebnisse und
lud zu weiteren Konsultationen. Insgesamt kamen bei
dem Konsultationsverfahren weit über 5 000 Stellung-
nahmen zusammen; diese wurden ausgewertet. Letztes
Jahr, Ende November, lag der Netzentwicklungsplan
2012, kurz: NEP 2012, vor. Er wurde der Bundesregie-
rung als Entwurf für einen Bundesbedarfsplan präsen-
tiert.

Als Vorhaben des Bundesbedarfsplans definieren wir
in dem heute zu beratenden Gesetzentwurf solche Vorha-
ben, für die die energiewirtschaftliche Notwendigkeit
und der vordringliche Bedarf bestehen. Wir verkürzen
außerdem im Interesse der zügigen Umsetzung des Ener-
giekonzepts der Bundesregierung


(Rolf Hempelmann [SPD]: Welches Energiekonzept? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das für 2010, oder was?)


mit dem heute zu beratenden Gesetz zur Beschleunigung
der Realisierung der Vorhaben den Rechtsweg, ohne die
Rechte der Bürgerinnen und Bürger zu beschneiden. Da-
bei wird die Transparenz des Verfahrens natürlich voll-
ständig beibehalten. Das Bundesverwaltungsgericht
wird zukünftig als erste und letzte Instanz für Rechts-
streitigkeiten in Bezug auf Vorhaben des Bundesbedarfs-
plans zuständig sein.

Meine Damen und Herren, mit dem Bundesbedarfs-
plangesetz gehen wir den letzten legislativen Schritt für
einen strukturierten, schnellen und vor allem kontinuier-
lichen Netzausbau mit umfassender Bürgerbeteiligung;
ich wiederhole: im Interesse der zügigen Umsetzung des
Energiekonzepts der Bundesregierung.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Und in dem Tempo wie bisher?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722801300

Herr Kollege.


Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1722801400

Ich komme zum Schluss. – „Kontinuierlich“ sage ich

deswegen, da gerade erst Anfang März der Entwurf für
den NEP 2013 sowie der Offshorenetzentwicklungsplan,
der sogenannte ONEP, von den Übertragungsnetzbetrei-
bern vorgelegt wurde.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722801500

Bärbel Höhn hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722801600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben eben ein seltsames Schauspiel erlebt. Diese
Regierung hat wie keine andere Regierung zuvor Pla-
nungsunsicherheit geschaffen.


(Horst Meierhofer [FDP]: Dosenpfand!)


Denn Sie sind dafür verantwortlich: rein in die Atom-
kraft, raus aus der Atomkraft. Die Laufzeitverlängerung
war eine absolute Fehlentscheidung, was die Energie-
wende angeht.

Diese Bundesregierung gefährdet in unserem Land
Arbeitsplätze im Bereich der Energiewende, die Riesen-
chancen bietet. Schwarz-Gelb vergeigt die Energie-
wende. Schwarz-Gelb gefährdet Arbeitsplätze in diesem
Land. Herr Rösler, das haben Sie mit dieser Rede nicht
wiedergutmachen können. Sie haben gezeigt, dass Sie es
nicht können. Das wissen wir nun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie haben einen Gesetzentwurf zur Beschleunigung
des Netzausbaus vorgelegt. In der Funktion als Wirt-
schaftsminister sind Sie zwar noch nicht so lange im
Amt. Aber der neue Spitzenkandidat der FDP war zuvor
für das Wirtschaftsministerium verantwortlich.

Im Koalitionsvertrag haben Sie festgeschrieben, dass
der Netzausbau eine wichtige Sache ist. Herr Brüderle
hat gesagt, das habe höchste Priorität. Herr Rösler, Sie
haben versprochen, dass Sie liefern wollen. Was haben
Sie aber geliefert? Sie selbst sagen, 2 900 Kilometer
Netz müssten ertüchtigt werden, 2 800 Kilometer müss-
ten neu gebaut werden. Sie haben aber noch nicht einmal
300 Kilometer geschafft. Sie haben nicht nur nicht gelie-
fert; Sie haben auch noch Schrott geliefert, Herr Rösler.
An diesen Fakten und an nicht mehr und nicht weniger
werden Sie gemessen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Was Sie abgeliefert haben, führt zu einem dramati-
schen Debakel. Die Windparks sind bis heute nicht ange-
schlossen. Das hat gravierende Folgen. Denn dadurch
werden Haftungskosten fällig. Was machen Sie aber?
Anstatt das Problem zu lösen, wälzen Sie diese Haf-
tungskosten, die tendenziell steigen, auf die Bevölke-
rung ab. Damit sind Sie verantwortlich für Energiepreis-
steigerungen, die die Bevölkerung treffen, Herr Rösler.
Sie haben die Strompreise für die Bevölkerung nach
oben getrieben, weil Sie keine richtige Politik betreiben
und weil Sie nicht dafür sorgen, dass die Windkraftanla-
gen angeschlossen werden können.





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Horst Meierhofer [FDP]: Ich hoffe, Sie sind katholisch, dass Sie beichten können!)


Wenn Sie etwas machen, dann machen Sie das Fal-
sche. Schauen wir uns einmal das Erneuerbare-Energien-
Gesetz an. Hierzu hat der Kollege Altmaier einen Vor-
schlag vorgelegt. Er hat gesagt, dass wir etwas ändern
müssen, weil die Kosten zu hoch sind. Herr Rösler, in ei-
nem Vermerk aus Ihrem Ministerium steht zu den vorge-
schlagenen Änderungen von Herrn Altmaier: Das bedeu-
tet den faktischen Ausbaustopp für Neuanlagen. – Damit
hat Ihr Ministerium recht. Anstatt das abzumildern, weil
Sie eigentlich erneuerbare Energien fördern müssten, le-
gen Sie noch einen drauf, machen noch mehr Ausbau-
stopp und sagen, dass das ein Weg ist, mit dem Sie ein-
verstanden sind.

Herr Fuchs hat sich vorhin versprochen. Es ist nett,
dass Sie hin und wieder ehrlich sind, Herr Fuchs. Sie ha-
ben sich gegen eine Verspargelung der Landschaft aus-
gesprochen. Das ist aber genau die Wirkung der Vor-
schläge, die hier gemacht worden sind. Bei der
Windkraft sollen 40 Millionen Euro eingespart werden.
Das sind gerade einmal 3 Cent pro Monat für einen Drei-
bis Vierpersonenhaushalt. Wegen 40 Millionen Euro im
Jahr wollen Altmaier und Rösler die Windkraft im Sü-
den stoppen. Damit gefährdet diese Regierung massiv
Arbeitsplätze im Süden. Das ist nicht in Ordnung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das nächste Opfer sind die Windkraftanlagen auf dem
Meer. Diese geplanten Windkraftanlagen werden nicht
gebaut werden. EnBW beispielsweise hat klar gesagt,
die geplanten Windkraftprojekte im Meer nicht umzuset-
zen.

Zunächst einmal haben Sie mit dem Erneuerbare-
Energien-Gesetz die Photovoltaikindustrie kaputtge-
macht. Jetzt versuchen Sie auch noch, die Windkraftin-
dustrie kaputtzumachen. Herr Rösler, das ist ein schlech-
tes Zeugnis für einen Wirtschaftsminister. Ich komme
aus Nordrhein-Westfalen. Wenn Sie die Windkraft ka-
puttmachen, zerstören Sie Arbeitsplätze in Nordrhein-
Westfalen. Das wissen Sie sehr genau. Daher lassen Sie
endlich von der Politik ab, Arbeitsplätze in diesem Land
zu vernichten! Das ist nicht die Aufgabe des Wirt-
schaftsministers.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Was habt ihr denn gemacht? Überall Arbeitsplätze vernichtet!)


Sie feiern einen Bundesnetzplan. Dann verhindern
Sie, dass Windparks, die an diese Netze angeschlossen
werden sollen, gebaut werden können. Das heißt, es wer-
den Netze ins Nirgendwo gebaut, und am Ende zahlen
wieder die Verbraucherinnen und Verbraucher die Ze-
che. So geht es nicht.

Der nächste Punkt betrifft die Energieeffizienz. Diese
Bundesregierung ist der größte Blockierer, was Energie-
effizienz angeht.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nein! Frau Kraft!)


Nie zuvor sind die Ziele der EU so blockiert worden, wie
es diese Bundesregierung macht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben die Einführung von Energiemanagementsyste-
men verhindert. Sie sorgen zum Beispiel dafür, dass die
wenigen Gelder, die wir noch im Energie- und Klima-
fonds haben – 90 Millionen Euro –, nicht in den Bereich
Energieeffizienz abfließen, weil die Rahmenbedingun-
gen nicht stimmen. Am Ende sagen Sie: Okay, wir rei-
ßen das Ziel der EU, bis 2020 20 Prozent Energie einzu-
sparen. Wir machen es wie beim Reichtums- und
Armutsbericht und schönen die Zahlen; dann wird das
Ganze schon hinkommen. – Wir werden Ihnen nicht
durchgehen lassen, dass Sie die Realität schönen, son-
dern werden Sie für diese Realität verantwortlich ma-
chen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der nächste Punkt ist der Klimaschutz. Da ist es wirk-
lich so, dass diese Bundesregierung an einem Strick
zieht, aber jeder an einem anderen Ende. Da kommt
nichts voran. Die Folge dessen ist, dass der CO2-Ausstoß
in Deutschland 2012 – nicht 2011, als die Atomkraft-
werke abgeschaltet worden sind – wegen des wenig am-
bitionierten Klimaschutzes erstmals wieder gestiegen ist.
Jetzt laufen Kohlekraftwerke, und die modernsten Gas-
kraftwerke liegen still.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Die Folge der erneuerbaren Energien!)


Das ist eine Fehlpolitik Ihrer Regierung. Sie haben zu
verantworten, dass im Klimaschutz nichts mehr passiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie bremsen den Ausbau der erneuerbaren Energien.
Sie blockieren die Steigerung der Energieeffizienz. Sie
betreiben beim Klimaschutz eine Totalverweigerung. Sie
entlasten die Industrie und schieben damit den Verbrau-
chern die Kosten zu.

Es gibt einen Satz – wir konnten ihn vor kurzem hö-
ren –, der Ihre Politik insgesamt beschreibt. Der Kollege
Brüderle hat auf dem Parteitag gesagt – das passt, wie
ich finde, genau auf die Politik dieser Bundesregierung
und der FDP –: „Wir lassen nicht diese Fuzzis … unser
Land regieren.“ Genau richtig: Diese Fuzzis, die die
Energiewende vergeigen, lassen wir dieses Land nicht
regieren, meine Damen und Herren.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722801700

Frau Höhn.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722801800

Wir ändern das.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722801900

Der Kollege Dr. Georg Nüßlein hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Horst Meierhofer [FDP])



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1722802000

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren! Ich

habe mir gerade überlegt, was denn draußen in der ge-
schätzten Öffentlichkeit gedacht wird, wenn wir uns hier
gegenseitig die Schuld zuweisen. Ich bin auch dafür be-
kannt, dass ich mich ganz gern in die eine oder andere
politische Rauferei einmische und dies auch mit großer
Freude und Leidenschaft tue. Aber das, was wir hier tun,
nämlich weit weg von Lösungen zu diskutieren, ist et-
was, das draußen sicher irritiert. Wenn es dann irgend-
wann abstrus wird, dann wird es, glaube ich, noch
schlimmer.

Frau Höhn, Sie sprechen hier von „Arbeitsplatzver-
nichtung“.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Ich will betonen: Am Ende Ihrer Regierungszeit hatten
wir 5,5 Millionen Arbeitslose, jetzt annähernd die
Hälfte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Man muss doch einmal sagen, wie da die Welt aussieht.
Man kann uns viel vorhalten. Aber uns und dem Wirt-
schaftsminister vorzuhalten, wir würden „Arbeitsplatz-
vernichtung“ betreiben,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, tun Sie! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das machen Sie doch!)


verkennt doch die Tatsachen und ist so weit weg von der
Realität, dass einem gar nichts einfällt, was man dazu sa-
gen soll.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich würde mir wünschen, meine Damen und Herren,
dass wir bei allem Wahlkampfgeplänkel einfach mal
feststellen – das ist das Einfachste –: Dieses Projekt ist
nicht trivial; es ist ein schwieriges Projekt, wenn man so
will, ein Generationenprojekt.

Ein Beispiel, das Sie gebracht haben, eignet sich ganz
gut, um dies aufzuzeigen: die Offshoreanbindung. Sie
machen es sich leicht und sagen: Ihr habt da um die
Frage der Haftung und was auch immer gerungen. Sie
sagen weiter, angeblich sei es schiefgegangen – ich be-
streite das –, und jetzt müsse man teuer dafür zahlen,
dass es einen Verzug bei der Anbindung der Offshore-
parks gibt. Die Realität sieht momentan aber ganz anders
aus. Ich empfehle Ihnen: Sprechen Sie mit den Akteu-
ren!

Aktuell gibt es folgende Situation: Wir bauen Leitun-
gen, aber die anderen Akteure kommen ihrem Verspre-
chen, Windräder aufzustellen, nicht nach, weil sie nicht
über die entsprechenden Kapazitäten verfügen. Wir wer-
den also in Zukunft Plattformen im Meer haben, aber
keine Windräder darauf. Ich sage das deshalb, meine Da-
men und Herren, weil ich zeigen will, dass die Realität
viel komplizierter ist als die einfache, platte Diskussion,
die wir leider Gottes hier im Deutschen Bundestag füh-
ren.

Ich weise auch darauf hin, dass wir immer gesagt ha-
ben: Das Ganze wird nicht nur kompliziert, sondern
auch teuer. – Ich gebe für meinen Teil offen zu, dass ich
damals für die Laufzeitverlängerung war, weil ich der
festen Überzeugung war: Wir brauchen die Laufzeitver-
längerung, weil wir Zeit und Geld für den Ausbau der er-
neuerbaren Energien benötigen. Nun hat Fukushima die
Sachlage geändert. Man war dann an dem Punkt, dass
man demokratisch entscheiden musste: Wir schlagen ei-
nen anderen Weg ein. – Das war eine demokratische Ent-
scheidung. Die hat aber doch an unserer Motivation, uns
mit dem Kostenthema zu beschäftigen, nichts geändert.

Mir tut es heute noch in der Seele weh, dass man sich
hier teilweise als Atomkraftlobbyist beschimpfen lassen
musste. Das ärgert mich, das sage ich Ihnen ganz offen.
Uns ist es immer um die Wirtschaft gegangen, also um
die Frage: Wie finanzieren wir denn das Ganze?

Natürlich fallen auch mir massenweise Vorwürfe ein.
Ich könnte sagen: Sie – die Grünen als Erste – haben so
getan, als ginge das alles zum Nulltarif. Ich nehme an,
dass viele von Ihnen alte Club-of-Rome-Vorhersagen im
Kopf hatten, die besagten, dass die fossilen Brennstoffe
einmal so teuer würden, dass die erneuerbaren Energien
wettbewerbsfähig sind. Ich könnte auch sagen: Sie ha-
ben den Sprengsatz an das EEG dadurch gelegt, dass Sie
mit der Photovoltaik zu früh und zu teuer an den Markt
gegangen sind, was jetzt riesige Kosten verursacht, die
wir als Rucksack mit uns herumschleppen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: In Ihrer Zeit sind die Mengen an Photovoltaikenergie explodiert!)


Aber das ist Schnee von gestern. Wir müssen uns
doch jetzt damit beschäftigen, wie die ganze Geschichte
weitergehen kann. Ich sage Ihnen auch: Man kann in-
haltlich zu der Strompreisbremse von Peter Altmaier und
Herrn Rösler stehen, wie man will.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das war jetzt eine harte Kritik!)


Aber zumindest sind doch auf Ihrer Seite ein paar Kolle-
gen aufgewacht.


(Sven-Christian Kindler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für eine Aussage?)


Die SPD hat plötzlich gemerkt: Es geht um ein soziales
Problem. Herr Gabriel hat zu meiner großen Überra-
schung und Freude jetzt angesprochen, dass es auch um
ein industriepolitisches Problem geht. Klar! Aber, Herr





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


Gabriel, Sie haben es zugelassen, dass der Herr Trittin
durch die Lande zieht und sagt – teilweise mit verloge-
nen Argumenten –, wir hätten da ungerechtfertigte Be-
freiungen ausgesprochen und würden die Industrie be-
günstigen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie doch! – Sigmar Gabriel [SPD]: Das sage auch ich!)


Ich bitte Sie dringend, dieses industriepolitische Thema
auch einmal bei den Grünen zu verankern.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Hähnchenmastanlagen sind keine Industrie! – Susanne Kieckbusch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und Arbeitsplätze und Mittelstand!)


Sie haben heute hier eine Lösung angeboten: die
Mehrwertsteuer auf die EEG-Umlage abzuschaffen.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Nein!)


– So habe ich es verstanden. Sie haben gesagt: Reden
wir an der Stelle über die Mehrwertsteuer.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Nein!)


– Doch.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Zuhören!)


Sie haben an der Stelle klipp und klar von der Mehrwert-
steuer gesprochen.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Nein! Lesen Sie es einfach einmal nach!)


Das ist ein Punkt, bei dem ich mich frage, wie die Län-
der darauf reagieren werden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Sie kassieren nämlich knapp die Hälfte der Einnahmen
aus der Mehrwertsteuer.


(Zuruf des Abg. Ulrich Kelber [SPD])


Auch wenn man sie, was noch europapolitisch ginge, auf
einen niedrigeren Satz reduzieren würde, weiß ich doch,
was die Länder am Schluss von dem halten, was Sie hier
predigen – das ist doch bei der Stromsteuer dieselbe
Thematik –: nämlich gar nichts. Der Kollege Fuchs hat
deutlich darauf hingewiesen, wie groß die Freude und
Spendabilität auf Ihrer Seite war, als es darum ging, bei
der Energieeffizienz Steuervorteile bzw. Steueranreize
zu schaffen. Da war bei Ihnen nichts zu holen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Wir wollten uns doch keine gegenseitigen Vorwürfe machen!)


Ich sage es Ihnen ganz offen: Das wird bei diesem
Thema wohl genauso sein.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich will jetzt nicht über die Strompreisbremse spre-
chen,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Tun Sie es doch! – Rolf Hempelmann [SPD]: Das wäre zu peinlich!)


weil wir hier ja über Infrastruktur reden. Das ist nämlich
das, was jetzt auf der Tagesordnung steht. Ich will Ihnen
aber auch sagen: Wir vonseiten der CSU werden natür-
lich dafür sorgen, dass es keine Eingriffe in Bestands-
anlagen geben wird, weil wir bei diesem Thema Verläss-
lichkeit brauchen. So viel kann man an der Stelle sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sehr gut! Bravo!)


Aber es ist ja ein Verhandlungsangebot des Ministers
gewesen, und über das muss man natürlich reden und
diskutieren. Das parlamentarische Verfahren ist so, wie
es ist.

Nun war Bayern hier mehrfach Thema, und ein CSU-
Abgeordneter vertritt natürlich zuallererst seine Heimat,
also Bayern.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aha!)


Man kann natürlich sagen, dass es in Bayern immer ei-
nen gewissen Separatismus gibt. Das mag man vielleicht
so sehen wollen.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Nein! Das ist in Ordnung!)


– Herr Gabriel, da fallen mir genügend Gründe ein, zum
Beispiel dass es den Bayern langsam stinkt, wenn sie
den Rest der Republik finanzieren müssen.


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Aber dass man uns dann noch gewissermaßen juvenile
Autarkiefantasien unterstellt, das halte ich schon für ei-
gentümlich.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Das ist ein Zitat von Herrn Seehofer!)


Was hat denn der bayerische Ministerpräsident gesagt?
Er hat gesagt: Wir brauchen natürlich Wertschöpfung im
Land: im Bereich der erneuerbaren Energien, aber natür-
lich auch im Bereich der Gaskraftanlagen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja! Bravo!)


Das brauchen wir: Wertschöpfung im Land. Ich bitte,
zumindest wenn es um die erneuerbaren Energien geht,
diejenigen, die etwas davon verstehen, anzuerkennen,
dass wir einen gewissen regionalen Ausgleich brauchen.
Es macht doch keinen Sinn, im Norden die Strompro-
duktion zu konzentrieren und uns dann mühsam zu über-
legen, wie man den Strom dorthin bringt, wo er ge-
braucht wird, nämlich im Süden. Das ist doch nicht das
eigentliche Anliegen.

Ich sage Ihnen an dieser Stelle auch: Ich für meinen
Teil weiß aufgrund der Historie, dass Bayern diesen
wirtschaftlichen Aufstieg einer Entscheidung in den
1960er- und 1970er-Jahren verdankt.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Dem Länderfinanzausgleich!)






Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


– Dem Länderfinanzausgleich auch. Aber das, was wir
mal bekommen haben, zahlen wir jetzt zurück, und zwar
komplett, in einem Jahr.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Ist doch in Ordnung! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Täter-OpferAusgleich!)


Das Ganze ist der Tatsache geschuldet, dass kluge
Politik entschieden hat – übrigens hat dies auch die SPD
entschieden –, dass wir im Süden eine eigene Energie-
versorgung brauchen. Nun kann man darüber diskutie-
ren, ob es damals richtig war, auf die Kernenergie zu set-
zen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Die Diskussion haben wir, glaube ich, abgeschlossen!)


Das ist Schnee von gestern. Jetzt aber müssen wir Über-
legungen zur Wertschöpfung vor Ort, also im Süden, an-
stellen und darüber, wie es uns gelingt, über die Netze
den Strom von Norden nach Süden zu transportieren.
Das ist doch eine zentrale Fragestellung. Sie zu behan-
deln, haben wir wenig Zeit; schließlich werden Grafen-
rheinfeld 2015 und Gundremmingen Block B 2017 ab-
geschaltet.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müssen Sie im Süden Windkraftanlagen bauen und diese nicht blockieren!)


Wissen Sie, was das letztendlich bedeutet?


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722802100

Herr Kollege, möchten Sie noch eine Zwischenfrage

des Kollegen Kelber zulassen?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1722802200

Ja, gern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722802300

Bitte.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Der Nüßlein ist doch unterkomplex!)



Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1722802400

Wir reden ja über Versorgungssicherheit. Gerade in

dem Augenblick, als ich mich zu meiner Zwischenfrage
meldete, haben Sie Grafenrheinfeld erwähnt. Gestern be-
kamen wir aus Sachsen-Anhalt und Thüringen die Mel-
dung, dass dort in 2012 die im Hinblick auf die Abschal-
tung von Grafenrheinfeld notwendige Verstärkung der
Netze abgeschlossen wurde. Können Sie mir die Frage
beantworten, warum man bei diesem in mehreren Bun-
desländern gleichzeitig begonnenen Projekt in zwei
Bundesländern bereits fertig ist, während in Bayern sei-
tens der Bayerischen Staatsregierung noch nicht einmal
das Genehmigungsverfahren gestartet wurde?


Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1722802500

Ich kann Ihnen an dieser Stelle keine Fragen für die

Bayerische Staatsregierung beantworten; das wissen Sie
genau.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind doch aus Bayern! Haben Sie doch gerade gesagt! – Rolf Hempelmann [SPD]: Das interessiert Sie auch nicht richtig!)


Aber Sie können sich, was den Freistaat angeht, da-
rauf verlassen, dass hier von den richtigen Leuten die
bayerischen Interessen so vertreten werden, dass dieses
Problem gelöst sein wird, bis wir den Strom aus dem
Norden brauchen. An uns wird das sicher nicht schei-
tern. Sie wissen sehr genau – da wird es kein Problem
geben –, dass wir in Bayern die Durchsetzungskraft ha-
ben, die Ihnen in anderen Ländern in großem Maße fehlt.

Ich kann mit Blick auf meine Redezeit leider nicht
mehr all das aufzählen, was für den Netzausbau gemacht
wurde.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das haben wir gerade gemerkt!)


– Ich muss es Ihnen auch nicht vorlesen, weil Sie es ja
wissen. Sie bestreiten vorsätzlich, es zu wissen. Sie tun
so, als ob wir da in Verzug wären, weil es Ihnen um
Wahlkampferfolge geht.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das sehen nicht nur wir so! Das stellen alle fest!)


Dem Thema wird das nicht gerecht. Eigentlich müssten
Sie anerkennen, dass wir im Plan sind, dass wir Bauzei-
ten beschleunigen, dass wir Pläne vorantreiben und Ab-
stimmungen vornehmen. Das Ganze geht letztendlich
voran. Eigentlich müssten Sie Respekt vor dieser Bun-
desregierung haben. Diesen Respekt werden Ihnen dem-
nächst die Wähler wieder einflößen.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Eine peinliche Rede!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722802600

Der Kollege Rolf Hempelmann hat jetzt das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1722802700

Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Es ist schon länger klar, dass in dieser
Kernzeit ein energiepolitisches Thema, von der Opposi-
tion aufgesetzt, diskutiert werden soll. Vor einigen Tagen
erreichte uns die Nachricht, dass der Wirtschaftsminister
eine Regierungserklärung dazu abgeben will. Ich habe
das erst gar nicht glauben wollen und habe gedacht:
Mensch, hat er jetzt, nachdem der niedersächsische
CDU-Wähler ihm praktisch die Wiederwahl als FDP-
Vorsitzender gesichert hat, die Kraft gewonnen, hier ein
umfassendes Geständnis abzulegen?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Das stimmt! Regierungsgeständnis! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie sind ein richtiger Scherzkeks!)






Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


Es wäre ja an der Zeit, und er würde so eine Basis dafür
schaffen, dass es dann wirklich vorangehen kann. Aber
nein, er war wie immer: Vollmundig hat er behauptet,
dass a) alles das, was zurzeit tatsächlich falsch läuft, na-
türlich in der Verantwortung der Opposition liege und
dass b) ansonsten die Regierung voll auf Kurs und äu-
ßerst erfolgreich sei. Lieber Herr Rösler, vielleicht soll-
ten Sie doch wenigstens einmal versuchen, die Realität
zur Kenntnis zu nehmen.

Ich war in der letzten Woche in Brüssel. An dem Tag,
als ich in Brüssel war, erklärte das OLG Düsseldorf Ihre
Netzentgeltverordnung für verfassungswidrig. Mit die-
ser Netzentgeltverordnung entlasten Sie nach Auffas-
sung des Gerichtes einen Kreis von Unternehmen, der
diese Entlastung nicht verdient. Das OLG hat nicht
grundsätzlich Entlastungen kritisiert, sondern die Art
und Weise, wie Sie damit umgehen. Am gleichen Tag
hat in Brüssel die Europäische Kommission ein Verfah-
ren gegen diese Netzentgeltverordnung aus den gleichen
Gründen eröffnet. Sie können doch niemandem vorma-
chen, dass Sie eine erfolgreiche Politik für die deutsche
Industrie machen, wenn Sie mit Ihren Konzepten gegen
die Wand laufen. Sie laufen damit im Übrigen auch Ge-
fahr, dass Sie dann, wenn das Hauptverfahren in der Sa-
che offiziell eröffnet wird, überhaupt keine Entlastungen
mehr vornehmen dürfen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Also, Herr Minister, ein bisschen mehr Selbstkritik ist
angesagt. Ihr Haus arbeitet übrigens schon an einer No-
velle dieser Netzentgeltverordnung. Wenn diese in eine
Richtung geht, die von Düsseldorf und Brüssel eingefor-
dert worden ist, dann werden wir einer Lösung nicht im
Wege stehen, um zu verhindern, dass gerade die Unter-
nehmen, die zu Recht Entlastungen bekommen sollen,
nicht in die Verlegenheit kommen, ganz auf diese Entlas-
tungen verzichten zu müssen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, immer wieder beto-
nen Sie und betont auch dieser Minister, Sie würden an-
packen, Sie würden machen – im Gegensatz zu denen,
die vor Ihnen regierten. Die Institute sagen etwas ande-
res. McKinsey stellt fest: Wenn die Energiepolitik dieser
Bundesregierung so weitergeht, dann werden die Ziele
für 2020 beim Netzausbau, bei der Offshorewindenergie,
aber auch bei der Verringerung des Stromverbrauchs
nicht erreicht. – Das ist das Zeugnis eines unabhängigen
und renommierten Institutes. Das sollten Sie einmal zur
Kenntnis nehmen.

Auch andere Stimmen sind hier schon zitiert worden.
Herr Oettinger, den wir letzte Woche besucht haben,
sagt: Es gibt zu keinem wichtigen energiepolitischen
Thema eine abgestimmte Position dieser Bundesregie-
rung. Es gibt immer mindestens zwei Positionen.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Recht hat er! – Sigmar Gabriel [SPD]: Mindestens!)


Damit kann aber weder er in Brüssel umgehen noch
kann Deutschland in irgendeiner Art und Weise auf
Brüsseler Entscheidungen Einfluss nehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie sollten sich einmal überlegen, ob Sie nicht unse-
ren Forderungen folgen, die da lauten: Wir brauchen
endlich eine Stimme. Wir brauchen endlich ein Energie-
ministerium, zumindest aber jemanden, der den Hut auf
hat – möglicherweise im Kanzleramt – und dafür sorgt,
dass Deutschland in Fragen der Energiepolitik in Brüssel
mit einer Stimme vertreten ist. Dieser muss auch dafür
sorgen, dass das, was Sie gerade gefordert haben, ge-
macht wird, nämlich dass zwischen den Ressorts, aber
auch zwischen Bund und Ländern koordiniert wird. Sie
machen einfach einen Gipfel und meinen, die Sache sei
damit erledigt. Dann sagen Sie hier vollmundig, es kann
nicht sein, dass 17 energiepolitische Konzepte nebenei-
nander laufen. Verflixt noch einmal, dann machen Sie
Ihren Job! Koordinieren Sie, und sorgen Sie dafür, dass
es ein gemeinsames Konzept zwischen Bund und Län-
dern gibt! Bisher gibt es überhaupt kein Energiekonzept.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Bisher gibt es nur Ihr Konzept aus dem Jahr 2010. Das
ist aber ein Laufzeitverlängerungskonzept.

Wenn Sie uns vorwerfen, wir hätten in unserer Regie-
rungszeit den Netzausbau nicht vorangebracht, dann
sage ich Ihnen: Die großen Konzerne RWE und Eon sind
mittlerweile weiter als Sie. Diese haben begriffen, dass
sie im Jahr 2000 einen Fehler gemacht haben, als sie die
Wurst – Laufzeitverlängerung –, die Sie ihnen hingehal-
ten haben, ergriffen haben, obwohl sie vorher Verträge
unterschrieben hatten und obwohl wir ein Gesetz zum
Atomausstieg und zum Ausbau der erneuerbaren Ener-
gien gemacht hatten. Diese Unternehmen wissen heute,
dass Ihr Angebot und die Tatsache, dass sie auf Ihr An-
gebot eingegangen sind, dafür gesorgt haben, dass wir
zehn Jahre verloren haben.

Zehn Jahre gab es keinen Systemumbau, weil die Ak-
teure, die die Atomkraftwerke betrieben, damals auch
die Netze betrieben. Die Netze waren aber die Schlüssel-
stelle. Der Netzausbau wurde von ihnen nicht vorange-
trieben, der Speicherausbau wurde nicht vorangetrieben
und auch nicht die Flexibilisierung der Nachfrage. Das
wäre geschehen, wenn sie das gemacht hätten, was sie
von der Politik sonst immer fordern, nämlich Rahmen-
bedingungen, die einmal von einer Bundesregierung mit
Einverständnis der Wirtschaft gesetzt worden sind, anzu-
erkennen und beizubehalten. Die Wirtschaft hat begrif-
fen: Sie haben gegen Ihre eigenen Prinzipien verstoßen,
als Sie damals Ihren Vertrag aufgekündigt und sozusa-
gen Volatilität in der Politik eingefordert hatten. Die hat
das begriffen, Sie hingegen immer noch nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben es nicht begriffen und versuchen heute, de-
nen einen Vorwurf zu machen, die schon damals die
richtige Politik gemacht haben: Atomausstieg und Aus-
bau der Erneuerbaren. Selbstverständlich war uns klar,
dass wir dann auch den Umbau des gesamten Systems





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


durchführen müssen. Das haben Sie damals verhindert,
und Sie verhindern das durch Ihre Untätigkeit auch jetzt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722802800

Herr Kollege.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1722802900

Ihr Vorwurf uns gegenüber ist durchschaubar. Die

Menschen lesen Zeitung. Sie wissen, wer alles gegen Sie
klagt. Sie wissen, welche Entschädigungszahlungen Sie
verursachen. Sie wissen, wie sehr Sie den Strom in
Deutschland mit Ihrer Politik verteuern. Sie wissen, dass
wir eine neuere, eine bessere Energiepolitik brauchen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722803000

Horst Meierhofer hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1722803100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt heben Sie das bayerische Niveau!)


Selbstverständlich sollten wir ein gemeinsames Ziel ha-
ben. Philipp Rösler hat eingangs darauf hingewiesen
– seitdem leider fast keiner mehr –, wie wichtig das
Thema bezahlbare, umweltverträgliche und vor allem si-
chere Energieversorgung ist.

Um eine sichere Energieversorgung zu gewährleisten,
benötigen wir logischerweise den Netzausbau. Frau
Höhn, uns ist es in den letzten Jahren gelungen, einen
Anteil erneuerbarer Energien von über 25 Prozent in den
Markt zu integrieren. Zu Ihrer Zeit wurden pro Jahr
800 Megawatt durch Photovoltaik erzeugt; in den letzten
drei Jahren, in denen wir die Verantwortung getragen ha-
ben, gab es Anlagen, die jeweils 7 000 bis 7 500 Mega-
watt erzeugen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sind Sie für die Kosten auch verantwortlich, Herr Meierhofer!)


Daran erkennt man, wie weit bei Ihnen Wunsch und
Wirklichkeit auseinanderdriften und wie wenig Sie wäh-
rend der Zeit, als Sie Verantwortung getragen haben, für
den Ausbau der Erneuerbaren getan haben.


(Beifall bei der FDP)


Jetzt beschweren Sie sich darüber, dass bei uns zu wenig
passiert. Daran sieht man schon, wie absurd das Ganze
ist.

Es ist eine Tatsache, dass das gemeinsame Ziel,
Atomkraftwerke abzuschalten, auch zu einer Umstellung
des Netzausbaus führt. Das sollte auch Ihnen klar sein.
Das ist keine neue Nachricht. Sie haben schon einmal ei-

nen Ausstieg aus der Kernkraft beschlossen. Nur, leider
haben Sie im Gleichzug nichts für den weiteren Ausbau
der Netze getan.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit acht Jahren tragen die Grünen keine Verantwortung! Das ist eine lange Zeit!)


Sie haben sich von Interessengruppen und Bürgerini-
tiativen feiern lassen. Jetzt lässt sich der Kollege Gabriel
von der Bürgerinitiative gegen die 380-kV-Leitung im
Werra-Meißner-Kreis feiern.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Deswegen brauchen wir die Erdkabel!)


Auch der Kollege Trittin ist auf der Homepage dieser
Bürgerinitiative zu sehen. Sie präsentieren sich als stolze
Brüder, als Unterstützer der tollen Forderung, an neural-
gischen Stellen keine Freileitungen zu verlegen. Auch
daran sieht man, dass Anspruch und Wirklichkeit extrem
auseinanderdriften.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dass sich gerade die beiden Exumweltminister dafür
hergeben, ist höchst beschämend. Das ist das Allerletzte.


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


Wir haben in den Jahren 2000, 2002, 2005 wie auch
im Jahr 2013 die gleichen Ziele gehabt,


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben die gleichen Ziele gehabt? – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Sie wollten die Atomkraft verlängern! Das ist doch völlig gaga hier! Herr Meierhofer! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Zickzack!)


und Sie beschweren sich darüber, dass in den letzten drei
Jahren nichts passiert ist. Ich erkläre Ihnen jetzt einmal,
was in den letzten drei Jahren passiert ist. Schauen Sie
sich einfach mal an, was im Monitoringbericht der Bun-
desnetzagentur steht. Sie werden feststellen, dass zum
einen mehr gebaut worden ist, als Herr Gabriel behaup-
tet hat. Wahrscheinlich hatte er alte Zahlen.15 Prozent
haben wir mittlerweile und nicht mehr 12 Prozent.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Donnerwetter!)


Zum anderen haben wir bei der Thüringer Strombrü-
cke riesige Schwierigkeiten. Das ist das größte Problem.
Wir haben gerade darüber geredet. Herr Kelber hat leider
etwas Falsches gesagt. Auf Thüringer Seite sind 27 Kilo-
meter nicht fertiggestellt. Sie können das im EnLAG-
Bericht nachlesen. Es ist nicht so, dass es an Bayern
liegt, sondern es liegt an Thüringen, Herr Kelber. Man
baut von Norden nach Süden. Da im Norden noch 27 Ki-
lometer fehlen, kann bei uns am Anschluss an Marktred-
witz nicht weitergebaut werden. Sie schustern Sachver-
halte zusammen, die nicht zusammengehören.


(Ulrich Kelber [SPD]: Herr Meierhofer, Sie reden über ein anderes Projekt! Das ist unseriös, was Sie gerade machen!)






Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


Auf der eben beschriebenen Stromtrasse hatten wir es
im letzten Jahr in 790 Stunden mit einer angespannten
Netzsituation zu tun. Wie sehen denn Ihre Vorschläge
aus, daran etwas zu ändern? In Mecklenburg-Vorpom-
mern Richtung Polen gab es 280 Stunden Netzanspan-
nungen, wo in der Vergangenheit alles relativ problem-
los abgelaufen ist. Durch die Einspeisung von Strom aus
erneuerbaren Energien, vor allem aus Windenergie, ent-
steht ein extremes Problem, das wir in der Vergangenheit
leider nicht gelöst haben.

Lassen Sie mich auf einen weiteren Punkt hinweisen.
2005 – damals war noch Rot-Grün an der Regierung,
Gott sei Dank ist das lange her –


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb sind Sie seit acht Jahren verantwortlich!)


richtete die FDP eine Kleine Anfrage an die Bundesre-
gierung. Wir haben gefragt, wie das mit dem Netzausbau
weitergehen soll. Ich lese Ihnen die Antwort vor, die –
das kann man sagen – wenigstens ehrlich war:

Die Bundesregierung besitzt keine eigenen Kompe-
tenzen, um Einfluss auf die geplanten konkreten
Netzausbauvorhaben zu nehmen.

Das war Ihre Wahrheit. Sie haben gesagt: Wir haben
keinen Einfluss, wir als Bundesregierung können nichts
tun.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, das sagt Ihre Bundesregierung heute!)


Das ist zwar erfrischend ehrlich, aber es zeigt natürlich
Ihre völlige Unfähigkeit.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das sagt Herr Rösler bis heute! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die ganzen Jahre waren die Länder schwarzgelb!)


Das zeigt, dass Sie nichts dafür getan haben, damit die
Kompetenzen an den Bund herangeführt werden.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo waren denn die Länder? Schwarz-Gelb war doch dran in der Zeit!)


Das ist im Jahr 2009 das erste Mal passiert. Die
Minister haben sich mit den Ländern zusammengesetzt,
um durch das EnLAG, das Energieleitungsausbaugesetz,
durch das NABEG, das Netzausbaubeschleunigungsge-
setz, und jetzt durch die Bedarfsplanung den Netzausbau
zu beschleunigen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Die Sprechbeschleunigung ist schon bewundernswert! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit acht Jahren gibt es CSUund FDP-Wirtschaftsminister! Seit acht Jahren!)


Nichts dergleichen gab es zu Ihrer Zeit. Trotzdem tun
Sie so, als wären Sie elf Jahre lang aktiv gewesen. Das
gilt vor allem für die SPD, die auch in der Zeit der Gro-
ßen Koalition in allen Bereichen, in denen es hätte vor-

wärtsgehen können, blockiert hat. Nichts haben Sie in
der Vergangenheit gemacht. Jetzt dürfen wir die Scher-
ben wegräumen, die Sie über eine verdammt lange Zeit
produziert und uns hinterlassen haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Seit acht Jahren räumen Sie Scherben auf?)


Und jetzt dieser Katzenjammer! Es ist wirklich in höchs-
tem Maße lächerlich, wenn Sie jetzt so tun, als hätten Sie
einen ernsthaften Beitrag geleistet. Nicht die Spur da-
von!

Ich habe es ja gesagt: Wir haben das EnLAG im Jahr
2009, das NABEG im Jahr 2011 und das Energiewirt-
schaftsgesetz, EnWG, im Jahr 2011 verabschiedet, und
jetzt legen wir den Entwurf eines Bedarfsplanungsgeset-
zes vor. Und Sie sagen, wir machen nichts? Was haben
Sie denn an Gesetzen vorzuweisen? Wie ist es mit dem
Thema Geschwindigkeit? Erst jetzt können wir schneller
vorgehen und definieren, welche Strecken die wichtigs-
ten sind. Nicht einmal dazu waren Sie in der Vergangen-
heit in der Lage.

Jetzt aber fordern Sie – das ist Ihr großer Wunsch –
eine Netz AG. Sie haben nicht für Beschleunigung ge-
sorgt, verlangen von uns aber, eine Netz AG einzurich-
ten,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das steht in Ihrem Koalitionsvertrag!)


und das in einer Zeit, in der wir versuchen müssen, den
Ausstieg aus der Nutzung der Kernkraft durch Strombrü-
cken und Stromtrassen wie die eben genannte Thüringer
Strombrücke zu erreichen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat es denn versaubeutelt? Sie!)


Für all das haben Sie keine Vorlage geliefert. Jetzt for-
dern Sie aber auch noch eine Netz AG. In der Theorie ist
das eine ganz schöne Idee – das haben wir auch gefor-
dert –, aber jetzt geht es darum, dass wir möglichst
schnell Netze bauen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das einmal der CSU!)


Wir können jetzt doch nicht über eine Netz AG debattie-
ren. Sobald irgendwo in Deutschland eine Freilandlei-
tung verlegt werden soll, fordern Sie, verehrter Herr
Gabriel, überall in Deutschland unterirdische Kabel zu
verlegen, obwohl man weiß, dass die Prozesse dann
deutlich länger dauern, obwohl man weiß, dass das deut-
lich teurer ist, und obwohl man weiß, dass die Forschung
dazu noch gar nicht abgeschlossen ist. In so einer Zeit
– das Kraftwerk Grafenrheinfeld wird abgeschaltet; der
Kollege Nüßlein hat es gesagt – kann ich das nicht for-
dern, sondern muss schnell sein.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind nicht schnell! In acht Jahren 300 Kilometer! Echt schnell!)


Es ist absurd, nichts dergleichen zu tun.





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


Jetzt komme ich zu einer aus meiner Sicht besonders
schönen Geschichte. Es geht um die Antwort auf eine
Kleine Anfrage aus dem Jahr 2005, die ich anspreche,
weil die Grünen hier besonders viel in Bezug auf die
Forschung fordern. Die Bundesregierung sagte:

Aus diesen Gesprächen

– mit Wirtschaft und Wissenschaft –

hat sich kein spezifischer Förderbedarf bei der For-
schung und Entwicklung von Elektroenergieüber-
tragungsanlagen ergeben.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 2005! Acht Jahre!)


Wundert es Sie, dass wir jetzt noch nicht so weit sind,
wie wir gerne wären? Wundert es Sie, dass wir nach elf
Jahren Stillstand noch nicht so weit sind, wie wir es
gerne wären? Merken Sie, dass der Knoten geplatzt ist,
seitdem Sie keine Verantwortung mehr tragen und nur
noch ein bisschen daherschwafeln?


(Beifall bei der FDP)


Ich glaube, jeder andere Mensch sollte das erkennen
können.

Herr Krischer, Sie fordern HGÜ-Leitungen, obwohl
Sie selbst nichts dafür getan haben. Darüber muss ich
mich wirklich amüsieren.

Zum Abschluss habe ich noch ein nettes, kleines Bon-
mot aus dem Jahr 2008 vom geschätzten Kollegen
Gabriel. Ich zitiere:

Bis vor kurzem unterstützte auch Umweltminister
Gabriel den Regierungskurs, 850 Kilometer Freilei-
tungen zu errichten und dies durch ein neues Gesetz
zu beschleunigen.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Ja!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722803200

Herr Kollege.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1722803300

Ich bin gleich fertig.

Doch zur Überraschung von Glos

– damals Wirtschaftsminister –

hat der SPD-Politiker den bisherigen Konsens nun
aufgekündigt.

Zitat Gabriel:

„Ich halte es nicht für realistisch, dass wir im bisher
vorgesehenen Umfang 850 km Freileitungen neu
bauen“,


(Sigmar Gabriel [SPD]: Deswegen brauchen wir Erdkabel, Herr Kollege!)


schreibt Gabriel in einem Thesenpapier …

Mit solchen Aussagen kann man natürlich bei Bürger-
initiativen landen. Dass Sie die Energiewende nicht kön-
nen, ist durch Ihre Aussagen wirklich bewiesen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722803400

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem

Kollegen Kelber.


Ulrich Kelber (SPD):
Rede ID: ID1722803500

Herr Kollege Meierhofer, Sie haben an zwei Stellen

auf uns Bezug genommen, zum einen beim Thema Netz
AG und zum anderen beim Thema Thüringen.

Zur Netz AG habe ich den Vorschlag: Lesen Sie sich
unseren Antrag dazu einmal durch, um zu verstehen, was
damit gemeint ist. Sie schauen zum Beispiel tatenlos zu,
dass einer der Übertragungsnetzbetreiber zu dem wichti-
gen Streckenbau seit über drei Jahren erklärt, dass er für
diese Aufgaben keine ausreichenden finanziellen Kapa-
zitäten hat. Es ist, glaube ich, keine gute Lösung, auf
Vorschläge, wie man das ändern kann, nur zu sagen: Wir
machen lieber so weiter wie bisher.

Beim Thema Thüringen haben Sie, um es nett zu sa-
gen, zwei Projekte miteinander verwechselt. Es gibt ein-
mal die sogenannte Thüringer Strombrücke, eine neue
380-kV-Leitung, und dann gibt es noch das Projekt,
durch Neubeseilung mit Hochtemperaturseilen Sachsen-
Anhalt, Thüringen und Bayern stärker miteinander zu
verbinden. Dieses Projekt ist von den beiden Übertra-
gungsnetzbetreibern 50 Hertz und TenneT gleichzeitig
beantragt worden. 50 Hertz hat diese Woche als Beispiel
dafür, dass sie vorankommen, mitgeteilt – das hätten Sie
lesen können –, dass sie ihren Teil in 2012 fertiggestellt
haben. Das heißt also: Sachsen-Anhalt: beantragt, ge-
nehmigt und gebaut; Thüringen: beantragt, genehmigt
und gebaut; Bayern: beantragt, aber noch nicht einmal
entschieden, welche Behörde am Ende für die Genehmi-
gung zuständig ist.


(Waltraud Wolff [Wolmirstedt] [SPD]: Hört! Hört!)


Das ist der entscheidende Unterschied. Ich glaube, der
Wirtschaftsminister in Bayern stammt aus Ihrer Partei.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Noch!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722803600

Herr Meierhofer zur Beantwortung, bitte.


Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1722803700

Herzlichen Dank, Frau Präsidentin. – Zum Ersten:

Herr Kelber, Sie selbst haben darauf hingewiesen, wie
schwierig es ist, zu einem Konsens zwischen den Netz-
betreibern – das sind 50 Hertz, Amprion und TenneT –
zu kommen.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Immer sind die anderen schuld!)


Wenn ich in dieser Phase dafür sorge, dass sich die drei
erst einmal in einer Netz AG verschmelzen bzw. dass sie
zusammengeführt werden, dann wäre das in einer Zeit,
die keine Veränderungen bringt, wünschenswert. Schon





Horst Meierhofer


(A) (C)



(D)(B)


vorhin habe ich gesagt, dass auch die FDP sich das
wünscht. Wir müssen jetzt aber vorwärtskommen. Da
hilft uns das Gefasel aus Oppositionskreisen darüber,
was alles wünschenswert wäre, nichts, sondern jetzt
muss gebaut werden. Dazu bringt Ihre Idee leider über-
haupt nichts.


(Beifall bei der FDP)


Deswegen ist das realitätsfremd. Weiter ist es – „verlo-
gen“ ist wahrscheinlich unparlamentarisch – zumindest
nicht aufrichtig, wenn man betont, dass man es tut.

Mein lieber Herr Kelber, zweitens ist es nicht beson-
ders aufrichtig, während der Rede von Herrn Nüßlein
den Eindruck zu erwecken,


(Ulrich Kelber [SPD]: Ich habe von SachsenAnhalt gesprochen! – Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


die Strombrücke würde deswegen nicht funktionieren,
weil in Bayern nicht genehmigt wird.

Ich freue mich über HGÜ-Leitungen, Herr Heil. Die
Thüringer Strombrücke ist unser Problem bzw. ein Eng-
pass. Sie muss bis zum Jahr 2015 fertig sein, weil an-
sonsten Bayern – wenn durch die Abschaltung von Gra-
fenrheinfeld 2 Gigawatt vom Netz gehen – nicht erreicht
werden kann. Genau darum geht es im Moment. Die
Thüringer Strombrücke ist aber nicht fertig; da können
Sie über Forschungsprojekte, die parallel dazu laufen,
reden, wie Sie wollen. Ich würde mich freuen, wenn wir
das alles hätten.

Wir nehmen Priorisierungen vor. Im Bedarfsplan ha-
ben wir nämlich festgelegt, was wann gebaut werden
soll. Bei Ihnen wurde erst einmal überhaupt nichts ge-
baut, da wurde alles gleichzeitig geplant. Das Ergebnis
war: Es wurde während der elf Jahre SPD-Verantwor-
tung überhaupt nichts gebaut. Das sind leider die Fakten.
Deswegen sind wir jetzt in der brenzligen Lage, Ihren
Scherbenhaufen aufkehren zu müssen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ein bisschen Weiterbildung wäre auch mal gut!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722803800

Jetzt erteile ich dem Kollegen Ralph Lenkert das Wort

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722803900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Heute geht es um den

Entwurf eines Zweiten Gesetzes über Maßnahmen zur
Beschleunigung des Netzausbaus Elektrizitätsnetze. Der
Name ist sperrig, und dahinter stecken knallharte Profit-
interessen. Wie erkläre ich Ihnen, was ich meine?


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Das wird nicht möglich sein!)


Wie würde das bei Dagobert Duck sein? Nehmen wir
an, Dagobert besitzt Grundstücke. Eines liegt 80 Kilo-

meter in der Prärie, und zum zweiten führt nur ein Pfad.
Da gerade Steinmangel herrscht, will Dagobert mit
Steinbrüchen „Schotter“ machen. Von den Steinbrüchen
auf seinem Land müssen die Steine über neue Straßen
transportiert werden. Also verlangt Duck vom Minister
Zaster für den Straßenbau. Der Minister gehorcht, plant
Straßen, den Zaster holt er sich von den Bewohnern En-
tenhausens. Damit Dagobert stets Steine mit Profit ver-
kaufen kann,


(Volker Kauder [CDU/CSU]: In der Zeit der DDR haben die gar nicht Dagobert Duck lesen dürfen!)


bestimmt der Minister, dass alle Bürger auch noch Lkw
und Sprit bezahlen. Alle? Nein, die Freunde des Minis-
ters bekommen zwar viele Steine, aber für Straßen und
Lkw bezahlen sie nicht.

Haben Sie es verstanden? Ich kläre Sie auf: Dagobert
Duck steht für die Energiekonzerne, die Steine sind der
Strom. Die Steinbrüche sind Offshorewindparks und
Kraftwerke. Straßen sind Stromleitungen. Die Einwoh-
ner von Entenhausen sind wir Stromkunden, die Minis-
terfreunde sind die Energiekonzerne bzw. energieintensi-
ven Unternehmen. Herr Rösler, haben Sie sich erkannt?
Ich habe Ihnen diesen Comic erzählt, weil es genau so
läuft.


(Beifall bei der LINKEN)


Sinngemäß steht im Entwurf: „Standorte für konven-
tionelle Kraftwerke“ und EEG-Anlagen „werden in der
Regel unabhängig“ vom vorhandenen Stromnetz „ausge-
wählt“. „Gegenwärtig sind eine Vielzahl konventioneller
Kraftwerke … im Bau bzw. in der Planung, die nicht
zwingend in der Nähe der Verbrauchszentren einspeisen
werden.“ Das heißt, es braucht mehr Stromtrassen. Die
Folge sind steigende Strompreise für die Stromkunden.

Klartext: Die 380-kV-Leitungen werden nicht nur für
Windräder, sondern auch für neue Kohlekraftwerke
– wie die von Vattenfall in Jänschwalde und von der
MIBRAG in Profen – gebaut. Die bestehenden Stromlei-
tungen können dann den gesamten Kohle- und Wind-
strom nicht mehr nach Süden transportieren. Deshalb
sagt man den Thüringerinnen und Thüringern: Ihr wollt
doch die Energiewende, und Bayern braucht den Wind-
strom aus dem Norden, also akzeptiert Leitungen.

Entschuldigung, aber der Kohlestrom aus Jänsch-
walde und Profen soll auch über diese Leitung fließen.
Die Thüringerinnen und Thüringer zahlen 7,1 Cent
Netzentgelt je Kilowattstunde. In Bayern zahlt man nur
5 Cent. Warum? Ein Kraftwerk speist im Norden 1 Mil-
lion Kilowattstunden ins Netz. Genau für diese Strom-
menge wird gezahlt – logisch. Durch Netzverluste,
3 Prozent auf 100 Kilometer, kommen in Bayern nur
850 000 Kilowattstunden an. Nur für diese Strommenge
wird von den Bayern gezahlt – logisch. Die 150 000 Kilo-
wattstunden Transportverlust bezahlt der Netzbetreiber –
logisch. Er legt dies auf uns Thüringer um, weil das Netz
durch Thüringen geht – logisch. Logisch? Wir verdienen
nichts am Strom, unsere Landschaft wird verbaut, und
wir müssen dafür noch zahlen. Das ist ungerecht.


(Beifall bei der LINKEN)






Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)


Deshalb fordert die Linke einheitliche Netzentgelte für
ganz Deutschland. Das wäre logisch.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach unserem Konzept beginnt die Energiewende mit
einem Bedarfsplan für den Stromverbrauch. Danach er-
folgt eine zwischen Bund und Ländern abgestimmte Pla-
nung zur größtenteils regionalen Stromerzeugung und
Speicherung. Erst dann erfolgt eine Netzbedarfsplanung.

Warum folgt die Regierung nicht dieser einfachen Lo-
gik, sondern schaut nur auf den Netzausbau? Es geht um
viel Geld. 10 Milliarden Euro kostet der Netzausbau
nach dem vorliegenden Regierungsplan. Verdienen wer-
den Baufirmen, Projektanten und die Investoren, die die
Netze ausbauen lassen. Sagenhafte 9 Prozent Rendite
gibt es für die investierten 10 Milliarden Euro. 900 Mil-
lionen Euro müssen Bürgerinnen und Bürger, kleine und
mittelständische Unternehmen Jahr für Jahr nur für die
Renditegarantie abdrücken. Diese Unverschämtheit lehnt
die Linke ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Es gibt einen Weg, diese Abzocke zu beenden: Die
Netze müssen entprivatisiert werden. Eine Vergesell-
schaftung der Netze zusammen mit einem Stromver-
brauchsplan, dem Stromerzeugungsplan und dem dann
notwendigen Netzausbauplan sichert die ökologische
Energiewende mit sozialen Strompreisen, ohne uns
Stromkunden zu rupfen. Füllen Sie nicht die Geldspei-
cher der Spekulanten, sondern folgen Sie unseren Vor-
schlägen!

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722804000

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Oliver Krischer

das Wort.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722804100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man Herrn Rösler zuhört, dann fragt man sich
schon, in welchem Paralleluniversum dieser Mensch
lebt; denn mit der Realität hat das, was wir hier von ihm
gehört haben, gar nichts zu tun. Gestern im Umweltaus-
schuss hat er noch eins draufgesetzt. Dort hat er gesagt:
Europaweit wird Deutschland wegen seines Netzausbaus
beneidet.


(Beifall der Abg. Judith Skudelny [FDP])


Was ist das für ein Unsinn? Wir haben in den letzten Jah-
ren 268 Kilometer von 1 800 Kilometern gebaut. Das
sind gerade einmal 15 Prozent. Das ist die Hürde, unter
der Sie hergelaufen sind. Das ist unglaublich. Das ist
kein Erfolg, sondern Versagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie kommen hier jetzt immer mit dem Argument, da-
für wäre Rot-Grün verantwortlich. Ich sage Ihnen: Seit
acht Jahren gibt es CSU- und FDP-Wirtschaftsminister.

Sie tragen die Verantwortung dafür. In acht Jahren hätten
Sie das alles machen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man nachfragt, wie weit wir mit der Umsetzung
der Projekte aus dem Energieleitungsausbaugesetz sind,
ist diese Bundesregierung, ist dieser Wirtschaftsminister
nicht einmal in der Lage, im Detail zu sagen, wie es um
diese Projekte steht. Das ist doch ein Zeichen dafür, wie
Sie mit diesem Thema umgehen.

Wenn man in den Medien nachschaut, wozu sich die-
ser Minister beim Thema Netzausbau geäußert hat, dann
stößt man immer wieder auf ein und dieselbe Nachricht:
Rösler greift die Umweltverbände an, fordert den Abbau
von Naturschutzbestimmungen und Umweltrechten, um
den Netzausbau voranzubringen. Man fragt sich: Was
plant diese Bundesregierung eigentlich? Als Antwort be-
kommt man: Es gibt gar kein Problem mit dem Natur-
schutz, es gibt gar kein Problem mit den Umweltverbän-
den. Ich sage Ihnen: Der einzige Sinn dieser Aktion ist,
die Hoheit über die Stammtische zu gewinnen. Nichts
anderes war von diesem Wirtschaftsminister zu hören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Herr Kollege, jetzt bin ich neugierig, was Sie uns zu sagen haben!)


Jetzt legen Sie hier den Entwurf eines Bundesbedarfs-
plangesetzes vor. Diesen Gesetzentwurf hätten Sie schon
vor zwei, drei Jahren vorlegen können. Doch damals ha-
ben Sie sich mit Laufzeitverlängerungen beschäftigt,
statt sich um den Netzausbau zu kümmern. Jetzt, am
Ende dieser Legislaturperiode, feiern Sie das als Großtat.
Davon wird aber nicht eine einzige Leitung gebaut.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ich sage Ihnen eines: Sie
machen die gleichen Fehler, die Sie schon beim EnLAG
gemacht haben. Sie sagen zum Beispiel, die Erdverkabe-
lung solle nur auf einer einzigen Pilottrasse möglich
sein. Genau das ist beim Energieleitungsausbaugesetz
das Problem. Sie haben es bis heute nicht geschafft, auch
nur eine Pilotstrecke hinzubekommen. Wir brauchen die
Erdverkabelung aber, um Akzeptanz zu schaffen; denn
gegen den Willen der Menschen werden Sie den Netz-
ausbau nicht durchsetzen können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Judith Skudelny [FDP]: Und wie wollen Sie die Netzkosten im Griff behalten? – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Achtmal so teuer, Herr Krischer!)


Ich sage Ihnen: 2 000 der 3 000 Einwendungen, die es
gegeben hat, kommen aus dem schönen Ort Meerbusch-
Osterath. Da hat es ein Planungsdesaster gegeben. Ich
wundere mich, dass die Kollegen von der CDU und der
FDP, die sich vor Ort lauthals äußern, jetzt bei dieser De-
batte nicht dabei sind. Vor Ort sprechen sich Vertreter Ih-
rer Koalition nämlich öffentlich gegen dieses Gesetz aus
und sagen, dass sie es ablehnen werden.





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)



(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach nee! Ehrlich?)


Sie haben, was dieses Gesetz betrifft, nicht aus dem
Desaster von Meerbusch-Osterath gelernt. Sie haben
das, was der Bundesrat mit seiner Mehrheit beschlossen
hat, nicht aufgegriffen, nämlich dass man Planungen mit
Standortalternativen durchführen und die Menschen mit-
nehmen muss. Dazu gibt es wegweisende, richtige Be-
schlüsse des Bundesrates. Die Bundesregierung hat sie
aber zurückgewiesen. Sie werden mit diesem Gesetzent-
wurf nicht durchkommen. Er wird ein Papiertiger blei-
ben. Wenn Sie das, was der Bundesrat richtigerweise be-
schlossen hat, nicht aufgreifen, wird der Netzausbau ein
genauso großes Desaster bleiben, wie er es in der Ver-
gangenheit war.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Horst Meierhofer [FDP]: Lesen Sie den Gesetzentwurf lieber erst mal!)


Ich sage Ihnen: Wir brauchen einen Netzausbau auf
allen Spannungsebenen. Eine dezentrale Energiewende
braucht den Netzausbau und den Ausgleich der Schwan-
kungen. Aber Sie müssen die Menschen mitnehmen und
sie einbinden. Es hilft nichts, wenn Sie den Klageweg
verkürzen. Da fühlen sich die Menschen übergangen.


(Judith Skudelny [FDP]: Wie in Baden-Württemberg! Ich sage nur: neun Windräder in einem Jahr!)


Das führt am Ende wieder zu Ausgrenzung. Sie müssen
die Menschen einbinden, aber das haben Sie nicht ver-
standen. So werden Sie mit dem Netzausbau auch weiter
scheitern.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Rolf Hempelmann [SPD] – Judith Skudelny [FDP]: Sie haben aus Ihrer Verantwortung wirklich nicht gelernt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722804200

Jetzt hat Andreas Lämmel das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1722804300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wenn man diese Debatte verfolgt hat, ist eines
klar geworden: Die Kollegen von SPD und Grünen ver-
suchen, hier im Plenum Wahlkampf zu machen


(Ulrich Kelber [SPD]: Sie haben doch die Regierungserklärung auf die Tagesordnung gesetzt!)


und dadurch ihr schlechtes Gewissen zu übertünchen,


(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


das sie natürlich haben müssen, wenn sie in sich gehen
und darüber nachdenken, warum wir in der Situation
sind, in der wir sind.

Herr Gabriel verwechselt das Plenum des Deutschen
Bundestages mit dem Marktplatz in Wolfenbüttel, wo er
hin und wieder eine schwungvolle Wahlkampfrede hält.


(Sigmar Gabriel [SPD]: Herr Kollege, nichts gegen Wolfenbüttel!)


Frau Höhn versucht, mit schrillen Tönen die Argumente
zu verdecken. Sie wollen einfach nicht zur Kenntnis
nehmen, dass wir vor zwei Jahren hier im Plenum mit
großer Mehrheit die Energiewende beschlossen haben.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Nein! Den Atomausstieg haben Sie da endlich mit beschlossen!)


Meine Damen und Herren, das war doch kein anderer
Beschluss als der, den Sie schon vor vielen Jahren ge-
troffen haben, als Sie den Atomausstieg beschlossen ha-
ben. Das war nichts Neues. Ich weiß überhaupt nicht,
warum Sie dieses Argument anführen.

Ich will auf die Vergangenheit zu sprechen kommen.
Unter Rot-Grün wurde der erste entsprechende Be-
schluss gefasst. Es wurde aber nichts getan. Vielmehr
ließ man die Sache laufen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Ja, ja! Es wird durch ständige Wiederholung nicht glaubwürdiger!)


Energieforschung – sehen Sie sich einmal die Haushalte
vergangener Zeiten an, Herr Hempelmann; Sie selbst
wissen das ganz genau – fand überhaupt nicht mehr statt.
Die Mittel für die Energieforschung wurden unter Rot-
Grün auf null gesetzt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Die Energieforschung ist nur ein wichtiger Aspekt!)


Dann kam die Zeit der Großen Koalition. Da ging es
natürlich auch um den Energieleitungsausbau, weil er
schon damals ein großes Problem war.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Ja, klar!)


Wir hatten die Idee, den Energieleitungsausbau zu be-
schleunigen. Dann fand die Diskussion über das EnLAG
statt. Die Große Koalition wollte das sehr bewährte In-
frastrukturbeschleunigungsgesetz, welches wir in Ost-
deutschland genutzt haben, um die Infrastruktur auszu-
bauen, für den Energieleitungsausbau nutzen. Was war
die Folge? Obwohl Herr Gabriel damals Umweltminister
war, ist das Vorhaben, die Beschleunigung des Ener-
gieleitungsausbaus schon 2009 in Gang zu setzen, am
Widerstand der SPD gescheitert. Deswegen musste dann
2011 das NABEG hier im Deutschen Bundestag be-
schlossen werden. Es war eine logische Folge, noch ein-
mal den Versuch zu machen, mit konkreten Projekten
den Ausbau der erneuerbaren Energien zu beschleuni-
gen. Da sind auch die berühmten vier Kabeltrassen auf-
geführt. Herr Krischer, ich weiß gar nicht, warum Sie
sich hier aufregen, dass in dem Bedarfsplan jetzt nur
eine Trasse enthalten ist.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Erdkabel!)






Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Es gibt noch keine einzige Trasse von diesen vier Erd-
kabelprojekten, die im NABEG festgeschrieben sind.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil Sie es nicht realisiert kriegen!)


– Ach, erzählen Sie doch nicht solchen Unfug! Sie wis-
sen doch selbst ganz genau: Erdkabelleitungen baut
nicht der Staat – die Planung erfolgt vor Ort, die Geneh-
migung erfolgt vor Ort.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Warum machen Sie dann uns den Vorwurf?)


Sie stehen immer an der Spitze der Bewegung, wenn es
gegen den Ausbau von Infrastruktur geht. Dann müssen
Sie sich nicht wundern, dass die Projekte vor Ort nicht
vorankommen.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir wundern uns nur über Sie!)


Aber dafür können Sie nicht uns die Schuld zuschieben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


An der Spitze der Bewegung, wenn es gegen irgendetwas
geht, stehen Sie.

Deswegen muss man doch ganz klar sagen: Wenn
man diese Erdkabelprojekte weiter betreiben will, dann
muss man erst einmal Erfahrungen sammeln


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das kriegen Sie nicht hin!)


und schauen: Wie ist denn die wirtschaftliche Situation?
Wie ist denn die ökologische Situation? Das fordern Sie
doch immer. Sie wissen ganz genau, dass diese Erdka-
belprojekte große Probleme aufwerfen. Wir wollen eben
nicht in die Situation kommen wie beim Offshoreaus-
bau, wo Sie mit Brachialgewalt eine Riesenmenge an
Offshoreprojekten zu generieren versuchen, von denen
wir weder wissen, ob sie technisch wirklich umsetzbar
sind, noch, ob sich die Kosten in den Griff kriegen las-
sen, und für die wir auch die Anschlüsse gar nicht haben.
Genau diese Fehler wollen wir nicht noch einmal machen,
indem wir die Erdverkabelung sozusagen freigeben. Wir
wollen zunächst Erfahrungen sammeln und schauen, ob
sich diese Projekte bewähren.

Da kann Rot-Grün in Niedersachsen jetzt mutig vo-
rangehen und endlich die Trassen genehmigen und sie
bauen lassen. Dann können wir weiter über dieses
Thema reden.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das ja nicht hingekriegt!)


Scheinheiligkeit, Herr Krischer, haben wir von Ihrer
Seite schon die ganzen Jahre erlebt; das ist bei diesem
Thema nicht anders.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn bisher in Niedersachsen regiert? – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer ist denn hier scheinheilig?)


Das vorliegende Gesetz ist ein wohltuend kurzes Ge-
setz, ein Gesetz, das jeder Bürger unseres Landes verste-
hen kann: weil auf drei Seiten beschrieben ist, um was es
geht. Ich würde mir manches Gesetz wünschen, das ge-
nauso konkret ausformuliert ist und bei dem man genau
nachvollziehen kann, um was es geht.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das würde ich mir auch wünschen bei dieser Bundesregierung!)


– Wenn die Grünen an der Macht sind, dann werden die
Gesetze immer dicker, immer unverständlicher: weil sie
versuchen, alles in das Gesetz zu packen. Wir stehen für
klare Gesetze und vor allen Dingen für Gesetze, die um-
setzbar sind, Herr Krischer.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie hatten acht Jahre Zeit, das anders zu machen! – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Seit acht Jahren regieren Sie!)


Interessant bei der ganzen Diskussion ist auch, dass
die Anträge, die die Opposition gestellt hat, überhaupt
nicht besprochen worden sind. Das zeigt schon: Sie wol-
len keine sachliche Debatte, Sie wollen nicht einmal
über Ihre Anträge diskutieren.


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was hat denn Kollege Krischer eben gemacht?)


Das Einzige, was Sie wollen, ist eine Bühne für Wahl-
kampf.


(Rolf Hempelmann [SPD]: So etwas haben wir gar nicht nötig!)


Meine Damen und Herren von den Grünen, wenn Sie
das so weiterbetreiben wollen, dann können Sie das na-
türlich tun; aber man kommt damit nicht durch.

Die Grundlage für den Anstieg der Strompreise – die
hohe EEG-Umlage – haben Sie doch gelegt,


(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD] – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht doch um Stromleitungen! Jetzt kommen Sie mit der EEG-Umlage!)


und Sie haben die ganzen Jahre alles behindert, was das
Ziel hatte, den Ausbau der erneuerbaren Energien in ei-
nem wirtschaftlichen Rahmen zu halten.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Lämmel, Sie widersprechen sich im selben Satz!)


Dazu gehört der Ausbau der Stromleitungen. Man muss
sich nämlich einmal realistischerweise überlegen, wo
welche erneuerbaren Energien ausgebaut werden sollen.
Wenn Sie einmal im stillen Kämmerlein über das nach-
denken, was Sie hier politisch angestellt haben, werden
Sie erkennen, dass es eben nicht so weitergehen kann,
dass überall dort eine Windmühle gebaut werden kann,
wo jemand diese Intention hat, und einfach der Netzbe-





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


treiber dafür verantwortlich gemacht wird, diese Wind-
mühle an das Stromnetz anzuschließen.

Genauso ist es bei den Photovoltaikanlagen: Es bringt
doch nichts, wenn, nur damit das Ausbauziel erfüllt
wird, in düsteren Ecken, in Wäldern Photovoltaikanla-
gen aufgebaut werden. Wir brauchen beim Ausbau der
erneuerbaren Energien Wirtschaftlichkeit. Auch beim
Ausbau der Energieleitungen brauchen wir wirtschaft-
liche Lösungen.

Ich finde, dass der vorgelegte Gesetzentwurf genau in
diese Richtung geht. Sie haben jetzt die Möglichkeit,
dieser Sache mit großer Mehrheit zuzustimmen. Damit
können Sie vor allen Dingen vor Ort beweisen, dass Sie
wirklich für den Netzausbau stehen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sagen Sie das mal Ihren Leuten in Meerbusch-Osterath!)


Heute steht ja unter Tagesordnungspunkt 4 noch ein
weiterer Antrag der SPD auf der Tagesordnung, sodass
wir im Anschluss über solche Dinge noch einmal vertieft
diskutieren können.

Die Linke geht noch ein bisschen schärfer vor. Sie er-
zählt Comicgeschichten. Aber gut, damit transportiert
sie sich selbst ins Aus. Das ist aber nichts Neues.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, ich war davon ausgegangen, dass sich zumindest
die SPD ernsthaft mit dem Thema auseinandersetzen
will und es hier nicht sozusagen zu einer Theaterveran-
staltung verkommen lässt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Ihre Energiepolitik ist nicht mehr komisch!)


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722804400

Jetzt hat Jens Koeppen das Wort für die CDU/CSU.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1722804500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Für mich ist und bleibt die Energiewende das
wichtigste Projekt nicht nur in dieser Legislaturperiode,
sondern sogar in dieser Generation, weil wir unseren
Kindern zum ersten Mal eine saubere und moderne
Energieversorgung übergeben können. Dazu müssen wir
aber noch große Herausforderungen bewältigen. Deswe-
gen ist es bei aller Emotion zu schade, die Energiewende
zum Spielball in einem Wahlkampf zu machen.

Wir müssen uns fragen: Wie kann diese Energie-
wende gelingen?


(Rolf Hempelmann [SPD]: Hättet ihr einmal auf die Regierungserklärung verzichtet!)


– Auch Herr Hempelmann sollte sich das fragen. – Was
sind die wichtigsten Bausteine? Hier hat jeder seine
Prioritäten und auch Vorlieben.

Für den einen geht es um die Energie an sich, um
Wind- und Sonnenenergie, Biomasse und Geothermie.
Für andere geht es um alte und neue Speichertechnolo-
gien und die Elektromobilität. Für mich persönlich kom-
men der Wasserstoff und die Brennstoffzelle bei der gan-
zen Diskussion ein wenig zu kurz.

Intelligente und bedarfsorientierte Systeme, Ver-
brauchsmanagement, Forschung und Entwicklung, Ge-
bäudesanierung, EEG, Zertifikatehandel, Netzausbau:
Das alles wurde heute besprochen. Die einen wollen
ganz große Reformen, die anderen wollen das am liebs-
ten gar nicht anfassen.

Meine Damen und Herren, in diesem System gibt es
sehr viele Botschaften. Das System ist sehr komplex und
neigt dazu, undurchsichtig und unverständlich zu wer-
den. Bei all den benannten Bausteinen kommt es aber
nicht auf das Maximale, sondern auf einen vernünftigen
und harmonischen Mix aus allem und die Akzeptanz der
Menschen für diese Energiewende mit einer gewissen
Kostenübersicht an.


(Beifall des Abg. Axel E. Fischer [KarlsruheLand] [CDU/CSU])


Das alles gilt natürlich insbesondere für die Energie-
infrastruktur. Leistungsfähige Energienetze sind natür-
lich die Grundvoraussetzung, um Energie überhaupt
transportieren zu können. Ich bin Elektrotechniker und
erzähle Ihnen hiermit nichts Neues: Wenn es keine Lei-
tungen gibt, dann werden Sie aus Ihrer Steckdose zu
Hause auch keinen Strom bekommen können.

Dass wir zusätzliche Übertragungskapazitäten brau-
chen, ist auch völlig unstrittig. Es wird natürlich über die
genaue Anzahl an Kilometern diskutiert. Das wird aber
wahrscheinlich gar nicht die entscheidende Frage sein.
Dass wir einen Ausbaubedarf haben und dass der Aus-
bau maßvoll sein muss, ist jedem klar. Dass wir unser
jetziges Netz ertüchtigen müssen, ist wahrscheinlich
auch jedem klar. Wir sollten aber die Kriterien und Be-
dingungen diskutieren, unter denen wir diesen Netzaus-
bau gestalten. Für mich sind dabei drei Punkte besonders
wichtig:

Erstens. Die Akzeptanz. Wenn wir die Leute ordent-
lich informieren – das sollte anders aussehen als heute in
den eineinhalb Stunden hier – und sie auf dem Weg der
Energiewende mitnehmen, dann haben wir den ersten
Teil erreicht.

Zweitens. Dieser Ausbau muss zügig vorangehen.
Das heißt, wir brauchen keine Klagewellen, sondern wir
müssen diese Klagewellen vermeiden.

Drittens. Die Kosten des Netzausbaus müssen so ge-
staltet werden, dass sie für die Menschen auch bezahlbar
sind und dass Energie vor allen Dingen kein Luxusgut
wird.

Hier können wir natürlich sehr schnell Konsens her-
stellen.





Jens Koeppen


(A) (C)



(D)(B)


Ich will mich auf zwei Punkte dieser Botschaft kon-
zentrieren, nämlich erstens auf die Instanzenverkürzung
und zweitens auf die Kosten und die Erdkabel.

Zur Kürzung des Instanzenzuges bis zur endgültigen
Gerichtsentscheidung. Es wird damit gerechnet, dass wir
die Dauer der Gerichtsverfahren von zehn Jahren auf
vier Jahre verkürzen können. Das ist eine enorme Zeiter-
sparnis. Bei Ihnen, Herr Krischer, kam das eben so rüber,
als ob wir den Anwohnern Rechte nehmen würden. Ich
sehe das völlig anders. Ich sehe das so, dass wir eine Pri-
vilegierung der Klagenden herbeiführen. Denn selbst
wenn die letzte Instanz die einzige Instanz ist, die ent-
scheidet, entscheidet sie nicht anders. Es macht also kei-
nen Unterschied, dass die zwei gerichtlichen Instanzen
vor ihr bereits Entscheidungen getroffen haben. Sie ent-
scheidet schneller,


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, das stimmt nicht! Das lag nur länger da! – Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


und die Beklagte und die Klagenden bekommen mehr
Rechtssicherheit. Das ist ganz klar.

Darüber hinaus erwähne ich die psychische Belastung
der Menschen, Herr Krischer, welche daraus resultiert,
dass sie über viele Jahre sozusagen von einer Instanz zur
nächsten gestoßen


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es lag nur länger beim Bundesverwaltungsgericht!)


und mit sehr vielen Klagen, sehr vielen Terminen und
sehr vielen Schriftstücken konfrontiert werden.

Betonen möchte ich auch, dass ein Prozess von In-
stanz zu Instanz kostenintensiver wird. Denn jedes Ge-
richtsverfahren ist natürlich teuer.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das merken Sie ja die ganze Zeit!)


Insofern ist eine einzige zuständige Instanz


(Bärbel Höhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Ergebnisse können ganz teuer werden für die Bundesregierung!)


mit weniger Kosten verbunden, und deswegen befürwor-
ten wir das.

Meine Damen und Herren, ich möchte auf die
380 000-Volt-Erdverkabelung zurückkommen. In die-
sem Zusammenhang wird hier sehr viel über das Für und
Wider diskutiert. Ich möchte nicht auf alle Punkte einge-
hen.

Wir sind keine Gegner von Erdkabelleitungen. Aller-
dings müssen wir schauen, welcher der bessere Weg ist.
Ich kann die Forderung des Bundesrates, alle Erdkabel-
projekte in diesen Plan hineinzuschreiben – das heißt,
die Leute vor Ort sollen darüber entscheiden, ob Pro-
jekte mit Erdverkabelung verwirklicht werden sollen –,
überhaupt nicht verstehen. Das ist eine Mentalität nach
dem Motto „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Auf diese
Weise vergraben Sie die Probleme nicht, sondern sie tau-

chen woanders auf. Sie beruhigen damit zwar die Bürger
und sammeln vielleicht hier und da ein paar Sympathien,
aber das sind vermeintliche Vorteile, die Sie genießen.

Wissenschaftler und Techniker weisen eindeutig da-
rauf hin, dass sich die Kosten auf das Sechs- bis Zwan-
zigfache – das gilt für Tunnelanlagen – belaufen. Das
Verlegen einer 1 Kilometer langen 380 000-Volt-Verka-
belung kostet momentan 1 Million Euro. Wenn dieser
Kilometer dann 6 Millionen oder 20 Millionen Euro kos-
tet, muss doch auch die Frage gestattet sein, wer diese
Kosten letztendlich tragen soll. Diese Frage müssen wir
beantworten. Es geht nicht, dass wir einfach sagen, dass
die Kosten auf die Netzkosten umgelegt werden, welche
dann wiederum die Bürger zu tragen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Darüber hinaus liegt die Nutzungsdauer von Erdka-
beln bei 40 Jahren. Die Nutzungsdauer von Freileitun-
gen liegt bei 80 Jahren und mehr. Bei Erdkabeln muss
alle 700 Meter – die Kabeltrommel ist schließlich end-
lich – ein Muffenbauwerk errichtet werden, wahrschein-
lich auch in Biosphärenreservaten. Also, es wird alle
700 Meter ein großes Muffenbauwerk auf den Schneisen
stehen. Es wird zu größeren Wartungskosten und länge-
ren Reparaturzeiten kommen, und wenn etwas ausfällt,
werden daraus sehr große Stromausfallzeiten resultieren,
die deutlich länger als die bei Freileitungen sind.


(Ulrich Kelber [SPD]: Wie groß ist denn so ein Muffenbauwerk?)


Auch die ökologischen Eingriffe dürfen wir nicht ver-
gessen. Denn sie sind enorm schwerwiegend. Eine Erd-
verkabelung bedingt eine Trassenführung in Betonwan-
nen, was eine hundertprozentige Versiegelung bedeutet.
Darüber hinaus müssen Öltransformatoren aufgestellt
werden, um die Kompensation auszugleichen. Es kommt
zu hohen Bodentemperaturen, und auf der gesamten
Schneise kann nichts mehr angebaut werden. Des Weite-
ren müssen Wartungswege neben der Trasse angelegt
und der Boden komplett ausgetauscht werden. All diese
schwerwiegenden ökologischen Eingriffe darf man nicht
vergessen. Hierüber müssen wir aufklären, und wir soll-
ten Alternativen finden und letztendlich die Vorteile von
Freileitungen – natürlich sehen Erdverkabelungen im
Landschaftsbild besser aus – hervorheben.

Bei allen notwendigen Maßnahmen im Rahmen die-
ser Energiewende müssen wir in neuen Strukturen den-
ken. Erzeugung und Verbrauch müssen natürlich so de-
zentral wie möglich erfolgen. Wenn Strom knapp wird,
soll er teurer vergütet werden als dann, wenn er stark
verfügbar ist. Denn das Prinzip „Produce and forget“ –
das bedeutet, dass Strom immer dann erzeugt wird, wenn
es möglich ist, und nicht dann, wenn er gebraucht wird –,
das jetzt im verkrusteten EEG enthalten ist, macht Un-
ternehmer satt und träge. Wir müssen schauen, dass wir
von der Renditeversorgung zur Energieversorgung kom-
men. Wir brauchen ein Technologieeinführungspro-
gramm. In diesem Sinne hoffe ich, dass wir in den
nächsten Wochen und Jahren weiter eine gute Diskus-
sion führen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722804600

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf den
Drucksachen 17/12638, 17/12214, 17/12518 und 17/12681
an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der Tages-
ordnung finden. – Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.

Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 4 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Wolfgang Tiefensee, Hubertus Heil (Peine),
Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Deutschland 2020 – Zukunftsinvestitionen für
eine starke Wirtschaft: Infrastruktur moder-
nisieren, Energiewende gestalten, Innovatio-
nen fördern
– Drucksache 17/12682 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung 
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Ausschuss für Kultur und Medien 
Haushaltsausschuss

Hierzu ist es verabredet, anderthalb Stunden zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.
Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort für die
SPD-Fraktion dem Kollegen Hubertus Heil.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722804700

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Wir als SPD-Bundestagsfraktion haben diesen
Antrag eingebracht, weil wir uns Gedanken über die
Frage machen, wie wir es schaffen, dass Deutschland
wirtschaftlich erfolgreich bleibt.

Ohne Frage: Deutschland ist derzeit im Vergleich zu
anderen Volkswirtschaften in Europa ein extrem erfolg-
reiches Land. Wir sind Exportvizeweltmeister. Die Ursa-
chen dafür liegen zum Beispiel darin, dass wir vor zehn
Jahren den Mut zu politischen Veränderungen hatten,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wo sind die eigentlich geblieben?)


die notwendig waren, die zum Teil schmerzhaft waren,
die nicht in jedem Detail richtig waren, aber die mitge-
holfen haben, dass Deutschland vor der Krise 2008
besser aufgestellt war als andere Volkswirtschaften in
Europa.


(Beifall bei der SPD)


Der wesentliche Grund aber, warum Deutschland im
Gegensatz zu anderen Volkswirtschaften bis dato besser

durch die Krise gekommen ist, ist die Tatsache, dass wir
nach wie vor eine Industrienation sind, dass wir eine
breite industrielle Wertschöpfungskette haben: von den
Grundstoffindustrien über den industriellen Mittelstand
bis hin zu den kleinen Hightechunternehmen in diesem
Land.

Das ist keine Banalität, weil wir uns noch sehr gut er-
innern können, meine Damen und Herren von der FDP,
wie Sie und Ihre Gesinnungsfreunde vor zehn Jahren
über Industrie in Deutschland gesprochen haben. Sie ha-
ben damals geglaubt, die Zukunft liege allein bei Dienst-
leistungen: Gemeint waren Finanzdienstleistungen.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Quatsch!)


Ihr Herr Westerwelle hat uns damals empfohlen, den Irr-
weg Irlands zu gehen und stärker auf Finanzzockereien
zu setzen. Wir sind Gott sei Dank diesen Weg nicht ge-
gangen, sondern wir haben unsere industrielle Basis er-
halten und erneuert.


(Beifall bei der SPD)


Im Jahr 1998 betrug der industrielle Anteil Deutsch-
lands an seiner Wirtschaft 24 Prozent. Großbritannien
hatte einen gleich hohen Anteil. Heute liegt der Wert in
Großbritannien bei 14 Prozent. Wir müssen etwas dafür
tun, damit wir ein erfolgreiches Wirtschaftsland bleiben.
Doch die Sorge, die wir haben, ist, dass Sie sich in den
letzten drei Jahren, seit Schwarz-Gelb dieses Land re-
giert, auf guter Konjunktur, auf dem Mut von Vorgänger-
regierungen, auf dem industriellen Fortschritt von Unter-
nehmen und Gewerkschaften einfach ausgeruht haben
und dass wir in der Gefahr sind, den Vorsprung, den wir
uns in Deutschland mühsam erarbeitet haben, wieder zu
verlieren. Der Attentismus, das Chaos dieser Bundesre-
gierung, das Zuwarten im Bereich der Wirtschafts- und
Industriepolitik – im Bereich der Energiepolitik eben
wortreich beschrieben –, ist das eigentliche Standort-
risiko für Deutschland, für die Zukunft des Wohlstands
und für die Arbeitsplätze in unserem Land.

Es sind vier große Herausforderungen, vor denen Sie
sich im Moment wegducken und auf die Sie keine Ant-
worten haben. Da ist beispielsweise der veränderte Al-
tersaufbau unserer Gesellschaft, der mittlerweile am Ar-
beitsmarkt ankommt. Die Politik, die Sie machen, führt
dazu, dass wir in einen tief gespaltenen Arbeitsmarkt ge-
radezu hineingetrieben werden. Auf der einen Seite su-
chen immer mehr Unternehmen händeringend qualifi-
zierte Fachkräfte, und auf der anderen Seite sorgen Sie
dafür, dass Menschen durch prekäre Beschäftigung und
Langzeitarbeitslosigkeit abgehängt werden. Das kann
sich Deutschland wirtschaftlich nicht leisten. Wir brau-
chen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt, die Menschen
in Arbeit bringt und sie nicht durch prekäre Beschäfti-
gungsverhältnisse abhängt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dazu gehört der gesetzliche Mindestlohn. Dazu ge-
hört gleicher Lohn für gleiche Arbeit in der Zeit- und
Leiharbeit. Dazu gehört auch eine aktive Arbeitsmarkt-
politik. Wenn wir über Fachkräftesicherung sprechen,





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


dann müssen wir uns auch über die Potenziale in unse-
rem Land Gedanken machen. Das Wichtigste dabei ist,
dafür zu sorgen, dass die Frauenerwerbsbeteiligung,
auch was Vollzeitarbeit betrifft, in diesem Land endlich
auf europäisches Niveau kommt. Sie führen ein idioti-
sches Betreuungsgeld ein, das Frauen vom Arbeitsmarkt
fernhalten soll. Das ist das Gegenteil von Fachkräfte-
sicherung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen die Vereinbarkeit von Beruf und Fami-
lie für junge Männer und Frauen, damit die Potenziale
genutzt werden können. Wir müssen endlich dafür sor-
gen, dass nicht weiterhin 60 000 junge Menschen Jahr
für Jahr unsere Schulen ohne Schulabschluss verlassen,
dass 1,5 Millionen Menschen zwischen 20 und 30 Jahren
ohne berufliche Erstausbildung dastehen.

Der Standortvorteil Deutschlands hat mit der guten
dualen Ausbildung in diesem Land zu tun. Das beschei-
nigen uns inzwischen sogar amerikanische Präsidenten.
Wir müssen sie erhalten und modernisieren, aber wir müs-
sen auch dafür sorgen, dass junge Menschen ausbildungs-
fähig sind. Deshalb brauchen wir mehr Ganztagsschulen
und auch frühkindliche Förderung in Deutschland. Sie
machen das Gegenteil, und das ist wirtschaftlicher Un-
sinn.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die zweite große Herausforderung neben der Frage
von Demografie und ihrer Auswirkung auf den Arbeits-
markt ist und bleibt die Internationalisierung. Hierbei
muss die Frage angesprochen werden, welche Regeln
wir auf den internationalen Finanzmärkten haben. Es
gibt jetzt viel Gerede vor der Wahl und Papiere von
Herrn Schäuble, die sich endlich auch einmal mit dem
Thema Trennbanken beschäftigen.


(Birgit Homburger [FDP]: Über was reden Sie hier eigentlich? Davon steht gar nichts drin!)


Ich sage Ihnen: Wir brauchen im Interesse der Real-
wirtschaft und auch der industriellen Basis dieses Lan-
des die Spielregeln auf den Finanzmärkten. Wir wollen
dafür sorgen, dass in Deutschland in Realwirtschaft statt
in Zockerei investiert wird. Dafür müssen Sie Ihre Haus-
aufgaben machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die dritte große Herausforderung neben dem verän-
derten Altersaufbau und der Internationalisierung ist die
Tatsache, dass wir wissenschaftlichen und technischen
Fortschritt in diesem Land haben und brauchen, um er-
folgreich sein zu können. Deutschland wird nicht mit
den niedrigsten Löhnen, sondern nur mit den besten Pro-
dukten, Verfahren und Dienstleistungen wettbewerbsfä-
hig sein. Wenn man das in Deutschland erhalten will,
dann muss man dafür sorgen, dass auch der industrielle
Mittelstand in diesem Land stärker an Forschung und
Entwicklung partizipieren kann.

Sie haben im Koalitionsvertrag dem Mittelstand steu-
erliche Forschungsförderung versprochen. In den An-
kündigungsreden höre ich, dass Sie das wieder verspre-
chen. Nur gehalten haben Sie es nicht. Wo ist denn Ihr
Konzept für steuerliche Forschungsförderung in dieser
Legislaturperiode? Wir werden das nach der Wahl än-
dern.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die größte Herausforderung neben der Demografie
für die deutsche Wirtschaft und für unser Land wird die
Frage sein, wie wir mit dem Thema Ressourcenknapp-
heit und Energiewende seriös umgehen. Darüber ist
heute Morgen diskutiert worden.

Ich will eine Begebenheit von gestern schildern. Ich
war auf einer Veranstaltung des Bundesverbands der
Deutschen Industrie, der unverdächtig ist, eine Vorfeld-
organisation der SPD zu sein. Dort war ein Vertreter Ih-
rer Regierungsfraktion – es war, glaube ich, der energie-
politische Sprecher der CDU/CSU-Fraktion –, der Wert
darauf legte, dass er mit der Energiepolitik seiner eige-
nen Bundesregierung wenig zu tun hat. Er sprach davon,
dass die CDU/CSU-Bundestagsfraktion streng genom-
men eine Nichtregierungsorganisation sei.

Ich kann nur sagen: In der Energiepolitik merkt man,
dass Sie eine Nichtregierungsorganisation sind. Denn
Tatsache ist, dass aufgrund Ihres Vorgehens – das Zer-
stören der Planungs- und Investitionssicherheit in vielen
Bereichen und das Vergurken der Energiewende – mitt-
lerweile aus einer industriellen Chance, die die Energie-
wende dem Grunde nach ist, ein wirtschaftliches und so-
ziales Risiko für dieses Land geworden ist.

Wenn Sie auf uns nicht hören, dann hören Sie auf die
Verbände, mit denen Sie sonst immer so dicke sind. Das,
was Sie im Bereich Energiepolitik fabrizieren, ist etwas,
das uns zurückwerfen kann.

Wenn man sich international ein bisschen umtut und
weiß, dass es nicht nur im Nahen Osten, sondern auch
im Fernen Osten und in Nordamerika aus unterschiedli-
chen Gründen sehr gute Standortbedingungen für eine
Reindustrialisierung gibt – zum Beispiel durch die
Shale-Gas-Revolution in Nordamerika, weil dort die
Energiepreise mutmaßlich sehr niedrig sein werden –,
und dass diese Länder demografisch anders aufgestellt
sind als wir, dann kann man in Deutschland die Energie-
wende nicht so vergurken, wie Sie das machen. Sie ha-
ben eine Energiewende versprochen, die sauber, sicher
und bezahlbar sein soll. Heute erleben wir Unsicherheit
bei der Versorgung und steigende Preise. Was das Stich-
wort „sauber“ betrifft, kann man nur sagen: Sie sind
nicht sauber im Arbeiten, was die Energiewende betrifft.
Deshalb müssen wir auch da den Schalter umlegen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Deshalb hat die SPD-Bundestagsfraktion – es ist ein
interessanter Zufall, dass das am zehnten Jahrestag der
Agenda 2010 ist – einen Vorschlag für die nächsten zehn
Jahre gemacht. Vor zehn Jahren standen wir vor ganz an-





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


deren Problemen am Arbeitsmarkt in Deutschland, als es
heute Gott sei Dank der Fall ist. Die Aufgaben der letz-
ten zehn Jahre sind nicht die der nächsten zehn Jahre.
Aber wie wir mit dem veränderten Altersaufbau, Stich-
punkt Fachkräftesicherung, und der fortschreitenden In-
ternationalisierung der Bändigung der Finanzmärkte im
Interesse von Realwirtschaft umgehen, wie wir die Ener-
giewende zum Erfolg führen und wie wir dafür sorgen,
dass Deutschland eine starke, wissensbasierte und er-
folgreiche Industrienation bleibt: Das sind die Aufgaben,
denen wir uns stellen müssen. Denn Sie haben in den
letzten Jahren dafür gesorgt – dabei rede ich jetzt nicht
mehr von Schwarz-Gelb, sondern die Merkel-Regierung
hat dafür gesorgt –, dass wir den Vorsprung, den wir uns
mühsam erarbeitet haben, wieder gefährden.

Ich sage Ihnen: Wirtschaftlicher Erfolg und soziale
Gerechtigkeit, das sind für uns Sozialdemokraten keine
Gegensätze, sondern wechselseitige Bedingungen, wenn
wir erfolgreich sein wollen. Die Art und Weise, wie Sie
das Ganze laufen lassen bzw. verschludern und sich auf
den Lorbeeren der Vorgängerregierungen ausruhen, ist
ein Standortrisiko. Deshalb brauchen wir im Interesse
des Wirtschaftsstandorts Deutschland einen Regierungs-
wechsel im Herbst dieses Jahres.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das reden Sie sich alles selbst ein!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722804800

Für die CDU/CSU hat der Kollege Dr. Georg Nüßlein

jetzt das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Haben Sie das richtige Manuskript mitgenommen?)



Dr. Georg Nüßlein (CSU):
Rede ID: ID1722804900

Frau Präsidentin! Meine Damen! Meine Herren!

Nachdem Sie dieses Thema erneut angesprochen haben,
kann ich Ihnen nicht ersparen, im Zusammenhang mit
Ihrem Antrag noch ein paar Sätze zum Thema Energie
zu sagen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!)


Ich will an dieser Stelle ein bisschen ausholen und Ihnen
zunächst versichern – das meine ich so, wie ich es sage –,
dass ich mich über den vorliegenden SPD-Antrag freue;
denn in diesem Antrag stehen viele richtige und wichtige
Sachverhalte. Das meiste ist aber überholt und erfüllt.
Das heißt, Sie fordern Maßnahmen, die wir sehr wohl
umsetzen.

Der Kollege Heil hat gerade insbesondere auf das
Thema Fachkräftemangel abgehoben. Unser Fachkräfte-
konzept zielt in der Tat zuallererst auf Ausbildung und
Weiterbildung ab. Der Kollege Heil hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass das duale System uns innerhalb und
auch außerhalb Europas wettbewerbsfähig hält. Dieses

duale System kann man nicht nur nicht hoch genug lo-
ben, sondern man muss es auch nach vorne bringen. Ich
weise Sie in diesem Zusammenhang darauf hin, dass
Bildung Ländersache ist. Ich erkenne deutlich, dass es
hier gewaltige Unterschiede gibt. Im Bildungsbereich
geht es dort am besten, wo die Union regiert. Dort kom-
men wir am sichersten voran.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber überall dort, wo Rot und Grün ihr Unwesen trei-
ben, gibt es die Ihnen sehr wohl bekannten Schwierig-
keiten. Wenn man das duale System lobt, dann sollte
man auch darüber nachdenken, ob es sinnvoll ist, einer
Zwangsakademisierung Vorschub zu leisten. Jedes Mal,
wenn wir – zu Recht – über Chancengleichheit diskutie-
ren, stelle ich eine einseitige Betonung einer Akademi-
sierung fest. Es wird viel zu wenig darüber gesprochen,
was man dafür tun kann, dass unser wunderbares duales
System so gut bleibt, wie es ist. Das halte ich für ganz
wichtig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir für Chancengleichheit sorgen wollen, dann
müssen wir unser Augenmerk auch auf das Handwerk
richten, das bei der Ausbildung eines erheblichen Teils
der Lehrlinge durch Meister Großartiges leistet.

Wir brauchen natürlich auch die Zuwanderung quali-
fizierter, guter Leute; das ist ganz klar. Aber wir machen
das anders, als Sie von der Opposition das machen wol-
len. Wir wollen nicht einfach die Schleusen öffnen bzw.
die Tore aufreißen, sondern sehr differenziert vorgehen.
Vor diesem Hintergrund ist das richtig, was der Bundes-
innenminister in letzter Zeit in den Vordergrund gestellt
hat. Wir brauchen keine Zuwanderung in unsere Sozial-
systeme.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Oh nein! Jetzt kommt die Nummer wieder!)


Wir haben angesichts der Freizügigkeit gegenüber Ru-
mänien und Bulgarien große Bedenken. Dafür, dass das
dosiert, gesteuert und wohlüberlegt geschieht, ist ein
Unionsinnenminister sicherlich ein Garant.

Ich will nicht näher auf das eingehen, was Sie zur
Energiepolitik und insbesondere zu den Energienetzen
gesagt haben; denn darüber haben wir eben umfassend
diskutiert. Nur so viel: Wenn Sie uns nicht glauben, dass
die Beschleunigung des Netzausbaus zu schaffen ist und
dass wir die Motoren dabei sind, dann bitte ich Sie, das
wenigstens dem Sachverständigenrat zu glauben; denn
dieser würdigt, was dazu in den letzten Monaten be-
schlossen worden ist.

Im Zusammenhang mit dem Breitbandausbau lassen
Sie sich in Ihrem Antrag breit und lang über die vorhan-
denen Defizite aus. Ich weise darauf hin, dass auch die-
ses Thema nicht einfach zu bearbeiten ist; denn es geht
darum, im Rahmen des Wettbewerbs auch den ländli-
chen Raum zu erschließen. Der wirtschaftliche Schaden
wäre immens, wenn es an dieser Stelle nicht voranginge.
Deshalb bin ich der festen Überzeugung, dass das von
uns novellierte Telekommunikationsgesetz einen ent-





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


scheidenden Beitrag dazu leisten wird, dass der Ausbau
kostengünstig und in der Konsequenz auch flächende-
ckend gelingt.

Ich finde auch spannend, was Sie zum Thema Verkehr
gesagt haben. Die Ausweitung der Lkw-Maut 2012 auf
ausgewählte vier- und mehrstreifige Bundesstraßen – Sie
fordern noch eine weitere Ausweitung – stärkt aus mei-
ner Sicht den Finanzierungskreislauf des Verkehrsträgers
Straße. Wir haben für dieses Jahr dank des Bundesver-
kehrsministers, der da sehr vorausschauend ist, zusätz-
lich 750 Millionen Euro für den Neu- und Ausbau unse-
res Straßensystems eingeplant.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Bei mir wird nichts gebaut! Alles nach Bayern, oder was?)


– 750 Millionen Euro zusätzlich!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das ist etwas, was ich auch angesichts unserer The-
matik – davon abstrahieren Sie bei Ihren Forderungen –
ganz klar unterstreichen möchte. Uns geht es um zwei
Dinge: investieren auf der einen Seite und Haushalte
konsolidieren auf der anderen Seite. Bei Ihnen gibt es ei-
nen anderen Gleichklang, und der heißt: investieren auf
der einen Seite und abkassieren auf der anderen Seite.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dummes Zeug ist das!)


Das ist das, was in Ihrem Parteiprogramm für die
nächste Legislaturperiode angekündigt ist, falls Sie dafür
eine Mehrheit bekommen. Ich kann mir das beim aller-
besten Willen aber nicht vorstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich habe Ihnen einleitend gesagt: Mich freut dieser
Antrag. Mich freut er auch noch aus einem anderen
Grund, weil Sie darin nämlich neunmal den Begriff
„Wachstum“ verwenden, und zwar in einem positiven
Sinne.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Lieber schrumpfen, oder was?)


Nun freut mich das aus einem bestimmten Grund. Ich
bin auch Mitglied der Enquete-Kommission „Wachstum,
Wohlstand, Lebensqualität“. Da sieht das, was die SPD
an der Stelle vorträgt, komischerweise ganz anders aus.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch mit Soße!)


Da tun Sie so, als ob wir einem falschen Wachstumsbe-
griff, ja geradezu einer Wachstumsgläubigkeit anhängen
würden, was aber falsch ist. Noch viel spannender ist:
Die Opposition verkauft in dieser Enquete-Kommission
als Erfolg, dass man uns habe beibringen müssen, dass
Wachstum kein Ziel sei, sondern maximal ein Weg, um
Wohlstand zu erreichen. Sie formulieren in Ihrem Antrag
jetzt aber ganz anders. Sie schreiben, soziale Gerechtig-
keit, Wohlstand und Wachstum seien Ziel der Politik. Ich
finde das nicht schlimm – das ist Wortklauberei, sage ich
Ihnen an der Stelle ganz offen –, aber ich wundere mich,

dass Sie sich mit Ihren Kollegen nicht abgestimmt ha-
ben. Die lassen sich in der Enquete-Kommission von
den ganz Linken und den Grünen in Geiselhaft nehmen,
die wachstumsskeptisch wie immer sagen:


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, nein! Herr Nüßlein!)


Das alles brauchen wir nicht mehr. Man muss mit Blick
auf die Ökologie – das sind alte „Club of Rome“-Fanta-
sien, sage ich Ihnen – das Wachstum deckeln, beschrän-
ken; das alles ist des Teufels.

Insofern geht an die SPD: Willkommen im Klub! Ich
freue mich, dass Sie wieder auf der richtigen Spur sind
und dass Sie sich jetzt mit uns gemeinsam dafür einset-
zen wollen, dass uns in dieser Republik Wachstum ge-
lingt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich halte das auch vor folgendem Hintergrund für ent-
scheidend: Man muss wissen, dass Verteilen schwieriger
ist, wenn ein Kuchen nicht größer wird; wenn er größer
wird, gibt es ganz andere Verteilungsmöglichkeiten. Ich
nehme sehr wohl zur Kenntnis, dass Sie sich auch da-
rüber Gedanken gemacht haben, wie man das Ganze ver-
teilt.

Ich nehme aber ebenfalls zur Kenntnis, dass große
Teile der SPD mit der Agenda 2010 hadern. Ich bin froh,
dass das beim Kollegen Heil offenkundig nicht so ist,
aber ich vermisse schon die Jubiläumsfeiern zum zehn-
jährigen Bestehen der Agenda 2010; ich vermisse echt
die Festlichkeiten an der Stelle.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kommen Sie in die Ebert-Stiftung! Haben Sie keine Einladung bekommen? – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Heute Mittag dürfen Sie jubeln!)


Dadurch, dass wir aufgrund der Bundesratsmehrheit
damals auf diese ganze Geschichte Einfluss nehmen
konnten, hat sich einiges in diesem Land bewegt. Ich be-
streite ganz und gar nicht, dass ein Teil dessen, was uns
in der Republik insgesamt geglückt ist, mit guten Unter-
nehmern und fleißigen Arbeitnehmern, darauf zurückzu-
führen ist, dass Bundeskanzler Schröder seinerzeit im
Rahmen der Agenda 2010 einen guten Weg eingeschla-
gen hat, nämlich einen Weg, den man von unserer Seite
hat begleiten können. Da sind viele Dinge deckungs-
gleich. Es ist bei der Agenda 2010 so wie bei Ihrem An-
trag: Immer dann, wenn Sie auf unserer Linie sind, sind
Sie auf der rechten Spur.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will noch etwas dazu sagen, was uns unterscheidet
– ich habe das vorhin schon einmal angedeutet –: Wir
verfolgen mit der qualitativen Konsolidierung der Haus-
halte ein Konzept für ein nachhaltiges Wachstum. Es
geht uns also nicht um Konjunkturimpulse auf Pump,
wie es sich die linke Seite immer vorstellt. Danach
müsse der Staat den Bürgern das Geld abknöpfen und





Dr. Georg Nüßlein


(A) (C)



(D)(B)


wisse genau, wie er es investieren soll. Das ist Quatsch,
meine Damen und Herren. Das geht regelmäßig schief,
das Abkassieren nicht. Das können Sie – das wissen alle
Bürgerinnen und Bürger –, das bekommen Sie gut hin.
Dadurch kann man aber natürlich kein nachhaltiges
Wirtschaftswachstum generieren.

Deshalb warne ich nachdrücklich vor dem, was bei
Ihnen allen angekündigt wird, nämlich vor substanziel-
len Steuererhöhungen. Dabei geht es nicht nur um Er-
tragsteuern, sondern auch um Eingriffe in die Substanz,
um Substanzsteuern. Herr Heil, sich dann hier hinzustel-
len und so zu tun, als stehe man auf der Seite des Mittel-
standes, das ist schon unverfroren.


(Zuruf der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich kann mir nicht vorstellen, dass nachhaltiges Wirt-
schaftswachstum dadurch generiert wird, dass man un-
abhängig von der Gewinnsituation des Mittelstandes in
die Substanz der Betriebe eingreift, dass man über Erb-
schaft- und Vermögensteuer Geld kassiert. Sie erzählen
ja, man würde damit Wirtschaftswachstum organisieren.
Das ist komplett Schwachsinn, meine Damen und Her-
ren. Diese Rechnung wird niemals aufgehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Klaus Barthel [SPD]: Da hält sich die Begeisterung in Grenzen!)


Sämtliche Kritik, die seit heute Morgen 9 Uhr von der
linken Seite des Hauses an der Koalition geäußert wor-
den ist, muss sich an den Ergebnissen messen lassen.

Ich sage es noch einmal: Sie haben aufgehört mit
5,5 Millionen Arbeitslosen. Das war Ihre Bilanz. Jetzt
sind wir fast bei der Hälfte dieser Zahl Arbeitsloser. Dies
zumindest ein bisschen anzuerkennen, wäre eine gute
Sache.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo sind Ihre Reformen? – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Arbeitsvolumen ist nicht gestiegen!)


– Liebe Kollegin Andreae, dieses Ergebnis ist jedenfalls
nicht den Anträgen zu verdanken, die Sie stellen, son-
dern einer klugen Regierungspolitik, die wir nach der
Bundestagswahl werden fortsetzen können.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Da klatscht nicht mal der Kauder!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722805000

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege

Dr. Gregor Gysi.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722805100

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Ich

glaube, die SPD hat recht, wenn sie sagt, dass wir drin-

gend Zukunftsinvestitionen benötigen. Aber was müsste
die erste Zukunftsinvestition sein?

Wir müssen die Binnenwirtschaft stärken. Wir müs-
sen sie schon deshalb stärken, weil alle anderen Fraktio-
nen zusammen den Export dadurch ruinieren, dass sie
Südeuropa auf absolut desaströse Weise sozial ungerecht
gestalten und damit dafür sorgen, dass dort die Kaufkraft
abnimmt. Das führt dazu, dass unsere Exporte dorthin
nachlassen werden. Es gibt nur eine Antwort darauf
– das Ungleichgewicht muss sowieso überwunden wer-
den –, nämlich dass wir eine stärkere Binnenwirtschaft
brauchen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen: Diesbezüglich lag die Agenda 2010
falsch. Herr Nüßlein, ich stimme Ihnen überhaupt nicht
zu: Die SPD hat den Jahrestag gefeiert wie verrückt.
Aber ich finde das völlig falsch, weil die Agenda 2010
der größte Sozialabbau in der Geschichte der Bundes-
republik Deutschland war.


(Beifall bei der LINKEN)


Sie können gar nicht leugnen, dass die Armut drama-
tisch zugenommen hat. Sie können nicht leugnen, dass
der Reichtum dramatisch zugenommen hat.


(Zuruf des Abg. Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU])


23 Prozent aller Beschäftigten sind heute prekär be-
schäftigt. Das ist etwas, was sich lohnt, worauf Sie stolz
sein wollen? „Prekär beschäftigt“ heißt: Es sind Aufsto-
ckerinnen und Aufstocker, es sind Leiharbeiterinnen und
Leiharbeiter; sie sind im Niedriglohnsektor bzw. in
Minijobs beschäftigt. Hinzu kommen die befristet Be-
schäftigten. Diese zählen gar nicht zu den prekär Be-
schäftigten.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wir waren auch dabei!)


– Ich spreche von Grünen und SPD. Union und FDP ha-
ben dabei aber mitgemacht und das noch verschlimmert.
Darüber wollen wir gar nicht streiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Von den Bürgerinnen und Bürgern unseres Landes bis
zum 35. Lebensjahr haben 52 Prozent ein befristetes Ar-
beitsverhältnis. Dann kommt die Union und sagt ihnen,
sie sollen Familien gründen und mehr Kinder bekom-
men. Ja, wie denn? Wie soll denn jemand mit einem
Halbjahresvertrag eine Perspektive haben? Davon kann
niemand ausgehen. So bekommen Sie niemals eine gute
Familienpolitik zustande. Das garantiere ich Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Jetzt kommt immer das Argument – auch von Ihnen
wieder, Herr Nüßlein –, dass die Arbeitslosenzahlen so
sehr zurückgegangen sind. Nehmen Sie bitte eine Tatsa-
che zur Kenntnis: Wir haben jetzt dasselbe Volumen an
Arbeitsstunden wie vor Beginn der Agenda 2010; es hat
sich nichts geändert. Der einzige Unterschied ist, dass
aus einer Vollzeitarbeitsstelle drei Drittelstellen gewor-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


den sind. Damit verbessern Sie die Statistik, aber nicht
die Lage der Leute, im Gegenteil: Sie wird nur prekärer.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage heute, da wir einen neuen Papst haben: Wenn
Franziskus die Agenda 2010 kennen würde, wäre er
strikt dagegen; er stünde an unserer Seite. Das will ich
Ihnen bloß mal sagen; Sie können darüber nachdenken.


(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Gregor I. von den Linken! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich dachte, du wolltest Papst werden! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– Ich wollte, dass Sie mal Reaktion zeigen.

Ich will Ihnen noch sagen: Wenn die Reichen mehr
Geld haben – das muss die CDU/CSU mal zur Kenntnis
nehmen –, dann spekulieren sie mehr. Wenn Arme, Ge-
ringverdienende oder durchschnittlich Verdienende mehr
Geld haben, dann kaufen sie mehr Waren und nehmen
mehr Dienstleistungen in Anspruch. Der Binnenwirt-
schaft können Sie nicht mit mehr Reichtum, sondern nur
mit mehr sozialer Gerechtigkeit helfen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich führe Ihnen noch einmal die Unterschiede vor Au-
gen. Zwischen 1992 und 2012 ist das Geldvermögen in
Deutschland von 4,6 Billionen Euro auf 10 Billionen
Euro gestiegen; es hat sich also mehr als verdoppelt.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das sagen Sie jetzt zum vierten Mal in diesem Plenum!)


0,6 Prozent der Haushalte besitzen davon knapp 20 Pro-
zent, nämlich 1,9 Billionen Euro. Die unteren 50 Prozent
der Haushalte – das ist auch interessant – besaßen 1998
4 Prozent des Geldvermögens und besitzen heute nur
noch 1 Prozent des Geldvermögens. Auch das ist ein Er-
gebnis der Agenda 2010. Warum korrigieren Sie das
nicht und fangen nicht an, ganz anders politisch zu agie-
ren und darüber nachzudenken, wie wir diesbezüglich zu
einer anderen Gesellschaft kommen?


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir die Binnenwirtschaft stärken wollen, brau-
chen wir gerechte, höhere Löhne, Renten und Sozialleis-
tungen. Aber wir müssen endlich auch den Steuerbauch
überwinden; das sage ich Ihnen von der FDP, weil auch
Sie das fordern. Es ist wirklich wahr – das möchte ich
den Leuten sagen –: Der Verlauf unseres Einkommen-
steuertarifs ist nicht linear, sondern hat einen Bauch, und
zwar bei der Mittelschicht der Gesellschaft, also den
Facharbeiterinnen und Facharbeitern, den Meisterinnen
und Meistern, aber auch den Lehrerinnen und Lehrern,
den Polizistinnen und Polizisten und vielen Selbstständi-
gen. Sie alle müssen sehr viel mehr Steuern zahlen, als
es gerecht ist. Deshalb muss dieser Steuerbauch weg.
Warum ist der Steuerbauch da?


(Zuruf von der CDU/CSU: Weil die von der SPD nicht mitmachen wollten!)


Weil der Spitzensteuersatz gesenkt worden ist. Sie wol-
len den Steuerbauch beseitigen – so weit sind wir einver-

standen –, aber ohne Erhöhung des Spitzensteuersatzes.
Das geht nicht; denn es bedeutet, die Kommunen noch
mehr pleite zu machen. Sie können sich jetzt schon
kaum Investitionen in Schulen und Kindertagesstätten,
in Kultur und Jugend leisten. Das geht nicht. Deshalb
sage ich Ihnen: Wir brauchen einen Ausgleich, einen hö-
heren Spitzensteuersatz, und dann können wir endlich
den Bauch bei der Mittelschicht beseitigen, der tatsäch-
lich überwunden werden muss.


(Beifall bei der LINKEN)


Dann haben die auch mehr Netto vom Brutto.

Also: Was müssen wir machen? Wir brauchen einen
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro
pro Stunde. Wir würden auch einem geringeren Mindest-
lohn zustimmen, aber er wäre falsch. Ich sage Ihnen
noch einmal: Wir brauchen in Deutschland einen flä-
chendeckenden gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen statt prekärer Beschäftigung gute Arbeit,
höhere Renten und höhere Sozialleistungen. Das wäre
die wichtigste Investition für unsere Binnenwirtschaft
und damit für unsere Zukunft.

Sie haben recht: Wir brauchen auch Investitionen im
Energiebereich. Die erneuerbaren Energien müssen ge-
fördert werden. Bis zum Jahre 2020 muss ihr Anteil von
25 Prozent auf 50 Prozent steigen. Was macht die Bun-
desregierung jetzt? Sie stellen die Förderung ein. Aben-
teuerlicherweise begründen Sie das auch noch mit den
Strompreisen, Herr Altmaier.


(Birgit Homburger [FDP]: Ach! So ein Schwachsinn!)


Das ist der völlig falsche Weg. Wenn wir die erneuerba-
ren Energien endlich angemessen fördern und trotzdem
Strompreise haben wollen, die sich die Leute leisten
können, müssen wir sieben Schritte machen:

Erstens. Wir brauchen, auch wenn es Ihnen nicht ge-
fällt, eine Strompreisaufsicht; anders geht es nicht.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen die Abzocke durch die vier Konzerne been-
den.

Zweitens. Wir brauchen eine Senkung der Strom-
steuer in dem Umfange, in dem wir eine Steuer für die
erneuerbaren Energien erheben.

Drittens. Die Privilegierung der Industrie muss, von
wenigen Ausnahmen abgesehen, abgebaut werden. Es ist
nicht hinnehmbar: Die Unternehmen mit dem höchsten
Stromverbrauch müssen am wenigsten bezahlen.


(Beifall bei der LINKEN)


Viertens. Wir brauchen einen Sockeltarif für die Bür-
gerinnen und Bürger. Das wäre eine soziale Maßnahme.
Wir sagen: Pro Haushalt gibt es jährlich 300 Kilowatt-
stunden kostenfrei, zusätzlich 200 Kilowattstunden pro
Person. Das bedeutet: Ein Einpersonenhaushalt erhielte
500 Kilowattstunden – sagen wir es einmal so – gebüh-
renfrei, wenn auch nicht kostenfrei. Ein Zweipersonen-





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


haushalt erhielte 700 Kilowattstunden gebührenfrei, und
so ginge es immer weiter. Das wäre sinnvoll.

Fünftens. Wir brauchen eine Abwrackprämie. Wer ein
stromfressendes Haushaltsgerät verschrottet und ein
neues Gerät mit hoher Energieeffizienz – Kühlschrank,
Waschmaschine, Spülmaschine – erwirbt, sollte diese
Abwrackprämie bekommen. Das reizt. Das hilft übri-
gens auch der Wirtschaft, und gleichzeitig macht es die
Strompreise bezahlbar.

Sechstens. Der Bund muss meines Erachtens für die
Gebäudesanierung 3,5 Milliarden Euro bereitstellen.

Siebtens. Es ist ja wichtig, die Gebäude zu sanieren
– auch eine wichtige Investition –, aber wenn wir das
Geld zur Verfügung stellen, müssen wir den Vermietern,
die dieses Geld nehmen, verbieten, die Mieten zu stei-
gern. Das ist nämlich das Entscheidende, damit das
Ganze sozialverträglich wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage es Ihnen noch einmal: Wenn Sie eine nach-
haltige, ökologische Umgestaltung wollen und sie nicht
sozialverträglich machen, dann erben Sie Blockierer,
und zwar gerade in den armen Schichten der Bevölke-
rung. Es muss sozial sein, damit wir diese Schichten mit-
nehmen und für den ökologischen Umbau gewinnen
können.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir müssen natürlich auch in die Infrastruktur inves-
tieren, zum Beispiel in Verkehrswege, aber nicht in so et-
was Sinnloses und wahnsinnig Teures wie Stuttgart 21,
sondern in die Schieneninfrastruktur, in den Nah- und
Fernverkehr, in Fahrwege, in Bahnhöfe für U-, Stadt-
und Straßenbahnen, in Omnibusse und – ich sage es
auch im Interesse der Grünen – in sichere Radwege.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber doch nicht nur wegen uns!)


– Nein, aber auch Ihretwegen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist gut!)


Wir brauchen außerdem ganz dringend Investitionen
im Bildungsbereich – ich bitte Sie! –, und zwar für die
Schulgebäude, für die Ausrüstung, aber auch für die
Qualifizierung und die Anzahl des Personals. Da muss
investiert werden. Ich möchte Chancengleichheit für
Kinder bei der Bildung. Davon sind wir meilenweit ent-
fernt, übrigens gerade auch in Bayern, weil dort die Kin-
der schon nach der vierten Klasse getrennt werden. Das
ist nichts anderes als soziale Ausgrenzung. Das ge-
schieht in vielen anderen Bundesländern auch.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Trotzdem haben wir das beste Bildungssystem!)


Wir brauchen auch Investitionen in Fachhochschulen
und in Universitäten, überhaupt wieder in Forschung
und Wissenschaft, die vernachlässigt werden, aber vor

allem in Kindertagesstätten. Ab 1. August 2013 gibt es
einen Rechtsanspruch auf einen Kindergartenplatz. Und
was führen Sie ein? Ein Betreuungsgeld, damit die El-
tern ihre Kinder nicht in Kindertageseinrichtungen schi-
cken. Ich bitte Sie! Dort lernen die Kinder soziales Ver-
halten. Dazu brauchen wir qualifiziertes Personal; das ist
wichtig. Natürlich müssen Kindertagesstätten genauso
wie Schulen ein gebührenfreies, vollwertiges und gesun-
des Mittagessen anbieten.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Deutsche Institut für Urbanistik hat übrigens fest-
gestellt, dass wir bis zum Jahre 2020 Investitionen von
704 Milliarden Euro benötigen. Jetzt kommt ein Punkt,
der mich auch erstaunt hat: Gleichzeitig wurde festge-
stellt, dass die Höhe der deutschen Investitionen inner-
halb der EU am untersten Rand liegt. Nicht dieses reiche
Deutschland investiert mehr als Länder wie Spanien etc.,
nein, weniger. Ja, sagen Sie mal! Wo leben wir denn hier
eigentlich? Herr Rösler, da müssten selbst Sie erschreckt
und erstaunt sein.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Philipp Rösler, Bundesminister: Aber auf jeden Fall!)


Ich kann nur sagen: Das geht nicht. Wenn wir nur den
EU-Durchschnitt erreichen wollen, müssten wir 30 Mil-
liarden Euro pro Jahr investieren. Aber die reichen gar
nicht aus. Wie gesagt, das Institut für Urbanistik hat fest-
gestellt: Wir brauchen 704 Milliarden Euro für Verkehr,
für Wasser, für Abwasser, für Kitas, für Schulen. Genau
da muss investiert werden.

Wir haben gesagt: Wir brauchen gute Arbeit und ge-
rechte Löhne. Deshalb sage ich Ihnen noch einmal
– Mindestlohn ist klar –: Leiharbeit möchte ich überwin-
den. Aber wenn Sie sie nicht überwinden, führen Sie
doch endlich nicht nur den gleichen Lohn für die Leih-
arbeiterinnen und Leiharbeiter wie für die Stammbeleg-
schaft ein, sondern einen Zuschlag von 10 Prozent wie in
Frankreich. Dieser Zuschlag ist mir wichtig. Es muss für
das Unternehmen teurer sein, eine Leiharbeiterin oder
einen Leiharbeiter zu beschäftigen. Außerdem verdienen
die Leute dieses Geld. Dann wird es nämlich zur Aus-
nahme und nicht Schritt für Schritt zur Selbstverständ-
lichkeit, wie es leider in unserer Gesellschaft geworden
ist.


(Beifall bei der LINKEN – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Jetzt sagen Sie noch mal, was das alles kostet, was Sie hier gefordert haben!)


– Ja, passen Sie auf. Wir müssen die Befristung verbie-
ten, wenn sie ohne sachlichen Grund erfolgt, wenigstens
das. Ich bin es leid, dass die Leute fast nur noch befris-
tete Verträge erhalten. Fast alle Neueinstellungen erfol-
gen inzwischen befristet und damit ja auch ohne Kündi-
gungsschutz.


(Zuruf von der CDU/CSU: Stimmt gar nicht! Er hat keine Ahnung!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722805200

Herr Kollege.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722805300

Sie wollen doch nicht sagen, dass meine Redezeit

schon um ist.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722805400

Die ist schon quasi mehr als um. Ich sage das nicht,

aber die Uhr.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722805500

Ja, ich höre ja auch auf. Ich hätte Ihnen noch so viel

erklärt,


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er möchte noch mehr verteilen! Sagen Sie das doch!)


wie das Ganze zu finanzieren ist. Aber wissen Sie: Der
Redner vor mir hatte auch elf Minuten, und die dauerten
so viel länger als meine. Daran müssen wir mal was än-
dern.

Ich wünsche Ihnen trotzdem alles Gute.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722805600

Birgit Homburger hat jetzt das Wort für die FDP-

Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Birgit Homburger (FDP):
Rede ID: ID1722805700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Angesichts des Antrages, den wir heute disku-
tieren, war ich doch einigermaßen verwundert, Herr
Heil, über die Rede, die Sie hier abgeliefert haben. Ich
habe den Eindruck: Das war die Rede, die Sie jede Wo-
che hier halten – einmal aus der Schublade gekramt und
wieder runtergeleiert. Jedenfalls steht nichts von dem,
was Sie hier erzählt haben, in Ihrem Antrag.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Sie haben ihn nicht gelesen!)


Insofern, verehrter Herr Heil, rate ich Ihnen dringend,
diesen Antrag einmal zu lesen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich habe ihn mit geschrieben!)


Ich habe mir diese Mühe gemacht, und ich kann nur sa-
gen: Das scheint die Zusammenfassung der derzeitigen
wirtschaftspolitischen Forderungen und Kernpositionen
der SPD zu sein. Wenn das alles ist, dann gute Nacht,
Deutschland!


(Beifall bei der FDP)


Wenn ich mir anschaue, über was alles Sie nicht reden
in Ihrem Antrag mit dem großen Titel „Deutschland
2020“, dann stelle ich fest: Sie reden beispielsweise
nicht über Grundvoraussetzungen für Wettbewerbsfähig-
keit und Wachstum, nicht über den Arbeitsmarkt, auch
was die Bedeutung von Arbeitskosten angeht. Auch das
Stichwort „Haushaltskonsolidierung“ sucht man erfolg-
los in diesem Antrag. Über die Bedeutung von Steuern

für die weitere wirtschaftliche Entwicklung reden Sie
ebenfalls nicht. Das ist auch besser so; denn wer 30 Mil-
liarden Euro Steuererhöhungen fordert, der kann eben
nicht über diese Rahmenbedingungen sprechen, die für
die Wirtschaft nur bedeuten, dass es für sie schwieriger
wird und nicht besser.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich finde es ganz besonders apart, dass Sie sich hier
hingestellt und wieder mal die Agenda 2010 für sich re-
klamiert haben. Klar, das können Sie natürlich; aber Sie
reklamieren die Erfolge, die wir derzeit in der Wirt-
schaftspolitik und am Arbeitsmarkt haben, für sich und
für die Agenda 2010. Sehr geehrter Herr Heil, ich
möchte, dass Sie sich endlich einmal die Mühe machen,
sich die geschichtliche Wahrheit nicht nur anzuschauen,
sondern vielleicht auch vorzutragen. Sie verschweigen
nämlich, dass Rot-Grün, nachdem Sie 1998 die Regie-
rung übernommen haben, als Erstes eines gemacht hat:


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir haben 16 Jahre Reformstau abgebaut!)


Sie haben all die Reformmaßnahmen, die wir, Schwarz-
Gelb, 1996/97 durchgeführt haben, rückgängig gemacht,


(Dr. Martin Schwanholz [SPD]: Sie haben ein marodes Land hinterlassen! 1998 war Deutschland am Ende!)


um sie Jahre später mit der Agenda 2010 wieder einzu-
führen. Das ist keine bemerkenswerte Leistung, sondern
es ist eine bemerkenswerte Einsicht, die Sie mit der
Agenda 2010 gezeigt haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Jetzt feiern Sie die Agenda 2010 in großen Festakten.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Feiern sie jetzt, oder feiern sie nicht? Sie müssen sich mal entscheiden!)


Aber in Ihrem Programm schleifen Sie die Agenda 2010.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Es geht um Korrigieren!)


Ihre wirtschaftliche Position ist inkonsistent, und das,
was Sie hier in der Wirtschaftspolitik abliefern, ist an
Schizophrenie nicht mehr zu überbieten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Kein Wunder, dass Sie als FDP was auf die Mütze bekommen!)


Das geht bei der Verkehrsinfrastruktur weiter. Natür-
lich ist es wichtig, dass wir in die Verkehrsinfrastruktur
investieren, und das tun wir auch im Rahmen der Mög-
lichkeiten, die der Haushalt bietet.


(Sören Bartol [SPD]: Wo denn? – Weitere Zurufe von der SPD)


– Sie brauchen gar nicht so zu tun. – Ich will Ihnen nur
einmal sagen: Sie haben in der Vergangenheit, egal in





Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)


welcher Regierung Sie waren, in die Verkehrswege we-
niger investiert als das, was jetzt von uns investiert wird.
Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Quatsch!)


Unser Investitionsrahmenplan sieht vor, dass in den
nächsten Haushalten das Niveau von 10 Milliarden Euro
für Infrastrukturmaßnahmen erhalten wird. 2013 wirkt zu-
sätzlich ein Infrastrukturbeschleunigungsprogramm II,
das weitere 750 Millionen Euro umfasst. Wenn Sie, die
SPD, in der Verantwortung sind, dann kürzen Sie die
Verkehrsinvestitionen, und wenn Sie in der Opposition
sind, dann fordern Sie gemeinsam mit den Grünen üp-
pige Aufstockungen, ohne irgendeine Antwort auf die
Frage zu geben, wie Sie das finanzieren wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Was? Quatsch! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo haben Sie denn das aufgeschnappt? Auf dem FDP-Parteitag, oder was?)


Dann kommen Sie daher und fordern in Ihrem Antrag
auch noch ein Investitionspaket zur Finanzierung der
kommunalen Verkehrsinfrastruktur.


(Zuruf von der SPD: Gute Idee!)


Sie vergessen, dass es immer noch eine Investitionshilfe
vom Bund gibt, obwohl man in der Föderalismuskom-
mission II eine Entflechtung beschlossen hat, und zwar
mit Ihren Stimmen. Trotzdem gibt es bis zum Jahr 2019
Mittel: 1,4 Milliarden Euro jährlich Kompensationszah-
lungen,


(Sören Bartol [SPD]: Sie haben es nur um ein Jahr verlängert! Erzählen Sie doch nicht so was!)


330 Millionen Euro Bundesmittel und Regionalisierungs-
mittel für den ÖPNV in Höhe von 7 Milliarden Euro.


(Sören Bartol [SPD]: Das ist auch noch falsch! Falsch! Falsch!)


Das ist das, was der Bund für die Kommunen zahlt. Jetzt
gehen Sie her und erklären in Ihrem Antrag, Sie wollten
noch mehr. Ich sage Ihnen eines: So kann man nicht mit-
einander arbeiten. Sie interessieren sich nur für eines:
Geld abholen und Geld abzocken, wo es gerade geht. Da
ist Ihnen der Bund recht. Wenn es beim Bund nichts zu
holen gibt, dann bei den Bürgerinnen und Bürgern durch
Steuererhöhungen. Das ist Ihre Politik.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: 1 Milliarde Euro an Hoteliers jedes Jahr! Das ist eure Lieblingsklientel!)


Sie schwadronieren darüber, dass man die industrielle
Basis und den Mittelstand nicht schwächen dürfe. So
steht es in Ihrem Antrag. Wunderbar! Was fällt Ihnen als
Lösung ein? Sie wollen die Lkw-Maut auf alle Bundes-,
Landes- und Kommunalstraßen ausweiten. Das ist eine

wirtschaftliche Katastrophe für die Logistik, das Trans-
portgewerbe und das Handwerk. Wenn man dazu die
Vorstellungen der Grünen von einer Logistikabgabe in
Höhe von 2 Milliarden Euro jährlich und einer Auswei-
tung und Erhöhung der Lkw-Maut auf alle Lkw über
3,5 Tonnen addiert, kann man nur sagen: Bei Logistik,
Transport und Handwerk gehen mit Rot-Grün die Lich-
ter aus. Das jedenfalls werden wir verhindern, meine Da-
men und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Recht hat sie! – Sören Bartol [SPD]: Sie werden von den Leuten eh nicht mehr gewählt!)


Ein anderes Thema: EEG. Herr Gysi, es war interes-
sant, was Sie dazu gesagt haben. Ich sage Ihnen eines:
Wenn Sie nicht irgendwann anfangen, die Übersubven-
tionierung zulasten der Verbraucherinnen und Verbrau-
cher, die wir im EEG haben, zu reduzieren, dann wird es
nicht funktionieren.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo denn?)


Deshalb haben wir eine Reform des EEG vorgeschlagen,
weil Energie bezahlbar bleiben muss.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie wollen das doch abschaffen!)


Das, was Sie auf der linken Seite des Plenums machen,
ist eines: schamlose Klientelwirtschaft. Das muss man
Ihnen irgendwann auch mal sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen bei der SPD – Sören Bartol [SPD]: Das sagt die Hotelpartei! 1 Milliarde für Hoteliers! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Die FDP kann man nicht kaufen, aber mieten kann man die FDP! – Gegenruf des Abg. Klaus Breil [FDP]: Mieten kann man den Steinbrück!)


Dann fordern Sie in Ihrem Antrag zusätzliche Investi-
tionen für Forschung. Sie können das natürlich gerne
fordern. Aber ich frage Sie, Herr Heil: Warum haben Sie
dies in Ihrer Regierungszeit eigentlich nicht gemacht?
Diese Regierungskoalition aus CDU/CSU und FDP


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Mövenpick!)


hat in dieser Legislaturperiode über 13 Milliarden Euro
mehr in Forschung und Bildung investiert.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist die steuerliche Forschungsförderung geblieben?)


Das ist eine klare Schwerpunktsetzung. Wir stellen per
anno 14 Milliarden Euro Mittel für Forschung und Ent-
wicklung zur Verfügung. Das ist der höchste Betrag, den
wir in diesem Land je zur Verfügung gestellt haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist denn die steuerliche Forschungsförderung?)


Das haben wir umgesetzt in der Hightech-Strategie, in
der Innovationsstrategie, in einer Zusammenarbeit mit
Universitäten, um Forschungserfolge in Innovationen
umzusetzen. Jetzt wollen Sie noch mehr Geld. Meine





Birgit Homburger


(A) (C)



(D)(B)


Damen und Herren, wir haben es gemacht. Sie reden nur
davon, und wenn Sie regieren, machen Sie das Gegen-
teil.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie stellen sich hier hin und reden darüber, dass es in
den USA Preisminderungen bei der Energie durch eine
Revolution bei der Schiefergasförderung gebe. Ja, Herr
im Himmel: Was machen Sie eigentlich in Deutschland?


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer regiert denn hier?)


Sie betonen die Risiken. Über die Chancen habe ich Sie
an dieser Stelle noch nie reden hören. Also erwecken Sie
nicht den Eindruck, als wenn Sie diese Technologie un-
terstützen wollten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was ist die Position der Bundesregierung dazu?)


Sie wollen eine Initiative zur Schaffung von Technik-
verständnis auf den Weg bringen. Auch das ist ganz be-
merkenswert, Herr Heil. In Hannover, wo Sie gerade die
Regierung gebildet haben, haben SPD und Grüne be-
schlossen, dass das Projekt HannoverGEN beendet wird.
Das heißt, das Projekt – ein prämiertes Modell der Initia-
tive „Deutschland – Land der Ideen“ –, bei dem bei-
spielsweise Schüler durch molekularbiologische Experi-
mente an das Thema Biotechnologie herangeführt
werden, um Chancen und Risiken zu diskutieren, schaf-
fen Sie ab. Sie reden auf Bundesebene das eine, aber in
den Ländern, in denen Sie regieren, machen Sie das Ge-
genteil.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Es ist gut, dass Sie bald nirgendwo regieren!)


Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,
wird in Ihrem Antrag und der Debatte deutlich: Es gibt
einen Unterschied zwischen Schwarz-Gelb und Rot-Rot-
Grün.


(Martin Dörmann [SPD]: Das ist der erste wahre Satz!)


Das ist ein klares Bild: Wir wollen eine Stabilitätsunion,
Sie wollen eine Schuldenunion; wir wollen die Haus-
haltskonsolidierung, Sie wollen Mehrausgaben; wir wol-
len Leistungsgerechtigkeit, Sie wollen Steuererhöhun-
gen; wir wollen Wettbewerb im Energiebereich, Sie
wollen klientelorientierte Planwirtschaft; wir wollen so-
zialen Aufstieg durch bessere Bildung, das, was Sie
durch Einheitsschulen in den Ländern machen, bedeutet
Bildungsabstieg. Das ist der Unterschied zwischen uns
und Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zurufe von der FDP: Bravo! – Super! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das war Frau Brüderle!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722805800

Jetzt hat für Bündnis 90/Die Grünen Kerstin Andreae

das Wort.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722805900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ja, es gibt große Unterschiede zwischen Schwarz-Gelb
und Rot-Grün, und das ist gut so.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Beifall der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE])


Wir werden die nächsten Wochen und Monate dazu nut-
zen, diese deutlich zu machen.

Der große Unterschied besteht vor allem darin, dass
Sie Besitzstände und Zugangsbarrieren wahren, dass Sie
sich nicht trauen, Altes zu hinterfragen, dass Sie nicht
nach vorne gehen, dass Sie keinen Mut zur Veränderung
haben, sondern dass Sie beharren und abwarten. Das ist
der große Unterschied.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie ruhen sich auf den Taten von Vorgängerregierun-
gen aus. Sie leben von der Hand in den Mund.


(Dr. Florian Toncar [FDP]: Phrasen über Phrasen!)


Wir werden bei den Haushaltsberatungen demnächst
deutlich aufzeigen, dass Sie von der Hand in den Mund
leben, dass Sie nur noch kurzfristig und nicht mehr lang-
fristig in die Zukunft denken und sich nicht mehr trauen,
voranzugehen.

Ja, wir sind ein starker Industriestandort, aber was
waren die relevanten Weichenstellungen der letzten
Jahre, des letzten Jahrzehnts, damit wir dieser relevante
Industriestandort werden? Ja, wir haben vor zehn Jahren
verkrustete Strukturen aufgebrochen. Das war richtig so.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Es ist auch richtig, sich heute zu fragen: Wo gab es Fehl-
entwicklungen? Die Ausweitung des Niedriglohnsektors
ist eine Fehlentwicklung, die wir nicht hinnehmen kön-
nen. Wir brauchen den Mindestlohn, um hier gegenzu-
steuern.

Es war richtig, verkrustete Strukturen aufzubrechen,
Besitzstände zu hinterfragen. Da muss keiner in die Fur-
che gehen, da muss sich keiner verstecken. Man muss
den Mut haben, zu sagen: Was muss verändert werden,
damit es noch besser wird, damit wir weiter vorankom-
men? Grüne und SPD tun das.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben mit mutiger Industriepolitik die richtigen
Weichen gestellt,


(Klaus Breil [FDP]: Mutige Industriepolitik? Das ist doch wohl ein Scherz!)


zum Beispiel mit der Ökosteuer. Ich kann mich noch gut
erinnern: Als die FDP in der Opposition war, wollte sie
immer die Ökosteuer abschaffen; das war ihr Schlag-
wort.


(Beifall des Abg. Dr. h. c. Jürgen Koppelin [FDP])






Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)


– Da würde ich nicht klatschen. – In dem Moment, wo
Sie regiert haben, haben Sie das Thema nicht mehr ange-
fasst, weil Sie zum einen wussten, dass Sie die Einnah-
men brauchen, und zum anderen, weil Sie erkannt
haben, dass das Prinzip, Ressourcen, Rohstoffe und
Energie teuer und Arbeit billiger zu machen, grundsätz-
lich ein richtiges Prinzip ist. Das haben wir durch die
Einführung der Ökosteuer umgesetzt. An diesem Punkt
müssten Sie weiterentwickeln. Das wäre kluge und ver-
nünftige Politik.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz haben wir das
große industriepolitische Projekt der letzten Dekade an-
gefasst.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie sollten doch nichts anfassen! Sie sollen was machen!)


Wo sind denn die Jobs geschaffen worden? Wo gab es
Wertschöpfung? Wo sind die Zukunftsmärkte im Bereich
Umwelttechnologie? Im Bereich erneuerbare Energien
und Energietechnologie! Dort gibt es Wertschöpfung,
dort sind die Jobs.

Heute Morgen haben wir die Debatte hier verfolgt.
Der Wirtschaftsminister hat über das EEG geredet und
hat über Planwirtschaft fabuliert. Wie war denn die Si-
tuation? Vier große Energieversorgungsunternehmen ha-
ben sich den Energiemarkt in Deutschland aufgeteilt. Ist
das Wettbewerb gewesen? Nein!


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Was hat das mit Wettbewerb zu tun, wenn 100 Prozent subventioniert sind? So ein Quatsch!)


Durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz ist Wettbewerb
geschaffen worden. Kleine Unternehmen und Stadt-
werke sind eingestiegen. Das war Wettbewerbspolitik.
Das hat Zukunft geschaffen; das hat Jobs geschaffen.
Deswegen ist das Fabulieren von Wirtschaftsminister
Rösler über Planwirtschaft der totale Blödsinn.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Da dreht sich ja Ihre Universität um in Freiburg, wenn man so was erzählt!)


Was müssen Sie machen? Sie müssen Investitions-
sicherheit schaffen. Wir reden immer noch über das
EEG; gerade wurde angedeutet: Eigentlich muss man es
abschaffen. – Die vier EEG-Novellen der letzten zwei
Jahre haben doch nur zu Planungsunsicherheit bei den
Investoren und zu Unklarheit bei den Handwerkern ge-
führt, weil keiner wusste, wie es weiterging. Alles hat
gestockt.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wenn wir die Vergütungssätze von damals hätten, dann wären wir pleite!)


Letztlich haben Sie die Hand auf die Solarbranche ge-
legt, anstatt zu sagen: Wir entwickeln weiter, wir gehen
den Weg vernünftig weiter. Sie haben keinen Plan vorge-

legt. Sie haben sich als Sargnagel der Solarbranche er-
wiesen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie müssen Innovationssicherheit schaffen. Sie müs-
sen Innovationen voranbringen. Wenn wir das alle wol-
len, dann lassen Sie uns doch gemeinsam die steuerliche
Forschungsförderung beschließen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ja, dann macht doch mal! Im Koalitionsvertrag steht:
Die wollen es. – Wir wollen es auch. Ich sage: Das könn-
ten wir tun. Wir wären jederzeit dabei.

Sie müssen Prioritäten setzen. In diesem Zusammen-
hang komme ich noch auf die Verkehrsinfrastruktur zu
sprechen.

Bundeskanzlerin Merkel hat vor der baden-württem-
bergischen Wahl Stuttgart 21 zur Richtungsentscheidung
gemacht. Sie haben die Wahl verloren. Sie haben die
Grünen damals als Dagegen-Partei bezeichnet. Ja, wir
sind dagegen, das Geld der Steuerzahler für ein Projekt
aus dem Fenster zu werfen, das einen negativen Kosten-
Nutzen-Faktor hat, für ein Projekt, das sich wirtschaft-
lich nicht mehr rechnet. Das ist kein grünes Projekt, und
das wird kein grünes Projekt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Frage lautet doch: Wie sieht moderne Infrastruk-
tur der Zukunft aus, und wo setzen wir die Prioritäten?
Das große Drama steht uns ja noch bevor: Der Bundes-
verkehrswegeplan wird noch vorgelegt. Am schlimms-
ten ist es immer, wenn über Bundesverkehrswegepläne
in Wahljahren diskutiert wird. Es liegt eine bayerische
Vorschlagsliste vor. Wenn wir die Kosten für diese Pro-
jekte aufsummieren, stellen wir fest, dass dadurch alle
Gelder, die überhaupt für Verkehrsprojekte zur Verfü-
gung stehen, aufgefressen würden. In Wahlkampfzeiten
wird jedem alles versprochen. Nein, Sie müssen den Mut
haben, voranzugehen, Entscheidungen zu treffen, Priori-
täten zu setzen. Wer das vorbildlich macht, ist die baden-
württembergische grün-rote Landesregierung.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha, ha, ha!)


Sie hat gesagt: Wir schauen uns an, was wir bezahlen
können. – So muss es sein.


(Beifall des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Abg. Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722806000

Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722806100

Es tut mir leid, meine Stimme ist weg.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722806200

Das Wort hat nun Ernst Hinsken für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1722806300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich finde es bedauerlich, dass verschiedene Kollegen,
insbesondere von der linken Seite des Hauses, das Red-
nerpult hier im Deutschen Bundestag mit der Parteitags-
bühne verwechseln.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Widerspruch bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das ist der Sache nicht dienlich. Die Bürger, die unsere
Debatte verfolgen, erwarten Antworten auf bestimmte
Zukunftsfragen, denen sich die heutige Debatte widmet.
Das Thema ist viel zu ernst, als dass man hier nur drauf-
schlagen könnte, ohne sich Gedanken über die Zukunft
zu machen. Deshalb möchte ich sagen: Herr Bundes-
minister Rösler, Ihre Ausführungen waren wohltuend
und richtungsweisend.


(Beifall des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Das war überzeugend. Das ist der richtige Weg in die
Zukunft. Dieser Weg sollte auch in Zukunft von uns ge-
gangen werden.


(Mechthild Rawert [SPD]: Mit Sicherheit nicht!)


Ein altes Sprichwort lautet: Wer nicht innoviert, der
verliert.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Innoviert? Was ist denn „innoviert“?)


Wir, die Bundesrepublik Deutschland, sind das Land der
Innovationen. Dafür haben wir, dafür hat diese Regie-
rung die richtigen Rahmenbedingungen geschaffen. Zu
Beginn dieses Jahres können wir alle zusammen mit
Stolz feststellen: Deutschland hat die wettbewerbsfä-
higste Volkswirtschaft Europas.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Unser Land ist das einzige Industrieland, das heute deut-
lich weniger Arbeitslose hat als vor Ausbruch der Fi-
nanzkrise. Wir bleiben der Stabilitätsanker Europas. Das
lassen wir uns auch von Ihnen von der linken Seite die-
ses Hauses nicht nehmen. Für diese hervorragenden Er-
folge zeichnet diese Regierung, die sich seit drei Jahren
im Amt befindet, verantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Diese positive Entwicklung ist aber auch ein Verdienst
der Wirtschaft, insbesondere der mittelständischen Un-
ternehmerinnen und Unternehmer sowie deren Mitarbei-
ter.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Die sind auch alle so begeistert!)


Mit Leistungsbereitschaft, Verantwortungsbewusst-
sein und vernünftigen Rahmenbedingungen haben wir
die schwere Rezession überwunden und für neues
Wachstum gesorgt. Ohne Zweifel – auch das möchte ich
sagen, Herr Kollege Heil – wurden die Grundlagen dafür
bereits in der Großen Koalition gelegt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Und davor!)


Sie haben zumindest mitgeholfen. Damals war ein ge-
wisses Verständnis vorhanden. Damals hat man gewusst,
dass man etwas machen muss. Wenn das heute noch so
wäre, wären Sie sicherlich ein Stück weit besser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Wir sind eigentlich weiter!)


Besonders anerkennen möchte ich in diesem Zusam-
menhang, dass die Unternehmen die Arbeitsplätze ihrer
Beschäftigten über Kurzarbeit auch in schwierigen Zei-
ten erhalten haben.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Olaf Scholz!)


An dieser Stelle ist auch zu sagen: Gerade was die Ju-
gendarbeitslosigkeit anbelangt – das wurde heute schon
mehrmals gesagt –, dürfen wir uns glücklich schätzen,
ein duales Berufsausbildungssystem zu haben, das den
jungen Menschen die Möglichkeit gibt, für das spätere
Leben zu lernen, was sie dringend zu lernen haben, da-
mit wir genügend Fachkräfte haben, damit wir positiv in
die Zukunft blicken können und damit all die Aufgaben
bewältigt werden können, die in dieser schnelllebigen
Zeit vermehrt auf uns zukommen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rolf Hempelmann [SPD]: Das habt ihr aber nicht in dieser Legislaturperiode gemacht!)


Gerade die deutsche Volkswirtschaft mit ihrer Innova-
tionskraft schneidet im globalen Wettbewerb sehr erfolg-
reich ab. Unsere Wertschöpfung beruht überwiegend auf
forschungsintensiven Produkten und Dienstleistungen.
Das Geheimnis des Erfolges ist: Auch in Zeiten der
Haushaltskonsolidierung setzen wir konsequent weiter
auf Zukunftsinvestitionen, auf Bildung und Forschung.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie
versuchen mit Ihrem Antrag, auf den fahrenden Zug auf-
zuspringen. Auch Sie fordern jetzt Zukunftsinvestitionen
für die deutsche Wirtschaft. Mit Ihrem Antrag „Deutsch-
land 2020 – Zukunftsinvestitionen für eine starke Wirt-
schaft: Infrastruktur modernisieren, Energiewende ge-
stalten, Innovationen fördern“ wollen Sie doch nur
verdecken, dass Sie wirtschaftspolitisch völlig ins Hin-
tertreffen geraten sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der erste Satz Ihres Antrags lautet – da sind Sie
durchaus selbstkritisch –:

Wir brauchen wieder ein klares Bild von Deutsch-
lands Zukunft.

Was soll denn das heißen? Das haben wir doch.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo denn?)






Ernst Hinsken


(A) (C)



(D)(B)


Wir geben Ihnen gerne Nachhilfeunterricht, wenn Sie
das benötigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich schätze viele Kolleginnen und Kollegen von Ihnen.
Sie sind auf der Höhe der Zeit und wissen, worauf es an-
kommt. Ein Großteil ist aber scheinbar noch nicht so
weit.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Aha!)


Es ist schade, dass Sie sich mit Ihrem aktuellen Wahl-
programm von dem verabschiedet haben, was Sie noch
während der Zeit der Konjunkturpakete vertreten haben.
All das, was Sie fordern, machen wir schon lange. Meis-
tens waren Sie dagegen. Sie schreiben zum Beispiel:

Technologische Leistungsfähigkeit der Industrie si-
chern – Innovationen fördern und den Mittelstand
stärken


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Genau!)


Wir handeln doch längst. Der Haushalt 2013 des Bun-
desforschungsministeriums ist gegenüber dem Vorjahr
um 6,2 Prozent auf insgesamt 13,7 Milliarden Euro ge-
stiegen. Fakt ist: Von 2010 bis 2013 wurden insgesamt
sogar 13,3 Milliarden Euro zusätzlich bereitgestellt. Wir
haben Wort gehalten und sogar noch draufgelegt. Das ist
in Zeiten der Euro-Krise auch international ein viel be-
achtetes Signal. Wir haben versprochen, die Innova-
tionsausgaben der deutschen Wirtschaft 2012 auf ein
Rekordniveau zu bringen. Fakt ist: Wir haben mit
138 Milliarden Euro ein Rekordniveau erreicht. In die-
sem Jahr könnte sogar die Schwelle von 140 Milliarden
Euro geknackt werden.

Wir wollen, dass Deutschland gut durch die Krise
kommt. In diesem Zusammenhang möchte ich einen
weiteren Fakt besonders herausarbeiten: Knapp
34 000 Unternehmen forschen und entwickeln kontinu-
ierlich. 1 200 davon sind sogar Weltmarktführer. Darauf
müssen wir weiter aufbauen. Die Hightech-Strategie
zielt in besonderem Maße auf den innovativen Mittel-
stand. Hier ist Fakt: Die Projektförderung der Hightech-
Strategie wird rund 2,3 Milliarden Euro erhalten. Gegen-
über 2009 ist das eine Steigerung von rund 24 Prozent,
gegenüber 2005 sogar um rund 90 Prozent. Wir wollen
eine Steigerung der Investitionen für Forschung und Ent-
wicklung auf 3 Prozent des Bruttoinlandproduktes an-
peilen. Hier ist Fakt: Mit 2,9 Prozent hat Deutschland
das EU-Ziel von 3 Prozent nahezu erreicht. – Das sind
doch Zahlen, die sich sehen lassen können. Darauf sind
wir stolz. Auch Sie sollten stolz sein; denn hier geht es
um die gesamte Bundesrepublik Deutschland und nicht
um parteitaktische Hin- und Herschiebereien.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die kleinen und mittleren Unternehmer haben ihre
Zukunftsinvestitionen in FuE überproportional um
9,1 Prozent auf 8,2 Milliarden Euro erhöht. Auch das
kann sich sehen lassen. Unsere Politik wirkt. Das möch-
ten wir gerade auch über diese Debatte der Öffentlich-

keit vermitteln. So wollen wir erreichen, dass die Bürge-
rinnen und Bürger bereit sind, unseren Weg mitzugehen,
damit wir so gut bleiben wie in den letzten Jahren.

Ich möchte auf das verweisen, was mein alter Lehr-
meister und Freund Michael Glos einmal gesagt hat: Der
liebe Gott hat den Menschen die Augen nach vorne ge-
setzt. Deshalb blicken wir nach vorn. – Dabei setzen wir
uns ehrgeizige Ziele. Wir wollen bis 2020 in den Ran-
kings zur Spitzengruppe der technologie- und innova-
tionsfreundlichsten Länder weltweit gehören. Wir wol-
len bis 2020 die Zahl der forschenden Unternehmen auf
40 000 und die Zahl der innovativen Unternehmen auf
140 000 erhöhen.


(Klaus Barthel [SPD]: Planwirtschaft!)


Wir wollen unsere Spitzenstellung als Weltmeister von
Technologieexporten halten und weiter ausbauen. Be-
wusst haben wir dazu das Bundeswirtschaftsministerium
zur Speerspitze der Innovationsförderung ausgebaut.
Bundesminister Rösler weiß das zu nutzen. Das muss,
meine ich, erwähnt werden.


(Sören Bartol [SPD]: Wo ist denn der Minister?)


Gerade kam der Zwischenruf vom Arbeiterführer der
SPD, von Herrn Barthel, das, was ich hier vortrage, sei
Planwirtschaft. Dazu muss ich sagen: Er versteht unter
Planwirtschaft etwas ganz anderes als ich. Ich bin nicht
bereit, seinen Weg mitzugehen, den er hier oftmals meint
vertreten zu müssen. Damit ist er schon des Öfteren auf
die Schnauze gefallen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Schwerpunkt ist das „Zentrale Innovationsprogramm
Mittelstand“. Die Mittel dafür steigen gegenüber 2012
noch einmal an, und zwar auf mehr als 500 Millionen
Euro. Den neuen Ländern sollen 40 Prozent dieser Mittel
zugutekommen. Für die Unterstützung der Forschungs-
infrastruktur für den Mittelstand stehen fast 200 Millio-
nen Euro zur Verfügung.

Ich weiß, dass Zahlen ermüdend sind. Aber diese
Zahlen sind wichtig. Wir sollten glücklich und froh da-
rüber sein, dass hier ein Haushalt aufgelegt wurde, der
solche Zahlen enthält. Dadurch wird der Innovations-
standort Bundesrepublik Deutschland weiter nach vorne
gebracht.

Mit insgesamt 83 Millionen Euro werden innovative
Unternehmensgründungen unterstützt. Auch das ist Poli-
tik für die Zukunft.

Sie von der SPD fordern den Ausbau der Energie-
infrastruktur für die Energiewende. Wir haben auf den
Weg gebracht, was unter Rot-Grün leider liegen geblie-
ben ist. Deutschland übernimmt bei der Energiewende
eine Vorreiterrolle für alle Industrienationen. Hier betre-
ten wir Neuland. Ihnen von den Grünen möchte ich sa-
gen: Sie fordern immer wieder den sofortigen Ausstieg
aus der Kernenergie; aber wenn es darauf ankommt, et-
was dafür zu tun, sind Sie dagegen.






(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722806400

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist auch gut so!)



Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1722806500

Deshalb muss ich darauf verweisen, dass wir uns

grundsätzlich von Ihnen unterscheiden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Gott sei Dank!)


Wir gestalten die Zukunft und überprüfen, was sich ma-
chen lässt und was möglich ist. Wir wollen die Men-
schen, die Wirtschaft, die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer auf diesem Weg mitnehmen und weiterhin
insbesondere auf den Mittelstand und auf Innovation set-
zen; –


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722806600

Herr Kollege!


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1722806700

– denn das hat uns weitergebracht.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722806800

Das Wort hat nun Sören Bartol für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722806900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Kollege Gysi, der neue Papst hat es
wirklich nicht verdient, dass er gleich am Anfang seiner
Regentschaft von der Linkspartei vereinnahmt wird. Ich
finde, das ist schon ein starkes Stück.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der CDU/CSU)


Liebe Frau Homburger – ich wollte eigentlich sagen:
Frau Brüderle –, das, was Sie gerade gemacht haben, ist
ebenfalls ein starkes Stück. Ab und zu reicht es, sich an
den Fakten abzuarbeiten. Ihre Partei hat es geschafft,
dem Etat durch die Hoteliersteuer 5 Milliarden Euro zu
entziehen.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Ach, komm!)


Sie aber stellen sich jetzt hier hin und sagen, dass Geld
fehlt. Sie betreiben wirklich reine Klientelpolitik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sage Ihnen: Unsere Klientel sind die Bürgerinnen
und Bürger dieses Landes. Ich finde, genau so sollte es
sein.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Es sind aber nicht so viele, wie Sie glauben!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, zu den Zukunfts-
investitionen, die für eine starke Wirtschaft und für Be-
schäftigung wichtig sind, gehört ganz entscheidend die
Infrastruktur. Deutschland ist ein Land mit einer hervor-
ragenden Infrastruktur; das ist auch gut. Die Frage ist
nur: Wie lange noch? Seit letztem Donnerstag ist der
Nord-Ostsee-Kanal für große Schiffe gesperrt. Der
Grund: Minister Ramsauer hat die Mittel für die Schleu-
sen gekürzt. Der Bundestag hat schon vor mehreren Jah-
ren 300 Millionen Euro für neue Schleusenkammern
freigegeben. Aber es musste erst zu einer Sperrung kom-
men, bis Minister Ramsauer die Ausschreibung nun end-
lich fertig hat.


(Beifall bei der SPD – Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister: Hören Sie auf, zu lügen!)


Schlimmer noch sieht es bei den Autobahnbrücken
aus. 302 Brücken sind laut Verkehrsinvestitionsbericht
so marode, dass ihre Vollsperrung droht. Was dies be-
deutet, ließ sich bis vorige Woche in Leverkusen besich-
tigen. Die dortige Rheinbrücke war wegen Baufälligkeit
drei Monate lang für Lkw gesperrt. 13 000 Lastwagen
mussten täglich einen 20 Kilometer weiten Umweg fah-
ren; sie verstopften den Kölner Ring. Das macht zusam-
men einen Umweg von circa 20 Millionen Kilometern.
Oder anders ausgedrückt: Es fielen ungefähr 20 Millio-
nen Euro höhere Transportkosten an, für Ford, für
Lanxess, für Bayer und andere. Das zeigt doch, dass es
diese Bundesregierung – der verantwortliche Minister
sitzt ja dort – überhaupt nicht schafft, die Verkehrsinfra-
struktur zu sichern.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, so kann man in
Deutschland keine Verkehrspolitik betreiben, und so
kann man vor allen Dingen keine Industriepolitik betrei-
ben.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722807000

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage?


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722807100

Des Kollegen Vogel?


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722807200

Ja.


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722807300

Sehr gern.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722807400

Bitte schön.


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722807500

Aber die Uhr müssten Sie anhalten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722807600

Das ist schon passiert.






(A) (C)



(D)(B)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722807700

Sehr schön.


Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1722807800

Kollege Bartol, eine ganz kurze Frage: Könnten Sie

aufzählen, welche Verkehrsminister zwischen 1998 und
2009 im Amt waren, und sagen, welcher Fraktion sie an-
gehört haben?


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das müssten Sie doch eigentlich selber wissen! – Dr. Florian Toncar [FDP]: Das ist unmöglich! Das waren so viele! – Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722807900

Das ist relativ einfach: Die Sozialdemokratie hat die

Verkehrspolitik der letzten Jahre in diesem Land erfolg-
reich gestaltet.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Lieber Kollege Vogel, wir waren aber nicht diejenigen,
die einen Finanzierungskreislauf geschaffen haben, bei
dem es heißt: „Straße finanziert Straße“, sondern wir ha-
ben gesagt: Alle Verkehrsträger in diesem Lande sind
wichtig, und alle Verkehrsträger brauchen eine Finanzie-
rung.

Da wir gerade über den Nord-Ostsee-Kanal reden,
muss ich Ihnen sagen: Dass Sie versuchen, das, was dort
geschehen ist, uns in die Schuhe zu schieben, ist ein
Witz. Wer hat sich denn im Landtagswahlkampf hinge-
stellt und einen Spatenstich gemacht, aber seitdem nichts
getan? Wer ist denn derjenige, der die WSV-Reform so
durchgeführt hat, dass sie am Ende völlig vermurkst war,
und nun die gesamte Verwaltung völlig durcheinander-
bringt?


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Jetzt zählen Sie doch erst mal die Minister auf! Das will der Kollege doch hören!)


In der kurzen Zeit, in der Minister Ramsauer die Verant-
wortung trägt, haben Sie eine sehr schlechte Verkehrs-
politik gemacht.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Komm, komm!)


Sie haben immer wieder Ankündigungen gemacht,
gleichzeitig aber Geld verloren. Ich glaube, das zeigt,
wer in diesem Lande die Verantwortung für die derzei-
tige Situation trägt.


(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Das ist einer der besten Verkehrsminister der letzten Jahrzehnte!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722808000

Herr Kollege, gestatten Sie eine weitere Zwischen-

frage, diesmal vom Kollegen Scheuer?


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722808100

Ja.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722808200

Bitte schön.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ist das nicht ein Staatssekretär? – Gustav Herzog [SPD]: Herr Staatssekretär! Ah!)



Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1722808300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich stelle fest,


(Gustav Herzog [SPD]: Nein, nicht feststellen! Fragen!)


dass Kollege Bartol die Frage des Kollegen Vogel, wer
im genannten Zeitraum aufseiten der SPD Verkehrs-
minister war, nicht beantworten kann. Ich möchte ihm
auf die Sprünge helfen und mich dabei auf die Finanz-
titel beziehen.

Meine erste Frage lautet: Wer hat es in den letzten
Jahren geschafft, mehr Mittel für die Infrastruktur bereit-
zustellen?


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, mein Gott! Mehr Asphalt ist doch kein Gewinn! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer beraubt die Bahn?)


Zweitens. Können Sie Auskunft darüber geben, in
welchem Umfang die Mittel für Brücken unter Bundes-
minister Ramsauer in den letzten Jahren gestiegen sind?


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In Bayern! Nur in Bayern, sonst nirgendwo! NRW kriegt gar nichts!)


Drittens. Wenn man sich die Diskussionen im Ver-
kehrsausschuss vor Augen führt, muss man sagen: Sie
nutzen die Plattform hier zwar für Parteitagsreden, Herr
Kollege Bartol.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: So was soll ein Staatssekretär sein? Schämen Sie sich! – Mechthild Rawert [SPD]: Frage!)


Mich würde aber viel mehr interessieren, in welchem
Umfang Bundesminister Ramsauer Mittelumschichtun-
gen vom Neubau hin zum Erhalt vorgenommen hat; sie
sind nämlich beträchtlich.

Weil die Kollegin Andreae meine Frage vorhin nicht
mehr zugelassen hat: Könnten Sie mir sagen, wann die
Verträge zu Stuttgart 21 unterschrieben wurden bzw. in
wessen Amtszeit und unter welcher Regierungskoalition
dies geschehen ist?


(Gustav Herzog [SPD]: Wer war denn damals Ministerpräsident in Baden-Württemberg, Sie Schlaumeier?)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722808400

Lieber Herr Staatssekretär Scheuer, ich freue mich,

dass die Bundesregierung ein bisschen reparlamentari-
siert wird und Sie in dieser Debatte sogar eine Frage
stellen. Ich glaube, Herr Scheuer, dass es nicht immer
nur darum geht, wer am Ende das meiste Geld wie und
wo investiert hat. Vielmehr haben Sie es versäumt, ver-





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


nünftige Prioritäten zu setzen und eine verkehrspoliti-
sche Konzeption zu entwickeln. Das Einzige, was Sie
und Ihr Minister können, ist, zu sagen: Wir kommen aus
Bayern; Bayern muss es gut gehen, und nach Bayern
muss das Geld fließen.


(Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Ach, Herr Kollege, warum antworten Sie mir nicht einfach?)


Schauen Sie sich nur einmal an, welche Prioritäten Sie in
den letzten Jahren gesetzt haben; das ist relativ einfach.

Ich finde, eine Bundesregierung, ein verantwortlicher
Minister und ein Staatssekretär – als solcher sind Sie in
der Mitverantwortung –, die von der Bahn eine Zwangs-
dividende


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht! Was Sie hier behaupten, ist Unfug!)


von über 500 Millionen Euro nehmen und zulassen, dass
das meiste davon einfach im allgemeinen Haushalt ver-
schwindet, brauchen mit uns über Verkehrspolitik über-
haupt nicht zu reden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722808500

Herr Kollege, es gibt den Wunsch nach einer weiteren

Zwischenfrage, und zwar vom Kollegen Beck. – Bitte
schön.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722808600

Herr Kollege, würden Sie die Auffassung teilen, dass

ein Verkehrsminister dem Wohle des gesamten deut-
schen Volkes verpflichtet ist? Wie sehen Sie vor diesem
Hintergrund die außerordentlich ungleiche Verteilung
der Verkehrsmittel, von der vor allen Dingen das Land
Bayern profitiert und bei der das Land Nordrhein-West-
falen faktisch leer ausgeht, obwohl es das bevölkerungs-
reichste und größte Land der Bundesrepublik Deutsch-
land ist?


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722808700

Lieber Kollege Beck, das ist einer der größten Skan-

dale. Ich frage mich immer: Was wäre, wenn ein Ver-
kehrsminister von einer anderen Volkspartei seine Wie-
derwahl in den Vorstand dieser Volkspartei damit zu
erkaufen versuchte, dass er in seinem Bundesland land-
auf, landab Ortsumgehungen verspricht – und dies sogar
in großen überregionalen Zeitungen nachzulesen ist –,
dann aber nichts passiert?


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist ja echt lächerlich! Was Sie da erzählen, ist Unfug! Das ist unanständig bis zum Anschlag!)


Ich sage Ihnen, Herr Ramsauer: Hätte jemand von uns
gemacht, was Sie gemacht haben, dann wäre er schon
dreimal zurückgetreten. Insofern kann ich das nur unter-
stützen: Die Verkehrsmittel sind extrem ungleich ver-

teilt. Das ist eine klare Klientelpolitik. Aber von dieser
Koalition sind wir nichts anderes gewohnt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Andreas Scheuer [CDU/CSU]: Enttäuschend, Kollege Bartol!)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich freue mich über
weitere Zwischenfragen.

Als Industrie- und Exportland sind wir zwingend auf
eine gute Infrastruktur angewiesen. Schlaglöcher, ma-
rode Brücken, gesperrte Kanäle zeigen doch: Wir leben
längst von der Substanz. Allein für die Instandhaltung
von Schienen, Straßen und Wasserstraßen fehlen über
3 Milliarden Euro. Diese Zahl stammt nicht von mir,
sondern von einer Kommission der Verkehrsminister-
konferenz, die von einem ehemaligen CDU-Minister ge-
leitet wurde.

Bei Strom und Telekommunikation sieht es kaum bes-
ser aus: Der Ausbau der Stromnetze kommt, weil es der
Regierung vor allen Dingen an Koordination fehlt, nicht
voran, und das Fehlen von Stromleitungen behindert im-
mer mehr die Energiewende. Auch bei den Internet-
anschlüssen hat die Bundesregierung ihr Ziel, bis Ende
2010 eine flächendeckende Breitbandgrundversorgung
zu schaffen, verfehlt. Nach wie vor sind viele ländliche
Regionen von schnellen Internetverbindungen abge-
schnitten. Ich frage Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von der Union: Ist das eigentlich Ihre Politik für ländli-
che Räume?


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein!)


Was Deutschland braucht und wofür wir uns als SPD-
Bundestagsfraktion einsetzen, ist eine aktive Infrastruk-
turpolitik.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Kommen Sie mal schauen, wie das in Bayern läuft!)


In unserem Projekt „Infrastrukturkonsens“ haben wir die
Grundlagen dafür gelegt. Der Bund muss mehr Geld in
die Infrastruktur investieren; aber es braucht vor allen
Dingen die richtigen Prioritäten. Eine Prioritätensetzung
à la Ramsauer heißt – das hatten wir gerade schon –:
Bayern zuerst, während im Norden und im Westen die
Verkehrswege verrotten. Liebe Kolleginnen und Kolle-
gen, das kann nicht sein.


(Beifall bei der SPD)


Wir brauchen ein nationales Verkehrswegeprogramm,
durch das Engpässe beseitigt werden, und zwar in ganz
Deutschland. Wir brauchen auch eine deutliche Aufsto-
ckung der Mittel für den Erhalt der Verkehrswege, zum
Beispiel des Nord-Ostsee-Kanals. Ebenso brauchen wir
Akzeptanz für Infrastrukturvorhaben. Deshalb sind
Lärmschutz und Bürgerbeteiligung so wichtig. Am Ende
geht es auch um die Lebensqualität der Menschen.


(Beifall bei der SPD – Ernst Hinsken [CDU/ CSU]: Auch da: Bayern!)


Bei all dem, liebe Kolleginnen und Kollegen von der
Union und von der FDP, versagen Sie kläglich, Sie kom-





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


men einfach nicht voran. Es ist immer noch eine Frage
des Wohnortes, ob man eine schnelle Internetverbindung
hat. Ich sage Ihnen: Wenn es der Wettbewerb an dieser
Stelle nicht richtet, eine flächendeckende Versorgung
aufzubauen, dann brauchen wir am Ende eben eine ge-
setzliche Verpflichtung zum Universaldienst. Ich glaube,
dafür müssen wir alle gemeinsam sorgen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihre Lethargie und
Ihre Konzeptlosigkeit schaden der deutschen Wirtschaft.
Deutschland braucht eine Infrastrukturpolitik, mit der
die Bundesregierung ihre bzw. der Staat seine Aufgaben
endlich wieder erfüllt. Ansonsten werden wir die Sub-
stanz, die wir haben, niemals erhalten können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722808800

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gen Scheuer.


Andreas Scheuer (CSU):
Rede ID: ID1722808900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Bei so vielen Unwahrheiten bin ich herausgefordert,
zum Mittel der Kurzintervention zu greifen.

Herr Kollege Bartol, wir haben in unserer Amtszeit
alle Programme, alle Investitionen streng nach Länder-
quote verteilt.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Komisch, alles geht nach Bayern!)


Die meisten Zusatzmittel – der erste Platz ist unange-
fochten – sind nach Nordrhein-Westfalen geflossen. An
zweiter Stelle liegen Baden-Württemberg und Bayern
gleichauf. – Übrigens, Herr Kollege Beck, wenn Sie
keine Ahnung von Verkehrspolitik haben, dann stellen
Sie keine Zwischenfragen dazu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie sich die nackten Zahlen anschauen, dann wird
Ihnen das klar.

Wo gibt es denn die meisten Bürgerinitiativen für
Ortsumfahrungen? In Baden-Württemberg. Es geht hier
um Demokratie, und das müssen auch die Kolleginnen
und Kollegen der Grünen hinnehmen. Wenn wir in Ba-
den-Württemberg bei einer Verkehrsfreigabe sind, sagt
der grüne Verkehrsminister stets: Das ist eine sinnvolle
Straße; es gibt aber viele Straßen, die nicht sinnvoll sind.


(Dr. Florian Toncar [FDP]: Genau so ist es!)


Genau da gibt es aber sehr viele Bürgerinitiativen, Bür-
gerinnen und Bürger, die für die Infrastruktur aufstehen.
Mein Dank geht an diese Bürgerinnen und Bürger.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Haben Sie keine Redezeit abbekommen, oder was ist das Problem?)


Wir müssen das an Versagen abarbeiten, was Sie pla-
nerisch und auch vom Verfahren her nicht umsetzen kön-
nen. Unlängst habe ich einen Tunnel freigegeben, der
mit Bundesgeld errichtet worden ist. Wie ist die Lage?
Die Auftragsverwaltung vor Ort kann die Ein- und Aus-
fahrten des Tunnels nicht managen. Wir müssen ständig
auf die Auftragsverwaltungen einwirken, vor allem auf
die von Rot und Grün, damit die Infrastruktur, in die wir
Bundesgeld investiert haben, genutzt werden kann.

Nun zu den Zusatzmitteln. Wir haben in den letzten
zwei Jahren zusätzliche Mittel in Höhe von 1 Milliarde
Euro und von 750 Millionen Euro bekommen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo sind die denn?)


Mein Dank geht hier an die SPD-Fraktion, die im Haus-
haltsausschuss neben der Koalition für diese Zusatzmit-
tel gestimmt hat. Danke dafür!


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wissen Sie, wo die teuersten Projekte sind? Die sind
nicht in Bayern, sondern beispielsweise in Hamburg und
Nordrhein-Westfalen, beispielsweise die Schiersteiner
Brücke etc. Herr Kollege Bartol, hören Sie also auf mit
der Lüge, dass wir die Bundesmittel bevorzugt an Bay-
ern verteilen. Den meisten Bedarf gibt es im Süden. Das
trifft genauso Baden-Württemberg. Wir verteilen diese
Mittel – das geben alle unsere Verlautbarungen auf die
zahlreichen Anfragen, die Sie stellen, wieder; Sie müs-
sen sie eben auch einmal lesen – gemäß der Länder-
quote. Hören Sie auf, die deutsche Bevölkerung mit sol-
chen unsäglichen Unwahrheiten zu veräppeln! Das ist
nicht der parlamentarische Stil, den ich normalerweise
von Ihnen gewöhnt bin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Oberlehrer!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722809000

Herr Kollege Bartol, Sie haben das Wort.


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722809100

Lieber Kollege Scheuer, gleich zu Beginn so viel zu

den Fakten: Mir ist neu, dass die Schiersteiner Brücke in
Nordrhein-Westfalen liegt. Das würde ich an Ihrer Stelle
vielleicht noch einmal nachgucken. – Aber ganz im
Ernst: Ich glaube, wir müssen aufpassen, wie wir das
hier austragen.

Ich erinnere mich an Ihren Parteitag, auf dem es
knapp war für Minister Ramsauer; er wäre fast nicht
wiedergewählt worden. Er ist deshalb herumgezogen,
hat mit den Delegierten, mit einflussreichen Größen, ge-
sprochen


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Waren Sie dabei?)


– das kann man doch alles nachlesen –


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Ich war dabei! Das war nicht so! Lügen Sie nicht so!)






Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


und dann einfach ein bisschen versprochen. Ich finde,
das kann man nicht machen. Das ist nicht in Ordnung;
das muss man doch einfach einmal zur Kenntnis neh-
men. Das hat mit einer echten verkehrspolitischen Prio-
ritätensetzung nichts zu tun.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


So viel zum Stil.


(Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Sagen Sie nichts zum Stil! Ihren Stil haben wir ja gesehen!)


Kollege Scheuer, Ihr Minister gibt mittlerweile Pres-
semitteilungen heraus, die vor Parteipolitik geradezu
triefen. Nach der verlorenen Landtagswahl in Nieder-
sachsen hat er versucht, die neue Regierung zu treiben,
indem er sagte: Wenn ihr nicht akzeptiert, dass es für den
Ausbau der A 7 ein ÖPP-Projekt geben wird, dann neh-
men wir euch die Mittel weg und investieren sie woan-
ders. – Den Gipfel der Bodenlosigkeit hat er sich bei
Stuttgart 21 geleistet. Fazit ist, dass die Fahrpreise der
Bahn steigen werden.

Lieber Kollege Scheuer, zu der Art und Weise, wie
hier Verkehrspolitik betrieben wird, muss ich sagen: So
ein schlechtes Management und so einen schlechten
Minister habe ich in den elf Jahren, in denen ich Mit-
glied des Deutschen Bundestages bin, noch nicht erlebt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722809200

Das Wort hat nun Klaus Breil für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1722809300

Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Herr Bartol, was erzählen Sie eigentlich für einen
Unsinn mit „Bayern zuerst“? Schauen Sie sich doch ein-
mal die Verkehrssituation im Süden von Bayern an, bei-
spielsweise in der Region, aus der ich komme, dem
Wahlkreis Weilheim. Herr Barthel, der hinter Ihnen sitzt,
kann Ihnen das bestätigen. Dann sehen Sie, was „Bayern
zuerst“ bedeutet.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Nur Ankündigungen, und dann wird der Tunnel wieder zugemacht!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, in den An-
trag der SPD-Fraktion wurde von den Wirtschaftspoliti-
kern all das gepackt, was es nicht mehr in das Wahlpro-
gramm der SPD geschafft hat. Ich habe das zum Anlass
genommen und mir zusätzlich zum heutigen Antrag das
diese Woche vorgestellte SPD-Wahlprogramm durchge-
sehen. Dabei teile ich im Kern die Analyse der großen
Herausforderung der Energiewende. Dennoch habe ich
ein paar Ungereimtheiten entdeckt, die ich Ihnen nicht
vorenthalten möchte.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist nett!)


Meine Damen und Herren, die Überschrift des Ener-
giekapitels im SPD-Wahlprogramm lautet „Sichere und
bezahlbare Energie“. Beim Umweltschutz – habe ich das
richtig verstanden? – darf sich der Wunschkoalitions-
partner austoben. Ich erlaube mir dazu nur einen Halb-
satz: „Die Geister, die ich rief …“

Die Genossen schreiben in ihrem Antrag:

Trotz der substanziellen Stärke unserer Wirtschaft

– für dieses Kompliment an die christlich-liberale Regie-
rung vielen herzlichen Dank –

drohen die Wachstumskräfte immer weiter zu erlah-
men. In der Energiepolitik geraten Bezahlbarkeit
und Versorgungssicherheit der Energieversorgung
in Gefahr.

Dann frage ich Sie: Wie passt das damit zusammen,
dass Sie in Ihrem Wahlprogramm eine höhere Brenn-
stoffsteuer für Kernkraftwerke fordern? Im Klartext
heißt das, Sie verteuern knapp ein Fünftel der Strom-
energieerzeugung in Deutschland.

Keine drei Zeilen darüber soll es dem Programm nach
das Ziel sein, „die Belastungen sowohl für den einfachen
Stromkunden als auch für die in Deutschland produzie-
rende Industrie so gering wie möglich zu halten“. Herr
Heil, diesen Widerspruch müssen Sie mir einmal erklä-
ren.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Haben Sie schon mal was von Basic Ordering Agreements gehört?)


Meine Damen und Herren, diese Liste ließe sich stun-
denlang fortführen.

Abschließend möchte ich noch sagen, dass wir große
Teile Ihrer Forderungen aus dem Antrag bereits umge-
setzt haben, zum Beispiel die Verbesserungen beim
KWK-Gesetz, die Verordnung zu abschaltbaren Lasten
oder die Koordinierung der Energiepolitik zwischen
Bund, Ländern, Kommunen unter Einbindung von Wirt-
schaft, Wissenschaft, Gewerkschaften und der Zivilge-
sellschaft. Dies geschah im Rahmen von Initiativen der
Bundesregierung, manchmal – das muss ich zugeben –
unter Beteiligung der Opposition. Wir haben den Beirat
der Bundesnetzagentur, das Kraftwerksforum, die Platt-
form „Zukunftsfähige Energienetze“ plus Beirat, das
EEG-Dialogforum, die Mittelstandinitiative Energie-
wende und das 6. Energieforschungsprogramm.

Zuletzt beantworten Sie mir bitte noch eine Frage,
Herr Heil. Weshalb erkennen Sie im Wahlprogramm
plötzlich an, dass von den Bauaufträgen zur energeti-
schen Gebäudesanierung vor allem örtliche Handwerks-
betriebe aus dem Mittelstand profitieren, und lassen den-
noch die Möglichkeit der steuerlichen Abschreibung
dieser Maßnahmen im Bundesrat scheitern? Das bleibt
mir und sicherlich auch den Wählern sowie den kleinen
und mittelständischen Unternehmern ein Rätsel.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722809400

Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722809500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Bartol, bei aller inhaltlichen Sympathie für Ihre
Aussagen – sie waren alle richtig –, muss ich Ihnen doch
sagen, dass Sie an einer Stelle einen Fehler gemacht ha-
ben.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Nicht nur an einer!)


Der Papst hat heute nicht seine Regenschaft, sondern
sein Pontifikat begonnen. Ich glaube, das muss klarge-
stellt werden.


(Heiterkeit – Sören Bartol [SPD]: Ich bin halt evangelisch! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Es gibt nur einen Martin Luther!)


Meine Damen und Herren, was alle Päpste dieser
Welt nicht geschafft haben, hat diese Bundesregierung
geschafft. Sie hat in der Energiewirtschaft eines bewirkt:
einen absoluten Stillstand. Noch nie war es in Deutsch-
land so, dass Sie fragen können, wen Sie wollen – vom
kleinen PV-Anlagenbauer bis zum Großkraftwerksher-
steller –, und Ihnen jeder antworten wird, dass nichts
mehr investiert wird. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik,
die Sie hier machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Georg Nüßlein [CDU/ CSU]: Pontifex heißt Brückenbauer! Darum ist er auch auf die Brücken gekommen!)


Ich sage Ihnen: Ich hätte es in diesem Land nicht für
möglich gehalten, dass eine Bundesregierung rückwir-
kend in Verträge und bestehende Zusagen eingreifen
will. Das verursacht Kollateralschäden, die über die er-
neuerbaren Energien und die Energiewirtschaft weit hi-
nausgehen. Das wird uns noch an vielen Stellen einho-
len. Ich hoffe: Es ist bald klar, dass das aus der Welt
geschafft wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich will jetzt hier gar nicht über die Erneuerbare-Aus-
bau-Bremse reden, gar nicht über das Quotenmodell,


(Birgit Homburger [FDP]: Das ist kein Quotenmodell!)


das die FDP favorisiert und das gerade im zuständigen
Ausschuss des Bundesrates, von Sachsen eingebracht,
mit 15 Stimmen zu 1 Stimme versenkt worden ist, was
zeigt, wie wenig überzeugend Ihre Konzepte bei den ei-
genen Parteifreunden in den Landesregierungen wirken.
Darüber will ich nicht reden. Ich will nicht darüber re-
den, dass Sie 80 Prozent der Windenergieleistung im
Binnenland abwürgen wollen und damit alles kaputtma-
chen würden.

Ich möchte etwas aufgreifen, was Sie selbst in Ihrem
Koalitionsvertrag stehen haben. Da steht nämlich: Sie

wollen eine Deutsche Netz AG gründen. – Nur: Wir sind
am Ende der Legislaturperiode. Sie haben bei dem
Thema überhaupt nichts gemacht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sie haben alle Chancen verstreichen lassen, wo die Gele-
genheit gewesen wäre, diese Idee umzusetzen. Als RWE
und Eon ihre Netze verkauft haben, da haben Sie die
Chance verstreichen lassen. Das ist das Ergebnis einer
FDP-geführten Politik, Privat vor Staat, die diese Chan-
cen kaputtgemacht hat.

Wir haben im Herbst zum Thema Offshorenetzanbin-
dung einen Vorschlag dahin gehend gemacht, dass der
Bund, anstatt die privaten Verbraucher zu belasten, hier
einsteigt und dass dies der Beginn einer Deutschen Netz-
gesellschaft ist. Ich freue mich, dass die Sozialdemokra-
ten diese Idee aufgegriffen haben und jetzt in ihrem An-
trag ein ähnliches Konzept vorschlagen. Ich freue mich,
dass die CSU diese Idee aufgegriffen hat. Ich habe zum
ersten Mal in meinem Leben mit Freude nach Wildbad
Kreuth geschaut und festgestellt, dass Sie dort tatsäch-
lich etwas in Richtung Deutsche Netz AG beschlossen
haben.

Ich frage die Union: Wie lange wollen Sie sich eigent-
lich noch von der FDP bei diesem Thema am Nasenring
durch die Arena ziehen lassen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


wenn hier 96 Prozent des Parlaments bei diesem Thema
einer Meinung sind? Packen Sie das endlich an!


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sie haben aber lange gebraucht, bis Sie die Wichtigkeit von Wildbad Kreuth erkannt haben!)


Genauso ist es beim Thema Energieeffizienz. Die
Bundeskanzlerin hat 2007 ausgerufen: Deutschland soll
Energieeffizienzweltmeister werden. – Was wir konkret
erleben, ist Folgendes: Erst blockieren Sie die Richtlinie
in Brüssel und drehen erst in letzter Minute auf politi-
schen Druck hin bei. Jetzt geht es an die Umsetzung.
Was passiert im zuständigen Wirtschaftsministerium?
Dort hat man nichts Besseres zu tun, als mit Taschen-
spielertricks zu versuchen, dass Deutschland nichts mehr
machen muss. Da werden plötzlich Mehrwertsteuern,
Netzentgelte, die Lkw-Maut und was weiß ich sonst
noch alles zu Energieeffizienzmaßnahmen erklärt, nur
um sagen zu können: Auf diesem Gebiet müssen wir
nichts mehr tun. – Das geht nicht. Sie verschenken hier
die Chancen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir sagen: Wir brauchen endlich einen Energieeffi-
zienzfonds. Wir brauchen Anreizsysteme, so wie es sie
in Dänemark, in Großbritannien, in Frankreich und in
vielen Staaten der USA, sogar in Texas, gibt. Das Ein-
zige, was Ihr Minister dazu sagt, ist: Sozialismus und
Planwirtschaft! – Ich sage nur: Texas – Hort des Sozia-
lismus und der Planwirtschaft.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


Das ist absurd, was Sie vertreten. Packen Sie das
Thema Energieeffizienz endlich an! Das ist eine Chance
für die deutsche Wirtschaft. Damit können Sie Energie
einsparen. Damit schützen Sie das Klima. Damit gene-
rieren Sie Wertschöpfung hier im Land. Das ist ein Er-
folgsmodell, ein Exportartikel für die deutsche Wirt-
schaft.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722809600

Das Wort hat nun Andreas Lämmel für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1722809700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Krischer, Sie müssen einmal eine neue Platte
auflegen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir hatten vorhin eine große Diskussion zum Thema
Energie. Anlass war der Tagesordnungspunkt 3 mit vie-
len Anträgen zum Thema Energie. Offensichtlich haben
Sie gar nicht gemerkt, dass wir eine neue Debatte ange-
fangen haben, dass es nämlich um den SPD-Antrag ging.
Lassen Sie sich einmal eine neue Rede schreiben. Dann
können Sie ja noch einmal Redezeit beantragen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Das hat er doch bei seiner ersten Rede alles vergessen!)


Bei der Durchsicht der Tagesordnung des Plenums für
diese Woche – das war sehr interessant – stand auf einmal
ein Antrag auf der Tagesordnung, „Deutschland 2020“,
den es überhaupt noch nicht gegeben hat. Ich dachte:
Das ist bestimmt spannend. – Aber die SPD war erst am
Dienstagabend in der Lage, den Antrag überhaupt zu
verteilen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das machen Sie auch ständig! – Rolf Hempelmann [SPD]: Wie oft passiert das bei euch!)


Der Titel des Antrags ist auch interessant: „Zukunfts-
investitionen für eine starke Wirtschaft“ – darin stimmen
wir völlig überein. „Infrastruktur modernisieren“ – toll!
Aber das haben wir von Ihnen noch nie gehört. „Ener-
giewende gestalten“ – auch bei diesem Argument stim-
men wir hundertprozentig überein. Gleiches gilt für
„Innovationen fördern“. Also dachte ich mir: Das ist ja
toll; die SPD hat einen völlig neuen Kurs eingeschlagen,


(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


und man kann heute möglicherweise völlig neue Töne
hören. Aber das war leider eine blanke Fehlannahme.
Die Enttäuschung war groß, als ich den Antrag durchge-
sehen habe.

Vieles ist schon angesprochen worden. Ich will nur
auf einige Aspekte eingehen. Ein Punkt ist der Breit-
bandausbau. Ich kann mich erinnern, dass wir in der
Großen Koalition gemeinsam die Breitbandinitiative be-
schlossen haben – das werden Sie wohl nicht in Abrede
stellen – und dass wir beim Breitbandausbau in Deutsch-
land gewaltige Fortschritte gemacht haben. Darüber,
dass trotzdem noch Probleme bestehen und dass wir
auch im Beirat der Bundesnetzagentur immer wieder da-
rüber diskutieren, wie wir noch schneller vorankommen
können, ohne dass wir Milliarden an staatlichem Geld
für den Breitbandausbau einsetzen müssen, besteht,
glaube ich, Einigkeit.

Dass der Ausbau des mobilen Internets in Deutsch-
land eine einmalige Erfolgsgeschichte ist – nirgendwo in
Europa und in der Welt hat es in kürzester Zeit eine fast
flächendeckende Erschließung mit mobilem Internet ge-
geben –, kann man in Ihrem Antrag nicht nachlesen. Ich
kann auch darin keinen Vorschlag erkennen. Was ist
denn Ihre Strategie, um die Flächendeckung schneller zu
erreichen? Darüber lohnte es sich doch, zu reden, statt
mit Plattitüden irgendwas festzustellen.

Dann kommt das Thema Innovation, meine Damen
und Herren.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722809800

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dörmann?


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1722809900

Selbstverständlich gern.


Martin Dörmann (SPD):
Rede ID: ID1722810000

Lieber Kollege Lämmel, da Sie das Thema Breit-

bandausbau angesprochen haben, über das wir uns hier
schon mehrfach unterhalten haben, frage ich Sie: Bestä-
tigen Sie mir, dass wir vor wenigen Monaten einen sehr
umfassenden Antrag der SPD-Bundestagsfraktion genau
zum Thema Breitbandausbau diskutiert haben, wobei
wir unser Konzept sehr detailliert dargestellt haben? Un-
ser Konzept sieht so aus, dass wir erstens eine flächen-
deckende Breitbandversorgung nicht für fast jeden
Haushalt, sondern für jeden Haushalt sicherstellen
möchten. Das wollen wir durch eine Universaldienstver-
pflichtung gesetzlich absichern. Wir setzen aber darüber
hinaus bei höheren Bandbreiten auf zusätzliche private
Investitionen und wollen die Rahmenbedingungen hier-
für verbessern, damit der Wettbewerb tatsächlich zum
Ergebnis führt.

Sind Sie bereit, das zur Kenntnis zu nehmen und viel-
leicht auch zuzugestehen, dass wir immer noch nicht das
Ziel erreicht haben, das wir eigentlich in der Breitband-
strategie festgelegt haben, nämlich bis 2010 eine wirk-
lich flächendeckende Versorgung in 100 Prozent der
Haushalte hinzubekommen, und dass im Zweiten Moni-
toringbericht zur Breitbandstrategie des Bundes die von
der Bundesregierung selbst beauftragten Gutachter fest-
gestellt haben, dass auch das zweite Ziel, nämlich bis
2014 75 Prozent der Haushalte mit mindestens 50 Mega-
bit zu versorgen, gefährdet ist, wenn keine zusätzlichen





Martin Dörmann


(A) (C)



(D)(B)


Maßnahmen ergriffen werden? Haben Sie den Bericht
gelesen, und bestätigen Sie diesen Befund?


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1722810100

Zum ersten Punkt, dem Antrag, den wir im Plenum

diskutiert haben – das können Sie alles im Protokoll
nachlesen –, ist zu sagen: Wir haben mit der Novellie-
rung des Telekommunikationsgesetzes genau darauf re-
agiert. Genau die Punkte, die Sie in Ihren Anträgen nen-
nen, sind im Prinzip im Gesetz enthalten.

Dass die Gutachter sagen, das Ziel für 2014 sei ge-
fährdet, heißt nicht, dass das nicht stattfindet.


(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Ich kann auch behaupten, irgendwelche Ziele bis 2016
sind gefährdet, und ein Gutachten schreiben, Herr
Hempelmann. Sie wissen selbst, wie das mit Gutachten
ist. Darüber brauchen wir uns nicht auszutauschen.

Wir setzen unsere Energie dafür ein, dass wir in dem
Bereich vorankommen und die Maßnahmen, die im Te-
lekommunikationsgesetz stehen, umgesetzt werden, und
dass wir die Initiative, die wir gemeinsam beschlossen
haben, genau in den Etappen umsetzen, wie sie auf dem
Papier stehen.

Das Zweite ist das Thema Innovationen im Mittel-
stand und in der Wirtschaft. Das ist ein sehr wichtiges
Feld. Komischerweise findet sich in dem Antrag der
SPD gar kein Hinweis darauf, dass die Ausgaben für
Forschung, Technologie und Innovationen in Deutsch-
land einen absoluten Höchststand erreicht haben. Wenn
Sie sich zum Beispiel das erfolgreichste Programm anse-
hen, das Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand,
dann müssen Sie feststellen, meine Damen und Herren,
dass wir so viele Anträge wie noch nie bewilligt haben.


(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Da sind wir Spitze!)


Nachdem im Konjunkturpaket II das Programm für ganz
Deutschland geöffnet worden ist, hat sich das explosions-
artig entwickelt. Das ignorieren Sie einfach. Sie wollen
der christlich-liberalen Koalition nicht einen einzigen
Erfolg gönnen und versuchen, mit Plattitüden alles nega-
tiv darzustellen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wo ist die steuerliche Forschungsförderung?)


– Dazu wollte ich gerade kommen, Herr Heil. Wie Sie
wissen, ist das auch unser Lieblingsthema.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann machen Sie mal!)


Sie haben es in der rot-grünen Koalition nicht geschafft.
Wir haben es in der Großen Koalition auch noch nicht
geschafft.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Jetzt wieder nicht!)


Aber wir werden es in der christlich-liberalen Koalition
schaffen; darauf gebe ich Ihnen Brief und Siegel.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In dieser Legislaturperiode?)


Wenn nicht, dann machen wir das spätestens zu Beginn
der nächsten Legislaturperiode,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Dann sind Sie nicht mehr an der Regierung!)


und zwar in der bestehenden Konstellation.

Dann lässt sich folgende pikante Formulierung in Ih-
rem Antrag finden:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregie-
rung auf, … mit den Ländern einen Investitionspakt
für die kommunale Verkehrsinfrastruktur zu schlie-
ßen, bei dem die Länder weiterhin Investitionsmit-
tel für die kommunale Verkehrsinfrastruktur erhal-
ten und sich im Gegenzug verpflichten, die Gelder
zweckgebunden zu verwenden;

Das ist wirklich unglaublich. Sie schreiben im Antrag
extra fest, dass sich die Länder verpflichten, das Geld,
das sie vom Bund bekommen, zweckgebunden zu ver-
wenden. Ich weiß, worauf Sie dabei zielen. Das zielt auf
Nordrhein-Westfalen. Frau Kraft hat es vom Verfas-
sungsgericht praktisch schriftlich bekommen, dass ihre
Haushalte nicht verfassungsgemäß sind,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Eigentlich der schwarz-gelbe Haushalt!)


da die Neuverschuldung in Nordrhein-Westfalen Höhen
erreicht, die mit der Verfassung nicht mehr in Einklang
zu bringen sind. Des Weiteren zielt Ihre Formulierung
auf Berlin, wo Herr Wowereit schon seit Jahrzehnten
eine ähnliche Politik betreibt wie Frau Kraft in Nord-
rhein-Westfalen. Berlin ist das höchst verschuldete Land
und erhält die meisten Mittel aus dem Länderfinanzaus-
gleich. Sie schreiben diesen Passus in Ihren Antrag, weil
in den Ländern, in denen Sie regieren, Mittel zweckent-
fremdet werden. Daran, dass Sie das in Ihren Antrag
schreiben müssen, kann man sehen, wie weit es mit Ihrer
Politik gekommen ist.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Interessante Interpretation!)


In Ihrem Antrag steht nicht, dass die christlich-libe-
rale Koalition die Kommunen um 50 Milliarden Euro
bei den Ausgaben für die Grundsicherung im Alter ent-
lastet und dass dieses Geld auf kommunaler Ebene ver-
wendet werden kann, um zum Beispiel Infrastrukturpro-
jekte voranzubringen.

In Ihrem Antrag steht des Weiteren der schöne und in-
teressante Satz: „Wir benötigen einen neuen gesellschaft-
lichen Konsens,“ wenn es um Infrastrukturprojekte geht.
Da bin ich wirklich gespannt. Ich erlebe, dass überall dort,
wo Aktionen gegen Infrastrukturprojekte stattfinden
– egal ob es sich um Straßen, Brücken, Stromleitungen
oder andere Infrastrukturprojekte handelt –,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Zum Beispiel CDU-Bürgermeister!)


zumeist SPD und Grüne an der Spitze stehen und den
Widerstand organisieren.





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das ist doch Unsinn!)


Ich möchte gerne wissen, was Ihr neuer Konsens für In-
frastrukturprojekte beinhaltet. Darüber sollten wir reden.

Es gibt eine andere interessante Formulierung in Ih-
rem Antrag. Sie fordern die Bundesregierung auf, „eine
Initiative zur Schaffung von mehr Technikverständnis
auf den Weg zu bringen“. Wie Sie wissen, komme ich
aus Ostdeutschland, und ich brauche keine neue Initia-
tive. Aber dort, wo Sie seit 30 Jahren Schul- und Bil-
dungspolitik betreiben, braucht man eine solche Initia-
tive, weil Sie einer ganzen Generation junger Leute
Technikfeindlichkeit suggeriert und vermittelt haben:
Technik ist etwas Schlechtes. Wir brauchen nur weiche
Standortfaktoren. Wir brauchen für die Entwicklung des
Landes nichts mehr zu tun.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wer hat Ihnen diesen Unsinn aufgeschrieben?)


Die Fehler, die Sie gemacht haben, gestehen Sie genau
mit dieser Formulierung ein. Ich bin gespannt, wie diese
Initiative aussehen soll.

Ein weiterer Punkt Ihres Antrags, der sehr wichtig ist
und dem ich zustimme – die entscheidende Frage ist al-
lerdings, welche Lösung dabei angestrebt wird –, ist die
Forderung, „die Wettbewerbsfähigkeit energieintensiver
Unternehmen zu gewährleisten“. Toll! Was ich von Ih-
nen ständig höre, ist aber das genaue Gegenteil.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Nein!)


Sie wollen die Privilegien der stromintensiven Industrie
und die Netzentgelte abschaffen.


(Hubertus Heil war der Altmaier, Mann! Nichts anderes höre ich seit Wochen aus Ihren Reihen. Nichtsdestotrotz schreiben Sie einen solchen Satz eiskalt in Ihren Antrag. (Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ich hatte gar nicht!)


– Herr Heil, Ihre Rede, die Sie heute früh gehalten ha-
ben, lag sicherlich schon fertig in der Schublade.


(Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


– Genau. Deshalb fiel Ihnen auch nichts zum Antrag Ih-
rer Fraktion ein. Sie kennen den Inhalt wahrscheinlich
gar nicht.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU)


Des Weiteren fordern Sie in Ihrem Antrag, „die Roh-
stoffgewinnung im Inland zu erleichtern“. Toll! Da bin
ich gespannt. Ich werde diesen Satz immer wieder vor-
tragen, um Sie daran zu erinnern, dass Sie das zwar for-
dern, aber nicht leben.

Frau Andreae, jetzt muss ich zu Ihrem Beitrag kom-
men, weil Sie hier im Plenum im Zusammenhang mit
dem EEG wirklich eine große Unwahrheit verbreitet ha-
ben. Wir sind immer dafür, die Einführung neuer Tech-

nologien zu befördern, aber es kann nicht darum gehen,
nur Masse zu befördern, nur Fläche zu befördern, ohne
Effizienz zu bewirken. Das EEG ist ein Gesetz, das aus-
schließlich Masse befördert.

Nun haben Sie hier am Pult behauptet, dass die christ-
lich-liberale Koalition in den letzten Jahren für die
Schwierigkeiten der Solarindustrie in Deutschland ver-
antwortlich sei.


(Beifall der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie wissen doch genau, dass das eine glatte Lüge ist.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


Wir haben mit dem Geld der deutschen Stromver-
braucher, der privaten Verbraucher genauso wie der In-
dustrie, dafür gesorgt, dass in Asien, vor allem in China,
ein enormer Arbeitsplatzaufbau stattgefunden hat. Wenn
Ihr Argument stimmen würde, dann müsste der Markt
für Solartechnik in Deutschland im Prinzip zusammen-
gebrochen sein. Das ist aber gerade nicht der Fall,
sondern er hat Höchststände. Wenn die deutsche Solar-
industrie offensichtlich nicht in der Lage ist, sich im
Wettbewerb zu behaupten, dann können Sie doch nicht
sagen: „Das ist eine Folge der Politik“, sondern dann
müssen Sie einmal nachfragen: Wieso kann die deutsche
Solarwirtschaft nicht gegen die Konkurrenz, vor allen
Dingen die asiatische, ankommen?


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722810200

Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Lenkert?


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1722810300

Ja. – Das müssen Sie den Leuten schon erklären!

Sie haben vier EEG-Novellen blockiert. Genau dort
wollten wir regulierend eingreifen, um diese Fehlsteue-
rung zu vermeiden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722810400

Bitte schön, Herr Lenkert.


Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722810500

Vielen Dank. – Herr Kollege Lämmel, Sie sagten ge-

rade, dass es keinen Arbeitsplatzabbau in der Solarbran-
che gebe. Diese Äußerung können Sie gern in Frankfurt
an der Oder wiederholen. Diese Äußerung können Sie
gern in meinem Wahlkreis wiederholen, wo Schott Solar
geschlossen hat; fast 300 Leute sind entlassen worden.
Da ging es um die Modulproduktion, nicht um die Instal-
lation auf Dächern.

Sie müssen sich gefallen lassen, dass wir Ihnen sagen,
dass die Bundesregierung durch die Verunsicherung an
dieser Stelle dafür gesorgt hat, dass Kreditlinien solcher
Firmen gekündigt wurden, dass die Bundesregierung
keine Maßnahmen ergriffen hat, um einen Ausgleich zu
schaffen, nachdem die Volksrepublik China ihren Solar-
firmen zinslose Kredite mit sehr langen Laufzeiten zur
Verfügung gestellt hat und damit die Finanzierung im





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)


Prinzip zu null zu haben war – das ist nach den Richtli-
nien der Welthandelsorganisation übrigens keine Wett-
bewerbsverzerrung –, dass sie also nichts dagegen unter-
nommen hat. Wenn Sie sich hier hinstellen und sagen, es
habe keine Auswirkungen auf Arbeitsplätze in der Bun-
desrepublik gegeben, dann gehen Sie nach Sachsen-An-
halt, dann gehen Sie nach Thüringen und erklären es
bitte den Leuten dort und erklären Sie mir hier jetzt
auch, wie Sie diese Äußerung rechtfertigen!


(Beifall bei der LINKEN)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1722810600

Herr Kollege, offensichtlich haben Sie verstopfte Ge-

hörgänge oder so etwas. Ich habe überhaupt nicht gesagt,
dass es nicht zu Arbeitsplatzabbau gekommen ist. Es ist
völlig aus der Luft gegriffen, was Sie hier behaupten. Ich
brauche jetzt nicht auf Ihre Frage eingehen, weil das jeg-
licher Grundlage entbehrt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Es kommt also zum Arbeitsplatzabbau! Noch schöner!)


Ich komme noch einmal zum Antrag der SPD. Die
Zusammenfassung des Ganzen lautet: Ihr Antrag ist
praktisch ein buntes Gemisch aus allen Themen. Es sind
einige Punkte enthalten, die durchaus diskussionswürdig
sind, aber 80 Prozent dessen, was Sie in dem Antrag
schreiben, machen wir schon. Deswegen brauchen wir
den Antrag gar nicht, und deswegen ist das aus meiner
Sicht auch kein Konzept 2020. In ein Konzept 2020
müsste man etwas Neues hineinschreiben und dürfte
nicht all das aufführen, was wir bisher schon machen. In-
sofern war es zwar schön, die Zeit mit Ihnen hier zu ver-
bringen, aber das war in der Sache eigentlich nicht för-
derlich.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722810700

Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist

Wolfgang Tiefensee für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Wolfgang Tiefensee (SPD):
Rede ID: ID1722810800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vertrau-
ensschwund insbesondere der deutschen Wirtschaft ge-
genüber der Regierung ist mit Händen zu greifen.


(Zuruf von der FDP: Die wählen doch alle SPD!)


Es sind Konfusion, Konzeptlosigkeit, Flickschusterei zu
beobachten, was mittlerweile der deutschen Wirtschaft
und demzufolge der gesamten Gesellschaft wehtut. Das
müssen wir beenden.


(Beifall bei der SPD)


Ich möchte das an ein paar Themen deutlich machen,
meine sehr verehrten Damen und Herren, die Sie in dem
Antrag finden.

Deutschland 2020 ist ein Prozess, den wir in den ver-
gangenen Monaten und Jahren eingeleitet haben und der
sich auf ganz unterschiedliche Themen bezieht, Herr
Lämmel. In der heutigen Diskussion geht es um drei we-
sentliche Schwerpunkte, nämlich um die Infrastruktur,
um die Energiewende und um die Innovation. Ich
möchte mich in meinen Ausführungen auf die Energie-
wende beschränken.

Wer die deutsche Wirtschaft stark machen will, muss
Verlässlichkeit schaffen. Was erleben wir stattdessen?
Wir erleben eine Konfusion innerhalb der Regierung.
Wenn ich es richtig gelesen habe, tagte gestern der Um-
weltausschuss, und die beiden für die Energiewende ver-
antwortlichen Minister lehnten es ab, gleichzeitig an ei-
nem Tisch zu sitzen. Das ist das Sinnbild dafür, dass man
sich nicht grün ist und dass jeder seine eigenen Konzepte
gegen den anderen durchsetzen will und damit Stillstand
erreicht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So wird es nichts! – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind sich noch nicht einmal gelb!)


Ich will einige weitere Beispiele aufzählen. In Brüssel
geht es um die Frage des Zertifikatehandels. Das ist ein
ganz wesentliches Instrument, das wir beleben wollen.
Die beiden verantwortlichen Minister schlagen hierzu
jedoch unterschiedliche Konzepte vor. Demzufolge pas-
siert nichts. Das muss geändert werden. Statt Konzep-
tionslosigkeit und Flickschusterei brauchen wir Pla-
nungssicherheit beim Zertifikatehandel.


(Beifall bei der SPD)


Das zweite Thema bezieht sich auf die energieinten-
siv produzierenden Unternehmen. Wir haben die ent-
sprechende Regelung unter Rot-Grün nicht zuletzt des-
halb eingeführt, damit die gesamte Wertschöpfungskette
in Deutschland bleibt. Das Oberlandesgericht Düssel-
dorf bescheinigt jetzt der Regierung, dass die Auswei-
tung bzw. die Neupositionierung in diesem Bereich
verfassungswidrig sei. Brüssel hat in diesem Zusammen-
hang ein Verfahren eingeleitet.

Wie wollen Sie dieser wichtigen Industrie Planungs-
sicherheit bieten, die wir dringend brauchen? Das ist
also wiederum Flickschusterei und Konfusion. Das muss
zu Ende gehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das dritte Thema bezieht sich auf die Offshorewind-
gebiete. Da wird der Industrie versprochen: Wenn ihr
Windparks einrichtet, dann werden diese an das Ufer an-
geschlossen. Damit ist ein Abtransport des Stroms Rich-
tung Süden möglich.

Mein sehr verehrter Kollege Glos hat dafür gesorgt,
dass die Netze privatisiert werden. Nun ist beispiels-





Wolfgang Tiefensee


(A) (C)



(D)(B)


weise TenneT – im Hintergrund die Niederlande – nicht
in der Lage, den Anschluss zu gewährleisten. Ist das Pla-
nungssicherheit? Haben wir einen Minister gesehen, der
in Den Haag dafür sorgt, dass das Eigenkapital gestärkt
wird, damit die Offshorewindgebiete angeschlossen wer-
den? Nein. Planungsunsicherheit für die Industrie. Flick-
schusterei. Konfusion. Das muss beendet werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiteres Thema: Es wird immer vom sogenann-
ten NOVA-Prinzip gesprochen – das bedeutet Netzopti-
mierung vor Ausbau –, das Sie in Sonntagsreden hoch-
halten. In welchem Gesetz, in welcher Verordnung steht,
dass bei einer Neukonzipierung von Netzen zunächst
dieses Prinzip anzuwenden ist, dass also zunächst die
vorhandenen Netze zu optimieren sind, sodass man über
Pilotprojekte, beispielsweise Erdverkabelung, zu einer
Lösung kommt? Das steht nirgendwo. Das steht zwar in
den Präambeln und in Ihren Sonntagsreden. Es bringt
aber keine Planungssicherheit für diejenigen, die in den
Kommunen und Ländern planen und die Prozesse voran-
treiben müssen, weil das nirgendwo steht. Konfusion.
Flickschusterei. Das muss beendet werden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein weiteres Thema. Dabei möchte ich all diejenigen,
die immer wieder auf dem CO2-Gebäudesanierungspro-
gramm herumreiten, insbesondere Herrn Breil, an die
Fakten erinnern: Wir haben den Kommunen, den Eigen-
tümern von Eigenheimen, von Wohnungen und von
Wohnungskomplexen versprochen, dass wir bei der
energetischen Gebäudesanierung vorankommen.

An der gestrigen Ausschusssitzung nahm auch Herr
Dr. Schröder von der KfW teil. Ich habe ihn explizit ge-
fragt: Was halten Sie davon, dass die Bundesregierung
ein bestehendes und gut eingeführtes Programm verän-
dert, nämlich das Programm zur Ausreichung von zins-
verbilligten Krediten an die Hausbanken, hin zu einer
steuerlichen Förderung, die niemand will, mit der nur
eine bestimmte Klientel gefördert wird?

Planungssicherheit sieht anders aus. Außerdem ist es
dringend geboten, für mehr Energieeffizienz zu sorgen.
Also auch hier wieder Flickschusterei und Konfusion.
Das muss beendet werden, meine sehr verehrten Damen
und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Das ist der Refrain!)


So ließe sich die Reihe der Konfusion und der Flick-
schusterei weiter fortsetzen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, die deut-
sche Wirtschaft, die privaten Investoren und die privaten
Haushalte brauchen Planungssicherheit und Verlässlich-
keit. Sie brauchen eine Vision. Wer nicht zielbewusst ist,
der lässt sich vom Schicksal treiben. Wir mahnen an

– das ist die Quintessenz unseres Antrages –, dass wir
uns klare Ziele vorgeben und auf ihrer Grundlage Pro-
jekte entwickeln, die unter Beteiligung der Bevölkerung
und der politischen Mehrheiten umgesetzt werden. Wir
brauchen keine Ankündigungen, wir brauchen keinen
Streit in der Regierung, sondern endlich konkretes Han-
deln. Deshalb, meine sehr verehrten Damen und Herren,
wird es Zeit, dass der September 2013 kommt und wir
die Konzepte, die wir hier vorlegen, tatsächlich umset-
zen können.

Vielen Dank, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722810900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12682 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 f sowie
die Zusatzpunkte 3 a bis 3 e auf:

34 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung eines Datenbankgrundbuchs (DaBaGG)


– Drucksache 17/12635 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem
Staatsvertrag vom 14. Dezember 2012 über die
abschließende Aufteilung des Finanzvermö-
gens gemäß Artikel 22 des Einigungsvertrages
zwischen dem Bund, den neuen Ländern und
Berlin (Finanzvermögen-Staatsvertrag) und
zur Änderung der Bundeshaushaltsordnung

– Drucksache 17/12639 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Rechtsausschuss

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Finanz- und Personalstatistikgesetzes

– Drucksache 17/12640 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)
Innenausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Karl
Holmeier, Reinhold Sendker, Steffen Bilger, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Oliver Luksic,
Patrick Döring, Petra Müller (Aachen), weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Öffentlich-Private Partnerschaften – Poten-
ziale richtig nutzen, mittelstandsfreundlich ge-
stalten und Transparenz erhöhen

– Drucksache 17/12696 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Innenausschuss 
Rechtsausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Haushaltsausschuss

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Renate
Künast, Undine Kurth (Quedlinburg), Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Haltung von Delfinen beenden

– Drucksache 17/12657 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Ebner, Cornelia Behm, Nicole Maisch, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Bienen und andere Insekten vor Neonico-
tinoiden schützen

– Drucksache 17/12695 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 3 a) Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Änderung des Geset-
zes gegen Wettbewerbsbeschränkungen zur
gesetzlichen Absicherung des Presse-Grossos

– Drucksache 17/12679 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Ausschuss für Kultur und Medien

b) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än-
derung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbe-
schränkungen zur Änderung des Pressefusions-
rechtes

– Drucksache 17/12680 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Kultur und Medien

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Swen
Schulz (Spandau), Dr. Ernst Dieter Rossmann,
Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der SPD

Hochschulpakt aufstocken – Finanzierung von
wachsenden Studienkapazitäten an den Hoch-
schulen langfristig sicherstellen
– Drucksache 17/12690 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Klein-Schmeink, Birgitt Bender, Kerstin Andreae,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Korruption im Gesundheitswesen strafbar
machen
– Drucksache 17/12693 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Arbeit und Soziales

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Dr. Gerhard Schick, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Europäische Tonnagesteuer statt Steuerspar-
modell
– Drucksache 17/12697 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist so.
Dann sind die Überweisungen beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 35 a bis 35 m so-
wie die Zusatzpunkte 4 a und 4 b auf. Es handelt sich um
die Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.

Zunächst Tagesordnungspunkt 35 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Abkommen vom 3. Mai
2012 zwischen der Regierung der Bundesrepu-
blik Deutschland und der Regierung der Re-
publik Korea über die Seeschifffahrt
– Drucksache 17/12336 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/12574 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Der Ausschuss für Verkehr empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/12574, den Gesetz-
entwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12336 an-
zunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den Stimmen des Hauses bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung seeverkehrsrechtlicher und
sonstiger Vorschriften mit Bezug zum Seerecht

– Drucksache 17/12348 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/12594 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Uwe Beckmeyer

Der Verkehrsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12594, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/12348 an-
zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, sollten sich erheben. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 c:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Internationalen Über-
einkommen von Nairobi von 2007 über die Be-
seitigung von Wracks

– Drucksache 17/12343 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

(15. Ausschuss)


– Drucksache 17/12595 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms

Zweite Beratung
und Schlussabstimmung. Der Verkehrsausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/12595, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/12343 anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu

erheben. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 d:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Fünfundneunzigste Verordnung zur Änderung
der Außenwirtschaftsverordnung
– Drucksachen 17/12226, 17/12441 Nr. 2.1,
17/12728 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12728, die Aufhebung der Ver-
ordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12226
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD bei Enthaltung von Linken
und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 e:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss) zu der Verordnung der
Bundesregierung
Einhundertzehnte Verordnung zur Änderung
der Ausfuhrliste
– Anlage AL zur Außenwirtschaftsverordnung –
– Drucksachen 17/12227, 17/12441 Nr. 2.2,
17/12729 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Martin Lindner (Berlin)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12729, die Aufhebung der Ver-
ordnung der Bundesregierung auf Drucksache 17/12227
nicht zu verlangen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen von CDU/
CSU, SPD und FDP bei Enthaltung von Linken und
Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 f:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung
Verordnung über die Hinweispflichten des
Handels beim Vertrieb bepfandeter Getränke-
verpackungen (GvpHpV)

– Drucksachen 17/12303, 17/12441 Nr. 2.3,
17/12739 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12739, der Verordnung der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/12303 zuzustimmen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die
Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grü-
nen angenommen.

Tagesordnungspunkte 35 g bis 35 m. Das sind Be-
schlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

Zunächst Tagesordnungspunkt 35 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 546 zu Petitionen

– Drucksache 17/12511 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 546 ist einstimmig an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 35 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 547 zu Petitionen

– Drucksache 17/12512 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 547 ist gegen die Stim-
men der Grünen vom Haus angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 548 zu Petitionen

– Drucksache 17/12513 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 548 ist angenommen
gegen die Stimmen der Linken.

Tagesordnungspunkt 35 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 549 zu Petitionen

– Drucksache 17/12514 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 549 ist mit den Stim-
men von Koalition und SPD gegen die Stimmen von
Linken und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 550 zu Petitionen

– Drucksache 17/12515 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 550 ist mit den Stim-
men der Koalition und der Linken gegen die Stimmen
von SPD und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 551 zu Petitionen

– Drucksache 17/12516 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 551 ist mit den Stim-
men der Koalition und der Grünen gegen die Stimmen
von SPD und Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 35 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 552 zu Petitionen

– Drucksache 17/12517 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Sammelübersicht 552 ist mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.

Zusatzpunkt 4 a:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Familie, Senioren,
Frauen und Jugend (13. Ausschuss) zu dem An-
trag der Abgeordneten Renate Künast, Monika
Lazar, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gleichberechtigte Teilhabe von Frauen in Füh-
rungspositionen umsetzen

– Drucksachen 17/7953, 17/8643 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Nadine Schön (St. Wendel)
Christel Humme
Nicole Bracht-Bendt
Jörn Wunderlich
Monika Lazar

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/8643, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7953 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der drei Oppositionsfrak-
tionen angenommen.

Zusatzpunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Innenausschusses (4. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Josef Philip
Winkler, Volker Beck (Köln), Memet Kilic, wei-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Residenzpflicht abschaffen
– Drucksachen 17/11356, 17/11725 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Reinhard Grindel
Rüdiger Veit
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)
Ulla Jelpke
Josef Philip Winkler

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11725, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11356 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen gegen die Stimmen von Linken und Grünen bei Ent-
haltung der SPD angenommen.

Ich rufe nun den Zusatzpunkt 5 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion der SPD
Standpunkt der Bundesregierung zu den be-
schlossenen Verfassungsänderungen in Ungarn
im Hinblick auf die Einhaltung europäischer
Grundwerte

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort
Frank-Walter Steinmeier für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Frank-Walter Steinmeier (SPD):
Rede ID: ID1722811000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn es sich ein Land mit dem Urteil über Ungarn nicht
einfach machen darf, dann unser Land, dann Deutsch-
land. Viel zu viel haben wir den Ungarn zu verdanken.
Europa, auch Deutschland, sähe anders aus, wenn die
Ungarn damals, vor mehr als 23 Jahren, nicht Mensch-
lichkeit gezeigt hätten. Sie waren die Ersten, die den Mut
hatten, den Eisernen Vorhang zu überwinden,


(Beifall des Abg. Dr. Franz Josef Jung [CDU/ CSU])


und sie waren es, die den Weg zur deutschen Einheit frei
gemacht haben.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb, das sage ich auch für mich, sind wir Deut-
schen vielleicht nicht die Ersten, die berufen sind, in mo-
ralische Empörung zu verfallen, wenn es um politische
Fehlentwicklungen in Ungarn geht. Aber wir sind weiß
Gott nicht die Ersten. Zu dem, was wir dort gegenwärtig
erleben – gerade weil es uns schmerzt – können wir eben
nicht einfach schweigen. Dazu müssen wir uns verhal-
ten. Das verlangt Position, und Wegducken ist da keine
Alternative, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Gestern hat das ungarische Parlament die vierte Ver-
fassungsreform in knapp zwei Jahren auf den Weg

gebracht. Mit jeder dieser Reformen macht sich der Mi-
nisterpräsident, machen sich Viktor Orban und die kon-
servative Fidesz den ungarischen Staat mehr und mehr
zur Beute. Mit jeder dieser Reformen wurden Rechts-
staat und Demokratie weiter beschädigt. Jeder, der sich
diesem Kurs entgegenstellt, wird – das war in den letzten
zwei Jahren zu besichtigen – abgestraft. Das Verfas-
sungsgericht wurde seiner Kompetenzen beraubt, als
Hüter der Verfassung entmachtet. Richter und Staats-
anwälte wurden massenweise entlassen, durch Fidesz-
Gefolgsleute ersetzt. Die unabhängige Presse wurde per
Mediengesetz unter Druck gesetzt. Gesetzgebungsbe-
fugnisse des Parlaments wurden eingeschränkt, und das
Wahlrecht wurde zugunsten der Fidesz-Partei zurechtge-
bogen. Die Religionsfreiheit wurde von Regimetreue ab-
hängig gemacht. In der Summe, meine Damen und Her-
ren, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das eben keine
bloße Anpassung an veränderte Realitäten, sondern das
ist Raubbau an Demokratie und Rechtsstaat.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aber nicht nur das; begleitet wird das alles von einem
dumpfen und völkischen Nationalismus, und das nicht
nur am äußersten rechten Rand, sondern immer unver-
hohlener auch in der Mitte der Partei des Ministerpräsi-
denten, der Regierungspartei. Fremdenfeindlichkeit,
Ausfälle gegen Andersdenkende, all das wird in Ungarn
allmählich gesellschaftsfähig gemacht. Da, liebe Kol-
leginnen und Kollegen – da sind wir uns hoffentlich ei-
nig –, können wir nicht einfach zuschauen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU])


Wir dürfen nicht einfach zulassen, dass europäische
Grundwerte mitten in der Europäischen Union offen und
gezielt missachtet und verletzt werden, auch deshalb,
weil es hier nicht nur um Ungarn geht. Wenn einzelne
EU-Staaten sich in einen vordemokratischen Nationalis-
mus flüchten, dann zerfrisst das am Ende unseren ge-
meinsamen Wertekanon, und das dürfen wir nicht zulas-
sen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb dürfen wir wohl erwarten, dass die Europäi-
sche Kommission zu diesen Vorgängen mehr findet als
nur laue Worte. Deshalb erwarte ich auch, dass eine Gip-
felerklärung des Europäischen Rates morgen mehr dazu
enthält als Ausdruck von Sorge und dass vor allem die
deutsche Bundeskanzlerin das Nötige dafür tut. Deshalb
erwarte ich von einer Parteienfamilie, in der die Union
mit der Fidesz ja nicht nur irgendwie befreundet ist, son-
dern in einer Fraktionsgemeinschaft im Europäischen
Parlament sitzt, auch nicht nur Worte, sondern Maßnah-
men. Wir erwarten von der EVP und von Frau Merkel
genau das, was Sie unserer Parteienfamilie im Fall der
Slowakei vor einigen Jahren abverlangt haben – nicht
mehr, aber auch nicht weniger.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722811100

Das Wort hat nun Gunther Krichbaum für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Gunther Krichbaum (CDU):
Rede ID: ID1722811200

Vielen Dank. – Herr Präsident! Meine lieben Kolle-

ginnen und Kollegen! Ihre Haltung zu den aktuellen Ent-
wicklungen in Ungarn hat die Bundesregierung mehr als
nur einmal deutlich gemacht, zuletzt beim Besuch des
ungarischen Staatspräsidenten diese Woche. Es waren
intensive Gespräche zwischen ihm und Bundeskanzlerin
Merkel und natürlich auch dem Außenminister, Herrn
Westerwelle. Ich darf auch daran erinnern, dass Frau
Staatsministerin Pieper erst kürzlich in Ungarn war und
auch diese Begegnung dazu nutzte, die Position der Bun-
desregierung hinreichend deutlich zu machen.

Ich glaube, es ist aber auch wichtig, gerade zu Beginn
dieser Aktuellen Stunde darauf hinzuweisen, dass wir
uns in einem Plenarsaal und nicht in einem Gerichtssaal
befinden. Deshalb sitzt hier kein Land auf der Anklage-
bank. Dem Land Ungarn haben wir in der Tat – Herr
Steinmeier hat es erwähnt – gerade wegen des Jahres
1989 sehr viel zu verdanken. Ohne Ungarn wäre die
deutsche Wiedervereinigung nicht möglich gewesen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Umgekehrt nehmen wir zu den aktuellen Geschehnis-
sen mit Bestimmtheit, aber natürlich auch mit Augen-
maß Stellung. Deswegen ist es für mich persönlich
wichtig, darauf hinzuweisen, dass es bei solchen Kom-
mentierungen nicht um die Einmischung in die inneren
Angelegenheiten eines Landes geht. Warum ist dies der
Fall? Spätestens mit dem Vertrag von Lissabon haben
wir eine Unionsbürgerschaft, das heißt, alle Menschen
innerhalb der Europäischen Union haben den gleichen
Anspruch auf Teilhabe an den gemeinsamen Werten wie
Demokratie und Rechtsstaatlichkeit. Deswegen begrüße
auch ich persönlich sehr die Initiative – ausgehend von
vier Außenministern der Länder Deutschland, Däne-
mark, Finnland und den Niederlanden, mit Herrn
Westerwelle an der Spitze – in die Richtung, dass wir in
Zukunft auf Fehlentwicklungen schneller reagieren kön-
nen müssen. Wir benötigen einen Ad-hoc-Mechanismus.
Das haben wir schon im letzten Jahr gesehen, als es
Fehlentwicklungen in Rumänien aufgrund eines Amts-
enthebungsverfahrens gab. Ganz nebenbei: Schon da-
mals hätte ich mir eine Aktuelle Stunde zu diesem
Thema gewünscht, die dann aber nicht zustande kam.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hätten Sie doch beantragen können!)


Das muss auch gesagt werden können.

Wir haben das sogenannte Verfahren nach Art. 7 des
EU-Vertrages. Das ist aber zu schwerfällig. Die Hürde
hängt zu hoch. Deswegen brauchen wir einen Ad-hoc-
Mechanismus. Ich hoffe, dass auch die Initiative von

Herrn Westerwelle dazu beitragen kann, die Kommis-
sion davon zu überzeugen.

Das gilt auch deswegen, weil wir spätestens mit John
Locke und Montesquieu den Grundsatz der Gewaltentei-
lung nicht nur entwickelt haben, sondern er das Herz-
stück einer jeden Demokratie bildet. Es geht dabei da-
rum, dass die drei Gewalten – die rechtsprechende, die
vollziehende und natürlich auch die gesetzgebende Ge-
walt – sich untereinander ausbalancieren und nicht die
eine Gewalt sich die andere gefügig machen darf. Es
darf sich auch nicht die eine Gewalt der anderen über-
stülpen. Das darf in einer Demokratie nicht geschehen.
Darauf müssen wir hinweisen können und dürfen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hinweisen ist nicht genug!)


Die Grundwerte innerhalb der Europäischen Union
– egal ob es die Demokratie, der Rechtsstaat oder die
Friedensstiftung sind – sind identitätsstiftend, worauf
nicht zuletzt Bundespräsident Gauck in seiner Rede hin-
gewiesen hat.

Ein letztes Argument, warum wir den Ad-hoc-Mecha-
nismus so dringend benötigen, sei auch erwähnt. Es geht
nicht nur um die Wahrung demokratischer Prinzipien. Es
geht auch um die Wahrung der Freiheitsprinzipien. Ich
denke hier an ein weiteres Element der jüngsten Ände-
rungen. Studenten, die in Ungarn studiert haben, haben
beispielsweise nicht mehr die Möglichkeit, ohne Weite-
res das Land zu verlassen. Sie können es nur mit Restrik-
tionen verlassen. Es geht auch darum, dass eine Banken-
steuer Platz gegriffen hat. Dies betrifft das Prinzip der
Marktwirtschaft, weil es ausschließlich ausländische
Banken angeht. Die Prinzipien der Demokratie, der Frei-
heit und der Marktwirtschaft sind die Kernelemente der
sogenannten Kopenhagener Kriterien, die einen Beitritt
eines Landes erst ermöglichen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Im Kern geht es darum, dass die Mitgliedstaaten der
Europäischen Union eine gemeinsame Verantwortung
tragen, damit die Bürgerinnen und Bürger aller Länder
auch in den Genuss der Werte kommen, die uns ausma-
chen. Deswegen ist es wichtig, jedes Partnerland darauf
hinzuweisen. Die heutige Debatte darf aber nicht nur
über Ungarn gehen, sondern sie muss mit Ungarn ge-
führt werden und mit allen anderen Ländern, in denen es
um analoge Schwierigkeiten und Fragen geht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722811300

Das Wort hat Stefan Liebich für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722811400

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die

Bundeskanzlerin ist besorgt. Gut so; denn die Lage in





Stefan Liebich


(A) (C)



(D)(B)


dem Land muss einen ja auch besorgt machen. Die Re-
gierungspartei nutzt ihre große Mehrheit für Verfas-
sungsänderungen: erstens zur Einschränkung der Rechte
des Verfassungsgerichts, weil es Gesetze kassiert hat,
zweitens für Regelungen, dass Menschen, die keinen fes-
ten Wohnsitz vorweisen können, Geldstrafen oder sogar
Haft drohen, drittens dafür, dass Wahlwerbung für Parteien
nur noch in den Sendern möglich ist, die gegenwärtig von
der Regierungspartei kontrolliert werden. Ja, das sollte
nicht nur Angela Merkel, sondern uns alle besorgt stim-
men. Wir reden hier nicht nur über Lukaschenkos Belarus.
Wir reden über einen Mitgliedstaat der Europäischen
Union. Wir reden über Ungarn.

Zur Erinnerung – Frank-Walter Steinmeier hat es an-
gesprochen –: Die Europäische Union ist zwar zunächst
als Montanunion, also als Wirtschaftsunion, entstanden,
sie hat sich aber inzwischen auf gemeinsame Werte ver-
ständigt. Im Vertrag über die Europäische Union heißt
es:

Die Werte, auf die sich die Union gründet, sind die
Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokra-
tie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wah-
rung der Menschenrechte einschließlich der Rechte
der Personen, die Minderheiten angehören.

Herr Krichbaum, deshalb reichen der Ausdruck von Be-
sorgnis und die Hinweise mit Blick auf Ungarn im Jahr
2013 nicht mehr aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Orban und seine Fidesz-Partei kamen 2010 mit
einem fulminanten Wahlsieg legitim an die Regierung.
Schon 2011 wurde die Verfassung geändert, was interna-
tional kritisiert wurde. Dann kam das Pressegesetz, 2012
das Gesetz über die Notenbank Ungarns und schließlich
die Politik gegen Sinti und Roma, gegen Lesben und
Schwule und deren Demonstrationsfreiheit.

Intellektuelle wie György Konrad, Peter Esterhazy
und der Literaturnobelpreisträger Imre Kertesz gelten im
offiziellen Ungarn als unpatriotisch, weil sie die Politik
der Regierung kritisieren. Dafür werden im ganzen Land
unter Beteiligung von Fidesz-Parteipolitikern Denkmale
für Miklós Horthy, dem Reichsverweser, Initiator der
ersten Judengesetze, Verbündeten von Hitler-Deutsch-
land, aufgestellt. Der Friedensnobelpreisträger Elie
Wiesel hat deshalb kürzlich seinen Verdienstorden an
den Parlamentspräsidenten zurückgegeben.

Erst vor wenigen Wochen hat der persönliche Freund
von Viktor Orban und Mitbegründer der Fidesz, Zsolt
Bayer, in einem Artikel über Roma gesagt – es fällt mir
schwer, das hier vorzulesen, aber wir müssen uns mit
dieser Situation konfrontieren –:

Ein bedeutender Teil der Zigeuner ist nicht geeig-
net, unter Menschen zu leben. Sie sind Tiere. Diese
Tiere sollen nicht sein dürfen. In keiner Weise. Das
muss gelöst werden – sofort und egal wie.

So ein Fidesz-Parteipolitiker und Freund von Viktor
Orban, der sich bis heute nicht von ihm distanziert hat.
So etwas dürfen wir nicht akzeptieren. Sorge allein
reicht nicht aus, es muss gehandelt werden.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was passiert? Als Mitglied der Parlamentarierver-
sammlung der OSZE, der Organisation für Sicherheit
und Zusammenarbeit in Europa, habe ich es erlebt: Staa-
ten wie Belarus werden wegen der letzten Wahlen kriti-
siert – zu Recht. Russland wird wegen Magnitskij kriti-
siert, der in einem Moskauer Gefängnis zu Tode kam –
zu Recht. Selbst die USA werden wegen illegaler CIA-
Gefängnisse kritisiert – zu Recht. Ein Antrag, Ungarn zu
kritisieren, hingegen wird abgelehnt.

An dieser Stelle muss ich die CDU/CSU ansprechen;
denn wir reden nicht nur einfach über Ungarn, sondern
wir reden auch über die CDU/CSU. Frank-Walter
Steinmeier hat das angesprochen. Die Fidesz ist geachte-
tes Mitglied Ihrer konservativen Parteienfamilie. Man
bekommt schon den Eindruck, dass Blut dicker ist als
Wasser und dass man sich gegen Kritik von außen schüt-
zen will.

Herr Krichbaum, Ihre Rede war – in aller Freund-
schaft – eine Verteidigungsrede: Augenmaß, nicht auf
die Anklagebank setzen. Dann der schöne Satz, man
möge sich nicht in die inneren Angelegenheiten ein-
mischen. Das habe ich wirklich schon lange nicht mehr
gehört. Hier können wir von der CDU/CSU wirklich
mehr erwarten.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Gunther Krichbaum [CDU/CSU]: Offenbar haben Sie nicht zugehört!)


Ich darf Sie daran erinnern, dass Ihr Parteifreund, un-
ser Bundestagskollege und Vertreter der Bundesregie-
rung, Peter Hintze, ebenso wie Viktor Orban einer der
Vizepräsidenten der Christlich Demokatischen Interna-
tionale ist. Wenn Sie nicht handeln, lassen Sie zu, dass
Ihre Parteifreunde offen die Grundrechte von Euro-
päerinnen und Europäern mit Füßen treten.


(Karl Holmeier [CDU/CSU]: Schaut auf euch!)


Sie müssen sich schon entscheiden, was für ein
Europa Sie wollen. Wollen Sie ein Europa, wie es
Cameron will: einfach einen gemeinsamen Markt und
fertig? Oder wollen Sie eine Gemeinschaft, die auf ge-
meinsamen Werten gründet?

Der Art. 7 des EU-Vertrages – es ist angesprochen
worden – ermöglicht es, einem Mitgliedstaat zeitweilig
sein Stimmrecht zu entziehen, wenn er die Grundrechte
der EU eindeutig zu verletzen droht oder bereits verletzt.
Schützen Sie nicht Ihre Parteifreunde, sie haben es nicht
verdient. Handeln Sie!


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722811500

Das Wort hat nun Joachim Spatz für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Joachim Spatz (FDP):
Rede ID: ID1722811600

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Zu den letzten Worten eben: Dass diese aus der
Ecke einer SED-Nachfolgeorganisation kommen, ist
sehr mutig.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das musste ja jetzt kommen!)


Wenn wir über Ungarn sprechen, dann sprechen wir
auch über die Folgen der Teilung Europas, mit deren
Überwindung sich die Länder schwertun. Ich will in die-
sem Zusammenhang erwähnen, dass das nicht die erste
Regierung Ungarns ist, die diese Leistung nicht erbracht
hat. Auch für diese Regierung besteht die Gefahr, durch
die jetzt gewählte Methode die ererbte gesellschaftliche
Spaltung nicht überwinden zu können. Aber ich betone
es noch einmal: Das ist nicht die erste Regierung, die
diesen Versuch erfolglos unternommen hat.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das macht es aber nicht besser!)


Die Europäische Union ist in der Tat mehr als eine
Wirtschaftsgemeinschaft. Sie ist und bleibt eine Werte-
gemeinschaft. Natürlich ist der Rechtsstaat ein wesentli-
cher Bestandteil, natürlich sind die Grundrechte ein
wesentlicher Bestandteil dieser Wertegemeinschaft. Des-
halb hat sich die Bundesregierung eindeutig geäußert,
und zwar sowohl in der Initiative von Guido
Westerwelle zusammen mit Finnland, Dänemark und
den Niederlanden zur Einhaltung der Grundrechte in der
Europäischen Union – es geht dabei darum, das entspre-
chende Instrumentarium weiterzuentwickeln –, wie auch
du
Michael Link (FDP):
Rede ID: ID1722811700
„Ungarn muss Rechtsstaat bleiben.“ Ich
glaube nicht, dass es zu viele Politiker in Verantwortung
gibt, die in derart deutlicher Weise die Position der Bun-
desrepublik Deutschland in diesen Fragen artikuliert ha-
ben.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das sollten mehr tun! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Merkel nämlich nicht!)


Natürlich gibt es immer beide Wege. Es gibt den Weg,
auf informelle Weise einzuwirken, und den Weg, auf of-
fizielle Weise zu reagieren. Die Bundesrepublik be-
schreitet beide Wege, und wir hoffen, dass in Ungarn
entsprechend reagiert wird.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, natürlich ist
es schwer, zu akzeptieren, dass Gesetzgebung bis ins
Detail in Verfassungsrang erhoben wird, weil natürlich
die Gefahr besteht, dass eine momentan bestehende
Zweidrittelmehrheit ihre Politik über den Mehrheits-
wechsel hinaus prolongieren will.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist das Ziel! Genau das wollen die!)


Natürlich wird das von uns kritisiert, weil das nicht Teil
des Wertekanons ist, den eine Verfassung absichert. Na-
türlich müssen wir darauf bestehen, dass diese einfach-
gesetzlichen Regelungen nach einer Wahl durch eine
neue Mehrheit auch einfachgesetzlich wieder geändert

werden können. Darauf bestehen wir natürlich. Das ist
überhaupt keine Frage.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Trotzdem muss ich die Kritik in einer Art und Weise
äußern, die dieser Problematik angemessen ist. Es ist
wichtig, dass man nicht oberlehrerhaft auftritt, sondern
auf die Verantwortung hinweist: Eine Mehrheit hat eine
Verantwortung, und eine Zweidrittelmehrheit hat eine
besondere Verantwortung.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das tun wir seit drei Jahren!)


Dabei geht es nicht nur um die formale Zulässigkeit von
Verfassungsänderungen – das wissen wir, und das sagen
wir den ungarischen Partnern auch –, die bei einer Parla-
mentsmehrheit von zwei Dritteln natürlich gegeben ist,
sondern darum, dass mit einer Zweidrittelmehrheit eine
besondere Verantwortung für die Kohärenz einer Gesell-
schaft verbunden ist. Auch das fordern wir regelmäßig
ein.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es bleibt natürlich immer das Gespräch. Es gibt eine
Einladung des Parlamentspräsidenten von Ungarn an die
Abgeordneten des Deutschen Bundestages, nach Ungarn
zu fahren und sich dort der Diskussion zu stellen. Ich
kann nur alle auffordern: Machen Sie mit. Konfrontieren
wir die Kolleginnen und Kollegen des ungarischen Par-
laments direkt mit unserer Kritik, und versuchen wir
auch auf diese Weise, mit Blick auf diese unglücklichen
Gesetzgebungsverfahren Änderungen herbeizuführen –
in aller Kollegialität und in aller Freundschaft. Denn
noch eines ist wichtig: Die Wertegemeinschaft Europas
ist nicht nur eine Wertegemeinschaft Westeuropas, son-
dern eine Wertegemeinschaft Gesamteuropas. Die Un-
garn haben damals ihren Beitrag geleistet, als es darum
ging, den Eisernen Vorhang zu öffnen, die Teilung Euro-
pas zu beenden und die Etablierung der Grundrechte in
Osteuropa überhaupt erst zu ermöglichen. Daher gilt ih-
nen bei aller Kritik auch immer unser Dank.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722811800

Das Wort hat nun Manuel Sarrazin für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Manuel Sarrazin (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722811900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Ich möchte am Anfang etwas ganz Persönliches sa-
gen: Wir reden schon seit vielen Jahren über Ungarn. Sie
alle wissen, dass ich kein Mensch knalliger Töne bin und
auch kein Mensch, der für Schlagzeilen arbeitet. Viel-
mehr ist es so, dass ich – wie viele in unserem Haus –
sehr viel von diesem Land halte. Deswegen ist es mir
– aus Interesse an dem Land – sehr wichtig, was dort
passiert. Als ich die Nachrichten über die sehr rasche
Veränderung der Verfassung und das, was sie beinhaltet,





Manuel Sarrazin


(A) (C)



(D)(B)


bekommen habe, habe ich das schon ein bisschen per-
sönlich genommen. Das möchte ich auch in Richtung
Budapest sagen. Ich habe immer versucht – auch in Be-
wertung der Grünen im Deutschen Bundestag –, für eine
realistische und treffende Note zu sorgen. Eigentlich
hatte ich das Gefühl, dass aus den Debatten der letzten
zwei Jahre gegenseitig gelernt worden ist.

Wenn ich mir nun vor Augen führe, welche Signale
die EVP in den letzten Jahren intern nach Budapest ge-
sendet hat und dass das Auswärtige Amt in diesem Fall
meiner Ansicht nach recht deutliche Worte gefunden hat,
komme ich nicht umhin, die Nichtreaktion von Angela
Merkel als ein klares Anzeichen dafür zu werten, dass
hier ein Affront stattfindet.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist einfach falsch!)


Dass die EVP, die gegenüber Herrn Orban gesagt hat:
„Wir können nicht gebrauchen, dass du uns immer in so
schlechte Schlagzeilen bringst“, sich jetzt nicht mehr in
der Lage sieht, auf dieses erneute, plötzliche und überra-
schende Agieren in einer Form zu antworten, dass man
noch ein Plus in Budapest hätte, dass Frau Merkel nicht
öffentlich klar, mit angemessenen und vernünftigen
Worten Stellung bezieht – so wie es das Auswärtige Amt
im Rahmen des genannten Namensbeitrags offenkundig
konnte –,


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Richtig!)


zeigt, dass sie hier nicht gut aufgestellt ist und nicht rich-
tig agiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Insofern ist das kein Konflikt zwischen Regierung
und Opposition; vielmehr geht es hier um die Frage der
europäischen Grundwerte. Sie wissen, dass ich ein gro-
ßer Freund Ungarns bin. Sie wissen, dass wir als Grüne
unglaublich dankbar für das sind, was Ungarn geleistet
hat, und dass wir – bei großem Bemühen, die richtige
Form zu finden – immer alles mit kritischen und offenen
Worte ansprechen. Aber man muss doch fragen, ob das
Verfahren, die Verfassungsänderungen in 25 Tagen so
durchzuführen, dass die Venedig-Kommission, welche
in den letzten Jahren in die Änderungen eingebunden
war und Möglichkeiten zur Stellungnahme hatte, gar
nicht reagieren konnte, der Stil ist, wie mit der Opposi-
tion in Ungarn, aber auch mit den europäischen Partnern,
umgegangen werden kann.

Ich möchte noch etwas sagen, weil ich finde, dass das
ein ziemlich wichtiger Punkt ist. In Art. 2 des EU-Ver-
trages gibt es die klare Aussage:

Die Werte, auf die sich die Union

– die Europäische Union –

gründet, sind die Achtung der Menschenwürde,
Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlich-
keit und die Wahrung der Menschenrechte ein-
schließlich der Rechte der Personen, die Minderhei-
ten angehören.

Ihrer Aussage, Frau Merkel habe sich klar geäußert,
möchte ich nur entgegnen: Wir sind uns nicht mehr si-
cher, ob die jetzt beschlossenen Änderungen der ungari-
schen Verfassung noch im Einklang mit diesen Grund-
werten stehen. Wir möchten eine klare Aussage der
Bundesregierung als Ganzes und damit auch der Bun-
deskanzlerin, ob die Bundesregierung der Meinung ist,
dass die Änderungen der ungarischen Verfassung noch
mit den Werten aus Art. 2 EU-Vertrag in Übereinstim-
mung stehen. Dazu müssen Sie sich äußern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir haben immer gesagt, dass die Funktionsfähigkeit
der europäischen Demokratie auch davon abhängig ist,
dass sie in allen Mitgliedstaaten funktioniert. Sie wissen
auch, dass wir diesbezüglich in vielen Mitgliedstaaten
Sorge haben. Wir haben in diesem Hause gemeinsam
– auch unter Einschluss der sozialdemokratischen Kolle-
gen – sehr deutliche Worte gegenüber den Ereignissen in
Rumänien gefunden. Das möchte ich hier ausdrücklich
lobend erwähnen. Da hat die SPD im Deutschen Bun-
destag nicht die Rolle gespielt, die manchmal bei den ei-
genen Kollegen gespielt wird, nämlich wegzuschauen.

Ich möchte Sie vor dem Hintergrund der Sorgen über
die Entwicklung in der gesamten Region und auch vor
dem Hintergrund der Glaubwürdigkeit, die die Europäi-
sche Union bei den Erweiterungsprozessen auf dem
westlichen Balkan benötigt, bitten, dieses Prinzip hier
bei uns gemeinsam durchzuhalten. Sie, verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen, die Mitglieder der Partei sind, de-
ren Vorsitzende die Bundeskanzlerin ist, wissen, dass
wir an dieser Stelle im deutschen Interesse gemeinsam
klare Worte in Richtung Budapest richten müssen, weil
der von vielen, auch von Gunther Krichbaum richtig be-
schriebene Konflikt durch die Änderungen hinsichtlich
der Gewaltenteilung in Ungarn nicht nur für Ungarn und
für die Freundschaft zu Deutschland, sondern für die ge-
samte Region sehr, sehr gefährlich ist. Diese Worte rich-
ten wir in Freundschaft, mit großer Sorge und sehr viel
persönlicher Anteilnahme gen Budapest.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722812000

Das Wort hat nun Karl Holmeier für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1722812100

Sehr verehrter Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Die Kavallerie soll gegen die Schweiz ins Feld geschickt
werden,


(Zurufe von der SPD: Oh!)


Piraten sollen nach Zypern schippern, italienische Politi-
ker sollen in den Zirkus,





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)



(Kerstin Griese [SPD]: Zum Thema!)


und – so nehme ich an –, wenn es nach der SPD und ih-
rem Spitzenkandidaten für die Bundestagswahl geht, soll
Ungarn auf die Anklagebank. Das ist der Umgang des
Möchtegernkanzlers Steinbrück mit unseren europäi-
schen Nachbarn und mit unseren europäischen Freun-
den.


(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN)


Wer Steinbrück zum Freund hat, braucht keine Feinde
mehr, könnte man fast sagen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Altmaier!)


Offenbar hat er die Beinfreiheit nur eingefordert, um an-
deren vor das Schienbein zu treten.

Leider nehmen er und seine Partei dabei keinerlei
Rücksicht darauf, wen die Attacken treffen. Respekt
scheint Ihnen ein Fremdwort zu sein,


(Thomas Oppermann [SPD]: Wohl den falschen Namen aufgeschrieben!)


vor allem gegenüber anderen Staaten. Sie schaden mit
Ihrem oberlehrerhaften, ja geradezu rüpelhaften Verhal-
ten dem Ansehen unseres Landes.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das musste gesagt werden.

Nun zur Sache. Ich stimme vollkommen mit denjeni-
gen überein, die darauf verweisen, dass die Europäische
Union auch eine Wertegemeinschaft ist.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Jetzt nicht mehr! – Dietmar Nietan [SPD]: Das scheinen Sie nicht zu verstehen!)


In dieser Wertegemeinschaft darf uns nicht egal sein,
was in einem anderen Mitgliedstaat passiert. Das gilt na-
türlich ganz besonders, wenn mögliche Verstöße gegen
Grundwerte im Raum stehen. Auch ich sehe es skep-
tisch, wenn ein Verfassungsgericht Normen der Verfas-
sung nicht auf ihre Vereinbarkeit mit übergeordneten
Verfassungsgrundsätzen überprüfen darf. Gerade wir
Deutsche wissen durch unsere Geschichte nur zu gut,
wohin das führen kann. Das heißt aber nicht, dass der
Deutschen Bundestag als selbsternannte oberste morali-
sche und juristische Instanz in Europa auftreten


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was heißt denn „selbsternannt“? Gewählt!)


und mit dem Finger auf Ungarn zeigen darf, frei nach
dem Motto: Am deutschen Wesen soll die Welt genesen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch Unsinn! Wir reden über europäische Grundwerte und nicht über deutsche! – Dietmar Nietan [SPD]: Merken Sie, dass Sie sich gerade blamieren?)


Dies gilt erstens vor dem Hintergrund, dass das unga-
rische Verfassungsgericht nach meinen Informationen in
den letzten 20 Jahren, also auch vor der jetzigen Verfas-
sungsänderung, noch nie die Kompetenz hatte, Verfas-

sungsnormen inhaltlich auf ihre Verfassungsmäßigkeit
zu prüfen. Bemerkenswerterweise hat sich bisher nie-
mand daran gestört. Das macht die Sache nicht besser,
aber es zeigt die Unehrlichkeit derer, die jetzt mit dem
Finger auf Ungarn zeigen.

Zweitens habe ich den Kollegen von der SPD und von
den Grünen bereits im Europaausschuss vorgeschlagen,
sich an den Europarat und an die EU-Kommission zu
wenden. Ich habe dies getan; denn es geht mir um die
Sache. Diese Institutionen sind für die Überprüfung der
Einhaltung europäischer Grundwerte zuständig, nicht
der Bundestag.


(Dietmar Nietan [SPD]: Was haben Sie für ein Selbstverständnis? – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wir können hier über alles reden, worüber wir reden wollen, auch Außenpolitik und Europapolitik! Sonst könnten wir den Auswärtigen Ausschuss auch abschaffen! Dann bräuchten wir keinen Außenminister mehr!)


Wir sind Legislative, nicht Judikative. Wir sind für
die Gesetzgebung in Deutschland zuständig, nicht aber
für die Kontrolle der Gesetze, schon gar nicht für die
Kontrolle von Gesetzen im Ausland. Soweit ich weiß,
haben EU-Kommissionschef Barroso und der Generalse-
kretär des Europarats, Jagland, bereits eine Überprüfung
der ungarischen Verfassungsänderungen angekündigt. In
diesem Zusammenhang hat auch der ungarische Außen-
minister bereits die Bereitschaft seines Landes zur Zu-
sammenarbeit erklärt.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Macht er seit drei Jahren!)


Also lassen wir sie doch erst einmal überprüfen und rich-
ten nicht schon vorher.

Ich sage Ihnen: Es geht der deutschen Opposition
nicht um die Sache. Es geht Ihnen allein um eine öffent-
lichkeitswirksame Ungarn-Schelte. Würde es Ihnen
nämlich um die Sache gehen, verehrte Kolleginnen und
Kollegen, dürften Sie nicht nur Ungarn zum Ziel Ihrer
Attacken machen. Würde es Ihnen um die Sache gehen,
hätten wir heute eine Grundsatzdebatte darüber geführt,
ob die Demokratie in einigen Ländern Europas mögli-
cherweise gefährdet ist.


(Dietmar Nietan [SPD]: Können wir gerne machen!)


In diesem Zusammenhang hätte man einen skeptischen
Blick nicht nur nach Ungarn, sondern auch in andere
EU-Staaten werfen können.


(Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Zum Beispiel?)


Die Entwicklungen in Rumänien und Bulgarien stimmen
mich mindestens genauso skeptisch wie die Entwicklun-
gen in Ungarn.

Es geht Ihnen aber nicht um die Sache. Ihnen passt es
nicht, dass es keine linke, sondern eine konservative Re-
gierung in Ungarn gibt.





Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)



(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Hat damit nichts zu tun! – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Das ist die Solidaritätserklärung für diese! Unwürdig für einen Christdemokraten!)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, als Demo-
krat begrüße ich ausdrücklich das Recht der parlamenta-
rischen Opposition, eine Aktuelle Stunde zu einem ak-
tuellen Thema zu beantragen. Bedauerlicherweise ist
dieses Recht vonseiten der SPD heute wieder einmal in
einer eklatanten Weise missbraucht worden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dietmar Nietan [SPD]: Ach, wollen Sie das auch noch abschaffen? Unfassbar! – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist doch absurd! Wir können reden, worüber wir wollen! Das entscheiden Sie doch nicht! – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Als Bayer distanziere ich mich von Ihnen!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722812200

Das Wort hat Michael Roth für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Roth (SPD):
Rede ID: ID1722812300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Hier im Deutschen Bundestag sitzen viele Freundinnen
und Freunde Ungarns, insbesondere auch in meiner
Fraktion. Seit 1999 bin ich Berichterstatter für Ungarn.
Ich reise mehrmals im Jahr in dieses Land. Ich weiß, wie
viele meiner Kolleginnen und Kollegen auch, wie dra-
matisch die Veränderungen in diesem Land sind, das im-
mer schon geprägt war von starker gesellschaftlicher und
politischer Polarisierung.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: So ist es!)


Aber, lieber Kollege Holmeier – bei allem Respekt
gegenüber meinem Fraktionsvorsitzenden Steinmeier,
den Sie vielleicht gemeint haben, und gegenüber unse-
rem Kanzlerkandidaten Steinbrück –: Nicht einer von
den beiden hat die Ungarn dahin gebracht, wo sie derzeit
stehen, sondern die ungarische Regierung hat Ungarn ins
Abseits manövriert, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es geht hier überhaupt nicht um das deutsche Wesen.
Es geht hier um die gemeinsame europäische Sache.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: So ist es!)


Ich bin immer davon ausgegangen, zumindest in der
Frage: „Auf welchem gemeinsamen Wertefundament be-
wegen wir uns in der Europäischen Union?“ sei partei-,
fraktions- und gesellschaftsübergreifend ein Konsens zu
erzielen. Aber offenkundig, sind Sie, Herr Holmeier,
CDU/CSU, nicht mehr bereit und in der Lage, diesen
Konsens mitzutragen. Das ist beschämend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Leider wahr!)


Hinter der Ungarn-Frage verbirgt sich ja eine noch
viel entscheidendere Frage – in dem einen oder anderen
Redebeitrag ist sie schon angeklungen –: Wie gehen wir
mit der Infragestellung von Demokratie und Grundwer-
ten in der Europäischen Union um? Ich will deutlich
machen, auch gegenüber dem Kollegen Gunther
Krichbaum: Das Prinzip der Nichteinmischung in die in-
neren Angelegenheiten von Nationalstaaten, ein Relikt
des 19. Jahrhunderts, hat in der Europäischen Union kei-
nen Bestand mehr.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Ach ja? Und was sagt zum Beispiel Helmut Schmidt dazu? Der will das doch immer noch!)


Im Gegenteil, es gibt die Pflicht zur Einmischung. Wir
stehen in der gemeinsamen Verantwortung, dafür zu
sorgen, dass die Grund- und Freiheitsrechte niemals, in
welcher Weise auch immer, relativiert werden. Dabei
müssen wir staaten- und gesellschaftsübergreifend zu-
sammenarbeiten. Wir müssen auch diejenigen bestärken,
die in den betreffenden Staaten für Demokratie, für Frei-
heit und für die Grundrechte eintreten. Das ist nun wirk-
lich keine Frage von Opposition einerseits und Regie-
rung andererseits. Insofern will ich durchaus respektvoll
sagen: Seit einigen Jahren engagiert sich der Menschen-
rechtsbeauftragte der Bundesregierung, Markus Löning,
an dieser Stelle sehr. Ich kann sagen, dass auch der ehe-
malige Staatsminister für Europa, Werner Hoyer, und der
gegenwärtige Staatsminister für Europa, Michael Link,
hierzu deutliche Worte gefunden haben, die wir uneinge-
schränkt unterstützen.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt allerdings keine konsequente Strategie, wie
wir mit der Infragestellung von Demokratie und Grund-
werten in der Europäischen Union umgehen. Wir müs-
sen auf jeden Fall den Eindruck vermeiden, dass wir mit
zweierlei Maß messen; das gebe ich selbstkritisch zu.


(Zuruf von der CDU/CSU: Ja! Aber das gilt doch wohl bei jedem Thema, oder?)


Wir haben im Falle Italiens möglicherweise zu lange ge-
schwiegen. Es darf nicht der Eindruck entstehen, dass
wir die kleinen Staaten strenger als die größeren Staaten
behandeln.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Sehr richtig!)


Oder – noch viel schlimmer –: Mit welcher Verve gehen
wir eigentlich gegen Haushaltssünder vor? Da reden wir
ständig über Sanktionen. Aber wo thematisieren wir ei-
gentlich Demokratiesünder?


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wo engagieren wir uns gegen Demokratiesünder? Das
ist doch viel wichtiger und viel entscheidender.





Michael Roth (Heringen)



(A) (C)



(D)(B)


Leider muss man sagen, dass Viktor Orban überhaupt
nichts dazugelernt hat. Wenn man mit Vertretern der un-
garischen Regierung spricht – ich tue das regelmäßig –,
heißt es immer wieder, man habe da etwas nicht richtig
verstanden. 450 Gesetze sind in den vergangenen zwei
Jahren mit Zweidrittelmehrheit durch das Parlament ge-
peitscht worden; manche demokratische Selbstverständ-
lichkeit ist da mittlerweile erodiert. Nun ist schon zum
vierten Mal die Verfassung geändert worden. Immer
wieder wurde gesagt, wir hätten da etwas missverstan-
den. Wir haben sehr wohl verstanden, dass an das ge-
meinsame europäische Wertefundament systematisch
die Axt angelegt wird. Das muss man im Deutschen
Bundestag doch noch sagen dürfen, liebe Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Parteipolitische Nibelungentreue ist hier völlig fehl
am Platze. Wir machen die Entwicklungen schon seit
mehreren Jahren zum Thema. Wenn die CDU/CSU
schon vor zwei oder drei Jahren in die Allparteienkoali-
tion eingestiegen wäre und sich mit uns gemeinsam dazu
entschlossen hätte, gegenüber den politisch Verantwort-
lichen in Ungarn deutliche Worte zu finden – ob nun vor
der Tür oder hinter der Tür; vor allem die Bundeskanzle-
rin ist da in der Pflicht –, wäre es in Ungarn vielleicht
gar nicht so weit gekommen.

Wenn Sie immer wieder auf uns zeigen, kann ich ganz
selbstbewusst zum Ausdruck bringen: Nicht nur – davon
sprach der Kollege Steinmeier – im Hinblick auf die Slo-
wakei haben wir deutliche Worte gefunden, auch im
Falle Rumäniens haben wir uns klar geäußert. Die So-
zialdemokratische Partei Europas hat ja sogar ihren Par-
teikongress von Bukarest nach Brüssel verlegt, um öf-
fentlich ein Zeichen zu setzen. Kritik wirkt nur dann,
wenn sie öffentlich geäußert wird. Das sollte doch zu-
mindest in der Europäischen Union selbstverständlich
sein.

Zum Schluss möchte ich sagen: Es geht wirklich nicht
nur um Ungarn, und es geht auch nicht nur um unsere ei-
genen Werte. Es geht auch um die große Frage: Wie tritt
die Europäische Union in einer globalisierten Welt ge-
genüber denjenigen Staaten auf, die tagtäglich Demokra-
tie und Freiheitsrechte mit Füßen treten? Können wir
wirklich noch glaubhaft für diese Werte eintreten, wenn
wir Zweifel daran lassen, dass wir diese Werte auch in-
nerhalb der Europäischen Union wirklich ernst nehmen?
Ich meine hier nicht Sonntagsreden, sondern die tagtäg-
liche politische und gesellschaftliche Arbeit. Deswegen
ist diese Diskussion dringend überfällig.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722812400

Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1722812500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich glaube, wenn wir aus der Debatte, die wir hier
erleben, die innenpolitischen Aspekte ausklammern
würden, würden wir eine ganz große Übereinstimmung
in der Sache erreichen können.

Wir stellen fest, dass die Verfassung in Ungarn geän-
dert wird. Wir stellen fest, dass Dinge, die eigentlich ein-
fachgesetzlich geregelt werden sollten, in Verfassungs-
rang gehoben werden – ein typischer Trick von Parteien,
ihre politischen Überzeugungen in Verfassungsrang zu
bringen. Wir stellen fest, dass etwa die Religionsfreiheit
– das sage ich jetzt als engagierter Christ – in Ungarn im
Moment sicherlich nicht so behandelt wird, wie wir uns
das wünschen. Wir stellen fest, dass das Verfassungsge-
richt durch die Ausklammerung materieller Verfassungs-
prüfungen in seinen Rechten beschränkt wird. All das
sind Dinge, die wir durchaus mit Sorge sehen.

Ich glaube aber, dass wir alle, die wir unterschiedli-
chen Parteifamilien angehören, gut daran tun, diese
Punkte in Freundschaft zu Ungarn und im Dialog auf
Augenhöhe zu thematisieren und nicht mit innenpoliti-
schem Schaum vor dem Mund.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Jede Partei – da sind wir doch Realpolitiker genug – hat
doch ihre eigenen Möglichkeiten, auf solche Entwick-
lungen Einfluss zu nehmen. Es gibt doch keine Partei
oder Fraktion hier im Deutschen Bundestag, die nicht
schon artikuliert hätte, dass sie die Entwicklungen mit
einer gewissen Sorge betrachtet. Nur, es gibt dafür eben
gewisse Kanäle, zum Teil auf außenpolitischer Ebene:
Michael Link, Werner Hoyer, aber auch Guido
Westerwelle wurden schon genannt; aber auch Frau
Merkel hat sich zu dieser Frage ja durchaus geäußert.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geräuspert!)


Wir können, glaube ich, sicher sein, dass hinter ver-
schlossenen Türen auch noch das eine oder andere deut-
liche Wort mehr gesagt worden ist. Wir sollten einander
also nicht vorwerfen, die einen würden die Entwicklun-
gen in der Verfassungsfrage in Ungarn anders betrachten
als die anderen. Ich glaube, wir können uns, was diese
Entwicklungen angeht, auf einen Konsens aller Demo-
kraten verlassen.

Wie ist es, wenn man feststellt, dass ein Freund in
Teilbereichen eine merkwürdige Entwicklung durch-
läuft? Wir alle wissen: Man sagt sich nicht sofort von
seinem Freund los und distanziert sich auch nicht in aller
Öffentlichkeit von ihm, sondern versucht, auf die Ent-
wicklung Einfluss zu nehmen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Seit drei Jahren!)


Das gelingt denjenigen, die ihm mit der eigenen Par-
teienfamilie näher stehen, intern vielleicht besser, als
wenn man sie von außen beschimpft.





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben es den Sozialdemokraten auch nicht vorge-
worfen, als sie sich etwa im Fall Rumänien sehr schwer-
taten, gegenüber Herrn Ponta oder seiner Frau, die ja im
Europäischen Parlament sitzt, auch nur ein einziges Wort
der Distanzierung über die Lippen zu bringen.


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das ist doch Quatsch!)


Wir haben darauf gesetzt und – ich glaube, mit Berechti-
gung – darauf gehofft, dass Sie beiden gegenüber im
Rahmen Ihrer Parteienfamilie intern das Notwendige sa-
gen,


(Dr. Frank-Walter Steinmeier [SPD]: Wir tun das!)


auch wenn Sie es in der Öffentlichkeit deutlich stärker
relativiert haben als etwa bei den Entwicklungen in Un-
garn. Deswegen verlassen wir uns auch darauf, dass Sie
beispielsweise gegenüber Herrn Sarrazin oder auch
Herrn Buschkowsky, wenn er mal wieder das Maß des
Üblichen verlässt, intern ein paar notwendige Dinge sa-
gen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Dass Sie Buschkowsky mit Orban vergleichen, ist ein unverschämter Vergleich von Ihnen! – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für einen Moment habe ich mich gefragt, was ich damit zu tun habe!)


Ich glaube, diese demokratischen Gepflogenheiten wer-
den von allen in diesem Haus vertretenen Parteien einge-
halten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Am Ende ist es mir ganz wichtig, den Ungarn noch
einmal zu sagen, dass wir an unserer Freundschaft mit
ihrem Land nicht rütteln. Wir sind Ungarn zu großem
Dank verpflichtet. Ungarn hat in vielen wichtigen Situa-
tionen der deutschen Geschichte eine sehr wichtige
Funktion eingenommen. Insofern werden wir mit unse-
ren ungarischen Freunden auf Augenhöhe, in Freund-
schaft, aber auch in gewisser Sorge über manche Ent-
wicklung sprechen müssen. Das hat auch schon
begonnen. Wir alle sollten unsere parteipolitischen oder
auch unsere institutionellen Kanäle nutzen, um diese Ge-
spräche zu intensivieren. Ich glaube, dann werden wir
am ehesten etwas erreichen. Das ist wirksamer als öf-
fentliche Schuldzuweisungen oder gar mit kleiner partei-
politischer Münze aufzurechnen, dass Abgeordnete der
einen Fraktion hier weniger demokratisch gesinnt seien
als die anderer Fraktionen.

Ich denke, wir alle wollen die Verfassungsentwick-
lung in Europa und die darauf aufbauende Wertegemein-
schaft schützen. Wir müssen uns in diesem Zusammen-
hang nicht gegenseitig Dinge vorwerfen, die ein
bisschen zu sehr der Innenpolitik geschuldet sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722812600

Das Wort hat nun Kerstin Griese für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1722812700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Ruppert, ich würde ja schon gerne aufs
Thema zurückkommen, nämlich auf die Verfassungsän-
derungen in Ungarn. Bevor ich das tue, will ich hier aber
ausdrücklich sagen, dass Sie selber wissen müssten, dass
Sie danebengegriffen haben, als Sie Heinz Buschkowsky
in einem Atemzug mit Viktor Orban genannt haben. Da-
gegen verwahren wir uns; das geht nun wirklich nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Aber bei Sarrazin verwahrt sie sich nicht!)


Wir reden über Verfassungsänderungen in Ungarn,
die mit einer Zweidrittelmehrheit durchgepeitscht wur-
den. Wir reden auch darüber, dass Verfassungsänderun-
gen, die 2011 schon einmal kritisiert worden sind und zu
denen es Kompromisse gab, nun wieder vorgenommen
werden sollen. Der Protest dagegen ist auch in Ungarn
selbst sehr groß.

Ich will zwei Beispiele für diese elementaren Verän-
derungen nennen, die meines Erachtens übrigens noch
nicht einmal in einfachgesetzliche Regelungen und erst
recht nicht in die Verfassung gehören:


(Beifall bei Abgeordneten der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


In Ungarn ist demnächst die Obdachlosigkeit verbo-
ten. Das wird in der Verfassung stehen. Man muss sich
einmal vorstellen, wie absurd das ist. Man kann sicher-
lich auch vermuten, dass dahinter eine demagogische
Maßnahme gegen die Roma in Ungarn steht. Was dahin-
ter auch für ein Verständnis von Sozialstaat steht, sollte
uns besorgt machen. Und nicht nur das! Das sollte uns
auch dazu bringen, dass wir darüber gegenüber einem
Partnerland in der Europäischen Union, was Ungarn für
uns ja ist, eben nicht schweigen.

Ein anderes Beispiel für die, wie ich finde, nicht hin-
nehmbaren Verfassungsänderungen in Ungarn ist die Si-
tuation der Religionsfreiheit. Ich will hier ausdrücklich
die CDU/CSU-Fraktion ansprechen; denn Ihr Vorsitzen-
der setzt sich ja immer besonders engagiert für die Reli-
gionsfreiheit und für die Rechte verfolgter Christen ein.
Hier geht es eben auch darum, einmal nach Ungarn zu
schauen. Die Fidesz-Partei hat dort ein Kirchengesetz
durchgesetzt, das die Trennung von Staat und Kirche
und die Religionsfreiheit verletzt. Das hat schon zu viel
Kritik geführt. Die Trennung von Staat und Kirche ge-
hört eben auch zu den Grundprinzipien der Rechtsstaat-
lichkeit und der Menschenrechte in Europa. In Ungarn
müssen Glaubensgemeinschaften, die als Kirche aner-
kannt werden wollen, dies nun im Parlament beantragen.
Der Geheimdienst muss dazu per Votum seine Erlaubnis
erteilen, und das Parlament muss das mit Zweidrittel-





Kerstin Griese


(A) (C)



(D)(B)


mehrheit beschließen. Ich glaube, auch das zeigt, wie ab-
surd das ist.

Ich will Ihre Aufmerksamkeit auf zwei ganz aktuelle
Urteile des Europäischen Gerichtshofes für Menschen-
rechte lenken:

Das erste stammt vom Februar 2013. Der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte hat da entschieden, dass
Ungarn gegen die Europäische Menschenrechtskonven-
tion verstoßen, einen Vater wegen seiner religiösen
Überzeugung diskriminiert und sein Recht auf Familien-
leben verletzt hat. Man hat es diesem Vater nämlich auf-
grund seiner Zugehörigkeit zu einer religiösen Minder-
heit verwehrt, mit seinem Sohn in Kontakt zu treten. Es
war die Rede von – Zitat – „irrationaler Weltsicht“. Der
Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat aus-
drücklich gesagt, dass das so nicht geht und dass der Va-
ter aufgrund seiner religiösen Überzeugung diskriminiert
worden ist. Dieses Vorgehen sollten wir uns sehr genau
anschauen, denn es zeigt, dass es um die Menschen-
rechte in Ungarn wirklich schwierig bestellt ist.

Die Verfassungsänderungen der Regierung Orban,
mit denen auch die Rechte vieler Religionsgemeinschaf-
ten beschränkt worden sind, sind eben ein Zeichen eines
Politik- und zunehmend auch Justizsystems, das die
Rechte der Menschen mehr und mehr missachtet. Ich
habe die große Sorge, dass das ein weiterer Schritt hin zu
einer ideologischen Grundüberzeugung ist, die die uni-
verselle Rolle und den universellen Wert der Menschen-
rechte – diese sind ja Gegenstand der europäischen Wer-
tegemeinschaft – missachtet.

Ich will ein zweites aktuelles Urteil ansprechen, das
die Missachtung der Menschenrechte belegt. Es geht
wieder einmal – ein aktuelles Thema – um die Situation
der Roma-Minderheit in Ungarn. Der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte hat Ungarn beklagt und
verurteilt, weil ungarische Behörden zwei junge Ange-
hörige der Roma-Minderheit in Schulen für geistig be-
hinderte Menschen gesteckt haben. Es fand ein Schultest
statt, der ganz besonders darauf ausgerichtet war, Roma-
Kinder auszusondern. Entgegen der Einschätzung der
ungarischen Behörden haben unabhängige Experten
festgestellt, dass diese beiden Jungen keine geistige Be-
hinderung haben. Die Schuleinstufung war also falsch.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat
ausdrücklich gesagt, dass das eine Diskriminierung von
Roma war.

Es bereitet uns große Sorgen, dass die Diskriminie-
rung der Roma in Ungarn System hat und dass der Staat
nichts dagegen unternimmt. Das ist das große Problem.
So lesen wir beispielsweise immer wieder von Aufmär-
schen der rechtsextremen Jobbik-Partei. Daher wün-
schen wir uns, dass die ungarische Regierung gegen
diese und auch gegen die schlechten und elenden Le-
bensverhältnisse der Roma etwas unternimmt.

Ich möchte ausdrücklich etwas dazu sagen – denn das
gehört auch zu dieser Debatte –, wie die Bundesregie-
rung hier mit Menschen umgeht, die in einer elenden Si-
tuation leben und unter Diskriminierung und Gewalt lei-
den. Das, was der Bundesinnenminister, der heute nicht

anwesend ist, macht, ist Populismus gegen Menschen,
die vor bitterer Armut und schlimmer Diskriminierung
flüchten. So kann man damit nicht umgehen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sollten uns da-
rin einig sein, dass Diskriminierung von Menschen
wegen ihrer religiösen Überzeugung oder wegen ihrer
Zugehörigkeit zu einer Minderheit mit den Menschen-
rechten unvereinbar ist. Dabei geht es – viele haben es
schon gesagt; ich will es noch einmal betonen – nicht um
Ausland und Inland, Herr Kollege Holmeier. Dabei geht
es insbesondere vor dem Hintergrund der Lehren aus der
Geschichte darum, dass Europa mehr ist als ein Binnen-
markt. Europa ist eine Wertegemeinschaft. Gerade aus
unserer Geschichte und aus den Fehlern des 20. Jahrhun-
derts haben wir doch gelernt – das ist unser historisches
Bewusstsein –, dass die Achtung der Menschenrechte
ein universeller Wert ist und dass wir uns überall, das
heißt in allen Ländern, für die Achtung der Menschen-
rechte einsetzen müssen. Das müssen wir hier im Deut-
schen Bundestag immer wieder deutlich sagen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP])


Deshalb noch einmal ein Appell an die Bundeskanz-
lerin, die schon auf dem Weg zum Europäischen Rat ist
– dabei unterstütze ich ausdrücklich, was der Kollege
Steinmeier gesagt hat –: Wir erwarten vom Europäischen
Rat hierzu deutliche Worte. Unser Appell an die Bundes-
kanzlerin und ihre Fraktion lautet: Bleiben Sie nicht un-
tätig. Sprechen Sie mit Ihrer Schwesterpartei. – Wir tun
dies in unserer Parteienfamilie übrigens sehr intensiv.
Ich kann Ihnen ein paar Beispiele aufzählen, wo wir uns
kräftig mit unseren Parteischwestern und -brüdern aus-
einandersetzen, wenn es problematische Entwicklungen
gibt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722812800

Frau Kollegin, Sie müssen trotzdem zum Schluss

kommen.


Kerstin Griese (SPD):
Rede ID: ID1722812900

Mein letzter Satz. – Deshalb geht es darum, dass

Rechtsstaatlichkeit, die Menschenrechte, der Schutz von
Minderheiten, die Rechte der Opposition, die Unabhän-
gigkeit der Gerichte, die Gewaltenteilung und die Pres-
sefreiheit zu Europa dazugehören und dass es Europa
nicht ohne die Grund- und Menschenrechte gibt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722813000

Das Wort hat nun Johann Wadephul für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1722813100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Dem letzten Satz der Kollegin Griese kann sich,
glaube ich, jeder anschließen. Dass das grundlegende
Werte hier in Europa sind und dass wir darüber in einer
europäischen Öffentlichkeit diskutieren, stimmt. Dass
dies auch die Bundesregierung freundschaftlich und in
einem Ton tut, Herr Außenminister a. D. Steinmeier, der
angemessen ist, kann wohl kaum bestritten werden.

Man stelle sich einmal vor, der Bundesaußenminister
hätte sich so, wie sein Amtsvorgänger das heute hier ge-
tan hat, öffentlich zu der gesamten Thematik geäußert.
Was wäre dann wohl los gewesen? Sie haben hier heute
von dumpfem, völkischem Nationalismus gesprochen,


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Ist doch auch wahr!)


von einem Weg in vordemokratischen Nationalismus.
Meinen Sie, dass das die angemessene Sprache ist? Sie
haben diese schließlich verlangt.


(Zustimmung des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE])


– Spätestens wenn Herr Liebich hier Beifall klatscht,
sollten die Sozialdemokraten etwas vorsichtig werden
und darüber nachdenken, ob sie noch auf dem richtigen
Wege sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich muss ganz ehrlich sagen: Meinen Sie, dass das in
einem gemeinsamen Europa die richtige Tonalität ge-
genüber einem ungarischen Volk ist, dem wir Deutsche
wahnsinnig viel zu verdanken haben? Die Ungarn waren
mutig und haben den Eisernen Vorhang niedergerissen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das ist aber nicht das Thema!)


Deswegen hätten Sie, Herr Steinmeier, nach Ihren
ersten Sätzen aufhören sollen. Deswegen sollten wir
wirklich nicht die Ersten sein, die oberlehrerhaft durch
Europa gehen


(Zurufe von der SPD)


und alles besser wissen und den Ungarn Demokratie und
Freiheit beibringen wollen. Nein, dafür sind wir die Fal-
schen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber den Franzosen das Wirtschaften!)


Ich bedaure auch, dass diese Debatte hier stattfindet
und keiner derjenigen, die sie initiiert haben, anwesend
ist.

Herr Sarrazin, wenn sich die gesamte Opposition und
insbesondere Herr Steinmeier so eingelassen hätten wie
Sie, dann wäre es in Ordnung gewesen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Beide haben doch in der Sache das Gleiche gebracht!)


Dann hätten wir dem wahrscheinlich auch zustimmen
können.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir nun schon jahrelang versucht! Sie stimmen doch keinem unserer Anträge zu!)


Denn Sie haben Fragen gestellt, aber keine Vorverurtei-
lung betrieben. Das ist die Problematik, in der wir uns
befinden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wenn Sie so reden würden wie Westerwelle, wäre das auch besser! Klare Worte!)


Ich hätte es für angemessen befunden, dass diejeni-
gen, die eine solche Debatte hier initiieren, einmal zur
Kenntnis nehmen, dass das ungarische Parlament in die-
ser Woche, übrigens einstimmig und aufgrund der Initia-
tive der Fidesz-Fraktion, die Einführung eines Gedenk-
tages für die deutschen Vertriebenen beschlossen und
begangen hat. Herr Präsident Lammert ist dabei gewe-
sen. Ich finde, wenn wir heute über Ungarn reden, dann
müssen wir im Sinne der Völkerverständigung in Europa
erfreut und dankbar zur Kenntnis nehmen, dass Ungarn
als Erstes dieser Länder einen Schritt auf uns zugegan-
gen ist. Ich glaube, dass dies eine wichtige Grundlage
ist, die wir zur Kenntnis nehmen und auch würdigen
sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Dann sollten wir nichts mehr zu diesem Thema sagen?)


Im Übrigen ist es – Kollege Ruppert hat darauf hinge-
wiesen – doch völlig unstreitig, dass in dieser Situation
Fragen zu stellen sind. Es ist auch in keiner Weise zu kri-
tisieren, dass man darüber redet: Wie wird dort mit dem
Verfassungsgericht umgegangen? Was wird in der Ver-
fassung mithilfe einer Zweidrittelmehrheit, die den Re-
gierenden zur Verfügung steht, verankert? Angesichts ei-
ner solchen Mehrheit setzen sich die Regierenden – das
ist schon zu Recht vom Kollegen Spatz gesagt worden –
immer dem Verdacht aus, eine Sache gesetzlich zu per-
petuieren, also auch für die Zeit zu regeln, in der man
selber keine Zweidrittelmehrheit oder keine einfache
Mehrheit mehr hat.

Natürlich muss man an dieser Stelle Fragen stellen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Seit drei Jahren stellen wir Fragen!)


– Herr Liebich, da Sie gerade sagen, dass Sie seit drei
Jahren Fragen stellen, will ich Sie nur einmal darauf hin-
weisen, dass wir in der Tat hier im Hause eine Debatte
über die Mediengesetzgebung in Ungarn geführt haben.
Ich will Sie einmal fragen, ob Sie wissen, dass mittler-
weile der Generalsekretär des Europarates Jagland und
die Venedig-Kommission, die mehrfach erwähnt worden
sind, festgestellt haben, dass Ungarn sämtliche Beden-
ken ausgeräumt hat und dass der Europarat mit der jetzi-
gen Mediengesetzgebung in Ungarn einverstanden ist.
Das haben Sie hier nicht erwähnt. Sie sind ganz schnell
im Voranklagen; damit sind Sie hier im Parlament die





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


Schnellsten. Aber sich die Sache in aller Ruhe anzuse-
hen, berechtigte Fragen zu stellen und dann die europäi-
schen Institutionen ihres Amtes walten zu lassen, das ist
der richtige Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir von der Union sind, wie Sie wissen, für eine Stär-
kung der Europäischen Union und deren Institutionen.
Wir sind für eine funktionierende Gerichtsbarkeit und
für die Überwachung der Einhaltung grundlegender eu-
ropäischer Prinzipien in den einzelnen Mitgliedstaaten.
Gegebenenfalls müssen nach Fehlverhalten Konsequen-
zen gezogen werden. Das ist vollkommen klar, das ist
auch unstreitig. Ein entsprechendes Instrumentarium
gibt es bereits. Man kann von diesem Ort hier die Kom-
mission nur auffordern, dieses Instrumentarium konse-
quent anzuwenden. Daran gibt es nichts zu kritisieren.
Wir sind der Meinung, dass das richtig und erforderlich
ist.

Wir sind aber nicht der Auffassung, dass einzelne na-
tionale Parlamente, sei es das deutsche Parlament oder
andere Parlamente, die Richter darüber sein sollten, ob
andere Parlamente ihre Kompetenzen überschreiten oder
etwas richtig oder falsch machen. Wo kommen wir hin,
wenn wir im Deutschen Bundestag anfangen, zu ent-
scheiden, ob ein anderes europäisches Land eine Sache
zu Recht und richtig, wie immer man das beurteilen will,
gesetzlich oder verfassungsrechtlich fixiert hat?


(Dietmar Nietan [SPD]: Sie haben nichts verstanden! Das ist wirklich dummes Zeug, was Sie hier erzählen!)


Das ist nicht unsere Funktion. Ich sage in aller Offen-
heit: Das ist die Aufgabe des Europarates und der euro-
päischen Institutionen in Brüssel und in Luxemburg.
Diese Institutionen sollten wir stärken. Dahin gehört
diese Angelegenheit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Es gibt keine europäischen Parteien!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722813200

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner in un-

serer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion der Sozialde-
mokraten unser Kollege Christoph Strässer. Bitte schön,
Kollege Christoph Strässer.


(Beifall bei der SPD)



Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1722813300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch ich war bislang immer von einem breiten Konsens
in dieser Frage ausgegangen. Aber nach zwei Redebei-
trägen aus der CDU/CSU-Fraktion zweifle ich daran,
dass wir eine gemeinsame Position haben, was die Wer-
tegemeinschaft Europas angeht und wie wir hier im
Deutschen Bundestag damit umzugehen haben.

Ich will Ihnen einmal Folgendes sagen, Herr Kollege
Wadephul: Wir arbeiten im Europarat sehr gut zusam-

men. Ich hatte auch immer den Eindruck, dass es ein Eu-
ropa mit einer gemeinsamen Wertebasis gibt und dass
zur Freundschaft, die hier immer wieder angesprochen
worden ist, aus meiner Sicht unbedingt dazugehört,
Freunde vor Fehlern zu warnen. Ich glaube, das tun wir
heute. Ich finde, es steht uns gerade als Mitgliedsländern
der EU und des Europarates – dazu werde ich gleich
noch etwas sagen – an, uns in dieser Aktuellen Stunde
dazu zu positionieren. Wozu soll ich Fragen stellen? Ich
kann lesen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und
Kollegen, das ungarische Parlament hat beschlossen,
und es wirft der Venedig-Kommission vor, sie hätte sich
nicht äußern sollen, bevor ein Beschluss kommt. Die Ve-
nedig-Kommission hat aber gar keine Gelegenheit dazu
gehabt – der Kollege Sarrazin hat es bereits gesagt –,
sich dazu zu äußern, weil die Einbringung und die Ver-
abschiedung in einem zeitlichen Abstand erfolgt sind,
bei dem eine solche Beteiligung nicht möglich war. Das
sollten wir zur Kenntnis nehmen. Ich sage: Das ist eine
Strategie. Ich bin definitiv der Meinung, diese Strategie
müssen wir ansprechen, und darüber müssen wir auch in
einem nationalen Parlament reden, auf einer gemeinsa-
men Wertebasis und ohne erhobenen Zeigefinger.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt komme ich zu einer Veranstaltung, die heute
auch in diesem Hause stattfindet. Ich kann Sie nur bitten
– auch Sie, Herr Wadephul –, mit den Beteiligten Kon-
takt aufzunehmen. Im dritten Stock tagt heute im Frak-
tionssaal der SPD der Sozialausschuss der Parlamentari-
schen Versammlung des Europarates. Man sollte es nicht
glauben: Dort sind auch Kollegen aus Ungarn, und sogar
welche von der Opposition.

Ich habe heute Morgen als Vertreter von Herrn
Hörster, der leider erkrankt ist, diese Veranstaltung eröff-
nen dürfen. Dort hat mich ein Kollege angesprochen und
gesagt: Helft uns! – Ein Parlamentarier aus Ungarn sitzt
im Deutschen Bundestag und sagt: Helft uns! – Auf die
Frage „Wie sollen wir euch helfen? Was sollen wir tun?“
hat er gesagt: Was in Ungarn geschehen ist, ist nach Auf-
fassung der ungarischen Opposition und im Übrigen
auch internationaler Beobachter – so hat er es auf den
Punkt gebracht – ein Putsch von oben. Das ist das Ende
der Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. Das ist die Perpetuie-
rung eines Zustandes, der mit den demokratischen Rech-
ten und auch mit der ungarischen Verfassung vor der
Verfassungsänderung durch Orban nichts mehr zu tun
hat.


(Thomas Silberhorn [CDU/CSU]: Das ist Ihr Problem, dass Sie das Geschäft der ungarischen Opposition betreiben!)


Herr Orban sagt: Demokratie hat erst angefangen,
seitdem ich an der Macht bin. – Das ist doch genau der
Punkt auch bei den Änderungen im Hinblick auf das
Verfassungsgericht, nämlich dass sich das Verfassungs-
gericht nicht mehr auf seine eigene Rechtsprechung vor
der letzten Verfassungsänderung berufen darf, Herr Kol-





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


lege Silberhorn. Wissen Sie, wo wir als Parlamentarier
stehen würden, wenn wir das im Deutschen Bundestag
machen würden? Auf der allerersten Stufe der Empö-
rung, und zwar zu Recht. Das ist das Zulaufen auf einen
Zustand, der das Ende der Unabhängigkeit der Justiz be-
deutet.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das muss man einfach sagen, und deswegen finde ich es
richtig, hier darüber zu reden.

Ich bin nicht der Einzige, der Kritik übt. Deshalb bin
ich – das muss ich gestehen – etwas enttäuscht von den
Einlassungen, die vorhin von der FDP gekommen sind.
Ich habe gerade eine Benachrichtigung erhalten – ich
hoffe, sie stimmt –, dass die liberale Fraktion im Europa-
parlament die Kommission aufgefordert hat, Maßnah-
men nach Art. 7 EUV einzuleiten. Das tun Sie nicht. Sie
sagen: Wir müssen uns hier schön bedeckt halten; das ist
ein nationales Parlament. – Ich finde, wenn Ihre Kolle-
gen im Europaparlament – Herr Verhofstadt und andere,
im Übrigen auch Graf Lambsdorff – sagen, das sei ein
Anschlag auf die europäischen Werte, dann ist es doch
wohl angemessen und richtig, dass wir uns nicht zurück-
ziehen und sagen: Das geht uns nichts an; wir diskutie-
ren darüber nicht;


(Patrick Döring [FDP]: Das hat doch keiner gesagt!)


wir nehmen nur zur Kenntnis, dass nach unserer Auf-
fassung in einem Land der Europäischen Union und des
Europarates die grundlegenden Prinzipien der Trennung
von Legislative und Judikative missachtet werden. – Das
sollten wir nicht tun, und deshalb bin ich sehr froh, dass
wir heute diese Diskussion führen.

Gestatten Sie mir noch eine Bemerkung, um auch die
eigene Geschichte ins Spiel zu bringen. Die Bundesrepu-
blik Deutschland ist 1951 Mitglied des Europarates ge-
worden. Wir sind dort Mitglied geworden, weil wir wie
alle Mitgliedsländer, die diesem ältesten demokratischen
Staatenbündnis auf europäischem Boden beigetreten
sind, eine Garantieerklärung abgegeben haben, nämlich
zur Einhaltung der Standards der Europäischen Men-
schenrechtskonvention.

Sowohl Generalsekretär Jagland, der sich mit Herrn
Barroso gemeinsam geäußert hat, als auch andere haben
sehr klar und deutlich gesagt: Das, was dort geschieht,
ist eine Verletzung der Standards des Europarates. –
Deshalb haben wir als Parlamentarierinnen und Parla-
mentarier nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, da-
rauf hinzuweisen und unsere ungarischen Freunde im
ungarischen Parlament, die diesen Weg nicht mitgehen
wollen, zu unterstützen, indem wir sagen: Wir stehen an
der Seite derjenigen, die gegen diese Maßnahmen vorge-
hen. – Das, finde ich, ist unser gutes Recht.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722813400

Vielen Dank, Kollege Christoph Strässer. – Nächster

Redner in unserer Aktuellen Stunde ist für die Fraktion
der CDU/CSU unser Kollege Thomas Dörflinger. Bitte
schön, Kollege Thomas Dörflinger.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Thomas Dörflinger (CDU):
Rede ID: ID1722813500

Vielen Dank, Herr Präsident. – Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ungarn macht es seinen Freunden in diesen Tagen alles
andere als leicht. Ich will aus meinem Herzen keine
Mördergrube machen. Wenn die größte Regierungsfrak-
tion in Berlin und die Fidesz in Budapest einer gemein-
samen Parteienfamilie angehören, dann gilt das umso
mehr.

Selbstverständlich gab es, Herr Kollege Steinmeier,
nach den ersten vier Sätzen Ihrer Rede – zu Recht – Bei-
fall auch aus der CDU/CSU-Bundestagsfraktion; denn
bis dahin haben Sie das Verhältnis zu Ungarn in den
richtigen historischen Kontext eingeordnet. Aber ich
kann nur das wiederholen, was der Kollege
Dr. Wadephul vorgetragen hat: Ich hätte mir gewünscht,
dass Sie entweder die Tonalität Ihrer ersten vier Sätze
beibehalten oder nach den ersten vier Sätzen geendet
hätten. Danach gab es aus unseren Reihen zu Recht kei-
nen Beifall mehr.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Danach ging es um das Thema der Aktuellen Stunde!)


Warum? Wir können uns mit Fug und Recht kritisch
darüber auseinandersetzen, was mit Bezug auf die unga-
rische Verfassung gegenwärtig beraten und bereits be-
schlossen worden ist.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Machen Sie das mal!)


Aber zum europäischen Wertekanon gehört nicht nur,
dass wir uns den Menschenrechten, der Pressefreiheit
und einigen anderen Grundwerten gemeinsam verpflich-
tet wissen, sondern auch, dass wir vernünftig miteinan-
der umgehen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das tun wir doch!)


Die Tonalität zumindest einiger Reden in der heutigen
Aktuellen Stunde ist dem nicht gerecht geworden.


(Manuel Sarrazin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das gilt auch für Herrn Orban, wenn er über die EU redet!)


– Herr Kollege Sarrazin, ich nehme Sie ausdrücklich
aus. Aber ich hätte mir den einen oder anderen Beitrag in
einer anderen Tonalität gewünscht.

Der Vorwurf an die Bundesregierung, sie sehe dem,
was in Ungarn passiert, tatenlos zu und sei in ihren Äu-
ßerungen nicht klar genug, weise ich ausdrücklich zu-
rück. Es dürfte auch dem Bundesaußenminister außer
Diensten nicht verborgen geblieben sein, dass selbstver-





Thomas Dörflinger


(A) (C)



(D)(B)


ständlich nach Spitzengesprächen – ob sie nun auf der
Außenministerebene, auf der Ebene der Regierungschefs
oder zwischen Regierungschefs und Staatsoberhaupt
stattgefunden haben – das anschließende Pressegespräch
nicht aus einem Wortprotokoll dessen besteht, was man
miteinander besprochen hat. Aber ich glaube, dass man
davon ausgehen darf, dass sowohl der Bundespräsident
als auch der Präsident des Deutschen Bundestages, der
im Übrigen am 11. März in Budapest wörtlich zitiert
wurde, sowie die Frau Bundeskanzlerin und der Bundes-
außenminister in den Gesprächen der letzten Tage für die
Bundesregierung in ausreichender Weise deutlich ge-
macht haben, wo wir kritische Punkte und Gesprächsbe-
darf sehen.


(Stefan Liebich [DIE LINKE]: Das wurde uns aber nicht verraten!)


Aber zur Wahrheit gehört auch, dass nach Auskunft
des Auswärtigen Amtes zumindest bis zum heutigen
Vormittag der Text in deutscher Sprache noch nicht vor-
liegt, daher die Prüfung noch nicht abgeschlossen ist und
wir erst dann in eine substanzielle Prüfung der rechtli-
chen Materie eintreten können, wenn alles auf dem Tisch
liegt. Sie hätten also nicht voreilig aus innenpolitischen
Gründen eine Aktuelle Stunde vom Zaun brechen dür-
fen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Kollege Ruppert hat zu Recht darauf hingewie-
sen, dass wir uns in vielen Bereichen, insbesondere bei
der Bewertung der bereits vollzogenen Verfassungsände-
rungen und der angestrebten Verfassungsänderungen in
Ungarn, weitgehend einig sind. Wenn Äußerungen wie
die, dass man mit berittenen Truppen in die Nachbarlän-
der einrücken will, und wenn die Tatsache, dass man Ös-
terreich, ebenfalls ein Nachbarstaat von Deutschland,
nur deswegen international auf die Anklagebank und an
den Katzentisch gesetzt hat, weil man sich dort erdreistet
hatte, eine Regierung zu wählen, die der damaligen Bun-
desregierung nicht in den Kram passte,


(Michael Roth [Heringen] [SPD]: Das stimmt doch überhaupt nicht! Daran waren Faschos beteiligt! Das war der Grund!)


den Hintergrund dieser Aktuellen Stunde bilden, dann
sage ich Ihnen: In diesem Punkt sind Sie alles andere als
glaubwürdig. Das müssen Sie sich sagen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722813600

Kollege Thomas Dörflinger war der letzte Redner in

unserer Aktuellen Stunde, die damit beendet ist.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe jetzt den
Tagesordnungspunkt 5 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU, SPD und FDP eingebrachten Entwurfs ei-
nes Dritten Gesetzes zur Änderung des Con-
terganstiftungsgesetzes

– Drucksache 17/12678 –

Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Rechtsausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Gesundheit 
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Sie sind damit
einverstanden. Dann ist dies so beschlossen.

Erste Rednerin in unserer Aussprache ist für die Frak-
tion der CDU/CSU unsere Kollegin Dorothee Bär. Bitte
schön, Frau Kollegin Dorothee Bär.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1722813700

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Und ganz
besonders: Liebe Betroffene! Wenn wir das Wort „Con-
tergan“ hören, dann ruft das bei uns in Deutschland ganz
klare Assoziationen hervor – natürlich nicht nur in
Deutschland, aber ganz besonders bei uns –, Erinnerun-
gen an einen der größten Arzneimittelskandale, den wir
in unserer Geschichte zu verzeichnen haben, wenn nicht
sogar der größte Skandal.

Wir sprechen heute über Männer und Frauen, die ihr
ganzes Leben lang mit den Folgen leben müssen, dass
ihren Müttern in der Schwangerschaft vorgegaukelt
wurde, dass sie ein harmloses Präparat zu sich nehmen;
sie haben nach der Entbindung dann aber anderes erlebt.

Ich bin das erste Mal als Grundschülerin mit einem
Betroffenen aus unserem Bekanntenkreis in Berührung
gekommen. Wie man als Kind so ist, kann man im ersten
Moment nicht begreifen, dass da jemand ist, der kürzere
Arme hat als andere Menschen. Neben persönlichen Er-
lebnissen habe ich in den letzten Jahren durch die Dar-
stellung unserer Sachverständigen, durch viele Studien,
durch Briefe und E-Mails, aber auch im Kontakt mit sehr
vielen Betroffenen, die wir hier haben anhören dürfen
und mit denen wir uns haben treffen dürfen, erfahren,
wie schwer der Alltag dieser Menschen ist, aber auch
wie der Alltag gemeistert wird. Ich habe gesehen, wie
jede Einzelne bzw. jeder Einzelne das Schicksal indivi-
duell auf ganz besondere Art und Weise meistert. Das
Äußere, die verkürzten Gliedmaßen eben, können wir
sehen, aber es gibt auch noch – das wissen wir – eine
sehr große Schädigung der Organe.

Aus der Familie, aus dem eigenen Freundeskreis be-
kommen die Betroffenen Mut, Zuversicht, Liebe und
Freundschaft. Vergleichbares können wir als Staat nicht
leisten. Ich bewundere diejenigen, die betroffen sind,
wie sie ihren Alltag mit einem ganz großen Lebensmut
meistern. Ich habe eine Betroffene kennengelernt, die
mit ihrem Mund wesentlich besser malt, als die meisten
von uns mit ihren Händen malen würden, und die eine
ganz große Freude ausstrahlt. Sie sagt, dass es ihr in ih-
rem persönlichen Alltag gelingt, ein für sie ganz norma-
les Leben, auch ein sehr glückliches Leben zu führen.

Das Leid und die Schmerzen können wir als Staat
nicht ungeschehen machen, aber wir können immerhin





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)


versuchen, im Rahmen unserer Möglichkeiten dahin ge-
hend zu helfen, dass der Alltag leichter wird und dass
diejenigen, die unterstützend tätig werden, besser entlas-
tet werden.

Deswegen haben wir schon eine Reihe von Maßnah-
men beschlossen und umgesetzt, und wir wollen noch
mehr tun. Wir haben die Conterganrenten zum 1. Juli
2008 verdoppelt. Wir haben die Conterganrenten gegen-
über anderen Leistungen des Sozialgesetzbuches an-
rechnungsfrei gestellt. Wir haben Parkerleichterungen
eingeführt. Wir haben bei den Krankenkassen eine Ver-
besserung der gesundheitlichen Versorgung der Betrof-
fenen erreicht. Wir haben das Conterganstiftungsgesetz
novelliert, sodass mit der Zustiftung und dem vorhande-
nen Stiftungskapital eine jährliche Sonderzahlung in
Höhe von bis zu 4 200 Euro ausgereicht werden kann,
mit der Bedarfe gedeckt werden, für die sonst keiner auf-
kommt.

Wir hatten beim Gerontologischen Institut der Uni-
versität Heidelberg eine sehr interessante Studie in Auf-
trag gegeben. Sie zeigt die Folgen der jahrzehntelangen
Belastung durch die Behinderungen, die vorher gar nicht
so klar waren. Die Folgen für die Muskeln, die Gelenke
und vor allem natürlich für die Zähne führen gerade mit
zunehmendem Lebensalter zu weiteren Problemen für
die Betroffenen.

Deswegen haben wir über die bereits verabschiedeten
Maßnahmen hinaus einen dringenden Handlungsbedarf
festgestellt, auf den wir mit der Vorlage des Gesetzent-
wurfs reagiert haben, den wir heute debattieren. Über die
bereits bestehenden Hilfen hinaus werden wir die conter-
gangeschädigten Menschen rückwirkend ab dem 1. Ja-
nuar 2013 jährlich mit 120 Millionen Euro zusätzlich
unterstützen. 90 Millionen Euro davon sind für die Erhö-
hung der Conterganrenten vorgesehen. Wir können – das
finde ich ganz besonders wichtig – mit diesem zusätzli-
chen Geld einen Großteil der Zusatzbedarfe pauschal de-
cken, ohne dass es zu aufwendigen Einzelfallprüfungen
kommen muss, die zudem eine psychische Belastung mit
sich bringen.

Weiter fließen bis zu 30 Millionen Euro jährlich in ei-
nen Fonds, aus dem auf Antrag Rehabilitationsleistun-
gen, Heil- und Hilfsmittel sowie zahnärztliche und kie-
ferchirurgische Behandlungen bezahlt werden. Man darf
die zusätzlichen Belastungen, denen Mund, Kiefer und
Gebiss ausgesetzt sind, nicht unterschätzen; denn es
muss viel mit dem Mund gemacht werden, wenn die
Gliedmaßen nicht eingesetzt werden können.

Um eine höhere Einzelfallgerechtigkeit gewährleisten
zu können, wollen wir – auch und gerade auf Wunsch
der Betroffenen, mit denen wir gesprochen haben – das
Punktesystem für die Ermittlung des Schweregrades der
Behinderung anpassen und um weitere Schadensstufen
ergänzen. Deswegen freue ich mich sehr, dass wir über
das gemeinsam für die contergangeschädigten Menschen
schon Erreichte hinaus in dieser Legislaturperiode noch
mehr tun können und dies auch in den nächsten Wochen
beschließen wollen.

Abschließend bleibt mir nur noch, mich bei denjeni-
gen zu bedanken, die uns nicht nur in den vergangenen
Wochen und Monaten, sondern auch in den vergangenen
Jahren mit ihren ganz persönlichen Geschichten einen
Einblick in ihren Alltag gewährt haben. Ein ganz großes
Dankeschön gilt selbstverständlich auch den Familien-
angehörigen. Dies sind Mütter und Väter – und das darf
man nicht unterschätzen –, die sich ihr ganzes Leben
lang um ihre Kinder gekümmert haben und die heute
teilweise weit über 80 Jahre alt sind. Für diese wird es
immer schwieriger, Hilfestellung zu leisten. Deswegen
ist es gut und richtig, dass wir wenigstens versuchen, mit
Geld dieses Leid etwas zu lindern.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722813800

Vielen Dank, Frau Kollegin Dorothee Bär. – Nächste

Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist un-
sere Kollegin Marlene Rupprecht. Bitte schön, Frau Kol-
legin Marlene Rupprecht.


(Beifall bei der SPD)



Marlene Rupprecht (SPD):
Rede ID: ID1722813900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Im

Januar 2009 haben wir einen Antrag beschlossen. Bei
diesem Thema waren wir uns in diesem Haus fraktions-
übergreifend einig, dass wir versuchen wollen, eine ein-
heitliche Position zu erreichen; denn dieses Thema eig-
net sich nicht zur parteipolitischen Profilierung.

Damals haben uns die Betroffenen eher dafür kriti-
siert, als dass sie es begrüßt haben, dass wir in diesen
Antrag ein Forschungsprojekt hineingeschrieben haben,
mit dem nicht nur der individuelle Bedarf jedes Einzel-
nen festgestellt wird, sondern das insgesamt einen Aus-
blick darüber gibt, welche Hilfen ab einem Alter von
etwa 50 Jahren notwendig sind, wenn man contergange-
schädigt ist. Der Zwischenbericht über dieses For-
schungsprojekt liegt seit dem Sommer vergangenen Jah-
res vor. Im Januar 2013 wurde dieser dem Parlament
zugeleitet.

Obwohl wir damit gerechnet haben, dass es nicht gut
aussieht für Menschen mit Conterganschäden, war das
Ergebnis noch viel schlimmer, als wir es gedacht hatten.
Im Bericht steht, dass der Körper eines 50-jährigen Con-
tergangeschädigten so abgenutzt ist wie der Körper eines
80-Jährigen. Die Bedarfe sind also groß. Viele der Be-
troffenen – diesen Punkt möchte ich hier nennen – kön-
nen heute nur mit Schmerzmitteln leben, weil sie durch
Abnutzungen massive Schädigungen ihres Körpers erlit-
ten haben.

Ich möchte noch etwas dazu sagen, warum wir da-
mals darauf gedrängt haben, dass dieses Projekt in An-
griff genommen wird. Wir sehen immer nur die Fitten,
die sich äußern und sich klar artikulieren können. Wir
sehen aber nicht die mehrfach Geschädigten, die eigent-
lich ihr ganzes Leben lang auf massive Hilfe angewiesen





Marlene Rupprecht (Tuchenbach)



(A) (C)



(D)(B)


sind, deren Eltern, die sie überwiegend versorgt und be-
treut haben, altersbedingt sterben und deren Geschwister
– manchmal gibt es gar keine Geschwister – häufig da-
mit überfordert sind, die Betreuung zu übernehmen.

Deshalb muss der Bundestag handeln, und er muss
tatkräftig handeln. Die SPD-Fraktion begrüßt eindeutig,
dass die Renten im Rahmen der Reform des Contergan-
stiftungsgesetzes massiv angehoben werden. Wir haben
die Rente im Zuge der letzten Reform um 100 Prozent
angehoben, von 545 Euro auf gut 1 100 Euro im Monat.
Jetzt liegt die Maximalrente bei gut 6 900 Euro. Man
muss sagen: Diesen Höchstsatz erhalten nicht alle. Aber
hier gibt es eine enorme Steigerung, die man nicht ein-
fach vom Tisch wischen sollte. Sie schafft Unabhängig-
keit: Man kann Leistungen einkaufen. Das ist einer der
Gründe, warum wir von der SPD-Fraktion sagen: Wir
werden diesen Gesetzentwurf mittragen.

Man vergisst immer, wofür wir bei der letzten Reform
auch gesorgt haben: Transferleistungen werden nicht
mehr auf andere Zahlungen angerechnet. Das heißt,
wenn ein Betroffener von anderer Stelle Geld bezieht,
wird dieser Betrag nicht abgezogen. Auch diese Rege-
lung ist wichtig und besteht fort. Ebenso bestehen die
jährlichen Sonderzahlungen, die wir damals eingeführt
haben, fort. Die Verteilung der Renten – die Frage, wer
was bekommt – richtet sich nach einem Punktesystem,
so ähnlich wie bei der Sonderzahlung, die jährlich er-
folgt. Auch das ist eine Veränderung, die ich begrüße.

Weltweit gibt es noch etwa 2 700 Betroffene. 10 Pro-
zent davon leben im Ausland. Das heißt, in Deutschland
leben etwa 2 400 Betroffene. Sie sind – das kann man
sich vorstellen – nicht gleichmäßig über die Republik
verteilt, weil Contergan damals in der DDR, in den heu-
tigen neuen Bundesländern, nur von denen eingenom-
men werden konnte, die es aus dem Westen zugeschickt
bekamen; deswegen gibt es dort nur vereinzelt Fälle. Der
überwiegende Teil der Betroffenen wohnt in West-
deutschland; das muss man sich klarmachen.

Es gibt andere Probleme, die mit dem Gesetzentwurf
nicht gelöst werden; wir hatten sie aber schon damals in
unserem Antrag angesprochen. Auf der einen Seite sind
die Ärzte, die bisher die Contergangeschädigten beglei-
tet haben, ins Alter gekommen. Auf der anderen Seite
hat sich das medizinische Wissen verbreitet. Damit dies
so bleibt, brauchen wir nach wie vor Anlaufstellen und
Informationszentren. Das stand in unserem Antrag; aber
diese Forderung ist bisher noch nicht erfüllt worden.

Es ist schon etwas zum großen Thema Sonderbedarfe
gesagt worden. Auch da stimmen wir im Prinzip zu: Die
Sonderbedarfe müssen abgedeckt werden – Frau Bär hat
deutlich gemacht, in welchen Bereichen.

Jetzt komme ich zu einem Punkt, der mir noch nicht
gefällt; ich hoffe, dass wir so weit kommen, zusammen
mit der Koalition Änderungen durchzuführen. Schauen
Sie sich die Erläuterungen im Gesetz an! Wir wollten,
dass es einfach, unbürokratisch, zügig und praktikabel
gehandhabt wird. Stellen Sie sich vor, dass ein vierfach
Geschädigter eine neue Hüfte oder was auch immer
braucht. Er muss dann zum Arzt gehen und sich bestäti-

gen lassen, dass diese Maßnahme notwendig ist und dass
es sich nicht um eine normale Abnutzung handelt, son-
dern um eine Folge der Conterganschädigung. Dann
muss er mit dieser Bestätigung zur Krankenkasse gehen,
die wiederum bestätigt, dass sie die Maßnahme nicht
zahlt. Dann muss er diese Bestätigung einem Gremium
der Stiftung vorlegen, das darüber entscheidet. Ich halte
das nicht für betroffenengerecht.

Wir hatten die Krankenkassen zur Anhörung eingela-
den. Die Krankenkassen waren da ganz offen. Sie haben
gesagt: Wir übernehmen die Leistungen und holen uns
im Nachhinein das Geld von diesem Fonds, wenn die
Leistung dem Grunde nach berechtigt ist. – Ich finde,
das kann ein Arzt bestätigen. Das wäre ein unbürokrati-
sches und schnelles Vorgehen. Lassen Sie uns noch ein-
mal über diesen Punkt reden, damit wir den Menschen
wirklich helfen und ihren Bedürfnissen gerecht werden
können. An dieser Stelle sollten wir, wie ich glaube,
wirklich etwas korrigieren. Das parlamentarische Ver-
fahren liegt ja noch vor uns; es beginnt erst jetzt.

Ein weiterer Punkt, den ich hier ansprechen möchte
und der auch in der Anhörung ganz massiv zum Tragen
kam, ist die Transparenz der Stiftung. Lassen Sie uns
auch darüber noch einmal reden. In jeder Gemeinderats-
sitzung gibt es einen öffentlichen und einen nichtöffent-
lichen Teil. Man nimmt ganz viel Misstrauen weg, wenn
man das so splittet. Damit kann man die Struktur verän-
dern; und es wären kleine Änderungen.

Alle offenen Punkte des Antrages aus dem Jahre
2009, die noch nicht erfüllt sind, sollten wir noch einmal
als Gedächtnisstütze aufnehmen. Ich habe meine persön-
lichen Befindlichkeiten ganz nach hinten gestellt, weil
ich seit einem Dreivierteljahr angeboten habe, zusam-
menzuarbeiten. Es war leider nicht möglich. Ich bedaure
das zutiefst. Dann hätte man das vielleicht im Vorfeld
klären können. Nichtsdestotrotz signalisiert die SPD da-
mit, dass sie mit auf dem Gesetzentwurf steht, dass wir
trotz dieser Bedenken und der noch nötigen Nachbesse-
rungen an der Seite der Betroffenen stehen. Auch wir
wollen die Hilfe für die Betroffenen mittragen.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP und der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722814000

Vielen Dank, Frau Kollegin Rupprecht. – Nächste

Rednerin für die Fraktion der FDP unsere Kollegin Frau
Nicole Bracht-Bendt. Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1722814100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Mit
dem Dritten Gesetz zur Änderung des Conterganstif-
tungsgesetzes übernimmt die Koalition weiter Verant-
wortung für die Opfer der Contergankatastrophe. Wir
wollen mit der erheblichen Ausweitung der finanziellen





Nicole Bracht-Bendt


(A) (C)



(D)(B)


Zuwendungen das Leid der Betroffenen lindern helfen.
Was mir besonders am Herzen liegt, ist, betroffenen
Frauen und Männern ein selbstbestimmtes Leben zu er-
leichtern.


(Dr. Ilja Seifert [DIE LINKE]: Das wollen wir alle! – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Wir tun es!)


Bereits 2008 hat der Bundestag die Conterganrenten
erstmals verdoppelt. Seit 2009 erhalten die Geschädigten
darüber hinaus jährliche Sonderzahlungen. Hierfür hat
die Grünenthal GmbH 50 Millionen Euro in die Con-
terganstiftung eingebracht, weitere 50 Millionen Euro
kamen aus dem Kapitalstock der Stiftung.

Im neuen, fraktionsübergreifenden Gesetzentwurf der
CDU/CSU-, FDP- und SPD-Fraktion beschließen wir
deutlich höhere Renten für Conterganopfer: 6 912 Euro
Höchstrente statt bislang 1 152 Euro. Dies soll den Be-
troffenen helfen, ihr Leben eigenständiger zu gestalten.
Durch meinen intensiven Austausch mit Geschädigten
weiß ich, dass dies der entscheidende Punkt ist.

Am 1. Februar hatten wir im Familienausschuss eine
sehr eindrucksvolle Anhörung. Mehrere Hundert Betrof-
fene hatten sich auf den Weg nach Berlin gemacht, um
uns Abgeordneten noch einmal klarzumachen, was es
bedeutet, mit den Spätfolgen der Conterganschädigung
zu leben.

Die Lebenssituation der rund 2 700 in Deutschland le-
benden Betroffenen ist durch häufig sehr schmerzhafte
Auswirkungen aufgrund von Folge- und Spätschäden
geprägt. Die Verluste von Fertigkeiten der Betroffenen
haben sich in den letzten Jahren stark beschleunigt, viel
stärker, als Mediziner einmal vorausgesagt hatten. Im
Klartext: Ein erheblicher Teil der heute meist um die
50 Jahre alten Betroffenen ist gesundheitlich in der Ver-
fassung von 70- bis 80-Jährigen. 85 Prozent der Conter-
ganopfer leiden an chronischen Schmerzen. Die Hälfte
von ihnen ist rund um die Uhr pflegebedürftig. Viele ha-
ben Depressionen. Über zwei Drittel der Männer und
Frauen mussten vorzeitig vor dem Erreichen der gesetz-
lichen Altersgrenze aus dem Beruf ausscheiden. Warum?
Weil ihre Körper den jahrzehntelangen Belastungen
nicht mehr standhalten.

Sein Leben lang mit den Füßen zu essen, die Haare
mit den Füßen zu waschen, Flaschen mit den Zähnen zu
tragen und zu öffnen, mit den schweren Gehprothesen
aus dem Rücken heraus zu laufen: Dies alles bleibt na-
türlich nicht ohne Folgen.

Professor Andreas Kruse vom Institut für Gerontolo-
gie der Universität Heidelberg bringt es in seinem Ab-
schlussbericht zum Forschungsprojekt über die Lebens-
situation contergangeschädigter Menschen eindrucksvoll
auf den Punkt. Er sagte, natürlich habe die Frage der
Rente große Bedeutung. Aber Contergangeschädigte
dürften nicht primär aus der Perspektive der Pflegebe-
dürftigkeit betrachtet werden, sondern aus der Perspek-
tive des Assistenzbedarfs. Der Assistenzbedarf, also die
ganz praktische Hilfe im Alltag, nehme kontinuierlich
zu. Ich zitiere:

Wenn diese substantiellen Veränderungen … nicht
vorgenommen werden, wird man es mit einer mas-
siven Pflegebedürftigkeit zu tun bekommen, mit
nicht mehr ertragbaren Schmerzzuständen, mit ei-
ner völligen Überforderung des psychischen Sys-
tems. Das dürfen wir fachlich und ethisch in einer
Demokratie nicht zulassen, für die der Begriff der
Menschenwürde so wesentlich ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Herr Professor Kruse, ich danke Ihnen, dass Sie uns
Abgeordnete mit Ihren drastischen Schilderungen nicht
nur betroffen gemacht haben, sondern uns auch bestärkt
haben, dass ein erheblicher Mitteleinsatz vonnöten ist.

Ich möchte aber auch eine Sachverständige zitieren,
die uns mit ihren ganz persönlichen Gedanken neulich
berührte. Sie sprach von ihrer Mutter, die sich für ihr
Kind nichts sehnlicher wünsche als Geld für eine persön-
liche Assistenz im Alltag. Bislang hat sie diese Assistenz
geleistet. Diese Frau hat also nicht nur über 50 Jahre
lang unter massiven Selbstvorwürfen gelitten, das Mittel
Contergan eingenommen zu haben, sondern sie hat sich
tagtäglich rund um die Uhr für ihre geschädigte Tochter
aufgeopfert. Nun ist sie zu alt. Diese Sachverständige
sagte: Unsere Mütter müssen endlich loslassen dürfen.
Sie müssen uns ausreichend versorgt wissen. – Jetzt wird
die pflegebedürftige Frührentnerin sich eine professio-
nelle Hilfe im Alltag leisten können.

Der Gesetzentwurf von CDU/CSU, FDP und SPD ist
ein Meilenstein, weil er zukunftsorientierte Unterstüt-
zung vorsieht. Dem Bund entstehen Mehrkosten von
90 Millionen Euro je Jahr für die Anhebung der Conter-
ganrenten sowie bis zu 30 Millionen Euro für zusätzli-
che Bundesmittel zur Deckung spezifischer Bedarfe,
zum Beispiel für Zahnersatz, nachdem die Zähne jahr-
zehntelang die Funktion der Hand übernehmen mussten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, 120 Millionen Euro
sind kein Pappenstiel, sondern sie sind ein sichtbarer
Ausdruck dafür, dass die christlich-liberale Koalition mit
der SPD-Bundestagsfraktion gemeinsam einen Beitrag
leistet, der zwei Ziele gleichzeitig verfolgt: Zum einen
wollen wir Solidarität mit den Opfern zeigen. Wir wol-
len zum anderen aber auch praktische Soforthilfe für ein
selbstbestimmtes Leben der Betroffenen leisten.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722814200

Vielen Dank, Frau Kollegin Bracht-Bendt. – Nächster

Redner für die Fraktion Die Linke unser Kollege Dr. Ilja
Seifert. Bitte schön, Kollege Dr. Seifert.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722814300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Das Ge-

setz, das am Ende dieser Beratungen, noch in dieser
Wahlperiode, erlassen werden soll, muss sich daran mes-





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


sen lassen, was es im realen Leben der Conterganopfer
wirklich verbessert. Die Schädigungen, die durch die
Einnahme des Präparats eingetreten sind, können wir
nicht rückgängig machen, auch nicht die vielen Folgen,
die die Conterganopfer und ihre Angehörigen inzwi-
schen tragen mussten. Dass die Lebenssituation von
Conterganopfern und ihren Angehörigen dramatisch ist,
wussten wir schon lange; Kollegin Rupprecht, Sie haben
es erwähnt. Jetzt ist es uns durch den Abschlussbericht
zum Forschungsprojekt an der Universität Heidelberg
auch noch schriftlich nachgewiesen worden.

Aber wir wissen auch: Ursache für die Schädigungen
sind zahlreiche Versäumnisse der vergangenen Jahr-
zehnte – Versäumnisse der Bundesregierung, Versäum-
nisse der Justiz, Versäumnisse der Schädiger. Wir, der
Bundestag, sind in der Pflicht, den Betroffenen ein
selbstbestimmtes Leben in Würde zu ermöglichen. Be-
dauerlicherweise ist das durch Ihren Gesetzentwurf noch
nicht erreichbar. Die Handlungsempfehlungen des Ab-
schlussberichts zum Forschungsprojekt der Universität
Heidelberg sowie die Stellungnahmen der Betroffenen
können bei der Suche nach wirklich guten Lösungen
sehr hilfreich sein. Es ist übrigens auch erlaubt, die Stel-
lungnahme des Rechtsanwaltes Dr. Oliver Tolmein – er
war bei der Anhörung als einer der Sachverständigen
anwesend – oder den Antrag der Linken – Drucksache
17/11041 –, der schon im Oktober vergangenen Jahres
eingebracht wurde, zurate zu ziehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Familienausschuss hat am 1. Februar dieses Jah-
res eine sehr beeindruckende Anhörung durchgeführt.
Alle, die dabei waren, haben das erlebt. Über 200 Con-
terganopfer sind zu dieser Anhörung gekommen und ha-
ben deutlich gezeigt, was sie wollen.

Interessant ist, dass die Bundesregierung bzw. die Ko-
alition just am Vorabend dieser Anhörung 120 Millionen
Euro fand – ich weiß nicht, wo –, die sie den Contergan-
opfern in Zukunft zugutekommen lassen will. Ich finde
das sehr gut. Ich frage mich aber trotzdem, warum das
nur dann möglich ist, wenn eine Anhörung stattfindet


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Weil das Gutachten als Grundlage vorlag!)


und wenn die Opfer vor der Tür stehen und sagen: Ab
jetzt reicht es nicht mehr, uns nur über das Köpfchen zu
streichen. Ab jetzt wollen wir unsere Rechte wahrneh-
men.


(Beifall bei der LINKEN)


Insofern ist der vorliegende Gesetzentwurf durchaus ein
Erfolg der Betroffenen. Aber, wie gesagt, es gibt noch
einiges zu tun.

Ich will hier noch auf einige Punkte eingehen. Die
vorgeschlagene Erhöhung der Conterganrente stellt eine
deutliche Verbesserung dar. Darüber gibt es keinen
Zweifel. Das finde ich gut, und das finden auch die Be-
troffenen gut; das sagen sie auch. Dennoch weiß jede
und jeder – Frau Bär hat es auch gesagt –, dass damit
längst nicht alle Bedürfnisse befriedigt werden, dass sie
nur für einige ausreicht. Sie reden zum Beispiel weder

von Schmerzensgeld noch von Entschädigung. Diese
Worte meiden Sie wie der Teufel das Weihwasser. Das
kann aber nicht sein. Es geht hier um Schmerzensgeld.
Es geht um Entschädigung für zahlreiche Verletzungen
der Menschenwürde, für die Verletzung ihrer Eigen-
tumsrechte.

Tatsache ist auch, dass die erhöhte Conterganrente
nicht ausreichen wird, den zunehmenden Assistenzbe-
darf und Pflegebedarf zu decken. Sie haben darauf hin-
gewiesen, dass dies bei der Anhörung eine große Rolle
spielte. Die Assistenz soll von dieser Rente nicht bezahlt
werden.

Dann haben Sie eine neue Schadenspunktetabelle auf-
geführt. Wozu brauchen wir eine Schadenspunkteta-
belle? Wäre es nicht viel logischer, zu sagen: „Jeder
Punkt hat einen bestimmten Wert, zum Beispiel
80 Euro“? Dann kann man ganz leicht ausrechnen, wel-
che Rente einem zusteht, indem man seine Punkte mit
dem Punktwert multipliziert. Dann weiß man, wie viel
Rente einem zusteht, ohne dass diese komischen Tabel-
len erstellt werden müssen, die nicht nachvollziehbar
sind.

Es ist bisher immer noch nicht geklärt, wie Betroffe-
nen die Möglichkeit gegeben werden soll, unter Berück-
sichtigung von spät erkannten Schäden und Folgeschä-
den ihre Punktanzahl überprüfen und erhöhen zu lassen.

Wir brauchen die jetzt vorgesehenen Bundesmittel in
Höhe von 30 Millionen Euro für die spezifischen Be-
darfe. Das wurde bereits gesagt; das ist gar keine Frage.
Aber wieso sind sie gedeckelt? Was wollen Sie tun,
wenn im September eines Jahres noch jemand einen
nachweisbar erforderlichen Betrag beantragt, aber kein
Geld mehr vorhanden ist? Wollen Sie dann sagen: „Ihr
müsst warten bis zum nächsten Jahr“? Die Deckelung
dieses zusätzlichen Fonds ist logisch nicht nachvollzieh-
bar.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb müssen wir hier nachbessern. Sie können nicht
sagen: 120 Millionen Euro haben wir irgendwoher, und
von da an ist Feierabend.

Zum Thema Ausschlussfristen. Wenn jemand conter-
gangeschädigt ist, dann ist er es von Geburt an – keine
Frage; das ist klar. Aber Sie berechnen die Höhe der
Leistungen vom Tag der Antragstellung an. Wieso ei-
gentlich? In diesem Sinne müssen alle bestehenden Aus-
schlussfristen aufgehoben werden. Die bisher vorenthal-
tenen Leistungen müssen rückwirkend nachgezahlt
werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Das wäre gerecht und würde auch dem Rechtsfrieden
dienen.

Es gibt weiteren Diskussionsbedarf. Das werden wir
im Ausschuss und, wie ich hoffe, in einer weiteren öf-
fentlichen Anhörung beraten. Wir brauchen eine ver-
nünftige Regelung für im Ausland lebende Conterganop-
fer. Wir müssen die Frage klären, wann Sozialgerichte
und wann Verwaltungsgerichte zuständig sind.





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


Wir sollten noch einmal über den Namen der Stiftung
nachdenken und über die Frage, welches Bundesministe-
rium zuständig ist; denn das Bundesministerium für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend wird es wohl nicht
sein.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Die Leute brauchen aber jetzt das Geld! Nicht zu lange warten!)


– Ich bin noch nicht fertig, lieber Kollege. – Auch hierzu
gibt es übrigens gute Vorschläge von Herrn Tolmein
oder den Linken.

Reden wir noch einmal über die Stiftung. Die Kritik
an der Stiftung, die am 1. Februar geäußert wurde, war
sehr hart. Im Gesetzentwurf findet sich dazu überhaupt
nichts. Sie muss demokratisiert werden. Sie muss öffent-
licher werden. Sie muss transparenter werden. Die Stif-
tung gehört in die Hände und Füße der Conterganopfer.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen auch eine Entschuldigung. Ich finde es
toll, dass sich der Kollege Jarzombek von der CDU wäh-
rend der Anhörung persönlich bei den Opfern entschul-
digte. Aber ich finde, dass sich auch der Staat entschul-
digen sollte. Wir als Bundestag könnten damit anfangen
und die Bundesregierung auffordern, das auch zu tun,
genauso wie die Firma Grünenthal und die Familie
Wirtz.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum Schluss. Vor 40 Jahren wurden die Eltern der
Opfer vor die Entscheidung gestellt: Friss oder stirb!
Nehmt, was ihr jetzt kriegen könnt, oder ihr kriegt gar
nichts. – Jetzt stehen wir vor der Frage: Wollt ihr die
Taube auf dem Dach oder den Spatz in der Hand? Ich
denke, wir sollten so lange beraten, bis den Menschen
die Taube in die Hand fliegt.


(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Das ist ein bisschen übertrieben!)


– Lassen Sie mich doch bei meinem Bild bleiben. – Ich
bin der Meinung, wir brauchen eine zusätzliche Anhö-
rung.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Dann kannst du beraten, bis gar nichts mehr ist!)


Alle Fraktionen dieses Hauses haben heute die Mög-
lichkeit, feierlich zu erklären, dass das Gesetz zum
1. August dieses Jahres in Kraft treten soll und dass die
Leistungen rückwirkend gezahlt werden, damit niemand
Angst haben muss, dass er oder sie um das gebracht
wird, was er oder sie dringend braucht.

Wir sind es den Opfern und ihren Angehörigen schul-
dig, dass wir eine gute Lösung finden und nicht nur sa-
gen: Hier sind schnell die 120 Millionen Euro, dann seid
aber ruhig.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Jedes Jahr! – Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Wir sind es ihnen schuldig, dass wir das Problem lösen!)


Es geht um mehr als Geld, es geht um die Würde dieser
Menschen.


(Beifall bei der LINKEN)


In diesem Sinne: Lassen Sie uns zusammenarbeiten.
Grenzen Sie niemanden aus. Ich weiß nicht, warum Sie
uns nicht gefragt haben, ob wir nicht vielleicht an Ihrem
Gesetzentwurf mitarbeiten wollen.


(Beifall bei der LINKEN – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Ich verstehe nicht, warum man das jetzt schlechtreden muss!)


– Das hat etwas mit eurer Abgrenzung zu tun.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie sind zur Mitarbeit herzlich eingeladen!)


– Nein, Sie haben uns eben nicht eingeladen, lieber Kol-
lege. Aber wenn es in Zukunft so sein sollte, dann freue
ich mich selbstverständlich sehr, dabei zu sein.


(Thomas Strobl [Heilbronn] [CDU/CSU]: Sie werden es aber nicht schaffen, dass es verzögert wird und nichts daraus wird!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722814400

Vielen Dank, Kollege Dr. Seifert. – Nächster Redner

in unserer Aussprache ist für die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen unser Kollege Markus Kurth. Bitte schön,
Kollege Markus Kurth.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722814500

Herr Präsident! Sehr verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Kollege Seifert, ich werde in meiner Rede gleich
noch auf die Aspekte eingehen, die verbesserungsfähig
sind. Aber ich muss schon sagen: Wichtig ist, dass wir
noch in dieser Legislaturperiode möglichst weitgehende
Fortschritte in der Sache erzielen. Darüber hinaus be-
steht sicherlich auch noch Verständigungsbedarf.

Wenn ich Sie allerdings so reden höre, Herr Seifert,
entsteht bei mir der Eindruck: Es geht Ihnen weniger um
den Fortschritt in der Sache, weniger darum, die Dinge
kurzfristig und machbar zu regeln, sondern eher darum,
sich so darzustellen, als seien Sie der letzte Gerechte un-
ter lauter Sünderlein. Das ist kein guter Diskursstil.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Zu Beginn möchte ich klar feststellen: Ich freue mich,
dass 120 Millionen Euro jährlich zur Verfügung gestellt
werden, um die Situation der Contergangeschädigten zu
verbessern. Das ist deutlich mehr, als in der Vergangen-
heit geleistet wurde, und es ist bitter nötig.

Wir alle wissen – dies ist schon angesprochen worden –,
mit welchen Problemen contergangeschädigte Menschen
gerade im vorrückenden Alter zu kämpfen haben, zum
Beispiel mit Verschleißerscheinungen. Sicherlich haben
auch viele Kolleginnen und Kollegen und viele, die die-
ser Debatte folgen, entsprechende Berichte im Fernse-
hen gesehen oder in der Zeitung gelesen.

Im Zuge der Anhörung hatte ich den Eindruck, dass
zwischen uns Abgeordneten sehr große Einigkeit da-





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


rüber besteht, was die Ziele des Gesetzentwurfes anbe-
langt. Wir wollen den Geschädigten ein Leben in Würde
ermöglichen, sicherstellen, dass sie die notwendigen
Pflege- und Assistenzleistungen erhalten und ausrei-
chend finanzielle Mittel zur Verfügung haben, um die
behinderungs- und beschädigungsbedingten Nachteile
unbürokratisch und einfach auszugleichen.

Wir wollen auch, dass die Geschädigten oder ihre An-
gehörigen nicht in die Sozialhilfe gedrängt werden, son-
dern dass die Leistungen anrechnungsfrei sind. Das ist
notwendig. Denn wäre damals Grünenthal nicht mit ei-
nem vergleichsweise billigen – rückblickend muss man
auch sagen: fragwürdigen – zivilrechtlichen Vergleich
aus der Sache herausgekommen, dann hätten die Ge-
schädigten heutzutage wesentlich höhere privatrechtli-
che und haftungsrechtliche Ansprüche geltend machen
können.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Ich glaube, dass wir uns auch darüber einig sind – zu-
mindest im Grundsatz –, dass wir dauerhaften Rechts-
frieden schaffen wollen. In Gesprächen mit den Betrof-
fenen merkt man außerordentlich deutlich, dass sie in
gewisser Weise, sofern das überhaupt möglich ist, einen
Schlussstrich ziehen und einen gewissen abschließenden
Rechtsfrieden haben wollen.

Dazu gehört aus Sicht der Betroffenen auch eine Ent-
schuldigung der Familie Wirtz. Darauf haben wir als
Deutscher Bundestag, als Parlament aber keinen
Einfluss. Ich meine nicht, Herr Seifert, dass wir uns als
Parlament hier entschuldigen sollten. Das ist nicht das,
was die Betroffenen wollen. Wir sind dafür zuständig,
dass die Bundesrepublik Deutschland als Haftungsnach-
folgerin der Firma Grünenthal hinsichtlich der Leistun-
gen die richtigen Schlussfolgerungen zieht. Das muss
man alles sauber auseinanderhalten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wenn wir uns gerade das Thema Rechtsfrieden an-
schauen, muss man sagen, dass er mit dem vorliegenden
Gesetzentwurf, zumindest in seiner jetzigen Form, nicht
erreicht wird. Damit werden wir diesem Anspruch nicht
gerecht. Frau Ministerin, Sie sprechen nach mir. Viel-
leicht können Sie auf drei Aspekte, die ich hier anspre-
chen möchte, näher eingehen.

Erstens. Es gibt einen Topf zur Deckung der spezifi-
schen Bedarfe im Einzelfall. Das ist grundsätzlich eine
vernünftige Idee. Allerdings können aus diesem Topf
– so ist das bisher vorgesehen – keine Pflege- oder As-
sistenzleistungen finanziert werden.


(Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Dafür haben wir die Rente!)


Ich glaube, hier müssen wir noch einmal genau hin-
schauen und nachbessern. Wir müssen die Möglichkeit
schaffen, dass auch diese Leistungen aus diesem Topf
finanziert werden können, wenn er schon einmal da ist.

Denn sonst passiert das, was wir, wie gesagt, nicht
wollen: Dann sind die Betroffenen, die einen besonders
hohen Unterstützungs- und Assistenzbedarf haben, doch
auf Sozialhilfe angewiesen. Sehr wenige Betroffene ha-
ben einen so hohen Bedarf, aber es gibt sie.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Hubert Hüppe [CDU/CSU]: Dafür haben wir die Rente!)


Damit komme ich zum zweiten Punkt. Die Mittel, die
zur Deckung spezifischer Bedarfe vorgesehen sind – es
geht um den Sondertopf –, werden aus meiner Sicht
nicht sinnvoll verwendet. Bei der Conterganstiftung sol-
len sechs zuständige Stellen eingerichtet werden. Ärzte,
Kliniken und Pflegedienste sollen Gelder aus diesem
Topf erhalten.


(Unruhe)


– Ich merke, Sie diskutieren alle rege. Vielleicht können
Sie das auf die Zeit nach meiner Rede verschieben. – Es
ist natürlich wichtig, dass die Kompetenz des medizini-
schen und pflegerischen Personals steigt, aber die spe-
ziellen Mittel aus diesem Sondertopf sind dafür aus mei-
ner Sicht nicht die richtige Geldquelle.

Auch hören wir, dass die Verbände der Geschädigten,
die gerade Schwerstgeschädigte kompetent beraten,
keine Mittel aus diesem Topf bekommen sollen. Wie ist
das zu erklären, Frau Ministerin? Warum können Ärzte
und Kliniken Gelder erhalten, nicht aber die Betroffe-
nenverbände? Das leuchtet mir nicht ein.

In der kurzen Zeit, die mir zur Verfügung steht,
möchte ich noch auf einen dritten Aspekt eingehen, der,
wie ich glaube, ziemlich wichtig ist. Es geht um die
Conterganstiftung selbst. Ich nehme an, dass ich nicht
der einzige Mensch bin, der von Contergangeschädigten
Zuschriften erhält. Einhellig kommt in diesen Zuschrif-
ten die Unzufriedenheit mit der Arbeit der Stiftung zum
Ausdruck; das wurde auch in der Anhörung deutlich. In
den Gesetzentwurf haben Sie einen Verweis auf das
Informationsfreiheitsgesetz aufgenommen, um dem Vor-
wurf der Intransparenz zu begegnen. Nun ist es aber so,
zumindest nach meinem Verständnis, dass die Stiftung
dem Informationsfreiheitsgesetz ohnehin Genüge tun
muss. Das ist eine Tautologie. Es wird auf ein bestehen-
des Gesetz verwiesen. Ich glaube, das reicht nicht aus.

Ich möchte ein Beispiel nennen. Regelmäßig wird be-
richtet, dass gegen die Stimmen der Geschädigten, die in
der Stiftung in der Minderheit sind, die Geheimhaltung
beschlossen wird. Wir haben mit Betroffenen, die bei der
Anhörung waren, darüber gesprochen. Sie sehen eine ge-
wisse Blockadesituation. Sie haben vorgeschlagen, zur
Aufhebung dieser Blockadesituation so etwas wie einen
neutralen Mittler, eine dritte Position, eine unabhängige
Vermittlung im Stiftungsbeirat vorzusehen. Wenn solche
Vorschläge zur Herstellung von mehr Transparenz und
einer effektiveren Selbstverwaltung vonseiten der Be-
troffenen kommen, dann sollten wir diese Vorschläge in
den anstehenden parlamentarischen Beratungen berück-
sichtigen, wenn wir vorhaben, das in diesem Hohen
Haus gemeinsam zu beschließen.





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


Leider gab es im Vorfeld keine Beratung über Frak-
tionsgrenzen hinweg. Anders als die SPD haben wir
deswegen gesagt: Wir setzen unseren Namen noch nicht
über diesen Gesetzentwurf. Aber wir stehen gemeinsa-
men parlamentarischen Beratungen und Änderungs-
anträgen im Verfahren offen gegenüber. Vielleicht ge-
lingt es ja, das Ganze an den genannten Punkten
voranzutreiben, sodass wir am Ende des Tages – daran
wäre mir sehr gelegen – gemeinsam zu einem Ergebnis
kommen können.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722814600

Vielen Dank, Kollege Markus Kurth. – Nächste Red-

nerin in unserer Aussprache ist Frau Bundesministerin
Dr. Kristina Schröder. Bitte schön, Frau Bundesministe-
rin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kein Geld der Welt kann wiedergutmachen, was conter-
gangeschädigte Menschen ertragen mussten und ertra-
gen müssen. Aber Geld kann helfen, mit Einschränkun-
gen umzugehen, Schmerzen zu lindern und vielleicht
auch Barrieren zu überwinden. Mit finanzieller Hilfe
drücken wir auch unsere Achtung aus vor der Kraft und
dem Willen dieser Menschen, mit ihrer Behinderung, so
gut es irgendwie geht, zu leben. Darum geht es bei der
dritten Änderung des Conterganstiftungsgesetzes: um
Hilfe und Linderung, aber auch um Achtung und Aner-
kennung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mir ist wichtig, dass wir dabei nicht vergessen: Con-
tergangeschädigte Menschen sind aufgewachsen in einer
Zeit, in der unsere Gesellschaft mit Behinderungen und
Fehlbildungen vielfach weniger sensibel umgegangen
ist, als das heute zum Glück überwiegend der Fall ist.
Erfahrungen von Missachtung, Ausschluss und Diskri-
minierung haben ihre Spuren hinterlassen – physisch wie
psychisch. In vielen Interviews sagen betroffene
Menschen, dass gerade diese Erfahrungen es waren,
weswegen Selbstständigkeit und Eigenverantwortung
für sie so wichtig waren.

Der Bericht des Institutes für Gerontologie der Uni-
versität Heidelberg an die Conterganstiftung, der die
Grundlage für den vorliegenden Gesetzentwurf ist,
kommt zu dem Ergebnis, dass sich viele contergange-
schädigte Männer und Frauen selbst in die Lage versetzt
haben, ihr Leben so selbstbestimmt wie möglich zu
leben. Diese Leistung können wir nicht hoch genug ein-
schätzen; aber der Preis war oft die Überforderung des
eigenen Körpers. Die Contergangeschädigten sind heute
in einem Alter, in dem sich die Zeichen eines überlaste-
ten Körpers mehren.

Insbesondere die Heidelberger Studie hat vielen die
Augen geöffnet. Ich bin Ihnen dankbar, Frau Kollegin
Rupprecht, dass Sie noch einmal auf die Skepsis hinge-
wiesen haben, die es gab, als diese Studie in Auftrag ge-
geben wurde. Ich glaube, heute sind sich alle einig: Wir
können heilfroh sein, dass wir eine Studie in dieser Form
haben.


(Marlene Rupprecht [Tuchenbach] [SPD]: Ja!)


Natürlich wussten wir, dass contergangeschädigte
Menschen viel Leid ertragen müssen. Was das aber
konkret und individuell bedeutet und wie sehr sich der
Gesundheitszustand vieler Betroffener – ganz besonders
der Höchstgeschädigten – verschlechtert hat, ist vielen –
auch mir – erst dank dieser Studie bewusst geworden.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wollen wir den
Betroffenen helfen, mit den Folgen jahrelanger körperli-
cher Überbeanspruchung so gut es geht leben zu können.
Wir lassen die contergangeschädigten Männer und
Frauen nicht allein. Wir nehmen 120 Millionen Euro pro
Jahr in die Hand, um ihre Lebenssituation zu verbessern.
Das ist richtig, und das war auch überfällig. Das wurde
auch bei der Anhörung im Februar deutlich, die sehr
viele von uns sehr bewegt hat. Bei der Ausgestaltung der
neuen Regelungen haben wir deshalb intensiv um die
besten Lösungen im Sinne der Betroffenen gerungen.

Für die Erhöhung der Conterganrenten beispielsweise
gab es unterschiedliche Lösungsvorschläge. Warum ha-
ben wir uns für eine so deutliche Erhöhung entschieden,
die ja bei den bisherigen Höchstrenten einer Versechs-
fachung entspricht und die, Herr Kollege Seifert, bei den
Höchstgeschädigten auch überproportional ausfällt? Wir
haben uns für diese Lösung entschieden, weil die hohen
Renten einen Großteil der Zusatzbedarfe – dazu zählt
auch die Assistenz, Herr Kollege Kurth – pauschal abde-
cken sollen und wir den Betroffenen damit aufwendige
Einzelfallprüfungen ersparen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben uns in dem Bewusstsein so entschieden, dass
es hier um notwendige Hilfe geht, aber eben auch um
Respekt und Würde.

Auch für die Ausgestaltung der Schadensstufen lagen
unterschiedliche Varianten auf dem Tisch. Warum haben
wir die Variante gewählt, bei der die Schadensstufen ins-
besondere im oberen Bereich weiter aufgefächert wer-
den? Wir wollten damit mehr Einzelfallgerechtigkeit vor
allen Dingen bei den Schwerstgeschädigten erreichen.
Denn bisher ist es so, dass die höchste Rente bereits bei
45 Schadenspunkten beginnt. Im Moment erreichen
60 Prozent der Leistungsberechtigten 45 oder mehr
Schadenspunkte und damit die höchste Rente. Einige
von ihnen sind aber deutlich schwerer geschädigt als an-
dere. Das konnte bisher innerhalb des Systems nicht be-
rücksichtigt werden. Mit der Einführung zusätzlicher
Schadensstufen, insbesondere im oberen Bereich, kön-
nen wir bei den Schwergeschädigten noch stärker diffe-
renzieren und schwerste Schädigungen angemessen be-
rücksichtigen. Eben darum geht es uns bei den neuen
Regelungen. Wir wollen dem individuellen Schicksal so
gut wie möglich gerecht werden.





Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (C)



(D)(B)


Ich bin sehr froh, dass es gelungen ist, die Mittel für
die zusätzliche Hilfe bereitzustellen. Ich danke allen, die
mit ihrem Sachverstand und mit ihrem Engagement dazu
beigetragen haben. Auch die SPD-Fraktion unterstützt
unseren Vorschlag, was mich sehr freut. Vor allen Din-
gen freut mich aber auch, dass die Mehrheit der conter-
gangeschädigten Menschen die neuen Regelungen rich-
tig findet. Natürlich gibt es immer auch noch Kritik; das
ist klar. Aber ich glaube, dass wir uns zumindest in ei-
nem Punkt einig sind: Das, was wir mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf festschreiben, bedeutet für die Be-
troffenen mehr Hilfe, mehr Respekt und mehr
Gerechtigkeit. Das ist weit mehr als einfach nur mehr
Geld.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie der Abg. Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722814700

Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nächste Red-

nerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unsere Kollegin Frau Christel Humme.
Bitte schön, Frau Kollegin Humme.


Christel Humme (SPD):
Rede ID: ID1722814800

Herr Präsident! Liebe Kollegen! Liebe Kolleginnen!

In der Tat, ich erinnere mich sehr gut daran: Vor sechs
Jahren, 2007, lief im Fernsehen erstmals der Film Eine
einzige Tablette. Auf der einen Seite ist es bedauerlich,
dass ein Film der Anlass für neue Regelungen war, auf
der anderen Seite ist es aber auch gut. Wir konnten uns
in der Großen Koalition auf Verbesserungen für Conter-
gangeschädigte einigen. Ich möchte gerne an Ilse Falk
erinnern. Wir beide haben die Debatte initiiert und da-
rauf hingewiesen, dass wir etwas für die contergange-
schädigten Menschen tun müssen. Jeder, der damals da-
bei war, erinnert sich noch gut daran.

Wir waren nicht sicher, wie erfolgreich wir sein wür-
den, aber im Ergebnis konnten wir die Renten verdop-
peln, Sonderzahlungen durchsetzen und letztlich auch
die Renten dynamisieren. Ich denke, das war ein großer
Schritt. Darauf können wir alle – wir haben es fraktions-
übergreifend beschlossen – noch heute stolz sein. Das
sollten wir immer wieder in Erinnerung rufen. Damals
war – das wurde vorhin erwähnt – Grünenthal noch da-
bei. Grünenthal war mit 50 Millionen Euro an der Finan-
zierung beteiligt.

Aber wir wussten bereits damals, dass das nicht das
Ende der Fahnenstange sein würde; denn das, was wir
damals beschlossen haben, war nicht ausreichend. Wir
ahnten, dass wir erst am Anfang eines Prozesses stehen,
der weitere Verbesserungen für die Männer und Frauen
mit Conterganschädigungen bringen muss, Verbesserun-
gen, die die Betroffenen immer wieder eingefordert ha-
ben. Schon damals war uns klar: Wir müssen uns mit den
Folgeschäden bei Menschen mit Conterganschädigun-
gen befassen und sie entsprechend anerkennen.

Deshalb bin ich froh, dass wir seit Dezember letzten
Jahres die Längsschnittstudie des Instituts für Gerontolo-
gie der Uni Heidelberg vorliegen haben. Ich danke Pro-
fessor Kruse ausdrücklich für diese hervorragende
Längsschnittstudie. Diese Studie belegt Schwarz auf
Weiß, was wir eigentlich schon immer von den betroffe-
nen Menschen geschildert bekommen haben. So hat es
zum Beispiel auch Herr Herterich vom Interessenver-
band Contergangeschädigter Nordrhein-Westfalen in der
Anhörung eindrucksvoll geschildert.

Wenn die Füße die Hände ersetzen und wenn die
Zähne zum Tragen und Öffnen von Flaschen benutzt
werden müssen, dann hat das Folgen für die Entwick-
lung der Muskulatur und die Zahngesundheit. Frau
Rupprecht hat richtig dargestellt, dass die Körper der
Contergangeschädigten überproportional schnell altern.
In der Tat: In den letzten zehn Jahren haben mit zuneh-
mendem Alter die Folgeschäden rasant zugenommen.
Vor allem in den letzten zwei bis fünf Jahren hat sich die
negative Entwicklung bei Arthrose, Muskelschwäche
und daraus folgenden Schmerzen beschleunigt, Schmer-
zen, die nicht auszuhalten sind. Viele contergangeschä-
digte Frauen und Männer können sich nur mit Morphium
und Opiaten am Leben halten, weil sie sonst vor
Schmerzen wahnsinnig würden. Professor Kruse hat das
in der Anhörung sehr deutlich geschildert.

Aufgrund dieser Tatsachen sind besondere Bedarfe
entstanden, beim Zahnersatz, bei der medizinischen
Hilfe, bei der Assistenz und bei der Pflege. Es geht um
eine bessere Mobilität sowohl im als auch außer Haus.
Dazu gehört auch die bessere Kommunikation und so-
ziale Teilhabe. Da müssen wir eindeutig helfen.

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, jetzt geht es da-
rum, die Ergebnisse der Studie aus Heidelberg zügig um-
zusetzen. Dafür ist der heute vorliegende Gesetzentwurf
ein wesentlicher Baustein. Wir freuen uns natürlich, dass
jährlich 90 Millionen Euro zusätzlich zur Verfügung ge-
stellt werden, um die Renten deutlich zu erhöhen; die
Rente wird je nach Schwere der Beeinträchtigung zwi-
schen 612 und 6 912 Euro betragen. Das wirkt wie ein
persönliches Budget und wird den Menschen mit Con-
terganschäden helfen, ihren Alltag besser zu bewältigen.

Genauso positiv bewerten wir, dass jährlich ein Be-
trag von 30 Millionen Euro zusätzlich bereitgestellt
wird, der für besondere Bedarfe vorgesehen ist. Wir be-
grüßen das ausdrücklich und danken allen, die das mög-
lich gemacht haben; das gilt vor allem für die Regelung,
dass die Renten rückwirkend ab dem 1. Januar 2013 ge-
zahlt werden sollen.


(Beifall des Abg. Hubert Hüppe [CDU/CSU])


Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, in der Anhörung
am 1. Februar dieses Jahres wurden von den Betroffenen
immer wieder zwei – ja, ich würde sagen – Herzenswün-
sche an die Politik geäußert. Die Männer und Frauen mit
Conterganschädigungen wünschen sich eine bessere so-
ziale Teilhabe und ein selbstbestimmtes Leben; wir ha-
ben davon heute schon genug gehört. Ich glaube, mit
dem Geld werden wir dazu einen wesentlichen Beitrag
leisten. Auch darum unterstützen wir den Gesetzentwurf.





Christel Humme


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben ja gesagt: Das ist unser gemeinsamer Gesetz-
entwurf. Dieses Thema eignet sich nicht für Parteienge-
zänk.


(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Genau!)


Aber wir haben – auch das gebe ich zu; das hat auch
Frau Rupprecht schon deutlich gemacht – einige Fragen
zu der Ausgestaltung des Gesetzentwurfes. Ich freue
mich, dass es möglich ist – zwar im Nachgang, aber im-
merhin –, am 15. April dieses Jahres ein Fachgespräch
im Ausschuss durchzuführen. Ich hoffe, wir kommen
dort zu guten Ergebnissen und finden letztlich gute Lö-
sungen. Ich gebe Herrn Kurth durchaus recht: Es gibt
viele Klagen darüber, dass die Beteiligung der Conter-
gangeschädigten in der Stiftung nicht so ist, wie sie sein
sollte. Da ich gerade sehe, dass Herr Hüppe hier vorne
sitzt, möchte ich sagen: Wir haben in der Behindertenpo-
litik ja ein Motto. Das Motto lautet: Nicht ohne uns über
uns.


(Caren Marks [SPD]: Genau!)


Ich glaube, das gleiche Motto sollte auch im Hinblick
auf die Menschen gelten, die unter Conterganschädigun-
gen leiden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der Abg. Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE])


Natürlich gibt es großen Beratungsbedarf, was die
Verteilung der spezifischen Bedarfe angeht: Wie werden
sie verteilt? Wie macht man das? Wie bürokratisch ist
das Ganze? Wenn man bedenkt, dass 450 000 Euro, also
fast eine halbe Million Euro, an Verwaltungskosten ent-
stehen werden, muss man sich auch fragen: Wofür? Da-
rüber sollten wir noch einmal reden. Ich glaube, Frau
Hudelmaier vom Bundesverband Contergangeschädig-
ter, die in der Anhörung eine nachhaltige Lösung gefor-
dert und an uns appelliert hat, uns nicht wieder mit Feh-
lern, die wir hinterher korrigieren müssen, zu belasten,
hat recht.


(Nicole Bracht-Bendt [FDP]: Ja, das stimmt!)


Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, ja, es gibt weite-
ren Handlungsbedarf; das dürfen wir nicht vergessen. Es
geht nicht nur um Folgeschäden, sondern auch um Spät-
schäden, die in der Vergangenheit nicht sofort offenbar
wurden und noch nicht als vorgeburtliche Schäden aner-
kannt werden. Frau Blumenthal, die Vorsitzende der
Conterganstiftung, hat angekündigt, dass hierzu in die-
sem Jahr eine Studie in Auftrag gegeben werden soll. Ich
finde zwar, das ist etwas spät – das gebe ich zu; das hätte
man schon früher machen können –, aber ich bin froh,
dass auch diese Studie, die für unsere Beratungen eine
weitere Hilfe sein wird, durchgeführt wird.

Im Laufe dieses Jahres wird in Nordrhein-Westfalen
eine weitere Studie durchgeführt. Sie beschäftigt sich
mit einem anderen Thema, nämlich mit der Frage nach
psychosomatischen Schäden. Ich bin gespannt, zu wel-
chen Ergebnissen man im Rahmen dieser Studie kom-
men wird. Ich glaube, auch sie werden uns helfen, wei-
tere gute Lösungen für die Menschen zu finden.

Liebe Kollegen, liebe Kolleginnen, dass der Bund
120 Millionen Euro jährlich mehr zur Verfügung stellt,
ist eine hervorragende Sache; keine Frage. Aber erlau-
ben Sie mir eine persönliche Bemerkung: Ich wünsche
mir, dass auch die Stiftung ihren Einfluss geltend macht,
um nochmals Geld der Firma Grünenthal, die der eigent-
liche Verursacher des größten Medizinskandals ist, ein-
zuwerben. Auch wenn die Firma Grünenthal rechtlich
nicht dazu verpflichtet ist, so bin ich persönlich sehr da-
von überzeugt, dass es hier eine moralische Verpflich-
tung gibt.

Danke schön.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und der Abg. Hubert Hüppe [CDU/ CSU] und Nicole Bracht-Bendt [FDP])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722814900

Vielen Dank, Frau Kollegin Humme. – Nächster Red-

ner für die Fraktion der FDP: unser Kollege Patrick
Meinhardt. Bitte schön, Kollege Patrick Meinhardt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Patrick Meinhardt (FDP):
Rede ID: ID1722815000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir sind heute hier zusammengekommen, um
über ein Thema zu debattieren, das – das spürt man auch
an der Art und Weise, wie wir die Debatte führen – uns
allen wirklich am Herzen liegt und das uns von den
menschlichen Schicksalen her auch tief bewegt.

Die gesundheitliche Entwicklung der Contergange-
schädigten steht, wie es in der Studie der Universität
Heidelberg formuliert wird, an einem Wendepunkt – ich
zitiere –: „Die gesundheitliche Entwicklung … steht an
einem Wendepunkt, eine rasche Verbesserung der Ver-
sorgung wie auch eine rasche Ausweitung der Unterstüt-
zung sind dringend notwendig.“ Überlastete Gelenke,
schwere Beeinträchtigungen der Wirbelsäule und vor al-
lem chronische Schmerzzustände steigern den Hilfe- und
Unterstützungsbedarf erheblich.

Deswegen ist es gut, dass wir heute über die Grenzen
der Fraktionen hinweg über dieses wirklich zentrale ge-
sellschafts- und sozialpolitische Thema beraten.

Auch ich bin der Ansicht, dass wir mit diesem Ge-
setzentwurf an einem Wendepunkt stehen, und möchte
allen, die sich an diesem Gesetzentwurf beteiligt haben,
hierfür ein herzliches Dankeschön sagen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es ist eine Frage der Gerechtigkeit, dass wir zu einer
Änderung des Conterganstiftungsgesetzes kommen, die
für viele längst überfällig war und die jetzt in der Konse-
quenz der gesamten Beratungen an einen wichtigen
Punkt gekommen ist. Wir stehen hier alle gemeinsam in
der Verantwortung, und wir stehen auch alle zu unserer
Verantwortung. Es ist ein wichtiges Zeichen, wenn die-
ses Hohe Haus in einer solchen Debatte seine Mensch-
lichkeit zeigt – sie kam in vielen Wortbeiträgen zum





Patrick Meinhardt


(A) (C)



(D)(B)


Ausdruck – und die Fraktionen zusammenstehen, wie
dies ja schon im Jahre 2008 der Fall war.

Im Deutschen Bundestag wurden von 1958 bis heute
viele Debatten über dieses Thema geführt. Als 1971 die
zentrale Debatte über die Errichtung der heutigen Con-
terganstiftung stattgefunden hat, hat unser damaliger
FDP-Kollege Kurt Spitzmüller Folgendes formuliert
– das war eine große Gemeinsamkeit in diesem Haus –:

Die Einmütigkeit, die das Haus in dieser Frage be-
wiesen hat, und die Intensität, mit der sich die Aus-
schußmitglieder dieser Fragen angenommen haben,
beweisen, daß dieses Haus immer wieder in der
Lage sein wird, sosehr die Situation auch draußen
im Lande einmal auf Konfrontation eingestellt sein
mag, sich im Sinne der Hilfe für Bedürftige, für Be-
hinderte, im Sinne einer humanitären Gemeinsam-
keit zusammenzufinden.

Dies gilt auch für die Beratungen heute.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)


Vor fast genau vier Jahren hat der Deutsche Bundes-
tag für diesen Bereich eine Studie, ein Gutachten in Auf-
trag gegeben. Schon zum 1. Juli 2008 sind die sogenann-
ten Conterganrenten verdoppelt worden. Ich glaube, dass
es sehr gut ist, wenn wir jetzt mit der Verabschiedung
des Entwurfs eines Dritten Gesetzes zur Änderung des
Conterganstiftungsgesetzes noch einmal eine entschei-
dende Verbesserung erreichen. Trotz der schwierigen
Bemühungen, einen strukturell ausgeglichenen Bundes-
haushalt für 2014 aufzustellen, ist es gemeinsam gelun-
gen, für die 2 700 Conterganopfer die gewaltige Summe
von jährlich 120 Millionen Euro dauerhaft zu verankern.
Ich glaube deswegen sagen zu dürfen, liebe Kolleginnen
und Kollegen: Wir können zwar Leiden nicht in Geld
messen – das wäre weiß Gott vermessen –; aber wir kön-
nen die Welt in Deutschland mit dieser Entscheidung ein
bisschen gerechter machen und diesen Menschen unsere
gemeinsame Solidarität entgegenbringen. Dafür bin ich
wirklich dankbar.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722815100

Vielen Dank, Kollege Patrick Meinhardt. – Nächster

Redner für die Fraktion von CDU und CSU ist unser
Kollege Markus Grübel. – Bitte schön, Kollege Markus
Grübel.


Markus Grübel (CDU):
Rede ID: ID1722815200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

können heute mit Fug und Recht sagen: Dieses Gesetz
ist ein Quantensprung. Es ist kein kleiner Schritt und
auch kein großer Schritt, es ist ein Sprung. Um in dem
Bild zu bleiben, das Sie, Herr Dr. Seifert, verwendet ha-
ben: Es ist nicht der Spatz in der Hand – es ist für das,
was realistisch war, die Taube auf dem Dach.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Auf welchem Stern leben Sie? Wer wäre sich vor
zwei Monaten noch sicher gewesen, dass wir hier
120 Millionen Euro zusätzlich bereitstellen können? Ich
habe mir das immer gewünscht und habe dafür ge-
kämpft; das dürfen Sie mir abnehmen. Hinsichtlich der
Frage, ob wir das schaffen, ob wir das durchsetzen, ob
die Haushälter, das Finanzministerium etc. das mitma-
chen, war ich mir aber unsicher. Darum, glaube ich, soll-
ten Sie das nicht kleinreden und abwerten.

Der Vorsitzende des Contergannetzwerks Deutsch-
land, Herr Christian Stürmer, hat mir gesagt, das sei eine
positive Revolution. Wir haben die Contergangeschädig-
ten und auch ihre Familien nun ein halbes Jahrhundert
lang mit einer vergleichsweise geringen Rente vertröstet.
Mit diesem Gesetzentwurf und diesen zusätzlichen Mit-
teln schaffen wir es – das ist mir besonders wichtig –,
dass sie ein würdiges Leben leben können.

Im Mai 2008 haben wir die Conterganrenten von
550 Euro auf 1 100 Euro verdoppelt. Das hört sich viel
an. Zu weniges zu verdoppeln, ergibt aber nicht viel, und
vor allem war das nicht ausreichend. Natürlich war das
damals in unserem entsprechenden Rahmen das Mögli-
che, Frau Rupprecht, Frau Humme, Frau Falk und wie
wir alle heißen, aber das war nicht der große Wurf.
6 912 Euro für die schwerst- bzw. mehrfach Geschädig-
ten: Das ist ein großer Wurf und eröffnet den Betroffe-
nen und ihren Familien die Möglichkeit, ein würdiges
Leben zu leben.

Das ist auch das Ergebnis der Conterganstudie. Diese
Studie der Uni Heidelberg – vom Institut für Gerontolo-
gie mit seinem Leiter Professor Kruse – hat uns bestä-
tigt, dass die Klagen zu Recht geführt werden und dass
Handlungsbedarf besteht, weil die Menschen halt nicht
wie 50-Jährige, sondern wie Hochbetagte sind. In die-
sem Zusammenhang ist auf die schweren Verschleiß-
erscheinungen, die Schmerzen, den Assistenzbedarf und
die Pflegebedürftigkeit hinzuweisen.

Mir ist auch wichtig, zu sagen: Die Angehörigen – oft
die Eltern – haben die Betroffenen im Alltag jahrzehnte-
lang unterstützt und sind jetzt selber in einem Alter, in
dem sie oft Hilfe brauchen. Sie können die Hilfe nicht
mehr leisten, sodass die Familien außerhäusliche Hilfe
brauchen. Ich kann nur sagen: Ich habe höchste Achtung
vor der Leistung, die die Eltern und Familien in den Jah-
ren erbracht haben.

Ich möchte auch an die Kinder der Geschädigten den-
ken. Manche haben keine Kinder, aber es gibt auch viele,
die Kinder haben. Die Kinder werden erwachsen und
sollten doch auch ein selbstständiges Leben führen kön-
nen. Dafür ist das jetzt auch ein wichtiger Schritt. Es ist
nämlich eine seelische Belastung für die Kranken, Be-
troffenen, Eltern, wenn sie wissen, dass sie der Entfal-
tung ihrer Kinder, die vielleicht auswärts studieren oder
eine Arbeitsstelle annehmen wollen und dadurch für die
Hilfe nicht mehr zur Verfügung stehen würden, im Wege
stehen.





Markus Grübel


(A) (C)



(D)(B)


Hinzu kommen die Folge- bzw. Spätschäden. Wenn
ein Contergangeschädigter ein Glas Wasser trinken will,
dann muss er seine Wirbelsäule verrenken. Dadurch er-
leidet er Spätschäden am Skelett, die ein nicht Betroffe-
ner nie haben würde. Ein anderes Beispiel: Das Tragen
von Dingen mit den Zähnen macht die Zähne kaputt, und
auch der Zahnersatz wird in der Folge viel schneller be-
schädigt als der von anderen.

Das Durchschnittsalter der Contergangeschädigten
beträgt 53 Jahre. So alt bin ich auch. Die Contergange-
schädigten leben aber in Körpern, die denen von 70-
oder 80-Jährigen gleichkommen.

Wir handeln nun – das möchte ich ausdrücklich sagen –
entschlossen, schnell, konsequent und sogar rückwir-
kend zum 1. Januar 2013, und der künftige Höchstbetrag
beträgt 6 912 Euro. Das ist wirklich einmal ein Betrag,
der viel ermöglicht.

Diese Erhöhung hat den Vorteil, dass die Contergan-
geschädigten einen Großteil ihres Zusatzbedarfes – zum
Beispiel Assistenz, behindertengerechter Umbau eines
Pkw – pauschal, ohne aufwendige Einzelfallprüfung und
ohne bürokratischen Aufwand decken können. Sie müs-
sen keine Anträge stellen, keine Gutachten beibringen
und nicht mit der Abfolge – das kennt ja auch fast jeder
von uns – „Ablehnung, neues Gutachten, neuer Antrag,
Ärger“ leben. Dazu sind sie ja oft auch nicht in der Lage.
Darum haben wir gesagt: Dreiviertel der 120 Millionen
Euro fließen pauschal in die Rente. Dieser Teil erhöht
also ihre zukünftige Rente. Mit dem anderen Teil werden
zusätzliche Bedarfe abgedeckt.

In allen Gesprächen mit den Betroffenen war klar,
dass sie es schätzen, dass sie die Freiheit haben und
keine Anträge stellen müssen. Ich glaube, das müssen
wir hier auch einmal bewusst machen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ein Viertel, bis zu 30 Millionen Euro, stehen also für
zusätzliche Bedarfe – Reha-Leistungen, Heil- und Hilfs-
mittel, Zahnersatz, kieferchirurgische Behandlungen –
zur Verfügung. Hier muss man sagen: Voraussetzung da-
für ist natürlich der ablehnende Bescheid durch die
Krankenkassen, weil wir mit dem Geld ja nicht die
Krankenkassen entlasten, sondern zusätzliche Maßnah-
men ermöglichen wollen, die die Krankenkassen eben
nicht ermöglichen. Deshalb ist hier einfach ein Verfah-
ren vorgeschaltet.

Ich nehme an, dass das Verfahren dann nicht so ausse-
hen wird, wie es hier geschildert wurde, auch von Ihnen,
Herr Kurth. Der Stiftungsrat wird allgemeine Richtlinien
beschließen, und das Bundesamt, das die Mittel adminis-
trativ verwaltet, wird anhand der Richtlinien in einem
kurzen, schnellen Verfahren entscheiden. Der Stiftungs-
rat bzw. der Stiftungsvorstand wird nicht mit jedem Ein-
zelfall belastet. Darüber können wir aber gern noch ein-
mal reden.

Sehr geehrte Damen und Herren, heute ist mit Sicher-
heit ein historischer Tag für die Contergangeschädigten
und ihre Familien. 120 Millionen Euro mehr, das ist viel

Geld, wenn man unsere Rahmenbedingungen und die
Haushaltssituation anschaut. Gestern hat der Finanz-
minister den Haushaltsplan vorgestellt. Wir wollen
Schulden abbauen, wir wollen die nächste Generation
nicht belasten. Angesichts dessen ist das wirklich viel
Geld. Natürlich kann das die Schmerzen und die Leiden
nicht ungeschehen machen.

Ich möchte der SPD danken; sie macht mit. Ich hoffe,
die Grünen können wir auch noch ins Boot holen.

Ich glaube, es ist gut, dass wir nun entschlossen han-
deln und den Betroffenen schnell und unbürokratisch
helfen. Ich danke allen, die diesen Gesetzentwurf mög-
lich gemacht haben. Ich hoffe auf alle Kolleginnen und
Kollegen, dass sie ihn mittragen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722815300

Vielen Dank, Kollege Markus Grübel. – Nächster

Redner in der Aussprache ist unser Kollege Thomas
Strobl für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kol-
lege Thomas Strobl.


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1722815400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich glaube, nach einem halben Jahrhun-
dert der schweren und schwersten Schädigungen durch
Contergan ist heute ein besonderer und ein guter Tag. Ich
erinnere mich noch gut daran, dass vor einem halben
Jahr eine Gruppe contergangeschädigter Menschen ei-
nen Besuch im Deutschen Bundestag gemacht hat. Sie
waren von weither angereist, aus allen Teilen der Repu-
blik. Der Vorsitzende kam aus meinem Heimatbundes-
land, aus Baden-Württemberg. Diese Menschen haben
keinen Aufwand, keine Mühe gescheut, über viele Jahre
immer wieder auf ihre Lebensumstände und auf die Nöte
der Contergangeschädigten aufmerksam zu machen.

Wenn wir heute hier stehen und ein Gesetz beraten,
das zusätzliche Leistungen in einem Umfang von
120 Millionen Euro an die Contergangeschädigten vor-
sieht, dann möchte ich vor allem denjenigen danken, die
nicht lockergelassen haben, die nicht müde geworden
sind, ihre Geschichte und die Geschichte ihrer Mitbe-
troffenen zu erzählen und auf ihre Nöte und auf ihr
Schicksal aufmerksam zu machen. Wir stünden ohne
diejenigen, die das immer und immer wieder vorgetra-
gen haben, nicht hier. Sie sind eigentlich diejenigen, de-
nen wir dafür Dank sagen müssen, dass wir heute zu die-
sem Schritt kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ich will aber hinzufügen, weil es einfach die Wahrheit
ist, dass wir ohne unsere Kollegin Bundeskanzlerin
Angela Merkel und ohne den Vorsitzenden der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion Volker Kauder heute nicht so
weit wären, wenn die beiden diese Angelegenheit nicht
zu ihrer eigenen, persönlichen Sache gemacht hätten.
Das möchte ich in dieser Stunde einfach sagen. Danke
an Angela Merkel und Volker Kauder!





Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich möchte an die-
ser Stelle aus einer E-Mail zitieren, einer von vielen E-
Mails, die ich von Contergangeschädigten erhalten habe:
Meine Mutter hat sich jahrelang Vorwürfe gemacht, weil
sie nur eine einzige Tablette genommen hat. Als kleiner
Junge sagte ich zu ihr: Nicht traurig sein! Ich werde es
schaffen, und wenn ich groß bin, dann will ich eine
Schiffsreise für dich bezahlen. Da war ich gerade mal
acht Jahre alt, konnte kaum sprechen, weil ich ja taub
war. Mein Vater hat sich immer geschämt, weil ich ein
Krüppel war. Da ich aus gesundheitlichen Gründen nur
halbtags arbeiten kann, konnte ich meiner Mutter den
Wunsch nie erfüllen. In den nächsten Jahren werde ich
nicht mehr arbeiten können und würde dann gerade mal
400 Euro Rente bekommen. Jetzt wird die Bundesregie-
rung 120 Millionen Euro jährlich für unsere Contis aus-
schütten. Vielen Dank, dass Sie sich dafür eingesetzt ha-
ben!

Er schreibt weiter: Jetzt ist meine Mutter 85 Jahre alt.
Ich hoffe, dass ich ihr diesen Wunsch so bald wie mög-
lich erfüllen kann. Sie wird nicht mehr die große Reise
machen können, aber ich werde ihr symbolisch eine
Fahrkarte geben.

Es ist spät, dass wir als Bundesrepublik Deutschland
unsere Verpflichtung gegenüber den contergangeschä-
digten Menschen in anständiger Weise wahrnehmen. Es
ist spät, dass die Bundesrepublik Deutschland auch für
ihr Verhalten im Conterganskandal Verantwortung über-
nimmt. Es ist spät, dass der Deutsche Bundestag den El-
tern signalisiert: Wir lassen euch und eure Kinder nicht
im Stich. Es ist spät, dass wir vor allem auch den Müt-
tern Danke sagen, dass sie ein Leben lang so viel Zeit
und so viel Kraft und so viel Liebe in das Leben ihrer
Kinder investiert haben.

In den Gesprächen mit den Contergangeschädigten ist
mir eines ganz besonders deutlich geworden: Das Geld
muss vor allem bei den Betroffenen ankommen. Sie sind
es nämlich, die am besten wissen, wozu sie dieses Geld
brauchen. Sie werden mit diesem Geld am sparsamsten
umgehen. Sie sind es, die ihr Leben – daran ist uns allen
gelegen – ohne Bevormundung führen sollen. Deswegen
ist es wichtig, dass 90 Millionen Euro der 120 Millionen
Euro als monatliche Renten direkt an die Betroffenen ge-
hen. Keine Töpfe! Keine Anträge! Keine Diskussionen!
Keine Bürokratie! Diese Entscheidung ist wichtig und
richtig gewesen!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich noch eine Bemerkung zu den Ein-
wänden, insbesondere der Fraktion Die Linke, gegen un-
seren Gesetzentwurf machen. Das gilt im Übrigen auch
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Aber, Herr
Kollege, Sie haben eigentlich ganz vernünftig geredet.
Vielleicht sprechen wir noch einmal miteinander da-
rüber, ob Sie sich an diesem Gesetzentwurf der drei
größten Fraktionen CDU/CSU, SPD und FDP beteiligen.
Das Thema ist zu wichtig, als dass wir uns parteipoli-
tisch verhakeln.

Ich möchte an die Adresse des Kollegen Seifert sa-
gen: Wenn wir das jetzt nicht schnell machen, dann wird

das wieder nichts. Ich werde nicht zulassen, dass diese
Sache der Diskontinuität anheimfällt. Wir müssen diese
Sache in dieser Legislaturperiode angehen und nicht zer-
reden. Das ist der entscheidende Punkt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722815500

Kollege Strobl, gestatten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Dr. Ilja Seifert?


Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1722815600

Selbstverständlich.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722815700

Lieber Herr Kollege Strobl, wir sind uns doch alle ei-

nig, dass wir diese Sache in dieser Legislaturperiode
über die Runden bringen wollen; ganz klar. Ich hatte Ih-
nen deshalb vorhin vorgeschlagen: Lassen Sie uns ge-
meinsam und feierlich erklären, dass wir alles dafür tun
werden, dass das Gesetz am 1. August 2013 in Kraft tre-
ten kann. Aber das ändert doch nichts an der Tatsache,
dass wir bis Juni Zeit haben. Wir brauchen hier nicht die
Zustimmung des Bundesrates. Wir können den Gesetz-
entwurf hier abschließend beraten und vorher eine ver-
nünftige Anhörung durchführen, bei der das Prinzip
„nichts über Contis ohne Contis“ tatsächlich umgesetzt
wird.

Das ist das Einzige, was ich vorgeschlagen habe. Das
würde das ganze Verfahren ein kleines bisschen, um
zwei oder drei Wochen, hinauszögern. Aber in diesen
zwei oder drei Wochen können wir gründlich arbeiten
und dabei in Erfahrung bringen, was die Betroffenen
wirklich wollen, ob es ihnen reicht, eine hohe Rente zu
bekommen, oder ob auch andere Dinge wichtig sind. Um
nichts anderes habe ich gebeten. Nichts anderes habe ich
vorgeschlagen. Keinerlei Verzögerungstaktik! Im Ge-
genteil: Das Ganze soll so schnell wie möglich, aber
auch so gründlich wie möglich gemacht werden. Was ist
das Problem?


(Beifall bei der LINKEN)



Thomas Strobl (CDU):
Rede ID: ID1722815800

Kollege Seifert, Sie sagen zunächst einmal, wir

brauchten noch eine Anhörung. Ich habe kürzlich meh-
rere Stunden an einer Anhörung zu diesem Thema teil-
genommen. Dort waren einige Hundert Contergange-
schädigte, dort waren Wissenschaftler, die die Probleme
vorstellten. Die Anhörung war sehr beeindruckend. Ich
muss Ihnen sagen: Mir ist in der Sache ziemlich klar,
was zu tun ist. Selbstverständlich sind Sie herzlich ein-
geladen, sich in das Gesetzgebungsverfahren einzubrin-
gen. Selbstverständlich kann man auch über Details
sprechen. Ein Gesetzgebungsverfahren ist dazu da,
Dinge zu verändern, selbstverständlich.

Es geht aber nicht, dass wir uns in den Diskussionen
in irgendwelchen Details verhaken; denn dann wird es
mit dem Gesetz in dieser Legislaturperiode nichts mehr.
Mit guten Absichtserklärungen ist den Geschädigten
nicht geholfen. Wenn wir die Gesetzgebung jetzt nicht





Thomas Strobl (Heilbronn)



(A) (C)



(D)(B)


abschließen, ist eine Rückwirkung zum 1. Januar 2013
nicht mehr möglich. Deswegen geben wir jetzt Gas und
bekommen etwas Vernünftiges hin. Sie sind selbstver-
ständlich herzlich eingeladen, mitzumachen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte ein bisschen an Ihr soziales Gewissen ap-
pellieren. Lassen Sie diese parteitaktischen Verzöge-
rungsspielchen. Lassen Sie uns ein gemeinsames Zei-
chen setzen, dass wir fähig sind, diese Sache miteinander
zu einem guten Ende zu bringen.

Es ist ganz einfach, liebe Kolleginnen und Kollegen:
Wenn die Linken und die Grünen nicht mitmachen, dann
ist das schade, aber dann machen wir es eben ohne sie.
Dann setzen CDU/CSU, SPD und FDP ein gemeinsames
Zeichen: ein Zeichen für eine neue Zeit für die conter-
gangeschädigten Menschen und ihre Familien und auch
ein Zeichen für ein bisschen mehr Menschlichkeit in die-
sem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722815900

Kollege Thomas Strobl war der letzte Redner in unse-

rer Aussprache, die ich damit schließe.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12678 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
haben wir gemeinsam die Überweisung so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 6 auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Katja
Kipping, Diana Golze, Matthias W. Birkwald,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Für soziale Gerechtigkeit statt gesellschaftli-
cher Spaltung – Bilanz nach 10 Jahren Agenda
2010

– Drucksache 17/12683 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Gesundheit

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind da-
mit einverstanden. Dann haben wir dies so beschlossen.

Ich eröffne nun die Aussprache. Erste Rednerin in un-
serer Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Frau Katja Kipping. Bitte schön, Frau Kollegin
Katja Kipping.


(Beifall bei der LINKEN)



Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722816000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Zehn

Jahre Agenda 2010: Für die SPD ist das ein Grund und
Anlass zum Feiern. Wir als Linke fanden, das ist vor al-
len Dingen ein Anlass, das Gespräch mit denjenigen zu

suchen, die von den Folgen betroffen sind. Deswegen
waren wir beim Jobcenter, und deswegen waren Bernd
Riexinger und ich bei einem Weddinger Verein, der sich
um die Menschen kümmert, die von Armut betroffen
sind.

Der Vereinsvorsitzende sagte zum Schluss, als ich ihn
fragte, was er mir für den Bundestag mitgeben möchte,
einen bemerkenswerten Satz. Er sagte: Man kann Ver-
besserungen nur erreichen, wenn man bereit ist, für die
Fehler, die man gemacht hat, einzustehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Man muss bereit sein, für die Fehler, die man gemacht
hat, einzustehen: Das sind die Worte eines Mannes, der
in seiner alltäglichen ehrenamtlichen Arbeit mit den
Auswirkungen von Hartz IV und der Agenda 2010 zu
tun hat. Ich finde, das sollte sich die SPD zu Herzen neh-
men.


(Beifall bei der LINKEN)


Doch wie sieht es die SPD? Der SPD-Vorsitzende
Gabriel spricht davon: Die Agenda 2010 war ein großer
Erfolg. – Schauen wir uns doch einmal an, worin der
große Erfolg von Agenda 2010 und Hartz IV besteht.
Um nur einen Bereich zu nehmen: In der gesetzlichen
Krankenversicherung sind seit der Agenda 2010 immer
mehr Lasten auf den Schultern der gesetzlich Versicher-
ten abgeladen worden. Leistungen wie Brillen und Kran-
kenfahrten wurden abgeschafft, und die Zuzahlungen
wurden immer mehr nach oben geschraubt.

Seit dem Jahr 2004 sind insgesamt 120 Milliarden
Euro auf den Schultern der gesetzlich Versicherten abge-
laden worden. Das nennt die SPD einen Erfolg. Ich
finde, das ist eine Sauerei. Wir als Linke meinen ganz
klar, die Zuzahlungen müssen gestrichen werden, und
wir wollen den Einstieg in eine solidarische Bürgerin-
nen- und Bürgerversicherung.


(Beifall bei der LINKEN)


Zur Bilanz der Agenda 2010 gehört auch, dass die
Renten gesunken sind. Um das an einer Zahl zu verdeut-
lichen: Die Renten für langjährig Versicherte sind durch-
schnittlich von 1 021 auf 953 Euro im Monat gesunken.
Auch die Reallöhne – das sind die Löhne gemessen an
der Kaufkraftentwicklung – sind zwischen 2005 und
2010 um 5 Prozent gesunken. Am stärksten betroffen
sind die unteren Einkommensschichten.

Also halten wir fest: Die Agenda 2010, erfunden von
Rot-Grün, fortgesetzt von der Großen Koalition und
dann von Schwarz-Gelb, ist vor allen Dingen eins: ein
Angriff auf die Mittelschichten und auf die Rechte von
Erwerbslosen, mit einem Ziel, nämlich den Reichen und
Managern zu gefallen.


(Beifall bei der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


Jetzt greift die SPD in ihrem Wahlprogramm wieder
soziale Fragen auf. Aber ich muss sagen: Was jetzt in Ih-
rem Wahlprogramm steht, liebe Sozialdemokratinnen
und Sozialdemokraten, steht in einem logischen Wider-
spruch zum Abfeiern der Agenda 2010. Durch Ihr Feiern





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)


der Agenda 2010 beweisen Sie nur eins: Ihr Wahlpro-
gramm ist nicht das Papier wert, auf dem es gedruckt
wurde.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Es ist unglaubwürdig!)


Zur Bilanz der Agenda 2010 gehört auch, dass die Ar-
beitslosenversicherung quasi pulverisiert wurde. Nur noch
jeder vierte Erwerbslose bekommt überhaupt Arbeitslo-
sengeld I. Diejenigen, die auf Arbeitslosengeld II ange-
wiesen sind, sind in das System Hartz IV gestürzt wor-
den. Das bedeutet für Millionen Menschen Armut und
Schikane per Gesetz.

Wir als Linke sagen klar: Wir wollen Hartz IV durch
eine sanktionsfreie Mindestsicherung ersetzen. Die An-
hebung des Regelsatzes auf 500 Euro und die Abschaf-
fung der Sanktionen sind erste wichtige Schritte dahin,


(Beifall bei der LINKEN)


zumal viele dieser Sanktionen widerrechtlich verhängt
werden. Davon zeugen die hohen Erfolgsquoten zum
Beispiel bei Klagen. Mehr als der Hälfte aller Klagen ge-
gen Sanktionen wird stattgegeben. Vor diesem Hinter-
grund halte ich den geplanten Angriff auf die Prozess-
kostenhilfe für ein besonderes Problem.


(Beifall bei der LINKEN)


Wer die Prozesskostenhilfe abschaffen will, der soll
gleich sagen, dass er den Rechtsstaat nur für die Reichen
will. Wir als Linke meinen ganz klar: Dieser Angriff auf
die Prozesskostenhilfe ist ein Angriff auf den Rechts-
staat. Wir wollen, dass sich Arme wie Reiche für ihre
Rechte einsetzen können.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Agenda 2010 wurde eingeführt mit der Behaup-
tung, es gebe einen Reformstau. Dazu sagen wir als
Linke ganz klar: Es gibt keinen Reformstau; es gibt ei-
nen Gerechtigkeitsstau. Wenn jetzt Rufe nach einer
Agenda 2020 laut werden, sagen wir: Was wir wirklich
für das Jahr 2020 brauchen, ist eine „Agenda Sozial“,
das heißt statt Hartz IV Mindestsicherung, Mindestlohn
und Mindestrente.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722816100

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in

unserer Aussprache ist für die Fraktion von CDU/CSU
unser Kollege Dr. Carsten Linnemann. Bitte schön, Kol-
lege Dr. Linnemann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Carsten Linnemann (CDU):
Rede ID: ID1722816200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lassen Sie mich vorausschicken, dass wir trotz mancher
Schieflagen – auf diese werde ich gleich noch eingehen –,
die wir zum großen Teil behoben haben, und trotz man-
cher Komplikationen der Meinung sind, dass die Agenda

2010 in der Sache richtig war. Den Menschen geht es
heute, im Jahre 2013, besser, Frau Kipping, als noch vor
zehn Jahren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Frechheit!)


Ich möchte aber auch nicht den Eindruck erwecken,
dass die Agenda 2010 maßgeblich dafür verantwortlich
ist, dass es uns heute besser geht. Es gibt vor allen
Dingen zwei große andere Punkte, die man in diesem
Zusammenhang ansprechen muss und die gerade mit der
Union verbunden sind. Der erste Punkt ist die duale Aus-
bildung. Viele in Europa haben sich in der Vergangen-
heit über uns lustig gemacht und gesagt: Die Auszubil-
denden gehen ja zweimal in der Woche in die
Berufsschule. Das ist ja wie Schule. – Als wir, die Mit-
glieder des Arbeitsausschusses, kürzlich in Spanien wa-
ren, kam in jedem Gespräch, das die Spanier mit uns ge-
führt haben, die duale Ausbildung zur Sprache. Die
Spanier wollen dieses System kopieren, und wir helfen
gerne dabei. Wir wollen auf jeden Fall am dualen Sys-
tem festhalten.

Der zweite Punkt, der neben der Agenda 2010 wichtig
ist – auch das sollte einmal angesprochen werden –, ist
die Tatsache, dass es die Union war, die am industriellen
Kern Deutschlands festgehalten hat.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wir waren das! Wir!)


25 Prozent der Bruttowertschöpfung findet bei uns in der
Industrie statt. In Frankreich ist es nur die Hälfte. Über
Großbritannien und insbesondere über London als zen-
tralem Platz für Finanzdienstleister möchte ich erst gar
nicht reden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber nun zur Agenda 2010. Die Stoßrichtung war
richtig. Vier Fraktionen im Deutschen Bundestag haben
im Grundsatz Ja zum Prinzip „Fördern und Fordern“ und
zur Zusammenlegung von Sozialhilfe und Arbeitslosen-
hilfe gesagt. Wir hatten damals das gleiche Ziel: sicherer
Wohlstand und sicherer Sozialstaat. Heute, zehn Jahre
später, ist festzustellen, dass wir das nicht nur damals
konstruktiv begleitet, sondern bis heute fortgeführt ha-
ben. Die Zahlen sind absolut eindrucksvoll und sprechen
meiner Meinung nach Bände. 41,5 Millionen Menschen
in Deutschland sind erwerbstätig.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja, aber das Arbeitsvolumen hat nicht zugenommen!)


Im Moment gibt es 1 Million offene Stellen. Die Ar-
beitslosigkeit, auch die Sockelarbeitslosigkeit, ist signi-
fikant gesunken. Die Erwerbstätigenquote Älterer ist
gut. Ich glaube, hier liegen wir an zweitbester Stelle in
Europa. Die Situation bei der Jugendarbeitslosigkeit ist
sehr gut. 93 Prozent der Jugendlichen in Deutschland ha-
ben einen Job. Die Langzeitarbeitslosigkeit ist unter der
Regierung von Angela Merkel und mit einer Bundes-
arbeitsministerin Frau von der Leyen um 40 Prozent zu-
rückgegangen. Damit ist auch die Zahl der Kinder, die
im Hartz-IV-Bezug leben, um 40 Prozent gesunken.





Dr. Carsten Linnemann


(A) (C)



(D)(B)



(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht! Was sind denn das für Zahlen?)


– Entschuldigung, um 260 000, Herr Kurth. – Man kann
das alles schlechtreden.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollten die richtigen Zahlen nennen!)


Man kann aber auch einmal sagen: Das sind gute Daten.
Diese Koalition hat gute Arbeit geleistet. Wir freuen uns,
dass es so ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich gibt es immer Schieflagen und Menschen,
die zu Recht sagen: Hier und da geht es nicht gerecht zu.
– Davor darf man auch nicht die Augen verschließen.
Ich nenne Ihnen nur drei Beispiele, die deutlich machen,
wo diese Koalition angesetzt hat, um Schieflagen zu be-
seitigen.

Wir haben schon damals gesagt, dass Zeitarbeit nur
dazu dienen darf, Auftragsspitzen zu bewältigen sowie
Langzeitarbeitslosen und Geringqualifizierten den Ein-
stieg in reguläre Beschäftigung zu ermöglichen. Wenn
Firmen dieses Konzept ausnutzen, Mitarbeiter rauswer-
fen und die gleichen Mitarbeiter über die Zeitarbeit wie-
der ins Unternehmen holen, dann ist das schlicht nicht
gesetzeskonform. Wir haben ein Gesetz gemacht. So et-
was ist jetzt verboten und findet nicht mehr statt.

Ein weiteres Beispiel: die Hinzuverdienstmöglichkei-
ten. Wir haben gesagt: Wenn es junge Menschen gibt,
die in einem Ferienjob gern etwas dazuverdienen wol-
len, dann sollen sie das auch behalten; es wird nicht an-
gerechnet.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Da haben wir den Druck gemacht!)


Ein weiteres Beispiel: der Bundesfreiwilligendienst.
Wir haben gesagt: Wenn jemand freiwillig mitmachen
will, dann soll er das Geld auch zum großen Teil behal-
ten.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Ihr Fraktionsvorsitzender hätte das nicht gewusst, wenn Herr Gysi nicht Druck gemacht hätte!)


– Nein, Frau Kipping. – Ich möchte an dieser Stelle ein-
fach nur sagen: Man bekommt die absolute Gerechtig-
keit nicht hin. Aber dort, wo Schieflagen sind, haben wir
das angepackt; ich habe die Beispiele gerade genannt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn Sie eine Neiddebatte wollen und in Ihrem An-
trag davon sprechen, dass Sie Einkommen mit einem
Steuersatz von 75 Prozent besteuern wollen, dann kann
ich Ihnen nur sagen: Wir haben in Deutschland kein Ein-
nahmeproblem; wir haben ein Ausgabenproblem. Die
Menschen wollen, dass wir mit den Steuergeldern ver-
nünftig umgehen. Wir haben noch nie so hohe Steuerein-
nahmen gehabt wie im Moment. Es ist Herr Schäuble
gewesen, der gestern gesagt hat: Im Jahr 2015 bekom-
men wir nach 40 Jahren wieder einen ausgeglichenen

Haushalt hin. – Dahin muss es gehen! Mut! Nach vorn!
Keine Neidgesellschaft! Wir müssen den jungen Men-
schen sagen: Ihr habt alle Chancen der Welt. Strengt
euch an! Die Welt steht euch offen. – Das begleiten wir.
Gleiche Chancen für jedes Kind, egal aus welchem El-
ternhaus!

Herzlichen Dank.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722816300

Vielen Dank, Kollege Dr. Linnemann. – Nächster

Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der So-
zialdemokraten unser Kollege Hubertus Heil. Bitte
schön, Kollege Hubertus Heil.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722816400

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Es ist tatsächlich heute zehn Jahre her, dass der da-
malige Bundeskanzler Gerhard Schröder von diesem
Pult aus eine Regierungserklärung abgegeben hat. Es
lohnt sich übrigens, die noch einmal insgesamt nachzu-
lesen. Sie stand unter dem Motto „Mut zum Frieden und
Mut zur Veränderung“. Es war übrigens die Regierungs-
erklärung – daran seien Sie in der Union erinnert –, in
der er das klare deutsche Nein zum Irakkrieg klarge-
macht hat –


(Beifall bei der SPD)

in einer Zeit, in der es von Frau Merkel noch sehr peinli-
che Ergebenheitsadressen gegenüber George Bush gege-
ben hat; aber das nur am Rande.

Wir diskutieren hier über den innenpolitischen Teil,
über die Reformpolitik, die damals begonnen wurde. In
dieser Debatte, an dem, was Frau Kipping und Herr
Linnemann gesagt haben, stört mich vor allen Dingen
eines: die Unfähigkeit zur Differenzierung. Weder eine
rosarote Brille noch eine Verelendungsdebatte helfen uns
weiter, wenn es darum geht, festzustellen: Was hat sich
in den letzten zehn Jahren getan?

Ich bleibe dabei: Wenn man die Agenda 2010, das
Reformprogramm insgesamt, sieht, wenn man zum Bei-
spiel in Erinnerung hat – Frau Kollegin Kipping, Sie ver-
drängen das gern, weil das nicht in Ihr Weltbild passt –,
dass Teil der Agenda 2010 auch ein 4 Milliarden Euro
schweres Ganztagsschulprogramm war,


(Zuruf von der SPD: Genau!)

dass es beispielsweise auch darum ging, die Bundes-
agentur für Arbeit besser aufzustellen – sie ist heute bes-
ser aufgestellt –,


(Beifall der Abg. Anette Kramme [SPD])

wenn man etwas über die Vorgeschichte und die wirt-
schaftliche Situation weiß, in der wir damals waren,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Die Vorgeschichte ist, dass Sie den Wählern vor der Wahl 2002 erzählt haben, das müsse alles nicht sein!)


dann erklärt sich das eine oder andere.





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


Katja Kipping hat darum gebeten – das war die Nach-
richt, die sie gegeben hat –, dass wir einräumen, wo wir
geirrt haben, wo es Fehlentwicklungen gab. Ich komme
gleich dazu.

Aber dem Grunde nach will ich eines ins Gedächtnis
rufen: Wo standen wir 1998? 1998, nach 16 Jahren
Helmut Kohl, hatte sich in der Bundesrepublik Deutsch-
land ein Reformstau aufgebaut.


(Zuruf von der SPD: Genau!)


Tatsache war, dass viele Langzeitarbeitslose, die damals
in der Sozialhilfe waren, den Kommunen sozusagen vor
die Tür gekippt wurden. Die sozialen Sicherungssysteme
waren durch die Beitragsentwicklung, weil die deutsche
Einheit falsch finanziert war, am Rande der Handlungs-
fähigkeit.


(Beifall bei der SPD – Gabriele LösekrugMöller [SPD]: Genau so war es!)


Wir haben dann 1998 angefangen. Wir haben erst ein-
mal versucht, das im guten deutschen System, im Kon-
sens – im Konsens! –, nämlich über ein Bündnis für Ar-
beit mit Gewerkschaften und Wirtschaftsverbänden, zu
machen. Man muss einräumen, dass dieser Versuch nicht
geklappt hat, weil die Interessengegensätze damals – üb-
rigens im Gegensatz zu heute, wo in der Wirtschaftskrise
Kooperation zwischen Wirtschaft und Gewerkschaften
stattfand, wo Sozialpartnerschaft wieder höhere Wert-
schätzung erfährt – zu groß waren. Dieses Bündnis für
Arbeit ist gescheitert, nicht an der Bundesregierung, son-
dern an Interessengegensätzen, die nicht überwindbar
waren. Die Debatte war von Verbandsdenken geprägt.
Können Sie sich an Hans-Olaf Henkel erinnern, der da-
mals durch jede Talkshow lief?

Dann war zu entscheiden, weil sich die Lage damals,
nach dem Platzen der Dotcom-Blase, verschärfte und
wir in Deutschland auf einmal 5 Millionen Arbeitslose
hatten. Deshalb haben wir angefangen.

Jetzt sage ich Ihnen: Aus heutiger Perspektive gibt es
zwei, drei Fehlentwicklungen, die wir dringend korrigie-
ren müssen. Frau von der Leyen, ich habe heute Ihre Äu-
ßerungen gelesen. Ich bin ganz vorsichtig, aber ich kann
mich erinnern, dass Sie 2003 ein anderes Amt hatten. Sie
waren damals frisch gebackene Arbeits- und Sozial-
ministerin in unserem Land, Niedersachsen. Im Übrigen
haben Sie in dieser Funktion damals wesentliche Teile
der Agenda 2010, zum Beispiel das Tagesbetreuungs-
ausbaugesetz, blockiert. Außerdem haben Sie über den
Vermittlungsausschuss mitgeholfen, dass vor allem auch
die Arbeitsmarktgesetzgebung betreffende Punkte in die
Agenda 2010 hineingekommen sind, die sich am Ende
als Fehlentwicklung erwiesen haben.

Wir haben damals beispielsweise gesagt, dass wir die
Zumutbarkeitskriterien auf die Tariflöhne abstellen wol-
len. Im Vermittlungsausschuss saßen damals Frau von
der Leyen, Herr Stoiber, Herr Koch, Herr Wulff und wie
sie alle hießen, die dagegen waren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das meine ich mit den Fehlentwicklungen, die wir
heute haben. Diese Fehlentwicklungen zeigen sich am
Arbeitsmarkt. Wir brauchen eine neue Ordnung am Ar-
beitsmarkt. Aus heutiger Perspektive wäre es 2003 ver-
nünftig gewesen, einen gesetzlichen Mindestlohn ein-
zuführen. Ich will nur darauf hinweisen, dass in der
damaligen Diskussion ein Mindestlohn bis auf die Ge-
werkschaften NGG, Verdi, IG BAU – auch von großen
Industriegewerkschaften – eher abgelehnt wurde.

Mit Verlaub, es waren auch einige Kolleginnen und
Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen dagegen. Kollege
Kurth war damals dafür.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt! Ja!)


Ich war auch dafür. Es gab aber auch andere – um das
einmal freundlich zu formulieren.

Heute wissen wir, wie wichtig der gesetzliche Min-
destlohn in Deutschland ist, damit Menschen, die hart ar-
beiten, von ihrer Arbeit leben können. Seit 2005 erleben
wir aber, dass die Einführung eines gesetzlichen Min-
destlohns, der diesen Namen auch verdient, an CDU/
CSU und FDP in diesem Land scheitert. Das müssen wir
ändern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Schauen wir uns einmal an, welche Fehlentwicklun-
gen es noch gegeben hat. Zur Differenzierung gehört
auch, sich selbstkritisch mit dem auseinanderzusetzen,
was nicht gut gelaufen ist. Dies betrifft den massiven
Missbrauch im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung,
im Bereich der Zeit- und Leiharbeit. Damals ist im Ar-
beitnehmerüberlassungsgesetz ein Schlupfloch entstan-
den, das inzwischen scheunentorweit geöffnet wurde
und das zu Missbrauch geführt hat.

Ich bleibe dabei: Arbeitnehmerüberlassung macht
Sinn, um bei Unternehmen Arbeitsspitzen aufzufangen
und Flexibilität zu schaffen. Daraus geworden ist aller-
dings ein Einfallstor für Lohndrückerei.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb müssen wir dafür sorgen, dass „gleicher Lohn für
gleiche Arbeit“ gilt, dass es Höchstüberlassungsdauern
gibt, dass die Mitbestimmungsrechte in diesem Bereich
gestärkt werden und dass das Synchronisationsverbot
wieder eingeführt wird.

Das sind zwei zentrale Baustellen, an denen Verände-
rungen notwendig sind.

Da Sie jetzt schwadronieren, sage ich Ihnen aber
auch, Frau von der Leyen: In den vergangenen vier Jah-
ren haben Sie ohne unsere Hilfe gar nichts hinbekom-
men. Wir mussten mithelfen, dass es bei der Jobcenter-
reform zu einer Lösung kam. Außerdem mussten wir Sie
bei den Regelsätzen treiben, damit es zu einer Lösung
kam.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Was denn für eine Lösung? Wo ist denn die Lösung?)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


Ich sage Ihnen darüber hinaus ganz deutlich: Die Fragen
des Arbeitsmarktes und der Wirtschaft in Deutschland
der vergangenen zehn Jahre sind nicht die der nächsten
zehn Jahre. Wir haben jetzt eine Entwicklung, die man
als Gefahr eines tief gespaltenen Arbeitsmarkts beschrei-
ben kann. Immer mehr Unternehmen werden aufgrund
der demografischen Entwicklung am Arbeitsmarkt qua-
lifizierte Fachkräfte suchen. Auf der anderen Seite gibt
es nach wie vor viel zu viele langzeitarbeitslose Men-
schen, aber auch Menschen, die sich in prekären Be-
schäftigungsverhältnissen befinden und somit abgehängt
worden sind.

Wir müssen mehr tun für die Vereinbarkeit von Beruf
und Familie.

Frau von der Leyen, wenn Sie sich hier hinstellen und
wortreich erklären, dass Sie in Zeiten der Großen Koali-
tion das, was die SPD durchgesetzt hat, auch umgesetzt
haben, dann sage ich dazu: Das mag stimmen. Aber Sie
gehören nach wie vor einer Regierung an, die übrigens
nicht gegen Ihren Widerstand, sondern mit Ihrer Unter-
stützung – vielleicht gegen Ihre eigene Überzeugung;
das will ich unterstellen – ein idiotisches Betreuungsgeld
ausreicht mit allen Folgen, die das für den Arbeitsmarkt
hat.

Wenn wir das Thema der Fachkräftesicherung ernst
nehmen, dann müssen wir dafür sorgen, dass vor allen
Dingen Frauenerwerbsbeteiligung in Vollzeit in diesem
Land zum Zuge kommt.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Dass Frau Schröder dieses Thema jetzt entdeckt hat,
ist schön. Aber es gilt auch in diesem Fall, Frau von der
Leyen: Nicht reden, sondern handeln. Mit diesem idioti-
schen Betreuungsgeld handeln Sie aber in die falsche
Richtung. Die Mittel dafür brauchen wir, um mehr in
Bildung investieren zu können.

Durch diese Entwicklung stellen sich ganz neue He-
rausforderungen. Mit der Agenda 2010 haben wir – die
Fehler habe ich eingeräumt – dem Grunde nach eine Si-
tuation geschaffen, in der Deutschland in den Jahren
2008 und 2009 besser aufgestellt durch die Krise gekom-
men ist als andere Volkswirtschaften, die heute unter un-
gemein schwierigeren Bedingungen Strukturreformen
vor sich haben.

Nur, meine Damen und Herren von der Koalition, ei-
nes vergessen Sie, wenn Sie heute wortreich von Struk-
turreformen in anderen Ländern reden, abgesehen da-
von, dass Sie selbst noch gar keine hinbekommen haben:
Unsere Strukturreformen waren keine Kürzungspro-
gramme. Unsere Strukturreformen waren an Investitio-
nen gekoppelt. Ich habe auf 4 Milliarden Euro für das
Ganztagsschulprogramm hingewiesen. Wenn man Struk-
turreformen macht, ist es notwendig, dass gleichzeitig
investiert wird. Diesen volkswirtschaftlichen Zusam-
menhang haben Sie nicht gelernt.

Meine Damen und Herren von der Linkspartei, ich
weiß, dass Sie das nicht einsehen werden. Dennoch
werde ich Ihnen das noch einmal deutlich machen: Wenn
wir damals nicht gehandelt hätten und in den Jahren

2008 und 2009 die Krise ohne diese Reformen erlebt
hätten, dann wäre kein Geld für veränderte Regelungen
zur Kurzarbeit da gewesen, die dazu beigetragen haben,
Beschäftigung in Deutschland zu sichern. Dann wären
uns die sozialen Sicherungssysteme in Deutschland um
die Ohren geflogen. Wir haben damals gesagt: Wir müs-
sen selbst modernisieren, oder wir werden überrannt. –
Das ist der Grund, meine Damen und Herren. Es ist kein
Grund, stolz zu sein, und wir feiern es auch nicht, weil
viele Menschen es persönlich als Härte erlebt haben und
es Fehlentwicklungen gegeben hat; das gehört auch zur
Wahrheit. Natürlich hat meine Partei dafür einen bitteren
Preis gezahlt: Wir haben über diese Auseinandersetzung
Wahlen verloren.

Wir haben aber in den letzten vier Jahren die Zeit ge-
nutzt, um unsere Fehler aufzuarbeiten und uns nach
vorne auszurichten. Deshalb sage ich: Es geht nicht
mehr um die Agenda 2010. Jetzt geht es um die Frage,
wie es in Deutschland weitergeht. Da stehen wir Sozial-
demokraten für einen klaren Grundsatz: Für uns sind
wirtschaftlicher Erfolg und soziale Gerechtigkeit zwei
Seiten derselben Medaille.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722816500

Vielen Dank, Herr Kollege Hubertus Heil. – Nächster

Redner für die Fraktion der FDP ist unser Kollege
Dr. Heinrich Kolb. Bitte schön, Kollege Dr. Kolb.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1722816600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Kollege Heil, Ihre Rede hat noch einmal sehr an-
schaulich deutlich gemacht, wie schwer sich Sozialde-
mokraten immer noch mit dem Thema Agenda 2010 tun,


(Widerspruch bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


auch wenn Sie sich hier sehr nachdenklich gegeben ha-
ben. Ich will Ihnen einmal sagen, woran das liegt. Ihr
Parteivorsitzender, Sigmar Gabriel, wird in diesen Tagen
mit Sätzen wie diesen zitiert:

Wir können sehr stolz auf die Agenda 2010 sein. …

Ich habe schon immer darauf hingewiesen, dass die
Agenda 2010 eine große historische Leistung ist,
von der wir heute profitieren.

Das sagt Sigmar Gabriel, der bei der Agenda 2010 als
Abrissunternehmer unterwegs ist


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Sie sind niveaulos, Herr Kolb!)


und bei diesem nach Ihrer Aussage so großen Reform-
werk wirklich keinen Stein auf dem anderen lassen will.
Wissen Sie, Herr Hubertus Heil, einer, der so agiert,
kommt mir vor wie ein Vater, der feiertags gerne den





Dr. Heinrich L. Kolb


(A) (C)



(D)(B)


stolzen Papa geben will und werktags nicht müde wird,
zu betonen, wie dumm und hässlich doch das Kind ist.
So einer ist unglaubwürdig, und genau das ist auch das
Problem der SPD; das muss man hier sehr deutlich sa-
gen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich will einen zweiten Punkt anführen. Frank-Walter
Steinmeier bezeichnet die Agenda 2010 als „das wohl
tiefgreifendste und erfolgreichste … Reformprogramm
in der Geschichte der Bundesrepublik“.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ja! Absolut!)


Dem ist zu widersprechen, Herr Heil.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Was haben Sie denn schon für Reformen auf den Weg gebracht in Ihrem Leben? Ein Klientelprogramm haben Sie gemacht, Herr Kolb! Das ist richtig!)


Der wesentlichste und umfangreichste Reformanstoß in
der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland wurde
vor mehr als 30 Jahren mit dem damaligen Lambsdorff-
Papier gegeben. Das war wirklich ein Reformprogramm,
das weit über das hinausging, was damals Standard in
der deutschen Politik gewesen ist. Es hat mit einer
wachstums- und leistungsfördernden Haushaltspolitik,
mit investitionsfördernden Steuermaßnahmen, mit einer
Konsolidierung der sozialen Sicherung


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Deswegen sind Sie 1998 auch abgewählt worden!)


sowie beschäftigungsfördernden sozial- und arbeits-
marktpolitischen Ansätzen und vor allen Dingen einer
Politik für Marktwirtschaft, Wettbewerb und wirtschaft-
licher Selbstständigkeit einen Rahmen aufgezeigt, der
wirklich nach vorne wies.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das waren die bräsigen Jahre von Helmut Kohl, die Sie gerade abjubeln!)


Zu Recht hat Otto Graf Lambsdorff damals gesagt – ich
zitiere –:

Diese Überlegungen gehen über den konventionel-
len Rahmen der bisher als durchsetzbar angesehe-
nen Politik hinaus. … Die Entwicklung der Arbeits-
losigkeit gebietet es aber, dass die Politik für die
Wirtschaft einen neuen Anfang setzt …

Das, meine Damen und Herren, sagte damals Otto Graf
Lambsdorff.

So ähnlich ging es auch Ihnen. Bei Lichte besehen, ist
die Agenda 2010 nichts anderes als das Ende einer gro-
ßen Wahllüge. Rot-Grün hat nämlich damals in der ers-
ten Wahlperiode seiner Regierungszeit alle Reformen,
die zuvor die Regierung Kohl/Kinkel auf den Weg ge-
bracht hatte, zurückgedreht,


(Dr. Florian Toncar [FDP]: So war’s!)


um dann nach einiger Zeit feststellen zu müssen, dass
Sie mit Ihrer verfehlten Politik voll gegen die Wand lau-
fen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben dann – der
Not gehorchend, nicht dem Triebe – einen radikalen
Kurswechsel in Ihrer Politik vornehmen müssen.

Das ist die Wahrheit, die man zehn Jahre nach der
Agenda 2010 einmal in diesem Haus sagen muss.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das hat nichts mit Wahrheit zu tun! Das ist Propaganda!)


Mehr war in drei Minuten nicht möglich; aber ich denke,
es war erforderlich, dass es hier einmal kundgetan
wurde.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722816700

Vielen Dank, Kollege Dr. Kolb. – Nächster Redner

für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser Kol-
lege Markus Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722816800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist doch immer wieder interessant, zu sehen, wie Debat-
ten um die Agenda 2010 zwischen Überhöhung auf der
einen Seite und tiefer Dämonisierung auf der anderen
Seite pendeln, wenn man einmal die Rede von Hubertus
Heil ausdrücklich ausnimmt. Ich glaube, wir müssen ein-
mal mit ein paar Mythen aufräumen: Das war weder ein
Masterplan aus einem Guss zum Abbau des Sozialstaats
noch ein Erlösungsprogramm zur Stärkung der Wett-
bewerbsfähigkeit, zu dem man sich fortwährend beken-
nen müsste. Wir müssen einfach nüchtern auf die ganze
Sache blicken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Anton Schaaf [SPD])


Übrigens umfassten die Veränderungen der Sozialge-
setze in den Jahren 2002 bis 2004 auch weitaus mehr als
die unglücklich unter dem Schlagwort „Hartz IV“ be-
kannt gewordene Zusammenlegung der Arbeitslosen-
und Sozialhilfe.

Was war die Ausgangslage? Im Abschwung 2002/2003
traten einerseits die strukturellen Schwächen im System
der sozialen Sicherung stärker zutage. Gleichzeitig wur-
den auch die Verteilungskämpfe härter; Hubertus Heil
hat es angesprochen. Von Arbeitgeberseite bzw. den An-
teilseignern der Unternehmen wurde die Auseinander-
setzung sehr aggressiv geführt, da ja ihre Gewinne
sanken. Es war also keine einfache Ausgangslage für
Reformen.

Zwei Beispiele. Einerseits war offensichtlich, dass
das Nebeneinander von Sozialhilfe und Arbeitslosen-
hilfe zu Verschiebebahnhöfen zulasten der Betroffenen





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


geführt hatte, andererseits war ebenso offensichtlich
– das war auch uns Grünen immer klar –, dass bei einem
Reformprozess der Zusammenlegung die Kräfte Mor-
genluft wittern würden, die faktisch nur eine Abschaf-
fung der Arbeitslosenhilfe wollten.

Oder Bereich Gesundheit. Es war klar, dass zum Bei-
spiel die Entwicklung der Arzneimittelkosten aus dem
Ruder läuft, dass zahlreiche teure Medikamente ungeöff-
net einfach im Müll landeten und dass es dringend einer
externen Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitskontrolle im
Gesundheitswesen bedurfte.

Auch aus unserer Sicht bestand natürlich stets das Ri-
siko, dass diejenigen einen notwendigen Reformprozess
kapern, die nichts als eine einseitige Lastenverschiebung
zuungunsten der Versicherten und der Arbeitnehmerbei-
träge wollten. Das könnte man jetzt auch noch durchde-
klinieren. Aber hätte man angesichts des Zeitgeistes und
auch des – ich nenne es einmal so – neoliberalen Trom-
melfeuers, das dort veranstaltet wurde, von vornherein
auf Veränderungen verzichten und nur in der Defensive
verharren sollen?

Wir haben uns durchaus für ein Risiko entschieden,
und wir haben auch einiges erreicht: im Gesundheitsbe-
reich zum Beispiel das Institut für Qualität und Wirt-
schaftlichkeit im Gesundheitswesen. Wir haben Patien-
tenbeteiligung in dem sogenannten Gemeinsamen
Bundesausschuss, den Nachhaltigkeitsfaktor in der ge-
setzlichen Rentenversicherung und nicht zuletzt die
Strukturentscheidung für die Zusammenlegung von Ar-
beitslosen- und Sozialhilfe mit dem Ziel einer einheit-
lichen Grundsicherung mit einer Unterstützungsinfra-
struktur erreicht.

Aber wir sind natürlich in Situationen geraten, in de-
nen wir – das erkennen wir klar an – auch Fehler ge-
macht haben, und wir sind in Situationen geraten, in de-
nen wir uns gegen – man muss es schon so hart sagen –
reaktionäre Kräfte auch nicht durchsetzen konnten. Die
Praxisgebühr, die Sie wieder abgeschafft haben, haben
wir etwa Horst Seehofer zu verdanken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir haben den Niedriglohnsektor der unseligen Rolle
zu verdanken, die Roland Koch im Vermittlungsaus-
schuss gespielt hat.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722816900

Gestatten Sie eine Zwischenfrage des Kollegen

Dr. Kolb?


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722817000

Ja, gerne.


Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1722817100

Herr Kollege Kurth, Sie sagen ja, dass Sie sich gegen

reaktionäre Kräfte nicht durchsetzen konnten. Mich inte-
ressiert in diesem Zusammenhang, dass der Kollege

Trittin vor wenigen Tagen gesagt hat, dass die Grünen
damals einen Mindestlohn bei der Zeitarbeit wollten,
aber die SPD das verhindert hätte. Kann man das unter
diesen Begriff auch subsumieren?


(Heiterkeit bei der FDP und der CDU/CSU – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Die reaktionären Kräfte! – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Gute Frage zumindest!)



Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722817200

Es gab eine lebhafte Debatte um die Zumutbarkeits-

regelung. Daran erinnern Sie sich vielleicht noch.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ja, aber der Mindestlohn Zeitarbeit und die SPD!)


– Nein, es ging ja allgemein um den Mindestlohn.


(Anette Kramme [SPD]: Herr Kurth, kann es sein, dass das ausweichend ist und dass das Erinnerungsvermögen von Herrn Trittin nicht ganz so gut ist?)


– Seien Sie doch bitte still, Frau Kramme.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722817300

Wenn immer nur einer reden würde, könnten wir zu-

hören.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722817400

Es ging im Sommer 2003 um die Frage: Ist wirklich

jeder Job zumutbar oder eben nur derjenige, der entwe-
der nach Tariflohn bezahlt wird oder, wenn kein Tarif-
lohn da ist, nach ortsüblichem Lohnniveau? Rot-Grün
hat sich dafür entschieden, den Tariflohn oder das orts-
übliche Lohnniveau zum Maßstab zu machen. Das war
der Stand Sommer 2003. Dann ist dieses Gesetz in den
Vermittlungsausschuss gekommen. Dort ist diese Rege-
lung wieder gestrichen worden, und zwar auf Betreiben
von Roland Koch und auch auf Betreiben der FDP-Ver-
treter, die dort waren.


(Dr. Florian Toncar [FDP]: Vielleicht hat Herr Trittin da gefehlt!)


Da ich mir dachte, dass Sie die Frage stellen würden,
habe ich extra die Financial Times Deutschland vom
18. Dezember 2003, vom Vortag der Verabschiedung der
sogenannten Hartz-IV-Gesetze, mitgenommen. Lesen
Sie die Überschrift selbst: „Grüne verlangen Zusagen für
Mindestlöhne“.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Die SPD hat es verhindert! Interessant!)


Da wird ein gewisser Markus Kurth zitiert.

In der Tat ist es so – Herr Heil hat es angesprochen –:
Es gab natürlich auch bei den Sozialdemokraten und teil-
weise auch bei den Grünen Leute, die das damals anders
gesehen bzw. nicht anerkannt haben, die in dieser Frage
auf die IG Metall bzw. andere große Industriegewerk-
schaften gehört haben. Die haben aber sehr schnell er-
kannt – nachdem ein, zwei Jahre später absehbar war,





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


wie der Niedriglohnsektor wächst –, dass man dagegen-
halten muss.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722817500

Herr Kollege Kurth, gestatten Sie auch eine Zwi-

schenfrage des Kollegen Hubertus Heil?


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722817600

Ja.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722817700

Bitte schön, Kollege Hubertus Heil.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722817800

Lieber Markus Kurth, ich frage, weil wir versuchen

wollen, den Kollegen Kolb gemeinsam aufzuklären.


(Zurufe von Abgeordneten der SPD und der LINKEN: Oh!)


– Ich sagte ja „versuchen“. Man soll es nie aufgeben. Im
Himmel ist mehr Freude über einen reuigen Sünder als
über 99 Gerechte, habe ich als ordentlicher evangeli-
scher Christ einmal gelernt.

Tatsächlich ging es damals nicht um die Zeitarbeit,
Herr Kollege Kolb.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1722817900

Sie wollten eine Frage stellen.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722818000

Entschuldigung, ich glaube, nach der Geschäftsord-

nung darf man auch eine Bemerkung machen, Herr Prä-
sident.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Aber nicht mit dem Präsidenten schimpfen!)


Aber ich kann sie in Frageform kleiden.

Gehe ich recht in der Annahme, Herr Kollege Kurth,
dass damals drei Einzelgewerkschaften, nämlich NGG,
Verdi und IG BAU, für den Mindestlohn waren – die
großen Industriegewerkschaften noch nicht –, mittler-
weile aber die Gewerkschaften in ihrer Gesamtheit für
den gesetzlichen Mindestlohn sind – und wir auch –, und
dass es schon damals einzelne Abgeordnete wie den
Kollegen Kurth und den Kollegen Heil gab, die für einen
Mindestlohn waren – Olaf Scholz und ein paar andere
übrigens auch –, aber dass beispielsweise Krista Sager
– ich sage das, um Jürgen Trittin ein bisschen daran zu
erinnern – nicht dazugehörte? Ist es nicht eine gute Sa-
che, dass wir gemeinsam relativ schnell gelernt haben,
dass der gesetzliche Mindestlohn in diesem Land not-
wendig ist, und ist es nicht eigentlich ein Drama, dass
die FDP das bis heute nicht begriffen hat?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Jetzt gibt es schon Stützfragen!)



Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722818100

Kollege Heil, nach meiner Erinnerung ist es so gewe-

sen – ich habe, wie gesagt, alte Zeitungen ausgegraben –,
dass damals noch nicht einmal die IG BAU für einen
Mindestlohn war. Dafür waren damals wirklich nur die
Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten als eine sehr
kleine und mit Organisationsproblemen behaftete Ge-
werkschaft und Verdi. Das hatte seinen Grund. Die ande-
ren Gewerkschaften haben allesamt gesagt: Der Tarif-
lohn ist aus unserer Sicht besser als der Mindestlohn. Sie
haben noch nicht gesehen, wie die Kombination mit der
Flexibilisierung der Zeitarbeit im Zusammenhang mit
der veränderten Zumutbarkeitsgrenze wirken würde.

Natürlich gab es damals auch Politiker wie Herrn
Ludwig Stiegler – das ist der mit dem roten Pullunder –,
die eine Zustimmung zu einem gesetzlichen Mindest-
lohn ablehnten. In der Tat gab es auch grüne Politiker,
die an dieser Stelle mehr als skeptisch waren. Das gehört
mit zur historischen Wahrheit.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Richtig!)


Es gehört auch zur historischen Wahrheit, dass Folge-
probleme, zum Beispiel die Zahl der Aufstocker, teil-
weise sehenden Auges vom damals verantwortlichen
Minister, dem Darth Vader der Agenda 2010, Wolfgang
Clement, in Kauf genommen wurden. Die entscheidende
Frage aber ist, ob man, wenn man erkennt, dass eine Sa-
che in die falsche Richtung läuft, rechtzeitig die Kraft
und den Mut hat, gegenzusteuern, oder ob man wider
besseres Wissen im Alten verharrt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722818200

Herr Kurth, es gibt den Wunsch nach einer weiteren

Zwischenfrage, und zwar von der Kollegin Kipping.
Möchten Sie diese auch zulassen?


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722818300

Ich muss ja das ganze Spektrum zum Zuge kommen

lassen. – Bitte schön.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722818400

Frau Kipping, bitte.


Katja Kipping (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722818500

Werter Kollege Kurth, ich möchte von der Möglich-

keit, eine Zwischenbemerkung zu machen, Gebrauch
machen.

Die Aufarbeitung der Vergangenheit erinnert ein biss-
chen an ein Schwarzer-Peter-Spiel. Man hat das Gefühl:
So richtig will es niemand gewesen sein. Ich kann nur
sagen: Meine Partei war schon damals geschlossen der
Meinung, dass es eines Mindestlohns bedarf und dass
Leiharbeit ein Problem ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Es freut uns sehr, dass sich diese Erkenntnis jetzt aus-
weitet. Das zeigt ja, dass links wirkt.





Katja Kipping


(A) (C)



(D)(B)


Da nun immer wieder die historische Wahrheit be-
müht wird und alte Zitate herausgekramt werden,
möchte ich an ein Zitat aus der Zeit vom 13. November
2003 erinnern. Darin hat Herr Steinbrück seine Position
zur sozialen Gerechtigkeit deutlich gemacht. Ich finde
sie bemerkenswert und glaube, die SPD ist gefragt, deut-
lich zu machen, ob sie immer noch dieser Auffassung ist.
In der Zeit hat Herr Steinbrück gesagt:

Soziale Gerechtigkeit muss künftig heißen, eine
Politik für jene zu machen, die etwas für die Zu-
kunft unseres Landes tun … die Leistung für sich
und unsere Gesellschaft erbringen.

Jetzt kommt es:

Um die – und nur um sie – muss sich Politik küm-
mern.

Das ist eine Absage an soziale Gerechtigkeit für Men-
schen, die man nicht als Leistungsträger einordnen kann.
Das ist ein klassisches Steinbrück-Zitat, nachzulesen in
der Zeit. Ich finde, auch diese Form einer Absage an so-
ziale Gerechtigkeit gehört zur historischen Wahrheit.


(Beifall bei der LINKEN)



Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722818600

Frau Kipping, ich kann irgendwie nicht so richtig er-

kennen, wo jetzt im Kern die Frage an mich persönlich
war. Ich weiß nicht, was ich mit dem Zitat von Herrn
Steinbrück aus dem Jahr 2003 an dieser Stelle anfangen
soll.


(Katja Kipping [DIE LINKE]: Herr Kurth, es handelte sich um eine Zwischenbemerkung! Sie wissen, dass das nach der Geschäftsordnung möglich ist!)


Nach meinem Verständnis jedenfalls streben wir mehr-
heitlich eine Politik an, die sich an diejenigen, die im Ar-
beitsleben stehen, und an diejenigen, die außen vor sind,
gleichermaßen richtet. Da wir gerade bei der geschichtli-
chen Aufarbeitung sind: Man muss sagen, dass damals
diejenigen, die vom System ausgeschlossen waren, häu-
fig nicht die Aufmerksamkeit bekommen haben, die sie
hätten bekommen sollen. Damals gab es eine Struktur
mit Sozialhilfe und Arbeitslosenhilfe, die verhindert hat,
dass die Sozialhilfeempfänger auf die Regelförderinstru-
mente zugreifen konnten. Auch meine Fraktion wollte,
dass stärker gefördert wird und dass diese Menschen
eine Teilhabemöglichkeit haben. Diese Debatte – das
gebe ich zu – war damals umstritten und sehr vielfältig.

Zum Schluss meines Beitrags möchte ich nach vorne
blicken. Wir möchten den 1,1 Millionen Menschen Teil-
habemöglichkeiten eröffnen, die seit Einführung des
SGB II dauerhaft im Leistungsbezug sind. Diese Regie-
rung hat die Fördermittel mit dem Verweis darauf ge-
kürzt, dass die Zahl der Langzeitarbeitslosen leicht sinkt.
Sie sehen aber nicht, dass diejenigen, die dauerhaft
Arbeitslosengeld II beziehen, eine viel intensivere und
langfristigere Förderung benötigen. Wenn wir das schaf-
fen und wenn wir außerdem vernünftige Garantieele-
mente in die Altersversorgung einführen, um die Konse-
quenzen der Agenda 2010 abzufedern, wenn wir soziale

Bürgerrechte, Mitspracherechte und die Rechtsposition
stärken – die Prozesskostenhilfe ist angesprochen wor-
den –, dann kommen wir zu einem sozialen Fundament,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


das für dieses Land auch in Zukunft eine wirtschaftliche
Entwicklung ermöglicht.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722818700

Zu einer Kurzintervention gebe ich dem Kollegen

Heil das Wort.


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1722818800

Herr Kollege Kurth, ich fühle mich von dem, was Sie

gesagt haben, angesprochen. Ich weiß, dass Sie jemand
waren und sind, der mit seinen Überzeugungen für so-
ziale Gerechtigkeit kämpft. Das kann man unterschied-
lich machen; aber das Bemühen darum sollte man sich
nicht absprechen lassen. Ich will auch der Linkspartei
nicht absprechen, dass Idealismus dahintersteckt, Dinge
zu verbessern. Die spannende Frage ist, ob das mit den
geeigneten Instrumenten geschieht.

Ich kann aber nicht akzeptieren, Herr Kollege Kurth,
dass Sie mit Zitaten konfrontiert werden, die aus dem
Zusammenhang gerissen sind, und die Fragestellerin, die
nicht einmal stehen geblieben ist, damit Sie auf ihre Be-
merkung antworten können, eines nicht weiß – das kann
Sie vielleicht auch gar nicht wissen, weil ein gewisser
Herr Lafontaine 1998 noch Mitglied einer anderen Partei
war –: Es geht hier nicht nur um Idealismus, sondern ein
Stück weit um Heuchelei.

Ich habe es in der Rede eines gewissen Oskar
Lafontaine auf dem Parteitag 1998 – damals war er Mit-
glied meiner Partei – nach der Regierungsübernahme
durch Rot-Grün nachgelesen. Damals hat dieser Mann
nicht nur die Zusammenlegung von Arbeitslosen- und
Sozialhilfe gefordert, sondern ausweislich des Protokolls
dafür plädiert, die Arbeitslosenversicherung, also das
Arbeitslosgengeld I, auf Bedarfsorientierung und Steuer-
finanzierung umzustellen.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Hört! Hört!)


Frau Kollegin Kipping, Sie haben sich da einen ins Nest
geholt, der nicht Hartz IV wollte, sondern Hartz VIII.
Davon will er heute nichts mehr wissen. Aber auch das
gehört zur historischen Wahrheit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722818900

Herr Kurth verzichtet auf eine Reaktion. – Deshalb

gebe ich jetzt dem Kollegen Paul Lehrieder für die CDU/
CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1722819000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Geburtstag und Jubiläum sind Anlass
zum Feiern und zum Zurückschauen, aber auch Anlass,
nach vorne zu schauen. Ich danke meinem Kollegen
Kurth ausdrücklich, dass er gesagt hat: Rückblick – zehn
Jahre SGB II, zehn Jahre Hartz IV, zehn Jahre Sozial-
reform 2010 – ist das eine. Das andere ist: Wie geht es
weiter? – Lieber Kollege Kurth, im Ausschuss arbeiten
wir dauernd daran, zu korrigieren und nachzusteuern.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie verschlimmern leider alles nur!)


– Das verschlimmert nichts. Nur wenn Sie sich ein-
mischen, verschlimmert es sich.

Ich muss aber einiges richtigstellen, Herr Kollege
Heil. – Wenn der rot-rote Dialog beendet ist, kann ich
fortfahren.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722819100

Ich habe den Eindruck, Herr Kollege Heil, dass Sie

vom Redner angesprochen werden sollen. Er legt Wert
darauf, dass Sie ihm zuhören. Vielleicht können Sie sich
nachher mit Frau Kipping verabreden.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Danke schön!)



Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1722819200

Herr Kollege Heil, herzlichen Dank, für Ihre ge-

schätzte Aufmerksamkeit. Dies ist ja nicht selbstver-
ständlich.

Herr Kollege Heil, Sie haben gerade die legendäre
Rede des damaligen Kanzlers Gerhard Schröder am
14. März 2003 erwähnt. Es ist aber durchaus geboten,
nicht nur zehn, sondern auch elf Jahre zurückzuschauen.
Im Bundestagswahlkampf 2002 hat Ihre Partei der Be-
völkerung vorgegaukelt, es ginge alles so weiter, Sie hät-
ten alles im Griff, Sie bräuchten keine Reformen. Nach
der Wahl kam dann die Wahrheit ans Licht: Wir müssen
gegensteuern. – Das war richtig. Deshalb hat die Union
im Bundesrat der Agenda 2010 zugestimmt.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verschärft! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Verschlimmert haben Sie es!)


– Nein, nicht verschlimmert; wir haben sie verbessert,
das ist unstrittig.

Lieber Kollege Heil, wenn Sie mit dem Thema „so-
ziale Gerechtigkeit“ in den Wahlkampf ziehen, dann
denken Sie bitte auch an die Mittelständler und an die
Bezieher kleiner und mittlerer Einkommen, wenn wir
über den Abbau der kalten Progression in Bezug auf die
Steuerbelastung diskutieren. Wir haben im Bundesrat an
der Agenda 2010 konstruktiv mitgewirkt. Wenn Sie sich
in ähnlicher Weise in der Lage sehen würden, die Blo-
ckade im Bundesrat in Bezug auf den Abbau der steuer-
lichen Belastung für die Bezieher kleiner und mittlerer
Einkommen zu beenden, dann wäre ich Ihnen sehr dank-
bar.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Ich auch!)


Stattdessen, sehr geehrter Herr Heil, schelten Sie
abermals das Betreuungsgeld. Sie haben es als „idioti-
sches Betreuungsgeld“ bezeichnet; aber dadurch wird
die Situation nicht besser. Wenn Sie die Geburtenzahl in
unserem Land, die für die Entwicklung unserer sozialen
Sicherungssysteme elementar wichtig ist, verbessern
wollen, dann sollten wir gemeinsam überlegen, welche
Angebote wir den jungen Menschen machen können.
Wir haben auf der einen Seite die Krippenbetreuung,
sollten aber auf der anderen Seite die häusliche Betreu-
ung nicht verteufeln. Darum geht es, um nicht mehr und
nicht weniger. Wenn es uns nicht gemeinsam gelingt, die
Geburtenquote zu erhöhen,


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das erhöht nicht die Geburtenquote! Eine Gebärprämie bräuchten wir!)


dann werden sich die Probleme unserer sozialen Siche-
rungssysteme durch die von Ihnen angesprochene demo-
grafische Entwicklung verschärfen.

Der zehnte Jahrestag der Agenda 2010 bietet nicht
nur Gelegenheit, zurückzublicken, sondern auch die
Möglichkeit, nach vorne zu schauen. Herr Heil, bevor
man andere soziale Projekte verteufelt, sollte man sich
etwas zurückhalten und erst einmal über die eigenen
Fehler nachdenken.

Wir haben gemeinsam in der Großen Koalition be-
schlossen, 4 Milliarden Euro in den Krippenausbau zu
stecken. Im letzten Jahr haben wir entschieden, für die
weißen Flecken beim Krippenausbau in den diesjährigen
Haushalt noch einmal 580,5 Millionen Euro einzustel-
len. Wir geben zusätzlich Mittel für den Krippenausbau
aus, ohne das Betreuungsgeld zu vernachlässigen. Es
wird beides gemacht, Herr Heil, nicht alternativ, sondern
kumulativ. Nehmen Sie das bitte zur Kenntnis!

Frau Kipping, Sie haben angesprochen, dass die Ren-
ten in den letzten Jahren gesunken sind. Sie sind aber
nicht wegen der Agenda 2010 gesunken, sondern auf-
grund der Bevölkerungsentwicklung – das wissen Sie so
gut wie ich –; denn die Anzahl der Beitragszahler be-
dingt ein Stück weit das Rentenniveau, und die demo-
grafischen Faktoren mussten bei der Rentenberechnung
Berücksichtigung finden. Auch deswegen habe ich eben
den Schwenk auf das Betreuungsgeld gemacht. Ich
finde, dass wir gemeinsam daran arbeiten sollten, dass
die deutsche Bevölkerung mehr Mut zu Kindern hat.

Die Entwicklung am deutschen Arbeitsmarkt im ver-
gangenen Jahr – einige Vorredner haben bereits darauf
hingewiesen – kann sich durchaus sehen lassen. Über
41,5 Millionen gehen einer Beschäftigung nach, so viel
wie noch nie zuvor in Deutschland. Andere Regierungen
würden sich die Finger danach lecken, nur halb so gute
Ergebnisse zu erzielen. Die Zahl der Erwerbslosen ist
mit durchschnittlich 2,89 Millionen auf dem niedrigsten
Stand seit 20 Jahren. Ganz ohne Regierungshandeln sind
diese Ergebnisse nicht zu erreichen gewesen. Blickt man
über die Grenzen hinaus, so stellt man fest, dass





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


Deutschland im europäischen Vergleich, insbesondere
was die Jugendarbeitslosigkeit anbelangt, mit Abstand
am besten dasteht.

Herr Kollege Linnemann hat bereits auf die duale
Ausbildung in Deutschland hingewiesen. Ich will nicht
verhehlen, dass wir die Maßnahmen ergriffen haben, mit
denen wir mit der vor vier Jahren begonnenen Weltwirt-
schaftskrise richtig umgehen konnten. Die richtigen Ent-
scheidungen wurden damals auch von den Arbeitsminis-
tern der Großen Koalition getroffen: die Verlängerung
der Bezugsdauer des Kurzarbeitergeldes, die Bildung
von Rücklagen in der Kasse der Bundesagentur für Ar-
beit, die jetzt sukzessive wieder aufgebaut werden. Ne-
ben der dualen Ausbildung verdient ein weiterer Export-
schlager die Aufmerksamkeit anderer Länder: das
Kurzarbeitergeld.


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wenn ich nicht klatsche, klatscht niemand!)


– Meine Truppe darf auch klatschen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lachen der Abg. Iris Gleicke [SPD])


Einige Länder Südeuropas werden sich die
Agenda 2010 genauer anschauen müssen; denn ohne
eine Sozialreform wird es in einigen verschuldeten Län-
dern sicher nicht gehen. Wir können noch so viel Geld
nach Griechenland, Portugal, Italien oder Spanien über-
weisen: Wenn die notwendigen Reformen dort nicht
ernsthaft angegangen werden, die vor zehn Jahren auch
für Deutschland schmerzhaft waren, dann wird es in die-
sen Ländern kaum zu einer Lösung kommen. Die Be-
schäftigungsquote wird sich kaum erhöhen. Wir hatten
das Glück, dass wir vor zehn Jahren – das Inkrafttreten
erfolgte am 1. Januar 2005 – zu einem relativ frühen
Zeitpunkt die stellenweise schmerzhafte Agenda-2010-
Reform angegangen sind. Dafür gebührt den damals Be-
teiligten im Bundesrat, aber auch in der damaligen Bun-
desregierung durchaus Lob. Ich glaube, das war der rich-
tige Weg.

Wir sollten schauen, wie es weitergeht. Sie haben
Missstände im Bereich der Leiharbeit – Equal Pay und
Lohnuntergrenze – angesprochen. Die christlich-liberale
Koalition arbeitet mit Hochdruck daran, diese noch vor-
handenen geringen Fehler auszumerzen. Wir werden
diese Arbeit mit Ihrer Unterstützung nach dem 22. Sep-
tember 2013 selbstverständlich gerne fortsetzen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722819300

Jetzt hat Johannes Vogel das Wort für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Johannes Vogel (FDP):
Rede ID: ID1722819400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch wenn der Kollege Kolb eben zu Recht darauf hin-
gewiesen hat, dass Teile der Agenda 2010 nur Korrektu-
ren Ihrer Rücknahmen von Reformen aus der Regie-
rungszeit vor 2002 waren, ist unbestritten, dass die
Agenda 2010 genauso wie die Politik der jetzigen christ-
lich-liberalen Koalition ein Baustein dafür ist, dass es
Deutschland jetzt so gut geht und die Perspektiven auf
dem Arbeitsmarkt für die Menschen so gut aussehen. Ich
glaube, niemand kann das bestreiten.

Interessanter ist aber die Frage – das kam in den diffe-
renzierten Betrachtungen des Kollegen Kurth und des
lieben Kollegen Hubertus Heil nicht so richtig durch –,
ob sich die rot-grüne Opposition zu diesen Reformen
überhaupt noch bekennt.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Na klar! – Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Aber doch wohl eindeutig!)


Das kann ich nicht erkennen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Doch!)


Schauen wir uns doch einmal an, wie Sie auftreten und
was Sie fordern. Wie stünde Deutschland da, wenn wir
tun würden, was Sie fordern? „Rente auf zwei Säulen
und Rente mit 67 wollen wir nicht mehr“, ist die Be-
schlusslage der SPD.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Schön wär’s!)


Minijobs halten Sie heute für Teufelszeug. Fördern und
Fordern? Das wollen Sie nicht mehr, entnehme ich der
aktuellen Positionierung der Kolleginnen und Kollegen
von den Grünen. Zeitarbeit? Da wollen Sie das deutsche
Modell direkt killen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Equal Pay!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wenn wir
tun würden, was Sie heute fordern, und all Ihre Refor-
men rückabwickeln würden, dann würde es auf dem
deutschen Arbeitsmarkt schlechter aussehen. Deshalb
tun wir das nicht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch ein Zerrbild!)


Behaupten Sie doch nicht, es ginge um die Korrektur
kleinerer Fehlentwicklungen, um Korrekturen aufgrund
kleinerer Missbrauchsfälle. Das machen wir schon sehr
gut.


(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Das ist ja unglaublich!)


Wenn es darum geht, die Finanzlage der Kommunen im
Blick zu behalten – Übernahme der Kosten der Grund-
sicherung im Alter – oder wirkliche Auswüchse bei der
Zeitarbeit zu korrigieren, arbeitet diese Koalition sehr
gut. Nein, das, was Sie betreiben, ist eine Generalabkehr
von Ihrer eigenen Reform.





Johannes Vogel (Lüdenscheid)



(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, das
sollte eigentlich nicht meine Sorge sein, aber ich sage es
trotzdem: Sie tun Ihrem Kanzlerkandidaten, um dessen
Glaubwürdigkeit es geht, keinen Gefallen, und das
wissen Sie ganz genau.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In tiefer Sorge!)


Ein Zitat von Peer Steinbrück, Deutscher Bundestag,
2005:

Die Agenda 2010 hat einen Reformprozess in Gang
gesetzt, von dem ich finde, dass er Anerkennung
verdient …


(Beifall des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Bei den Jusos sagte er 2006, das sei kein Sozialabbau,
sondern ein Sozialaufbau. Das sei mit Zahlen belegbar.
Diese Äußerungen, die richtig sind, passen in keinster
Weise zu Ihrer eigenen Politik, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD. Deshalb sind Sie bei diesem
Thema nicht glaubwürdig. Die glaubwürdige Fortset-
zung einer vernünftigen Reformpolitik betreibt diese
Koalition.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: „Spätrömische Dekadenz“! Von wem ist dieses Zitat noch einmal?)


Das sollte nicht meine Sorge sein. Das Problem ist
aber, dass Sie so sehr mit Vergangenheitsbewältigung
beschäftigt sind, dass Sie so sehr damit beschäftigt sind,
Ihren Frieden mit dem zu machen, was Sie für dieses
Land einmal erreicht haben – andere Leute müssen ihren
Frieden mit Fehlern machen; Sie müssen Ihren Frieden
mit dem machen, was Sie für das Land einmal erreicht
haben; das war auch in dieser Debatte wieder spürbar –,
dass Sie sich leider überhaupt nicht auf die Zukunftshe-
rausforderungen konzentrieren. Es geht darum, mehr
Chancengerechtigkeit zu schaffen, wofür wir durch den
Ausbau der Qualifikationsmöglichkeiten sorgen. Es geht
darum, endlich die Dekaden der Staatsverschuldung zu
beenden, wie wir es tun. Das zeigt ein Blick auf den
Bundeshaushalt – gestern vorgelegt –: Er ist erstmals
strukturell ausgeglichen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Energiewende vergurken!)


Es geht auch darum, endlich ein modernes Einwande-
rungssystem zu schaffen, damit Deutschland auch in
zehn Jahren noch gut dasteht. Zu diesem Zweck haben
wir beispielsweise die Bluecard eingeführt. Diesen Auf-
gaben widmet sich die Koalition. Sie leisten diesbezüg-
lich leider keinen Beitrag. Deutschland wäre sicherlich
damit geholfen, wenn Sie die Beschäftigung mit der Ver-
gangenheit beendigen könnten. Für dieses Wahljahr soll
uns das ganz recht sein.

Vielen Dank, liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist die schlechteste Rede, die Sie je gehalten haben!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722819500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Vorlage auf
Drucksache 17/12683 an die Ausschüsse zu überweisen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie of-
fensichtlich einverstanden. Dann verfahren wir so.

Wir kommen jetzt zu Tagesordnungspunkt 7:

a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur Stärkung der Rechte von Op-
fern sexuellen Missbrauchs (StORMG)


– Drucksache 17/6261 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Christine Lambrecht, Olaf Scholz,
Bärbel Bas, weiteren Abgeordneten und der
Fraktion der SPD eingebrachten Entwurfs ei-
nes Gesetzes zur Verlängerung der straf-
und zivilrechtlichen Verjährungsvorschrif-
ten bei sexuellem Missbrauch von Kindern
und minderjährigen Schutzbefohlenen

– Drucksache 17/3646 –

– Zweite und dritte Beratung des von den Abge-
ordneten Ingrid Hönlinger, Ekin Deligöz,
Volker Beck (Köln), weiteren Abgeordneten
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Verlängerung der zivilrechtlichen Ver-
jährungsfristen sowie zur Ausweitung der
Hemmungsregelungen bei Verletzungen der
sexuellen Selbstbestimmung im Zivil- und
Strafrecht

– Drucksache 17/5774 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/12735 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Sonja Steffen
Marco Buschmann
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Aktionsplan 2011 der Bundesregierung zum
Schutz von Kindern und Jugendlichen vor
sexueller Gewalt und Ausbeutung

– Drucksache 17/7233 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss 
Sportausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Gesundheit 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Tourismus





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundes-
regierung

Abschlussbericht des Runden Tisches „Sexuel-
ler Kindesmissbrauch in Abhängigkeits- und
Machtverhältnissen in privaten und öffentli-
chen Einrichtungen und im familiären Be-
reich“

– Drucksache 17/8117 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss 
Sportausschuss 
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Gesundheit 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für Tourismus

Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der
SPD zu ihrem Gesetzentwurf vor.

Es ist verabredet, eine halbe Stunde zu debattieren. –
Ich höre dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Marco Buschmann für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1722819600

Verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die schrecklichen Verletzungen der Seele, die
sexueller Missbrauch bei Kindern und Jugendlichen im-
mer hinterlässt, heilen nie. Wir waren alle erschüttert, als
wir im Jahr 2010 erfahren mussten, in welchem Umfang
solcher Missbrauch in unserem Land möglich war und
ist. Deshalb war es richtig und gut, dass sich die Politik
gemeinsam mit dem Runden Tisch der Frage angenom-
men hat, wie wir den Opfern helfen können.

Über einen Teil der Hilfe, die wir anbieten wollen, de-
battieren wir heute während der zweiten und dritten Be-
ratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der
Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Es soll den
Opfern eine Brücke bieten, um Hindernisse auf dem
Weg zu ihrem Recht zu überwinden. Zwar kann niemand
die erlittenen Verbrechen ungeschehen machen; aber der
Zugang zum Recht soll den Opfern nicht unnötig
schwerfallen.

Schon der ursprüngliche Gesetzentwurf der Bundes-
regierung enthielt dazu sehr gute Beiträge. So sollen
etwa durch Bild- und Tonaufzeichnungen Mehrfachver-
nehmungen vermieden werden. Ich denke, jeder kann
nachfühlen, dass erneute Vernehmungen eine ungeheure
Belastung darstellen würden, weil die Opfer gezwungen
wären, die traumatisierenden Erlebnisse in ihrer Erinne-
rung immer und immer wieder zu durchleben. Wir wol-
len weiter eine Verbesserung bei der Bestellung eines
Rechtsbeistandes für volljährig gewordene Opfer. Die
Verjährungsfrist für zivilrechtliche Ansprüche der Opfer
soll auf 30 Jahre verlängert werden.

Diesen Entwurf hat die Koalition im Laufe des Ver-
fahrens im Rechtsausschuss weiter verbessert. Wir ha-

ben die Möglichkeit erleichtert, bei der Vernehmung
nicht nur minderjähriger, sondern auch volljähriger
Opfer sexueller Gewalt die Öffentlichkeit der Hauptver-
handlung einzuschränken. Ein solcher Schritt muss si-
cherlich gut abgewogen sein, weil die Öffentlichkeit der
Hauptverhandlung für einen transparenten und demokra-
tischen Rechtsstaat ohne Zweifel ein hohes Gut ist. Wer
aber würde nicht auf Anhieb verstehen, dass wir auch
gute Gründe dafür gehabt haben; denn es ist eine mas-
sive Belastung des Opfers, sich nicht nur erneut mit den
schrecklichen Erlebnissen auseinanderzusetzen, son-
dern das auch noch vor Publikum zu tun, und damit dann
gegebenenfalls auch in medial aufbereiteter Form immer
wieder konfrontiert zu werden.

Wir haben in der Tat am längsten über die strafrechtli-
che Verjährung diskutiert; das hat einen Großteil der Be-
ratungen ausgemacht. Dabei haben wir uns in der Koali-
tion von unterschiedlichen Perspektiven ausgehend dem
gleichen Ziel, nämlich dem Ziel des Opferschutzes, ge-
nähert. Die einen sagen, dass eine möglichst lange Ver-
jährungsfrist bzw. eine möglichst lange Dauer der Hem-
mung im Sinne der Opfer sei. Sie hätten dann viel Zeit,
um ein Strafverfahren zu initiieren. Das ist die eine Per-
spektive. Es gibt aber noch eine andere für den Opfer-
schutz ebenso wichtige Position, die von vielen Justiz-
praktikern vertreten wird. Danach muss bedacht werden,
dass man den Opfern damit möglicherweise Steine statt
Brot gibt. Zwar verspricht eine lange Verjährungsdauer
scheinbar späte Sühne des Täters und ein Stück weit Ge-
nugtuung des Opfers. Die gerichtliche Praxis aber zeigt,
dass die Wahrscheinlichkeit einer Verurteilung des Tä-
ters abnimmt, je länger die Tat zurückliegt; denn je mehr
Zeit vergangen ist, desto größer sind die Beweisschwie-
rigkeiten. Hier gilt dann im Strafverfahren: im Zweifel
für den Angeklagten. Eine solche Situation dürfte,
glaube ich, für die Opfer die schlimmste sein, nämlich
sich in einem Strafverfahren wiederzufinden, an dessen
Ende aus Mangel an Beweisen ein Freispruch des Täters
steht, wobei sich das Opfer dann möglicherweise auch
noch der öffentlichen Anfeindung, die Unwahrheit ge-
sagt zu haben, ausgesetzt sieht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Was das seelisch bei einem Opfer auslöst, vermag ich
mir nicht vorzustellen.

Wir haben uns in Abwägung all dieser Aspekte für
eine maßvolle Änderung des Verjährungsrechts entschie-
den, nämlich für eine Hemmung der Verjährung bis zum
21. Lebensjahr. Diese Altersgrenze stellt auch rechtssys-
tematisch den richtigen Schritt dar; denn sie passt in
unser Strafrechtssystem – hier endet auch der Anwen-
dungsbereich des Jugendstrafrechts –, und sie verhält
sich parallel zu der Regelung in § 208 BGB, in dem es
um die Hemmung der Verjährung für zivilrechtliche An-
sprüche aus sexuellem Missbrauch geht.

Ich glaube, dass der vorliegende Gesetzentwurf ein
guter Schritt ist, um den Opfern sexuellen Missbrauchs
auf dem Weg zu ihrem Recht entgegenzukommen, um
ihnen Steine aus dem Weg zu räumen. Dies kann aber
nur ein erster Schritt sein. Der nächste Schritt muss sein,
dass wir den Hilfsfonds für die Opfer sexuellen Kindes-





Marco Buschmann


(A) (C)



(D)(B)


missbrauchs möglichst schnell aktivieren und ihn ausrei-
chend finanzieren. Der Bund ist hier mit seiner Zusage
von 50 Millionen Euro quasi in Vorleistung gegangen.
Wir sollten fraktionsübergreifend alle unsere Möglich-
keiten nutzen, um dafür zu sorgen, dass die Länder den
Opfern nicht länger das schuldig bleiben, was sie ihnen
versprochen und bereits zugesagt haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn die Opfer haben kein Verständnis für politische
Farbenspiele oder Blockaden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722819700

Jetzt hat Sonja Steffen das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1722819800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nicht viele
Themen sind in der Öffentlichkeit in den letzten drei
Jahren so intensiv diskutiert worden wie der Umgang
mit dem sexuellen Missbrauch von Kindern und Jugend-
lichen. Im März 2010 wurde bekannt, dass Kinder und
Jugendliche in zahlreichen Einrichtungen über Jahre hin-
weg Opfer sexueller Gewalt geworden sind: in kirchli-
chen Einrichtungen, Internaten, Kinderheimen und
Krankenhäusern. Es geht um Zehntausende Fälle, zum
Teil aus den 60er- und 70er-Jahren.

Viele Betroffene fanden jahrzehntelang nicht den
Mut, über den Missbrauch zu sprechen. Das ganze
Leben über sind die Folgen für die misshandelten Men-
schen furchtbar. Sie entwickeln oft Selbstwertprobleme,
Bindungsstörungen oder Störungen im Umgang mit dem
eigenen Körper. Folgeerkrankungen sind Ängste, De-
pressionen, Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten
oder Zwänge. Ganz oft stellt sich erst während einer
Therapie heraus, dass Missbrauch die Ursache ist. Die
Opfer verdrängen das Geschehen häufig komplett, sie
spalten es regelrecht ab und erkennen auch nicht den Zu-
sammenhang zu den späteren Symptomen. Erst ein spä-
teres Erlebnis lässt die Erinnerungen wieder wach wer-
den. Das kann der erste Freund oder die Geburt des
ersten Kindes sein. In einem Fall, von dem ich gelesen
habe, war es sogar die Geburt der Enkeltochter.

Der Täter hingegen hat ein großes Interesse daran,
dass der Missbrauch nicht aufgedeckt wird. Kinder wer-
den eingeschüchtert, erpresst oder bedroht, um sie zum
Schweigen zu bringen. Das Kind merkt, dass irgendet-
was nicht in Ordnung ist. In ihm entsteht dann oft das
Gefühl: Ich bin daran schuld. – Das führt dazu, dass es
darüber nicht reden kann. Missbrauchsopfer fühlen sich
oft schmutzig, und ihr Selbstwertgefühl ist schwer be-
einträchtigt. Da sie sich selbst verachten, glauben sie,
dass auch Außenstehende sie verachten.

Nach dem ersten Bekanntwerden der Missbrauchs-
fälle in den Heimen, die zum Teil zeitlich sehr weit zu-
rückreichen, hat die Bundesregierung etwas sehr Kluges
gemacht: Sie hat den Runden Tisch mit Vertretern von
Opferverbänden, mit Psychologen, mit Experten aus der
Kinder- und Jugendarbeit und mit Verantwortlichen aus
der Politik einberufen. Eine Hotline wurde eingerichtet,
und innerhalb kürzester Zeit meldeten sich dort mehr als
20 000 Betroffene. Das Ziel des Runden Tisches war
hoch gesteckt. In der Gesellschaft sollte sich etwas än-
dern. Opfer sollten eine Stimme bekommen, und ihnen
sollte geholfen werden.

Der Abschlussbericht des Runden Tisches, 245 Seiten
schwer, enthält eine lange Liste und eine sehr gute Liste
von Ideen, wie Missbrauchsopfern besser geholfen wer-
den kann. Nun haben nach der Vorlage des Berichtes die
Regierung und auch die Oppositionsfraktionen an der
Umsetzung und Konkretisierung einzelner Vorhaben ge-
arbeitet. Ein wichtiger Punkt des Gesetzentwurfes sollte
sein: verbesserter Opferschutz und längere Verjährungs-
fristen für Sexualstraftaten. Der Entwurf eines Gesetzes
zur Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Miss-
brauchs, StORMG, wird heute in der zweiten und dritten
Lesung beraten und steht gleich zur Abstimmung.

Ich muss Ihnen sagen: Ich finde es sehr schade, dass
wir bei einem gesellschaftlich so wichtigen Thema keinen
fraktionsübergreifenden Konsens finden konnten.


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Sie können ja zustimmen!)


Deshalb werden wir uns bei der Abstimmung über den
Gesetzentwurf der Bundesregierung auch enthalten.


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Stimmen Sie doch zu!)


Wir haben uns nämlich leider nicht einigen können, wie
weit die Verjährungsfrist bei sexuellem Missbrauch an-
gehoben werden soll.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Richtig!)


Wir haben uns auch nicht einigen können, wann die Ver-
jährung von Straftaten beginnen soll. Ich will das kurz
erläutern.

Unser Recht unterscheidet, wie die meisten von Ihnen
wissen, zwischen der strafrechtlichen Verjährungsfrist
und der zivilrechtlichen Verjährungsfrist. Im Strafrecht
verjährt der sexuelle Missbrauch von Kindern derzeit be-
reits nach zehn Jahren. Der sexuelle Missbrauch von
minderjährigen Schutzbefohlenen – genau das sind die
bekannt gewordenen Fälle in den Einrichtungen – ver-
jährt sogar schon nach fünf Jahren. Nach der bisherigen
Rechtslage ruht im Strafrecht die Verjährung bis zur
Vollendung des 18. Lebensjahres. Damit sollte ursprüng-
lich dem Umstand Rechnung getragen werden, dass die
Abhängigkeitsverhältnisse ja erst ab 18 Jahren enden.

Ich habe schon darauf hingewiesen: Die vielen Miss-
brauchsfälle der 60er-, 70er- und 80er-Jahre in den Hei-
men und Einrichtungen belegen, dass in Kinderjahren
missbrauchte Opfer so massiv traumatisiert sind, dass sie
erst als Erwachsene und erst Jahrzehnte nach der Tat in





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen. Hier, Herr
Kollege Buschmann, hat sich die Regierungskoalition
leider nur auf eine minimale Änderung verständigen
können. Das Ruhen der strafrechtlichen Verjährungsfrist
soll nur um drei Jahre, bis zur Vollendung des 21. Le-
bensjahres des Opfers, verlängert werden. Das hilft den
Opfern aus unserer Sicht nicht wirklich weiter – der Ge-
setzentwurf bietet aus unserer Sicht keine Brücke für die
Opfer –; denn das heißt: Auch zukünftig verjähren
Sexualstraftaten an Schutzbefohlenen bereits mit Voll-
endung des 26. Lebensjahres.

Der Gesetzentwurf der SPD-Fraktion verlangt daher,
dass die Verjährung erst mit Vollendung des 30. Lebens-
jahres beginnt. Darüber hinaus fordern wir, dass die
strafrechtliche Verjährungsfrist bei sexuellem Miss-
brauch von Kindern und minderjährigen Schutzbefohle-
nen auf 20 Jahre erhöht wird. Nur so können wir errei-
chen, dass die Opfer auch in späteren Jahren noch gegen
die Täter vorgehen können. Das Strafrecht hat neben vie-
len anderen Funktionen auch eine Genugtuungsfunktion.
Dieser werden wir gerecht, wenn wir jedem Menschen
zumindest die Zeit lassen, die er braucht, bis er das Be-
wusstwerden und/oder den Mut findet, gegen die Täter
vorzugehen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde, Herr Buschmann, wir müssen das den Opfern
überlassen. Wir dürfen nicht vorweg entscheiden, insbe-
sondere nicht über die Wahrscheinlichkeit einer Verur-
teilung, auch wenn Jahre dazwischenliegen. Das müssen
wir den Opfern überlassen. Das ist deren Entscheidung.
Es darf nicht unsere sein.

Was das Zivilrecht betrifft – das will ich noch kurz er-
wähnen –, verhält sich der vorliegende Gesetzentwurf
wesentlich großzügiger; das begrüßen wir. Hier soll im
Gegensatz zur strafrechtlichen Verjährungsfrist die Frist
von drei Jahren auf 30 Jahre erhöht werden. Das ist ein
gewaltiger Sprung von 27 Jahren. Also hat ein Opfer zu-
künftig in allen Fällen die Möglichkeit, sogar noch im
Alter von über 50 Jahren zivilrechtlich gegen einen Tä-
ter vorzugehen, der das Opfer im Kindesalter misshan-
delt hat. Dies ist im Grundsatz zu begrüßen.

Aber sinnvoll ist diese Lösung aus unserer Sicht nur,
wenn auch die strafrechtliche Verjährungsfrist auf min-
destens 20 Jahre erhöht wird; denn einem Opfer ist allein
mit dem Zivilrecht in aller Regel nicht geholfen. Ein Op-
fer verlangt berechtigterweise nach Gerechtigkeit und
auch nach Genugtuung. Die strafrechtlichen Institutio-
nen – das wissen wir – helfen ihm hier. Die Ermittlungs-
behörden gehen seinem Tatvorwurf nach. Oft ist der Be-
schuldigte gar nicht ausfindig zu machen. Hier helfen
Polizei und Staatsanwälte. Sie führen die Vernehmungen
durch; denn es gilt der Amtsermittlungsgrundsatz.

Ein weiterer wichtiger Punkt, den wir im Rechtsaus-
schuss besprochen haben – der Vorsitzende des Rechts-
ausschusses hat darauf hingewiesen –: Das sogenannte
Adhäsionsverfahren ermöglicht es dem Opfer, zivil-
rechtliche Ansprüche, die aus einer Straftat erwachsen,
statt in einem eigenen Verfahren unmittelbar im Straf-

prozess geltend zu machen. Das ist für die Opfer eine
ganz große Hilfe. Dieses Mittel steht aber nur zur Verfü-
gung, wenn die Verjährung im Strafrecht noch nicht er-
folgt ist.

Nach dem Gesetzentwurf der Regierungskoalition
können strafrechtlich verjährte Taten nur noch isoliert
– zivilrechtlich – verfolgt werden. Das Opfer ist dann
völlig auf sich gestellt; denn es gilt der Beibringungs-
grundsatz, demzufolge das Opfer alle relevanten Tatsachen
allein vorbringen muss. Dies ist ohne Unterstützung der
Strafverfolgungsbehörden fast nie zu erreichen, wenn
dazwischen beispielsweise ein Zeitraum von dreißig Jah-
ren liegt. Daher hilft eine Verlängerung der zivilrecht-
lichen Verjährungsfrist allein den Opfern nicht weiter.

Der Vorsitzende des Rechtsausschusses, Herr Kauder,
hat in der letzten Sitzung des Ausschusses etwas gesagt,
was mich sehr berührt hat. Er hat gesagt: Sexueller Miss-
brauch an Kindern ist Mord an der Seele des Kindes. –
Er hat recht.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722819900

Sie kommen bitte zum Ende, Frau Kollegin.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1722820000

Ja. – Ich kann daher nur an Sie alle hier appellieren:

Folgen Sie dem Gesetzentwurf der SPD und verlängern
Sie die strafrechtlichen Verjährungsfristen! Nur so hel-
fen wir den Opfern, die Gerechtigkeit zu finden, die sie
verdienen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722820100

Der Kollege Ansgar Heveling hat jetzt das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1722820200

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Zum Zeitpunkt von Thorstens Anruf hatten wir mit
dem Puzzle … erst begonnen. Von manchen wur-
den bis dahin die Puzzleteilchen nicht als solche er-
kannt, weil sie die Erlebnisse verdrängt hatten oder
nicht zuordnen konnten … Einige erkannten sie und
wussten auch, wohin damit. Die wurden vom
Schulgelände gejagt oder in Gesprächen von den
Verantwortlichen belogen, beschwichtigt und be-
droht. Rechtsanwälte rieten ihnen ab, die Täter an-
zuzeigen, Therapeuten wiesen auf die Risiken der
Retraumatisierung hin, die gerichtliche Auseinan-
dersetzungen zwangsläufig mit sich bringen würden.
Und so schlummerten die Puzzleteilchen verstreut
in den Erinnerungen der einzelnen Beteiligten vor
sich hin und stifteten im schlimmsten Falle als ein-
gekapselte Traumata ihr Unheil. Ich bin weit davon





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


entfernt, alle Puzzleteilchen zu sehen, aber das Bild
ist klar erkennbar. Das Bild des Horrors.

Diese Passage aus dem Prolog zu dem Buch Wie laut
soll ich denn noch schreien? über den sexuellen Miss-
brauch von Schülern in der Odenwaldschule, das
Andreas Huckele unter dem Pseudonym „Jürgen Dehmers“
2011 publizierte und für das er im November 2012 in
München mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeich-
net wurde, schildert in erschreckender Eindrücklichkeit,
welche Mechanismen über Jahrzehnte mit dazu beigetra-
gen haben, dass sexuelle Gewalt in den unterschiedlichs-
ten Institutionen und Einrichtungen ungeahndet und un-
gesühnt stattfinden konnte.

Der zitierte Abschnitt offenbart gleichzeitig das Di-
lemma des Gesetzgebers: Offenbar haben die geltenden
Strafvorschriften – es gibt im materiellen Strafrecht ge-
nügend Vorschriften – nicht verhindert, dass es eine so
große Zahl von Opfern insbesondere in Institutionen und
Einrichtungen gab. Was also kann der Gesetzgeber noch
tun, was muss er noch tun?

Wir als CDU/CSU-Fraktion sehen in dem vorliegen-
den Gesetzentwurf einen guten ersten Schritt, konkrete
Schlussfolgerungen aus den Beratungen und Beschlüs-
sen und Berichten des Runden Tisches „Sexueller Kin-
desmissbrauch“ zu ziehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Er ist ein Anfang auf einem guten Weg, entschieden ge-
gen sexuellen Missbrauch von Kindern vorzugehen und
die Rechte von Opfern zu stärken.

Zunächst – das ist besonders wichtig – sieht der Ge-
setzentwurf Möglichkeiten vor, Mehrfachvernehmungen
zu vermeiden. Gerade minderjährige Opfer sexuellen
Missbrauchs können es als äußerst belastend und qual-
voll empfinden, wenn sie eine emotional und oft auch in-
tellektuell anstrengende Aussage in der ungewohnten
Umgebung eines Strafverfahrens mehrmals machen und
möglicherweise in größeren zeitlichen Abständen wie-
derholen müssen.

Im Weiteren stärken wir die Verfahrens- und Informa-
tionsrechte von Verletzten in Strafverfahren. Dazu gehö-
ren Veränderungen bei der Gewährung eines kostenlosen
anwaltlichen Beistandes für die Verletzten. Bisher be-
steht der Anspruch auf einen solchen Opferanwalt für
Verletzte, die zum Zeitpunkt der Antragstellung minder-
jährig sind. Zukünftig soll es richtigerweise auf den Tat-
zeitpunkt ankommen.

Daneben werden stärkere Informationsrechte für die
Opfer konstituiert. Es ist vorgesehen, dass bei der Abwä-
gung der Entscheidung über den Ausschluss der Öffent-
lichkeit die besonderen Belastungen, die für Kinder und
Jugendliche damit verbunden sein können, besonders zu
berücksichtigen sind.

Schließlich soll im Zivilrecht die Verjährungsfrist für
Schadenersatzansprüche, die auf der vorsätzlichen Ver-
letzung des Lebens, des Körpers, der Gesundheit, der
Freiheit oder der sexuellen Selbstbestimmung beruhen,
auf 30 Jahre verlängert werden. Die Regelverjährung
nach drei Jahren hat sich für die wirksame Durchsetzung

von Schadenersatzansprüchen in vielen Fällen als zu
kurz erwiesen.

Alle diese Schritte sind gut und wichtig. Daher ist es
richtig, dass wir heute ein Gesetz mit diesen wichtigen
Regelungen beschließen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich will aber auch nicht verschweigen, dass der Ge-
setzentwurf hinsichtlich der strafrechtlichen Verjährung
auch hinter unseren Erwartungen zurückbleibt. Wir als
CDU/CSU-Fraktion bedauern es durchaus, dass wir uns
bei der schwierigen Abwägung, auf die Herr Kollege
Buschmann aufmerksam gemacht hat – wir haben lange
miteinander gerungen –, nicht darauf einigen konnten,
die Verjährungsfristen zu verlängern. Immerhin ist es
aber zu einer verlängerten Hemmung der Verjährung ge-
kommen, und zwar bis zum 21. statt wie bisher bis zum
18. Lebensjahr. Das ist zumindest schon ein erster
Schritt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, selbst wenn wir al-
les gesetzlich regeln: Das Dilemma des Gesetzgebers
bleibt weiter bestehen. Strukturen des Missbrauchs kann
man nicht alleine durch Strafvorschriften beseitigen. Wir
brauchen eine breite gesellschaftliche Debatte darüber,
dass gerade der sexuelle Missbrauch von Kindern in Ab-
hängigkeits- und Machtverhältnissen besonders verach-
tenswert ist, gleichgültig ob er in privaten oder öffent-
lichen Einrichtungen oder etwa in der Familie geschieht.

Wir reden viel von der Kultur des Hinschauens. Wir
müssen dann aber auch alle wissen, wo hingeschaut wer-
den muss. Um es mit Andreas Huckele, den ich eingangs
schon zitiert habe, zu sagen:

Solange die Kriterien, an denen ich misshandelte
Kinder erkennen kann, nicht Allgemeinwissen sind,
solange ich Strukturen in Einrichtungen, in denen
sich Kinder aufhalten, nicht beurteilen kann, so
lange ist „Hinschauen“ zwar gut gemeint, aber
nicht wirkungsvoll.

Wir beschließen heute ein gutes Gesetz zur Stärkung
der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs. Darüber
hinaus braucht es aber mehr, um sexuellen Missbrauch
von Kindern wirksam zu bekämpfen. Das aber kann der
Gesetzgeber nicht alleine leisten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722820300

Die Kollegin Dr. Rosemarie Hein hat jetzt das Wort

für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Rosemarie Hein (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722820400

Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Ein Sprichwort sagt: Was lange währt, wird end-
lich gut. Es hat zwar lange gedauert, bis es jetzt zu der





Dr. Rosemarie Hein


(A) (C)



(D)(B)


Beschlussfassung zu diesem Gesetzentwurf kommt, aber
damit ist noch lange nicht alles gut.

Vor nunmehr drei Jahren ging ein Entsetzen durch die
bundesdeutsche Öffentlichkeit, als bekannt wurde, dass
in manch renommierter Bildungseinrichtung Kinder und
Jugendliche mit sexuellen Übergriffen konfrontiert wa-
ren. Dass dies so lange unentdeckt und ungesühnt blei-
ben konnte, war für viele fast überhaupt nicht begreifbar.

Danach kamen jede Woche neue Entdeckungen ans
Licht. Das geschah auch dank einer medialen Ermuti-
gungskampagne, über die oft Jahrzehnte zurückliegen-
den traumatischen Erfahrungen zu sprechen und die Ver-
brechen anzuzeigen. Das hat die Betroffenen auch
Jahrzehnte danach noch viel Mut gekostet.

Sie alle haben gehofft, dass nun ihr Leid nicht nur ins
öffentliche Bewusstsein rückt, sondern dass ihnen so
viele Jahre danach auch Gerechtigkeit wiederfährt, dass
sie Hilfe finden, das Durchlebte zu verarbeiten, sofern
das überhaupt geht, und dass die Schuldigen zur Verant-
wortung gezogen werden. Es war aber schon sehr bald
klar, dass es heute – das gilt auch für die Zukunft – für
die Verfolgung solcher Straftaten ebenso wie für den
Versuch der Wiedergutmachung und noch mehr für die
Verhinderung sexualisierter Gewalt gegen Kinder und
Jugendliche eigentlich zu wenige gesellschaftlich wirk-
same Instrumentarien gibt.

Der Runde Tisch hat seinen Abschlussbericht vor
über einem Jahr vorgelegt, in dem er eine Fülle von De-
fiziten aufzeigt und Empfehlungen gibt, von denen bis-
lang aber kaum etwas abgearbeitet ist. Das hat auch der
Runde Tisch bei seiner Beratung am 20. Februar dieses
Jahres feststellen müssen.

Und es ist schon bezeichnend, dass wir erst heute über
diesen Abschlussbericht im Bundestag reden, ein Jahr
danach. Zwar beschließen wir heute endlich ein Gesetz
über die Verlängerung der Verjährungsfristen und über
die Stärkung der Opferrechte, aber viel zu lange hat der
Bund mit den Ländern über die Beteiligung an dem in
Aussicht gestellten Hilfsfonds für Betroffene gestritten.
Dabei ist Vertrauen verloren gegangen.

Nun nehmen wir zur Kenntnis, dass die Mittel des
Bundes zügig eingesetzt werden sollen und mit klaren
Richtlinien für eine entsprechende Antragstellung unter-
setzt werden. Das ist gut so. Doch noch immer gibt es
außer vollmundigen Ankündigungen kein ausreichendes
Netz von Beratungsstellen, die von sexualisierter Gewalt
betroffene Kinder aufsuchen können, die aber auch Er-
ziehenden bei Verdachtsfällen Beratung und Hilfe ge-
ben. Noch immer gibt es keine verlässliche Finanzierung
solcher Beratung, hangeln wir uns von einem Modell-
projekt zum anderen, deren Fortsetzung ungewiss ist.

Was mich als Bildungspolitikerin ganz besonders be-
troffen macht, sind die offensichtlichen Defizite in der
Forschung zu diesem Thema. Wo aber nicht geforscht
wird, können keine wirksamen präventiven Strategien
entwickelt werden, können Lehrende und Erziehende
zum Beispiel keine Hilfen erhalten, können sie nicht hin-
reichend sensibilisiert werden. Auch die vom Runden
Tisch entwickelten Leitlinien und auch die Reaktion der

Kultusministerkonferenz darauf können ja nur der An-
fang sein.

Hilfreich wäre es aus unserer Sicht zum Beispiel,
Schulsozialarbeit an allen Schulen zu sichern.


(Beifall bei der LINKEN)


Es wäre hilfreich, eine gute und verlässliche, gut er-
reichbare schulpsychologische Beratung in den Schulen
zu sichern. Das ist wichtig für Kinder, für Eltern und für
Lehrende. Aber Schulsozialarbeit gibt es längst nicht an
allen Schulen, und dass Schulpsychologen an allen
Ecken und Enden fehlen, wissen wir seit langem. Für
viele dieser möglichen Hilfen fehlt eine verlässliche und
dauerhafte Finanzierung und fehlt teilweise auch eine
gesetzliche Verankerung im Kinder- und Jugendhilfe-
recht.

Wenn das so weitergeht, droht der Runde Tisch zur
Alibi-Veranstaltung zu werden. Wir haben die Pflicht,
das zu verhindern. Die heutige Beschlussfassung darf
niemandem zur Beruhigung dienen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich wünsche mir darum, dass der Runde Tisch in je-
dem Jahr zusammenkommt und so lange den Finger in
die Wunde legt, bis die übertragenen Aufgaben abgear-
beitet sind. Das sind wir den Betroffenen schuldig, und
diese Schuld ist noch lange nicht abgetragen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sonja Steffen [SPD])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722820500

Ingrid Hönlinger hat jetzt für Bündnis 90/Die Grünen

das Wort.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722820600

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir sprechen heute über ein Thema, das eine juristische
Seite hat. Es hat aber auch eine zutiefst menschliche, tra-
gische Seite, und das Thema hat in seinen langfristigen
Auswirkungen eine nicht absehbare Wirkung.

Wir alle sind betroffen von dem, was Tausenden von
Kindern und Jugendlichen angetan worden ist, was sie
ertragen und erleiden mussten, nicht für einen Tag oder
eine Woche, nein, oftmals über viele Monate und Jahre
hinweg. Mein Mitgefühl gilt diesen Menschen, die für
die psychische und physische Verarbeitung des erlittenen
Missbrauchs oft ein Leben lang brauchen. Vor diesem
Hintergrund steht meine heutige Rede.

Die Grundfrage lautet: Wie können wir Recht und
Gerechtigkeit möglichst nah zusammenbringen?

Wir Grünen begrüßen es, dass die Bundesregierung
und die Regierungskoalition nun endlich Regelungen zur
Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs
voranbringen. Fast zwei Jahre lang mussten die Opfer
und auch wir darauf warten. Das ist eine zu lange Zeit,
wenn man bedenkt, dass an jedem Tag bis zum Inkraft-





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


treten des Gesetzes Ansprüche der Opfer verjähren kön-
nen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Immerhin haben Sie von der Koalition sich während
dieser Zeit in einem Punkt zu einer wesentlichen Verbes-
serung durchgerungen, die auch im Gesetzentwurf von
Bündnis 90/Die Grünen enthalten ist. Die Verbesserung
besagt, dass die Verjährung für die zivilrechtlichen An-
sprüche der Opfer nicht schon direkt nach der Tat begin-
nen soll, unabhängig davon, ob das Opfer zu diesem
Zeitpunkt noch ein Kind oder schon ein Erwachsener ist,
sondern die Verjährung soll erst im Erwachsenenalter
des Opfers beginnen, und auch der strafrechtliche Ver-
jährungsbeginn soll hinausgeschoben werden. Die Frage
bleibt aber: Wann soll die Verjährung tatsächlich begin-
nen?

Wir alle wissen, dass selbst junge Erwachsene häufig
emotional noch nicht in der Lage sind, ihre Ansprüche
wegen solcher Taten geltend zu machen. Wir Grünen
schlagen deshalb in unserem Gesetzentwurf vor, dass die
Verjährungsfrist im Zivil- und im Strafrecht erst mit der
Vollendung des 25. Lebensjahres des Opfers beginnen
soll. Zusätzlich wollen wir die zivilrechtliche Verjäh-
rungsfrist bei sexuellem Missbrauch auf 30 Jahre verlän-
gern. Das trägt den Erkenntnissen aus den Missbrauchs-
fällen besser Rechnung als der Verjährungsbeginn mit
der Vollendung des 21. Lebensjahres des Opfers, wie es
im Gesetzentwurf der Regierungskoalition vorgesehen
ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ihr Gesetzentwurf enthält aber auch Vorschläge, die
massiv in die Prinzipien des Rechtsstaats eingreifen,
ohne die Opfer in ihren Rechten tatsächlich zu stärken.
Es hilft keinem Betroffenen, wenn dem Strafverfahren
gegen den Täter mit juristischen Spitzfindigkeiten der
Makel des unfairen Verfahrens angehängt wird.

Nennen will ich die Fälle, in denen einem mutmaßli-
chen Straftäter wegen der Schwere seiner Tat zwingend
ein Anwalt beigeordnet werden muss. Wird eine richter-
liche Zeugenvernehmung durchgeführt, bei der der Be-
schuldigte oder sein Anwalt nicht anwesend waren, kön-
nen sie sich in diese Vernehmung nicht mit Fragen
einbringen. Wiederholt das Gericht die Zeugenverneh-
mung in der Hauptverhandlung nicht, sondern spielt sie
nur per Video vor, kann der Angeklagte seine Verteidi-
gungsrechte nicht ausreichend wahrnehmen. Hier be-
steht aus unserer Sicht Nachbesserungsbedarf.

Uns Grünen ist aber auch klar, dass die Menschen, die
von sexuellem Missbrauch betroffen sind, jetzt die recht-
liche Möglichkeit brauchen, die Verjährung ihrer An-
sprüche zu vermeiden und die Täter zur Verantwortung
zu ziehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen jetzt ein klares Signal dafür setzen, dass se-
xueller Missbrauch kein Kavaliersdelikt ist, sondern ein
Angriff auf die Würde und persönliche Integrität der da-
von Betroffenen. Aus Sicht der Betroffenen ist jetzt
Rechtssicherheit geboten.

Der Gesetzesvorlage können wir Grünen aus rechtli-
chen Gründen nicht zustimmen. Wir werden uns bei der
Abstimmung enthalten.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722820700

Michaela Noll hat jetzt das Wort für die Fraktion der

CDU/CSU.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Michaela Tadjadod (CDU):
Rede ID: ID1722820800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir alle haben in relativ ruhigem Ton gespro-
chen. Ich hätte mir einfach ein bisschen mehr Freude ge-
wünscht, weil wir heute ein gutes Signal für mehr Opfer-
schutz gegeben haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ob durch den Runden Tisch oder durch das Gesetz,
das wir heute hier verabschieden wollen: Es ist ein deut-
liches Signal an die Opfer, an die Betroffenen, dass wir
verstanden haben, dass wir uns kümmern müssen. Kol-
lege Buschmann hatte das Risiko mit den Verjährungs-
fristen angesprochen. Ich bin ganz ehrlich: An dieser
Stelle hätte auch ich mir etwas anderes gewünscht. Ich
bin Mitglied beim Weißen Ring. Wir wissen, wie
schwierig es gerade im Strafrecht mit den Beweisen ist,
wenn die Tat 10 oder 20 Jahre zurückliegt und vielleicht
das Opfer dazu befragt wird und keine entsprechenden
Auskünfte geben kann. Diese Verunsicherung sehe ich.

Ich glaube zwar, dass wir die Verjährungsfristen an-
ders hätten regeln können, aber ich beziehe mich auf die
Ergebnisse vom Runden Tisch, an dem auch Betroffene
teilgenommen haben. Im Ergebnis kam eindeutig zum
Ausdruck, dass mehrheitlich die Ansicht vertreten
wurde, an den Verjährungsvorschriften nichts zu ändern;
am Tisch saßen auch Betroffene. Ich hätte mir mehr ge-
wünscht, aber wenn die Betroffenen selber sagen, sie
wollen keine Veränderung an dieser Stelle, dann müssen
wir das so lassen.

Kollegin Steffen, Ihnen bin ich dankbar, weil Sie sel-
ber gesagt haben: Die Einrichtung des Runden Tisches
war vernünftig, wir haben den Opfern eine Stimme ge-
geben. – Kollegin Dr. Hein, Sie haben gesagt: Das hat zu
lange gedauert. Ich gebe Ihnen recht: Auch mir wäre es
lieber gewesen, es wäre schneller gegangen. Aber ich
habe das Entstehen des Bundeskinderschutzgesetzes be-
gleitet. Das hat acht Jahre gedauert. Wenn wir etwas Ver-
nünftiges auf den Weg bringen und es dauert, dann müs-
sen wir uns die Zeit nehmen.

Kollegin Hönlinger, ich muss sagen: Im Familienaus-
schuss – ich glaube, ich bin die einzige Familienpolitike-
rin, die heute zu diesem Thema spricht – ist es anders ge-
laufen. Ich war sehr froh: Die grünen Mitglieder haben
im Familienausschuss zugestimmt.

Zurück zum Thema. 2010 war es für viele von uns
schockierend, von den Missbrauchsfällen zu hören.





Michaela Noll


(A) (C)



(D)(B)


Viele von uns waren auch wütend und haben sich ge-
fragt: Was kann ich als Erwachsener tun, wenn ich
merke, dass ein Missbrauchsverdacht besteht?

A und O ist für mich, das Schweigen zu brechen.
Wenn aber Kinder bis zu sechs Erwachsene ansprechen
müssen, um von dem zu berichten, was ihnen geschehen
ist, und erst der siebte Erwachsene es ihnen glaubt, dann
müssen wir uns fragen: Nehmen wir die Kinder eigent-
lich ernst? Gehen wir wirklich besonnen genug mit ihren
Nöten um?

Wir haben in den letzten Jahren die Schwachstellen
beleuchtet. Diese Schwachstellen werden von dem Ge-
setzentwurf aufgegriffen. Ich möchte eines ansprechen,
das ich im Hinblick auf die Kinder sehr wichtig finde:
die Vermeidung von Mehrfachvernehmungen.

Ich bin seit 2002 im Deutschen Bundestag. Damals
war ich noch auf der Oppositionsbank. Ich habe dafür
gekämpft, dass wir endlich das Mainzer Modell bekom-
men. Mainzer Modell heißt: Kleine Kinder, die gegen
Täter – oftmals aus dem familiären Bereich – aussagen
müssen, können in einem anderen Raum vernommen
werden. Sie werden nicht mit dem Täter konfrontiert.
Ihre Aussage wird aufgezeichnet und in den Gerichtssaal
übertragen. Das nenne ich kindeswohlorientierte Ver-
nehmung.

Das haben wir 2002 gefordert. Heute sind wir sehr
viel weiter. Statt Mehrfachvernehmungen lassen wir Vi-
deoaufzeichnung zu.

Ich stelle gerade fest, dass ich nur noch zwei Minuten
Redezeit habe. Eigentlich wollte ich noch etwas ganz an-
deres sagen.

Es ist zwar alles richtig, was den Entwurf des
StORM-Gesetzes angeht, aber als Familienpolitikerin
meine ich mit Blick auf die Zukunft, die richtige Rich-
tung muss die Frage sein: Was können wir präventiv ma-
chen? Da heißt es für mich: Wir müssen sensibilisieren
und den Kindern vermitteln, Nein zu sagen und Grenzen
zu setzen. Wir müssen den Kindern auch sagen, wo ein
sexueller Übergriff anfängt.

Ich selber habe eine Einrichtung besucht. Wir haben
von dem Berliner Jesuiten-Gymnasium gehört. Ähnliche
Fälle gab es in Nordrhein-Westfalen. Ich habe an dem
ersten Elternabend nach Bekanntgabe von Missbrauchs-
fällen in einer Schule teilgenommen, die davon betroffen
war. Diesen Elternabend habe ich nicht vergessen. Die
Eltern waren schockiert und verunsichert, ob sie Zei-
chen, die ihre Kinder ihnen gegeben haben, nicht gese-
hen haben. Die Eltern wollten Antworten. Es gab einen
kommissarisch eingesetzten Schulleiter, weil der eigent-
liche Schulleiter, der seit Jahrzehnten die Schule geleitet
hat, versetzt worden war. Der kommissarische Schullei-
ter war mit Aufklärung und Transparenz komplett über-
fordert und hat sich mehr Sorgen um den guten Ruf der
Schule gemacht. So können wir mit der Thematik nicht
umgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Eltern wollten Aufklärung und Transparenz. Die
Schule hat dann ihre Hausaufgaben gemacht. Sie hat
Leitlinien herausgebracht, sich mit den Eltern zusam-

mengesetzt und aufgeklärt. Das ist der richtige Weg, mit
solchen Fällen umzugehen. Nur so können wir wieder
Vertrauen schaffen.

Mir ist es wichtig: Wir müssen die Elternarbeit ver-
stärken, das heißt, wir müssen den Eltern Möglichkeiten
geben, Handlungsstrategien zu entwickeln und zu erken-
nen, ob das Kind Opfer einer Handlung in dieser Form
war. Wir müssen den Kindern helfen, damit sie selber sa-
gen: Dort ist die Grenze erreicht. Das ist besonders
schwierig, wenn die Täter aus dem häuslichen Bereich
kommen.

Wir haben gerade durch den Runden Tisch sehr viele
Empfehlungen bekommen. Wir haben eine neue Kampa-
gne mit dem Theaterstück „Trau dich!“ gestartet. Damit
werden Kinder von acht bis zwölf Jahren für ihre Situa-
tion, ihr körperliches Empfinden und dafür sensibilisiert,
wie sie selber Grenzen setzen können. Es gibt auch die
Kampagne „Kein Raum für Missbrauch“ des unabhängi-
gen Beauftragten für Fragen des sexuellen Kindesmiss-
brauchs, deren Spots fast jeden Abend um kurz nach
20 Uhr im Fernsehen laufen.

Unser Appell muss sich an jeden Einzelnen in der Ge-
sellschaft richten, den Kindern und den Eltern zu helfen
sowie die Lehrer zu sensibilisieren. Denn unsere Auf-
gabe, Missbrauch zu verhindern, ist eine gesamtgesell-
schaftliche Aufgabe, die die Politik nicht alleine erfüllen
kann.

Ich bin der Ministerin dankbar: Ins Kinderschutzge-
setz haben wir das erweiterte Führungszeugnis aufge-
nommen, das immer vorgelegt werden muss, wenn sich
Personen in Bereichen wie Kindergärten bewerben, weil
Täter meistens besonders die Orte suchen, die Nähe zu
Kindern ermöglichen. Mit der Vorlage des erweiterten
Führungszeugnisses können wir zumindest ausschlie-
ßen, dass einschlägig Vorbestrafte in Kindergärten be-
schäftigt werden.

Wir haben Kindern einen Anspruch auf Beratung ein-
geräumt. Das hat es in der Form noch nie gegeben. Es
gibt das Programm „Kein Täter werden“ an der Charité
in Berlin, das ein sehr gutes Projekt ist. Das heißt, wenn
Männer erkennen, dass sie pädophile Neigungen haben,
können sie sich selbst in Therapie begeben.

Das sind alles Projekte, die uns zeigen: Wir sind auf
dem richtigen Weg. Wir haben einen sehr guten Gesetz-
entwurf, den wir heute verabschieden können. Ich würde
mich freuen, wenn wir dafür eine Mehrheit finden. Denn
bei so einem Thema dürfen wir uns nicht inhaltlich aus-
einanderdividieren.

Ich appelliere an alle, die sich jetzt enthalten wollen:
Bitte stimmen Sie zu! Es wäre ein deutliches Signal an
die Betroffenen, dass wir gemeinschaftlich hinter ihnen
stehen. Ich würde mich freuen.

In diesem Sinne vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722820900

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-

desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Stärkung der Rechte von Opfern sexuellen Missbrauchs.
Es liegt eine Reihe von Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung vor.1) Der Rechtsausschuss empfiehlt
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12735, den Gesetzentwurf der Bundesre-
gierung auf Drucksache 17/6261 in der Ausschussfas-
sung anzunehmen. Diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, bitte ich um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Damit ist der Ge-
setzentwurf in zweiter Beratung angenommen bei Zu-
stimmung durch CDU/CSU und FDP. SPD, Linke und
Bündnis 90/Die Grünen haben sich enthalten. Dagegen
hat niemand gestimmt.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, möge
sich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Damit ist der Gesetzentwurf in dritter Beratung mit dem
gleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Frak-
tion der SPD eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zur
Verlängerung der straf- und zivilrechtlichen Verjäh-
rungsfristen bei sexuellem Missbrauch von Kindern und
minderjährigen Schutzbefohlenen. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/12735, den Gesetzentwurf der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/3646 abzulehnen.
Hierzu liegt ein Änderungsantrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/12737 vor. Wer stimmt für diesen
Änderungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Änderungsantrag ist abgelehnt bei Zustim-
mung durch die einbringende Fraktion. Dagegen haben
gestimmt CDU/CSU, FDP und Grüne. Die Linksfraktion
hat sich enthalten.

Ich bitte jetzt diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Damit ist der Gesetzentwurf in
zweiter Beratung abgelehnt bei Zustimmung durch SPD-
Fraktion und Linke. Alle anderen haben dagegen ge-
stimmt. – Wie ich höre, gab es einzelne Enthaltungen bei
der CDU/CSU-Fraktion und bei der Fraktion Die Linke.

Ich komme zur Abstimmung über den von der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen eingebrachten Entwurf eines Ge-
setzes zur Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungs-
fristen sowie zur Ausweitung der Hemmungsregelungen
bei Verletzungen der sexuellen Selbstbestimmung im Zi-
vil- und Strafrecht. Der Rechtsausschuss empfiehlt unter
Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/12735, den Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/5774 abzulehnen. Wer
dem Gesetzentwurf zustimmen will, den bitte ich um das
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Da-
mit ist der Gesetzentwurf abgelehnt bei Zustimmung
durch die einbringende Fraktion und einen Großteil der
Linken. Die Gegenstimmen kamen im Wesentlichen aus
den Koalitionsfraktionen. Enthalten hat sich die SPD-
Fraktion. Es gab aus allen Fraktionen auch Enthaltun-
gen, bis auf die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen und die

Fraktion der FDP. Damit ist der Gesetzentwurf in zwei-
ter Beratung abgelehnt. Die dritte Beratung entfällt nach
unserer Geschäftsordnung.

Interfraktionell wird zudem die Überweisung der Vor-
lagen auf den Drucksachen 17/7233 und 17/8117 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann werden wir so verfahren.

Jetzt rufe ich die Tagesordnungspunkte 8 a und b so-
wie die Zusatzpunkte 6 und 7 auf:

8 a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Lisa Paus, Ingrid Hönlinger, weite-
ren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur abschließenden Beendigung
der verfassungswidrigen Diskriminierung ein-
getragener Lebenspartnerschaften

– Drucksache 17/12676 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Monika Lazar, Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gleiches Recht für Lebenspartnerschaft und
Ehe beim Adoptionsrecht – Entscheidung des
Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar
2013 jetzt umsetzen

– Drucksache 17/12691 –

ZP 6 Beratung des Berichts des Rechtsausschusses

(6. Ausschuss) gemäß § 62 Absatz 2 der Ge-

schäftsordnung zu dem von den Abgeordneten
Volker Beck (Köln), Monika Lazar, Ekin
Deligöz, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Ergänzung des Le-
benspartnerschaftsgesetzes und anderer Ge-
setze im Bereich des Adoptionsrechts

– Drucksachen 17/1429, 17/12731 –

Berichterstattung:

(VillingenSchwenningen)


ZP 7 Erste Beratung des von den Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Einführung des
Rechts auf Eheschließung für Personen glei-
chen Geschlechts

– Drucksache 17/12677 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss 
Finanzausschuss 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO1) Anlage 2





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Es ist verabredet, hierzu eine halbe Stunde zu debat-
tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722821000

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es geht

heute um gleiche Rechte für homosexuelle Partnerschaf-
ten in dieser Gesellschaft. Die Union und die Koalition
debattieren darüber heftig. So viel von Respekt, von ge-
heucheltem Respekt wie in dieser Debatte habe ich lange
nicht mehr gehört.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Zuruf: Da hat er recht!)


Nur einige wenige schrille Töne von Herrn Dobrindt,
von Herrn Geis und von Frau Steinbach-Hermann zei-
gen, wo sich der Widerstand in der Debatte nährt. Bei
Herrn Dobrindts Wort von der schrillen Minderheit, die
gegen die scheinbar schweigende Mehrheit sich durch-
setzen wolle, musste ich an Franz Josef Strauß denken
und an sein Wort, dass er lieber ein kalter Krieger sein
wolle als ein warmer Bruder. Da kommt ans Licht, was
hinter dieser Debatte steckt.

Aber selbst Herr Kauder sagt uns heute:

Wir haben nichts gegen Homosexuelle. Ich habe
gerade in der Kulturszene viele homosexuelle Be-
kannte.

Dieses „Respekt ja, aber“ ist echt Klischee, Herr Kauder.
Das sollten Sie mal lassen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


„Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und
Rechten geboren.“ So heißt es in der Allgemeinen Erklä-
rung der Menschenrechte. Wer Menschen gleiche Rechte
abspricht, spricht ihnen damit auch ihre Würde ab. Alles
andere als Gleichberechtigung ist verfassungswidrige
Diskriminierung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Deshalb schlagen wir heute in einem Gesetzentwurf
gemeinsam mit der SPD vor, die Ehe für gleichge-
schlechtliche Paare zu öffnen. Das würde das ganze un-
erträgliche Gewürge um die einzelnen Rechtsfolgen der
Lebenspartnerschaft mit einem Schlag beenden, und das
wäre im Endeffekt auch ziemlich konservativ. Dazu will
ich einen britischen Kollegen zitieren. David Cameron
sagte richtig – das sollten Sie sich in Ihrer programmati-
schen Debatte einmal hinter die Ohren schreiben –: Ich
unterstütze die Öffnung der Ehe für schwule und lesbi-
sche Paare, nicht obwohl ich konservativ bin; ich unter-
stütze sie, weil ich konservativ bin. – Ja, es geht darum,
Verantwortung und das Einstehen füreinander zu stär-
ken. Das können schwule und lesbische Paare genauso
gut wie heterosexuelle Paare. Deshalb müssen sie auch
die gleichen rechtlichen Möglichkeiten bekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Verfassungsrechtlich, durch die Entwicklung im inter-
nationalen Recht – selbst im Heimatland des neuen
Papstes ist die Ehe geöffnet –, in der Meinung der Be-
völkerung ist diese Frage längst durch. Da hat ein gesell-
schaftlicher Wandel des Begriffs der Ehe stattgefunden.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das stimmt doch gar nicht!)


Deshalb können wir verfassungsrechtlich diesen Schritt
gehen. Er ist der einzig konsequente. Mit der Öffnung
der Ehe schaffen wir gleiches Recht. Wer nichts gegen
Homosexuelle hat, kann auch nichts gegen ihre Gleich-
berechtigung haben, Herr Kauder.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir wissen: Die Öffnung der Ehe wird mit dieser
schwarz-gelben Koalition nicht zu machen sein. Dafür
braucht es eine neue Mehrheit im Deutschen Bundestag.
Die wollen wir am 22. September mit der Unterstützung
von vielen Schwulen, Lesben, Transgendern schaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Sonja Steffen [SPD])


Ich bin da ganz zuversichtlich. Die Ungerechtigkeit in
dieser Debatte regt die Menschen auf. Auch Schwule
und Lesben, auch Transgender-Personen haben Fami-
lien. Diese Familien fühlen sich herabgewürdigt, wenn
Sie ihren Kindern, ihren Brüdern, ihren Schwestern, ih-
ren Eltern die gleichen Rechte verwehren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Aber wir sind ja nicht so. Wir versuchen immer, zu-
mindest das hinzubekommen, was gerade noch geht.
Deshalb haben wir einen Gesetzentwurf vorgelegt, der
die Lebenspartnerschaft in allen Punkten, beim Steuer-
recht, beim Adoptionsrecht, bei den diversen Berufs-
rechten – das sind 27 Seiten – endlich mit der Ehe
gleichstellt. Das haben Sie den Wählerinnen und Wäh-
lern in Ihrem Koalitionsvertrag bereits versprochen. Nun
geht es an die Umsetzung.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, beim Adoptionsrecht gibt
es keine Diskussion mehr. Das Bundesverfassungsge-
richt hat entschieden: Die Sukzessivadoption gilt seit
dem 19. Februar, und Sie müssen Ehe und Lebenspart-
nerschaft bei der Adoption in allen Punkten gleichstel-
len, weil es für eine Differenzierung nach der Ansicht
des Gerichts keine Rechtfertigung gibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das Gleiche wird Ihnen das Gericht auch beim Steu-
errecht sagen. Herr Papier, der eigentlich Ihrem Lager
angehört, hat gegenüber der Bild-Zeitung, die nicht ge-
rade unsere Hauspostille ist, ganz klar gesagt:





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Die Privilegierung der Ehe im Verhältnis zur einge-
tragenen Lebenspartnerschaft ist rechtlich nicht
mehr zu halten.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722821100

Herr Kollege!


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722821200

Wenn Sie das in der Koalition nicht hinbekommen,

helfen wir Ihnen gern durch einen Gruppenantrag oder
durch die Freigabe der Abstimmung.

Jetzt sind Handlungen gefragt. Herr Kauder hat ge-
sagt, die Koalition werde es nicht machen. Wir machen
es gerne mit den Gutwilligen in Ihrer Koalition zusam-
men, aber: hic Rhodus, hic salta.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722821300

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt Ute Granold.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1722821400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Beck, wir haben an dieser Stelle schon un-
zählige Male über das Thema der Lebenspartnerschaften
debattiert.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mir geht es auch auf die Nerven!)


Zu Beginn bitte ich darum, dass wir ganz sachlich mitei-
nander debattieren und die schrillen Töne, die Sie vorhin
vorgebracht haben, einfach lassen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Schrille Minderheiten!)


Das ist zwar ein emotionales Thema, dennoch bitte ich
um Sachlichkeit.

Wir debattieren heute über verschiedene Anträge, die
teilweise widersprüchlich sind. Das betrifft die Gleich-
stellung der Ehe mit der Lebenspartnerschaft, die Öff-
nung der Ehe und auch die Volladoption. Wir wollen das
alles in Ruhe prüfen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Wie lange denn noch?)


Über die Sukzessivadoption, die Sie gerade angespro-
chen haben, hat das Bundesverfassungsgericht entschie-
den. Das wird auch umgesetzt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das brauchen Sie gar nicht umzusetzen! Das gilt!)


Dazu bedarf es aber keiner Eile, weil die Sukzessivadop-
tion schon heute möglich und der Gesetzgeber aufgeru-
fen ist, bis zum nächsten Sommer eine gesetzliche Rege-
lung herbeizuführen.

Es gibt das eine oder andere, was wir noch einmal dis-
kutieren müssen. Was ist denn zum Beispiel, wenn El-
tern ihr Kind zur Adoption freigeben, aber nicht wollen,
dass ihr Kind in einer gleichgeschlechtlichen Beziehung
aufwächst? Was ist damit? Wie soll das umgesetzt wer-
den?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist, wenn Eltern sagen, sie wollen es nicht bei Juden oder Ausländern haben? Sind Sie noch bei Trost?)


An dieser Stelle möchte ich namens der Union sagen,
dass für uns Ehe und Familie die Keimzelle der Gesell-
schaft, das Fundament der Gesellschaft sind. Wir legen
Wert darauf, dass wir jede andere Beziehung, die Men-
schen in unserer Gesellschaft leben, respektieren und
achten. Wir werben für Toleranz, und wir sind gegen
jede Form von Diskriminierung. Das gilt aber auch für
Sie, Herr Beck.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Bis auf die gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaft! – Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Lassen Sie mich bitte etwas sagen, weil Sie in Ihrem
Übereifer leider Gottes etwas durcheinander gebracht
haben. Wir sollten schon bei der Sache bleiben.

Das Bundesverfassungsgericht hat die Sukzessiv-
adoption zugelassen. Das heißt, wenn ein Mann oder
eine Frau ein Kind adoptiert hat, kann der andere Partner
der gleichgeschlechtlichen Lebenspartnerschaft dieses
Kind auch adoptieren. Das ist insofern konsequent, als
das Bundesverfassungsgericht auch die Stiefkindadop-
tion zugelassen hat, sodass das leibliche Kind des Part-
ners vom anderen Partner adoptiert werden kann. Nicht
mehr und nicht weniger hat das Bundesverfassungsge-
richt entschieden, und das wird umgesetzt.


(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Ich möchte an dieser Stelle etwas zur Volladoption sa-
gen – mein Kollege Geis wird zu anderen Punkten Stel-
lung nehmen –, weil das ein ganz anderes Thema ist.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und was sagt die Bundesjustizministerin dazu?)


Hierbei geht es darum, dass ein fremdes Kind von zwei
gleichgeschlechtlichen Partnern, also von zwei Frauen
oder zwei Männern, adoptiert wird.


(Christine Lambrecht [SPD]: Wo ist da der Unterschied?)


Ich bin sehr davon überzeugt, dass Kinder in gleichge-
schlechtlichen Partnerschaften gut aufgehoben sind, ver-
sorgt werden und auch von ihren Eltern geliebt werden.
Wir wollen das aber aus der Perspektive des Kindes be-
trachten,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Ja, eben!)


nicht aus der Sicht der Lebenspartner.





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der SPD)


Ich möchte gerne begründen, warum wir das genau so
meinen und warum die Entscheidung des Bundesverfas-
sungsgerichts deshalb nicht auf die Volladoption ange-
wandt und entsprechend umgesetzt werden kann.

Kinder brauchen für eine gedeihliche Entwicklung
Mutter und Vater. Beide Rollenbilder sind für die Ent-
wicklung des Kindes wichtig.


(Zuruf von der SPD: Und was machen Sie mit den Alleinerziehenden?)


Ich nenne eine Reihe von Beispielen. Bei Scheidungs-
verfahren ist es so, dass wir hinsichtlich des Sorgerechts,
hinsichtlich des Umgangsrechts und bei allen anderen
Aspekten zusehen, dass Väter und Mütter Umgang mit
bzw. Kontakt zu den Kindern haben, weil es für die Ent-
wicklung von Kindern wichtig ist, dass sie es mit beiden
Geschlechtern zu tun haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP])


Auch im Bereich der frühkindlichen Erziehung ist das
so. Wir bemühen uns immer darum, dass es in den Kitas
auch Erzieher gibt und dass es in den Grundschulen auch
Lehrer gibt,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Dann bezahlen Sie die endlich besser!)


damit das andere Geschlecht die Kinder in der frühkind-
lichen Entwicklung auch begleitet. Das ist für uns ganz
wichtig. Dazu muss ich sicherlich nicht mehr erzählen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722821500

Frau Kollegin?


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1722821600

Ich lasse keine Zwischenfrage zu. – Beide Perspekti-

ven sollen hier eine Rolle spielen.

Zu den wissenschaftlichen Untersuchungen. Das BMJ
hat 2009 eine Studie in Auftrag gegeben. Es wurde die
Situation von 693 Kindern evaluiert. Davon waren drei
Kinder aus einer Fremdadoption. Die Studie zu den Kin-
dern wie auch die Elternbefragung haben ergeben, dass
es keine verwertbaren, fundierten Aussagen zur Situa-
tion der Kinder in diesen Partnerschaften gibt. Die Auto-
rinnen haben gesagt, dass die Datenlage nicht ausreicht,
um eine gesicherte Empfehlung abzugeben. Es emp-
fehle, Seite 99 des Gutachtens zu lesen.

Auch die Anhörung im Rechtsausschuss im Jahr 2011
hat ergeben, dass die Datenlage noch nicht ausreichend
ist. Die Sachverständigen haben gesagt – das ist im Pro-
tokoll der Anhörung nachzulesen –, dass weitere Studien
erforderlich sind und eine bessere Datenlage vorhanden
sein muss, um eine verbindliche Entscheidung treffen zu
können.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das sieht das Verfassungsgericht aber anders! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben das alles in Karlsruhe diskutiert, aber Sie waren ja nicht da!)


Wenn wir das Adoptionsrecht betrachten, erkennen
wir, dass es eine Fürsorgepflicht des Staates gibt. Es ist
nicht erwiesen, dass es für Kinder gleich gut ist, wenn
sie in einer anderen Partnerschaft aufwachsen und nicht
in einer Partnerschaft, in der Mutter und Vater da sind
und eine gedeihliche Entwicklung der Kinder sicherstel-
len. Wenn es keine gesicherten Daten gibt, hat der Staat
im Bereich der Fremdadoption und der Volladoption im
Zweifel seiner Fürsorgepflicht nachzukommen. Der
Maßstab ist auch in diesem Bereich allein das Kindes-
wohl.

Wenn wir sehen, dass in Deutschland derzeit 859 Kin-
der zur Adoption freigegeben sind und es über 5 900 El-
tern gibt, die gerne ein Kind adoptieren würden, aber es
nicht können – das ist ein Verhältnis von 1:7 –, dann
müssen wir schauen, dass wir zunächst einmal die Kin-
der in einer Beziehung unterbringen, in der Mutter und
Vater zugegen sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: In einer nicht unanständigen Familie, oder was? – Johannes Kahrs [SPD]: Das ist ja zum Fremdschämen!)


Ich empfehle, die Situation in Deutschland zur Kennt-
nis zu nehmen: Wir haben über 8 Millionen Familien,
und weit über 90 Prozent der Kinder leben in einer Fa-
milie, in der Mutter und Vater vorhanden sind, oder aber
in einer Beziehung, in der nur die Mutter oder der Vater
mit den Kindern vorhanden ist.


(Zurufe von der SPD)


Wir respektieren jede andere Lebensform; aber wir ha-
ben eine besondere Schutzpflicht gegenüber unseren
Kindern. Demzufolge werden wir dann über das Thema
diskutieren, wenn eine gesicherte Datenlage, wenn Stu-
dien vorhanden sind. Solange das nicht der Fall ist, wird
es mit uns keine Änderung geben.

Ich muss auch sagen, dass Ehe und Familie nach
Art. 6 des Grundgesetzes privilegiert sind. Man kann
dieses Grundrecht nicht schleichend außer Kraft setzen.
Dann müssten wir über eine Verfassungsänderung nach-
denken, und dazu bedarf es bekanntlich einer Zweidrit-
telmehrheit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP] – Johannes Kahrs [SPD]: Das war aber peinlich! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Und ihr behauptet, ihr diskriminiert nicht! – Weitere Zurufe von der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722821700

Zu einer Kurzintervention gebe ich der Kollegin

Biggi Bender das Wort.






(A) (C)



(D)(B)



Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722821800

Frau Kollegin, ich fühle mich von Ihnen persönlich

angesprochen, weil Sie gesagt haben, ein Kind brauche
für ein gedeihliches Aufwachsen das Zusammenleben
von Mutter und Vater.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: In der Regel! So steht’s im Text!)


Ich habe als Kleinkind meinen Vater verloren, weil er
gestorben ist. Ich bin deswegen mit einer alleinerziehen-
den Mutter und meiner Schwester aufgewachsen. In den
60er-Jahren wurde mir in meiner Kindheit deswegen
oftmals entgegengehalten, dass das doch eigentlich ein
defizitäres Lebensmodell sei, wenn kein Vater im Haus
sei; da könne doch nichts Gescheites dabei herauskom-
men. – Wollen Sie im Jahre 2013 allen Ernstes dieses
blöde, diskriminierende Geschwätz, das mich in meiner
Kindheit schon genervt hat, weiter aufrechterhalten?


(Anhaltender Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN – Beifall bei Abgeordneten der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Genau das wollen die!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722821900

Frau Kollegin Granold, bitte, zur Antwort.


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1722822000

Frau Kollegin, ich habe weder Sie noch jemand ande-

ren diskriminiert.


(Widerspruch bei Abgeordneten der SPD)


Ich bin seit 30 Jahren als Familienanwältin tätig. Ich
kenne die Situation in Familien und habe unzählige kin-
derpsychologische Gutachten gelesen, gerade in Bezug
auf das Sorgerecht und das Umgangsrecht. Es heißt im-
mer: Die Kinder brauchen eine Mutter, einen Vater, also
auch eine Bezugsperson, die dem jeweils anderen Ge-
schlecht angehört.


(Iris Gleicke [SPD]: Sie verschlimmern es gerade! Schämen Sie sich! – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Als Beispiele habe ich die Erzieher bzw. Lehrer in der
Kita und der Grundschule aufgezählt.

Ich habe auf die Volladoption Bezug genommen. Es
geht um die Kinder, die keinen leiblichen Vater und
keine leibliche Mutter mehr haben und zur Adoption
freigegeben sind, also keinen Bezug mehr haben. Diese
Kinder sind in einer besonderen Situation, weil sie keine
leiblichen Eltern mehr haben.

Ich erwähne hier noch einmal die Fürsorgepflicht und
die Schutzfunktion des Staates. Ich habe die Zahl von
860 Kindern genannt, die 2011 zur Adoption vorgemerkt
waren. Angesichts der Zahl von knapp 6 000 Eltern, die
diesen Kindern gegenüberstehen, sollte man versuchen,
die Kinder an diese zu vermitteln. Das habe ich vorge-
schlagen.

Ich habe niemanden diskriminiert. Ich bitte darum,
sachlich zu sein und mittel- und langfristige Studien ab-
zuwarten, um zu sehen, wie sich die Situation der
Kinder, die in einer gleichgeschlechtlichen Partnerschaft
leben, darstellt. Diese Studien gibt es bislang nicht. Vom
Bundesministerium der Justiz wurde eine Studie in Auf-
trag gegeben, um uns gesicherte Daten zu geben.


(Zuruf der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Lesen Sie es doch einfach nach.


(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Da steht geschrieben: Es gibt noch keine gesicherte
Datengrundlage. Man möge weitere Gutachten einho-
len. – Das ist bis zur Stunde nicht geschehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Peter Röhlinger [FDP] – Johannes Kahrs [SPD]: Unglaublich! Das ist alles peinlich!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722822100

Sonja Steffen hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1722822200

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Frau
Granold, ehrlich gesagt, ich bin erschüttert – nicht nur
ich, sondern, ich glaube, ganz viele Menschen hier in
diesem Parlament – über das, was wir gerade hier gehört
haben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich selbst habe drei Töchter und lebe mit meinen
Töchtern allein. Die Konsequenz aus der Situation, die
Sie jetzt gerade geschildert haben, wäre die, dass ich mir
Sorgen machen müsste, dass mir irgendwann jemand
meine Kinder wegnimmt.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


Ich rede hier nicht für mich allein, sondern ich rede
für einen Großteil der Menschen in unserer Gesellschaft,
die mit ihren Kindern allein leben oder mit gleichge-
schlechtlichen Partnern zusammenleben. Das, was wir
uns gerade hier von Ihnen anhören mussten, war wirk-
lich das Letzte.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP – Burkhard Lischka [SPD]: So weit ist es gekommen!)


Ich will jetzt einmal versuchen, das Ganze wieder auf
ein auch für mich vernünftiges Level zurückzubringen.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Ein bisschen Toleranz wäre auch nicht verkehrt!)


Lassen Sie mich kurz auf das eingehen, was uns im Au-
genblick in der Rechtsprechung beschäftigt. Ich denke,
wenn wir ehrlich sind – vielleicht bis auf ein paar Aus-
nahmen; herzlich willkommen, Herr Geis –, dann gehen





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


wir doch alle hier im Parlament davon aus, dass das
Bundesverfassungsgericht noch vor der Sommerpause
zum sechsten Mal feststellen wird, dass Lebenspartner-
schaften im Vergleich mit Ehen ungleich behandelt wer-
den und dass dies verfassungswidrig ist.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seien wir ehrlich: Wie kann es sein, dass Lebenspart-
nerschaften nicht vom Ehegattensplitting profitieren dür-
fen, obwohl die gleichen gegenseitigen Pflichten wie
zwischen Ehepartnern bestehen? Das versteht kein
Mensch. Das Bundesverfassungsgericht hat in den letzten
Jahren Schritt für Schritt die Lücken in den Rechtsberei-
chen geschlossen, in denen Lebenspartner gegenüber
Ehepartnern benachteiligt wurden. Die Ungleichbehand-
lung wird also über kurz oder lang Geschichte sein.

Die Diskriminierung von Homosexuellen ist damit
aber noch nicht beendet. Der Kollege Beck hat es vorhin
schon geschildert. Es ist zwar erfreulich, dass die Men-
schen bei uns heute frei darüber entscheiden können, ob
sie einen Mann oder eine Frau heiraten wollen. Jedoch
kann aus dieser Entscheidung bereits eine Ungleichbe-
handlung resultieren. Die Zuweisung in Ehe und Le-
benspartnerschaft, die der Staat an dieser Stelle vorgibt,
kann negative Folgen im Leben der Menschen haben.
Denn leider sind Lesben und Schwule auch heute noch
Anfeindungen und Benachteiligungen ausgesetzt. Wir
haben vorhin ein schönes Beispiel dafür gehabt – hier im
Parlament. Das kann schon in dem Moment anfangen, in
dem man Formulare und Anträge ausfüllen muss.

Stellen Sie sich einmal vor: Den Status „verheiratet“
dürfen Lebenspartner nicht angeben. „Ledig“ wäre in ei-
ner Bewerbung des Lebenspartners zum Beispiel falsch.
Somit bleibt nur die Formulierung „nicht verheiratet“,
die man bei einer Bewerbung verwenden darf, auch
wenn man verpartnert ist. „Verpartnert“ wäre wahr-
scheinlich juristisch korrekt. Wie auch immer man es
dreht und wendet: Zumutbar ist das alles doch nicht
mehr.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Michael Kauch [FDP])


Im schlimmsten Fall hat die Angabe, Lebenspartner
zu sein, leider immer noch sehr unangenehme Folgen,
zum Beispiel bei der Wohnungssuche oder im Arbeitsle-
ben. Eine Studie der Bundeszentrale für politische Bil-
dung hat ergeben, dass die Hälfte aller Schwulen und
Lesben ihre sexuelle Identität am Arbeitsplatz für sich
behält. Insgesamt haben sogar drei Viertel der Befragten
dieser Studie von Schwierigkeiten im Berufsalltag be-
richtet, die auf ihre Homosexualität zurückzuführen
sind.

Vor kurzem hat die Zeit dazu getitelt: „Homosexuali-
tät gilt noch immer als Karrierekiller.“ Dagegen können
wir etwas tun. Die rechtliche Debatte, die wir hier füh-
ren, kann Toleranz in unserem Land nur fördern, und wir
können jetzt dafür sorgen, dass Paare wegen ihrer
sexuellen Orientierung wenigstens vom Staat nicht mehr
unterschiedlich behandelt werden.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt keine Argumente mehr. Das war auch schon in
der letzten Sitzung des Rechtsausschusses zu beobach-
ten. Da haben wir diese Debatte schon einmal geführt,
wenn man sie überhaupt so nennen kann; denn die
Unionsparteien hatten keine Argumente mehr. Also: Wie
viel Weile brauchen Sie, Frau Granold, und Sie, sehr ge-
ehrte Kollegen von der Unionsfraktion, eigentlich noch,
um diesen Gesetzentwurf auf den Weg zu bringen?

Eigentlich wollten wir heute über die Änderung des
Lebenspartnerschaftsgesetzes abstimmen. Den entspre-
chenden Gesetzentwurf haben Sie einfach von der Ta-
gesordnung genommen. Es ist lächerlich, immer noch
dagegenzustimmen, nach dem, was das Bundesverfas-
sungsgericht entschieden hat, nach dem, was die Mehr-
heit unserer Bevölkerung sagt, und nachdem aktuelle
Umfragen zeigen, dass selbst die Mehrheit der CDU-
Anhänger – man höre und staune – die Homo-Ehe befür-
wortet.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722822300

Frau Kollegin.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1722822400

Lassen Sie sich also nicht noch einmal vom Bundes-

verfassungsgericht auf den Hinterkopf schlagen, wie es
der Kollege Beck in der letzten Debatte so schön formu-
liert hat. Lassen Sie uns ein Gesetz beschließen, das auch
gleichgeschlechtlichen Paaren Eheschließungen ermög-
licht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722822500

Michael Kauch hat jetzt das Wort für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1722822600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Gleiche

Pflichten, gleiche Rechte – das ist der Grundsatz unserer
Verfassung, und es ist nicht verständlich, warum dieser
Grundsatz nicht auch für gleichgeschlechtliche Le-
benspartner gelten soll.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb, meine Damen und Herren, spricht sich
meine Fraktion für die volle Gleichstellung der Le-
benspartnerschaften mit der Ehe aus. Und: Ich unter-
stütze nachdrücklich auch im Namen meiner Fraktion
die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.
Denn es macht eben einen Unterschied – das hat die Vor-
rednerin gerade sehr klar an einigen Beispielen darge-
stellt –, ob man seine sexuelle Orientierung aufgrund der
Angabe seines Familienstandes in jeder Situation offen-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


baren muss, etwa bei Bewerbungen. Da muss ich sagen:
Das wäre ein Schritt zur Entdiskriminierung von Le-
benspartnern; denn es gibt eben immer noch Diskrimi-
nierung in dieser Gesellschaft.

Meine Damen und Herren, es ist auch nicht so, als gäbe
es keine gleichgeschlechtlichen Ehen in Deutschland. Das
Bundesverfassungsgericht hat nämlich eine Bestimmung
des Transsexuellengesetzes für verfassungswidrig erklärt.
Es enthielt eine gesetzliche Regelung mit der Forderung,
sich vor einer Geschlechtsumwandlung scheiden zu las-
sen. Dazu hat das Verfassungsgericht mittlerweile ge-
sagt: Das verstößt gegen Art. 6 des Grundgesetzes; des-
halb ist diese Regelung nichtig. Daher gibt es heute in
Deutschland gleichgeschlechtliche Ehen, und dieses
Land existiert immer noch. Wir haben kein Problem
durch diese gleichgeschlechtlichen Ehen bekommen.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man Schwarz-Gelb überlebt, überlebt man das auch!)


Das Bundesverfassungsgericht hat bei der Sukzes-
sivadoption klar entschieden. Es ist erkennbar, wohin die
Reise geht. Das gilt auch für andere Entscheidungen, die
anstehen. Wenn das Verfassungsgericht schon bei einer
Entscheidung, in der es nicht nur um die Lebenspartner,
sondern auch um ein Kind geht, den Gleichheitsgrund-
satz nach vorne stellt und sagt: „Der bloße Verweis auf
Art. 6 rechtfertigt keine Ungleichbehandlung“, welches
Argument gibt es denn dann noch, dass das Verfassungs-
gericht anders entscheiden sollte, wenn es nur um die
Lebenspartner und deren gleiche Unterhaltspflichten
geht? Kein Mensch hier in diesem Saal glaubt doch, dass
hier eine andere Entscheidung zu erwarten ist. Dieses
Parlament ist nicht gewählt, um der Notar des Bundes-
verfassungsgerichts zu sein. Dieses Parlament ist ge-
wählt, um verfassungswidrige Zustände selbst zu besei-
tigen.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Christine Lambrecht [SPD]: Dann macht doch!)


Deshalb ist diese Debatte für die FDP nicht beendet. De-
batten in der Koalition werden gemeinsam beendet, oder
sie werden geführt. Diese Koalition sollte in dieser und
in anderen strittigen Fragen handeln; denn wir werden
dann als Koalition erfolgreich sein, wenn wir die Pro-
jekte, die einer der Koalitionspartner wichtig findet,
während der andere Koalitionspartner sie vielleicht nicht
will, zu einer Lösung führen, statt uns gegenseitig zu
blockieren.


(Beifall bei der FDP)


Frau Granold hat gerade angeführt, dass das Schutz-
recht nach Art. 6 Grundgesetz immer weiter ausgehöhlt
wird. Liebe Frau Granold, der Ehe wird nichts wegge-
nommen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ute Granold [CDU/CSU]: Darum geht es doch gar nicht!)


Alle Schutzrechte, die die Ehe nach unserer Verfassung
hat, bleiben bestehen. Es ist auch nicht so, dass ein Paar
mehr eine heterosexuelle Ehe eingeht, weil es dafür
Steuervorteile gibt. Ein schwuler Mann wird keine Frau
heiraten, weil ihm bei einer Lebenspartnerschaft die
Steuerprivilegien verwehrt werden und bei der Ehe ge-
währt werden. Das ist doch lebensfremd. Deshalb ist die
Ehe in keiner Weise betroffen.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722822700

Herr Kauch, möchten Sie eine Zwischenfrage der

Kollegin Granold zulassen?


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1722822800

Gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722822900

Bitte schön.


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1722823000

Herr Kollege Kauch, würden Sie bitte zur Kenntnis

nehmen, dass ich mich zum Thema Splitting überhaupt
nicht geäußert habe, sondern nur zum Thema Volladop-
tion. Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass in
Art. 6 Grundgesetz Ehe und Familie privilegiert werden.
Das haben die Väter unseres Grundgesetzes so gesagt.


(Zurufe von der SPD)


Das bedeutet, dass wir dies jetzt nicht nivellieren kön-
nen. Würden Sie weiter zur Kenntnis nehmen, dass Ihr
Vorhaben eine Widerlegung dessen ist, was die Väter
und Mütter des Grundgesetzes uns damals ins Buch ge-
schrieben haben? Art. 6 Grundgesetz sagt: Ehe und Fa-
milie sind privilegiert. Würden Sie mir zustimmen, dass
es, wenn man will, dass sie nicht mehr privilegiert sind,
sondern nivelliert werden sollen, einer Verfassungsände-
rung bedarf?


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Was heißt denn „nivelliert“?)



Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1722823100

Ich stimme Ihnen hier nicht zu; denn das Bundesver-

fassungsgericht hat bisher in all seinen Entscheidungen
anders geurteilt. Man überlege sich einmal, in welcher
historischen Situation dieser Artikel zustande gekom-
men ist: Es handelt sich hier um ein Grundrecht der Fa-
milie gegen den Staat.


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Vor dem, was während des Nationalsozialismus gesche-
hen ist, als der Staat in die Familien eingegriffen und die
Erziehung verstaatlicht hat, wollten die Mütter und Vä-
ter des Grundgesetzes die Menschen in Deutschland





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


schützen. Das geschieht durch Art. 6. Das ist kein
Grund, andere Lebensgemeinschaften zu diskriminieren.
Das sagt das Verfassungsgericht ganz klar.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722823200

Herr Kollege, möchten Sie jetzt auch noch die Zwi-

schenfrage des Kollegen Volker Beck zulassen?


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1722823300

Bitte sehr.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722823400

Bitte schön.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722823500

Die Kollegin Granold hat gerade angesprochen, dass

die Frage der Volladoption – das heißt eigentlich nur,
dass es um gleiche Rechte bei der Adoption geht – noch
strittig ist. Würden Sie als FDP-Fraktion mit mir die
Rechtsauffassung teilen, dass das Bundesverfassungs-
gericht in seiner Entscheidung vom 19. Februar 2013 re-
lativ eindeutig war? Dort heißt es:

Unterschiede zwischen Ehe und eingetragener
Lebenspartnerschaft, welche die ungleiche Ausge-
staltung der Adoptionsmöglichkeiten rechtfertigen
könnten, bestehen nicht ….

Daraus ergibt sich ja ziemlich klar, dass das Bundesver-
fassungsgericht von diesem Hohen Haus erwartet, spä-
testens bis zum Sommer nächsten Jahres gleiche Rechte
bei der Adoption für Lebenspartnerschaft und Ehe zu
schaffen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1722823600

Lieber Kollege Beck, ich denke, dieses Zitat des Bun-

desverfassungsgerichts spricht für sich.

Ich möchte aber auch die Gelegenheit nutzen, die
Frage zu stellen, welche politische Wirkung es hat, dass
die Sukzessivadoption vom Bundesverfassungsgericht
entsprechend ausgeurteilt ist. Das heißt konkret, dass es
möglich ist, dass ich erst alleine adoptiere und zwei
Jahre später mein Lebenspartner adoptiert. Ist das im In-
teresse des Kindeswohles? Ich glaube nicht.

Aus meiner Sicht gibt es noch ein weiteres Argument.
Wir haben in Berlin seit Ende der 90er-Jahre Pflegefami-
lien, in denen gleichgeschlechtliche Paare Kinder aufzie-
hen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Auch in Sachsen! Auch in Mecklenburg-Vorpommern!)


Es ist im Kindeswohlinteresse, und zwar jeweils im Ein-
zelfall, dass auch hier eine gemeinschaftliche Adoption
möglich ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Granold, ich war über Ihre Einlassung et-
was schockiert.


(Johannes Kahrs [SPD]: Etwas?)


Sie haben gesagt: Die abgebende Mutter beispielsweise
möchte vielleicht nicht, dass ihr Kind von einem gleich-
geschlechtlichen Paar adoptiert wird. Wenn wir die Ar-
gumentation zulassen, dann stellt sich die Frage: Wo
enden wir? Heißt das dann, ich kann ankreuzen: keine
Schwarzen, keine Migranten? Ich glaube, das führt zu
nichts; das führt auf eine schiefe Bahn.


(Christine Lambrecht [SPD]: Das diskriminiert!)


Es muss um das Kindeswohl gehen und nicht um die
Vorurteile, die bestimmte Personen hier haben.


(Beifall bei der FDP, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es wird viel mit Rollenbildern argumentiert. Meine
Damen und Herren, glauben Sie denn, Rollenbilder wer-
den nur von Vater und Mutter gelernt? Haben die Kinder
kein soziales Umfeld, keine Tanten, keine Onkel, keine
Freunde? Nein, es gibt im sozialen Umfeld natürlich
überall Frauen und Männer. Auch da frage ich mich, was
diese Argumentation soll.

Aus der heutigen Aktuellen Stunde des Sächsischen
Landtages gibt es ein sehr schönes Zitat eines CDU-
Abgeordneten. Nach Medienberichten hat Alexander
Krauß gesagt, man müsse ungleich behandeln; denn man
brauche – so haben ja auch Sie argumentiert – die Rol-
lenbilder. Weiter heißt es:

Wenn ich meinen Sohn angucke, dann kann ich mit
ihm Skifahren. Meine Frau kann das nicht.

Meine Damen und Herren, Frauen können auch Skifah-
ren.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Tausende von Kindern leben in gleichgeschlechtli-
chen Partnerschaften, die wenigsten davon sind adop-
tiert. Schwule und Lesben können Kinder kriegen – das
tun sie auch –, und die Kinder wachsen gut auf, weil sie
von ihren Eltern geliebt werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das Entscheidende ist doch, dass sie in ihrem Leben
Liebe erfahren.

Wichtig ist, dass wir erkennen, dass die Gesellschaft
das mehrheitlich anders sieht, als wir das hier teilweise
dargestellt bekommen.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist nicht wahr! Das glaube ich nicht!)


Die Debatte um die schrille Minderheit möchte ich hier
nicht führen. Der Bundesaußenminister hat sehr klug ge-





Michael Kauch


(A) (C)



(D)(B)


sagt: Wenn die Gesellschaft weiter ist als eine Partei,
dann ist das nicht das Problem der Gesellschaft.


(Beifall bei der FDP und der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Das ist aber nicht der Fall!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722823700

Das Wort hat die Kollegin Dr. Barbara Höll für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722823800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Kollegin Steffen, ich muss Ihnen leider widerspre-
chen: Was die CDU/CSU hier abliefert, ist nicht lächer-
lich, das ist einfach bösartig.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde es skandalös, dass Sie alle, wie Sie hier sit-
zen, beschlossen haben, dass Herr Geis, nach dem, was
er in der letzten Sitzungswoche abgeliefert hat, wieder
sprechen darf, und dass Frau Granold hier solche Thesen
aufstellen darf.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie dürfen auch! Was haben Sie denn abgeliefert? – Johannes Kahrs [SPD]: Herr Geis, Sie sollten einfach schweigen! Sie sind nur noch peinlich! – Weiterer Zuruf von der SPD: Wer lässt den Geis hier eigentlich noch rein? – Gegenrufe von der CDU/CSU: Unerhört!)


Ich bin ebenfalls alleinerziehende Mutter dreier Kin-
der. Wollen Sie mir demnächst amtlich jemanden zur
Seite stellen, möglichst einen Mann, damit ich meine
Aufgaben richtig mache? Oder wollen Sie Zwangshei-
rat? Oder wollen Sie Scheidung verbieten? Wie hätten
Sie es denn gerne? Was hier geboten wird, ist eine Belei-
digung, nicht nur für Schwule und Lesben, sondern für
alle alleinerziehenden Männer und Frauen.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722823900

Frau Höll, Frau Steinbach würde Ihnen gerne eine

Zwischenfrage stellen.


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722824000

Ja.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722824100

Bitte schön.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1722824200

Frau Kollegin, haben Sie wahrgenommen, dass Sie

nicht mehr in der DDR leben, sondern in einem freien

Land, in dem jeder Abgeordnete reden kann, was er
möchte,


(Lachen und Widerspruch bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


und in dem jeder Abgeordnete das Recht hat, in Reden
seine Auffassung zu vertreten?

Wir müssen Sie ertragen,


(Christine Lambrecht [SPD]: Unterirdisch!)


und das ist schlimmer als alles, was Sie in einer Demo-
kratie ertragen müssen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Christine Lambrecht [SPD]: Wir müssen Sie auch ertragen! – Zurufe von der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722824300

Frau Steinbach, zum Ersten: Es gibt in den alten und

in den neuen Bundesländern viele Bürgerinnen und Bür-
ger, die sehr wohl bedacht haben, warum sie die Linke in
den Bundestag wählen. Mit dieser Äußerung beleidigen
Sie Wählerinnen und Wähler, nicht uns Abgeordnete
hier im Parlament.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zweitens möchte ich fragen: Wenn es so ist, dass je-
der und jede seine Meinung äußern kann, warum haben
Sie den Fraktionszwang dann nicht aufgehoben? Warum
haben Sie die Abstimmung heute hier verhindert?


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Warum gestatten Sie der FDP nicht, aus der Zwangsum-
klammerung Ihrer Fraktion herauszukommen? So viel
zu Ihrem Freiheitsbegriff.

Ich muss Ihnen noch etwas sagen: Normalerweise ist
es so, dass Rednerinnen und Redner hier im Namen ihrer
Fraktion sprechen oder ausdrücklich betonen, dass es
sich um ihre Einzelmeinung handelt. Also hat Frau
Granold im Namen ihrer Fraktion gesprochen, und auch
Herr Geis, der gleich wieder so argumentieren wird wie
vor 14 Tagen, spricht für seine Fraktion. Er vertritt eine
Auffassung, die zeigt, dass Sie zutiefst homophob sind. –
Danke.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Geis, da Sie sich vor 14 Tagen zum Verteidiger,
zum Retter der Ehe aufgeschwungen haben, sage ich Ih-
nen Folgendes: Im Schnitt zerbricht mehr als die Hälfte
der bürgerlichen Ehen und Familien, und die Geburten-
raten sind niedrig. Aber nach wie vor soll die Ehe ge-
setzlich vor ihrem angeblichen Verfall geschützt wer-
den? Und der Verfall soll ihr insbesondere durch
schwule und lesbische Paare drohen? Merken Sie nicht,
wie dumm diese Argumentation ist? Da bleibt einem fast
nichts mehr zu sagen.





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)



(Norbert Geis [CDU/CSU]: Dann sagen Sie halt nichts mehr!)


Heute diskutieren wir über zwei Gesetzentwürfe und
einen Antrag. Wir als Linke haben im Juni 2010 einen
Antrag zur Öffnung der Ehe eingebracht. 2011 hat die
SPD noch dagegen gestimmt. Ich freue mich, dass Sie
jetzt diesen Schritt gegangen sind und ebenfalls sagen:
Das einzig Konsequente ist die Öffnung der Ehe.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen wir uns einmal an, was ein Kompromiss,
wenn er überhaupt zustande käme, bedeutete: Demzu-
folge würden wir die Lebenspartnerschaften, die heute
schon die gleichen Pflichten wie die Ehe beinhalten, und
die Ehe rechtlich völlig gleichstellen, aber die verschie-
denen Namen beibehalten. Dann hätten wir zwei
deckungsgleiche Rechtsinstitute; sie hätten nur zwei ver-
schiedene Namen. Daraus spricht doch der Versuch, mit
der Macht der Worte krampfhaft Ungleiches, Anders-
artigkeit zu definieren. Welches Denken steckt dahinter?
Es geht dabei darum, eine heterosexuelle Normalität im
Konstrukt „Vater, Mutter, Kind“ hochzuhalten, etwas,
was der gesellschaftlichen Realität nicht mehr ent-
spricht. Genau deshalb hat das Bundesverfassungsge-
richt über die Jahre hinweg seine Meinung geändert,
korrigiert – immer im Rahmen des Grundgesetzes.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Mechthild Rawert [SPD])


Wir müssen hier endlich einmal darüber diskutieren,
was es heißt, dass im Grundgesetz vom Schutz der Ehe
die Rede ist. Das heißt nicht automatisch finanzielle Pri-
vilegierung. Nein, auch das Ehegattensplitting ist 1953
unter konkreten gesellschaftlichen Bedingungen gekom-
men. Es ist wichtig und richtig, heute die Ungerechtig-
keit zu beseitigen. Das kostet pro Jahr nur etwa 20 Mil-
lionen Euro im Gegensatz zu den 20 Milliarden Euro,
die das Ehegattensplitting kostet. Das sind in etwa die
Zahlen, über die wir hier sprechen. Es geht also darum,
genau zu schauen: Fördern wir tatsächlich das, was uns
förderungswürdig ist, ausreichend und zielgerichtet, zum
Beispiel das Leben mit Kindern und die geleistete Pfle-
gearbeit?

Abschließen möchte ich mit einem Hinweis. Ich habe
gestern in Leipzig an der Verleihung des Leipziger
Buchpreises zur Europäischen Verständigung teilgenom-
men. Den Preis bekam Professor Klaus-Michael Bogdal
für sein Buch Europa erfindet die Zigeuner – Eine Ge-
schichte von Faszination und Verachtung. Er zieht ein
alarmierendes Fazit:

Die Fähigkeit zur Entzivilisierung ist den europäi-
schen Gesellschaften nicht abhandengekommen.

Ich glaube, solche Debatten mit solchen Äußerungen
sind Beweise dafür, wie dünn das Eis der Zivilisation
zum Teil leider ist.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722824400

Für die Fraktion der CDU/CSU spricht jetzt der Kol-

lege Norbert Geis.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1722824500

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Es ist guter parlamentarischer Brauch, dass man
auch einmal eine andere Meinung erträgt. Ich bitte da-
rum: Lassen Sie mich auch meine Meinung noch einmal
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, es dürfte ei-
gentlich unter uns nicht streitig sein, dass Ehe und Fami-
lie zu den Grundlagen unseres Staatswesens und unserer
Gesellschaft zählen.


(Zurufe von der LINKEN: Doch! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Daran kann eigentlich niemand ernsthaft zweifeln.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Grundgesetz hat Ehe und Familie deshalb unter den
besonderen Schutz des Staates gestellt.


(Zurufe von der SPD)


Das gilt nicht nur für das Grundgesetz, sondern auch für
viele Länderverfassungen der Bundesrepublik Deutsch-
land. Das muss man auch einmal zur Kenntnis nehmen.

Es ist nun einmal so, dass Vater, Mutter und Kind die
Grundlagen menschlicher Gemeinwesen bilden.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist doch Quatsch, Herr Geis!)


Der Großrabbiner von Frankreich, Herr Bernheim, hat
in einem Traktat, in welchem er sich mit der Gender-
Ideologie auseinandersetzt,


(Mechthild Rawert [SPD]: Vorsicht!)


folgenden Satz geprägt: Die wahre Familie sind Vater,
Mutter und Kind. – Auch das muss man doch zur Kennt-
nis nehmen.


(Christine Lambrecht [SPD]: Kopfschüttelnd zur Kenntnis nehmen!)


Zumindest muss ich das sagen dürfen.


(Zuruf des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Meine sehr verehrten Damen und Herren, Sie wollen
mit Ihrem Gesetzentwurf die gleichgeschlechtlichen Le-
bensgemeinschaften der Ehe vollkommen gleichstellen.
Das ist Ihr Weg.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Ich schlage Ihnen vor, erst einmal abzuwarten. – Sie
machen das mit der Begründung, in der Ehe würden
Mann und Frau genauso füreinander sorgen, wie das in





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


den gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften der
Fall ist.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Richtig!)


Das ist für Sie die Begründung der Privilegierung. Ich
gebe zu, dass auch das Verfassungsgericht dies sagt. Das
ist aber deswegen nicht richtig.


(Lachen und Widerspruch bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass das Verfas-
sungsgericht in seinem Urteil vom 17. Juli 2002 etwas
ganz anderes gesagt hat. Es hat da nämlich noch festge-
stellt, dass die Ehe mit der gleichgeschlechtlichen Le-
bensgemeinschaft gar nicht vergleichbar ist.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das Verfassungsgericht hat dazugelernt! Sie nicht!)


Meine Damen und Herren, die Privilegierung der Ehe
im Grundgesetz


(Zuruf von der SPD: Eine Schande! – Zurufe von der LINKEN)


– vielleicht ist es möglich, dass Sie mich in Ruhe aus-
sprechen lassen – ist nicht deshalb gegeben, damit der
Staat die Ehe in besonderer Weise schützt, sondern des-
halb, weil niemand sonst als Vater und Mutter das Leben
weitergeben können.


(Christine Lambrecht [SPD]: Dazu braucht es keine Ehe!)


Deswegen ist die Privilegierung gegeben. Das ist stän-
dige Rechtsprechung. So steht es übereinstimmend in al-
len verfassungsrechtlichen Kommentaren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wo steht das?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722824600

Herr Geis, möchten Sie eine Zwischenfrage des Kol-

legen Volker Beck zulassen?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1722824700

Ich will noch Ausführungen zu einem zweiten Grund

machen, dann kann er die Zwischenfrage stellen. – Es
gibt noch einen zweiten Grund, meine sehr verehrten
Damen und Herren. Der zweite Grund besteht darin,
dass niemand sonst als Vater und Mutter, wenn sie zu-
sammenleben, dem Kind besser Daseinskompetenz und
soziale Kompetenz – sie gehen der schulischen Kompe-
tenz voraus – vermitteln können. Das geht zwar auch auf
anderem Wege. Hier aber geht es um die generelle Rege-
lung. Auch das müssen Sie berücksichtigen. Sie können
in allen Kommentaren nachlesen, dass das der Grund ist,
weshalb Ehe und Familie privilegiert werden.


(Christine Lambrecht [SPD]: Schauen Sie einmal die Lebenswirklichkeit an!)


Das kann die gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaft
in diesem Sinne nun einmal nicht leisten.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Warum nicht?)


Wenn Sie im Übrigen nur darauf abstellen, dass man
in der gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft fürei-
nander sorgt wie in der Ehe – ich gebe Ihnen das ohne
Weiteres zu –, müssen Sie aber – das hat Herr Papier
übrigens auch gesagt und geschrieben – alle anderen
Einstandsgemeinschaften genauso behandeln. Warum
werden die dann diskriminiert? Das geht doch nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das wäre nämlich eine Diskriminierung anderer Lebens-
gemeinschaften, in denen man auch füreinander einsteht.
Deswegen gibt es aber nicht die Privilegierung. Warum
privilegiert wird, habe ich vorhin dargestellt. Das ist der
Grund, weshalb es so im Grundgesetz steht. – Bitte, Herr
Beck.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722824800

Herr Beck, bitte.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722824900

Vielen Dank, Herr Kollege. – Da Sie ein Zitat aus ei-

nem Urteils des Bundesverfassungsgerichts vom 17. Juli
2002 gebracht und behauptet haben, das Verfassungs-
gericht habe damals etwas anderes als das gesagt, was es
uns seit 2009 immer wieder als Schlag auf den Hinter-
kopf präsentiert, frage ich: Sind Ihnen die Leitsätze 3
und 4 des Urteils bekannt, in denen eine Antwort auf die
von Ihnen gerade gestellte Frage gegeben wird? Leitsatz 3
lautet:

Die Einführung des Rechtsinstituts der eingetrage-
nen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche
Paare verletzt Art. 6 Abs. 1 GG nicht. Der beson-
dere Schutz der Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG hindert
den Gesetzgeber nicht, für die gleichgeschlechtli-
che Lebenspartnerschaft Rechte und Pflichten vor-
zusehen, die denen der Ehe gleich oder nahe kom-
men. Dem Institut der Ehe drohen keine Einbußen
durch ein Institut, das sich an Personen wendet, die
miteinander keine Ehe eingehen können.

Zu Ihrer Frage der fantasierten möglichen anderen
bunten Lebensformen – Kardinal Meisner wollte schon
Fahrgemeinschaften mit der Ehe gleichstellen – heißt es
im Leitsatz 4 des Urteils des Bundesverfassungsgerichts:

Es verstößt nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, dass
nichtehelichen Lebensgemeinschaften verschieden-
geschlechtlicher Personen und verwandtschaftli-
chen Einstandsgemeinschaften

– das ist Ihr Lieblingsbeispiel –

der Zugang zur Rechtsform der eingetragenen Le-
benspartnerschaft verwehrt ist.

Es geht dem Verfassungsgericht im Grundsatz um ei-
nes: In der Lebenspartnerschaft sind Verantwortung und
Einstehen mit dem gleichen Unterhaltsrecht und im





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Lebenspartnerschaftsfolgenrecht gleich, wie im Ehefol-
genrecht geregelt. Deshalb ist es nach Art. 3 Abs. 1
gleich zu behandeln.

Können Sie mir bestätigen, dass das Bundesverfas-
sungsgericht insofern seit 2002 nichts anderes sagt als
das, was es uns auch im Jahre 2013 gesagt hat?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1722825000

Herr Beck, wenn ich Sie so höre – Sie haben jetzt

noch einmal eine Rede gehalten und ungefähr das Glei-
che gesagt wie vorhin, jedenfalls dem Inhalt nach –
komme ich zu dem Schluss: Man sollte Zwischenfragen
von Ihnen nicht mehr zulassen – ich werde es auch nicht
mehr tun –,


(Zurufe von der SPD: Oh!)


denn Sie nutzen jede Gelegenheit, um hier Ihre Meinung
zu deklamieren. Sie stellen ja gar keine wirklichen Fra-
gen. Aber ich will Ihnen die Frage beantworten.


(Widerspruch bei der SPD und der LINKEN – Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] hält ein Schriftstück hoch)


– Denken Sie, ich kenne das nicht? Ich kenne das sehr
gut. Ich weiß, was das ist, und ich weiß auch, was darin
steht.

In den Gründen des Urteils des Verfassungsgerichts
steht ganz klar, dass es dem Gesetzgeber verwehrt ist,
ein Institut neben die Ehe zu stellen, das identisch ist mit
der Ehe.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das waren gerade die Leitsätze!)


– Damals ging das Verfassungsgericht noch davon aus,
dass ein Unterschied besteht.


(Zurufe von der SPD und der LINKEN)


– Meine Damen und Herren, wenn Sie nicht zuhören
wollen, dann kann ich mir die Mühe sparen. – In den
Gründen steht es ganz klar. Ich bitte Sie, das einmal
nachzulesen. Ich bitte wirklich darum. Ich bitte auch Sie,
Herr Beck, das einmal nachzulesen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich kenne das fast auswendig!)


Denn wenn Sie das tun würden, würden Sie nicht ständig
dieselben Fragen stellen, die längst beantwortet sind. In
den Gründen steht ganz klar, dass es dem Gesetzgeber
verwehrt ist, ein Institut neben die Ehe zu stellen, das
identisch ist mit der Ehe. Lesen Sie es nach; das steht
drin. Es hat keinen Sinn, mit Ihnen darüber zu diskutie-
ren. Sie dürfen sich wieder setzen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das Gegenteil steht im Urteil!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722825100

Herr Geis, es gibt noch eine weitere Zwischenfrage

der Kollegin Vogler aus der Linksfraktion. Möchten Sie
diese zulassen?


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1722825200

Nein, ich lasse keine Zwischenfragen mehr zu. Das

hat ja keinen Sinn.


(Lachen bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Ein Austausch von Argumenten ist hier ja nicht mehr
möglich.


(Katja Dörner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? – Weitere Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Nein, Sie verschließen sich einfach den Argumenten.


(Lachen und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Mein Wort an die FDP: Meine sehr verehrten Damen
und Herren von der FDP, ich habe in den langen Jahren
der Zusammenarbeit immer wieder festgestellt, dass die
FDP eine Verfassungspartei ist. Wenn die gleichge-
schlechtlichen Lebensgemeinschaften mit der Ehe
gleichgestellt werden sollen – das ist ja der Inhalt des
Gesetzgebungsantrags –,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Sie kommen jetzt wieder in alle Satiresendungen!)


dann ist das keine Verfassungsänderung, die man über
ein einfaches Gesetz machen kann. Dies wäre vielmehr
eine massive Verfassungsänderung, die Sie gemäß
Art. 79 des Grundgesetzes nur mit einem Gesetz machen
können, das von einer Mehrheit von zwei Dritteln in
Bundestag und Bundesrat verabschiedet wird. Ich bitte
Sie sehr herzlich, dies mitzubedenken. Es verstößt mei-
ner Meinung nach gegen die Verfassung, wenn wir so
vorgehen, dass wir sagen: Das können wir mit einem
einfachem Gesetz tun. Die Verfassung kann in diesem
Punkt nur über den Weg, der in Art. 79 Grundgesetz be-
schrieben ist, geändert werden.

Lassen Sie mich ein weiteres Wort dazu sagen, meine
sehr verehrten Damen und Herren:


(Widerspruch bei der LINKEN)


In Ihrem Gesetzentwurf steht, dass Elternschaft biolo-
gisch zu verstehen sei. Es ist von der sogenannten biolo-
gischen Elternschaft die Rede. Das wird dem Begriff der
Elternschaft, das wird dem Menschenbild des Grundge-
setzes nicht mehr gerecht. Wir müssen bei dem Begriff
„natürliche Elternschaft“ bleiben, weil wir unter Natur
viel mehr verstehen als Biologie.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722825300

Herr Geis.






(A) (C)



(D)(B)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1722825400

Unter Natur verstehen wir auch, dass der Mensch von

Anfang an seine Würde hat; dies hat ihm das Verfas-
sungsgericht in zwei großartigen Urteilen zugebilligt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722825500

Herr Geis, Ihre Redezeit ist zu Ende.


Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1722825600

Ja. Ich komme auch zum Ende.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sind auch am Ende!)


Dieses Thema kann ich hier nicht in sechs Minuten ab-
handeln.


(Christine Lambrecht [SPD]: Lassen Sie sich Zeit!)


– Frau Kollegin, ich kenne Sie als ernsthafte Kollegin.
Lassen Sie doch diese Zwischenrufe!


(Christine Lambrecht [SPD]: „Ernsthaft“? Das kann ich von Ihrer Rede nicht sagen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722825700

Herr Geis, Ihre Redezeit ist zu Ende!


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir können ja noch ein paar Fragen stellen! – Johannes Kahrs [SPD]: Nee, lass das lieber! Dann dauert es ja noch länger!)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1722825800

Ich komme zum Ende. – Meine sehr verehrten Damen

und Herren, ich bitte Sie sehr herzlich, diese Diskussion
nicht mit der Aufgeregtheit zu führen, mit der Sie sie
führen. Ich bitte, wirklich sachlich zu diskutieren. Dann
werden wir vielleicht auch gemeinsam zu sachlichen Er-
gebnissen kommen. Das ist bisher immer gelungen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU – Christine Lambrecht [SPD]: Oh, das ist ja ein ganz toller Applaus! Ui, ui, ui!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722825900

Der Kollege Johannes Kahrs hat jetzt das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1722826000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich frage mich, warum ich für diese Debatten
eigentlich immer noch eine Rede schreibe, wenn ich sie
nachher sowieso nicht halten kann.


(Manuel Höferlin [FDP]: Wieso denn nicht? Das habe ich jetzt nicht verstanden!)


Ich, Herr Geis – wenn ich auf Ihre Frage einmal ganz
sachlich eingehen darf –, bin aufgewachsen in einer
ziemlich spießigen Familie: Vater, Mutter, drei Kinder.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Also bei den Grünen, ja? – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ist das jetzt schon spießig? Was soll denn der Quatsch? Was ist denn daran spießig, wenn Vater, Mutter und die Kinder zusammenleben? Also, so weit sind wir ja wohl noch nicht!)


Ich finde es auch vollkommen richtig, dass keiner etwas
dagegen hat und dass wir alle das gut finden. Das betrifft
nämlich die Mehrheit der Menschen in diesem Lande.
Keiner möchte dieser Mehrheit etwas wegnehmen. Kei-
ner findet das schlecht. Wir sind alle so aufgewachsen.
Das ist alles wunderbar. Aber darum geht es in dieser
Debatte nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es geht darum, dass man, wenn man Schwulen und Les-
ben die gleichen Rechte und auch die gleichen Pflichten
gibt, niemand anderem etwas wegnimmt. Darum geht es.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In dieser Debatte, Herr Geis, haben Sie und Frau
Granold es ernsthaft geschafft, alle anderen Lebensfor-
men, die es in diesem Land gibt, einmal voll gegen die
Wand zu kacheln und zu beleidigen, und zwar auf eine
ziemlich üble Art und Weise. Das ist unerträglich.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU – Ute Granold [CDU/CSU]: Ach, das ist doch Quatsch!)


Das ist der Grund, warum alle Fraktionen hier geklatscht
haben, als der Kollege Kauch einfach einmal durchdekli-
niert hat, was die Wahrheit ist. Als ich zu Ihrer Fraktion
geblickt habe, habe ich gesehen: Die Mitglieder Ihrer
Fraktion waren bei Ihrer Rede peinlich berührt, und bei
der Rede von Frau Granold haben etliche den Kopf ge-
schüttelt.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)

Ernsthaft: Wie wollen Sie als große Volkspartei noch
klarkommen, wenn Sie jede andere Lebensform diskri-
minieren?


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Was? Das hat er doch gar nicht gemacht!)


Das kann doch nicht angehen! So kann das doch nicht
laufen!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Da Sie das Verfassungsgericht bemüht haben: Erika
Steinbach – da sie gerade hier sitzt – hat nach einem
Urteil des Bundesverfassungsgerichts einmal getwittert:
„Wer schützt eigentlich unsere Verfassung vor den Ver-
fassungsrichtern?“


(Lachen bei Abgeordneten der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die schickt Panzer nach Karlsruhe! – Zuruf von der CDU/CSU: Vielleicht Exkanzler Schröder?)






Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)


Ich glaube, dazu könnte man relativ viel sagen. Wenigs-
tens so viel: Das, was Sie und Herr Geis hier laufend
abliefern, ist für die CDU/CSU kein Ruhmesblatt. Das
heißt, Sie sind in der Realität in diesem Land nicht ange-
kommen. Das, Frau Steinbach, bedeutet, dass Sie Ihre
Berechtigung nach und nach verlieren.

Würden Sie doch auf Herrn Schäuble hören! Herr
Schäuble hat Anfang März dieses Jahres gesagt:

Wenn die CDU Volkspartei bleiben will, dann muss
sie veränderte Realitäten zur Kenntnis nehmen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


So gerne ich sonst anderer Meinung bin als Herr
Schäuble und mich mit ihm streite: In diesem Fall hat er
recht. Direkt danach hat die CDU die Wahl in Wiesba-
den verloren. Sie können sich genau überlegen, wer da-
ran unter anderem beteiligt war.


(Abg. Erika Steinbach [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722826100

Herr Kollege?


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1722826200

Sie verlieren den Rückhalt in der Bevölkerung, weil

die Menschen merken, dass das, was Sie vertreten, ab-
surd ist. Es geht nicht gegen die Ehe. Es geht nicht gegen
Familien mit Kindern. Im Gegenteil: Das finden wir alle
gut, unterstützenswert und richtig. Es geht darum, auch
andere, alternative Lebensformen zuzulassen und Unter-
stützung zu geben, wenn Menschen füreinander Verant-
wortung übernehmen. Wenn Sie das nicht verstehen,
dann sind Sie hier falsch, dann sollten Sie sich schämen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Jetzt gerne, Frau Steinbach.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722826300

Die Frage ist, ob Sie eine Zwischenfrage von Frau

Steinbach zulassen möchten; das geht nämlich nur inner-
halb Ihrer Redezeit.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1722826400

Aber immer doch.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722826500

Frau Steinbach, bitte.


(Dr. Petra Sitte [DIE LINKE]: Oh! Jetzt ganz vorsichtig!)



Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1722826600

Herr Kahrs, Sie haben gesagt: „Wenn jemand in einer

spießigen Familie aus Vater, Mutter und drei Kindern
aufwächst“. Das ist Diskriminierung.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1722826700

Ich habe von mir geredet.


Erika Steinbach-Hermann (Plos):
Rede ID: ID1722826800

Jetzt frage ich Sie: In unserer Demokratie mit Gewal-

tenteilung ist doch keine unserer Institutionen eine hei-
lige Kuh, noch sind sie unfehlbar wie der Papst, sondern
alle Einrichtungen müssen sich – auch wenn sie von ih-
rer Arbeit überzeugt sind – Kritik gefallen lassen. Wenn
ich der Überzeugung bin, dass das Bundesverfassungs-
gericht einmal auf dem falschen Bein „Hurra!“ geschrien
hat, dann sage ich das auch. Konrad Adenauer hat das
übrigens auch schon gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Was für ein Vergleich! – Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1722826900

Frau Steinbach, einmal angenommen, jemand wie ich

– der zugegebenermaßen relativ spießig ist: Ich lebe seit
zwanzig Jahren mit meinem Freund zusammen; vergli-
chen mit der Dauer mancher Ehen von Kollegen Ihrer
Koalition ist das ziemlich spießig –


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


will seinen Freund heiraten. Dann verstehe ich ganz im
Ernst nicht, warum Sie nicht wollen, dass zwei Men-
schen, die füreinander Verantwortung übernehmen und
auch die Pflichten übernehmen, nicht auch die gleichen
Rechte bekommen sollen. Spießig ist nicht immer
schlecht – wie gesagt: Ich bin es auch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


In der Sache muss man einfach zur Kenntnis nehmen:
Es soll doch in diesem Lande ein jeder leben, wie er will.


(Lebhafter Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es soll in diesem Lande ein jeder glücklich werden, wie
er will. Es soll in diesem Lande möglich sein, dass einer,
der die gleichen Pflichten übernimmt, auch die gleichen
Rechte bekommt. Wenn Sie das nicht verstehen, dann
tun Sie mir leid.

Was das Bundesverfassungsgericht angeht, Frau
Steinbach: Man kann natürlich die Verfassungsorgane
gegeneinander ausspielen und sie abwatschen. Das Bun-
desverfassungsgericht war nicht nur meiner Meinung, es
hat diese auch sehr ausgewogen begründet. Ich finde,
dass man mit Verfassungsorganen vernünftig umgehen
muss. Die Art und Weise, wie Sie das tun, und die Art
und Weise, wie Herr Geis das Bundesverfassungsgericht
missbraucht, indem er dieses Urteil falsch interpretiert,


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Wo soll ich falsch interpretiert haben?)


halte ich inzwischen für unerträglich.





Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)


Übrigens, Herr Geis: Ihre Ausführungen zu diesem
Thema sind peinlich.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Sie sind peinlich! Von oben bis unten!)


– Herr Geis, überlegen Sie einmal, warum – es wurde
vorhin gesagt – die Hälfte aller Schwulen und Lesben
sich am Arbeitsplatz nicht zu sagen trauen, dass sie
schwul oder lesbisch sind. Es ist wegen Menschen wie
Ihnen, von denen sie diskriminiert werden. Das kann
nicht angehen, das ist eine Schande.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Norbert Geis [CDU/CSU]: Ach, hören Sie auf!)


Herr Kauch, ich fand Ihre Rede wunderbar – ich habe
immer geklatscht –; aber am Ende gab es ein kleines
Problem für mich: Wenn das, was Sie gesagt haben, alles
richtig war: Warum stimmt die FDP dann nicht richtig
ab?

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Das ist unmöglich!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722827000

Ich schließe die Aussprache.

Nun hat der Kollege Volker Beck das Wort zur
Geschäftsordnung gewünscht. Ich erteile ihm das Wort.
Bitte schön.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722827100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wenn sich

der Kollege Kauder beruhigt hat, dann kann ich sagen:
Dass hier Menschen für ihre Rechte streiten und andere
diesen Kampf unterstützen, ist kein Meinungsterror, son-
dern eine wichtige gesellschaftspolitische Diskussion.


(Norbert Geis [CDU/CSU]: Unter Diskussion verstehe ich etwas anderes!)


Sie versuchen hier, Opfer und Täter zu vertauschen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Ich beantrage für meine Fraktion, dass wir heute über
einen Antrag abstimmen, durch den Sie, Frau Justiz-
ministerin, aufgefordert werden, im Namen der Bundes-
regierung einen Gesetzentwurf vorzulegen, der das Ur-
teil des Bundesverfassungsgerichts vom 19. Februar
2013 umsetzt. In diesem Urteil – das haben wir vorhin
gehört – heißt es: Die Sukzessivadoption gilt sofort, und
bei den Adoptionsmöglichkeiten müssen gleiche Rechte
hergestellt werden. – Das wäre die Hausaufgabe. Sie
kennen dieses Urteil, Frau Justizministerin. Deshalb ist
diese Frage entscheidungsreif.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich bin
mit der Rede des Kollegen Kauch in der Sache völlig
einverstanden gewesen. Aber dann bleibt die Frage:
Wann wird diese Sachposition tatsächlich in politisches
Handeln überführt? Es ist heute an Ihnen, diese Ent-
scheidung zu treffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es ist doch absurd, wenn wir hier im Deutschen Bundes-
tag diskutieren und dann über die Frage abstimmen müs-
sen, ob wir abstimmen.

Die Frage ist entscheidungsreif. Es gibt bei Ihnen un-
terschiedliche Positionen; das mag so sein. Die Koalition
hat in dieser Woche mit ihren Stimmen im Innenaus-
schuss einen Gesetzentwurf zur Gleichstellung bei der
Adoption abgelehnt. Da wissen wir, wohin die Sache
geht.


(Mechthild Rawert [SPD]: Abgemurkst!)


Entscheiden Sie sich jetzt endlich einmal! Wollen Sie
in dieser Legislaturperiode das Adoptionsrecht regeln
und zu einer Gleichstellung kommen? Dann müssen Sie
heute unserem Antrag zustimmen. Und erzählen Sie den
Leuten draußen nicht, Sie seien zwar für die Gleichstel-
lung, würden aber immer wieder, hundertmal in der
Wahlperiode, total entschieden gegen die Gleichstellung
stimmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Meine Damen und Herren, der Kollege Kauder hat
laut dpa am Dienstag erklärt, die Debatte über die Le-
benspartnerschaft und über die Gleichstellung sei für die
Koalition beendet.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ist das noch zur Geschäftsordnung?)


– Ja.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nein!)


– Das bezieht sich auf die Tagesordnung und darauf, ob
wir abstimmen. – Er hat die Koalitionstreue des Kolle-
gen Brüderle gelobt, der garantiert habe, man stimme
nicht mit wechselnden Mehrheiten ab.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das war bei euch doch auch so!)


Im Koalitionsvertrag steht die Gleichstellung von Le-
benspartnerschaften. Wenn ein Koalitionsvertrag gilt,
dann gilt er sowohl hinsichtlich des Inhalts als auch hin-
sichtlich des Verfahrens.

Bei uns war auch nicht alles einfach, aber so sind wir
miteinander umgegangen und haben die Sachen am
Ende vorangebracht. Sonst hätte es das Lebenspartner-
schaftsgesetz nie gegeben. Herta Däubler-Gmelin wollte
das nie anpacken. Wir als rot-grüne Koalition haben die
Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag dann aber dank
Leuten wie Peter Struck auch gemeinsam durchgesetzt.





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Wenn es bei Ihnen so nicht geht, dann müssen Sie heute
dafür sorgen, dass die Abstimmung freigegeben und
endlich über diese Sache entschieden wird. Sie ist ent-
scheidungsreif; neue Argumente sind nicht ersichtlich.
Bewegen Sie sich!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Seit 2001 liegt unser Gesetzentwurf vor, 2011 gab es
die Anhörung, und Sie wollen uns hier erzählen, Sie hät-
ten noch Beratungsbedarf. Das ist doch ein Stück aus
dem Tollhaus.

Sie haben in dieser Frage nur noch für eines eine Ge-
meinsamkeit in der Koalition, nämlich dafür, dass Sie
die Abstimmung verschieben. In der Sache habe Sie
keine gemeinsame Position. Sie sind nicht handlungsfä-
hig. Deshalb gehören Sie weg, wenn nicht die Leute, die
unserer Meinung sind, endlich sagen: Wir stimmen ge-
meinsam mit der Opposition für die Gleichstellung der
Lebenspartnerschaft und schaffen hier faire Bedingun-
gen in unserem Land.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722827200

Gibt es weitere Wortmeldungen zur Geschäftsord-

nung? – Das ist nicht der Fall.

Damit kommen wir zu den Abstimmungen.

Zunächst einmal kommen wir zum Tagesordnungs-
punkt 8 a sowie zum Zusatzpunkt 7. Interfraktionell
wird Überweisung der Vorlagen auf den Drucksa-
chen 17/12676 und 17/12677 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-
weisungen so beschlossen.

Wir kommen jetzt zum Tagesordnungspunkt 8 b. Es
geht um den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/12691. Die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünscht Abstimmung in der Sache. Die
Fraktionen CDU/CSU und FDP wünschen Überwei-
sung, und zwar federführend an den Rechtsausschuss
und mitberatend an den Ausschuss für Familie, Senio-
ren, Frauen und Jugend. Wir stimmen nach ständiger
Übung zuerst über den Antrag auf Ausschussüberwei-
sung ab. Ich frage deshalb, wer für die beantragte Über-
weisung stimmt. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Somit ist die Überweisung mehrheitlich be-
schlossen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der LINKEN: Heuchler! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schlappschwänze!)


Damit stimmen wir heute über den Antrag auf Druck-
sache 17/12691 in der Sache nicht ab.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP ist umgefallen!)


Ich rufe den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines … Straf-
rechtsänderungsgesetzes – Beschränkung der
Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklä-
rungs- und Präventionshilfe (… StrÄndG)


– Drucksache 17/9695 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/12732 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Burkhard Lischka
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Ingrid Hönlinger

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall.

Bevor ich die Aussprache eröffne, bitte ich diejeni-
gen, die ihr nicht zu folgen wünschen, den Saal zu ver-
lassen, damit die übrigen der Aussprache folgen können.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Jörg van Essen von der FDP-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Jörg van Essen (FDP):
Rede ID: ID1722827300

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Es geht um ein Thema, das nicht so viele
Emotionen hervorruft wie das Debattenthema, das wir
gerade behandelt haben, und trotzdem ist es eine heiß
diskutierte Frage. Es geht nämlich um die Frage der
Kronzeugenregelung.

Ich selbst komme aus der Staatsanwaltschaft und ver-
rate kein Geheimnis, wenn ich sage, dass meine Kolle-
gen die Bedeutung der Kronzeugenregelung ganz außer-
ordentlich schätzen. Es gibt insbesondere einen Bereich,
von dem man sagen muss, dass die Justiz viele ihrer Er-
folge ohne eine bereichsspezifische Kronzeugenrege-
lung, nämlich in § 31 des Betäubungsmittelgesetzes,
nicht verzeichnen könnte. Deshalb kommt von meiner
Seite zunächst einmal ein klares Ja zur Kronzeugenrege-
lung, weil sie der Schlüssel dafür ist, beispielsweise auch
in abgeschottete Kriminalität, insbesondere organisierte
Kriminalität, einzudringen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben den § 46 b StGB schon seit einiger Zeit,
und trotzdem ist die Diskussion darüber, ob der § 46 b
so, wie er im Strafgesetzbuch steht, richtig ausgestaltet
ist, nicht beendet. Diese Diskussion findet immer wieder
statt, und ich habe auch Verständnis dafür, dass sie statt-
findet. Denn das, was dem Kronzeugen gewährt wird,
nämlich Strafnachlass, ist ein Durchbrechen des Prin-
zips, dass es eigentlich eine schuldangemessene Strafe





Jörg van Essen


(A) (C)



(D)(B)


geben soll. Deshalb gibt es durchaus auch Unverständ-
nis, wenn diese Strafe beispielsweise gemildert wird und
dabei Dimensionen erreicht werden, bei denen ein ob-
jektiver Betrachter das Gefühl hat, dass Schuld und
Strafe nicht mehr in einem vernünftigen Zusammenhang
stehen.

Einer der besonderen Kritikpunkte, mit dem wir uns
auseinandergesetzt haben, ist die Frage, worüber ein
Kronzeuge berichten muss, damit er mit einer Strafredu-
zierung rechnen kann. Ich glaube, dass der Vorschlag,
den wir heute unterbreiten, ein guter Schritt ist – ich
glaube es nicht nur, sondern ich bin davon überzeugt –;
denn wir legen fest, dass bei demjenigen, der sich als
Kronzeuge zur Verfügung stellt, nur Angaben strafmil-
dernd berücksichtigt werden, die mit der eigenen Tat in
Zusammenhang stehen.


(Beifall bei der FDP)


Das führt dazu, dass all das, was er sagt, sich immer
auf die eigene Tat bezieht. Wenn man es wie bisher zu-
lässt, dass er beispielsweise auch über andere Straftaten,
mit denen er selbst gar nichts zu tun hat, berichten kann,
dann kann natürlich eine Neigung bestehen, jemand an-
deren falsch zu bezichtigen, um so möglicherweise Vor-
teile für sich selbst herauszuschlagen. Es tut dem
Rechtsstaat nicht gut, wenn das von Staats wegen mit ei-
ner entsprechenden Vorschrift im Strafgesetzbuch unter-
stützt wird.

Daher eine klare Ansage von meiner Seite: Wir ma-
chen einen guten Schritt in Richtung mehr Rechtsstaat-
lichkeit. Ich freue mich deshalb, dass unser Vorschlag
heute eine breite Mehrheit findet. Die Koalition steht
hinter dem Vorschlag. Ich freue mich, dass auch die SPD
hinter dem Vorschlag steht. Das ist ein gutes Zeichen,
dass wir in einer so wichtigen Frage quer durchs Haus zu
einer gemeinsamen, vernünftigen Lösung kommen kön-
nen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722827400

Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ingo

Egloff.


(Beifall bei der SPD)



Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1722827500

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! 2009 verabschiedete die Große Koalition das Gesetz
zur Strafzumessung bei Aufklärungs- und Präventions-
hilfe, das mit der verfassungsrechtlichen Aufgabe des
Staates zur Aufklärung und Verhinderung von Straftaten
begründet wurde. Nach diesem Gesetz kann die Strafe
eines Kronzeugen unter der Voraussetzung gemildert
werden, dass seine Aussage tatsächlich zu einem Aufde-
ckungserfolg oder der Verhinderung bestimmter Strafta-
ten führt.

Das war eine bewusst weit gefasste Regelung, die von
der damaligen Koalition getroffen wurde. Wir wollten
damals – so lange ist das noch nicht her – vor allem den

hermetisch abgeriegelten Täterstrukturen der organisier-
ten Kriminalität zu Leibe rücken. Aber von Anfang an
war es in der Fachwelt hoch umstritten, ob diese Rege-
lung angemessen ist und den staatlichen Strafanspruch
angemessen berücksichtigt, weil Strafen nicht nur ab-
schrecken sollen, sondern auch den Sühnegedanken auf-
seiten der von einer Straftat Betroffenen berücksichtigen
sollen.

Der nun vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung zielt auf eine Einschränkung dieser Kronzeugenre-
gelung ab. Demnach soll zukünftig ein Strafnachlass nur
dann gewährt werden können, wenn sich die Offenba-
rung des Kronzeugen auf eine Tat bezieht, die mit seiner
eigenen Tat im Zusammenhang steht. Der Kollege van
Essen hat es eben schon dargestellt: Die Taten müssen
zwar nicht aus dem gleichen Deliktsbereich stammen,
aber zwischen den Taten muss ein innerer oder inhaltli-
cher Bezug bestehen. Wenn die eigene und die offen-
barte Tat Teil eines kriminellen Gesamtgeschehens sind,
besteht dieser innere Zusammenhang, so der Gesetzent-
wurf der Bundesregierung.

Die Begründung der Einschränkung der ursprünglich
weiten Fassung ist unter anderem, dass anderenfalls
Strafmilderungen ermöglicht werden, die aus der Sicht
des Tatopfers nicht mehr schuldangemessen sind. Da-
durch könnte das Vertrauen der Bevölkerung in die
Rechtsordnung beeinträchtigt werden. Dieser Auffassung
kann man sich anschließen. Ich glaube aber, dass man das
Rechtsbewusstsein der Bürgerinnen und Bürger unter-
schätzt. Wir sollten nicht unterstellen, unserer Rechts-
ordnung würde nur dann vertraut, wenn sie von jedem
Täter Reue und Mitleid erzwingt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Allerdings soll das Strafrecht auch den Opfern einer
Straftat Genugtuung verschaffen. Es wäre wohl kaum je-
mandem verständlich zu machen, wenn eine Aussage zu
einer Tat strafmildernd wirken soll, die tatsächlich in gar
keinem Zusammenhang zur Tat des Kronzeugen steht.
Es ist völlig undenkbar, dass man zum Beispiel denjeni-
gen, der ein Kapitalverbrechen begangen hat, straffrei
stellt, nur weil er bei schwerem Steuerbetrug oder Ähnli-
chem zur Aufklärung beigetragen hat.

Man kann es auch anders formulieren: Im Rechtsstaat
gilt das Prinzip des schuldangemessenen Strafens. Das
Maß der Schuld kann sich nur verringern, wenn sich der
Täter von der Tat in glaubwürdiger Weise distanziert.
Wie soll das gelingen, wenn die eigene Tat mit der offen-
barten Tat ohne Zusammenhang ist? Insofern ist dieser
einschränkende Ansatz nachzuvollziehen und wird von
uns ausdrücklich begrüßt.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Jörg van Essen [FDP])


Nachvollziehbar ist für mich das andere Argument,
dass geschlossene Täterkreise, besonders solche der or-
ganisierten Kriminalität, in vielen Fällen nur dann aufge-
brochen werden können, wenn die Hinweisgeber aus
dem unmittelbaren Täterkreis stammen. Brauchbare





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


Zeugenaussagen können oft nur von Mittätern erwartet
werden. An der Tat unbeteiligte Dritte werden solche
Zeugenaussagen nicht in belastbarer Weise und in glei-
cher Art machen können. Hier wird dann aber abgewo-
gen zwischen dem Interesse des Staates an der Strafver-
folgung in bestimmten Milieus und Täterkreisen oder in
Fällen, in denen hoher Schaden für die Gesellschaft ent-
steht, einerseits und dem Interesse der Rechtsordnung an
einer angemessenen Bestrafung der Täter andererseits.

Wenn, wie geschehen, viele Sachverständige vor De-
nunziantentum und Falschaussagen warnen, müssen wir
bei der jetzigen Regelung besonders darauf achten, dass
diese Gefahr verringert wird. Natürlich ist es nahelie-
gend, dass ein Kronzeuge andere fälschlich belastet,
wenn er sich davon Strafmilderung für sich selbst erhof-
fen kann. Die Distanz der eigenen zur offenbarten Tat
spielt dabei die entscheidende Rolle. Je weniger die ei-
gene Tat in Beziehung zu dem Verbrechen steht, über
das die Aussage gemacht wird, desto größer ist die Ge-
fahr einer Falschaussage – logisch eigentlich, weil dann
ja Beliebiges behauptet werden kann, ohne dass man
sich damit selbst belasten muss.

Allerdings sind den Möglichkeiten des Gesetzgebers,
Denunziantentum zu verhindern, Grenzen gesetzt. Es
kommt auf die Einschätzung und Handhabung durch die
Strafverfolgungsbehörden an; denn die Erfahrungen der
Staatsanwaltschaften bestätigen diese Gefahr. Aber ge-
rade weil hier das Bewusstsein aufseiten der Staats-
anwaltschaften vorhanden ist, bin ich sicher, dass wir in
der weit überwiegenden Zahl der Fälle angemessene Ur-
teile zu erwarten haben, die dem rechtsstaatlichen Ab-
wägungsgebot Rechnung tragen. Auch die bisherigen
Urteile zeigen, dass vonseiten der Gerichte hier sehr vor-
sichtig agiert wird.

Es ist gut, dass der Gesetzgeber hier den zu weit ge-
fassten Rahmen anpasst, ohne dabei den Strafverfol-
gungsbehörden die Möglichkeiten abzuschneiden, auch
in geschlossene Täterkreise einzudringen. Wir werden
deshalb diesem Gesetzentwurf zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722827600

Jetzt hat der Kollege Ansgar Heveling von der CDU/

CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1722827700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute steht die abschließende Beratung des Entwurfs ei-
nes Strafrechtsänderungsgesetzes auf der Tagesordnung,
dessen Kern die Beschränkung der Möglichkeit zur
Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe
ist. Es geht also heute wieder einmal um eine Justierung
der sogenannten Kronzeugenregelung, die seit gut zwei
Jahrzehnten ständiger Begleiter der Strafrechtspolitik ist.
Der Journalist Jochen Bittner hat sie bereits im Jahr 2004
als „so etwas wie die große Untote der Rechtspolitik“
bezeichnet.

Umstritten ist die Kronzeugenregelung also seit eh
und je, und es ist nicht zu übersehen, dass dies zu so
mancher Wende und Volte in der Rechtspolitik in den
vergangenen gut 20 Jahren geführt hat.

Nicht zu vergessen ist im Übrigen, dass tatsächliche
Entwicklungen die Perspektive der Rechtspolitik quer
durch die politischen Lager bestimmt haben. So lief 1999
zunächst die zeitlich begrenzte Kronzeugenregelung bei
terroristischen Gewalttaten aus, nachdem die Initiative
eines Dritten Kronzeugen-Verlängerungs-Gesetzes ge-
scheitert war.

Seither galten nur noch spezielle Kronzeugenregelun-
gen. Nicht zuletzt die Erfahrungen bezüglich abgeschot-
teter Strukturen im Bereich des islamistischen Terroris-
mus führten im Weiteren ab 2001 zu einem erneuten
Aufflammen der Diskussion um eine allgemeine Kron-
zeugenregelung.

Dies mündete wiederum zu Zeiten der Großen Koali-
tion in die zum 1. September 2009 in Kraft getretene und
seitdem geltende Fassung des § 46 b des Strafgesetzbu-
ches, dessen Änderung wir heute beschließen wollen.
Mit dieser Vorschrift verfügt das Strafgesetzbuch derzeit
über eine allgemeine Kronzeugenregelung mit einem re-
lativ weiten Anwendungsbereich, da zwischen der Tat
des Kronzeugen und derjenigen, zu der er Aufklärungs-
und Präventionshilfe leistet, kein Zusammenhang beste-
hen muss. Dies soll heute korrigiert werden, indem in
§ 46 b StGB die Ergänzung aufgenommen wird, dass die
Tat, zu der Aufklärungs- und Präventionshilfe geleistet
wird, „mit seiner Tat im Zusammenhang“, also mit der
Tat des Kronzeugen, stehen muss.

Im Kern ist dies ein minimalinvasiver rechtspoliti-
scher Normeneingriff, dessen praktische Relevanz zu
Recht infrage stehen mag, der aber rechtspolitisch kei-
neswegs bedeutungslos ist. Zunächst einmal gilt bei al-
lem Streit über die Kronzeugenregelung in den vergan-
genen Jahren: Wir als CDU/CSU und wir als christlich-
liberale Koalition stehen zur Notwendigkeit einer allge-
meinen Kronzeugenregelung. Durch die heute zu be-
schließende Konnexitätsregelung in § 46 b StGB rücken
wir von dieser Position auch keinen Schritt ab.

Die Rechtslage vor der Einführung der allgemeinen
Kronzeugenregelung bot eindeutig nicht genügend An-
reiz, Hilfe zur Aufklärung und Verhinderung von Straf-
taten zu leisten. Gerade die von hoher Konspirativität
gekennzeichneten Kriminalitätsbereiche wie Terroris-
mus, organisierte Kriminalität und schwere Wirtschafts-
kriminalität sind wegen ihrer Abschottung den gängigen
Ermittlungs- und Aufklärungsmethoden eben oftmals
nicht zugänglich. Hier braucht es zusätzliche Anreize,
um überhaupt in die abgeschotteten Strukturen nicht
oder nur schwer aufklärbarer Kriminalität eindringen zu
können.

Mit einer allgemeinen Kronzeugenregelung steht zu-
mindest ein rechtlich definiertes Instrument für den
Umgang mit der Kooperationsbereitschaft und Präven-
tionshilfe zur Verfügung. Eine allgemeine Kronzeugen-
regelung, an der wir trotz der heute zu beschließenden
Änderung festhalten, ist gegenüber einer Vielzahl von





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


bereichsspezifischen Kronzeugenregelungen, wie sie das
Strafrecht vor der Einführung von § 46 b des Strafge-
setzbuches kannte, eindeutig vorzuziehen; denn zwar
konnten durch die bisherigen bereichsspezifischen Rege-
lungen Aufklärungs- und Präventionshilfe durchaus
strafmildernd gewertet werden. Aber zum einen wird der
Anreiz für kooperationsbereite Straftäter durch eine all-
gemeine Vorschrift größer, und zum anderen ist der An-
wendungsbereich durch die fehlende Bindung an be-
stimmte Deliktgruppen wesentlich weiter. Daher ist es
richtig, eine allgemeine Kronzeugenregelung im Strafge-
setzbuch verankert zu halten.

Nicht von der Hand zu weisen ist allerdings – und das
ist auch ein rechtsdogmatisch beachtliches Argument –,
dass eine Kronzeugenregelung die Gefahr in sich trägt,
den Weg hin zu einem kooperativen und konsensualen
Strafverfahren zu forcieren. Der Rechtsanwalt Dr. König
hat in einem Beitrag im Strafverteidiger 2012 dazu for-
muliert, dass die Sachverhaltsermittlung kontaminiert
und die Wahrheitsfindung desavouiert werde. Dem ist
zunächst entgegenzuhalten, dass die Entwicklung hin zu
Absprachen und Deals auch ohne die Diskussion über
eine Kronzeugenregelung stattfindet und in der rechtspo-
litischen Diskussion steht. Das Bundesverfassungsge-
richt wird sich in Kürze dazu äußern.

Jedenfalls ist aber eine gesetzliche Kronzeugenrege-
lung, um es mit den Worten des Strafrechtskommentars
Kindhäuser zu sagen, „insoweit zu begrüßen, als sie ei-
nem Wildwuchs entgegenwirkt, da in der Justizpraxis
auch ohne gesetzliche Ermächtigung zweifelhafte Zeu-
gen-Privilegierungen nach dem Kronzeugenmuster vor-
genommen werden. Etwa wird die Vorschrift des § 154
StPO herangezogen, um Tatbeteiligte unter Versprechen
von weitgehenden Strafmilderungen zur Kooperation zu
veranlassen.“ Eine klar definierte gesetzliche Regelung
ist da aus unserer Sicht allemal hilfreicher.

Soweit eine Kronzeugenregelung grundlegender Kri-
tik aus rechtssystematischen und rechtsdogmatischen
Gründen begegnet, sind diese Bedenken grundsätzlich
ernst zu nehmen; denn natürlich bedeutet eine allge-
meine Kronzeugenregelung einen Eingriff in das Legali-
täts- und Öffentlichkeitsprinzip ebenso wie in den
Gleichheits- und Schuldgrundsatz. Aber man muss auch
festhalten, dass dem Gesetzgeber hier eine Abwägung
der unterschiedlichen Interessen zusteht. Grundsätzlich
besteht die Möglichkeit, Strafmilderungsregelungen aus-
zugestalten, sofern der Schuldrahmen insgesamt nicht
unterschritten wird.

Bedenklich würde eine Regelung dort, wo – ich zi-
tiere nochmals Kindhäuser – „das auf Gerechtigkeit ru-
hende Fundament des Strafrechts durch Regelungen und
Urteile gefährdet wird, die von der Allgemeinheit wegen
massiver Schuldunterschreitung nicht mehr als angemes-
sen wahrgenommen werden können.“ Hier ist also eine
Grenze für den Ausgestaltungsspielraum des Gesetzge-
bers zu ziehen. Diese Grenze wird indessen vom Gesetz-
geber auch gesehen und wahrgenommen.

In der Abwägung zur wesentlichen Aufgabe des Staa-
tes, schwere Straftaten aufzuklären und zu verhindern,
und im Interesse einer möglichst umfassenden Wahr-

heitsfindung im Strafverfahren ist es zu rechtfertigen, im
Rahmen des gerade aufgezeigten Gestaltungsspielraums
eine noch schuldangemessene Bestrafung zu unter-
schreiten. Insofern ist auch nicht a priori von einer „Des-
avouierung der Wahrheitsfindung“ auszugehen. Im Ge-
genteil: Das Instrument der Kronzeugenregelung kann
und soll im Rahmen der Ausgestaltungsmöglichkeiten
gerade auch der Wahrheitsfindung dienen.

Zu Recht ist aber die Frage gestellt worden, ob eine
gänzliche Abkoppelung der Kronzeugentat und der da-
mit einhergehenden Strafmilderung von der Tat, zu der
Aufklärungs- oder Präventionshilfe geleistet wird, den
Ausgestaltungsspielraum für die Schuldunterschreitung
nicht doch schon überdehnt. Hier fehlt jeder Konnex
zwischen Aufklärungshilfe und abzuurteilender Straftat.
Ein Strafmilderungsinteresse ist hier in der Tat schwer
zu begründen, da die Tatschuld durch das Nachtatverhal-
ten jedenfalls in keiner Weise gemindert wird.

Mit der heute zu beschließenden Ergänzung wird da-
mit in rechtssystematischer und rechtsdogmatischer Hin-
sicht ein Korrektiv in § 46 b des Strafgesetzbuches ein-
gefügt, das die vertretbare Grenze der Möglichkeit zur
Schuldunterschreitung klar formuliert und damit letzt-
lich zur dogmatischen Stärkung der Kronzeugenrege-
lung beiträgt.

Hinsichtlich der praktischen Folgen – dies sei zum
Abschluss jedenfalls auch angeführt – ist die Notwen-
digkeit dieses Korrektivs indessen schwer zu beurteilen.

In der Anhörung des Rechtsausschusses wurde dazu
von Sachverständigenseite die Frage formuliert: Was
passiert, wenn nichts passiert? Sie wurde auch beantwor-
tet, und zwar mit: Nichts. – Die rein praktische Relevanz
der heutigen Begrenzung mag sehr überschaubar sein;
denn in der täglichen gerichtlichen Praxis spielt die
Frage der Anwendung der Kronzeugenregelung bei der
Offenbarung von Taten, die mit der verfahrensgegen-
ständlichen Tat in keinem Zusammenhang stehen, offen-
kundig nur eine untergeordnete Rolle. So gibt es wohl
nur eine einzige einschlägige Entscheidung des Bundes-
gerichtshofs zu diesem Thema.

So ist die heutige Entscheidung des Gesetzgebers zur
Ergänzung von § 46 b des Strafgesetzbuches aus prakti-
scher Sicht betrachtet vielleicht eher als Non-liquet-Ent-
scheidung zu charakterisieren; in rechtsdogmatischer
Hinsicht hat sie indessen ihre Berechtigung, weshalb wir
heute in zweiter und dritter Lesung der Änderung der all-
gemeinen Kronzeugenregelung zustimmen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722827800

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort die Kollegin

Halina Wawzyniak.


(Beifall bei der LINKEN)



Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722827900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Was hier als sperriger Titel, nämlich „Entwurf eines





Halina Wawzyniak


(A) (C)



(D)(B)


… Strafrechtsänderungsgesetzes – Beschränkung der
Möglichkeit zur Strafmilderung bei Aufklärungs- und
Präventionshilfe“, daherkommt, ist eine Neuregelung
der sogenannten Kronzeugenregelung. Kronzeugen
– das muss man vielleicht noch einmal erklären – sind
Personen, die sich als mutmaßliche Straftäter und Straf-
täterinnen kooperationsbereit zeigen, Hilfe zur Aufklä-
rung oder Verhinderung von schweren Straftaten zu leis-
ten.

Die derzeitige, durch die schwarz-rosa Koalition ein-
geführte Regelung erlaubt die Anwendung der Kronzeu-
genregelung auch, wenn zwischen der Tat des Kronzeu-
gen und der Tat, bei der er Hilfe zur Aufklärung oder
Verhinderung leistet, kein Zusammenhang besteht. Und
damit sind wir beim Grundproblem jeglicher Kronzeu-
genregelung.

Die Kronzeugenregelung ist nichts anderes als ein
Handel zulasten der Gerechtigkeit. Straftäter und Straftä-
terinnen bekommen Vergünstigungen, weil sie bei der
Aufklärung von Straftaten oder der Verhinderung von
Straftaten behilflich sind. Damit wird aber mit dem
Schuldprinzip gebrochen. Das Schuldprinzip nämlich
sieht eine angemessene Strafe für eine begangene Straf-
tat vor. Das Verhalten des mutmaßlichen Straftäters nach
der Tat kann mit der Regelung des § 46 Abs. 2 im Rah-
men der Strafzumessung bereits berücksichtigt werden.
Wenn es darüber hinausgehende Privilegierungen im
Hinblick darauf gibt, dass die Strafe für eine begangene
Straftat davon abhängig gemacht wird, dass jemand im
Hinblick auf eine andere Straftat einen Beitrag oder
Hilfe zur Aufklärung leistet, hat das nichts mehr mit
schuldangemessener Strafe zu tun. Die Hilfe zur Aufklä-
rung und Verhinderung schwerer Straftaten ist etwas,
was gefördert und unterstützt gehört. Aber mit der Kron-
zeugenregelung findet ein Deal zulasten der Gerechtig-
keit statt, und das ist für uns nicht hinnehmbar.


(Beifall bei der LINKEN)


Was ist eigentlich das Denken, das dahintersteht? Je-
mand, der tief in das kriminelle Milieu verstrickt ist und
folglich überhaupt nur deshalb interessante Kenntnisse
besitzen kann, wird gegenüber demjenigen bevorzugt,
der nur einmal straffällig geworden ist und allein schon
deshalb keine Aufklärungshilfe zu weiteren Straftaten
leisten kann.

Die Kronzeugenregelung verletzt nicht nur das
Schuldprinzip, sie verletzt auch das Legalitätsprinzip
und das Prinzip der materiellen Gerechtigkeit. Da die
Hilfeleistung des Beschuldigten bereits vor Eröffnung
des Hauptverfahrens, also im Rahmen des Ermittlungs-
verfahrens, erfolgen muss, wird auch das Öffentlich-
keitsprinzip berührt, und das Zustandekommen der
Strafe bleibt letztlich intransparent.

Es gibt keine empirischen Belege dafür, dass eine
Kronzeugenregelung erforderlich ist, um Straftaten auf-
zuklären oder zu verhindern.

Darüber hinaus – um bei der grundsätzlichen Kritik
zu bleiben – wird mit der Kronzeugenregelung auch in
die Wahrheitserforschung des Gerichts eingegriffen. Die
Glaubwürdigkeit eines Zeugen, der die Kronzeugenrege-

lung in Anspruch nehmen will, ist mindestens ange-
kratzt; denn natürlich versucht er, seine Aussagen so zu
machen, dass er eine deutlich geringere Strafe erfährt.

Ich habe bereits darauf verwiesen: Die Kronzeugenre-
gelung ist überflüssig; denn der § 46 Abs. 2 erlaubt, das
Nachtatverhalten bei der Strafzumessung zu berücksich-
tigen.

Nun ist offensichtlich aufgefallen, dass die Kronzeu-
genregelung ein Problem darstellt. Statt nun aber diesen
unwürdigen Deal ganz abzuschaffen, wird versucht, den
Handel etwas zu verringern. Mit der neuen Regelung
– das ist hier schon gesagt worden – wird versucht, eine
Beziehung zwischen der Tat des Kronzeugen und der
Tat, zu der er Hilfe zur Aufklärung leistet, herzustellen.
Das ist besser als nichts, reicht aber nicht aus, um die
Linke für die Zustimmung zu gewinnen.

Die Zustimmung ist uns auch deshalb nicht möglich,
weil mit der Änderung des § 31 Betäubungsmittelgesetz
die Kronzeugenregelung im Bereich Drogenkriminalität
noch ausgeweitet wird. Ich verkneife mir an dieser Stelle
den Hinweis auf die Notwendigkeit einer anderen Dro-
genpolitik. Mit der Kronzeugenregelung bekommen Sie
das Problem nicht in den Griff.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Schluss. Wir Linke werden einer
Kronzeugenregelung – egal ob klein oder groß – nicht
zustimmen; denn ein Deal zulasten der Gerechtigkeit ist
mit uns nicht zu machen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722828000

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat jetzt das Wort die Kollegin Ingrid Hönlinger von
Bündnis 90/Die Grünen.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722828100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

kommt selten vor, dass die Bundesrechtsanwaltskam-
mer, der Deutsche Anwaltverein, die Strafverteidiger-
vereinigungen und der Deutsche Richterbund einer
Meinung sind. 2009, bei der Einführung der Kronzeu-
genregelung in ihrer weiten Fassung, waren sie es.

Die Kronzeugenregelung beinhaltet – das wissen wir
alle hier – Straferleichterungen für Straftäter. Richter
dürfen die Strafe des selbst straffälligen Kronzeugen
mildern oder ganz von der Strafe absehen, wenn dieser
zur Aufklärung oder Verhinderung von schweren Straf-
taten beiträgt.

Die Rechtspraxis hat im Jahr 2009 geschlossen ge-
sagt: Die Kronzeugenregelung ist ein Bruch in unserem
Rechtsstaatssystem, und wir brauchen sie nicht. – Auch
wir Grünen waren und sind dieser Rechtssauffassung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute begrüßen Anwaltskammer und Verbände die
von der Bundesregierung vorgeschlagene Minikorrektur
der Kronzeugenregelung. Auch wir Grünen sagen: Das
ist ein Schritt in die richtige Richtung. Allerdings sagen





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


wir auch: Es ist nur ein Schritt – ein Schritt, der von ei-
nem Quantensprung weit entfernt ist.

Eingeführt werden soll das Konnexitätsprinzip. Zu-
künftig soll ein Kronzeuge nur noch dann eine Strafer-
leichterung erhalten können, wenn zwischen seiner eige-
nen Straftat und der Tat, zu der er Aufklärungs- oder
Präventionshilfe leistet, ein sachlich-inhaltlicher Zusam-
menhang besteht.

Möglicherweise wird die Zahl der Falschbelastungen
Dritter ein wenig zurückgehen. Ausgeschlossen werden
Denunziationen zum eigenen Vorteil im Strafverfahren
jedoch nicht. Nach wie vor wird im Rahmen der Kron-
zeugenregelung das Motto gelten: Mehr ist mehr. Je
mehr Anschuldigungen der Kronzeuge gegenüber ande-
ren Personen macht, umso mehr Strafrabatt erhält er.

Dem steht kein ausreichender Nutzen gegenüber. Im
Verfahren gegen die Person, die der Kronzeuge ange-
schuldigt hat, sind die Aussagen als Beweismittel wegen
mangelnder Belastbarkeit häufig problematisch. Zu die-
sem Zeitpunkt haben sie aber ihren Zweck, nämlich
Strafmilderung für den Kronzeugen zu erreichen, bereits
meistens erfüllt. Der vermeintliche Kronzeuge läuft we-
nig Gefahr, wegen falscher Verdächtigung verurteilt zu
werden.

Wenn überhaupt die Wahrheit ans Licht kommt, so
wird doch häufig der Nachweis scheitern, dass der Kron-
zeuge seine Aussage wider besseres Wissen gemacht
hat. Darauf wird der Kronzeuge setzen, zumal die Versu-
chung, mit der der Staat lockt, nämlich Strafmilderung
oder Absehen von Strafe, groß ist.

Die Kronzeugenregelung verstößt darüber hinaus ge-
gen zentrale Prinzipien unseres Rechtsstaats. Zu nennen
sind das Legalitätsprinzip, das Gleichheitsgebot sowie
das Prinzip des schuldangemessenen Strafens. Polizei
oder Staatsanwaltschaft, manchmal sogar Verfassungs-
schutzbehörden suchen Aufklärungserfolge, die leider
nicht immer nur tatsächlicher, sondern häufig auch nur
vermeintlicher Art sind. Dabei machen sie Straftätern
die Zusage, sie vor einer schuldangemessenen Strafe zu
schützen. Dem Gericht wird zugemutet, als Notar solche
Geschäfte zu beglaubigen und auf eine Überprüfung der
Wahrhaftigkeit der Kronzeugenaussage ganz oder zum
Teil zu verzichten, weil die Einigung zwischen Straftäter
und Staatsanwaltschaft bereits vor der Hauptverhand-
lung unter Dach und Fach gebracht werden muss.

Ich wiederhole, was wir Grünen 2009 bei der Einfüh-
rung der Kronzeugenregelung gesagt haben: Es gibt kei-
nen Bedarf für eine solche Regelung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Den Problemen, die es bei der Prävention zum Schutz
der Bevölkerung, bei der Aufklärung von Straftaten so-
wie bei einer effektiven und schnellen Bearbeitung an-
geklagter Straftaten gibt, müssen die Länder mit einer
ausreichenden Personal- und Sachausstattung der Er-
mittlungsbehörden begegnen. Die Flucht in die Kron-
zeugenregelung ist keine Lösung. Die wenigen tatsäch-

lich durch Kronzeugen erzielten Aufklärungserfolge
rechtfertigen nicht den hohen Verlust an Legitimität, die
ein rechtsstaatliches Strafverfahren aber zwingend
braucht.

So bleibt der Gesetzentwurf der Bundesregierung ein
kleiner Schritt in die richtige Richtung. Er verpasst aber
die Chance einer konsequenten und mutigen Korrektur
dieses Fremdkörpers im Strafrecht. Wir Grünen werden
uns deshalb bei der Abstimmung enthalten.


(Ansgar Heveling [CDU/CSU]: Das ist aber kraftvoll!)


Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722828200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Entwurf eines Strafrechtsän-
derungsgesetzes – Beschränkung der Möglichkeit zur
Strafmilderung bei Aufklärungs- und Präventionshilfe.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/12732, den Gesetzentwurf
der Bundesregierung auf Drucksache 17/9695 anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung angenommen mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Enthal-
tung der Linken und der Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichem
Stimmverhältnis wie zuvor angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Bärbel

(Heidelberg)

der SPD

Für eine bessere Bildungssituation weltweit

– Drucksachen 17/6484, 17/11492 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Bärbel Kofler
Joachim Günther (Plauen)
Niema Movassat
Ute Koczy

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Harald Leibrecht für die
FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Harald Leibrecht (FDP):
Rede ID: ID1722828300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der

Antrag der SPD-Fraktion zur Bildung in der Entwick-
lungszusammenarbeit liest sich eigentlich gar nicht
schlecht; nur ist der Antrag mittlerweile in weiten Teilen
überholt.

Herr Minister Niebel und das BMZ haben den Be-
reich Bildung gemeinsam mit den Koalitionsfraktionen
zu einem Schlüsselsektor der deutschen Entwicklungs-
zusammenarbeit ausgebaut. Wir haben die Strategie
„Zehn Ziele für mehr Bildung“ entwickelt, die auf einem
ganzheitlichen Bildungsansatz basiert und die Entwick-
lung aller Bildungsbereiche in den Blick nimmt: Über
die Grundbildung hinaus sollen die Bildungssysteme in
den Partnerländern in ihrer Gesamtheit gestärkt werden.

Mit der Bildungsstrategie hat sich das BMZ konzep-
tionell neu aufgestellt und hat den Worten auch Taten
folgen lassen: Die Bildungsausgaben wurden sukzessive
erhöht. Die Grundbildungsausgaben sind 2011 gegen-
über 2010 um 12,3 Prozent, auf 158 Millionen Euro, ge-
stiegen. Den Umfang der Bildungszusagen für Afrika
haben wir, wie angekündigt, verdoppelt. Auch die von
der SPD-Fraktion geforderte Erhöhung des Beitrags zur
Global Partnership for Education ist bereits umgesetzt.
Insgesamt hat Deutschland im Jahr 2011 ODA-Mittel in
Höhe von 1,3 Milliarden Euro für Bildung in Entwick-
lungsländern zur Verfügung gestellt; diese Summe ist
mit dem Gesamtbudget des Bundesumweltministeriums
vergleichbar. Das zeigt, dass Deutschland seine interna-
tionalen Verpflichtungen sehr ernst nimmt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, man kann die Ana-
lyse der Herausforderungen, die die SPD-Fraktion in ih-
rem Antrag vornimmt, durchaus teilen. Neuere Zahlen
der Vereinten Nationen zeigen, dass im Jahr 2010
61 Millionen Kinder im Grundschulalter nicht zur
Schule gingen. In Subsahara-Afrika betraf dies ein Vier-
tel der Kinder im Grundschulalter.

Trotz der weiterhin riesigen Herausforderungen gibt
es aber auch Erfolge – wir sollten hier unser Licht nicht
unter den Scheffel stellen –: Die Erreichung des Ziels ei-
ner Grundbildung für alle ist in greifbare Nähe gerückt.
Heute ist eine Einschulungsrate von 90 Prozent erreicht,
und 90 Prozent der eingeschulten Kinder schließen die
Grundschule ab. Selbst das Sorgenkind Subsahara-
Afrika hat große Fortschritte gemacht. Bis 2010 ist die
Einschulungsrate trotz des hohen Bevölkerungswachs-
tums von 58 auf 76 Prozent gestiegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist ein Meilenstein, dass 2012 die Geschlechter-
gleichheit beim Grundschulbesuch erreicht wurde. Dies

ist eine wichtige Voraussetzung zur Erreichung des Millen-
niumsentwicklungsziels 3, nämlich der Gleichstellung
der Geschlechter und der Stärkung der Frauenrechte.
Trotzdem darf uns die Erreichung dieser Zielmarke nicht
darüber hinwegtäuschen, dass Mädchen aus armen Fa-
milien, aus dem ländlichen Raum und solche, die Min-
derheiten angehören oder die mit einer Behinderung le-
ben, immer noch zu wenig von diesen Entwicklungen
profitieren. Gerade bei der Inklusion benachteiligter
Gruppen kann und muss die Entwicklungszusammenar-
beit einen Beitrag leisten.

In Kenia hilft die deutsche Entwicklungszusammen-
arbeit zum Beispiel beim Aufbau eines Stipendiensys-
tems, damit Jugendliche aus Armenvierteln eine Chance
auf eine Sekundarbildung haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die steigende Zahl der Grundschulabsolventen erhöht
aber auch den Druck auf die Sekundarbildung. Meiner
Meinung nach sollte auch Deutschland dieser Entwick-
lung Rechnung tragen. Wir müssen die finanziellen Mit-
tel für diesen Bereich deutlich erhöhen. Noch immer ha-
ben viel zu wenig Kinder Zugang zu Sekundarbildung.
Sekundarbildung ist aber der Schlüssel zu einer guten
Beschäftigungschance und einer akademischen Ausbil-
dung und damit unverzichtbarer Teil eines Bildungssys-
tems.

Deutschland ist der mit Abstand größte Geldgeber im
Bereich der beruflichen Bildung. Viele Länder, Indus-
triestaaten eingeschlossen – die Vereinigten Staaten zum
Beispiel –, sehen Deutschland als Vorbild im Bereich der
dualen Ausbildung. Deutschland hat hier große Exper-
tise und unterstützt viele Partner beim Aufbau solcher
Strukturen. Auch die Auswärtige Kultur- und Bildungs-
politik und die deutschen Schulen im Ausland leisten
hier einen wichtigen Beitrag.

Zu guter Letzt möchte ich einen Punkt erwähnen, bei
dem wir nicht mit der Opposition übereinstimmen. Zwar
sieht auch meine Fraktion den Staat in der Hauptverant-
wortung für die Bereitstellung von Bildung. Die Realität
sieht aber leider oft anders aus. In vielen Teilen der Welt
und insbesondere in Krisenregionen versagt oftmals der
Staat. Hier spielen private und kirchliche Träger sowie
Hilfsorganisationen eine unersetzliche Rolle. Diese
nichtstaatlichen Träger werden in Ihrem Antrag jedoch
mit keinem Wort erwähnt. Ich denke, dass gerade diese
freien Bildungsträger nicht nur unsere Anerkennung und
unseren Dank verdienen, sondern auch unsere politische
Unterstützung.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722828400

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Dr. Bärbel Kofler.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Bärbel Kofler (SPD):
Rede ID: ID1722828500

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Herr Kollege Leibrecht, ich finde es schade, dass Sie un-
serem Antrag nicht zustimmen können. Sie haben ja ge-
schildert, wie die Situation um die Bildung weltweit be-
stellt ist: 61 Millionen Kinder sind ohne Grundbildung.
Auch die weiteren Zahlen – 70 Millionen Jugendliche
ohne Zugang zu Bildung; 775 Millionen Erwachsene
sind Analphabeten, zwei Drittel davon Frauen – recht-
fertigen, dass wir uns wesentlich intensiver dem Thema
Bildung zuwenden, wie das von Ihrer Seite hier auch ge-
schehen ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich finde es spannend, wenn Sie im Rahmen der
ODA-Quote Bildungsausgaben von 1,3 Milliarden Euro
in den Raum stellen. Wir können ja durchaus darüber
diskutieren, ob man hierbei Studienplatzgebühren an-
rechnen soll oder nicht. Aber wenn Sie hier in den Raum
stellen, das BMZ hätte in diesem Bereich 1,3 Milliarden
Euro finanziert, dann muss man einfach zur Kenntnis
nehmen, dass Studienplatzgebühren den überwältigen-
den Anteil dieser Summe ausmachen.

Um das einmal an einem Beispiel zu illustrieren: Im
Jahr 2010, in dem Jahr, in dem die Ausgaben für die
Grundbildung im Haushalt am höchsten waren, was ich
durchaus anerkenne, wurden 110 Millionen Euro für die
Grundbildung aus dem Haushalt des BMZ finanziert.
Aber allein in diesem Jahr wurden Studienplatzkosten
für chinesische Studenten in Höhe von über 140 Millio-
nen Euro finanziert. Wir müssen die Dinge einfach ein-
mal in eine Gewichtung bringen, wenn wir sie auf die
grundlegenden Probleme der Menschen zurückführen
wollen, nämlich das Menschenrecht auf Bildung und den
Zugang zu diesem Menschenrecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niema Movassat [DIE LINKE])


Leider haben Sie nichts zum Thema „Qualität in der
Bildung“, einem wesentlichen Punkt in unserem Antrag,
gesagt. Ich möchte dieses Thema noch einmal heraus-
stellen. Gerade für Qualität, egal ob in der Grundbil-
dung, ob in der frühkindlichen Bildung, in der Sekundar-
bildung oder in der beruflichen Bildung, brauchen wir
– da sind wir uns doch eigentlich immer alle einig gewe-
sen – einen wesentlichen Mittelaufwuchs. Dieser Be-
reich ist unterfinanziert. Wir wissen, es fehlen 2 Millio-
nen Lehrerstellen weltweit, um überhaupt einmal einen
Zugang zu Bildung für alle ermöglichen zu können. Wir
wissen, dass jedes Jahr fast 250 Millionen Kinder die
Schule nach vier Jahren Grundbildung verlassen und
nicht lesen und schreiben können. Das muss uns doch
sorgen und zu Anstrengungen beflügeln, die ganz anders
sind als das, was wir bisher gemeinsam miteinander ge-
macht haben. Dazu hätte ich von Ihrer Seite nach fast
vier Jahren Regierung schon gerne etwas gehört.


(Harald Leibrecht [FDP]: Dafür hätte ich noch zwei Minuten mehr Redezeit gebraucht!)


Dialog mit Partnerländern ist, finde ich, ein wichtiges
Thema. Dieses Thema haben wir auch in unserem An-
trag behandelt. Es geht doch gerade darum, die Partner-
länder zu unterstützen, Bildung wirklich in den Mittel-
punkt stellen zu können. Die Institution „Global
Partnership for Education“ schreibt, dass in den nächsten
zehn Monaten 32 Länder einen Antrag auf Begleitung
im Sektor Bildung stellen wollen. Sie wollen den Bil-
dungsbereich in ihren Ländern ändern, um wirklich zu
Verbesserungen kommen zu können. Das sind Dinge, die
wir gerade jetzt finanziell, mit Know-how, konzeptionell
und mit Fachleuten unterstützen müssen. Dazu hätte ich
an dieser Stelle gerne etwas von Ihnen gehört.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Nicht auf den Ohren sitzen!)


Es geht dabei auch darum – ich komme zum Thema
„Rolle des Staates im Bildungssektor“; Sie haben es an-
gesprochen –, Partnerländer im Dialog mit unserer ge-
samten Entwicklungspolitik dabei zu unterstützen,
selbsttragende Bildungssysteme finanzieren und auf-
bauen zu können. Ich schätze das Engagement vieler
Nichtregierungsorganisationen in diesem Bereich sehr.
Unsere Aufgabe als Entwicklungspolitiker ist es, die
Rolle des Staates in den Mittelpunkt zu stellen und einen
Beitrag dazu zu leisten, dass auch in ärmeren Ländern
tragfähige, nachhaltige Bildungssysteme finanziert wer-
den können, damit die Menschen dort dauerhaft, also
über Generationen hinweg, Zugang zu Bildung haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Niema Movassat [DIE LINKE])


Dazu gehören Dinge, die nicht gerade ganz oben auf
der Agenda dieses Entwicklungsministeriums stehen.
Dazu gehören Dinge wie internationale Verständigung.
Man sollte nicht nur das deutsche Fähnchen irgendwo
draufstecken, sondern wirklich schauen, wie wir in einer
internationalen Gebergemeinschaft diesem Anliegen
Rechnung tragen können.

Wir haben in unserem Antrag weitere Punkte behan-
delt. Wir haben etwa das Thema ILO-Kernarbeitsnor-
men sehr bewusst in unseren Antrag aufgenommen, weil
wir wissen, was für ein großes Hindernis es für viele
Menschen, für viele Familien ist, dass ihre Kinder, die
arbeiten – in vielen Ländern ist das leider der Fall, auch
weil sie es müssen –, vom Zugang zu Bildung abgehal-
ten werden. Es ist uns ein ganz dringendes Anliegen
– das ist auch eine Aufgabe der Bundesregierung, insbe-
sondere des Entwicklungsministeriums –, hier voranzu-
kommen und Akzente zu setzen, um Kinderarbeit welt-
weit zu ächten und zu verhindern.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zum Thema „Mädchen- und Frauenbildung“ könnte
man sicher auch noch vieles sagen. Dass es nicht immer
ganz oben auf der Agenda dieses Ministeriums war, ha-
ben wir in vielen Debatten in den letzten Jahren festge-
stellt.





Dr. Bärbel Kofler


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte noch etwas zum Zeitpunkt der Einbrin-
gung unseres Antrags sagen. Sie haben so gönnerhaft ge-
sagt: Da kommt die SPD mit einem überholten Antrag. –
Wissen Sie, wann wir diesen Antrag im Bundestag ein-
gebracht haben? Im Juli 2011! Dass wir ihn erst heute
debattieren, dass erst seit November letzten Jahres der
Bericht des Ausschusses vorliegt, ist beileibe nicht der
Fehler der Sozialdemokraten oder der Opposition. Die-
sen Schuh müssen Sie sich selbst anziehen.


(Harald Leibrecht [FDP]: Ist doch gut, wenn der Antrag überholt ist!)


Ich will etwas zur Zeitschiene Ihrer Bildungsstrategie
sagen. „BMZ-Bildungsstrategie 2010–2013“ nennt sie
sich im Untertitel. Vorgelegt wurde sie 2012. Da waren
zwei Drittel des Zeitraumes, den sie umfassen soll, of-
fensichtlich schon vorbei.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die haben halt Humor! – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohl wahr! – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Trotzdem viel passiert!)


Ist Ihre Strategie nun der große Wurf? Ich würde sa-
gen: Nix G’wiss woaß ma net; so heißt es auf Bayerisch.
Genaues steht dort nicht. Darin stehen ein paar gute For-
mulierungen von Zielen, die wir teilen: Bildung ganz-
heitlich fördern, berufliche Bildung stärken. Das alles
kann man unterschreiben. Das Rad muss ja auch nicht
immer wieder neu erfunden werden; das ist ganz klar.
Wenn man sich ansieht, wie vollmundig Sie gestartet
sind, indem Sie das Thema Bildung zum Schlüsselfaktor
der Entwicklungszusammenarbeit gemacht haben, und
wie Sie nach vier Jahren gelandet sind, dann muss man
wieder einmal das Bild bemühen: als Tiger gestartet und
als Bettvorleger gelandet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Zum Thema Grundbildung. Sie haben zu Recht ge-
sagt: Hier gab es einen Aufwuchs der Mittel. Das gebe
ich gerne zu. Darüber freue ich mich auch. Ich freue
mich auch, dass es insgesamt im Bildungsbereich einen
Mittelaufwuchs gegeben hat. Zur Ehrlichkeit gehört
dazu, dass mit dem Aufwuchs 2008 begonnen wurde.
Der größte Sprung war 2008/2009. Zu diesem Zeitpunkt
hatten Sie noch nicht wirklich die Federführung für das
Ministerium. Aber bitte, sei es drum. Hier muss man
nicht so kleinlich sein. Hauptsache, ein Mittelaufwuchs.

Wenn aber der Höhepunkt bei der Grundbildung im
Jahr 2010 war und die Mittel für die Grundbildung in
den Haushalten 2011 und 2012 wieder sanken, obwohl
wir alle wissen, dass hier gehandelt werden muss, dann
ist dies für mich unbegreiflich; das muss ich an dieser
Stelle sagen. War das im Jahr 2010 nur ein Strohfeuer?
Wie bewerten Sie Ihr eigenes Handeln?

Was machen Sie jetzt? Auf die Neuauflage dieser
Frage reagieren Sie mit der Bildung von Arbeitskreisen
und der Formulierung von Strategiepapieren. Im Herbst
letzten Jahres gab es wieder einmal die Einsetzung eines
Arbeitskreises zum Thema „Positionspapier Grundbil-

dung“. 2012 haben Sie Ihr Konzept zur „Bildungsstrate-
gie 2010–2013“ vorgelegt; das muss man im Kopf
haben. Dieser Arbeitskreis soll den Input für ein Posi-
tionspapier liefern? Wir wissen aber doch, um was es
geht. Der UNESCO-Weltbildungsbericht sagt es uns; der
Atlas der Globalisierung sagt es uns in seinem Kapitel
über Bildung. Wir wissen, dass wir die betroffenen Län-
der institutionell stärken müssen. Wir wissen, dass wir
die Bildungsstrategien in diesen Ländern stärken müs-
sen. All dies ist bekannt. Wir wissen, dass der Sektor
Bildung weltweit unterfinanziert ist. Konzeptionelle und
finanzielle Unterstützung ist also nötig. An dieser Stelle
brauche ich keinen neuen Arbeitskreis und keine neuen
Positionspapiere. Ich brauche Handeln. Das vermisse
ich.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich komme zum Schluss. Sie wollten sich an diesem
Strategiepapier und dessen Umsetzung messen lassen.
Auf der letzten Seite Ihres Strategiepapiers unter der
Überschrift „Unsere Überzeugung: Mehr Bildung ist
möglich“ heißt es vollmundig:

An der Erreichung unserer strategischen
„Zehn Ziele für mehr Bildung“ wollen wir uns
messen lassen.

Ich finde, diese Chance hat der Wähler am 22. Sep-
tember. Ich hoffe, er wird sie wahrnehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Die Hoffnung stirbt zuletzt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722828600

Das Wort hat die Kollegin Anette Hübinger von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1722828700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! In der Tat,
Frau Kofler, es ist anderthalb Jahre her, dass der Antrag
der SPD zum Bereich der Bildung in der Entwicklungs-
zusammenarbeit zum ersten Mal in diesem Hause disku-
tiert wurde. Damals waren wir uns einig, dass zahlreiche
Aspekte der Bildung wesentliche Bestandteile in unserer
Entwicklungszusammenarbeit werden müssen. Über
diese Aspekte haben wir uns auch ausgetauscht.

Wir waren uns auch darüber einig, dass der kürzeste
und schnellste Weg aus der Armut der Schulweg ist.
Aber dieser Schulweg darf nicht beim Besuch der
Grundschule enden, sondern er muss weitergehen. Le-
benslanges Lernen muss ein wichtiger Bestandteil wer-
den.

Mittlerweile wartet der neue Weltbildungsbericht der
UNESCO mit neuen Zahlen auf. In dem alten Bericht,
den Sie in Ihrem Antrag zitiert haben, ging man von
67 Millionen Kindern aus, die keine Grundschulbildung
haben. 61 Millionen sind es heute; damit hat sich die Si-
tuation leider nur wenig, aber immerhin, verbessert. Auf





Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)


der anderen Seite sagt der Bericht auch, dass in der Zeit
von 2008 bis 2010 die Grundbildung in der Gesamtheit
zum Stillstand gekommen ist. In einigen Ländern gibt es
zwar Fortschritte, aber in anderen nicht.

Dass 61 Millionen Kinder keine Grundschule besu-
chen, ist besorgniserregend. Umso besorgniserregender
ist auch, dass von 650 Millionen Kindern im Grund-
schulalter 120 Millionen Kinder nicht die vierte Klasse
erreichen. Weitere 130 Millionen Kinder erwerben in
dieser Schulzeit nicht genügend Basiswissen, um richtig
lesen und schreiben zu können. Diese Zahl hat für mich
eine erschreckende Aussagekraft. Erschreckend ist sie
deswegen, weil die Akzeptanz der Eltern gegenüber der
Bildung der Kinder nachlassen wird. Sie werden sich
fragen: Warum schicke ich die Kinder zur Schule, wenn
kein Bildungsfortschritt zu verzeichnen ist?

Der zweite erschreckende Aspekt für mich ist, dass
sich diese Defizite bis in das Erwachsenalter fortsetzen
werden. Wir müssen bedenken, dass den Menschen da-
mit im Grunde genommen die Möglichkeit der persönli-
chen Entwicklung genommen wird, sie werden kein
selbstbestimmtes Leben führen können. Für die Ent-
wicklungsländer bedeutet das, dass sie selbst in ihrer
Entwicklung nicht vorankommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Frau Kofler, Sie haben die Zahl genannt: Rund
750 Millionen Erwachsene sind Analphabeten, zwei
Drittel davon sind Frauen. Daher ist es erfreulich, dass
zum ersten Mal in der Geschichte des BMZ eine Bil-
dungsstrategie vorgelegt wurde – das BMZ ist immerhin
schon 50 Jahre alt – und dass in dieser Strategie Bildung
als Schwerpunkt formuliert wurde.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich halte das Strategiepapier „Zehn Ziele für mehr
Bildung“ des Ministeriums für gelungen, weil es das
lebenslange Lernen als strategischen Schlüssel für
Entwicklung umfassend stärkt. Sachlich und an den
drängenden Problemen orientiert, formuliert die Strate-
gie, was unter einer inklusiven und ganzheitlichen Bil-
dungspolitik zu verstehen ist.


(Harald Leibrecht [FDP]: Ja!)


In den Mittelpunkt gerückt werden neben der früh-
kindlichen, der Grund- und Sekundarbildung auch die
berufliche Bildung – was in der Vergangenheit nachge-
lassen hatte; auf Reisen werden wir immer wieder darauf
angesprochen – sowie die Hochschul- und die wissen-
schaftliche Bildung.

Qualität steht dabei immer im Mittelpunkt – auch das
ist in die Strategie eingeflossen –: Sowohl gute Ausbil-
dung der Lehrer und Lehrerinnen als auch gute Arbeits-
bedingungen – darum zähle ich auch die Arbeitsbedin-
gungen der Kinder, nämlich der Schülerinnen und
Schüler auf – werden genannt. Adäquate Bildungsin-
halte und gutes Bildungsmanagement gehören genauso
dazu wie eine Evaluierung und Wirkungskontrolle von
Bildungsangeboten. Neue und innovative Methoden
werden in den Projekten zur Anwendung kommen.

Vor allem Ihre Beschwerde, Frau Dr. Kofler, dass die
Veröffentlichung der Strategie so lange gedauert hat,
kann ich nicht nachvollziehen. Bei der Erarbeitung der
Strategie hat das Ministerium zum ersten Mal einen
neuen Weg gewählt. Es hat den Weg gewählt, alle
Akteure in der Entwicklungscommunity einzubinden.
Wenn ich ein Abstimmungsverfahren durchführe, um die
breite Akzeptanz einer Strategie zu erhalten, und das da-
raus resultierende Wissen mit einfließen lassen will,
dann braucht das eben Zeit.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Tatsache, dass wir uns Zeit gelassen haben, hat
dazu geführt, dass sich das Ergebnis sehen lassen kann.
Wir haben ein Strategiepapier, das mittel- und langfristig
über 2013 hinaus wirken wird. Es ist ein guter Leitfaden
für uns als Entwicklungspolitiker. Es bietet aber auch
eine gute Orientierung für unsere Partnerländer, wenn es
darum geht, zu erfahren, in welchen Bereichen der Bil-
dung sie mit uns zusammenarbeiten können.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Schwerpunkte werden häufig gesetzt, aber leider
nicht so oft mit entsprechenden Haushaltszahlen unter-
legt. Damit das Ganze nicht nur ein Lippenbekenntnis
bleibt, haben wir das getan. Diese Zahlen können sich
sehen lassen. Wir haben den Bereich bilaterale Entwick-
lungszusammenarbeit ausgebaut. In diesen Bereich sind
rund 17,6 Prozent des gesamten Budgets geflossen. Es
ist damit – die Zahl wurde bereits genannt – auf 1,3 Mil-
liarden Euro anwachsen.

Es stellt sich die Frage, ob Studienplätze darin enthal-
ten sind oder nicht. Wenn ich den Wissenschaftsbereich
und den Hochschulbereich fördern möchte, dann brau-
che ich auch Studierende. Ich brauche Menschen von
außerhalb, die bei uns lernen und studieren dürfen. Auch
in diesem Zusammenhang werden wir permanent ge-
fragt: Könnt ihr nicht noch mehr jungen Menschen die
Gelegenheit bieten, bei euch zu studieren?


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Regierungszusagen im Bereich Bildung sind von
209 Millionen Euro in 2011 auf 350 Millionen Euro in
2012 gestiegen. Für dieses Jahr sind Zusagen in Höhe
von 302 Millionen Euro geplant. Berücksichtigt man die
Bildungsbestandteile in Maßnahmen anderer Sektoren,
so liegen die Zusagen für Bildung in 2012 bei 465 Mil-
lionen Euro, für 2013 sind 342 Millionen Euro geplant.
Aus 2012 wissen wir, dass der Ansatz übertroffen wurde,
also ist dies auch 2013 zu erwarten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Da können die Grünen noch etwas lernen!)


Zu begrüßen ist, dass auch die Mittelzusagen für den
Bereich der beruflichen Bildung ihrer Bedeutung ent-
sprechend deutlich angehoben wurden. Das System der
dualen Ausbildung wird von unseren Partnerländern
vermehrt nachgefragt, vor allem, weil infolge der stei-





Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)


genden Investitionen in unseren Partnerländern – insbe-
sondere aus dem europäischen Raum – und der Stärkung
der örtlichen kleinen und mittelständischen Unterneh-
men vermehrt Fachpersonal gebraucht wird. Das bilden
wir aus. Damit bieten wir den jungen Menschen eine
gute Perspektive für ihr künftiges Leben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Bei uns müssen Unternehmen für die duale Ausbil-
dung geradestehen und finanzielle Leistungen erbringen.
Die Unternehmen in unseren Partnerländern können im
Rahmen von Public-private-Partnership ebenso einen
Beitrag leisten. Wir müssen den Unternehmen einen
Umdenkungsprozess dergestalt nahelegen, dass sie ein-
sehen, dass die Ausbildung junger Fachkräfte in ihrer
Verantwortung liegt, dass sie einen Beitrag zur Ausbil-
dung der jungen Fachkräfte leisten müssen, damit sie
auch in Zukunft Fachkräfte haben.

Dennoch bleibt der Staat in der Pflicht – diesbezüg-
lich gebe ich Ihnen recht, Frau Dr. Kofler –; denn Bil-
dung ist auch und vor allem Staatsangelegenheit. Kinder
brauchen eine ordnungsgemäße Bildungsinfrastruktur.
Deshalb unterstützen wir unsere Partnerländer beim
Aufbau dieser Bildungsstrukturen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn der Staat seiner Verpflichtung nicht nachkommt,
müssen andere Institutionen die Lücke schließen dürfen.
Ich denke in diesem Zusammenhang insbesondere an die
Kirchen, die in diesem Bereich eine sehr wertvolle Ar-
beit leisten und daher unsere Unterstützung verdienen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber auch der Hochschul- und Wissenschaftsbereich
wird ausgebaut werden, da für Entwicklungs- und Inno-
vationsprozesse gut ausgebildete Fach- und Führungs-
kräfte benötigt werden. Gerade im Forschungs- und
Wissenschaftsbereich stelle ich immer wieder fest, dass
unsere Partnerländer bei globalen Fragen wie Klima-
wandel, Energie und Gesundheit gerne mit uns auf
Augenhöhe arbeiten möchten. Sie brauchen junge Wis-
senschaftler, damit sie an der Lösung dieser Probleme
gemeinsam mit uns arbeiten können. Das zeugt von ei-
nem neuen Selbstbewusstsein unserer Partnerländer, das
ich sehr begrüße.

Liebe Frau Kofler, in Ihrer letzten Rede zu diesem
Thema vor anderthalb Jahren haben Sie zu Recht bemän-
gelt, dass die Mädchen im Entwurf der Strategie nicht
expressis verbis benannt wurden. Im Ausschuss waren
wir fraktionsübergreifend der Meinung, dass dies ein
Manko ist und man nicht einfach sagen kann, dass Mäd-
chen und Frauen immer mitgedacht werden. Dieser
Mangel ist behoben. Unter Punkt 6 der Strategie ist die
Mädchen- und Frauenförderung expressis verbis aufge-
nommen worden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Es wurden Probleme und Lösungen benannt. Problem:
Ausbildung von Lehrerinnen. Lösung: sicherer Schul-

weg, getrennte sanitäre Anlagen. All das wird benannt.
Meines Erachtens ist es zur Beseitigung der Diskriminie-
rung aber genauso wichtig, dass wir die Entscheidungs-
träger in den Dörfern und in den Städten vor Ort auf
unsere Seite bringen und ihnen klarmachen, dass die
Ausbildung der Mädchen wertvoll ist, und zwar für die
Entwicklung der Mädchen und der Familie, aber auch
für die Entwicklung des Dorfes, der Stadt und des gan-
zen Landes. Nur wenn uns das gelingt, wenn wir die
Menschen mitnehmen können, sind unsere Projekte in
diesem Bereich nachhaltig.

Auch bei allem guten Willen wird Deutschland die
Herausforderungen hinsichtlich der Bildungsproblema-
tik weltweit nicht alleine bewältigen können. Dafür
fehlen uns ganz einfach die Mittel, auch wenn wir sie
aufgestockt haben. Im internationalen Bereich müssen
wir die Mittelvergabe besser koordinieren und unsere
Anstrengungen verbessern und verstärken. An dieser
Stelle ist der Blick mit Sicherheit auch auf den Post-
MDG-Prozess zu richten; denn der Bildungsbereich
muss in diesem Zusammenhang eine herausragende
Stellung einnehmen. Wir als Industrieländer müssen uns
genauso wie die Entwicklungs- und Schwellenländer
verpflichten, damit wir gemeinsam zu einer verbindli-
chen Erklärung in diesem Bereich kommen.

Die christlich-liberale Koalition hatte zu Beginn die-
ser Legislaturperiode einen Antrag vorgelegt, in dem all
die Punkte, die ich eben benannt habe, und noch mehr
aufgeführt sind. Das Ministerium hat unsere Vorschläge,
insbesondere unseren Vorschlag, Bildung zum Schwer-
punktbereich unserer EZ zu machen, aufgegriffen.
Unsere Forderungen sind in die Bildungsstrategie einge-
flossen. Von daher kann ich sagen, dass wir gut daste-
hen. Deswegen lehnen wir den Antrag ab.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722828800

Für die Fraktion Die Linke hat das Wort der Kollege

Niema Movassat.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722828900

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bis zum

Jahr 2015 sollen alle Kinder auf der Welt die Möglich-
keit haben, eine Grundschule zu besuchen. Das steht in
den Millenniumsentwicklungszielen der internationalen
Staatengemeinschaft aus dem Jahre 2000. Die Realität
aber ist, dass dies ungefähr 61 Millionen Kindern weiter-
hin verwehrt bleibt. Heute ist es sogar so, dass in Afrika
südlich der Sahara die Zahl der Kinder ohne Grund-
schulzugang teilweise wieder stark ansteigt. Deshalb
muss Deutschland seine globalen Anstrengungen zur Er-
reichung des Zugangs zur Grundbildung deutlich stei-
gern.


(Beifall bei der LINKEN)


Grundbildung ist insbesondere auch deshalb elemen-
tar, weil sie Analphabetismus verhindert. Weltweit kön-





Niema Movassat


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(D)(B)


nen heute über 700 Millionen Erwachsene nicht lesen
und schreiben. Wer nicht lesen und schreiben kann, ist
eher von Armut betroffen und hat es schwerer, sich poli-
tisch zu engagieren und für seine Rechte einzutreten. Zu
einem gewissen Maß ist dies offenbar leider auch poli-
tisch gewollt.

Die Kultur- und Erziehungsorganisation der Vereinten
Nationen, die UNESCO, bescheinigt sowohl Regierun-
gen als auch Gebern Gleichgültigkeit auf diesem Gebiet.
Der verstorbene Präsident Venezuelas, Hugo Chávez, hat
einmal sehr richtig gesagt: Die einzige Form, mit der Ar-
mut Schluss zu machen, ist, den Armen Macht zu geben.
Bewusstsein und Wissen sind Macht.


(Beifall bei der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Chávez im Zusammenhang mit Menschenrechten zu nennen, ist schon sehr bemerkenswert!)


Venezuela hat in nur sechs Jahren den Analphabetis-
mus im Land besiegt. Das zeigt: Wo der politische Wille
besteht, das Menschenrecht auf Bildung durchzusetzen,
ist das auch möglich.


(Beifall bei der LINKEN – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Hugo for ever!)


Obwohl weltweit etwa 2 Millionen neue Grundschul-
lehrer benötigt werden, stagnieren seit 2010 die weltwei-
ten Finanzzusagen insbesondere für die Grundbildung.
Auch die Bundesregierung hat die Zusagen für die
Grundbildung in den letzten Jahren von 113 Millionen
Euro auf 81 Millionen Euro reduziert, während sie die
Mittel für die Berufsbildung bzw. -ausbildung fast ver-
doppelt hat. Sie zäumen damit das Pferd von hinten auf.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei Minister Niebels Fanatismus, was die Zusammen-
arbeit mit der deutschen Wirtschaft anbelangt, drängt
sich leider der Verdacht auf, dass Sie lieber gezielt Fach-
kräfte für deutsche Unternehmen ausbilden, statt der
breiten Masse Grundbildung zu ermöglichen. Das ist der
falsche Weg.


(Beifall bei der LINKEN)


Erst in dieser Woche hat das Entwicklungsministe-
rium die Mittel zur Bildung und Ausbildung von Journa-
listen in Entwicklungsländern erhöht. Mit großem
Pathos erklärte Staatssekretär Beerfeltz, dem Recht auf
freie Meinungsäußerung müsse weltweit noch mehr
Geltung verschafft werden. Gleichzeitig aber übt das
Ministerium im eigenen Land Zensur aus. Kritische
Nichtregierungsorganisationen müssen ihre Texte vor
Veröffentlichung dem Ministerium vorlegen, wenn eine
staatliche Förderung besteht.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Skandal!)


Gedruckt werden darf nur das, was Herrn Niebel
gefällt. Der Geschäftsführer des Forums Umwelt und
Entwicklung hat dazu angemerkt, dass das Zustände wie
in Weißrussland sind. Recht hat der Mann.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung verkündet übrigens gerne stolz,
dass Deutschland 1,2 Milliarden Euro für internationale
Bildung als Entwicklungshilfe ausgibt. Die Hälfte dieser
Gelder aber sind Studienplatzkosten für ausländische
Studierende, die in Deutschland studieren. Hierbei geht
es oft nicht darum, den armen Ländern zu helfen, son-
dern ihre besten und klügsten Köpfe abzuwerben. Die
UNESCO kritisiert das seit Jahren. Mit Entwicklungs-
hilfe hat das nämlich nichts zu tun.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Übrigen ist dieselbe neoliberale Politik, die Frau
Merkel Europa aufzwängt und die zu schwersten sozia-
len Verwerfungen führt, seit Jahren für den Verfall des
öffentlichen Bildungswesens in den Entwicklungslän-
dern mitverantwortlich. So knüpft der Internationale
Währungsfonds bis heute seine Kreditvergabe an die
Bedingung, Staatsausgaben zu reduzieren. Meist wird
zuerst im Bildungssektor der Rotstift angesetzt.

Die Bundesregierung als IFW-Mitglied muss, wenn
sie es mit der Schaffung von Bildungszugängen für alle
Kinder ernst meint, dagegen aktiv werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Bildung ist ein Menschenrecht, das nur gebührenfreie
staatliche Bildungssysteme gewährleisten können. Wir
stimmen hierin mit dem SPD-Antrag überein und wer-
den ihm deswegen auch zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Das sind ja feine Freunde!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722829000

Als letzte Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

hat das Wort die Kollegin Ute Koczy von Bündnis 90/
Die Grünen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ute, jetzt fang an mit: Danke Dirk!)



Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722829100

Von wegen.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Aber du könntest einmal sagen, wie viel für Bildung RotGrün zur Verfügung gestellt hat!)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Am heutigen Tag, einen Tag nach der Vorstel-
lung des Eckwertebeschlusses für den Haushalt 2014,
kann ich als entwicklungspolitische Sprecherin bei der
Diskussion über einen Bildungsantrag nicht einfach zur
Tagesordnung übergehen. Fakt ist: Die Regierung kün-
digt Kürzungen im Haushalt des Entwicklungsministeri-
ums an.


(Otto Fricke [FDP]: Aha! Wie viel?)


– Wenn man alles zusammenrechnet, drohen Einschnitte
von bis zu 245 Millionen Euro, Herr Kollege.


(Otto Fricke [FDP]: Gegenüber was?)






Ute Koczy


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– Gegenüber 2013. – Das ist ein Armutszeugnis für die
Regierung Merkel, Rösler und Co. Das ist das finale Ne-
gativzertifikat der Entwicklungspolitik von Schwarz-
Gelb.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Ah, ja! – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Du weißt schon noch, was bei Rot-Grün im Topf war?)


Es entlarvt Kanzlerin Merkel als eine Versprechens-
brecherin. Ich erinnere: Das 0,7-Prozent-Ziel wurde der
Weltöffentlichkeit in Heiligendamm von Angela Merkel
als deutsche Aufbruchspolitik, als deutsches Bekenntnis
zur internationalen Verantwortung verkauft. Unter
Minister Niebel landet dieses Versprechen auf dem
schwarz-gelben Müllhaufen der Geschichte.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das müsst ihr mit euren 3,9 Milliarden Euro sagen! Sieben Jahre Stillstand!)


Wenn er seine Mütze nicht schon dem Haus der Ge-
schichte vermacht hätte, wäre jetzt die Gelegenheit, sie
gleich noch hinterher auf diesen Müllhaufen zu werfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Anette Hübinger [CDU/ CSU]: Wir hätten jetzt gern etwas zur Bildung gehört! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/ CSU]: Sieben Jahre Stillstand, sieben Jahre keine Steigerung!)


Diese Kürzungsansage ist angesichts der Ziele, die wir
Entwicklungspolitikerinnen und Entwicklungspolitiker
zu erreichen suchen, nämlich globale Gerechtigkeit und
eine Neubestimmung, wie wir in dieser globalen Welt
Entwicklungswege innerhalb der planetarischen Gren-
zen gehen können, mehr als bitter. Die Kürzungen be-
treffen alle Arbeitsbereiche der EZ und damit wahr-
scheinlich auch das Themenfeld, über das wir hier heute
sprechen, nämlich die Bildung.

Wie gefährlich es ist, wenn sich Mädchen zur Bildung
bekennen, musste die pakistanische Schülerin Malala
aus dem Swat-Tal erleben. Sie wurde für ihr Bekenntnis,
zur Schule gehen zu wollen und dafür auch öffentlich
einzutreten und zu streiten, von Fundamentalisten tätlich
angegriffen und schwer verletzt.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Und wie stellst du da eine Verbindung zum Entwicklungshaushalt her? Das ist ja unglaublich!)


– Herr Kollege Fischer, das hat jetzt nichts damit zu tun,
aber es hat sehr viel damit zu tun, wie wichtig Bildung
ist und dass wir dafür streiten müssen.

Bildungsmöglichkeiten für Mädchen und Jungen, für
Menschen mit und ohne Handicap, für Alt und Jung, für
Kinder aus allen Schichten – das ist doch ein Ziel, für
das es sich zu streiten lohnt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es gibt Erfolge, die Mut machen, die zeigen: Ja, es
geht. Mit entwicklungspolitischen Maßnahmen können
wir etwas erreichen, und wir dürfen in unseren Anstren-
gungen nicht nachlassen. Wir Grüne können diesem An-
trag deswegen zustimmen. Denn wir wollen, dass nicht
nur der Zugang zu Bildung, sondern auch die Qualität
von Bildung vergrößert wird. Qualität bedeutet, dass die
Lernenden wirklich etwas lernen. Qualität bedeutet, dass
das Lehrpersonal ausreichend qualifiziert ist, dass die
Zahl der Kinder in einer Klasse Lernen ermöglicht und
dass es Curricula gibt, die Lernbereitschaft und Eigenan-
strengung belohnen und fördern. Qualität heißt eben
auch, den Anteil der weiblichen Lehrkräfte zu erhöhen.


(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Deswegen entlassen die Grünen Zehntausende in BadenWürttemberg!)


Ich finde, da muss man noch mehr tun. Die Bildungs-
strategie des BMZ, die nach einem langwierigen Prozess
Anfang letzten Jahres endlich vorgestellt wurde, muss fi-
nanziell und strategisch mit Substanz gefüllt werden.
Unsere Kritik daran ist, dass unklar ist, mit welchen
Maßnahmen die Ziele erreicht und finanziert werden sol-
len. Es gibt nämlich keine Indikatoren, keine konkreten
Zahlen. Das bedeutet, dass nicht klar ist, worauf diese
Bildungsstrategie konkret abzielt. Wir haben genug An-
kündigungen gehört. Wir wollen Taten sehen.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Otto Fricke [FDP]: Man sollte nie falsche Zahlen nennen, Frau Kollegin!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722829200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Für eine bessere Bildungssituation weltweit“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11492, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/6484 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 11 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes über die Gewährung eines Altersgelds
für freiwillig aus dem Bundesdienst ausschei-
dende Beamte, Richter und Soldaten

– Drucksache 17/12479 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



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Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Armin Schuster das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1722829300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Der Wettbewerb um die besten Köpfe im Land
ist in vollem Gange, und er ist angesichts einer sich ste-
tig verändernden Altersstruktur in der Bevölkerung und
einer immer geringeren Zahl von Kindern eine der gro-
ßen Herausforderungen für den öffentlichen Dienst.
Wenn der Arbeitgeber Bund der Konkurrenz um gute
Fachkräfte gewachsen sein will, muss er etwas bieten.
Ich habe den Eindruck, heute bewerben sich die Bundes-
behörden eher bei den Fachkräften als umgekehrt.

Bei den Gehältern werden wir mit der Privatwirt-
schaft wohl nicht mithalten können. Deshalb muss der
Bund als Arbeitgeber andere attraktive Angebote ma-
chen können. Genau da haben die Regierung, die Koali-
tion und das Parlament ihre Aufgaben. Im Wettbewerb
um die besten Fachkräfte hat die christlich-liberale
Koalition in dieser Legislaturperiode deshalb sehr viel
getan, damit der Bund ein verlässlicher und zukunfts-
orientierter Arbeitgeber für Beamte, Soldaten und Bun-
desrichter bleibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


So haben wir zum Beispiel die Dienstbezüge gleich
zweimal inhaltsgleich zu den Tarifabschlüssen für den
öffentlichen Dienst angepasst. Wir haben die Einsatzver-
sorgung unserer Soldaten verbessert. Wir haben ein
Fachkräftegewinnungsgesetz auf den Weg gebracht, mit
dem wir den Behörden attraktive Instrumente zur Perso-
nalgewinnung an die Hand geben. Die Zahlung des
Weihnachtsgeldes für die Bundesbeamten wurde 2011
wieder eingeführt. Mit der Entscheidung, die pauschalen
Stellenkürzungen auslaufen zu lassen, hat der Bundesin-
nenminister genau zum richtigen Zeitpunkt ein sehr
wichtiges Zeichen gesetzt.

Apropos wichtige Zeichen zum richtigen Zeitpunkt:
Bundesinnenminister Friedrich hat gestern die Bewer-
tung von 1 063 Dienstposten der Bundespolizei angeho-
ben. Seit 2011 kam es zu rund 3 000 Höherbewertungen
und 150 Planstellenhebungen. Auch das ist ein echter
Attraktivitätsschub, den sich die Betroffenen übrigens
auch verdient haben; das darf ich an dieser Stelle einmal
sagen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir werden noch in diesem Jahr die Familienpflege-
zeitregelung der Tarifbeschäftigten auf die Beamten des
Bundes übertragen. Wir wollen, dass auch Beamte die
Pflege von nahen Angehörigen und ihre Berufstätigkeit
vereinbaren können. Vielleicht kann die Bundesverwal-
tung hier eine Vorreiterrolle übernehmen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, unsere be-
amtenpolitischen Initiativen in dieser Legislaturperiode
stellen eine Erfolgsbilanz dieser christlich-liberalen Ko-
alition dar, wie sie sich viele Beamtinnen und Beamte in
einigen rot-grün geführten Bundesländern geradezu
wünschen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Oh! Eine böse Spitze!)


– Es kommt noch besser. – Wir wollen heute, sozusagen
auf der Zielgeraden dieser Wahlperiode, eine weitere
Gesetzesinitiative auf den Weg bringen, die es guten Be-
werbern noch attraktiver erscheinen lässt, in der Bundes-
verwaltung anzuheuern.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Lachhaft!)


Wir wollen den Wechsel zwischen öffentlichem
Dienst und Privatwirtschaft zukünftig in beide Richtun-
gen erleichtern. In der Koalition haben wir uns auf den
vorliegenden Gesetzentwurf – Herr Dr. Ruppert, zugege-
benermaßen intensiv – geeinigt,


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Ja, allerdings! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: „Intensiv“? Das provoziert Zwischenfragen!)


auf einen Gesetzentwurf übrigens, mit dem wir endlich
die Dienstrechtsreform von 2009 komplettieren wollen.
Wir wollten das eigentlich schon damals machen. Jetzt
sind wir so weit. Wir wollen den Austausch zwischen
Staat und Wirtschaft beleben und die besten Köpfe für
den öffentlichen Dienst gewinnen, ihnen dabei aber
nicht den Eindruck vermitteln, sie müssten sich von Be-
ginn an für ihr ganzes Leben unwiderruflich verpflich-
ten.

Die Bundesverwaltung wird damit für Berufseinstei-
ger deutlich attraktiver. – Warum? Wenn aktive Beamte
bisher einen Wechsel in die Privatwirtschaft erwogen ha-
ben, mussten sie im Rahmen der dann fälligen gesetzli-
chen Nachversicherung mit derart hohen Abschlägen in
der Alterssicherung rechnen, dass die meisten von die-
sem Schritt abgehalten wurden. Das bleibt natürlich
auch potenziellen Bewerbern nicht verborgen. Deshalb
– das ist der Zustand heute – werden sich diejenigen, die
sich eine berufliche Flexibilität von vornherein nicht
verbauen wollen, nicht dafür entscheiden, in die öffentli-
che Verwaltung zu gehen. Genau diesen Bewerbern
möchten wir die Option eröffnen, möglicherweise nur
einen Teil ihres beruflichen Lebens als Beamter zu arbei-
ten und die damit erworbenen Versorgungsansprüche
wie in der Privatwirtschaft quasi mitzunehmen.

Ich bin zutiefst davon überzeugt, dass diese Regelung
nicht nur mehr Gerechtigkeit bringt, sondern vor allen
Dingen auch mehr Bewerber. Von diesen neu gewonne-
nen Bewerbern werden deutlich mehr bleiben als gehen.
Erfahrene Fachkräfte oder Studienabsolventen werden
den öffentlichen Dienst, wenn sie erst einmal drin sind,
als attraktiven Arbeitgeber erleben und sich wohlfühlen.





Armin Schuster (Weil am Rhein)



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Deshalb ist das Thema Portabilität für mich ein Modell
zum Einstieg.

Mit der jetzigen Gesetzesinitiative will die Union da-
für sorgen, dass Beamte, die freiwillig ausscheiden wol-
len, ihre bis dahin erdienten Pensionsansprüche nicht in
erheblichem Umfang verlieren. Der bis zum Ausschei-
den erworbene Anspruch soll weitgehend mit dem Errei-
chen der gesetzlichen Altersgrenze als Altersgeld ausge-
zahlt werden.

Das Lebenszeitprinzip bleibt für uns ein wichtiger
Grundsatz. Wir wollen keine falschen Anreize setzen;
deshalb haben wir einen Abschlag in Höhe von 15 Pro-
zent der Altersgeldansprüche und eine Mindestverwen-
dungszeit von sieben Jahren im Gesetz verankert.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Damit doch ja keiner geht!)


Entstandene Ausbildungskosten sollen vom Staat gege-
benenfalls zurückgefordert werden können.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Dann können Sie das gleich ganz lassen!)


Mehr Austausch zwischen öffentlichem Dienst und
Privatwirtschaft bringt beiden Seiten Vorteile; dies zei-
gen die positiven Erfahrungen der christlich-liberalen
Gesetzesinitiative von 2011 zur Einführung der Portabi-
lität in Baden-Württemberg.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Macht doch das!)


Weitere Länder werden dem folgen. Ich betrachte diesen
Reformschritt deshalb als eine zukunftsorientierte Fort-
entwicklung der hergebrachten Grundsätze des Berufs-
beamtentums.

Auch die SPD, Herr Hartmann, wollte dieses Vorha-
ben eigentlich schon immer umsetzen, hat es aber nicht
geschafft.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das ist an der CDU gescheitert!)


Geschätzter Herr Kollege, um Ihnen doch ein wenig Er-
folg zu gönnen, darf ich sinngemäß zitieren, was Sie
heute morgen in anderem Zusammenhang sagten: dass
es einem modernen Gesetzgeber gut zu Gesicht stünde,
wenn er die Wirkungen seiner Gesetze regelmäßig be-
werten würde.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: So schlaue Sachen sage ich oft!)


– Das ist wirklich schlau. Deswegen werden wir die
Auswirkung dieses Gesetzes auf Personalbestand und
Budgets zum 31. Dezember 2016 überprüfen.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Sehr gut!)


Das heißt, die SPD darf uns getrost zustimmen und uns
fortan, wie Sie es heute morgen getan haben, als moder-
nen Gesetzgeber bezeichnen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Heiterkeit des Abg. Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD] – Otto Fricke [FDP]: Wenn die SPD zustimmt, ist auch sie ein moderner Gesetzgeber!)


Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir haben
unseren Beamtinnen und Beamten, Polizistinnen und
Polizisten, Soldatinnen und Soldaten in der Vergangen-
heit viel zugemutet durch Neuorganisationen, Reformen,
Aufgabenerweiterungen und Stellenkürzungen. Das ha-
ben sie alles unter vollen Segeln bewerkstelligt, sodass
wir uns glücklich schätzen dürfen, über sehr gut funktio-
nierende Behörden zu verfügen. Dass das ein unschätz-
barer Standortvorteil für Deutschland ist, sehen wir sehr
gut an den EU-Ländern, die jetzt in der Krise sind: Dort
gibt es – neben anderen Problemen – auch deutliche De-
fizite im öffentlichen Gemeinwesen. Unsere Verwaltung
ist effizient und verlässlich, sie trägt wesentlich zum Er-
folg des Standorts Deutschland bei. Weil unsere Beam-
ten uns dies mit ihren Leistungen tagtäglich garantieren,
wollen wir das auch angemessen honorieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Monetär, aber eben auch durch attraktive und moderne
Arbeitsbedingungen zu motivieren, das war unser beam-
tenpolitisches Ziel. Nach Auffassung vieler Interessen-
verbände ist das dieser Koalition in dieser Legislatur
sehr gut gelungen. Die Einführung eines Altersgeldes ist
nur ein Beleg dafür, wie wir den öffentlichen Dienst
Schritt für Schritt modernisieren.

Als Baden-Württemberger drängt sich mir natürlich
die Frage auf – ich habe ja zwölf Minuten, Herr
Hartmann –: Was wäre eigentlich die grün-rote oder die
rot-grüne Alternative? Das ist jetzt einfach; denn ich
habe das jeden Tag live zu Hause.

Ich zitiere einmal Herrn Stich, den Chef des Baden-
Württembergischen Beamtenbundes.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Der ist doch auch CDU-Mitglied! Der macht da CDU-Propaganda, oder?)


Nach zwei Jahren Regierungszeit von Grün-Rot in Ba-
den-Württemberg spricht er von einem Offenbarungseid
dieser Regierung.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: So schaut es aus! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Er würde auch aus der Partei ausgeschlossen, wenn er was anderes sagen würde!)


Ein Beispiel: In Baden-Württemberg werden, so kün-
digte Finanzminister Schmid am Montag, nicht einmal
48 Stunden nach der Tarifrunde, an, die Ergebnisse der
Tarifrunde nicht auf die Beamten und Pensionäre über-
tragen.


(Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Ungeheuerlich! – Michael Frieser [CDU/CSU]: Unfassbar!)


Man habe im Haushalt nicht mit einem solchen Ergebnis
gerechnet.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Die haben mit nix gerechnet!)






Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



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2,65 Prozent Lohnsteigerung in diesem Jahr und knapp
3 Prozent im nächsten Jahr: Damit konnte man nicht
rechnen? Hier werden die Beamten hinter die Fichte ge-
führt.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Kein moderner Gesetzgeber!)


Wenn Sie das einmal vergleichen wollen: In Baden-
Württemberg werden gerade die Eingangsämter für
Beamte abgesenkt. Mit unserem Fachkräftegewinnungs-
gesetz haben wir sie für die speziellen Fachverwendun-
gen angehoben.

Schauen Sie sich auch an, wie etwa Schleswig-
Holstein und Nordrhein-Westfalen mit den Tarifergeb-
nissen umgehen: Sie denken darüber nach, sie nicht zu
übertragen. Rheinland-Pfalz hat schon entschieden, sie
nicht zu übertragen. Und was sagt Bayern? Logisch:
gleiche Regierung, inhaltsgleich, voll übertragen wie der
Bund.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Wer hat es gemacht? Wir haben es gemacht!)


Auf uns, auf die CDU/CSU und die FDP, können sich
der Richter, der Soldat, die Richterin, die Soldatin, der
Beamte, die Beamtin und die Versorgungsempfänger
verlassen. Solange wir das Land regieren, stimmt es
auch im öffentlichen Dienst.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Das musste mal gesagt werden! – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das müsst ihr mal der Bundespolizei sagen!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, meine erste
Rede zu beamtenpolitischen Themen in diesem Haus
habe ich im September 2010 gehalten.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das macht ja nichts!)


– Ja, ja. Damals haben Sie mich vielleicht gar nicht ernst
genommen, aber jetzt tun Sie es, glaube ich, langsam. –
Schon damals habe ich angekündigt, dass wir in dieser
Wahlperiode gezielt daran arbeiten werden, den öffentli-
chen Dienst des Bundes attraktiver zu gestalten. Bis
hierhin haben wir gegenüber den Beamten, Richtern,
Soldaten und Versorgungsempfängern Wort gehalten,
und für die kommende Wahlperiode haben wir noch ei-
niges im Köcher, worauf sie sich ab Oktober wirklich
freuen dürfen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Hans-Peter Uhl [CDU/CSU]: Jetzt sagen die nichts mehr! Dem ist nichts hinzuzufügen! – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Mir fehlen die Worte! Ich ziehe meine Rede zurück! – Gegenruf des Abg. Michael Frieser [CDU/CSU]: Jetzt können wir aufhören! Wir können die Debatte abbrechen! Die SPD verzichtet!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722829400

Das Wort hat der Kollege Michael Hartmann von der

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Er ist voller Bewunderung!)



Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1722829500

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ich bin noch ehrfurchtsvoll erschüttert ob
des großen Selbstlobs dieser Koalition


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Wenn es sonst keiner macht, dann müssen wir das selber machen! – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Sehr gut!)


für alle vermeintlichen Wohltaten für die Beamtinnen
und Beamten im Land. Aber man darf auch zu dieser
Abendstunde an die Realität erinnern.

Herr Schuster, Sie haben so ruhmreich erwähnt, dass
das Weihnachtsgeld nun wieder eingeführt worden sei.
Ich kann Ihnen sagen, warum: Beamtenbund, Gewerk-
schaften und auch wir sind Sturm gelaufen, und das war
so einfach nicht mehr zu halten. Sie haben das Weih-
nachtsgeld zunächst gekürzt und es dann nur auf Druck
wieder erhöht. Das ist die richtige Erinnerung an die
Realität.


(Beifall bei der SPD – Clemens Binninger [CDU/CSU]: Das war doch unter der SPD gekürzt worden! – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nein, so war das nicht!)


– Nein, das ist nicht wahr. Herr Binninger, regen Sie sich
nicht so auf, sonst erzähle ich, wie Sie sich in der
Großen Koalition auf den letzten Metern beim Thema
Mitnahmefähigkeit verhalten haben. Das tue ich aber lie-
ber nicht.


(Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das mache ich gleich, keine Sorge!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir reden
heute über ein Thema, das hier im Parlament selten ge-
nug aufgerufen wird, nämlich über Beamte – und in
diesem Falle sogar über die Beamtenversorgung. In der
Tat: Die Klischees sind mannigfaltig. Nichts ist beliebter
als eine Schelte der angeblich faulen und überbezahlten
Beamten, die ohnehin auch noch unfähig seien. Viel-
leicht wird das nur durch eine allgemeine Politiker-
schelte getoppt.

Deshalb ist es gut, in der heutigen Debatte jenseits ei-
nes durchschaubaren Selbstlobs einmal festzustellen,
dass vor allem ein anderer Ton angemessen ist; denn Be-
amte sind beispielsweise die Polizistinnen und Polizis-
ten, die ihren Dienst in Wechselschichten versehen; die
Feuerwehrleute, die Tag und Nacht unterwegs sind, und
die Soldatinnen und Soldaten, die alle zusammen für un-
sere Sicherheit sorgen. Beamtinnen und Beamte sind
auch die Mitarbeiter von Kommunalverwaltungen, die
Personalausweise ausstellen oder Baugenehmigungen
erteilen. Beamtinnen und Beamte sind im Bundesdienst
beispielsweise sehr fleißige Menschen, die Rettungs-





Michael Hartmann (Wackernheim)



(A) (C)



(D)(B)


schirme aufspannen, die dafür sorgen, dass Gesetze ver-
fassungsgemäß sind, und die schnell und qualifiziert zu-
arbeiten. Deshalb meine ich, meine Damen und Herren:
Es darf in diesem Parlament sehr deutlich ausgesprochen
werden, dass das Gute an dem Berufsbeamtentum, wie
wir es seit der Gründung der Bundesrepublik Deutsch-
land erleben, der Umstand ist, dass jene Beschäftigten
nur eine Verpflichtung haben, nämlich der Kommune,
dem Land, der Bundesrepublik oder Europa zu dienen,
und keinen anderen Zweck verfolgen. Länder wie Grie-
chenland wären froh, sie hätten dieses Berufsbeamten-
tum.

Und auch das ist wahr: Die Stabilität und Berechen-
barkeit unseres Landes, das gute Verwaltungshandeln –
das ist diesen und anderen Beamtinnen und Beamten in
hohem Maße geschuldet, und dafür dürfen wir ihnen
auch Dank sagen,


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


zumal – das vermuten manche – die Besoldung nicht
beim Ministerialdirektor beginnt. Vielmehr beginnt die
Besoldung beim Bund beim Oberamtsgehilfen. Dieser
trägt ungefähr 1 800 Euro brutto nach Hause.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Brutto kommt er damit nie nach Hause!)


Es sind also keine Riesensummen und -beträge. Ich sage
das, weil der Reflex gegen Beamte meistens in eine an-
dere Richtung weist.


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Man sollte über die kalte Progression mal im Bundesrat nachdenken!)


Allerdings ist es so, dass auch das Berufsbeamtentum
in unseren Zeiten einem Wandel unterliegt, dass die An-
forderungen wesentlich andere sind und dass die Uhren
bei – Herr Schuster, da sind wir beieinander – der
Gewinnung von Fach- und Nachwuchskräften in Kon-
kurrenz mit der gewerblichen Wirtschaft und angesichts
des demografischen Wandels anders gestellt werden
müssen.

Dazu sind wir bereit, und dem müssen wir uns stellen.
Allerdings sagen wir sehr deutlich in Richtung des Bun-
desinnenministeriums, dass die Gralshüter des klassi-
schen hoheitlichen Berufsbeamtentums irren, wenn sie
erwarten, dass diesem nun mit der Mitnahmefähigkeit
der Untergang droht. Diese Argumentation hörten wir in
der Großen Koalition – Herr Binninger, unter Ihrem we-
sentlichen Mittun –,


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber nicht von mir!)


als wir bei der Einführung der Mitnahmefähigkeit auf
den letzten Metern durch CDU/CSU ausgebremst wur-
den.


(Clemens Binninger [CDU/CSU]: Aber nicht von mir!)


Also tun Sie nicht so, als seien Sie die Motoren gewesen.
Der größte Widerstand gegen das, was wir jetzt auf den

Weg bringen, sitzt im Bundesinnenministerium. Sie
mussten denen all das auf unseren Druck hin abringen,
meine Damen und Herren. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Wir haben es gemacht!)


Jedenfalls droht mit der Mitnahmefähigkeit nicht der
Untergang des Berufsbeamtentums, ganz im Gegenteil:
Die Zukunftsfähigkeit wird damit hergestellt. Denn
diese klassische Denke „Einmal Beamter, immer Beam-
ter“ und „Wer vorher geht, nimmt Netzwerkwissen,
seine Ausbildung und anderes mehr mit und wird das
schändlicherweise in der gewerblichen Wirtschaft ver-
wenden“ stammt aus dem 19. Jahrhundert. Diese Denke
hält junge Menschen eher davon ab, Beamter werden zu
wollen, als dass sie zum Exodus der Menschen aus dem
Berufsbeamtentum führt, wie manche unterstellen.

Insofern ist es bereits in der derzeitigen Situation so,
dass Beamtinnen und Beamte gehen. Aber das sind
meistens diejenigen, die sehr weit oben in der Besoldung
angesiedelt sind, und es sind jene, die mit ihrem zukünf-
tigen Arbeitgeber vereinbaren können, dass sie das, was
ihnen verloren geht, anderweitig als Ausgleich erhalten.

Aber jetzt stellen wir uns einen Moment lang einmal
vor, in der gewerblichen Wirtschaft würde jemand sa-
gen: Deine Betriebsrente, die du erworben hast, darfst
du, wenn du Firma A verlässt und zu Firma B gehst,
nicht mitnehmen. Du verlierst alles, was du bisher an
Betriebsrente erworben hast. – Was würden wir dann
sagen?

Wir haben durchgesetzt, dass es diese Mitnahmefä-
higkeit in der gewerblichen Wirtschaft und für die Ange-
stellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst gibt, und
deshalb ist es nur konsequent, diese endlich auch auf das
Berufsbeamtentum auszudehnen.


(Beifall bei der SPD)


Es kann nicht sein, dass ein Beamter ewig an das Be-
amtentum gekettet ist und bestraft wird, wenn er geht.
Vielmehr wollen wir junge Leute gewinnen, junge
Leute, die sagen: Wir sind vielleicht interessiert, bei ei-
ner Sicherheitsbehörde, bei einer Verwaltungsbehörde,
bei einem Ministerium unsere hohen Kenntnisse
beispielsweise im IT-Bereich einzubringen. Aber wir
wollen nicht bis ans Ende unserer Tage dort sein, und
wenn wir bis ans Ende aller Tage dort sein müssen oder
anderenfalls unsere Bezüge verlieren, dann fangen wir
dort erst gar nicht an.

Deshalb ist es wichtig, dass wir die Mitnahmefähig-
keit nicht als eine Schleuse ansehen, die alles öffnet, da-
mit Beamte abwandern können. Es ist keine Ausstiegs-
klausel aus dem öffentlichen Dienst, sondern vielmehr
eine Einstiegsklausel in den öffentlichen Dienst, um
junge Leute für diesen zu gewinnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Michael Hartmann (Wackernheim)



(A) (C)



(D)(B)


Wir werden den weiteren Prozess aktiv und intensiv
mitbegleiten. Wir werden Sie darin unterstützen, gegen
alle Kritiker in Ihren Reihen und in unseren Reihen das
Beamtenrecht modern zu gestalten. Aber wir werden das
Ganze nur wirklich voranbringen können, wenn wir den
Mut haben, zu sagen, dass das, was Beamtinnen und Be-
amte in oftmals schwierigen Situationen leisten, nicht
etwa Schimpf und Schande verdient, sondern Anerken-
nung. Die SPD ist bereit, unseren Berufsbeamten, unse-
ren Angestellten und Arbeitern im öffentlichen Dienst
diese Anerkennung entgegenzubringen, und ist deshalb
nicht erst seit gestern, sondern schon lange für die Mit-
nahmefähigkeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722829600

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Dr. Stefan Ruppert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1722829700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich muss sagen, Herr Hartmann, das war eine ausge-
sprochen gute Rede, weil Sie unser Gesetzesvorhaben so
ausdrücklich gelobt haben. Ich verstehe Sie, dass Sie
diese Rede gerne vor vier oder viereinhalb Jahren gehal-
ten hätten. Es ist immerhin anzuerkennen, dass Sie heute
loben, was wir hier tun.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Neulich diskutierten wir mit dem dbb und mit Verdi
über beamtenrechtliche Fragen. Es wurde die Föderalis-
musreform kritisiert und die Frage aufgeworfen, ob sich
das Beamtenrecht zwischen dem Bund und den Ländern
und auch den Ländern untereinander zunehmend aus-
einanderentwickelt. Herr Schuster hat einige wichtige
Hinweise darauf gegeben, dass in der Tat dort, wo bür-
gerliche Koalitionen regieren, mittlerweile die Leistun-
gen für das Berufsbeamtentum um bis zu 20 Prozent hö-
her sind als dort, wo Rot-Rot oder Rot-Grün regieren,
und dass es ein Auseinanderdriften der Systeme und der
Besoldung und der Attraktivität gibt. Den armen Beam-
ten kann man also leider nur sagen: Es ist im Moment
ein wenig Pech, in einem Land zu wohnen, wo keine
bürgerliche Regierung die Geschicke bestimmt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Nicht nur den Beamten kann man das sagen!)


Ich habe in diesen Jahren hier im Deutschen Bundes-
tag, aber auch schon davor ein sehr positives Bild vom
deutschen Berufsbeamtentum gewonnen: viele sehr leis-
tungsfähige Mitarbeiter in den Ministerien, aber auch bei
der Bundespolizei und andernorts. Ich glaube, wir kön-
nen auf ein leistungsfähiges Berufsbeamtentum zu Recht

stolz sein. Wir sollten darauf achten, dass das Berufs-
beamtentum dort aktiv ist, wo es wirklich um hoheitliche
Aufgaben geht, und nicht darüber hinaus. Wir haben ein
Leitbild des Berufsbeamtentums, das nicht darauf ange-
legt ist, jemanden, der sich einmal für den öffentlichen
Dienst entschieden hat, sein ganzes Leben an diese Tä-
tigkeit zu binden.

Ich nenne ein Beispiel. Eine Bundespolizistin ist in
Sachsen tätig, bekommt zwei Kinder und ist vielleicht
mit A 9 besoldet. Als sie wieder in den Beruf einsteigen
will, merkt sie, dass ihr nächster Dienstort vielleicht der
Frankfurter Flughafen sein könnte. – Wir stellen immer
wieder fest, dass in diesen Fällen gar kein Wiederein-
stieg in den Beruf erfolgt, weil man nicht umziehen will
oder weil man sagt, man kann diese Flexibilität, was die
Mobilität angeht, nicht aufbringen.

Wenn diese Bundespolizistin den öffentlichen Dienst
verlassen würde, würde sie wie eine Straftäterin behan-
delt. Sie würde nach dem Sozialgesetzbuch nachver-
sichert und würde einen Großteil ihrer Altersver-
sorgungsansprüche verlieren. Das ist eine echte
Gerechtigkeitslücke. Herr Hartmann hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass jemand, der von Siemens zu IBM
wechselt, seine Altersversorgungsansprüche natürlich
nicht verliert.

Auf der anderen Seite haben wir natürlich auch kein
Interesse daran, dass manche – neudeutsch würde man
von „Jobhopping“ reden – alle zwei oder drei Jahre ihren
Beruf wechseln und immer dann, wenn die Zeiten viel-
leicht etwas schwieriger sind, in den öffentlichen Dienst
gehen, um in besseren Zeiten wiederum in die Privat-
wirtschaft zu wechseln. Deswegen haben wir klar-
gemacht: Es muss eine siebenjährige Mindestdienstzeit
im öffentlichen Dienst geben, und es muss einen Ab-
schlag gegenüber den normalen Pensionsansprüchen ge-
ben. Aus unserer Sicht hätte man auch mit fünf Jahren
Mindestzeit leben und auf den Abschlag verzichten kön-
nen. Aber es muss klar sein, dass ein Wechsel alle zwei
Jahre von uns nicht toleriert wird.

Die FDP fordert diese Portabilität seit 20 Jahren; das
steht seit 20 Jahren in unserem Programm. Wir sind sehr
froh, dass es heute, nach über 20 Jahren, endlich zu mehr
Flexibilität beim Wechsel zwischen Privatwirtschaft und
öffentlichem Dienst kommen wird.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722829800

Herr Kollege Ruppert, nehmen Sie eine Frage des

Kollegen Hartmann an?


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1722829900

Gern.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722830000

Bitte schön, Herr Hartmann.


Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1722830100

Danke, Herr Präsident. Vielen Dank, Herr Ruppert. –

Herr Ruppert, ich habe ein Problem mit dieser Argumen-
tation, die häufiger zu hören ist. Wenn es so ist, dass wir





Michael Hartmann (Wackernheim)



(A) (C)



(D)(B)


die Portabilität wirklich einführen wollen, warum haben
Sie dann in dem, was jetzt in erster Lesung zur Diskus-
sion gestellt und hoffentlich noch verbessert wird,
15 Prozent Abschlag und eine Wartezeit von sieben statt
fünf Jahren vorgesehen und außerdem noch angekün-
digt, dass Ausbildungskosten ebenfalls erstattet werden
müssen? Glauben Sie tatsächlich, dass noch jemand
ernsthaft bereit ist, die Mitnahmefähigkeit in Anspruch
zu nehmen, wenn dafür so hohe Hürden aufgebaut wer-
den?

Warum macht man es nicht wie in Baden-Württem-
berg, das Sie, Herr Schuster, als glühendes Beispiel und
großes Vorbild gelobt haben? Warum lässt man die
Leute nicht einfach nach fünf Jahren gehen und alles
mitnehmen, was sie bis dahin erworben haben?

Last, but not least: Ist es denn nicht wahr, dass in Ba-
den-Württemberg entgegen der großen Befürchtung aller
Gralshüter des Berufsbeamtentums in 2011 gerade ein-
mal 80 Leute gegangen sind, und zwar in den Besol-
dungsgruppen A 8 bis A 10? Eine Person mit B 3 war
dabei.

Warum gehen Sie nicht den richtigen Schritt, statt
halbherzig zu agieren und am Schluss doch wieder die
Portabilität zu verbauen und gar nicht einzuführen?


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1722830200

Herr Hartmann, das ist ein Einstieg. Wir haben eine

gründliche Analyse durch die Fachleute, die wir bei den
Bundesbehörden und Bundesministerien in großer Zahl
haben, vornehmen lassen und haben festgestellt, dass es
einige Bereiche gibt, in denen wir darauf angewiesen
sind, dass man sich für einen längeren Zeitraum für die
Tätigkeit als Beamter im öffentlichen Dienst entschei-
det.

Ich hätte mir auch das baden-württembergische Mo-
dell vorstellen können.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Dann machen wir es zusammen! – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sozialliberal!)


Am Ende sind solche Dinge auch Kompromisse. Ich
finde, es ist richtig, wenn man so etwas erstmals einführt
– dafür ist die Sache zu ernst –, das nicht als reines Ex-
perimentierfeld anzusehen, sondern zu sagen: Wir füh-
ren es jetzt mit sieben Jahren und 15 Prozent Abschlag
ein, evaluieren es dann – das haben wir ja ebenfalls vor-
gesehen –, stellen fest, wie es sich in der Praxis ausge-
wirkt hat, und die nächste schwarz-gelbe Bundesregie-
rung wird dann in der nächsten Legislaturperiode
entweder noch weitergehende Schritte tun, oder wir wer-
den feststellen, dass das schon der Weisheit letzter
Schluss war.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Da drohen Sie mit dem Schlimmsten!)


– Nein, keine Angst. Jeder kann helfen durch seine
Zweitstimme, die wir gerne annehmen.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Auch noch!)


– Ja, ich glaube, wenn Sie nachdenken, kommen Sie zu-
mindest als beamtenpolitischer Sprecher irgendwann zu
der Einsicht, dass es Ihr Gewissen gebietet, dass man ei-
gentlich lieber Schwarz-Gelb wählt, weil es dann den
Beamten etwas besser geht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Ich bin für Freiheit! – Zuruf des Abg. Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP])


– Herr Kurth weist zu Recht darauf hin, Herr Hartmann:
Das gilt nicht nur für die Beamten, sondern auch für die
große Mehrheit der Gesellschaft.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Da fragen Sie mal die große Mehrheit!)


Ich will noch einen Punkt erwähnen: die Soldaten auf
Zeit. Das ist ein wichtiger Regelungsbereich. Wir könn-
ten uns vorstellen, dass auch bei den Soldaten auf Zeit,
etwa bei SaZ 12, noch eine solche Regelung eingeführt
werden kann. Auch das wäre ein Thema für eine Anhö-
rung und gegebenenfalls Anlass für ein Tätigwerden in
der nächsten Legislaturperiode. Bei uns besteht der klare
politische Wille, zu sagen: Wir wollen als ein wichtiges
Instrument bei der Bundeswehrreform auch die Soldaten
auf Zeit noch miteinbeziehen. Wir werden sehen, ob sich
da jetzt etwas machen lässt oder ob wir das in der nächs-
ten Legislaturperiode machen. Wahrscheinlich werden
wir auch hier sagen: Erst einmal machen wir es bei den
Berufsbeamten und Soldaten auf Lebenszeit, und in ei-
nem zweiten Schritt beziehen wir auch noch die SaZler
ein.

Insgesamt ist das für uns Liberale nach 20 Jahren pro-
grammatischer Forderungen nach Portabilität ein wirk-
lich guter Tag, weil wir jetzt in diese Dinge einsteigen,
wie übrigens auch die Landesregierung in Hessen und
die frühere schwarz-gelbe Landesregierung in Baden-
Württemberg.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Die neue Regierung der SPD in Hamburg! Niedersachsen!)


– Man kann sich nur wünschen, dass Ihre Landesregie-
rungen diesen Schritt auch außerhalb von Hamburg ge-
hen. – So geht es den Beamten in den schwarz-gelb re-
gierten Ländern auch in Zukunft besser als in rot-grün
oder in rot-rot regierten Ländern.

Insofern ist dies eine gute Legislaturperiode für das
deutsche Berufsbeamtentum. Ich freue mich darüber,
dass Sie uns unterstützen – herzlichen Dank dafür.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Gaudium maximum!)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722830300

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-

lege Frank Tempel.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722830400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Der öffentliche Dienst muss attraktiver wer-
den. Darin sind wir uns offensichtlich einig. Das ist auch
kein Wunder: Denn das bekommen wir von den Ge-
werkschaften ständig mit auf den Weg. Das ist auch die
logische Konsequenz aus der Debatte rund um den de-
mografischen Wandel, den prognostizierten Fachkräfte-
mangel und aus der Summe verschiedener Fehlentwick-
lungen der letzten Jahre und Fehlentscheidungen der
letzten Regierung.

Der Grund dieser Debatte ist ganz einfach die Sorge,
auch in den nächsten Jahren eine ausreichende Zahl an
Nachwuchskräften für den öffentlichen Dienst zu gewin-
nen. In einem Punkt sind wir uns alle wohl einig: „At-
traktiver“ heißt nicht immer mehr Geld und mehr Ver-
günstigungen. Es bedeutet hier vielmehr: modernisieren,
flexibilisieren und entwickeln. Wer das Berufsbeamten-
tum verändern will, löst oft Panikattacken aus. Der Un-
tergang des Berufsbeamtentums und der Niedergang der
hergebrachten Grundsätze werden in einem solchen Fall
schnell prophezeit. Wer aber genau hinschaut, erkennt,
dass das Berufsbeamtentum ohne Modernisierung und
ohne Weiterentwicklung bald nicht mehr zukunftsfähig
sein wird.

Das Lebenszeitprinzip ist ein Grundsatz, der die Zu-
kunftsfähigkeit gefährdet. Setzen junge Menschen in Zu-
kunft bei der Berufswahl – Sie haben es eben beschrie-
ben – eher auf die Sicherheit einer lebenslangen
Anstellung, oder geht der Trend nicht doch eher in Rich-
tung flexiblere, offenere Lebensgestaltung? Ich will das
an einem konkreten Beispiel verdeutlichen. Ich bin als
Polizeibeamter Beamter auf Lebenszeit. Während ich
mein Bundestagsmandat ausübe, ruht mein Dienst. Aber
nach Beendigung meiner Abgeordnetentätigkeit würde
ich normalerweise den Dienst als Polizeibeamter wieder
antreten.


(Zuruf von der FDP)


– Bei dem, was ich dann vielleicht vorhätte, würden Sie
sich das vielleicht sogar wünschen.

Nehmen wir Folgendes an: Hier habe ich einige Jahre
im Bereich der Drogenpolitik gearbeitet. Ich habe festge-
stellt, dass bei diesem Thema ein erhebliches Bildungs-
defizit bei der Bundesregierung besteht. Ich erkenne also
eine Marktlücke und würde mich selbstständig machen,
um als Berater für die Bundesregierung zu arbeiten.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ein schönes Beispiel!)


Dann würde ich freiwillig aus dem Beamtendienst aus-
scheiden. Nach gegenwärtiger Rechtslage würde ich bei
der Nachversicherung in die Rentenversicherung einen
erheblichen wirtschaftlichen Nachteil erleiden. Mit dem

hier richtigerweise vorgeschlagenen Altersgeld – abge-
sehen von der Ausgestaltung – würde dieser Nachteil
ausgeglichen werden, was erst einmal zu begrüßen wäre.
Es bliebe – das ist von Herrn Ruppert richtigerweise an-
gesprochen worden – dann noch die Frage der Zersplitte-
rung in unterschiedliches Landes- und Bundesrecht of-
fen; denn als Landesbeamter von Thüringen fiele ich gar
nicht unter die hier zu beschließende Regelung. Hier be-
steht weiterhin Diskussionsbedarf.

Das vorgeschlagene Altersgeld ist also ein Schritt in
die richtige Richtung. Wenn man aber den Reformbedarf
insgesamt sieht, dann muss man sagen, dass es sich eher
um einen ganz kleinen Schritt handelt. Wenn wir über ei-
nen leichteren Wechsel vom öffentlichen Dienst in die
Privatwirtschaft reden, dürfen wir den Wechsel von der
Privatwirtschaft in den öffentlichen Dienst nicht verges-
sen. Auch hier müssen modernere Ansätze her. Denn ist
es für einen dringend benötigten Experten wirklich at-
traktiv, im Alter von Mitte 40 zum Beispiel zum Bundes-
kriminalamt zu wechseln? Angesichts der im öffentlichen
Dienst benötigten Fachkräfte besteht hier dringender
Diskussionsbedarf.

Es ist dringend erforderlich, die sozialen Belange
mehr im Auge zu behalten. Herr Schuster, hier ist das
Schulterklopfen beendet. Sie wissen sicherlich, was ich
meine: Immer mehr Aufgaben und immer weniger Per-
sonal, das war ein Trend der letzten Jahre. Das hat den
Staatsdienst nicht gerade erstrebenswerter gemacht.
Wenn infolgedessen von hohen Krankenständen, Burn-
out-Syndrom und innerer Kündigung berichtet wird, ist
das ganz sicher keine Werbung für den öffentlichen
Dienst. Gerade hier hilft eine Ausbildungs- und Einstel-
lungsoffensive. Gerade der öffentliche Dienst sollte Vor-
reiter für familienfreundliche Regelungen – auch das
Problem hat Herr Ruppert angesprochen, allerdings ohne
Lösungen anzubieten – und flexible Lebensarbeitszeitlö-
sungen sein.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Stefan Ruppert [FDP])


Die Linke ist gern bereit, solche kleinen Schritte, wie
hier vorgeschlagen, mitzugehen. Wir stellen auch gern
Hinweise als Gehhilfe zur Verfügung. Aber wer den Weg
nicht zu Ende geht, kommt auch nicht ans Ziel.


(Beifall bei der LINKEN – Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Der bleibt im Morast stecken!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722830500

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Dr. Konstantin von Notz von
Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Das
Altersgeld ist keine Erfindung dieser Koalition. Es ist
auch nicht das Ergebnis irgendeines heldenhaften
Kampfes, weder der FDP noch des Kollegen Ruppert.





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


Die Einführung der Möglichkeit einer Mitnahme von
Versorgungsanwartschaften bei freiwilligem vorzeitigen
Ausscheiden aus dem Beamtenverhältnis ist ein seit Jah-
ren – auch hier im Bundestag – diskutierter und längst
überfälliger Reformvorschlag.

Wem haben wir es zu verdanken, dass die über ein
Jahrzehnt alten Vorschläge – ich zitiere den Gesetzent-
wurf – zur Erhöhung von Mobilität und Flexibilität der
Beamten und zum Austausch mit der Wirtschaft erst
heute im Plenum liegen?


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Was habt ihr denn die ganze Zeit gemacht?)


Wolfgang Schäuble! Wolfgang Schäuble war es, meine
Damen und Herren,


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Die wahre Wahrheit! Und Binninger war sein Helfershelfer!)


der noch 2008 eine solche Portabilität grundsätzlich ab-
lehnte – Herr Ruppert, Sie waren es nicht – und so den
damaligen Koalitionspartner SPD vorführte.


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Das tut heute noch weh!)


Wolfgang Schäuble und der CDU/CSU haben wir es also
zu verdanken, dass die dem Altersgeld zugeschriebenen
nahezu magischen Kräfte in Sachen Fachkräftegewin-
nung sich im letzten halben Jahrzehnt nicht haben entfal-
ten können.


(Otto Fricke [FDP]: Da musste erst wieder die FDP kommen!)


Wie aber geht das mit dem Satz zusammen, mit dem
sich der Kollege Krings gern zitieren lässt?


(Michael Hartmann [Wackernheim] [SPD]: Aha!)


Ich zitiere:

Wir wollen mit der Reform die besten Köpfe für
den öffentlichen Dienst gewinnen und den Aus-
tausch zwischen Staat und Wirtschaft beleben.

Meine Damen und Herren, die Antwort: Das lässt sich
überhaupt nicht zusammenbringen.


(Heiterkeit der Abg. Ute Koczy [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Da kann man Ihnen, verehrte Kolleginnen und Kollegen
der CDU/CSU, auch heute die Frage nicht ersparen:
Wenn das Altersgeld, Herr Kollege Schuster, so eine
tolle Sache ist, wie Sie das hier heute vertreten, warum
haben Sie es dann jahrelang im Keller liegen lassen?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: NRW! Rheinland-Pfalz!)


Tatsächlich geht es hier um materielle Gerechtigkeit.
Es geht um die Anerkennung von Realitäten und um eine
lange überfällige, allseits geforderte Facette der Moder-
nisierung des Beamtenrechts.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Oh, ein Satz, länger als 160 Zeichen!)


Diese Anwartschaften müssen prinzipiell verlustfrei mit-
genommen werden können. Die vorgelegten Rechtferti-
gungen für die genannten Einschränkungen überzeugen
uns nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Das war aber mal ein langer Satz!)


Dabei räumen die Gewerkschaften ein, dass es allen-
falls in wenigen Bereichen der Bundesverwaltung, wie
zum Beispiel der IT, überhaupt eine entsprechende
Wechselstimmung gibt und insgesamt wohl keine große
Nachfrage zu erwarten sein wird. Das ist eine bemer-
kenswerte Diskrepanz zu den Superlativen des Wettbe-
werbs um die besten Köpfe und der Art und Weise, wie
Sie sich für dieses Gesetzchen hier feiern lassen.

Die Gewerkschaften haben mit Recht angemerkt: Die
im vorliegenden Entwurf gewählte Ausgestaltung des
Altersgeldes erst ab einer altersgeldfähigen Dienstzeit
von sieben anstelle von fünf Jahren erscheint will-
kürlich. Vor allen Dingen an die CDU/CSU gerichtet
sage ich: Die Vorgängerregierung – auch unter Frau
Merkel! – hat einen Bericht in Auftrag gegeben, und in
diesem Bericht wird genau für eine fünfjährige Mindest-
dauer plädiert, von der Sie jetzt abweichen. Dasselbe gilt
für den pauschalen Abschlag von 15 Prozent auf den Ge-
samtanspruch. Die Sorge, hier werde ein Aussteigerpro-
gramm für Beamte gestartet, das außer Kontrolle geraten
könnte, scheint nur auf den ersten Blick plausibel; wahr-
scheinlich ist das aber nicht, wie ich schon gesagt habe.

Meine Damen und Herren, dieser Tage gab es einen
interessanten Artikel auf Zeit Online über die heran-
wachsende Generation Y,


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Bundeswehr, oder was?)


über gut ausgebildete, hoch motivierte junge Leute, die
es doch tatsächlich wagen, gerade nicht die Bezahlung
und Versorgung, sondern die Qualität ihres Arbeitsplat-
zes insgesamt in den Mittelpunkt ihrer Berufswahl zu
stellen.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Habe ich auch getan!)


Diese sogenannten High Potentials gehen einfach wie-
der, wenn sie zum Beispiel auf starre Hierarchien und
Chefs von gestern treffen.

Was hat diese Koalition diesen jungen Menschen in
Sachen öffentlicher Dienst zu bieten? Und was haben
Sie als Koalition dem öffentlichen Dienst im Hinblick
auf die Gewinnung dieser Fachkräfte zu bieten?


(Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Deutlich mehr als ihr!)


Gar nichts haben Sie denen zu bieten, meine Damen und
Herren!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)






Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


Lassen Sie mich zum Schluss sagen: Das ist keine Re-
form für die Arbeitswelt von morgen. Was Sie hier vor-
gelegt haben, sind überfällige Konzepte von gestern,
ohne wirklichen Gestaltungs- und Reformauftrag. Auch
im Bereich des Dienst-, Besoldungs- und Versorgungs-
rechts haben Sie wertvolle vier Jahre vertan. Das ist
schade.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. Stefan Ruppert [FDP]: Rheinland-Pfalz, NRW, null!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1722830600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12479 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 12 sowie die Zu-
satzpunkte 8 und 9 auf:

12 Beratung des Antrags der Fraktionen SPD und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

25 Jahre nach Halabja – Unterstützung für die
Opfer der Giftgasangriffe

– Drucksache 17/12685 –

ZP 8 Beratung des Antrags der Fraktionen der CDU/
CSU und FDP

Unterstützung für die Opfer von Halabja fort-
setzen

– Drucksache 17/12684 –

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulla
Jelpke, Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Anerkennung der irakischen Anfal-Operatio-
nen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf
Halabja vom 16. März 1988 als Völkermord –
Humanitäre Hilfe für die Opfer

– Drucksache 17/12692 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist
auch das beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erster Red-
nerin das Wort der Kollegin Uta Zapf von der SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1722830700

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Am 16. März
2013 jährt sich zum 25. Mal ein grauenhaftes Verbrechen
am kurdischen Volk, der Giftgasangriff von Saddam

Hussein auf die Stadt Halabdscha. Irakische Kampfflug-
zeuge vom Typ MiG und Mirage bombardierten die
Stadt mit Giftgas, mit VX, Sarin und Senfgas, töteten
5 000 Menschen; 10 000 wurden verletzt. Noch heute
leiden die Menschen in Halabdscha an den Folgen, an
physischen und psychischen Krankheiten, an Missbil-
dungen und Traumata.

Ich möchte einen Vertreter dieses geschundenen Vol-
kes auf der Zuschauertribüne begrüßen, Herrn Amin
Babasheikh von der Patriotischen Union Kurdistans.
Herzlich willkommen!


(Beifall)


Zudem habe ich erfahren, dass eine Delegation des Par-
laments aus Arbil anwesend ist. Auch Ihnen ein herzli-
ches Willkommen zu dieser Diskussion!


(Beifall)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wir
springen mit dem von uns vorgelegten Antrag zu kurz.
Es gilt die Morde an den Kurden durch Saddam Hussein
als Völkermord anzuerkennen,


(Beifall der Abg. Ulla Jelpke [DIE LINKE])


wie es jüngst das britische Parlament, die norwegische
Regierung sowie die Parlamente von Schweden und Ka-
nada getan haben. In Frankreich wird auch darüber nach-
gedacht. Insofern bin ich über unseren Kleinmut ein we-
nig beschämt.

In der Konvention über die Verhütung und Bestrafung
des Völkermordes ist Völkermord definiert als Hand-
lung, die in der Absicht begangen wird, eine nationale,
ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche
ganz oder teilweise zu zerstören. Halabdscha war ein
Völkermord mit Ansage. Der Cousin von Saddam
Hussein, Ali Hassan al-Madschid, genannt Chemie-Ali,
kündigte den Giftgasangriff an und verhöhnte dabei
gleichzeitig die internationale Völkergemeinschaft. Man
kann sich das in einem Video auf Youtube ansehen.

Human Rights Watch berichtete 1991 von weiteren
Giftgasangriffen auf kurdische Siedlungen. Der Angriff
auf Halabdscha war nur ein Teil der Vernichtungskampa-
gne gegen Kurden. In der sogenannten Anfal-Kampagne
wurden etwa 1 800 Männer, Frauen und Kinder umge-
bracht und verscharrt. Ich habe 1993 Irakisch-Kurdistan
bereist und mit eigenen Augen einige dieser Massengrä-
ber gesehen. Heute werden immer neue Massengräber
gefunden; die Leichen werden exhumiert, identifiziert
und anschließend begraben.

Tausende von Dörfern wurden zerstört. Die Überle-
benden Anfal-Witwen wurden in Gettostädten zusam-
mengetrieben.

Nach 1991, als die Flugverbotszone Schutz bot und
Saddam sich mit seiner gesamten Administration aus
den kurdischen Gebieten zurückgezogen hatte, hatten
die Kurden – auch mit deutscher Hilfe – begonnen, ihr
Land wieder aufzubauen. Ich habe 1993 einige dieser
Frauen getroffen, die sich mühsam mit der Hilfe interna-
tionaler Projekte durchschlagen konnten und mussten.





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)


2011 habe ich mit meinem Kollegen Wolfgang
Tiefensee Halabdscha besucht. Liebe Kolleginnen und
Kollegen, das dortige Mahnmal und die damit verbun-
dene Ausstellung zerreißen einem das Herz. Die vom
Giftgas getroffenen Menschen starben in ihren Häusern,
auf den Straßen, auf der Flucht, und zwar qualvoll. In
Nachbildungen und Fotografien ist alles dokumentiert.
Auch über dieses Verbrechen gibt es auf Youtube zahlrei-
che Dokumentationsvideos, die aber nichts für zarte Ge-
müter sind. Das will ich hinzufügen.

Es besteht kein Zweifel, dass wir es hier mit einem
Genozid zu tun haben. Im Irak wurde die Anfal-Kampa-
gne vom Hohen Irakischen Kriminaltribunal als Genozid
anerkannt. In Großbritannien gab es eine Kampagne ei-
ner überfraktionellen Parlamentariergruppe, die Unter-
schriften für eine Petition gesammelt hat. Mithilfe der
Repräsentantin der kurdischen Regionalregierung fand
Aufklärung und Werbung für diese Petition statt. Am
28. Februar 2013 hat das britische Parlament einstim-
mig, über alle Parteien hinweg, beschlossen, die Anfal-
Operation als Genozid anzuerkennen. Das ist allerdings
noch kein Präjudiz für die Anerkennung durch die Re-
gierung; ich glaube, das muss man wissen.

Ich stehe etwas beschämt vor der Tatsache, wie zöger-
lich wir hier vorgehen. Ich glaube, es gebricht uns ein
wenig an Mut. Man kann es allerdings nicht so machen
wie die Linke. Sie fordert eine Entschädigung der Opfer
wegen Mitschuld der Bundesregierung. Ich möchte auf
Folgendes hinweisen: Die Lieferung von Chemikalien
war illegal. Firmen und Firmenchefs standen vor Ge-
richt; zum Teil wurden sie verurteilt und haben ihre Stra-
fen abgesessen. Andere sind freigesprochen worden; das
ist richtig.

Die Exporte von Fabrikanlagen, zum Beispiel von der
Firma Kolb, wurden mit falschen Angaben – etwa mit
Verweis auf die Produktion von Pestiziden – angemeldet
und dann genehmigt. Als der Verdacht aufkam, dass die
Anlagen missbraucht werden könnten, hat die Bundes-
regierung die Genehmigung zurückgezogen. Die Firma
Kolb zog vor Gericht, bekam recht und durfte exportie-
ren. Das tut uns sehr weh; aber das ist Tatsache.

Als nach dem ersten Golfkrieg durch die Inspektoren
der UNSCOM aufgedeckt wurde, wozu die von der
Firma Kolb exportierten Fabrikanlagen gedient hatten,
wurde die Firma angeklagt und vor Gericht gestellt. Es
erfolgte ein Freispruch mangels Beweisen; in letzter Mi-
nute hatte sich ein Schweizer Gutachter entschieden,
keine Aussage vor Gericht zu machen. Damals war ich
sehr betroffen; diese Firma ist in meinem Wahlkreis,
meinem Heimatort ansässig.

Die Bundesrepublik war nicht Täter, Mittäter oder in-
direkt mitschuldig. Ob die an den illegalen Lieferungen
Beteiligten zu belangen sind, muss geprüft werden. Es
gab viele Länder, aus denen geliefert wurde; ich glaube,
sie müssen in eine Prüfung einbezogen werden.

Nach diesen Erfahrungen hat die damalige Regierung
die Exportgesetze verschärft und die Kontrollen verbes-
sert. Ich stehe wahrlich nicht im Verdacht, eine Apologe-
tin der Regierung Kohl zu sein; aber ich finde, man muss

bei der Wahrheit bleiben und darf die Dinge nicht ver-
drehen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ich bin nicht einverstanden, dass wir uns – das sieht
man zum Beispiel am Antrag der CDU/CSU – so knapp-
sig geben und die Taschen zuknöpfen. Das, was wir leis-
ten können, ist doch in der Tat, etwas mehr für die ge-
schundenen Opfer dieser Verfolgung, dieses Terrors zu
tun.

Ich möchte Ihnen einen Vorschlag machen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen. Ich möchte gerne, dass auch wir
eine überfraktionelle Gruppe bilden, die sich mit diesem
Genozid beschäftigt und darüber diskutiert, sodass wir
hier im Bundestag zu einer Beschlussfassung kommen
können. Der Kollege Hans-Werner Ehrenberg – das habe
ich im Internet gelesen – hat sich bereits vor Ort infor-
miert und gesagt, er werde für die Anerkennung als Ge-
nozid kämpfen. Herr Ehrenberg, wir sind an Ihrer Seite.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722830800

Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1722830900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich möchte zunächst einmal Frau Zapf für
ihr Engagement danken, nicht nur, was die Begleitung
des Themas im Ausschuss angeht, sondern insbesondere
für die Beharrlichkeit im Hinblick auf die guten Bezie-
hungen Deutschlands zum kurdischen Volk. Herzlichen
Dank dafür, dass Sie das Thema jetzt schon über so viele
Jahre begleiten. Das wird in unserer Fraktion mit gro-
ßem Wohlwollen gesehen. Herzlichen Dank, dass Sie
dieses Thema aufgegriffen haben.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir gedenken heute zu später Uhrzeit – immerhin ge-
hen die Reden nicht zu Protokoll – eines Ereignisses, das
in Deutschland fast vollkommen in Vergessenheit gera-
ten ist, nämlich des Giftgasanschlags vor 25 Jahren, der
durch den Diktator Saddam Hussein verübt worden ist.
Damals sind in Halabdscha 5 000 Menschen getötet
worden; indirekt waren durch die Aggression von
Saddam Hussein 50 000 bis 100 000 Kurden betroffen.
Die Schätzungen dazu gehen bis heute weit auseinander.
Allein das zeigt schon, wie schwierig es ist, diese Ver-
brechen, die damals im Staat Irak stattgefunden haben,
überhaupt in Zahlen zu kleiden, weil vieles verschleiert
worden ist und man vielen Opfern gar nicht mehr nach-
gehen kann.

Die Mitglieder des Hauses, die schon einmal die Gele-
genheit hatten, selbst in Kurdistan zu sein, wissen, dass
die meisten Dörfer durch Verbrechen gegen die Mensch-
lichkeit gezeichnet sind. Das ist das eigentlich Schlimme.
Es geht nicht nur um das Ereignis in Halabdscha selbst,





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


sondern auch um die große Dimension, darum, dass von
Bagdad aus systematisch gegen ein Volk vorgegangen
worden ist, mit Folgen bis heute. Die körperlichen De-
formationen bei den Menschen, die von diesem Giftgas-
anschlag betroffen waren, sind bis heute zu sehen. Es be-
steht nach wie vor ein erhöhtes Krebsrisiko, und es gibt
viele Vorfälle von Atemwegserkrankungen.

Das deutsche Generalkonsulat im Nordirak unter-
stützt ja auch aktiv Ärzte, die dort helfen, und ist auch
sehr aktiv, um den Austausch zwischen deutschen Kran-
kenhäusern und ärztlichen Einrichtungen vor Ort voran-
zubringen. Deshalb ist es für uns wichtig, dass die Bun-
desregierung die Hilfen ausgebaut und stabilisiert hat.
Wir arbeiten gerne und erfolgreich mit dem Behand-
lungszentrum für Folteropfer in Berlin und auch mit dem
Halabja Center for Victims of Chemical Attacks zusam-
men. Das sind konkrete Dinge, die wir tun. Durch die fi-
nanzielle Hilfe des Auswärtigen Amts wird aktuell das
Kirkuk-Center für Folteropfer unterstützt. Seit 2010 gibt
es dort medizinische und psychologische Betreuung vor
Ort. In den letzten drei Jahren haben immerhin
1 500 Betroffene das medizinische Angebot in Anspruch
genommen. Das zeigt, dass wir vor Ort sehr konkret
Hilfe leisten. Sieben angestellte Ärzte, sieben Psycholo-
gen und Sozialarbeiter und ein Physiotherapeut haben
mit der finanziellen Unterstützung auch dieser Regie-
rung ein Fundament gelegt für die weitere Unterstützung
der Opfer von Halabdscha, und das 25 Jahre danach.
Dass selbst 25 Jahre danach dieser enorme medizinische
Aufwand betrieben werden muss, zeigt auch das Aus-
maß dieser Katastrophe. Ich glaube, darauf sollten wir
uns nicht ausruhen. Vielmehr sollten wir alles tun, dieses
Engagement fortzuführen.

Es ist für uns politisch nicht unerheblich, dass ein so
schlimmes Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ein
Verbrechen gegen das kurdische Volk, durch Saddam
Hussein verübt worden ist, weil auch heute chemische
Waffen aktuelle Bedrohungen bei Themen darstellen,
mit denen wir uns hier im Deutschen Bundestag beschäf-
tigen. Auch in Syrien steht die Frage im Raum, ob Assad
die chemischen Waffen, die er hat, nicht auch nutzen
würde. Das ist ein Punkt, den wir in unserer Syrien-Poli-
tik immer im Blick haben müssen. Dass es in der Region
schon einmal vorgefallen ist, dass von einer Assad nicht
ganz fern stehenden politischen Kraft in einem erhebli-
chen Maße chemische Waffen eingesetzt worden sind,
ist etwas, was uns immer gegenwärtig sein sollte, auch
wenn wir hier im Westen Europas nach 60 Jahren ohne
kriegerische und militärische Auseinandersetzung man-
ches gar nicht mehr für denkbar halten. Halabdscha ist
bei uns in Europa undenkbar. Es war vor 25 Jahren bru-
tale Realität und hat das Leben vieler Menschen sehr ne-
gativ beeinflusst.

Wir fordern deshalb die syrische Regierung auch
heute auf, auf chemische Waffen zu verzichten. Wir ste-
hen fest an der Seite unserer amerikanischen Freunde,
insbesondere von Präsident Obama, der gesagt hat, dass
das nach wie vor eine rote Linie ist, die nicht überschrit-
ten werden darf. Zur Stunde wird ja über die Syrien-
Politik der Europäischen Union diskutiert. Bei allen
Schwierigkeiten, die es in diesem Konflikt gibt, wird die

westliche Gemeinschaft stärker gefordert sein, als dies
momentan der Fall ist, da wir uns durch die Handlungs-
unfähigkeit der UNO selber Grenzen auferlegt haben.

Ich möchte auf die aktuelle kurdische Politik einge-
hen und auf die aus meiner Sicht hervorragende Arbeit,
die die kurdische Regionalregierung leistet. In diesen
Tagen jährt sich zum zehnten Mal die umstrittene Ent-
scheidung des damaligen US-Präsidenten George W.
Bush, der die Invasion und die Befreiung des Iraks vor-
angetrieben hat. Bis heute ist dies ein politisches Streit-
thema, nicht nur bei uns, sondern vor allem auch in den
USA. Bis heute sind sich die Historiker uneinig darüber,
wie dieses Ereignis einzuordnen ist. Ich glaube, diese
Debatte wird uns noch lange beschäftigen.

Heute, zehn Jahre nach der Befreiung von Saddams
Diktatur, ist auch aufgrund der hervorragenden Arbeit
des kurdischen Präsidenten Massud Barsani und seiner
Regierung festzustellen, dass die Verhältnisse in Kurdis-
tan eindeutig besser geworden sind, und zwar in wirt-
schaftlicher und in politischer Hinsicht. Es gibt dort trotz
aller Schwierigkeiten ein Maß an Gleichberechtigung
zwischen Mann und Frau, das man kaum irgendwo an-
ders im Nahen Osten findet. Mir ist kaum ein Land im
Nahen Osten bekannt, wo der Zugang zum Bildungssys-
tem für Mädchen und junge Frauen so unproblematisch
geregelt ist. Es gibt wirtschaftliche Prosperität und
Chancen in Kurdistan, die ihresgleichen suchen.

Ich wünschte mir, wir würden über den ganzen Irak
reden, wenn wir auf das positive Bild von Kurdistan bli-
cken. Leider muss ich das Gegenteil feststellen: dass in
Bagdad immer mehr politische Prozesse verschleppt
werden, dass man sich auch bei wichtigen Themen wie
Öl- und Gasexporten nicht einigen kann, was zu einem
höheren Wohlstandsniveau für alle Menschen im Irak
führen würde. Ich glaube, dass das Hin und Her zwi-
schen den einzelnen Machtfaktoren, das in Bagdad, zum
Teil von Teheran beeinflusst, stattfindet, etwas ist, was
uns nicht unberührt lassen kann. Gerade wenn wir The-
men wie Hisbollah behandeln, stellen wir immer häufi-
ger fest, dass die Zentralregierung in Bagdad leider kein
zuverlässiger Partner ist, sondern häufig Probleme ver-
schärft. Das ist etwas, was uns große Sorgen bereitet und
was sicherlich auch zur historischen Einordnung der In-
tervention gehören wird. Schließlich kann man nicht au-
ßer Acht lassen, dass wir, wenn wir über den südlichen
Teil Iraks reden, mittlerweile über einen Failed State,
also über eine Region ohne funktionierende staatliche
Strukturen, sprechen. In Kurdistan, insbesondere rund
um Arbil, erleben wir hingegen das glatte Gegenteil. Das
ist etwas, was wir in unserer außenpolitischen Strategie
definitiv berücksichtigen müssen.

Insofern ist es richtig, dass wir den Kurden im Irak
und den Kurden in Syrien, aber auch den Kurden in der
Türkei die Hand reichen und uns weiterhin stark für ihre
Rechte einsetzen. Sie reklamieren für sich das Recht auf
ein eigenes Land. Sie tragen das zugegebenermaßen
nicht mit der Schärfe vor, wie dies andere ethnische
Gruppierungen auf der Welt tun, sondern sehr moderat.
Sie verweisen auf die Rechte, die ihnen im Rahmen der
Schaffung der autonomen Region Kurdistan im Nordirak





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


eingeräumt worden sind, und versuchen, das Beste da-
raus zu machen. Wir dürfen bei unserer außenpolitischen
Konzeption nicht vergessen, dass es sich bei diesem
Partner um einen wirklich verlässlichen Partner, auch im
Antiterrorkampf, handelt, mit dem wir gemeinsam die
Sicherheit Israels gewährleisten können. Unsere Kanzle-
rin hat dies als einen der Punkte unserer Staatsräson be-
schrieben, was ich vorbehaltlos unterstütze. Auch da
sage ich, dass es im Nahen Osten kaum noch einen Part-
ner gibt, der unsere Politik so vorbehaltlos unterstützt.

Ich werbe dafür, dass wir die enge Freundschaft zu
Kurdistan verstetigen. Ich werbe dafür, alles zu tun, dass
sich der Fortschritt, der in Kurdistan stattfindet, auf den
Gesamtirak ausdehnt. Ich werbe dafür, dass wir die bila-
teralen Maßnahmen zu verstärken versuchen. Wir haben
im vergangenen Jahr das Deutsch-Irakische Wirtschafts-
forum in Bagdad aufgebaut. Wir arbeiten engagiert mit
unserem Konsul in Arbil zusammen. Wir haben in die-
sem Haus unter der Führung von Michael Glos, unserem
früheren Bundeswirtschaftsminister, einen deutsch-kur-
dischen Freundeskreis gegründet.

Ich muss auch sagen, dass sich gerade diejenigen aus
unseren Reihen, die ein besonders gutes Verhältnis zur
Türkei haben, sehr große Verdienste erworben haben,
wenn es darum geht, bei unseren türkischen Partnern um
Verständnis für die Rechte der kurdischen Minderheit
und für die kurdische Regionalregierung im Nordirak zu
werben.

Dieses Thema ist für die Tagesordnung unserer Nah-
ostpolitik wichtig, selbst wenn es von der deutschen Öf-
fentlichkeit nur am Rande wahrgenommen wird. Ich
finde, diese Debatte heute Abend ist wichtig, um auf die-
ses Thema hinzuweisen.

Herzlich Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722831000

Das Wort hat nun Ulla Jelpke für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722831100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe De-

legation aus dem kurdischen Irak, ich freue mich, dass
Sie heute hier sind. Als eine, die seit über zehn Jahren in
diese Region fährt und daher Halabdscha und die dortige
Bevölkerung sehr gut kennt, bin ich sehr froh, dass es
heute, 25 Jahre nach dem Giftgasangriff der irakischen
Luftwaffe auf die kurdische Stadt Halabdscha, gelungen
ist, dass alle Fraktionen den Opfern ihr Mitgefühl aus-
drücken und dass alle Fraktionen verurteilen, dass deut-
sche Firmen die irakische Giftgasproduktion erst ermög-
licht haben;


(Beifall bei der LINKEN)


denn in Halabdscha bewahrheitete sich erneut der
Spruch: Der Tod ist ein Meister aus Deutschland.


(Zurufe von der FDP: Na ja!)


Doch nur die Linke fordert – Frau Zapf hat es eben
schon gesagt – eine Anerkennung der Anfal-Operationen
und des Giftgasangriffs auf Halabdscha als Völkermord.
Damit greifen wir die zentralen Forderungen von Dele-
gationen des kurdischen Volkes im Irak, aber auch von
Menschenrechtsorganisationen auf.

Der Angriff auf Halabdscha stellt schon für sich ge-
nommen ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit dar.
Es wurde schon gesagt: 5 000 Menschen starben qual-
voll in dem Gift. In Verbindung mit den Anfal-Operatio-
nen im gleichen Jahr handelt es sich aber eindeutig um
einen Genozid im Sinne der UN-Konvention über die
Verhütung und Bestrafung von Völkermord. Genozid
wird darin definiert als eine Handlung, die in der Absicht
begangen wird, eine nationale, ethnische, rassische oder
religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zer-
stören. Dies war bei den Anfal-Operationen definitiv der
Fall. Der als Chemie-Ali bekannt gewordene Oberbe-
fehlshaber Ali Hassan al-Madschid gab den Befehl zur
Tötung aller zeugungsfähigen kurdischen Männer.
180 000 Kurden, vor allen Dingen junge Männer, wur-
den verschleppt oder ermordet. 4 000 Dörfer, also
90 Prozent der Dörfer, wurden zerstört. In über 40 Fällen
kam es zu Giftgasangriffen.

International wurde dieses Verbrechen bereits durch
das irakische, das schwedische und das britische Parla-
ment als Völkermord verurteilt und anerkannt. Eine sol-
che Anerkennung durch Deutschland würde für die Op-
fer und ihre Hinterbliebenen eine späte moralische
Kompensation bedeuten. Eine solche Anerkennung
könnte die Tür öffnen für eine weitere strafrechtliche
Verfolgung der Händler des Todes wegen Beihilfe zum
Völkermord. Das steht im Wesentlichen in unserem An-
trag und nicht, dass es die Hauptschuld der Bundesregie-
rung ist, liebe Frau Zapf.

Eine juristische Ahndung fand in Deutschland – an-
ders als es im CDU/CSU-Antrag suggeriert wird – leider
nicht statt. Obwohl die Bundesregierung seit 1984 über
die Beihilfe deutscher Firmen zum irakischen Chemie-
waffenprogramm informiert war, hatte sie nichts
dagegen unternommen. Ermittlungsverfahren wegen
Verstößen gegen das Außenwirtschafts- und Kriegswaf-
fenkontrollgesetz wurden jahrelang verschleppt. Pro-
zesse endeten mit Einstellungen wegen Verjährung, Be-
währungsstrafen und Freisprüchen.

Ich habe in Halabdscha mit vielen Überlebenden des
Angriffs gesprochen. Diese fordern vor allen Dingen Ge-
rechtigkeit. Es geht hier nicht in erster Linie um Geld,
sondern vor allen Dingen um Gerechtigkeit. Es geht na-
türlich auch darum, dass die Firmen verurteilt werden.

Auch wenn uns die Anträge der anderen Fraktionen
nicht weit genug gehen, werden wir ihnen zustimmen,
weil wir der Meinung sind, dass es heute, nach 25 Jah-
ren, ein historischer Tag ist, diesen Angriff zu verurtei-
len.


(Beifall des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Wir sind es den Menschen schuldig, dass der Bundestag
endlich ein einheitliches Signal setzt und seine Mitver-





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


antwortung an diesen Verbrechen zeigt. Das ist eine his-
torische Chance.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722831200

Das Wort hat nun Hans-Werner Ehrenberg für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hans-Werner Ehrenberg (FDP):
Rede ID: ID1722831300

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Der Irak und seine besorgniserregenden ethnischen, aber
vor allem auch religiösen Probleme beschäftigen uns fast
täglich. Die vielen blutigen Anschläge in Bagdad und in
anderen Städten des Irak halten unsere Sorge um dieses
wichtige Land wach. Doch all diese grausamen und un-
sinnigen Bombenattentate können ein viel schlimmeres
Verbrechen nicht verdecken. Der schreckliche Giftgas-
angriff auf die Stadt Halabdscha im kurdischen Nordirak
hat auch heute, 25 Jahre danach, nichts von seinem
Grauen verloren. Nichts von diesen unvorstellbaren Er-
eignissen ist vergessen.

Ich selber war vor einigen Wochen vor Ort und habe
mir aus erster Hand von den Gräueltaten jener Tage im
März 1988 berichten lassen. Ich habe mir die Zerstörung
in der Stadt und im Umland angesehen, habe mit Hinter-
bliebenen sprechen dürfen. Es war unvorstellbar. Noch
heute leidet die Region unter der damaligen systemati-
schen Zerstörung der Lebensgrundlagen der kurdischen
Bevölkerung, unter der gezielten Vertreibung und Ver-
nichtung durch Saddam Hussein und seiner Regierung.
Das Massaker in Halabdscha setzte dieser jahrzehntelan-
gen Aggression gegen die Kurden eine traurige Krone
auf. Bis zu 5 000 Menschen wurden allein in Halabdscha
auf qualvolle Weise ermordet. Den gesamten Anfal-Ope-
rationen fielen nach internationalen Schätzungen insge-
samt zwischen 50 000 und 100 000 Kurden zum Opfer.

Wie sehr meine Fraktion und ich die schrecklichen
Verbrechen des Diktators Saddam Hussein und seiner
Baath-Partei verabscheuen und verurteilen, brauche ich
an dieser Stelle nicht zu wiederholen, wohl aber, dass
meine Fraktion und viele andere – ich würde sagen, alle
hier im Hause – den Opfern der Anfal-Kampagne und
ihren Hinterbliebenen an dieser Stelle ihr tiefes Mitge-
fühl aussprechen.


(Beifall im ganzen Hause)


Es muss immer eine Maxime unserer Außenpolitik sein,
sich rückhaltlos dafür einzusetzen, dass so etwas niemals
wieder geschehen kann.

Heute befindet sich Halabdscha immer noch im Wie-
deraufbau und erholt sich nach und nach von den Angrif-
fen vor 25 Jahren. Ich habe dort aber immer noch viel
Armut gesehen. Die bewegende Geschichte dieser Stadt
soll uns und alle daran erinnern, weshalb wir hier und

jetzt zusammengekommen sind: Niemals soll anderen
Menschen das Gleiche widerfahren wie den Menschen
in Halabdscha.

Ich habe aber in meinen Gesprächen vor Ort keine
Atmosphäre der Rache und des Hasses, sondern der
Hoffnung und Zuversicht erfahren dürfen, etwas, was
mich sehr berührte. Daher ist es auch sehr wichtig, dass
die Bundesregierung den Irak weiterhin durch eine Viel-
zahl von Projekten bei Fragen der Vergangenheitsaufar-
beitung unterstützt. Herr Mißfelder hatte das im Einzel-
nen ausgeführt, ich will das nicht wiederholen.

Das Gedenken an Halabdscha sollte aber auch zur
Konsequenz haben, dass wir uns alle dafür einsetzen, die
internationale Kontrolle von Massenvernichtungswaf-
fen weiter voranzutreiben. Unser Außenminister hat dies
seit seinem Amtsantritt sehr vorbildlich getan. Es war
aber auch richtig und wichtig, dass illegale Lieferungen
deutscher Firmen in den Irak in der Vergangenheit ge-
richtlich geahndet worden sind. Sollten in der Zukunft
weitere Fälle auftauchen, werden wir dafür sorgen, dass
auch diese zur Anzeige gebracht werden. Dies allerdings
gleichzusetzen mit einer Verantwortung der Bundesre-
gierung oder deutsche Firmen gar zu Entschädigungs-
zahlungen zu zwingen – das sage ich Ihnen ganz offen –,
halte ich nicht für angebracht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie des Abg. Philipp Mißfelder [CDU/CSU])


Das Gedenken an Halabdscha sollte auch dazu die-
nen, vor den Gefahren zu warnen, die den Irak aktuell
bedrohen. Wir alle haben ein Interesse an einem stabilen
und sicheren Irak in Frieden und Einheit. Da hat der ra-
dikale Islamismus, wie wir ihn derzeit in vielen Ländern
des Nahen und Mittleren Ostens wieder aufflammen se-
hen, keinen Platz. Wir sollten die Kurden daher nicht nur
in ihrer Vergangenheitsbewältigung im Irak unterstützen
– hier tut die Bundesregierung bereits sehr viel –, son-
dern vor allem auch föderale und gemäßigte Strömungen
in der aktuellen irakischen Politik fördern. Dazu gehört
auch, dass wir mit der kurdischen Autonomiebehörde
auf Augenhöhe sprechen. Unsere amerikanischen, fran-
zösischen oder russischen Freunde haben da weniger Be-
rührungsängste.

Ich bedauere außerordentlich, dass wir keinen inter-
fraktionellen Antrag zustande bekommen haben. Ich will
das hier aber gar nicht weiter kommentieren, sondern be-
tonen, dass ich mich über die würdigen Beiträge aller
Fraktionen hier freue.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte ganz besonders Frau Zapf nennen und ihren
Vorschlag, einen überfraktionellen Antrag zu erarbeiten.
Ich glaube, damit würden wir dem Thema gerecht. Das
haben aus meiner Sicht die Opfer von Halabdscha ver-
dient.

Schönen Dank.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722831400

Das Wort hat nun Katja Keul für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722831500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Halabdscha ist noch immer eine offene
Wunde. 5 000 Kurdinnen und Kurden starben bei den
kaltblütigen, menschenverachtenden Angriffen der Sad-
dam-Diktatur. Viele wurden nachhaltig traumatisiert.
Die Menschen in der Region können und wollen die
schrecklichen Verbrechen auch ein Vierteljahrhundert
danach nicht vergessen.

Die Giftgasangriffe in Halabdscha sind ein düsteres
Kapitel der jüngeren Geschichte, das seine Schatten weit
über den Irak hinaus wirft; denn die Saddam-Diktatur
wäre ohne die Technologie aus dem Ausland, vor allem
aus Deutschland, gar nicht in der Lage gewesen, die
Chemiewaffen zu entwickeln, die am 16. März 1988 in
Halabdscha eingesetzt wurden. Deshalb trägt auch
Deutschland eine moralische Mitverantwortung für das,
was geschehen ist. Dieser Verantwortung stellen wir uns
mit unserer Debatte im Deutschen Bundestag.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Vieles ist noch nicht abgegolten. Die Strafen für die
Firmen, die hier tätig waren, und ihre verantwortlichen
Mitarbeiter waren gering und konnten nicht zu einer um-
fassenden Aufarbeitung beitragen. Die Frage nach der
Verantwortung der Unternehmen für die Opfer blieb un-
beantwortet. Aber die Spätfolgen der Vernichtungspoli-
tik Saddams sind bis heute spürbar. Viele Menschen lei-
den an Krebs-, Haut- und Atemwegserkrankungen, viele
Kinder und Jugendliche an Missbildungen. Auch die
psychischen Spätfolgen der damaligen Gewalt sind nicht
überwunden, und die Schicksale vieler Vermisster und
Getöteter sind noch immer nicht aufgeklärt.

Dabei ist es uns ein wichtiges Anliegen, auch an die
Verantwortung Deutschlands zu erinnern, insbesondere
an die laxen Waffenexportregelungen und eine Politik,
die sich beim Umgang mit Dual-Use-Technologien an
rein geschäftlichen Interessen orientiert. Genau diese
Blindheit hat entscheidend dazu beigetragen, dass sich
das Saddam-Regime ein Arsenal an Chemiewaffen zule-
gen konnte. Aus dieser Erfahrung müssen wir endlich
lernen und für eine striktere Rüstungsexportkontrolle
sorgen. Tödliche Waffen sind eben nicht grundsätzlich
ethisch neutral, wie uns der Verteidigungsminister kürz-
lich glauben machen wollte.


(Patrick Kurth [Kyffhäuser] [FDP]: Sie können die Chemiefabrik doch nicht vergleichen mit Fregatten!)


Jenseits der Forderungen in unserem Antrag treten
wir für eine proaktive Politik ein und für unterstützende
Initiativen aus Deutschland, die der Gedenkkultur in der
Region Kurdistan neue Impulse verleihen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. h. c. Gernot Erler [SPD])


Ein Beispiel dafür ist das neue Mahnmal für die Opfer
der sogenannten Anfal-Operationen von Saddams Ar-
mee in Chamchamal. Es ist uns ein besonderes Anliegen,
deutlich zu machen, dass wir die Opfer der Unter-
drückungs- und Vernichtungsmaschinerie von Saddam
und seinem Unrechtsregime nicht vergessen dürfen.

Erfahrungen aus dem Prozess der Aufarbeitung unse-
rer Geschichte können wir weitergeben, zum Beispiel
mit Blick auf die Sicherung und Auswertung von Doku-
menten, die Einbeziehung von Zeitzeugen und die päda-
gogische und museale Bearbeitung der Vorgänge. Wir
sollten in Zusammenarbeit mit dem Goethe-Institut das
Gespräch darüber mit den Verantwortlichen in der
Region intensivieren. Ohne Angst vor weiterführenden
Debatten und ohne Scheuklappen kann Deutschland mit
dieser Art von Unterstützung viel zur Aufarbeitung bei-
tragen und deutlich machen, wie wichtig uns ein kriti-
sches Erinnern auch an die deutsche Mitverantwortung
für dieses Verbrechen ist.

Zum Abschluss möchte ich sagen: Ich teile den Vor-
schlag der Kollegin Zapf, in Anbetracht der vorliegen-
den Anträge eine interfraktionelle Gruppe einzurichten.
Letztlich sind die Unterschiede in den Anträgen auffällig
gering. Die eine Seite fügt dem Text des Antrags von
Rot-Grün ein wenig Lob an die Bundesregierung bei.
Die Forderung nach Anerkennung als Völkermord – das
ist der entscheidende Punkt – halte ich durchaus für be-
rechtigt. Nach Prüfung der Sachlage habe ich wenig Be-
denken, das juristisch so einzuordnen. Der Antrag der
Linken ist an der Stelle der Haftungsverantwortung
– Abgrenzung zwischen Bundesregierung, Unternehmen
und Diktatur – nicht ganz klar. Sie haben aber gesagt,
dass es nicht Ihre Absicht war, die Bundesregierung in
Haftung zu nehmen. Von daher wird es vielleicht mög-
lich sein, zu einer gemeinsamen Formulierung zu kom-
men. Das würde ich sehr begrüßen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722831600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12685 mit dem Titel „25 Jahre nach
Halabja – Unterstützung für die Opfer der Giftgasan-
griffe“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt da-
gegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der
Oppositionsfraktionen abgelehnt.

Abstimmung über den Antrag der Fraktionen der
CDU/CSU und der FDP auf Drucksache 17/12684 mit
dem Titel „Unterstützung für die Opfer von Halabja fort-
setzen“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Linken gegen
die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Grünen ange-
nommen.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zum Zusatzpunkt 9, Abstimmung über den
Antrag der Fraktion der Linken auf Drucksache 17/12692
mit dem Titel „Anerkennung der irakischen Anfal-Ope-
rationen 1988/89 und des Giftgasangriffs auf Halabja
vom 16. März 1988 als Völkermord – Humanitäre Hilfe
für die Opfer“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Antrag ist mit
den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen und der
SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung der
Grünen abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Strukturreform des Gebührenrechts des
Bundes

– Drucksache 17/10422 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/12722 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Kirsten Lühmann
Manuel Höferlin
Frank Tempel
Dr. Konstantin von Notz

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)

Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12722, den Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/10422 in der Ausschussfassung
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltun-
gen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit
den Stimmen der Koalition und der SPD bei Enthaltung
der Linken und Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.

Tagesordnungspunkt 14:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan
Korte, Agnes Alpers, Herbert Behrens, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Privatisierung der öffentlichen Sicherheit
rückgängig machen

– Drucksache 17/10810 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –
Ich sehe, dass Sie damit einverstanden sind.2)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10810 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist offensichtlich der Fall. Dann ist
die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 15:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wahlprüfung, Immu-
nität und Geschäftsordnung (1. Ausschuss)


Änderung der Geschäftsordnung des Deut-
schen Bundestages
hier: Änderung der Verhaltensregeln für Mit-

(Anlage 1 der Geschäftsordnung)

– Drucksache 17/12670 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Wolfgang Götzer
Sonja Steffen
Jörg van Essen
Dr. Dagmar Enkelmann
Volker Beck (Köln)


Hierzu liegen zwei gemeinsame Änderungsanträge
der Fraktionen der SPD und Bündnis 90/Die Grünen so-
wie zwei Änderungsanträge der Fraktion Die Linke vor.

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden.3) –
Sie sind damit offensichtlich einverstanden.

Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Wahlprüfung, Im-
munität und Geschäftsordnung auf Drucksache 17/12670.
Hierzu liegen vier Änderungsanträge vor, über die wir
zuerst abstimmen.

Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12698. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen abgelehnt.

Änderungsantrag der Fraktionen der SPD und Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/12699. Wer
stimmt für diesen Änderungsantrag? – Wer stimmt dage-
gen? – Enthaltungen? – Der Änderungsantrag ist mit den
Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Opposi-
tion abgelehnt.

Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/12701. Wer stimmt für diesen Änderungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Auch
dieser Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
tion gegen die Stimmen der Opposition abgelehnt.

Änderungsantrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/12702. Wer stimmt für diesen Änderungs-
antrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der

1) Anlage 3
2) Anlage 4
3) Anlage 5





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Änderungsantrag ist mit den Stimmen der Koalition ge-
gen die Stimmen der Opposition abgelehnt.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen
der Opposition angenommen.

Tagesordnungspunkt 16:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Schneider, Kai Gehring, Volker Beck (Köln),
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Queere Jugendliche unterstützen
– Drucksache 17/12562 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Innenausschuss
Sportausschuss
Ausschuss für Gesundheit

Die Reden sollen zu Protokoll gegeben werden. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12562 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-
verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 sowie Zusatz-
punkt 10 auf:

17 Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Vierten Gesetzes zur
Änderung des Energieeinsparungsgesetzes
– Drucksache 17/12619 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

ZP 10 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Daniela Wagner, Bettina
Herlitzius, Dr. Anton Hofreiter, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Energiewende im Gebäudebestand sozial ge-
recht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und
zukunftsweisend umsetzen
– Drucksachen 17/11664, 17/12671 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Volkmar Vogel (Kleinsaara)


Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann haben wir das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Bundesminis-
ter Peter Ramsauer das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Peter Ramsauer, Bundesminister für Verkehr,
Bau und Stadtentwicklung:

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vor allen Dingen hochverehrte unerbittlich
verbliebene Zuhörer und Besucher auf den Rängen! For-
dern und Fördern – das sind genau die tragenden Säulen
unserer Politik, mit denen wir zur Steigerung der Ener-
gieeffizienz im Gebäudebereich beitragen wollen. Das
Resümee aus den Jahren seit Einführung der KfW-
Förderung im Jahr 2006 – ich nehme dies einmal als
Maßstab – ist, dass sich diese Kombination aus Fördern
und Fordern als eine ausgezeichnete erfolgsträchtige
Kombination erwiesen hat.

Dank der Förderinstrumente unseres CO2-Gebäudesa-
nierungsprogramms werden wir schon sehr bald – man
höre und staune – die stolze Zahl von 3 Millionen ener-
getisch sanierten Wohnungen erreichen. Der erste Moni-
toringbericht zur Energiewende, den wir im vergangenen
Dezember vorgelegt haben, bestätigt – jetzt kommt eine
sehr interessante Zahl –: Der Energieverbrauch für Hei-
zung und auch für Kühlung – es werden immer mehr
Klimaanlagen in Häuser eingebaut –, für Warmwasser,
für Beleuchtung usw. sank von 40 Prozent Anteil am Pri-
märenergiebedarf – das war jahrelang die Marke – auf
inzwischen 34 Prozent. 6 Prozentpunkte weniger Pri-
märenergiebedarf, das ist eine großartige Zahl.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage fairerweise dazu: Diese Entwicklung hat
2006 angefangen, also in der Zeit vor dieser Regierung.
Wir sollten in diesem Hause nicht immer so tun, als wäre
alles, was vorher gemacht worden ist, falsch gewesen.
Nein, hier sind gute Wurzeln gelegt worden. Ich hätte
dies gern auch meinem hochgeschätzten Vorgänger
Wolfgang Tiefensee gesagt; gerade habe ich ihn noch
hier gesehen.

Wenn man das zusammennimmt, heißt das: Die von
uns ergriffenen Maßnahmen entfalten ihre Wirkung.
Man kann mit Fug und Recht sagen: Deutschland steht
weltweit an der Spitze der Bewegung für Energieeinspa-
rung und für mehr Energieeffizienz.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber wir können und wollen uns darauf nicht ausru-
hen. Unsere Ziele sind bekannt. Der Wärmebedarf im
Gebäudebereich muss um 20 Prozent und der Primär-
energiebedarf bis 2050 muss um etwa 80 Prozent weiter
sinken. Das heißt, wir wollen die Gebäude in Deutsch-
land bis 2050 weitestgehend klimaneutral halten.

Neben der Förderung – auch das ist ganz klar – müs-
sen natürlich auch ordnungsrechtliche Maßnahmen ei-
nen Beitrag leisten. Mit der jetzt vorgelegten Anpassung
der Energieeinsparverordnung auf der Basis des Ener-
gieeinsparungsgesetzes vollziehen wir hier einen we-
sentlichen und wichtigen Schritt. Das Ziel des Gesetzes 1) Anlage 6





Bundesminister Dr. Peter Ramsauer


(A) (C)



(D)(B)


ist die Einführung einer Grundpflicht zur Errichtung von
Neubauten im Niedrigstenergiestandard ab dem Jahr
2019 für öffentliche Gebäude bzw. ab 2021. Wir orien-
tieren uns dabei strikt am bewährten Gebot der Wirt-
schaftlichkeit. Investitionen müssen sich auch in Zu-
kunft für die Gebäudeeigentümer wirtschaftlich lohnen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


und sie müssen für die Mieter bezahlbar sein; ich füge
dies ausdrücklich hinzu, weil ich gerade unter anderem
mit der Kollegin Petra Müller von einer Veranstaltung
des Deutschen Mieterbundes komme.

Einen Sanierungszwang nach ideologischem Muster,
wie ihn sich manche vorstellen – ich sage auch das in al-
ler Klarheit und Entschiedenheit –, lehnen wir ab, und
ihn wird es mit mir als Bauminister auch nicht geben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Denn er hätte – wenn man die wirtschaftliche Praxis ein
bisschen kennt, weiß man das, meine sehr geehrten Da-
men und Herren – fatale Auswirkungen auf die Investiti-
onsbereitschaft in diesem Bereich.

Anspruchsvollere Effizienzstandards definieren wir
deshalb nur für Neubauten. Im Gebäudebestand sehen
wir bewusst von einer Verschärfung ab, vor allem, weil
die tatsächlich erzielbaren Einsparungen an Primärener-
gie nur geringfügig wären, und das bei exorbitantem
Kosteneinsatz, der manchmal geradezu absurd wäre und
zu nicht vertretbaren Grenzkosten führen würde.

Zudem, meine Damen und Herren, ist der wirtschaft-
lich vertretbare und zumutbare Spielraum für Anhebun-
gen im Bestand wesentlich stärker begrenzt, als dies bei
Neubauten – aus den verschiedensten Gründen – der Fall
ist. Wir müssen auch berücksichtigen – das haben viele,
so scheint es, vergessen –, dass seit der letzten EnEV-
Novelle im Jahr 2009 noch nicht einmal vier Jahre ver-
gangen sind.

Mehr Transparenz ist uns ein wichtiges Anliegen. Die
Angabe energetischer Kennwerte in Immobilienanzei-
gen wird künftig ebenso verpflichtend sein wie die Über-
gabe des Energieausweises an den Käufer oder an den
neuen Mieter.

Lassen Sie uns also jetzt konstruktiv in die parlamen-
tarischen Beratungen einsteigen und die Reform des
Energieeinsparrechts zum Erfolg führen! Ich bin sicher,
liebe Kolleginnen und Kollegen, dass sich die Hand-
lungsfelder Bauen und Wohnen als wichtige und wesent-
liche Werkbänke der Energiewende erweisen werden.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722831700

Das Wort hat Sören Bartol für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722831800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Eine Debatte über den rechtlichen und den

doch sehr technokratischen Ordnungsrahmen der Ener-
gieeinsparverordnung gibt, finde ich, dem Parlament
auch zu einer so späten Stunde den dankbaren Anlass, in
Ruhe Luft zu holen und vielleicht einmal generell zu
schauen, wie es eigentlich mit der Energiewende aus-
sieht.


(Otto Fricke [FDP]: Dann hol erst mal Luft!)


Noch einmal zur Erinnerung: Die Energiewende wird
nur ein Erfolg, wenn wir den Energieverbrauch im Ge-
bäudebereich drastisch senken. Im Wohnungsbereich
müssen wir, um dieses Ziel zu erreichen, natürlich vor
allen Dingen an den Bestand herangehen und ihn energe-
tisch sanieren. Sie versuchen ja immer, uns im wahrsten
Sinne den Schwarzen Peter für das Scheitern der steuer-
lichen Förderung zuzuschieben.


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Wie nett, dass Sie uns daran erinnern!)


Dabei haben Sie die Verhandlungen am Ende vor die
Wand gefahren. Die Zeche sollten die Länder zahlen.
Nachdem Sie damit für reichlich Zeitverzug gesorgt ha-
ben, sind Sie ja nun endlich auf den von uns schon seit
langem geforderten Kurs der KfW-Förderung einge-
schwenkt.

Die Aufstockung der Mittel für das KfW-Programm
„Energieeffizient Sanieren“ erfolgt allerdings etwas
halbherzig und vor allen Dingen viel zu spät. Der Um-
fang bleibt trotz des angekündigten Zusatzprogramms
im Umfang von 300 Millionen Euro weit zurück hinter
den 2 Milliarden Euro, die für die energetische Gebäude-
sanierung mindestens nötig wären. Nur so wären die An-
forderungen im Gebäudebereich aber zu stemmen, und
nur so könnten wir die nötigen Energie- und CO2-Ein-
sparungen im Gebäudebereich erzielen.

Die KfW-Förderung hat sich bewährt. Sie berücksich-
tigt Fördergrundsätze wie Technologieoffenheit und qua-
lifizierte Beratung. Bereits jetzt werden rund 70 Prozent
der im Rahmen des KfW-Programms „Energieeffizient
Sanieren“ geförderten Wohneinheiten von privaten Ei-
gentümern saniert. Das zeigt, dass KfW-Programme gut
angenommen werden.

Trotz der Ergänzungen des Förderprogramms bleiben
wichtige Fragen von der Bundesregierung unberücksich-
tigt. Energetische Stadtsanierung besteht nicht nur aus
dem Sanieren einzelner Wohneinheiten, sondern muss
sich auf den gesamten Stadtteil beziehen: von der Ener-
gieversorgung bis hin zur effizienten Nutzung und
Speicherung erneuerbarer Energien in dezentralen Struk-
turen. Deswegen ist eine Verzahnung von Städtebauför-
derung und energetischer Gebäudesanierung so wichtig.


(Beifall bei der SPD – Petra Müller [Aachen] [FDP]: Und welches Programm ist das? „Energetische Stadtentwicklung“?)


Lassen Sie mich zusammenfassen: Unter SPD-Regie-
rungsbeteiligung standen für die entsprechenden KfW-
Programme am Ende mehr Mittel im Haushalt zur Verfü-
gung, als dies jetzt nach der Aufstockung durch die
schwarz-gelbe Bundesregierung der Fall ist – und das,
obwohl Sie vollmundig eine allumfassende Energie-





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


wende angekündigt haben. Die Realität Ihrer Politik
sieht allerdings so aus, dass die Energiewende schon auf
den ersten Metern im Sande verläuft.

Kommen wir zum Energie- und Klimafonds – noch
so eine grandiose Meisterleistung –: Ab 2013 sollen
auch Mittel aus dem Energie- und Klimafonds für die
energetische Stadtsanierung und für die energetische Ge-
bäudesanierung zur Verfügung stehen. Die SPD hat im-
mer angemahnt, die Finanzierung von wichtigen Maß-
nahmen zur Verwirklichung der Energiewende auf eine
solide und vor allen Dingen auf eine verlässliche Grund-
lage zu stellen. Was machen Sie? Sie gründen einen
Schattenhaushalt, dessen Einnahmen so konstant sind
wie das Wetter im April.


(Petra Müller [Aachen] [FDP]: Besser als Steuererhöhungen!)


Die alleinige Einnahmebasis des EKF stellt der Erlös aus
dem Handel mit CO2-Zertifikaten dar. Ich habe Ihnen
schon damals gesagt: Das kann nur schiefgehen. – Und
das geht jetzt auch schief: Der Preis für CO2-Zertifikate
liegt derzeit weit unterhalb des von der Bundesregierung
angenommenen Betrags. Ungeachtet der Einnahmerisi-
ken hält die Regierungskoalition immer noch an ihren
Erlösprognosen für 2013 fest, die von einem Preis für
CO2-Zertifikate von ungefähr 10 Euro ausgehen. Dabei
hatte sich schon im vergangenen Jahr gezeigt, dass diese
Kalkulation auf deutlich überhöhten Preiserwartungen
beruht. Zahlreiche Umwelt- und Klimaschutzprogramme,
die sich aus dem Sondervermögen EKF speisen, mussten
bereits 2012 Mittelkürzungen verkraften; viele Projekte
mussten eingestellt werden.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Hört! Hört!)


Betroffen sind wichtige Bereiche wie Energieeffizienz,
kommunaler Klimaschutz, CO2-Gebäudesanierung und
natürlich auch Marktanreizprogramme.

Ungeachtet der Einnahmerisiken sollen nach Ihrem
Willen immer neue Programme über den Energie- und
Klimafonds finanziert werden. Angesichts dessen, dass
sich bereits zu Jahresbeginn 2013 erneut Mindereinnah-
men in Höhe von bis zu 1 Milliarde Euro abgezeichnet
haben, muss die Bundesregierung langsam einmal darle-
gen, wie sie die Finanzierung dieser erfolgreichen Pro-
gramme und damit – das will ich hier noch einmal deutlich
sagen – das Herzstück der Energiewende in Deutschland
sichern will.


(Otto Fricke [FDP]: Die Programme sind also doch erfolgreich!)


Im Haushaltsentwurf für 2014 steht nun auch noch
eine globale Minderausgabe für den Energie- und Kli-
mafonds. Waren die EKF-Einnahmen bisher schon sehr
unsicher, so ist das nun die große Katastrophe. Das trifft
das CO2-Gebäudesanierungsprogramm am Ende ebenso
wie die energetische Stadtsanierung. Was das Aller-
schlimmste ist: Die Investoren verunsichert es völlig.

Es ist schon interessant, dass Sie immer noch an der
Bewertung festhalten, dass ein derart gestalteter Energie-
und Klimafonds eine solide Finanzierungsgrundlage bil-

det. Vielleicht erinnern Sie sich an den Satz von Albert
Einstein:

Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu
zertrümmern als ein Atom.


(Otto Fricke [FDP]: Zertrümmerung von Programmen im Zusammenhang mit der Energiewende? Ui, ui, ui!)


Vom Zertrümmern von Atomen wollen wir weg. Viel-
leicht schaffen Sie es, auch Ihre vorgefasste Meinung
schleunigst zu überdenken.

Ich muss an dieser Stelle nämlich sagen: Union und
FDP haben keine Konzepte. Nach außen wird eine nach-
haltige Klimaschutzpolitik propagiert; aber dazu fehlt
Ihnen eigentlich das entsprechende Klima. Sie haben
noch nicht einmal begriffen – doch das ist Ihnen völlig
fremd –, dass Eigentum eine gesellschaftliche Verpflich-
tung mit sich bringt; das ist übrigens schon dem Grund-
gesetz zu entnehmen. Sie gönnen noch nicht einmal den
Mietern, die von Sanierung betroffen sind und durch Sa-
nierung belastet werden, das für uns alle selbstverständ-
liche Mietminderungsrecht.


(Otto Fricke [FDP]: Erst sagst du, wir sollen Investoren nicht verunsichern! Jetzt willst du, dass wir sie verunsichern! – Gegenruf der Abg. Petra Müller [Aachen] [FDP]: Du sollst ihn nicht duzen!)


Ich glaube, dass Sie damit ein negatives Klima schaffen.
Sie stigmatisieren die Mieter; denn auch mit anderen
Änderungen im Mietrecht haben Sie sozusagen einen
Pauschalverdacht eingeführt. Sie sehen den Mieter nicht
als Partner; doch wir brauchen die Mieterinnen und Mie-
ter als Partner bei der Mammutaufgabe der energeti-
schen Sanierung.

Nötig wäre eigentlich eine Sanierungsquote von
3 Prozent pro Jahr. Wir sind jetzt ungefähr bei 0,7 Pro-
zent pro Jahr. Ich glaube, Sie wissen ganz genau wie ich,
dass das vorne und hinten nicht ausreicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deswegen kann ich Sie nur auffordern: Legen Sie
doch endlich ein Programm dafür vor, wie wir die Ener-
giewende – hierbei geht es nämlich nicht nur um Strom;
wir reden hier im Deutschen Bundestag viel zu oft über
Strom – gerade im zentralen Gebäudebereich zum Erfolg
führen können. Das, was Sie bis jetzt auf diesem Weg
vorgelegt haben, reicht vorne und hinten nicht aus. Das
wird auch der jetzt vorliegende Gesetzentwurf nicht ver-
ändern.


(Beifall bei der SPD – Dr. Sascha Raabe [SPD]: Guter Mann, der Bartol! Der sollte Minister sein, nicht der Grauhaarige!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722831900

Das Wort hat nun Petra Müller für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Müller (FDP):
Rede ID: ID1722832000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

freue mich, Sie alle zu später Stunde hier so zahlreich zu
sehen. Gäste haben wir auch. Herzlich Willkommen!

Mit dem Gesetzentwurf zur Änderung des Energie-
einsparungsgesetzes setzt die christlich-liberale Koali-
tion ihren Weg zur Energiewende fort. Wie? Umsichtig,
nachhaltig, kontinuierlich.

Wir tun dies umsichtig, weil wir energie- und sozial-
politische Fragen gemeinsam betrachten. Genau das tun
wir, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/
Die Grünen. Das fordern Sie auch in Ihren Anträgen und
auf Ihrer Webseite.

Die Konsequenz, die wir daraus ziehen, ist aber eine
andere. Wir wollen hier einen anderen Weg gehen; denn
angesichts der hohen Wohnraumnachfrage in verschie-
denen Teilen unseres Landes führt jede Verschärfung der
Energieeffizienz im Gebäudebestand zwangsläufig zu
steigenden Mieten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das genau erreichen Sie mit Ihrer Forderung. Das ist für
mich übrigens kein Ausdruck sozialer Verantwortung.

Die Verschärfung von Standards fördert im Neubau-
bereich das Hochpreissegment, also genau das, was Sie
nicht wollen. Mit Ihren Forderungen regen Sie das aber
an, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition.
Sie spitzen die Wohnungssituation für Menschen mit
mittleren und kleinen Einkommen – Studenten, Rent-
nern, jungen Familien usw. – zu.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Ja, die haben keine Ahnung!)


Mit diesem Weg, den Sie vorschlagen, erreichen Sie ge-
nau das Gegenteil von dem, was Sie wollen.

Wir, die FDP-Bundestagsfraktion, werden weiterhin
darauf achten, dass die Mindestanforderungen für die
Bauten im Bestand nicht steigen, sondern da bleiben, wo
sie jetzt sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Anforderungen an den Effizienzstandard von
Neubauten werden in zwei Stufen – 2014 und 2016 – an-
gehoben, und zwar um jeweils 12,5 Prozent Jahrespri-
märenergiebedarf und 10 Prozent Wärmedämmung der
Gebäudehülle. Mehr nicht! Der Niedrigstenergiegebäu-
destandard wird für Bürogebäude ab 2019 und für alle
übrigen Neubauten ab 2021 verpflichtend.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Das ist Politik mit Augenmaß!)


– Ganz genau. Vielen Dank, Herr Kollege Staffeldt.

In Bezug auf den Gebäudebestand gibt es keine neuen
Anforderungen – nicht hinsichtlich der Modernisierung
der Außenhülle und auch keine neuen Nachrüstpflichten.
Ich glaube, das ist eine wichtige Nachricht für alle Haus-
besitzer, ob klein oder groß.

Damit tragen wir der Wirtschaftlichkeit von Gebäu-
den Rechnung. Wirtschaftlichkeit ist ein Begriff, der
dem einen oder anderen vielleicht fremd ist, aber ich
kann das ja noch einmal erklären. Wenn ich investiere,
dann muss sich das in der Miete irgendwann auch nie-
derschlagen, sonst passt das Geschäft für keinen von bei-
den Partnern. So ist das nun einmal.


(Kirsten Lühmann [SPD]: Irgendwann! Nur wann?)


Gleichzeitig müssen in Bezug auf diese Wirtschaft-
lichkeit auch bautechnische und ästhetische Fragen be-
rücksichtigt werden. Auch das ist wichtig; das sollte man
nicht aus den Augen lassen.

Technologieoffenheit und Wahlfreiheit für Investoren
bzw. Eigentümer müssen gewahrt bleiben. Das nenne ich
liberale Politik. Das ist die Politik unserer Koalition, und
das ist umsichtig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Sören Bartol [SPD]: Sehr umsichtig!)


– Ja, das ist es.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, dieser Ge-
setzentwurf ist nachhaltig, und Nachhaltigkeit ist heut-
zutage wirklich mehr als nur Energieeinsparung.

Markt und Politik fordern viel von Eigentümern und
Investoren, und es sind nicht immer nur die Großen, son-
dern auch die Kleinen betroffen. Hier müssen wir uns
doch nichts vormachen.

Die Anpassung der Gebäude an älter werdende Ge-
sellschaften und an den demografischen Wandel, das
Wohnumfeld, das verbessert werden soll und muss, sta-
bile Nachbarschaften – hier denke ich auch an die Quar-
tiere –, bessere Sicherheitsstandards – auch das ist heute
eine Anforderung an Investoren und Eigentümer –, bes-
sere Mess- und Gebäudetechnik, weil wir damit doch
Energie sparen, Qualitätssicherung, Energiemanage-
ment, technische Überwachung: Das ist ein ganzes Maß-
nahmenpaket. Das sind Aufgaben und steigende Ansprü-
che. Diese erfordern aber auch Ausgewogenheit.
Deshalb ist die Wirkung unserer Gesetzesvorlage so
nachhaltig,


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


weil sie umfassende Forderungen im Einzelfall zulässt,
aber nicht behindert, und weil sie mit Augenmaß vor-
geht, aber nicht überfordert.

Bei aller Notwendigkeit zur energetischen Sanierung,
bei allen sinnvollen Standards: Wir wollen, dass in
Deutschland auch weiterhin gebaut werden kann und
auch gebaut wird. Genau deshalb werden wir den
Grundsatz der Wirtschaftlichkeit in die Präambel zur
Energieeinsparverordnung aufnehmen. Wir wollen für
Investoren Startblöcke aufstellen, aber keine Hemm-
schuhe an sie verteilen.

Das alles möchten wir in den nächsten Jahren konti-
nuierlich fortsetzen. Deshalb will die christlich-liberale
Koalition vor 2018 auch keine weiteren Novellierungen.





Petra Müller (Aachen)



(A) (C)



(D)(B)


Denn das ist das wichtige Signal in den Markt hinein:
die Planungssicherheit, die sich positiv auf Neubau und
Sanierung auswirken wird. Diese wird sich auf den ge-
samten Wohnungsmarkt auswirken und schafft Stabilität
und das Klima für Neubauten.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, viel-
leicht noch ein Wort ganz zum Schluss zur Markttrans-
parenz: Es wird einen Energieausweis geben. Der wird
in ein paar Jahren genauso normal sein wie die Ampel an
jedem Elektrogerät. Jeder Mieter oder Erwerber eines
Gebäudes wird sich danach richten und kann auf dieser
Grundlage seine Kaufentscheidung bedenken. Ich
glaube, auch das ist ein ganz wichtiger Aspekt bei der
Energiewende.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue
mich auf meine nächste Kollegin.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722832100

Das Wort hat nun Heidrun Bluhm für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Heidrun Bluhm (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722832200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit

diesem Gesetzentwurf erhebt die Bundesregierung den
Anspruch, die Richtlinie der Europäischen Union und
des Europäischen Rates vom 19. Mai 2010 über die Ge-
samteffizienz von Gebäuden umzusetzen. Aber genau
das Gegenteil tut sie.

Herr Ramsauer, Sie haben es tatsächlich hinbekom-
men, in Ihrem Eingangsstatement nicht ein einziges Mal
die EU zu erwähnen. Dieser Gesetzentwurf, den Sie hier
vorgelegt haben, entspricht in keiner Weise den Ansprü-
chen, die wir in einem gemeinsamen Europa miteinander
vereinbart haben.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Gegenteil: Sie verwässern die Zielsetzungen der
EU zum Klimaschutz und verstümmeln diese Richtlinie
auf wenige, willkürlich ausgewählte Aspekte.

Die Bundesregierung verstößt mit vielen der hier vor-
gesehenen Regelungen sowohl gegen ihre eigenen Ziel-
marken als auch gegen die mit der EU vereinbarten Ziel-
marken.

Die Bundesregierung ignoriert die von der EU ange-
botenen Hilfen und Vorgaben zur Schaffung angemesse-
ner Finanzierungsinstrumente zur Beschleunigung in
Richtung einer besseren Gesamteffizienz von Gebäuden.
Dass der Minister das nicht hören mag, kann ich mir vor-
stellen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung hält sich nicht einmal an den
vereinbarten Zeitrahmen für die Umsetzung der Richt-
linie in deutsches Recht und müsste sich nach Art. 27 der
EU-Richtlinie deswegen schon heute selbst mit Sanktio-
nen belegen. Aber der Reihe nach.

Die Bundesregierung will erstens die primärenergeti-
schen Anforderungen an Neubauten in zwei Stufen je-
weils um 12,5 Prozent bis 2016 verschärfen. Die EU-
Richtlinie fordert aber 20 bis 30 Prozent bis 2020. Diese
Vorgabe ist so überhaupt nicht zu erfüllen.

Die Bundesregierung will zweitens die Anforderun-
gen an die Gebäudehülle in zwei Stufen jeweils um
10 Prozent bis 2016 verschärfen – aber nur bei Neubau-
ten. Die EU-Richtlinie fordert in Art. 6 und Art. 7, dass
alle Neubauten und Bestandsgebäude einzubeziehen
sind. In Art. 9 fordert sie, dass bis 2020 alle Neubauten
und bis 2018 alle öffentlichen Gebäude dem Niedrigst-
energiestandard entsprechen sollen.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Das ist schön, dass Sie vorlesen können, Frau Kollegin! Ich bin schwer beeindruckt!)


Die Bundesregierung will drittens keinen eigenen
Finanzrahmen für die Förderung dieser Ziele festschrei-
ben.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Ihre Rede ist ein Plagiat! Sie lesen nur von anderen ab!)


Die EU-Richtlinie schreibt in Art. 10 aber genau dieses
vor.

Herr Schäubles Eckwerte für den Haushalt 2014
– Herr Bartol hat es hier schon einmal näher ausgeführt –
haben die Unterdeckung des EKF bereits deutlich wer-
den lassen.

Das ist wahrscheinlich der Grund, warum Sie in diesem
Gesetzentwurf nicht einmal mehr eine verlässliche För-
derung für Investoren, auf die Sie, Frau Müller, so sehr
abzielen, vorsehen.


(Sören Bartol [SPD]: Kein Mensch investiert!)


Die Bundesregierung ignoriert viertens, dass die Frist
zur Umsetzung der EU-Richtlinie bereits am 9. Juli 2012
abgelaufen ist, wie es die EU-Richtlinie vorschreibt. Da-
rin werden auch Sanktionen für denjenigen gefordert,
der diese Richtlinie nicht bis zum 9. Januar 2013 umge-
setzt hat. Also sollten wir uns heute schon einmal da-
rüber unterhalten, welche Sanktionen wir unserer eige-
nen Bundesregierung auferlegen, weil sie diesen Termin
schon längst verpasst hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Deshalb jetzt dieser Schnellschuss ohne Sinn und Ver-
stand, wahrscheinlich aus reiner Angst vor zukünftigen
Sanktionen der EU.

Die Linke schließt sich mit ihren Forderungen den
Vorschlägen des NABU zur Novellierung des Energie-
einsparungsgesetzes und auch der Energieeinsparverord-
nung in weiten Teilen an. So werden durch Ihre herabge-
setzte Verordnung, Frau Müller, die Mieterinnen und
Mieter eben nicht geschützt, sondern sie sollen zusätz-
lich belastet werden; denn wenn es in den Gebäudebe-
ständen zu keinerlei zusätzlicher Sanierung im energeti-
schen Bereich kommt, werden die Mieterinnen und
Mieter an dieser Stelle auch nicht entlastet, sondern wei-





Heidrun Bluhm


(A) (C)



(D)(B)


terhin hohe Nebenkosten zahlen müssen. Diese bleiben
letztlich auf der Strecke.


(Beifall bei der LINKEN)


Diesen Gesetzentwurf kann man aus den von mir ge-
nannten Gründen einfach nur ablehnen. Er ist nicht nur
den Mieterinnen und Mietern und auch den Investoren
gegenüber unfair. Er ist auch gegenüber den vereinbar-
ten Zielen in Europa unfair. Das kann man mit der Lin-
ken in diesem Land nicht machen.


(Beifall der Abg. Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE])


Wir werden diesen Gesetzentwurf ablehnen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722832300

Das Wort hat nun Oliver Krischer für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722832400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Jetzt habe ich gedacht: Wenn zu so später Stunde der
Minister hier ist, dann wird ein Feuerwerk abgebrannt.
Er hat aber nicht einmal ein Streichholz entzündet.


(Volkmar Vogel [Kleinsaara] [CDU/CSU]: Wir zünden doch keine Häuser an! Wir wollen sie sanieren! – Zurufe von der FDP)


Ich komme gleich zu dem, was Sie hier vorlegen,
Herr Minister. Ihre Schönrederei beim Thema Gebäude-
sanierung kann man Ihnen nicht durchgehen lassen.
Wenn wir Mitte des Jahrhunderts einen halbwegs klima-
neutralen Gebäudebestand haben wollen – das müssen
wir, wenn wir unsere Klimaziele erreichen wollen –,
dann brauchen wir eine Sanierungsrate von 3 Prozent.
Das, was diese Bundesregierung zustande bringt, hat
eine Null vor dem Komma. Das sind null Komma ir-
gendwas, vielleicht sogar 1,2 Prozent, aber von 3 Pro-
zent sind wir Welten entfernt. Dass Sie sich hier auf die
Schulter klopfen, ist ein bisschen lächerlich, Herr
Ramsauer. Es tut mir leid, das so zu sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich sage Ihnen: Das, was Sie hier jetzt vorlegen, löst
die Probleme beim Gebäudebestand kaum. Der Gesetz-
entwurf bezieht sich in erster Linie auf Neubauten. Das
Wesentliche jedoch, was im Gebäudebereich passieren
muss, ist die Sanierung des Bestands. Dafür bringt das,
was Sie hier in notdürftiger Umsetzung einer EU-Richt-
linie vorlegen, gar nichts.


(Torsten Staffeldt [FDP]: Zwangssanierungen, die keiner bezahlen kann!)


Vor allen Dingen packen Sie all die Probleme, die ge-
rade in der Fachwelt diskutiert werden und die Sie von
den Praktikern hören, dass es ein Durcheinander zwi-
schen Energieeinsparungsgesetz, Energieeinsparverord-
nung und Erneuerbare-Wärme-Gesetz gibt, dass es hier
teilweise widersprüchliche Regelungen gibt, dass Pla-

nungen doppelt gemacht werden, an dieser Stelle nicht
an.

Der Bundesrat hat es Ihnen mit einer klaren Mehrheit
ins Stammbuch geschrieben: Die Umsetzung dieses Ge-
setzes führt zu Akzeptanzproblemen. Das führt nicht
dazu, dass wir am Ende klimafreundlicher bauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Blockade!)


– Zum Thema Blockade: Lesen Sie einmal, was Ihnen
der Bundesrat aufgeschrieben hat. Vielleicht haben wir
im weiteren Verfahren noch die Gelegenheit, hier einiges
zu verbessern. Das, was Sie bisher vorgelegt haben, bie-
tet überhaupt keine Perspektive.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich will Ihnen das anhand des Beispiels der Energie-
ausweise erklären. Wir brauchen endlich einen ver-
pflichtenden Bedarfsausweis. Es muss klar sein, dass der
Ausweis tatsächlich vorhanden sein und vorgelegt wer-
den muss, dass es keine Ausnahmen und Sonderregelun-
gen geben darf. Auch da liefern Sie nicht. Das Problem
gehen Sie nicht an.

Sie machen das ganze Thema zu einem reinen Papier-
tiger, und dann feiern Sie sich dafür, dass in Zukunft der
energetische Standard eines Gebäudes in den Immobili-
enanzeigen dargestellt werden soll. Ja, das ist eine rich-
tige Sache. Aber in Frankreich und Großbritannien ist
das seit Jahren Standard. Sie hinken hinterher. Das alles
bringt am Ende überhaupt nichts.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der FDP)


– Dann nennen Sie mir ein anderes Thema. Ein anderes
schönes Thema, zu dem Sie nicht liefern, ist das Erneu-
erbare-Wärme-Gesetz für den Bestand. Das haben Sie
im Koalitionsvertrag vereinbart. Wo bleibt es? Sie hätten
jetzt die Chance, etwas vorzulegen. Ihr Kollege Kauch
fordert das seit Jahren. Er sagt immer: Die Bundesregie-
rung wird liefern. – Es kommt nichts. Sie liefern nichts.

Sie liefern am Ende einen Papiertiger, und das ist viel
zu wenig. Da können Sie so lange schreien, wie Sie wol-
len. Das wird Sie an der Stelle nicht voranbringen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Otto Fricke [FDP]: Du hast schon deine ganze Fraktion aus dem Saal gejagt! Deine Leute sind alle geflohen!)


Meine Damen und Herren, was wir brauchen, ist ein
Energieeffizienzfonds. Wir brauchen über die 2 Milliar-
den Euro für die energetische Gebäudesanierung im
Rahmen der KfW hinaus einen Energieeffizienzfonds.
Wir haben dazu den Vorschlag gemacht, dass wir ihn mit
3 Milliarden Euro ausstatten, finanziert aus dem Abbau
umweltschädlicher Subventionen. Das kann man in den
Gebäudebestand investieren und beispielsweise den
Kommunen für Quartiere, wo es schwierig ist, zur Verfü-
gung stellen.

Das alles kriegen Sie nicht hin. Sie liefern seit Jahren
nicht, und auch mit diesem Gesetzentwurf werden Sie





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


den Herausforderungen der energetischen Gebäudesa-
nierung überhaupt nicht gerecht. Das ist ein Flop. Viel-
leicht haben wir die Chance, in den Ausschussberatun-
gen noch etwas zu verbessern, aber ich sehe es nicht.

Ich danke Ihnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722832500

Letzter Redner zu diesem Debattenpunkt ist Volkmar

Vogel für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1722832600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Energieeinsparungsgesetz und Energieeinsparverord-
nung sind zwar hochtechnische Begriffe, aber man muss
an der Stelle klarmachen: Es betrifft uns alle, sowohl den
Mieter als auch den Selbstnutzer im Eigenheim und na-
türlich auch die gewerbliche Wohnungswirtschaft. Die
Debatte eben hat mir gezeigt: Die Argumente der Oppo-
sition sind sehr schwach. Das heißt, wir sind auf dem
richtigen Weg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen des Abg. Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN])


Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregierung
folgt vor allen Dingen unseren politischen Grundsätzen.
Ich möchte sie noch einmal zusammenfassen. Minister
Ramsauer hat es bereits ausgeführt, und auch Petra
Müller hat es deutlich gemacht: Das Wirtschaftlichkeits-
gebot ist für uns von ganz großer Bedeutung, genauso
wie die Vorgabe, dass es keine Sanierungspflicht für den
Bestand geben darf.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Denn man stelle sich vor, wir setzen einen Ordnungsrah-
men, der die Eigentümer verpflichtet, zu sanieren. Ge-
rade diejenigen mit kleinem Geldbeutel wie Witwen
oder Alleinstehende, die ihr Eigentum erhalten wollen,
müssten dann zwangsläufig ihr Eigentum aufgeben. Das
kann beim besten Willen nicht sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer will das denn?)


Das beste Mittel, um das zu verhindern, ist – wenn
wir die Wirtschaftlichkeit tatsächlich in den Mittelpunkt
stellen – Technologieoffenheit. Wir sollten es den Men-
schen vor Ort überlassen, mit welchen geeigneten Maß-
nahmen sie das, was wir vorschreiben, umsetzen. Wir
sollten nicht hineinregieren. Es gibt regionale Unter-
schiede, und es gibt Unterschiede in der Gebäudesub-
stanz. Deshalb wollen wir das.

Ganz wichtig ist die Planungssicherheit. In der Zeit,
seit ich im Deutschen Bundestag bin, habe ich in kurzen
Zeitabständen eine EnEV 2007 und eine EnEV 2009
mitgemacht. Wir reden jetzt über eine EnEV 2014. Wir

müssen sie angehen, weil wir die EU-Gebäuderichtlinie
umsetzen müssen. Aber jetzt kommt es darauf an, für ei-
nen Zeitraum in diesem Jahrzehnt für Sicherheit zu sor-
gen. Dafür sorgen wir, indem wir auch vernünftige Ver-
schärfungen im Neubau zum Ansatz bringen. Zweimal
12,5 Prozent in 2014 und 2016 sind machbar, wenn-
gleich ich an der Stelle sage: Wir sind sehr hart an der
Grenze zu dem, was man wirtschaftlich vertreten kann.

Deswegen ist es wichtig, dass wir bei der sogenannten
Transmission, also beim Wärmedurchgang, sagen: Bei
der Außendämmung reichen zweimal 10 Prozent. Mehr
ist wirtschaftlich vertretbar nicht umzusetzen.

Den Bestand muss man differenziert betrachten. Wir
wollen keine Sanierung, was den Bestand anbetrifft; wir
setzen vielmehr auf Förderung, Beratung und Informa-
tion. Das ist der große Unterschied zwischen uns und der
Opposition. Die Opposition, allen voran die Grünen, will
die verpflichtende Sanierung in einem bestimmten Zeit-
raum. Das ist der falsche Weg und widerspricht letztlich
der Eigentumsgarantie, die uns das Grundgesetz vor-
schreibt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die EU-Gebäuderichtlinie schreibt Informationen,
Kennwerte für den Immobilienbereich und verschärfte
Aushangspflichten für den Energieausweis nicht nur in
öffentlichen Gebäuden, sondern auch in Gebäuden mit
öffentlichem Charakter wie Kinos und Kaufhäusern vor.
Ich denke, das ist für die wirtschaftlich Beteiligten
machbar.

Förderung heißt aus unserer Sicht, einen höheren Sa-
nierungsanreiz in den Bereichen zu setzen, in denen es
um Freiwilligkeit geht. Das hilft, die Wirtschaftlichkeits-
lücke da, wo sie entsteht, zu schließen. Wir sorgen des
Weiteren dafür, dass die CO2-Gebäudesanierungspro-
gramme weiter bedient werden, dass sie oberste Priorität
bei der Ausschöpfung des Energie- und Klimafonds ha-
ben. Wir stellen zusätzlich 300 Millionen Euro für die
nächsten acht Jahre zur Verfügung. Ich appelliere an die
Kollegen von SPD und Grünen, das noch einmal aufzu-
greifen und die Möglichkeiten der steuerlichen Ab-
schreibung der Kosten der energetischen Gebäudesanie-
rung erneut auf die Tagesordnung zu setzen. Ich weiß,
dass Sie damit bislang bei den von SPD und Grünen ge-
führten Ländern nicht haben punkten können. Greifen
Sie es noch einmal auf, um hier eine Sanierungsmöglich-
keit zu schaffen! Herr Krischer, Sie haben davon gespro-
chen, dass eine Sanierungsquote von 3 Prozent wahr-
scheinlich nicht erreicht wird. Wenn wir hier das
Potenzial, vor allem das private Kapital, besser heben
könnten, wäre die Sanierungsquote sicherlich sehr viel
höher.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich noch einige Worte zum Sanierungs-
fahrplan bis 2050 sagen. Das Ziel ist, bis dahin 80 Pro-
zent der bislang benötigten Energie einzusparen. Die
EnEV, die wir jetzt auf den Weg bringen, ist ein wichti-
ger Baustein für das Erreichen der Ziele bis zum Ende
dieses Jahrzehnts. Die Menschen wissen nun, in welche
Richtung es geht. Wenn wir mit der EnEV 2014 den





Volkmar Vogel (Kleinsaara)



(A) (C)



(D)(B)


Niedrigstenergiehausstandard entsprechend der EU-Ge-
bäuderichtlinie etablieren – und zwar ab 2019 für den öf-
fentlichen Bereich und ab 2021 für alle Gebäude –, dann
ist das ein weiterer Schritt zur Umsetzung des Sanie-
rungsfahrplans bis 2050. Wir werden gemeinsam mit al-
len Akteuren, also sowohl mit denjenigen, die davon be-
troffen sind, als auch mit denjenigen, die es umsetzen
müssen, weiterhin an diesem Sanierungsfahrplan arbei-
ten. Wir werden ihn den Menschen als Handlungsemp-
fehlung an die Hand geben.

Ein allerletztes Wort zum Regelwerk. Der Kollege
Krischer hat es angesprochen: Ja, es ist richtig, dass un-
ser Regelwerk zu kompliziert ist. Das hat sich an der Be-
teiligung der Bundesländer und der Verbände gezeigt.
Wir sollten gemeinsam darüber nachdenken, ob es nicht
sinnvoll ist, die Regelwerke, die es im Bereich der Ener-
gieeffizienz und für die erneuerbaren Energien im Bau-
bereich gibt, zu einem einheitlichen, einfacheren Regel-
werk zusammenzuführen. Aber das ist nicht Aufgabe in
den nächsten Wochen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722832700

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Volkmar Uwe Vogel (CDU):
Rede ID: ID1722832800

Die Aufgabe in den nächsten Wochen ist, das Ener-

gieeinsparungsgesetz und die EnEV auf den Weg zu
bringen. Wir wollen das im Deutschen Bundestag zügig
erarbeiten. Ich bitte die Opposition, konstruktiv daran
mitzuarbeiten, damit wir eine Lösung hinbekommen,
noch im Sommer eine Entscheidung im Bundesrat fällen
und so für Planungssicherheit sorgen können. Das hilft
dem Klima und unserer Wirtschaft, insbesondere den
Handwerkern in den Regionen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722832900

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12619 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „Energiewende im Gebäudebestand
sozial gerecht, umweltfreundlich, wirtschaftlich und zu-
kunftsweisend umsetzen“. Der Ausschuss empfiehlt in
seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12671,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11664 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer
enthält sich? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD gegen
die Stimmen der Grünen bei Enthaltung der Linken an-
genommen.

Tagesordnungspunkte 18 a und b:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Förde-
rung des elektronischen Rechtsverkehrs mit
den Gerichten

– Drucksache 17/12634 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

b) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Förderung des
elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz

– Drucksache 17/11691 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Innenausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1722833000

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-

rung zielt – ebenso wie derjenige des Bundesrates –
auf eine Förderung und deutliche Ausweitung des elek-
tronischen Rechtsverkehrs mit den Gerichten. Bundes-
regierung und Bundesrat sind sich darüber einig, dass
die Nutzung des elektronischen Rechtsverkehrs in den
vergangenen Jahren weit hinter den Erwartungen
zurückgeblieben ist. Als Gründe werden fehlendes
Nutzungsvertrauen, aber auch mangelnde Akzeptanz
der elektronischen Signatur genannt. Hinzu kommt,
dass die Einreichung von Dokumenten per elektroni-
schem Gerichts- und Verwaltungspostfach nicht bei je-
dem deutschen Gericht möglich ist.

Angedacht ist eine technologieoffene Regelung in
der ZPO und anderen Verfahrensordnungen, um der
Justiz die Möglichkeit zu geben, auf zukünftige
Entwicklungen der IT-Branche zeitnah reagieren zu
können.

Das auf E-Mail-Technik beruhende, hiervon aber
technisch getrennte, und durch einen Verschlüsse-
lungskanal gesicherte Kommunikationsmittel De-Mail
ebenso wie das elektronische Gerichts- und Verwal-
tungspostfach, EGVP, sollen den Verzicht auf eine qua-
lifizierte elektronische Signatur möglich machen. Teile
der Praxis gehen allerdings davon aus, dass eine qua-
lifizierte elektronische Signatur einen zuverlässigen
elektronischen Rechtsverkehr zwischen Anwaltschaft
und Justiz besser fördert. Gründe für eine
zurückhaltende Nutzung seien vielmehr eine fehlende
oder verbesserungswürdige Fachsoftware, Diskrepan-
zen innerhalb der Verfahren von Bundesland zu
Bundesland sowie der fehlende Austausch von Struk-
turdaten. Ebenso wird angeführt, dass gewährleistet
sein müsse, dass ein besonderes elektronisches An-
waltspostfach unterschiedliche Nutzungsberechtigun-
gen erkennt, sprich: zwischen Anwalt und Angestellten
unterscheiden kann. Das Personal müsse in der Lage
sein, gerichtliche Schriftstücke einzusehen, die in das





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)


elektronische Postfach eingelegt wurden, und müsse
berechtigt sein, solche Schriftstücke aus dem Postfach
zu entnehmen und in die kanzleiinternen Arbeits-
abläufe einzuspeisen. Andererseits müsse sicherge-
stellt sein, dass nur solche Schriftstücke an das Gericht
übermittelt werden, die der Anwalt autorisiert hat. Die
qualifizierte elektronische Signatur stelle somit das
Äquivalent zur persönlichen Unterschrift dar. In den
weiteren parlamentarischen Beratungen wird zu
klären sein, inwieweit sich das Verfahren rund um das
besondere elektronische Anwaltspostfach von dem der-
zeitigen unterscheidet. Auch heute sind in der Regel
Angestellte in Kanzleien dafür zuständig, Schriftstücke
zu versenden und entgegenzunehmen. Wichtig wäre
dann, dass einer vom Provider qualifiziert elektronisch
signierten Absenderbestätigung ein ausreichender
Beweiswert zukommen kann.

Eng mit der Übertragung beweissicherer elektroni-
scher Erklärungen verbunden ist die geplante Fortent-
wicklung des Zustellungsrechts. Geplant ist eine
Anpassung an die technische Entwicklung in der
Form, als zukünftig gerichtliche Dokumente über De-
Mail und EGVP rechtssicher, schnell und kostengüns-
tig an das neu zu errichtende elektronische Anwalts-
postfach zugestellt werden können. Eine automatisch
übermittelte Eingangsbestätigung soll in diesem Zu-
sammenhang den erforderlichen Zustellungsnachweis
erbringen. Während eine solche Regelung vonseiten
der Justiz ausdrücklich begrüßt und eine deutliche
Vereinfachung der gerichtlichen Praxis erwartet wird,
ist die Anwaltschaft der Ansicht, dass eine tatsächliche
Kenntnisnahme des elektronischen Dokuments durch
den Rechtsanwalt für die Akzeptanz des elektronischen
Rechtsverkehrs in der Anwaltschaft unverzichtbar ist.

Des Weiteren soll eine technikoffene Vorschrift in
Bezug auf rechtssicheres ersetzendes Scannen geschaf-
fen werden. Die erheblichen Vorteile einer elektroni-
schen Archivierung gegenüber einem Papierarchiv
sollen genutzt und durch eine neue Beweisvorschrift
abgesichert werden.

Bei allen technischen Neuerungen ist es heutzutage
selbstverständlich, dass ein barrierefreier Zugang zu
den Gerichten als zentrale Bedingung für die Chance
auf gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit
Behinderungen gesehen wird. So bekennt sich der
Regierungsentwurf klar zur Barrierefreiheit und hält
diese für gesichert. Der Deutsche Verein der Blinden
und Sehbehinderten in Studium und Beruf e. V. sieht
dagegen weiteren Regelungsbedarf. Natürlich werden
wir auch dies genau prüfen.

Um die Rechtswegs- und Verwaltungsvereinfachun-
gen zu erreichen, wird es letztendlich darauf ankom-
men, in absehbarer Zeit eine bundesweite flächende-
ckende Umsetzung der Maßnahmen, ohne föderale
Zersplitterung, zu erreichen. In diesem Punkt konnte
man Unterschiede bei den Initiativen von Bundesrat
und Bundesregierung ausmachen. Es ist aber davon
auszugehen, dass hier eine Annährung – auch durch
die guten Ergebnisse der Bund-Länder-Kommission

sowie des EDV-Gerichtstages – stattfinden wird. Über
die genaue Ausgestaltung – auch vor dem Hintergrund
von Länderöffnungsklauseln – wird intensiv zu disku-
tieren sein. Betrachtet man in diesem Zusammenhang
zum Beispiel die Überlegungen zur Einführung eines
länderübergreifenden Schutzschriftenregisters, zu dem
die Gerichte elektronischen Zugang erhalten sollen,
macht eine schnellstmögliche Harmonisierung Sinn.

Die Kosten des Projekts für Gerichte, vor allem
auch für Anwälte, sind schwer zu beziffern. Auf
längere Sicht wird dem technischen und organisatori-
schen Umstellungsaufwand aber eine nachhaltige
Kostenreduzierung gegenüberstehen, welche den
anfänglichen einmaligen Aufwand mehr als kompen-
sieren wird.

Zahlreiche Punkte des Regierungsentwurfs, aber
auch des Bundesratsentwurfs, gehen auf Missstände
ein und zielen auf deutliche Verbesserungen gegenüber
dem Status quo. Natürlich werden auch einige Fragen
insbesondere zu Beweiswerten aufgeworfen, die wir im
Rahmen der geplanten öffentlichen Expertenanhörung
im Rechtsausschuss diskutieren werden, seien sie nun
technischer, wirtschaftlicher oder rechtlicher Natur.


Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1722833100

Das Bundeskabinett hat am 19. Dezember 2012 den

„Entwurf eines Gesetzes zur Förderung des elektroni-
schen Rechtsverkehrs mit den Gerichten“ beschlossen.

Mit diesem vorgelegten Gesetzentwurf soll der elek-
tronische Rechtsverkehr mit und innerhalb der Justiz
gefördert werden. Damit verbunden soll es zu Zeit- und
Kostenersparnissen kommen, gleichzeitig soll mehr
Bürgernähe geschaffen werden. Dies soll insbesondere
durch eine Vereinfachung der Signaturerfordernisse
und der Kommunikationswege verbunden mit der
Schaffung elektronischer Postfächer für Anwälte er-
reicht werden.

Bei den Kontakten zwischen Gerichten und Anwäl-
ten soll der elektronische Rechtsverkehr in großem
Umfang verpflichtend werden. Die Kommunikations-
wege Post und Fax werden zurückgedrängt. Bei den
Gerichten sollen dann auch die Akten elektronisch
geführt werden. Zu diesen Zwecken müssen die Zivil-
prozessordnung sowie die anderen Gerichtsordnungen
geändert werden.

Ihr Entwurf geht auf die Initiative einer Länder-
gruppe im Deutschen Bundesrat zurück, deren Entwurf
in weiten Teilen übernommen worden ist.

Demnach wird bei der Bundesrechtsanwaltskammer
für jeden Anwalt ein sicheres elektronisches Anwalts-
postfach eingerichtet. Dann soll auch jedes deutsche
Gericht grundsätzlich ab dem Jahr 2018 elektronisch
erreichbar sein, und zwar barrierefrei. Die Länder
können diesen Zeitpunkt bis spätestens 1. Januar 2022
hinausschieben, aber nur einheitlich für alle Länder.

Hier weichen Sie von der Position der Länder ab.
Der Bundesrat will aber, dass die Länder selbst be-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


stimmen, wann die elektronische Kommunikation mit
den Gerichten vorgeschrieben werden soll, und behal-
ten sich sogar vor, hierzu erste Erfahrungen mittels
Pilotprojekten zu machen. Die ursprüngliche Länder-
initiative sieht die flächendeckende Einführung der
elektronischen Kommunikation in kürzerer Zeit vor.
Sie dagegen verlängern diese Einführung. Sie sehen
eine obligatorische Einführung erst ab 2020 vor. Eine
Pflicht zur Nutzung für Rechtsanwälte und Behörden
ist dann ab 2022 vorgesehen.

Diese Verlängerung der Einführungszeit ist offen-
sichtlich einem Umstand geschuldet: Die verpflich-
tende Einführung soll bundeseinheitlich erfolgen – im
Interesse der Anwaltschaft. Damit soll eine Zersplitte-
rung der Vorschriften vermieden werden. Die Öff-
nungsklausel der Länderinitiative führt dagegen zu ei-
ner Rechtszersplitterung, die automatisch auch zu
Rechtsunsicherheit führt, da das Vertrauen der Nutzer
erheblich geschwächt würde. In der Tat ist die Vermei-
dung von Vorleistungspflichten einzelner beteiligter
Personengruppen wichtig und richtig. Der saure Ap-
fel, in den dafür gebissen werden soll, ist die Verlänge-
rung der Zeit der Einführung.

Ob es nicht doch schneller gehen kann, ist zu
prüfen. Ich denke, hier liegt es eher an der Befähigung
der Gerichte, sich grundsätzlich auf elektronischen
Rechtsverkehr einzustellen und elektronische Ge-
richtsakten zu führen. Dann müssen eben die Gerichte
hierzu befähigt werden.

Die Kommunikation erfolgt heute bereits teilweise
technologieneutral per De-Mail, über EGVP, das Elek-
tronische Gerichts- und Verwaltungspostfach, oder an-
dere sichere Kommunikationswege. Am Ende soll das
Ganze für die professionellen Einreicher – also beson-
ders für die Anwälte – verpflichtend sein, für die Bür-
ger jedoch nicht.

Doch dass einige Gerichte je nach Umsetzung in
den Ländern elektronisch erreichbar sind, andere nur
per Post und das bei nicht darauf abgestimmten Fris-
ten, ist nicht sachgerecht. Hier geben wir Ihnen recht.
Wenn der elektronische Rechtsverkehr verpflichtend
wird, muss das bundeseinheitlich erfolgen.

Parallel liegt uns der Bundesratsentwurf mit glei-
cher Zielrichtung vor. Die Länder argumentieren, sie
wünschten sich mehr Freiräume. Es sollen auch Pilot-
projekte für einzelne Gerichtszweige, für einzelne Ge-
richtsbezirke oder auch einzelne Gerichte möglich
sein. Das können wir auf der einen Seite zwar nach-
vollziehen, auf der anderen Seite sollten wir einen ver-
wirrenden Flickenteppich an vorgeschriebenen Kom-
munikationswegen vermeiden. Deshalb haben wir
Verständnis für das Anliegen der Bundesregierung, die
nach mehr Einheitlichkeit bei der Einführung strebt.

Die Einführung muss für alle verpflichtend sein,
weil Angebote auf freiwilliger Basis eben nicht von al-
len oder auch nur zögerlich angenommen werden.
Sogenannte Medienbrüche, das Nebeneinander von

elektronischer Kommunikation und Papier, bedeuten
letztlich nur einen Mehraufwand.

Generell ist der sichere gegenseitige Austausch von
Daten zwischen allen Beteiligten vorzusehen. Die Ein-
richtung von sicheren elektronischen Anwaltspostfä-
chern ist ein wesentlicher Baustein hierzu.

Problematisch erscheint daher, dass das Empfangs-
bekenntnis von Zustellungen bei den Rechtsanwälten
abgeschafft und durch eine durch das künftige elektro-
nische Postfach der Rechtsanwältinnen und Rechtsan-
wälte automatisch ausgelöste Eingangsbestätigung er-
setzt werden soll – so § 174 Abs. 4 ZPO-E. Auf die
haftungsrechtliche Bedeutung für die Anwaltschaft,
die hier entsteht, weist die Bundesrechtsanwaltskam-
mer zu Recht hin. Haftungs- und Sicherheitsaspekte
dürfen nicht einseitig durch Effizienzaspekte infrage
gestellt werden.

Die Justizverwaltungen der Länder haben bereits in
der Vergangenheit den elektronischen Rechtsverkehr
vorangebracht. Überall dort, wo er verpflichtend ein-
geführt worden war, sind Effizienzgewinne festzustel-
len, so zum Beispiel im elektronischen Mahnverfahren
sowie beim Handelsregister. Dies haben mir auch tä-
tige Anwälte und Notare bestätigen können.

Wir begrüßen daher das Ziel, den elektronischen
Rechtsverkehr weiter nachhaltig zu fördern und am
Ende überall zum Regelfall zu machen. Nur so können
Rationalisierungspotenziale genutzt werden, die die
moderne elektronische Kommunikation ermöglicht.

Was die Bürgerinnen und Bürger angeht: Hier ist
keine Verpflichtung zum elektronischen Verkehr vorge-
sehen. Bürger können weiterhin in Papierform mit den
Gerichten kommunizieren. Allerdings soll die elektro-
nische Kommunikation auch für sie ermöglicht und
eingerichtet werden. Das ist der richtige Weg. Das
Nutzervertrauen ist zu sichern; denn oftmals sind es ja
rein praktische Gründe sowie unterschiedliche Stan-
dards in den einzelnen Bundesländern, die dazu füh-
ren, dass die bereits heute möglichen elektronischen
Übermittlungsformen nicht genutzt werden.

Generell ist der elektronische Rechtsverkehr mit
und innerhalb der Justiz notwendig, und die Länderin-
itiative sowie der vorliegende Gesetzentwurf sind da-
her zu begrüßen. Wir werden die Dauer der Einführung
und weitere Einzelheiten im weiteren Beratungsverlauf
noch zu prüfen haben. An einer bundeseinheitlichen
Einführung ist dabei unbedingt festzuhalten.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1722833200

Bundesrat und Bundesregierung wollen mit den hier

vorliegenden Gesetzentwürfen den elektronischen
Rechtsverkehr mit den Gerichten voranbringen, da in
den letzten zehn Jahren die Angebote zu wenig genutzt
worden sind. Man beruft sich auf fehlendes Nutzer-
vertrauen in die tatsächlichen und rechtlichen
Rahmenbedingungen. Diese wollen Sie nun schaffen,
damit das Potenzial der jüngsten technischen Entwick-
lung genutzt werden kann.

Zu Protokoll gegebene Reden





Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)


Wenn man sich die tatsächlichen Gegebenheiten bei
den deutschen Gerichten auch hinsichtlich der techni-
schen Ausstattung anschaut, dann stellt man fest, dass
die Gesetzentwürfe eine Farce sind und die Leiter der
Gerichte fragend zurücklassen. So haben wir erst ges-
tern in der öffentlichen Anhörung zum Zweiten Kosten-
rechtsmodernisierungsgesetz den Direktor eines Amts-
gerichts in Nordrhein-Westfalen als Sachverständigen
gehört. Er hatte über die Ausstattung seines Gerichts
Folgendes zu berichten: Die vorhandene Computer-
technik an seinem Gericht – und das ist auch an vielen
anderen Gerichten so – sei derart veraltet, dass nicht
einmal die einfachsten Spracherkennungsprogramme
auf den Personalcomputern liefen. Jetzt erklären Sie
mir, meine sehr geehrten Damen und Herren der
Koalition, einmal: Wie wollen Sie das Potenzial der
jüngsten technischen Entwicklungen hinsichtlich des
elektronischen Rechtsverkehrs auf prozessualem Ge-
biet nutzen, wenn die Gerichte mit Technik aus dem
letzten Jahrhundert arbeiten müssen? Hier machen Sie
wieder den zweiten Schritt vor dem ersten.

Es ist ja kein Wunder, dass der elektronische Weg
beim Rechtsverkehr nicht genutzt wird, wenn es die
Technik gar nicht erlaubt. Sie müssten vielmehr erst
einmal viele Justizgebäude baulich und technisch auf
einen akzeptablen Stand bringen, um dann die neues-
ten technischen Entwicklungen erproben zu können.
Die Landesfinanzminister werten das anders: Von der
Justiz kann man jedes Jahr neue Einsparungen verlan-
gen, Teilbereiche privatisieren, wie zum Beispiel die
Übertragung von Aufgaben der freiwilligen Gerichts-
barkeit auf Notare, bei den Bedürftigen sparen, wie
zum Beispiel durch die Begrenzung der Prozesskosten-
und Beratungshilfe. Und das sind nur die aktuellen
Sparansätze, von den in den letzten Jahren schon
durchgesetzten ganz zu schweigen. Das Problem der
Justiz ist, dass sie trotz all dieser Sparmaßnahmen
immer noch funktioniert. Lange können das die Mitar-
beiterinnen und Mitarbeiter nicht mehr ausgleichen.
Irgendwann ist die Justiz kaputtgespart und das Perso-
nal verschlissen.

Zurück zu den geplanten Änderungen: Als erster
Schritt soll eine Verwendungspflicht für alle professio-
nellen Einreicher geschaffen werden, später für alle
Einreicher. Das heißt auf gut deutsch: Wenn ihr unsere
Angebote, für die wir ohne Bedarfsplanung, Praktika-
bilitätstests und erkennbare Vorteile bereits Millionen
ausgegeben haben, nicht nutzen wollt, zwingen wir
euch dazu. – Das ist meines Erachtens der falsche
Ansatz. Großprojekte müssen von langer Hand ge-
plant, genügend erprobt und die technischen Voraus-
setzungen vorher geschaffen werden.

Aber nicht nur die Gerichte und deren Verwaltun-
gen werden hier überfordert. Mit „professionellen
Anwendern“ sind vor allem Rechtsanwältinnen und
Rechtsanwälte gemeint. Diese wurden in der Vergan-
genheit mehrfach dafür benutzt, digitale Phantasien
des Staates auszubaden, ohne dass vorher sinnvolle
Strukturen aufgebaut, technologische Standards

verabschiedet und vor allem ein Mehrwert und eine
Arbeitserleichterung erkennbar wurden. Stattdessen
hatten die Anwälte mit jahrelangen Betatests, Sanktio-
nen und Ausfällen der Infrastruktur und einer unein-
heitlichen Implementierung des Zugangs zu kämpfen.
Das mag den solventen Großkanzleien, die sich ohne-
hin auf technisch modernstem Niveau bewegen, zwar
relativ egal sein; doch wir müssen auch an die Einzel-
anwältinnen und Einzelanwälte denken, die den Groß-
teil der Anwaltschaft in Deutschland ausmachen.
Gerade für kleine Kanzleien und für Berufsanfänger
ist die Anschaffung der speziellen Software schwer zu
schultern. Wenn Sie schon alles digitalisieren wollen,
dann müssen Sie die Gerichte vorher ordentlich aus-
statten und den Einzelkanzleien bei der Einrichtung
unter die Arme greifen. So herum wird ein Schuh
daraus.

Eine positive Seite hat dieses Vorhaben wenigstens:
Die Bundesländer werden gezwungen, die IT-Infra-
struktur der Gerichte zumindest auf den technischen
Stand zu bringen, der ein Funktionieren der Spracher-
kennung und des elektronischen Rechtsverkehrs theo-
retisch ermöglichen könnte.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722833300

Das Internet und die zunehmende Digitalisierung

verändern nicht nur das Leben von Menschen und de-
ren Verhältnis zur Gesellschaft. Sie verändern auch die
Rolle und Funktionsweise des Staates. Meine Fraktion
und ich begreifen diese Entwicklung als Chance für
unsere Demokratie, als Chance für mehr Legitimation
bei staatlichem Handeln, als Chance für mehr Partizi-
pation.

Heute befassen wir uns mit der Nutzung elektroni-
scher Technologien im Bereich der Justiz. Der erste
allgemeine Rechtsrahmen für den Einsatz elektroni-
scher Verfahren in der Justiz wurde vor knapp 13 Jah-
ren gelegt. Unter der damals rot-grünen Bundesregie-
rung hat der Bundestag 2001 beschlossen, auf der
Posteingangs- und der -ausgangsseite der Justiz den
Einsatz elektronischer Verfahren zu ermöglichen.
Ebenfalls unter der rot-grünen Bundesregierung folgte
eine weitere Öffnung der Justiz mit dem 2005 be-
schlossenen Gesetz über die Verwendung elektroni-
scher Kommunikationsformen in der Justiz.

Nun beraten wir über zwei Gesetzentwürfe zur För-
derung des elektronischen Rechtsverkehrs in der Justiz
bzw. mit den Gerichten. Klar ist: Es besteht Hand-
lungsbedarf. Die Nutzung des elektronischen Rechts-
verkehrs im Bereich der Justiz muss weiter gefördert
werden. Hier gibt es noch erhebliches Verbesserungs-
potenzial.

Beide Gesetzentwürfe, sosehr sie in ihrem Ziel zur
Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs zu be-
grüßen sind, werfen aber auch Fragen auf. Diese Fra-
gen betreffen die Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rung, das Zivilprozessrecht und den Datenschutz. Sie
müssen im weiteren parlamentarischen Verfahren ge-
klärt werden.

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


Deutschland hat am 24. Februar 2009 die UN-Be-
hindertenrechtskonvention ratifiziert und sich damit
zugleich verpflichtet, gemäß Art. 4, 9 und 13 der Kon-
vention alle geeigneten gesetzgeberischen Maßnah-
men zu ergreifen, um Menschen mit Behinderung einen
gleichberechtigen Zugang zur Justiz und eine selbstbe-
stimmte Teilhabe an allen modernen Informations- und
Kommunikationstechnologien, die elektronisch bereit-
gestellt werden oder zur Nutzung offenstehen, zu er-
möglichen. Außerdem sollen vorhandene Zugangshin-
dernisse und -barrieren beseitigt werden. Die im
Gesetzentwurf der Bundesregierung vorgesehenen Än-
derungen für mehr Barrierefreiheit sind ein Schritt in
die richtige Richtung. Exemplarisch zu nennen ist die
Regelung zu § 31 a Abs. 1 Satz 2 BRAO, wonach das
besondere elektronische Anwaltspostfach barrierefrei
ausgestaltet sein soll. Gleichwohl genügen die Ände-
rungen nicht den Anforderungen der UN-Behinderten-
rechtskonvention. Nicht geregelt wird, dass auch das
elektronische Postfach und die elektronische Poststelle
des Gerichts nach § 130 a Abs. 4 Nr. 2 ZPO barriere-
frei ausgestaltet werden müssen, um den barrierefreien
Übermittlungsweg zu gewährleisten.

Beide Gesetzentwürfe zielen darauf ab, durch den
Einsatz elektronischer Zustellungsmöglichkeiten die
zivilrechtliche Gerichtspraxis zu vereinfachen. Dies ist
grundsätzlich zu begrüßen. Jedoch ist dabei stets das
Interesse aller am Prozess Beteiligten schonend zu be-
rücksichtigen. Die Änderung des § 174 Abs. 4 ZPO
führt zu einem erheblichen Paradigmenwechsel. Das
Empfangsbekenntnis muss nun nicht mehr persönlich
zurückgesandt, sondern soll durch eine automatisch
generierte Eingangsbestätigung ersetzt werden. Dabei
soll die Zustellung nach drei Werktagen ab Eingang
der Schriftstücke im elektronischen Postfach der
Rechtsanwältinnen und Rechtsanwälte als bewirkt gel-
ten, es sei denn, eine frühere Zustellung wird durch ein
Empfangsbekenntnis nachgewiesen. Der Wertung der
aktuellen Rechtslage würde es eher entsprechen, wenn
zugleich mit dem zuzustellenden Dokument ein Emp-
fangsbekenntnis im XJustiz-Standard zugestellt wird,
welches nach Kenntnisnahme des Dokuments an das
elektronische Gerichtspostfach zurückgesendet wird.
Vor diesem Hintergrund sehen wir Grünen an dieser
Stelle noch Klärungsbedarf.

Die zunehmende Digitalisierung führt auch zu ei-
nem Bedeutungszuwachs für den Datenschutz im Zivil-
und Strafprozess. Im Bereich der Justiz ist die Kommu-
nikation besonders vertraulich zu behandeln und ent-
sprechend zu sichern. Eine Abkehr vom Standard der
qualifizierten elektronischen Signatur, wie es der Re-
gierungsentwurf zu § 130 a Abs. 3 ZPO vorsieht, hal-
ten wir vor diesem Hintergrund für problematisch. Die
Übermittlung im Wege einer De-Mail bietet grundsätz-
lich eine Leitungsverschlüsselung, jedoch keine Ende-
zu-Ende-Verschlüsselung. Somit ist diese im Regie-
rungsentwurf in § 130 a Abs. 4 Nr. 1 ZPO als „sicherer
Übermittlungsweg“ markierte De-Mail keineswegs so
sicher wie eine qualifizierte elektronische Signatur.

An der weiteren Gesetzesberatung werden wir Grü-
nen uns konstruktiv beteiligen.

D
Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1722833400


Wir alle leben mittlerweile in einer digital vernetzten
Gesellschaft. Die Entwicklung der Informationstechno-
logie schreitet in großer Geschwindigkeit voran und
revolutioniert mit immer neuen technischen Möglich-
keiten unser Alltagsleben. E-Justice und E-Government
sind Zukunftsthemen einer Bundesregierung, die die
Nutzung neuer effizienter Informationstechnologien
aktiv vorantreibt.

Mit den zur Beratung anstehenden Entwürfen soll
der rechtliche Rahmen für die digitale Justiz den neuen
technischen Möglichkeiten angepasst werden. Die Jus-
tiz soll klare und bürgerfreundliche Regelungen erhal-
ten, die Rechtssicherheit herstellen, aber auch Raum
für die weiter voranschreitende technische Innovation
lassen.

Die Förderung des elektronischen Rechtsverkehrs
mit der Justiz ist ein gemeinsames Ziel von Bund und
den Ländern. Zwar liegen Ihnen zwei Entwürfe von
Bundesrat und Bundesregierung zu dieser Thematik
vor. Wir haben aber in intensiven Gesprächen mittler-
weile weitgehende Einigkeit mit den Ländern erzielen
können. Das wird erkennbar an der moderaten Stel-
lungnahme des Bundesrates und der weitgehend posi-
tiven Gegenäußerung der Bundesregierung.

Kennzeichnend für die gute Zusammenarbeit zwi-
schen Bund und Ländern ist der Kompromiss, den wir
hinsichtlich des Fahrplans für das Inkrafttreten der
Regelungen erzielen konnten. Hier war es notwendig,
die unterschiedlichen Interessen der Länder auszuglei-
chen, denn noch immer besteht ein sehr unterschiedli-
ches IT-Ausstattungsniveau bei den Gerichten.

Der Gesetzgeber hatte vor zehn Jahren einen ersten
Anlauf zur Förderung des elektronischen Rechts-
verkehrs gemacht und die rechtlichen Grundlagen für
E-Justice geschaffen. Die damals geschaffenen Mög-
lichkeiten haben sich indes in der Praxis nicht flächen-
deckend durchsetzen können. Woran liegt dies?

Die qualifizierte elektronische Signatur, die bislang
noch für elektronische Einreichungen bei der Justiz er-
forderlich ist, wird vielfach als zu teuer und auch als zu
kompliziert abgelehnt. Außerdem ist immer noch
längst nicht jedes deutsche Gericht elektronisch er-
reichbar. Einige Bundesländer wie Hessen, Sachsen
und Berlin haben bereits alle Gerichte für elektroni-
sche Eingänge geöffnet; dagegen ist in anderen Län-
dern außer den Mahn- und Registergerichten noch gar
kein Gericht online. Diese Zersplitterung produziert
Rechtsunsicherheit.

Um die Verfahrensbeteiligten zur Nutzung des digi-
talen Zugangs zur Justiz zu bewegen, brauchen wir
eine bundesweite Öffnung aller Gerichte für elektroni-
sche Eingänge zu möglichst einfachen und klaren Be-
dingungen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) (C)



(D)(B)


Der Gesetzentwurf der Bundesregierung definiert
zu diesem Zweck sichere Übermittlungswege zu den
Gerichten und regelt dies einheitlich für alle Verfah-
rensordnungen. Die Justiz wird ab 2018 bundesweit
über De-Mail oder für Rechtsanwälte über das Elekt-
ronische Gerichts- und Verwaltungspostfach erreich-
bar sein. Durch Verordnung können auch andere Tech-
nologien als sichere Übermittlungswege zugelassen
werden.

Der Entwurf sieht vor, dass die Bundesrechtsan-
waltskammer für jeden Rechtsanwalt bis 2016 ein
Postfach auf der Grundlage eines sicheren Verzeich-
nisdienstes einrichtet. Auch für Behörden ist eine sol-
che Lösung denkbar, wenn ein sicherer Verzeichnis-
dienst eingerichtet ist.

Der vorliegende Gesetzentwurf der Bundesregie-
rung ist eng verzahnt mit der E-Government-Initiative,
die derzeit im Innenausschuss beraten wird. Beide Ge-
setzentwürfe sind in kontinuierlicher Abstimmung mit-
einander entstanden.

Der digitale Zugang zu Gerichten einerseits und
Behörden andererseits wird vergleichbar ausgestaltet.
Der vorliegende Entwurf enthält überdies neue Be-
weisregeln für eine De-Mail-Nachricht, die der ange-
strebten Nutzung von De-Mail für die Kommunikation
der Behörden an den Bürger erst die notwendige
Rechtssicherheit verleihen. Außerdem wird das erset-
zende Scannen in der Verwaltung gefördert, indem
eine Vermutung für die Echtheit einer aus einer öffent-
lichen Urkunde gewonnenen Scandatei begründet
wird, wenn die Urkunde in einer Behörde oder durch
einen Notar gescannt worden ist.

Durch die elektronische Abwicklung der Korrespon-
denz mit der Justiz wollen wir einen wichtigen Beitrag
für eine moderne und bürgerfreundliche Justiz leisten.
Ein Kernanliegen der Regelungen ist dabei, technische
Lösungen dort einzusetzen, wo in der Papierwelt der-
zeit noch eine manuelle und zeitaufwendige Tätigkeit
der Gerichte erforderlich ist.

Der Gesetzentwurf sieht daher für professionelle
Verfahrensbeteiligte wie Rechtsanwälte und Behörden
einen Zustellungsnachweis durch eine automatische
Eingangsbestätigung vor. Der Entwurf sieht eine Frist
von drei Werktagen nach Eingang als Zustellungszeit-
punkt vor. Damit wird das Empfangsbekenntnis in Pa-
pierform für die elektronische Welt weiterentwickelt.

Diese Regelung ist in der Anwaltschaft indes auf
Kritik gestoßen. Diese nehmen wir zum Anlass, im
Rahmen der jetzt anstehenden parlamentarischen Be-
ratungen nach Lösungen zu suchen, die sich für die
Gerichte ebenso effizient administrieren lassen, aber
das im Empfangsbekenntnis enthaltene voluntative
Element bewahren.

Mit den vorliegenden Gesetzgebungsvorhaben be-
finden wir uns auf einem guten Weg. Sie geben den
Landesjustizverwaltungen die dringend benötigte
Planungssicherheit für den digitalen Ausbau der

Justiz. Ich wünsche uns konstruktive und zielführende
Beratungen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722833500

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-

würfe auf den Drucksachen 17/12634 und 17/11691 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Gibt es anderweitige Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann sind die Überweisungen so be-
schlossen.

Tagesordnungspunkt 19:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard Bulmahn,
Dr. h. c. Gernot Erler, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Negativbilanz nach zwei Jahren im UN-
Sicherheitsrat

– Drucksachen 17/11576, 17/12242 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Erich G. Fritz
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Stefan Liebich
Kerstin Müller (Köln)


Wie in der Tagesordnung vorgesehen, sind die Reden
zu Protokoll genommen.


Peter Beyer (CDU):
Rede ID: ID1722833600

Unter dem Titel „Negativbilanz nach zwei Jahren

im UN-Sicherheitsrat“ wird im vorliegenden Antrag
aufgelistet, was aus Sicht der SPD in den Jahren 2011/
2012 versäumt wurde. Auffällig ist dabei die Wahl der
Kritikpunkte, bei denen sich der Leser fragt, was nun
der spezifisch deutsche Anteil, also deutsches Nicht-
handeln, sein soll. Die Feststellung, dass die Zusam-
mensetzung des Sicherheitsrates dem Spiegelbild der
politischen Kräfteverhältnisse von 1945 entspricht, ist
seit langem bekannt. Reformen sind daher unerläss-
lich, um Glaubwürdigkeit und Handlungsfähigkeit die-
ses wichtigsten Entscheidungsgremiums der Vereinten
Nationen zu sichern. Deutschland setzt sich – gemein-
sam mit anderen Staaten – seit langem genau dafür
ein.

Wie aber bei vielen weltpolitischen Herausforde-
rungen sind auch hier strategische Geduld und konti-
nuierliche Anstrengung erforderlich. Im Antrag der
SPD werden genau die Hürden aufgelistet, welche
genommen werden müssen, um den Sicherheitsrat zu
reformieren. Es handelt sich dabei aber nicht um
Lappalien: So müssen zwei Drittel der 193 Mitglied-
staaten der Vereinten Nationen einer Änderung der
UN-Charta zustimmen, um die Zusammensetzung des
Sicherheitsrates zu ändern. Wie bereits ausgeführt,
lässt sich so ein Schritt nicht innerhalb von zwei Jah-
ren ausführen. Deutschland – und insbesondere die





Peter Beyer


(A) (C)



(D)(B)


Bundesregierung – dafür zu kritisieren, hier nicht
genug getan zu haben, ist daher ein überflüssiger
Vorwurf.

An der Lösung des Syrien-Konfliktes ist Deutsch-
land ebenfalls – in unterschiedlichen Gremien – sehr
aktiv beteiligt. Hinsichtlich des deutschen Engage-
ments bei der Konfliktlösung im Sicherheitsrat sei
darauf hingewiesen, dass gegen das Veto zweier stän-
diger Mitglieder des Sicherheitsrates – in diesem Falle
Chinas und Russlands – kaum Handlungsspielraum
existiert. Deutschland hat sich daher sehr darum
bemüht, den Sicherheitsrat regelmäßig über die Ge-
schehnisse in Syrien zu informieren. Ebenfalls setzte
sich Deutschland gemeinsam mit seinen Partnern er-
folgreich dafür ein, dass die Generalversammlung der
Vereinten Nationen in mehreren Resolutionen die Ge-
walt verurteilte und eine politische Lösung forderte.
Am Rande sei zudem erwähnt, dass Deutschland zu
den Gründungsmitgliedern der „Freundesgruppe des
syrischen Volkes“ gehört. Auch der Vorwurf, im Falle
Syriens nicht genug getan zu haben, ist somit gegen-
standslos.

Ebenfalls erwähnenswert ist, dass der Antrag der
SPD nur en passant die gewaltigen politischen Um-
brüche in der arabischen Welt der Jahre 2011/2012 er-
wähnt. Somit wird auch nicht ausreichend gewürdigt,
dass sich Deutschland von Anfang an auch im Sicher-
heitsrat mit der Arabellion befasst hat. Im Zuge der
deutschen Sicherheitsratspräsidentschaft im Septem-
ber 2012 hat sich Deutschland beispielsweise erfolg-
reich um die Ausrichtung einer Debatte zum Thema
„Frieden und Sicherheit im Nahen Osten“ bemüht.
Auch war es Deutschland, das sich stets für die Einbin-
dung regionaler Akteure, wie der Arabischen Liga und
des Golfkooperationsrates, eingesetzt hat.

Ebenso findet der Leser des Antrages keinen
Hinweis darauf, dass sich Deutschland intensiv um
Konfliktlösungen auf dem afrikanischen Kontinent be-
mühte. Auch hier hat Deutschland von Anfang an auf
die Stärkung regionaler Kräfte, wie der Afrikanischen
Union, gesetzt.

Insgesamt kann daher festgehalten werden, dass
Deutschland seine Zeit im obersten Entscheidungs-
gremium der Vereinten Nationen konstruktiv genutzt
hat. Die in dieser Zeit erbrachten Leistungen sind auch
ein deutliches Signal dafür, dass Deutschland sich zu
seinen internationalen Verpflichtungen bekennt und
zur Leistung entsprechender Beiträge bereit ist. Neben
seinem starken politischen Engagement gehört unser
Land auch nach wie vor zu den wichtigsten Beitrags-
zahlern. Ebenfalls leistet Deutschland erhebliche
Unterstützung als Truppensteller bei einer Vielzahl
von Missionen der Vereinten Nationen. Dass die Staa-
tengemeinschaft unsere Verdienste würdigt, kann an
dem Ergebnis bei der Wahl im November 2012 in den
Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen gesehen
werden: Hier hat Deutschland das beste Ergebnis aller
europäischen Kandidaten erzielt. Von einer „Negativ-
bilanz“ der deutschen Mitgliedschaft im Sicherheitsrat

der Vereinten Nationen – wie von der SPD konstatiert –
kann also bei weitem nicht die Rede sein.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1722833700

Nach zwei außenpolitisch sehr erfolgreichen Jahren

als nichtständiges Mitglied des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen zieht die SPD in ihrem Antrag eine
negative Bilanz der deutschen Errungenschaften.

Wie ich schon in meiner Rede zu diesem Antrag am
29. November 2012 ausführte, kann davon nicht die
Rede sein. Damals habe ich bereits auf die meines
Erachtens nach wichtigsten Erfolge Deutschlands im
Sicherheitsrat verwiesen, so auf das deutsche Engage-
ment im Sicherheitsrat für eine Unterstützung des
Wandels in der arabischen Welt, auf das deutsche En-
gagement zum Schutz von Kindern in bewaffneten
Konflikten, auf deutsche Bemühungen, Klimawandel
auch als sicherheitspolitische Herausforderung zu se-
hen, sowie auf deutsche Bestrebungen, der internatio-
nalen Schutzverantwortung zu stärkerer Beachtung zu
verhelfen.

Lassen Sie mich daher an dieser Stelle kurz auf drei
Punkte zu sprechen kommen, die Deutschland während
seiner Zeit als nichtständiges Sicherheitsratsmitglied
vorangetrieben hat, die mir aber in dieser Debatte bis-
lang zu kurz gekommen scheinen: die Notwendigkeit
einer UN-Reform, die auch das Engagement Deutsch-
lands angemessen widerspiegelt, die Einbettung deut-
scher UN-Politik in EU-Politik sowie das Engagement
Deutschlands bezüglich der Frage des iranischen
Atomprogramms.

Eine Reform des UN-Systems, die nicht ausreichend
die Realität des geopolitischen Engagements der ein-
zelnen Staaten widerspiegelt, läuft Gefahr, zu kurz zu
greifen und die Legitimität des UN-Systems infrage zu
stellen. Deutschland ist als einer der wichtigsten Bei-
tragszahler der Vereinten Nationen in allen UN-Gre-
mien und Politikbereichen an vorderster Front engagiert.
Daher gehört aus unserer Sicht auch eine formelle
Aufwertung der Rolle Deutschlands im UN-System zu
den essenziellen Bestandteilen einer Reform der Ver-
einten Nationen. Wir unterstützen daher eine erneute
Kandidatur als nichtständiges Mitglied sowie die fort-
gesetzten Bemühungen der Bundesregierung um einen
ständigen Sitz im Sicherheitsrat.

Die EU ist einer der wichtigsten Kooperationspart-
ner der UN und ihrer Unterorganisationen. Ein ein-
heitliches Auftreten der EU-Mitgliedstaaten in den
Vereinten Nationen stärkt nicht nur die Gemeinsame
Europäische Außen- und Sicherheitspolitik, sondern
auch die UN, da es sie handlungsfähiger macht. Um in
Zukunft gemeinsame Interessen und Positionen der
EU-Mitgliedstaaten noch besser identifizieren zu kön-
nen, hat sich Deutschland für die erstmalige Erstel-
lung eines Strategiepapiers eingesetzt, das im Mai
2012 angenommen wurde. Deutsche UN-Politik ist
auch europäische UN-Politik!

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)


Lassen Sie mich abschließend noch auf die Frage
des iranischen Atomprogramms zu sprechen kommen,
das der internationalen Staatengemeinschaft in den
zwei Jahren, in denen Deutschland im Sicherheitsrat
war, kontinuierlichen Anlass zur Sorge gegeben hat.
Deutschland hat sich erfolgreich dafür eingesetzt, dass
das Expertengremium, das dem Iran-Sanktions-
ausschuss zuarbeitet, zunächst um ein Jahr und da-
nach nochmals bis Juli 2013 verlängert wurde. Diesem
Expertengremium gehört nun auch ein deutscher Ex-
perte an. Die Bundesregierung hat sich 2011 auch da-
für eingesetzt, dass die EU ihre Sanktionsmaßnahmen
gegen den Iran erheblich verstärkt. Darüber hinaus
warb Deutschland erfolgreich für die Annahme mehre-
rer Resolutionen der Internationalen Atomenergie-Or-
ganisation, IAEO, in denen Iran zu einer besseren Ko-
operation mit der IAEO aufgefordert wurde.

Diese Liste der erfolgreichen Initiativen Deutsch-
lands als nichtständiges Sicherheitsratsmitglied ließe
sich noch lange fortsetzen, beispielsweise mit der Un-
terstützung Deutschlands für Maßnahmen der Frie-
denssicherung, mit dem Engagement der Bundesregie-
rung für einen internationalen Waffenhandelsvertrag,
mit dem Engagement Deutschlands für die Post-2015-
Millenniumsentwicklungsziele oder mit dem deutschen
Engagement für die Agenda 21 und die UN-Kommis-
sion für Nachhaltige Entwicklung. Eine negative Bi-
lanz sieht anders aus!


Heidemarie Wieczorek-Zeul (SPD):
Rede ID: ID1722833800

Die „Süddeutsche Zeitung“ titelt in einem

Kommentar zu Deutschlands Ausscheiden aus dem
UN-Sicherheitsrat vom 1. Januar 2013: „Deutschland
hat sich sehr bemüht“. Würde die Bundesregierung die
Schulbank drücken, müsste sie bei dieser Beurteilung
um ihre Versetzung bangen.

Wie wir in unserem Antrag darstellen, hat die
Bundesregierung nach zwei Jahren im obersten VN-
Gremium eine Negativbilanz vorzuweisen. Ich möchte
nicht auf alle Punkte eingehen, da vieles bereits bei der
ersten Lesung des Antrages zur Sprache kam, sondern
einige wichtige herausgreifen.

Nehmen wir zum Beispiel die Reform des UN-
Sicherheitsrates. Es ist ihr in dieser Frage nicht
gelungen, irgendein Ergebnis vorzuweisen. Gerade die
immer noch andauernde Gewalt gegen die Zivilbevöl-
kerung in Syrien zeigt jedoch, wie wichtig dieses
Unterfangen ist. Um eine Blockade des UN-Sicher-
heitsrates durch Vetomächte wie Russland und China
zukünftig zu erschweren, muss auf eine schrittweise
Überwindung des Vetorechts hingewirkt werden.
Deutschland als ein bedeutender Beitragszahler sollte
mit mehr Gewicht im Rat vertreten sein. Da erscheint
es wie blanker Hohn, wenn die Regierungskoalition
auf diese Kritik antwortet, man wolle sich für die Jahre
2019/2020 wieder um eine Kandidatur als nichtständi-
ges Mitglied im Sicherheitsrat bewerben. Gemäß dem
Motto „Dabei sein ist alles“ scheint es ihr wichtiger zu
sein, hin und wieder in einen sportlichen Wettstreit mit

anderen Staaten zu treten. Sie lässt jeglichen Gestal-
tungsanspruch vermissen, da sie nicht erklärt, wie sie
die Reform des Sicherheitsrats strategisch voranbrin-
gen möchte.

Konzeptlosigkeit und einen fehlenden Gestaltungs-
anspruch kann man der Bundesregierung auch in an-
deren Bereichen ihrer VN-Politik attestieren. So hat sie
zwar die Umbrüche in der arabischen Welt auf die
Tagesordnung des Sicherheitsrates gesetzt, allerdings
hat sie sich bei der Abstimmung über ein Vorgehen der
internationalen Gemeinschaft in Libyen zum Schutz
der Zivilbevölkerung enthalten. Über die Enthaltung
zu Libyen ist schon viel gesagt und geschrieben wor-
den, was ich nicht alles wiederholen möchte. Aber es
ist nur schwer erträglich, wie Außenminister
Westerwelle sich nach dem Sturz Mubaraks auf dem
Tahrir-Platz in Ägypten von den Menschen dort umju-
beln lassen konnte, aber sich beim Schutz von Libye-
rinnen und Libyern vor den mordenden Truppen
Gaddafis im Sicherheitsrat einfach wegduckt.

Der Fall Libyen ist eng mit der internationalen
Schutzverantwortung, der Responsibility to Protect,
verknüpft, da sie in der UN-Resolution zu Libyen erst-
mals als Begründung für ein Vorgehen genommen
wurde. Das Konzept erfuhr dadurch insgesamt eine
unter völkerrechtlichen Gesichtspunkten bedeutende
Aufwertung. Allerdings darf die Schutzverantwortung
nicht auf ein militärisches Vorgehen verkürzt werden.
Diese Norm, wie sie von der UN-Generalversammlung
im Jahre 2005 verabschiedet wurde, ist mit drei Säulen
konzipiert worden: der Verantwortung, vorzubeugen,
der Verantwortung, zu handeln und der Verantwor-
tung, aufzubauen. Ein militärisches Eingreifen ist
dabei als letztes Mittel zum Schutz vor massiven
Menschenrechtsverletzungen zu sehen, wenn andere,
präventive Maßnahmen nicht greifen. Die Bundesre-
gierung muss sich zur Schutzverantwortung bekennen.
Sie muss aktiv zu ihrer Akzeptanz und Weiterentwick-
lung beitragen und darf nicht die bloße Mitgliedschaft
in diversen Freundesgruppen vorschieben.

Bislang hat die Bundesregierung es auch versäumt,
eine aktivere Rolle bei der Lösung des Kernkonflikts in
der arabischen Welt, des Nahostkonflikts, einzuneh-
men. Nach der Entscheidung der UN, Palästina als Be-
obachterstaat in die Vereinten Nationen aufzunehmen,
hat die israelische Regierung erneut Beschlüsse zur
Ausweitung von Siedlungsgebieten getroffen, die mit
dem Recht der Palästinenser in Konflikt stehen und die
gegen internationales Recht verstoßen. Statt folgenlo-
ser Appelle an die Adresse der israelischen Regierung
wäre es sinnvoller, im UN-Sicherheitsrat entspre-
chende Initiativen zu starten.

Wer sich eine wertegeleitete Außenpolitik auf die
Fahnen schreibt und sich zum Freund der arabischen
Welt stilisiert, wie es Außenminister Westerwelle ge-
macht hat, der darf dann auch nicht kneifen, wenn es
darum geht, den dort notleidenden Menschen unmittel-
bar zu helfen. So wiederhole ich das, worum ich
Außenminister Westerwelle auch schon persönlich ge-

Zu Protokoll gegebene Reden





Heidemarie Wieczorek-Zeul


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beten habe: Die Bundesregierung muss ein Zeichen
der Menschlichkeit setzen und syrischen Staatsange-
hörigen, deren Familienangehörige in Deutschland
leben oder die besonders schutzbedürftig sind,
Aufnahme gewähren.

Die Beratungen haben leider gezeigt, dass die Re-
gierungskoalition sich unserer Kritik verschließt. Sie
wird unseren Antrag ablehnen. Angesichts ihrer dürfti-
gen zweijährigen Bilanz im UN-Sicherheitsrat sollte die
Bundesregierung die ihr verbleibende Zeit nutzen, an-
dere wichtige UN-Initiativen voranzubringen.

Gerade die Umbrüche in der arabischen Welt haben
uns noch einmal vor Augen geführt, wie wichtig ein-
heitliche Standards beim Import, Export und Transfer
von konventionellen Waffen zum Schutz vor weltweiter
Aufrüstung und Destabilisierung von Regionen sind.
Die Bundesregierung ist daher angehalten, die nächste
Woche beginnenden Verhandlungen für einen interna-
tionalen Waffenhandelsvertrag zum Erfolg zu führen.

Gleiches gilt für die Verwirklichung einer Zone frei
von Massenvernichtungswaffen im Nahen Osten. Die
Bundesregierung muss dafür sorgen, dass die Konfe-
renz für eine solche Zone, die eigentlich schon im Jahr
2012 hätte stattfinden sollen, in 2013 endlich Realität
wird.

Sie muss alles daran setzen, die Millenniumsent-
wicklungsziele bis 2015 umzusetzen. Dazu gehört vor
allem, ausreichende Mittel für Entwicklungsfinanzie-
rung bereitzustellen. Die Bundesregierung hat aber ihr
Versprechen, die Mittel entsprechend zu erhöhen, nicht
eingehalten.

Jetzt werden auch die Weichen für die Festlegung
neuer Entwicklungsziele gestellt. Die Bundesregierung
darf diese Entwicklung nicht verschlafen. Sie muss
eine Führungsrolle bei der Weiterentwicklung der UN-
Millenniumsentwicklungsziele zu Zielen der nachhalti-
gen Entwicklung (Sustainable Development Goals)

einnehmen. Diese neuen Entwicklungsziele müssen
Teil eines neuen Rahmenwerks für globale Entwick-
lungspolitik von 2015 bis 2030 werden.


Bijan Djir-Sarai (FDP):
Rede ID: ID1722833900

„Ich sage mehr als Danke schön. Ich sage vielen,

vielen Dank.“

Schon in meiner letzten Rede zu dem vorliegenden
Antrag habe ich mit diesem markanten Zitat begonnen.
Und das nicht umsonst: Diese Worte bringen den Er-
folg des deutschen Vorsitzes im Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen prägnant auf den Punkt.

Gesagt hat sie Nabil al-Arabi, Generalsekretär der
Arabischen Liga, gemäß dem Protokoll am Ende der
letzten Sicherheitsratssitzung, die Bundesaußenminis-
ter Guido Westerwelle leitete. Diese beiden Sätze drü-
cken tiefe Dankbarkeit aus: Dankbarkeit für das deut-
sche Engagement in der Syrien-Krise, Dankbarkeit für
die deutschen Schlichtungsversuche im Nahen Osten,

Dankbarkeit für die Aufwertung der arabischen Welt
auf der UN-Agenda.

Und was wird seitens der Opposition der Bundesre-
gierung in diesem Antrag vorgeworfen? Deutschland
hätte sich weder im Syrien-Konflikt noch im Nahen Os-
ten durchsetzen können und wäre an einer Reform der
Vereinten Nationen gescheitert. Insgesamt unterstellt
man der deutschen Bundesregierung mangelndes En-
gagement. Da sind wohl der Generalsekretär der Ara-
bischen Liga sowie unter anderem auch der marokka-
nische Außenminister, der sich bei Herrn Westerwelle
auf Deutsch ebenfalls bedankte, anderer Meinung.

Anscheinend sind die Gesandten des Auslands alles
andere als enttäuscht vom deutschen Vorsitz im Sicher-
heitsrat der Vereinten Nationen, und zwar zu Recht.
Ich werde Ihnen jetzt auch erläutern, warum.

Unsere Bilanz sieht in wenigen Worten folgender-
maßen aus: Während unseres Vorsitzes hat Deutsch-
land Initiativen zum Klimaschutz und zur globalen Ab-
rüstung geleitet. Wir haben eine Resolution zum Schutz
von Kindern in bewaffneten Gebieten eingebracht.

Deutschland hat aktiv die Friedensbemühungen im
Nahen Osten unterstützt und eine stärkere Zusammen-
arbeit zwischen den Vereinten Nationen und der Arabi-
schen Liga durchgesetzt.

Es mutet schon realitätsfremd an, wenn man der
Bundesregierung vorwirft, nicht genug für den Nahen
Osten zu tun, wenn gleichzeitig Außenminister
Westerwelle vor Ort Friedensverhandlungen zwischen
Israel und der Hamas führt.

Genauso wirklichkeitsfremd scheint die Forderung,
Deutschland hätte während des Vorsitzes die Vereinten
Nationen reformieren sollen. Diese Erwartung ist
schlicht unerfüllbar. Natürlich, wir setzen uns für ei-
nen ständigen Sitz der Bundesrepublik Deutschland im
Sicherheitsrat ein und wir unterstützen die Reform-
pläne der Vereinten Nationen, die der heutigen globa-
len Machtverteilung gerecht werden. Aber diese For-
derungen kann man nicht alleine im Marschschritt
durchsetzen. Das Interesse der Vetomächte an einer
grundlegenden Reform – und damit einhergehend ei-
ner Beschneidung ihrer derzeitigen Machtposition –
ist äußerst gering. Daher bedarf es einer breit aufge-
stellten, umfassenden Bewegung unter den Mitgliedern
der Vereinten Nationen, um den Druck auf die Ve-
tomächte zu erhöhen. Es schmeichelt ja, dass uns die
Opposition zutraut, innerhalb von zwei Jahren die
Weltorganisation umzukrempeln, aber leider muss ich
an dieser Stelle dann doch etwas mehr Realitätssinn
fordern.

Wir verfolgen weiterhin das langfristige Ziel, stän-
diges Mitglied im UN-Sicherheitsrat zu werden. An
dieser Prämisse hat sich nichts geändert. Wir haben
daran gearbeitet, wir werden daran weiterarbeiten.
Aber es geht eben nicht über Nacht.

Das Vertrauen in die deutsche Außenpolitik und de-
ren friedensstiftenden Einfluss auf die internationalen

Zu Protokoll gegebene Reden





Bijan Djir-Sarai


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Beziehungen ist ungebrochen. Als Beweis der interna-
tionalen Zustimmung zum Kurs der Bundesregierung
wurde Deutschland in den UN-Menschenrechtsrat ge-
wählt. Das ist aller Ehren wert. Und zudem eine Bestä-
tigung für unsere gute Arbeit im UN-Sicherheitsrat.

Die zwei Jahre im Sicherheitsrat und der deutsche
Vorsitz in dem Gremium sind eine Erfolgsgeschichte
dieser Bundesregierung. Wo die Opposition hier eine
Negativbilanz erkennt, ist fraglich. Wir sehen sie nicht,
die Gesandten in der arabischen Welt sehen sie nicht,
die UN-Mitglieder sehen sie nicht. Und nur noch ein-
mal zur Bestätigung möchte ich wieder mit den Worten
des Generalsekretärs der Arabischen Liga enden: „Ich
sage mehr als Danke schön. Ich sage vielen, vielen
Dank.“


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722834000

Die Fraktion der SPD legt uns einen Antrag vor, der

die Überschrift trägt: „Negativbilanz nach zwei Jah-
ren im UN-Sicherheitsrat“. Sie möchte eine „ernüch-
ternde Bilanz“ der Bundesregierung feststellen lassen.
Wenn es nur darum ginge, könnten wir dem Antrag
ohne Weiteres zustimmen.

Doch dabei bleibt es nicht.

Schwerpunkt eins der Kritik der SPD an der Bun-
desregierung ist der mangelnde Einsatz der Bundes-
regierung für einen ständigen Sitz Deutschlands im
Sicherheitsrat der Weltorganisation. Hier sind wir an-
derer Auffassung. Eingebettet darin ist eine Kritik am
fehlenden Engagement der Bundesregierung für eine
Reform des Sicherheitsrates. Diese Kritik jedoch teilen
wir.

Zweiter Punkt ist die – aus Sicht der SPD – falsche
Entscheidung der Bundesregierung, der Resolution,
die den Militäreinsatz in Libyen 2011 legitimierte,
nicht zuzustimmen. Das kritisieren wir nun überhaupt
nicht, sondern diese Entscheidung der Bundesregie-
rung findet unsere ausdrückliche Zustimmung.

Punkt drei der Kritik: fehlendes Engagement für
eine friedliche Lösung des Nahost-Konflikts. Das se-
hen auch wir so.

Punkt vier: keine Initiativen der Bundesregierung
zur Nichtweiterverbreitung von Massenvernichtungs-
waffen. Richtig. Hier könnte man mehr tun.

Und schließlich Punkt fünf: das Nichtzustandekom-
men des Waffenhandelsvertrags bzw. der mangelnde
Einsatz der Bundesregierung für sein Zustandekom-
men. Auch hier hätte die SPD unsere Unterstützung.
Sie sollte aber besser selbst handeln, wenn sie es denn
kann.

Ergo: Die Linke teilt die Kritik an der schleppenden
Reform der Vereinten Nationen, vor allem die fehlende
Repräsentanz des globalen Südens im Sicherheitsrat.
Ein Streben nach einem deutschen Sitz wird hier aller-
dings keine Abhilfe schaffen. Ganz im Gegenteil, und
deshalb lehnen wir dies auch ab.

Völlig im Widerspruch zur antragstellenden Frak-
tion sind wir aber, wenn es um den Einsatz in Libyen
geht. Wir finden, dass die Bundesregierung sich, wie
auch die Regierung Schröder/Fischer, als es um den
Irakkrieg ging, grundsätzlich richtig verhalten hat.
Gerade an den Entwicklungen in Mali sehen wir, dass
der Militäreinsatz in Libyen keine wirkliche Lösung
für ein komplexes und tiefergehendes Problem war. Im
Übrigen meine ich, dass wir auch am Afghanistan-Ein-
satz, der uns damals von SPD und Grünen als humani-
tärer Einsatz verkauft wurde, sehen: Militärische Ge-
walt schafft neues Leid und trägt eben nicht nachhaltig
zur Lösung von Problemen bei.

Das kann unseres Erachtens nur ein andauernder
Dialog, wie ihn die SPD eben auch zwischen Palästina
und Israel fordert, wo sich die Bundesregierung, als es
um den Beobachterstatus Palästinas ging, nur der
Stimme enthalten hat. Auch meiner Fraktion wäre eine
Zustimmung lieber gewesen.

Was Abrüstung, insbesondere atomare Abrüstung,
angeht, hat sich die Bundesregierung mit Absichtser-
klärungen ziemlich weit aus dem Fenster gelehnt. Fol-
gen hatte dies bekanntlich keine.

Unsere Position zu Waffenexporten dürfte bekannt
sein, doch ich wiederhole sie gern: Wir wollen, dass
Deutschland keine Waffen mehr exportiert; ein erster
Schritt könnte ein Verbot von Waffenexporten in
Kriegs- und Krisengebiete sein.

Die Kritik der SPD an der Waffenexportpolitik der
Bundesregierung höre ich wohl, teile sie auch; allein
mir fehlt der Glaube an besseres Handeln. Bereits im
ersten Jahr der SPD-geführten Bundesregierung,
1999, verdoppelte sich der Wert der exportierten
Kriegswaffen von 683 Millionen Euro auf 1,454 Mil-
liarden Euro. In den Jahren der Großen Koalition
2006 bis 2009 gab es kein Jahr, in dem es weniger als
1,3 Milliarden Euro waren.

Internationale Verträge zur Begrenzung internatio-
nalen Waffenhandels wären nicht schlecht, aber eige-
nes Handeln wäre noch besser. Hier hätte Deutschland
unter SPD-Kanzlern und mit der SPD in der Bundesre-
gierung selbst aktiv werden können.

Nicht nur an dieser Stelle ist der Antrag inkonse-
quent.

Deshalb bleibt für uns nur eins: Wir werden gegen
ihn stimmen, auch wenn wir uns natürlich eine bessere
Bilanz der Bundesregierung im UN-Sicherheitsrat ge-
wünscht hätten.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722834100

Am 1. Januar 2011 war Deutschland in den Sicher-

heitsrat der Vereinten Nationen gewählt worden. Am
17. März kam es schon zum ersten Stresstest: In Libyen
tobte der Bürgerkrieg, die Armee des Diktators Muam-
mar al-Gaddafi stand vor den Toren Bengasis und
drohte der Zivilbevölkerung mit Massakern. Der Sicher-
heitsrat stimmte darüber ab, ob die Staatengemein-

Zu Protokoll gegebene Reden





Tom Koenigs


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(D)(B)


schaft gemäß der Schutzverantwortung intervenieren
sollte.

Deutschland hat sich enthalten – an der Seite von
Russland, China, Brasilien und Indien, gegen Frank-
reich und die Vereinigten Staaten. Das war der prä-
gende Eindruck unserer zwei Jahre im Sicherheitsrat.
Das Signal an unsere traditionellen Bündnispartner:
Wenn es ernst wird, dann ist auf Deutschland kein Ver-
lass.

Ungeachtet dieses diplomatischen Fauxpas bemän-
geln deutsche Kritiker gern, dass der Sicherheitsrat ja
dysfunktional sei, dass Strukturreformen nötig seien,
zum Beispiel indem man das Vetorecht abschafft. Am
Beispiel des Syrien-Konfliktes könne man ja sehen, wie
Russland und China mit ihrem Veto den Sicherheitsrat
in die Handlungsunfähigkeit führen können.

Drei Thesen zu dieser Kritik:

Erstens. Eine Reform des Sicherheitsrats, die die
neuen Gewichte in der Welt besser abbildet, wäre si-
cher angemessen. Sie ist aber äußerst riskant, weil die
Generalversammlung dafür die Charta ändern müsste.
Da ist es unberechenbar, ob nicht gleich weitere Kern-
prinzipien, wie der Schutz der Menschenrechte, mit
erodieren würden.

Zweitens ist aber auch die Forderung nach einem
permanenten Sitz Deutschlands nicht mehr zeitgemäß.
Mehr Zusammenarbeit mit unseren europäischen und
transatlantischen Partnern ist nötig – keine Allein-
gänge, wie in der Causa Libyen. Schließlich entschul-
digt der Verweis auf Reformbedarf nicht mangelndes
Engagement. Deutschland muss im bestehenden VN-
System aktiver werden.

Als Mitglied der Europäischen Union ist unsere Au-
ßenpolitik multilateral. Mit einem multilateralen, euro-
päischen Ansatz wollen wir deshalb auch die Vereinten
Nationen im bestehenden System stärken. Unsere zen-
trale Forderung lautet: Europa muss im Sicherheitsrat
mit einer Stimme sprechen.

Die VN könnten schon jetzt viel besser sein, wenn
Deutschland und Europa engagierter in den Gremien
der VN arbeiten würden.

Niemand bestreitet die Notwendigkeit, die VN stän-
dig den neuen Gegebenheiten anpassen zu müssen, also
zu reformieren. Ganze Kontinente, vor allem Afrika,
sind unterrepräsentiert. Aufstrebende Regionen und
Staatenverbünde, wie die BRICS-Staaten, müssen stär-
ker einbezogen werden. Sonst droht die Gefahr, dass
die dahinter stehenden Staaten sich einseitig zurück-
ziehen. Eine Fragmentierung der Vereinten Nationen
wäre die Folge.

Doch anstatt die Rolle multilateraler Verbände im
Sicherheitsrat zu fördern, setzen einzelne Mitglied-
staaten immer noch auf nationalstaatliche Repräsen-
tanz. Deutschland ist nach wie vor mit Japan, Indien
und Brasilien in der Gruppe der G 4 aktiv. Man unter-
stützt sich gegenseitig darin, jeweils einen permanen-

ten Sitz zu beanspruchen, und spaltet damit mehr, als
dass man eint.

Deutschland hat viel Energie darauf verschwendet,
einen eigenen ständigen Sitz im Sicherheitsrat zu er-
langen. Es hat nichts gebracht.

Deutschland sollte sich von dieser Forderung expli-
zit verabschieden. Der nationale Traum eines perma-
nenten deutschen Sitzes im Sicherheitsrat ist ausge-
träumt.

Realistisch ist es, die nichtständigen europäischen
Sitze unter Einbeziehung des Vereinigten Königreichs
und Frankreichs als permanente europäische Vertre-
tung auszubauen. Ein neuer diplomatischer Stab soll
die Arbeit der Europäer intern vorbereiten, koordinie-
ren und abwickeln. Die Repräsentation im Sicherheits-
rat kann dann rotieren.

Für diese Europäisierung auf Arbeitsebene wäre
keine Reform des Sicherheitsrats nötig, nur europäischer
Wille zur Zusammenarbeit. Alle Länder der EU und
die EU als Ganzes müssen sich vertreten fühlen und in
die interne Sicherheitsratskoordination aktiv und per-
manent eingebunden sein. Das sieht die Gemeinsame
Außen- und Sicherheitspolitik nach dem Vertrag von
Maastricht vor. Der Art. 34 des Lissabon-Vertrages be-
kräftigt es. Entsprechend treten wir dafür ein, dass
auch gemeinsame europäische Sitze in den Aufsichts-
gremien der Unterorganisationen, Sonderorganisationen,
Programmen und Fonds der VN angestrebt werden.

Ein Friedensnobelpreisträger Europa mit geeinter
Stimme im Sicherheitsrat könnte unser gemeinsames
Streben nach Frieden unterstützen und den Menschen-
rechten weltweit zu mehr Geltung verhelfen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722834200

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12242, den Antrag der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/11576 abzulehnen. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Regierungskoalition und der Linken gegen
die Stimmen von SPD und Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 20:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Umset-
zung der Verbraucherrechterichtlinie und zur
Änderung des Gesetzes zur Regelung der
Wohnungsvermittlung

– Drucksache 17/12637 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.






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Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1722834300

Den neuen Bestseller, die Skiausrüstung oder ein

schickes Paar Schuhe – heute bestellt man solche Pro-
dukte europaweit im Internet so einfach wie eine Pizza
beim Lieferdienst um die Ecke. Das ist ein Wachstums-
markt – zum Leidwesen mancher Innenstädte.

Einkaufen im Internet geht meist schneller und ist
vor allem bequemer als der Einkaufsbummel durch die
Kaufhäuser. Innerhalb weniger Stunden kommt die be-
stellte Ware zum Kunden nach Hause – und das ohne
langes Warten vor den Umkleidekabinen oder Anste-
hen an der Kasse. Das ist ein Grund, warum der
Onlinehandel in Europa in den letzten Jahren deutlich
gewachsen ist – mit steigender Tendenz.

2011 wurden innerhalb Europas 5,5 Milliarden Pa-
kete versendet. In Deutschland wurden 2012 Waren im
Wert von etwa 30 Milliarden Euro im Internet bestellt.
Im Vergleich zum Vorjahr ist das ein Zuwachs von etwa
30 Prozent. Nach aktuellen Schätzungen wird es auch
in diesem Jahr wieder einen kräftigen Zuwachs geben.
Dies ist ein beachtlicher Erfolg, und zwar umso mehr,
wenn man bedenkt, dass wir innerhalb der EU keine
einheitlichen Rechtsvorschriften haben.

Mit dem Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbrau-
cherrechterichtlinie werden im Wesentlichen die Berei-
che Verbraucherverträge und besondere Vertriebsfor-
men sowie Widerrufsrecht bei Verbraucherverträgen
neu gefasst.

Die Richtlinie zielt in erster Linie darauf, das Ver-
braucherschutzniveau zu erhöhen und zu einem besse-
ren Funktionieren des Binnenmarkts für Geschäfte
zwischen Unternehmen und Verbrauchern beizutra-
gen. Wir schaffen Klarheit für Kunden und Händler.

Bisher hatten wir in Europa einen Mindestharmoni-
sierungsansatz. Es bestanden beispielsweise keine ein-
heitlichen Widerrufsfristen. Dies sorgte aufseiten der
Händler und der Verbraucher für Rechtsunsicherheit.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur Umsetzung
der Verbraucherrechterichtlinie wird der Handel für
beide Seiten einfacher und sicherer.

Das Widerrufsrecht wurde umfassend überarbeitet:
Die Widerrufsfrist wird europaweit auf 14 Tage verein-
heitlicht und ins Bürgerliche Gesetzbuch aufgenom-
men; die Unternehmer müssen den Kunden zukünftig
ein Widerrufsformular bereitstellen und sind verpflich-
tet, sie über das Bestehen oder auch Nichtbestehen
bzw. Erlöschen des Widerrufsrechts verständlich und
umfassend zu informieren; die Widerrufsfrist für die
Kunden beginnt erst, wenn die komplette Ware bei ihm
eingetroffen ist und der Unternehmer seinen gesetzli-
chen Informationspflichten zum Widerrufsrecht nach-
gekommen ist; Voreinstellungen, die der Verbraucher
aktiv ablehnen muss, damit keine Zusatzleistungen ent-
stehen, sind nicht zulässig.

Auf der anderen Seite wird auch die Rechtssicher-
heit für die Unternehmer verbessert: Der Kunde muss
kenntlich machen, wenn er vom Widerrufsrecht Ge-

brauch machen will, die bloße Rücksendung ist nicht
ausreichend. Zudem trägt der Verbraucher zukünftig
die Kosten der Rücksendung, sofern der Händler sich
nicht bereit erklärt, diese zu übernehmen, weil das ja
durchaus auch ein Wettbewerbsvorteil ist. Da es für
kleinere Unternehmen schwierig sein kann, selbst eine
gesetzeskonforme Widerrufsbelehrung zu formulieren,
enthält der Richtlinienvorschlag sogar ein Muster.

Durch die Angleichung der Rechtsvorschriften
sorgen wir in Europa für eine Vollharmonisierung.
Den Mitgliedstaaten wird aber ermöglicht, durch
Öffnungsklauseln in verschiedenen Bereichen, ein
noch höheres Verbraucherschutzniveau vorzusehen.
Dies hilft sowohl den Verbrauchern als auch den
Händlern und sorgt auch weiterhin für einen florieren-
den Onlinehandel!


Marco Wanderwitz (CDU):
Rede ID: ID1722834400

Das Potenzial ist riesig, das Internet macht es mög-

lich: Der grenzüberschreitende Warenverkehr steht
fast noch in den Startlöchern seiner Entwicklung. Viele
Verbraucher zögern jedoch vor dem Abschluss eines
Kaufvertrages gerade mit einem ausländischen Anbie-
ter. Sie zögern nicht nur, wenn der Vertragspartner in
den USA oder im fernen China sitzt, sondern oftmals
auch bereits dann, wenn dieser seine Ware von Frank-
reich, Holland oder einem anderen benachbarten EU-
Land aus anbietet.

Die Gründe hierfür sind vielfältig, reichen von
Sprachbarrieren über Nichtkenntnis ausländischer
Rechtssysteme bis hin zur latenten Befürchtung, im
Falle verspäteter oder gar Nichtlieferung bereits be-
zahlter Güter einem fremden Rechtssystem „ausge-
setzt“ zu sein, das hinter dem bekannten nationalen
Verbraucherschutzniveau zurückbleibt. Aufgrund der
Fragmentierung der Verbraucherschutzregeln in den
EU-Mitgliedstaaten fehlt es vielen Verbrauchern
– ebenso wie kleineren Unternehmern – in erster Linie
an Vertrauen, außerhalb des Landes einzukaufen bzw.
zu verkaufen.

Speziell im voranschreitenden Onlineverkehr ist
dies nicht weiter verwunderlich. Die aktuellen EU-
Vorschriften zum Verbraucherschutz wurden vor der
„digitalen Revolution“ verabschiedet. So sind insbe-
sondere die Verbraucher nicht ausreichend geschützt.
Rechtssicherheit ist jedoch aus Sicht von Verbrauchern
wie Unternehmern gleichermaßen ein wesentliches
Element für das Funktionieren des europäischen Bin-
nenmarktes.

Mit dem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucher-
rechterichtlinie, zur Änderung des Verbrauchsgüter-
kaufrechts und zur Änderung des Gesetzes zur Rege-
lung der Wohnungsvermittlung werden Rechte und
Pflichten der Beteiligten am Erwerb von Waren oder
Dienstleistungen europaweit vereinheitlicht. Mit die-
ser Verbesserung der Rahmenbedingungen wollen wir
das Vertrauen in den Markt stärken.

Zu Protokoll gegebene Reden





Marco Wanderwitz


(A) (C)



(D)(B)


Die Bundesregierung setzt damit um, wofür sie – in
Person der Ministerinnen Aigner und Leutheusser-
Schnarrenberger – im politischen Brüssel bereits im
Vorlauf der Erarbeitung der Verbraucherrechterichtli-
nie konsequent eingetreten ist: mit einheitlichen Re-
geln die Attraktivität des grenzüberschreitenden Han-
dels insbesondere über das Internet zu stärken, dabei
aber das hohe deutsche Verbraucherschutzniveau zu
wahren.

In diesem Sinne wurde bereits auf Drängen der
Bundesregierung eine Regelung gegen Kostenfallen im
elektronischen Geschäftsverkehr in die am 12. Dezem-
ber 2011 in Kraft getretene Verbraucherrechterichtli-
nie aufgenommen. Nach der sogenannten Schaltflä-
chenlösung kommt ein im Internet geschlossener
Vertrag nur dann zustande, wenn dem Verbraucher
alle wesentlichen Informationen verständlich zur Ver-
fügung gestellt werden, bevor er einen unmissver-
ständlich als zahlungspflichtige Bestellung ausgewie-
senen Button anklickt. Aufgrund des dringenden
Handlungsbedarfs haben wir diese Regelung dann
auch bereits in Rekordzeit im August 2012 vorzeitig
umgesetzt.

Mit dem heutigen Gesetz wird der restliche Vorga-
benkatalog der Verbraucherrechterichtlinie, der die
Situation für Verbraucher und Unternehmer beim Er-
werb von Waren und Dienstleistungen im Fernabsatz
oder außerhalb von Geschäftsräumen weiter verbes-
sern wird, geregelt.

Insbesondere bei Einkäufen in Internetshops im EU-
Ausland gelten künftig grundsätzlich dieselben Infor-
mations- und Widerrufsrechte wie bei Einkäufen in
deutschen Internetshops. Die Frist, innerhalb derer
Verbraucher im Fernabsatz oder an der Haustür ge-
schlossene Verträge ohne Angabe von Gründen wider-
rufen können, wird europaweit einheitlich auf 14 Tage
festgelegt. Bisher war lediglich eine Mindestfrist von
sieben Tagen vorgegeben, die EU-weit mehrheitlich
genutzt wurde.

Das bislang „ewige“ Widerrufsrecht bei unterlasse-
ner oder nicht ordnungsgemäßer Widerrufsbelehrung
erlischt künftig nach einem Jahr und 14 Tagen. Dies
gibt Unternehmern mehr Rechts- und Planungssicher-
heit, kommt im Ergebnis aber auch den Verbraucherin-
nen und Verbrauchern zugute, da Missbrauch ausge-
schlossen wird. Der Richtlinienvorschlag enthält
zudem eine gesetzliche Musterwiderrufsbelehrung, da
die korrekte Widerrufsbelehrung insbesondere für klei-
nere Unternehmen schwierig sein kann.

Ferner vereinheitlicht werden künftig die Informa-
tionen, die ein Unternehmer dem Verbraucher vor Ab-
schluss eines Fernabsatzvertrages oder Haustürge-
schäftes unaufgefordert zur Verfügung zu stellen hat.
Sie sind in Papierform oder auf einem anderen dauer-
haften Datenträger zu geben oder – bei Fernabsatz-
verträgen – entsprechend nach Vertragsschluss zu be-
stätigen. Dabei gelten für Verträge, die bei einem
bestellten Besuch geschlossen werden, sowie bei sofort

durchgeführten Reparaturen oder Wartungsarbeiten
erleichterte Anforderungen an die Informationspflicht,
wenn der Wert weniger als 200 Euro beträgt.

Verwendet ein Unternehmer im Internet Voreinstel-
lungen, die der Verbraucher ablehnen muss, um eine
Vereinbarung über eine Zusatzleistung wie zum Bei-
spiel eine Reiserücktrittsversicherung etc. zu vermei-
den, muss der Verbraucher diese Zusatzleistung nach
der neuen Richtlinie nicht bezahlen. Vorab ange-
kreuzte Felder sind in der Europäischen Union künftig
unzulässig. Ein sehr wichtiger Punkt.

Eine weitere wesentliche Veränderung besteht in
der Regelung, dass der Verbraucher die Kosten der
Rücksendung einer bestellten aber nicht mehr gewoll-
ten Ware grundsätzlich zu tragen hat. Die bisherige
Regelung, wonach der Händler ab einem Rücksende-
warenwert von 40 Euro die Rücksendekosten zu tragen
hat, fällt. Der Verbraucher muss über eine Kostentra-
gungspflicht jedoch ausdrücklich informiert werden.
Es ist zu erwarten, dass die Übernahme der Rücksen-
dekosten ein Wettbewerbsfaktor sein wird, Verbrau-
cher künftig hiervon also weiter profitieren können.
Die Grenze war allerdings nicht begründbar.

Die Verbraucherrechterichtlinie leitet das Prinzip
der umfassenden Vollharmonisierung. Im Rahmen der
Vereinheitlichung konnte die Bundesregierung erfolg-
reich für die Bewahrung des hohen Verbraucher-
schutzniveaus des deutschen Rechts werben. Aufgrund
von vereinzelten Öffnungsklauseln können wir dieses
national an einigen Stellen sogar noch weiter verbes-
sern. Im Sinne des Bürokratieabbaus wird dabei ande-
rerseits insbesondere dort unnötige Bürokratie abge-
schafft, wo die Pflichten für Unternehmer in keinem
Verhältnis zum Nutzen für die Verbraucher stehen.

Der Gesetzentwurf ist bereits ein weitgehend gelun-
gener Kompromiss zwischen Verbraucherrechten und
Interessen der Wirtschaft. Im parlamentarischen Ver-
fahren werden wir die letzten kleinen Kanten schleifen.

Die Umsetzungsfrist für die Verbraucherrechte-
richtlinie läuft bis 13. Juni 2014. Die christlich-libe-
rale Bundesregierung will das Gesetz frühzeitig im Ge-
setzesblatt haben, nicht zuletzt, um den Adressaten
ausreichend Vorbereitungszeit zu geben.


Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1722834500

Endlich, endlich legt die Bundesregierung nun ei-

nen Gesetzentwurf zur Umsetzung der Verbraucher-
rechterichtlinie vor.

Grundsätzlich begrüßen wir diesen Gesetzentwurf;
denn es ist in der Tat gelungen, im Rahmen der sehr
wünschenswerten und notwendigen Vollharmonisie-
rung im Bereich Verbraucherschutz das hohe Schutzni-
veau des deutschen Verbraucherschutzes zu erhalten.

Es ist aber auch wirklich an der Zeit gewesen, end-
lich die Umsetzung auf den Weg zu bringen und für ei-
nen besseren Schutz von Verbraucherinnen und
Verbrauchern zu sorgen. Die verbraucherpolitischen

Zu Protokoll gegebene Reden





Marianne Schieder (Schwandorf)



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(D)(B)


Baustellen sind zahlreich, und vielerorts wäre Regie-
rungshandeln dringend nötig. Doch die Bundesregie-
rung handelt in Verbraucherschutzfragen leider oft
nur dann, wenn sie von Europa dazu aufgefordert
wird, wieder einmal ein Lebensmittelskandal die Men-
schen aufschreckt oder die Opposition zu Verbesserun-
gen antreibt.

Heute reden wir über die Umsetzung der Verbrau-
cherrechterichtlinie, zu der wir durch europäische
Vorgaben verpflichtet sind. Verbraucherinnen und
Verbraucher sollen beim Erwerb von Waren oder
Dienstleistungen europaweit einheitliche Rechte er-
halten. Es können europaweit einheitliche Muster für
die Widerrufsbelehrungen genutzt werden, und die In-
formationspflichten sind vollständig harmonisiert.

So werden deutsche Verbraucher in Zukunft zum
Beispiel beim Einkauf in EU-ausländischen Online-
shops in den Genuss derselben Informations- und
Widerrufsrechte kommen wie beim Einkauf in inländi-
schen Onlineshops.

Das ist sehr gut für die Kunden. Auch dass Verbrau-
cherverträge, die im Fernabsatz oder an der Haustür
geschlossen wurden, künftig europaweit ohne Angabe
von Gründen innerhalb von 14 Tagen widerrufen
werden können, ist sehr begrüßenswert.

Was die Bundesregierung aber dringend überprüfen
sollte, ist die neue Regelung, wonach das Widerrufs-
recht bei unterbliebener oder nichtordnungsgemäßer
Belehrung über das Widerrufsrecht zwölf Monate nach
Ablauf der ursprünglichen Widerrufsfrist erlöschen
soll. Bislang erlöscht das Widerrufsrecht nämlich in
einem solchen Fall gar nicht.

Der Gesetzentwurf enthält zahlreiche gute Vor-
schläge. Allerdings möchte ich mit Blick auf die Ver-
braucherinnen und Verbraucher auch feststellen, dass
die Ausgestaltung bisweilen in wenig verständlicher
Art und Weise formuliert wird.

Als ein sehr bezeichnendes Beispiel ist § 312 g zu
nennen. In Abs. 2 Nr. 5 geht es um Alkoholverkauf, wo
das Widerrufsrecht nicht bestehen soll für „Verträge
zur Lieferung alkoholischer Getränke, deren Preis bei
Vertragsschluss vereinbart wurde, die aber frühestens
30 Tage nach Vertragsschluss geliefert werden können
und deren aktueller Wert von Schwankungen auf dem
Markt abhängt, auf die der Unternehmer keinen Ein-
fluss hat“. Nicht nur hier wäre wirklich eine verständ-
lichere Ausdrucksweise erforderlich.

Auch teile ich die Bedenken des Bundesrates bezüg-
lich notariell beurkundeter Verträge und der fragli-
chen Notwendigkeit eines Widerrufsrechts.

Ich fordere die Bundesregierung aber auch auf,
dringend über eine Anpassung der Regelungen zur
Nacherfüllung im Verbrauchsgüterkaufrecht nachzu-
denken. Denn diese Regelung genügt den verbraucher-
schützenden Vorgaben der Verbrauchsgüterkaufricht-
linie nicht vollständig. Im Referentenentwurf zu dem
Gesetzentwurf, den wir heute beraten, war eine Neu-

regelung der Nacherfüllung noch enthalten. In diesem
Zusammenhang sollte die Bundesregierung auch
ernsthaft darüber nachdenken, im Rahmen der nach
den Vorgaben des EuGH erforderlichen Neuregelung
des § 439 BGB die Vorschrift nicht lediglich mit Wir-
kung zugunsten der Verbraucher abzuändern, sondern
eine Regelung vorzusehen, die uneingeschränkt gilt,
also auch für Unternehmer.

Ich hoffe für unsere Fraktion auf fruchtbare Bera-
tungen.


Caren Lay (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722834600

Mit diesem Gesetz zur Umsetzung der Verbraucher-

rechterichtline hat die Bundesregierung leider die
Chance vertan, Verbraucherinnen und Verbraucher in
zentralen Bereichen besserzustellen.

Die Liste der verpassten Gelegenheiten ist lang:

Erstens: Widerrufsrecht bei Telefonverträgen.

Wir als Linke finden es besonders bedauerlich, dass
auch diesmal keine Regelung zu telefonisch geschlos-
senen Verträgen existiert, sondern lediglich ein Wider-
rufsformular. Das ist ein Fortschritt gegenüber der be-
stehenden Situation. Dennoch müssen die potenziell
Betrogenen hier selbst aktiv werden, wenn ihnen am
Telefon etwas angedreht wurde.

Verbraucherinnen und Verbraucher sind allerdings
leider nach wie vor windigen Callcenterfirmen ausge-
liefert. Immer noch genügt ein falsches Wort am Tele-
fon oder einmal nicht richtig hingehört zu haben, und
schon hat man ein Zeitschriftenabo oder etwas Ähnli-
ches, was sie nie wollten. Das bereits seit August 2009
geltende Gesetz zur Bekämpfung unerlaubter Telefon-
werbung hat sich als ineffektiv erwiesen. Verbraucher-
verbände sprechen nach wie vor von einer großen An-
zahl unerlaubter Anrufe, die sogar oft unter falscher
Flagge segeln und sich als vermeintlich seriöse Fir-
men und Institutionen ausgeben. Dabei liegt die Lö-
sung einfach und praktikabel auf der Hand liegt: Tele-
fonisch geschlossene Verträge müssen noch einmal
schriftlich und in Ruhe bestätigt werden. Eine Bestäti-
gungslösung fordert die Linke bereits seit Anfang
2009. Unser damaliger Antrag wurde von CDU/CSU,
SPD und FDP im Plenum abgelehnt, und seitdem ist
nichts mehr passiert. Ob ein Widerrufsformular sich in
der Praxis überhaupt bewährt, bleibt dabei die offene
Frage. Die Bestätigungslösung hätte sich auf jeden
Fall bewährt. Mehr noch: Die EU-Richtlinie hätte
diese Möglichkeit eröffnet, aber die Bundesregierung
nutzt diese Chance nicht.

Zweitens: Kaffeefahrten.

Oder nehmen wir das Beispiel der sogenannten
Kaffeefahrten. Es ist kein Geheimnis, dass Verkaufs-
veranstaltungen ein wesentliches Element dieser Aus-
flüge sind. Statt die Rechte der Verbraucherinnen und
Verbraucher bei Kaffeefahrten zu verbessern, ver-
schlechtern sie sich sogar. Noch kann man vom Kauf
einer Rheumadecke oder einer Pauschalreise zurück-

Zu Protokoll gegebene Reden





Caren Lay


(A) (C)



(D)(B)


treten. Tritt dieses Gesetz in Kraft, kann man die Decke
zurückgeben, die Pauschalreise aber nicht mehr. Was
einmal unterschrieben ist, hat Gültigkeit. Ein Widerruf
ist künftig nicht mehr möglich. Die Bundesregierung
eröffnet hier nun ein riesiges neues Geschäftsfeld für
Betrüger, die ihre vermeintlichen Reisegäste mit über-
teuerten Reiseangeboten prellen können.

Drittens: Beweislastumkehr und Gewährleistungen.

Die Bundesregierung versäumt, die Gewährleis-
tungsmöglichkeiten zu verbessern. Die Gewährleis-
tung für ein gekauftes Produkt geht zwar theoretisch
über zwei Jahre; in der Praxis ist dieses Recht bereits
nach sechs Monaten wertlos. Das heißt: Einen neuge-
kauften Toaster kann man theoretisch zwei Jahre lang
zurückgeben, wenn er kaputtgeht. Aber schon nach ei-
nem halben Jahr muss man beweisen, dass der Defekt
schon vorher da war. Da die wenigsten von uns Inge-
nieure sind, ist das praktisch unmöglich.

Die Chance wurde hier vertan. Der vorliegende
Entwurf ist ein verwässertes Papier mit zahllosen Aus-
nahmen. Beim Wohneigentum, bei den Reise- und Be-
förderungsleistungen, den Telefonverbindungen, den
Finanzdienstleistungen, bei Versicherungen sowie bei
Behandlungsverträgen: Verbraucherinnen und Ver-
brauchern werden weiterhin Informationen vorenthalten.
Dabei sind das zentrale Bereiche, die fast ausnahmslos
jeden Menschen betreffen. Durch ihre Untätigkeit lie-
fert die schwarz-gelbe Koalition weiterhin Millionen
Bürgerinnen und Bürger der Abzocke aus.

Insgesamt gibt es nach wie vor eine Vielzahl von Re-
geln, die für den juristisch nicht vorgebildeten Nor-
malverbraucher weder verständlich noch nachvoll-
ziehbar sind. Es ginge auch einfacher. In Österreich
gibt es das Konsumentenschutzgesetzbuch, welches
nur 42 Paragrafen enthält und dennoch den Verbrau-
cherschutz umfassend regelt. Eine derartige Transpa-
renzoffensive wünschen sich sowohl Juristinnen und
Juristen als auch die Linke.

Wieder einmal hat diese Bundesregierung bewiesen,
dass sie kein Interesse an der Stärkung der Rechte von
Verbraucherinnen und Verbrauchern hat.


Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722834700

Der Gesetzentwurf soll die EU-Verbraucherrechte-

richtlinie umsetzen, die die Regelungen zu Haustür- und
Fernabsatzgeschäften europaweit zusammenführen und
überarbeiten soll. Neben einigen Verbesserungen bringt
die Richtlinie für die deutschen Verbraucherinnen und
Verbraucher auch Verschlechterungen mit sich.

Unter anderem sind das Verschlechterungen bezüg-
lich der Widerrufsrechte im Versandhandel. Kosten für
die Rücksendung von Produkten beim Widerruf können
künftig komplett den Verbrauchern aufgebürdet wer-
den, während bislang die Rücksendekosten ab einem
Warenwert von 40 Euro vom Verkäufer übernommen
werden mussten. Hier hätte die Bundesregierung in
Brüssel härter kämpfen müssen.

Doch auch jetzt – bei der Umsetzung der Richtlinie
in deutsches Recht – macht die Bundesregierung ihre
Hausaufgaben nicht ordentlich. Obwohl die Richtlinie
grundsätzlich auf europaweite Vollharmonisierung der
Verbraucherschutzvorschriften ausgelegt ist, lässt sie
den Mitgliedstaaten in einigen Artikeln durch Öff-
nungsklauseln die Möglichkeit, Regelungen einzufüh-
ren oder beizubehalten, die ein höheres Verbraucher-
schutzniveau beinhalten.

Diese Chance nutzt die Bundesregierung nicht. Im
Gegenteil! Der Gesetzentwurf verschlechtert das Ver-
braucherschutzniveau an einigen Stellen sogar:

Erstens. Die Richtlinie ermöglicht explizit die Ein-
führung einer sogenannten Bestätigungslösung für
telefonisch geschlossene Verträge auf nationaler
Ebene. Diese Möglichkeit lässt Schwarz-Gelb unge-
nutzt. Angesichts der immensen Anzahl der infolge von
Cold Calling untergeschobenen Verträge ist die Ein-
führung der Bestätigungslösung dringend erforder-
lich. Auch im gestern im Kabinett verabschiedeten
Gesetzentwurf gegen unseriöse Geschäftspraktiken
wird dies nur halbherzig umgesetzt. Es soll zwar in
Zukunft eine Bestätigung für am Telefon geschlossene
Gewinnspielverträge verbindlich werden, doch alle
anderen Verträge bleiben weiter außen vor. Unseriö-
sen Unternehmen wird damit nicht das Handwerk ge-
legt.

Zweitens. Auch die vorgesehenen Ausnahmen beim
Widerrufsrecht sind unnötige und unverständliche
Verschlechterungen der Verbraucherrechte. So sollen
beispielsweise Verträge über Pauschalreisen, die vor
allem alten Menschen auf sogenannten Kaffeefahrten
untergejubelt werden, nach dem Willen der Bundesre-
gierung künftig nicht mehr widerrufen werden können.
Auch Verträge über die Lieferung von Lebensmitteln
oder Getränken – wie zum Beispiel Biokisten oder Ge-
tränkelieferungen ins Büro – sollen selbst bei längerer
Laufzeit nicht mehr widerrufbar sein. Die bisherige
Möglichkeit, zumindest laufzeitgebundene Lebensmit-
telabos, die bei Haustürgeschäften geschlossen wur-
den, zu widerrufen, soll damit gestrichen werden.
Anstatt hier die Rechte weiter zu beschneiden, wäre
eine Ausdehnung des Widerrufsrechts notwendig.

Drittens. Nachgebessert werden muss auch bei den
Informationspflichten im Fernabsatz bezüglich mögli-
cher zusätzlicher Fracht-, Liefer- und Versandkosten,
sodass der Verbraucher weiß oder zumindest berech-
nen kann, welche Kosten im Gesamten auf ihn zukom-
men.

Viertens. Auch die notwendigen Änderungen im
Gewährleistungsrecht wurden nicht vorgenommen.
Hier muss klargestellt werden, dass Verbraucher in
Zukunft tatsächlich ihr Recht auf zweijährige Gewähr-
leistung wahrnehmen können und nicht mehr, wie
heute faktisch oft, eine Gewährleistung nur innerhalb
von sechs Monaten; danach müssen sie beweisen, dass
ein Defekt oder Kaputtgehen nicht selbst verschuldet

Zu Protokoll gegebene Reden





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)


ist. Da dies in der Praxis häufig unmöglich ist, ist eine
volle Beweislastumkehr notwendig.

Auch bezüglich der Garantieregelungen muss klar-
gestellt werden, dass die Rechte der Käufer gegenüber
Verkäufern nicht durch eine Abhilfe durch den Herstel-
ler eingeschränkt werden dürfen. Käufer dürfen auch
bei Inanspruchnahme einer Herstellergarantie keine
Nachteile bezüglich ihrer Gewährleistungsrechte ge-
genüber dem Verkäufer erfahren.

Fünftens. Daneben sind auch die im Gesetzentwurf
vorgenommenen Änderungen des Gesetzes gegen den
unlauteren Wettbewerb zu schwach und beheben die in
der Praxis bestehenden Probleme der Verbraucherver-
bände, etwa bezüglich der Abschöpfung von Unrechts-
gewinnen, nicht.

Ich könnte noch weitere Punkte aufzählen, auch
Passagen, die unbestimmt und damit nicht rechtssicher
formulier sind. Aber die Auswahl macht deutlich: Hier
besteht noch dringender Nachbesserungsbedarf. Die
beim Widerrufsrecht vorgenommenen Ausnahmen
müssen gestrichen oder zumindest erheblich nachge-
bessert werden. Eine Bestätigungslösung ist bei allen
Telefonverträgen einzuführen. Rechtsunsicherheiten
und unbestimmte Rechtsbegriffe müssen verhindert
und nachgebessert werden. Die Legislatur ist nicht
mehr allzu lang; insofern muss die Bundesregierung
zügig nachlegen und im Zuge der Anhörung und der
Beratungen in den Ausschüssen die berechtigte Kritik
aufnehmen und aus dem mäßigen Gesetzentwurf ein
gutes Gesetz machen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf will die Bun-
desregierung die europäische Verbraucherrechtericht-
linie in das innerstaatliche Recht umsetzen. Hierdurch
schaffen wir Rechtssicherheit, erhöhen das Vertrauen
in den grenzüberschreitenden Einkauf und verbessern
sowohl die Situation der Verbraucherinnen und Ver-
braucher als auch die Situation der Unternehmerinnen
und Unternehmer.

Die umzusetzende Verbraucherrechterichtlinie folgt
dem Grundsatz der Vollharmonisierung; das heißt, die
Mitgliedstaaten dürfen im von der Richtlinie erfassten
Bereich grundsätzlich weder strengere noch weniger
strenge Regelungen erlassen oder aufrechterhalten.
Hierdurch wird die bislang uneinheitliche Rechtslage
bei Verträgen, die im Fernabsatz oder außerhalb von
Geschäftsräumen geschlossen werden, europaweit
vereinheitlicht. Allein hierin liegt schon ein Vorteil für
Unternehmen, die in Zukunft ohne hohe Rechtsbera-
tungskosten grenzüberschreitend tätig werden können.
Spiegelbildlich werden auch die Verbraucher von ei-
nem erhöhten grenzüberschreitenden Angebot profitie-
ren können.

Aber wir nutzen auch die uns durch die Richtlinie
eröffneten Spielräume in Form von Bereichsausnah-
men und Öffnungsklauseln konsequent und intelligent:

Auf der einen Seite erhalten wir das im europäischen
Vergleich hohe Verbraucherschutzniveau des deut-
schen Rechts aufrecht und heben es an verschiedenen
Stellen sogar noch an. Auf der anderen Seite setzen wir
konsequent darauf, Bürokratie für Unternehmen dort
zu vermeiden, wo ihr kein Vorteil für Verbraucher ge-
genübersteht. Damit erkennen wir Win-win-Situatio-
nen und beweisen, dass Verbraucherschutz und Büro-
kratieabbau kein Gegensatzpaar sind. Lassen Sie mich
einige Beispiele nennen:

Erstens. Die verbraucherschützenden Regelungen
des geltenden Rechts für Fernabsatzverträge über
Finanzdienstleistungen gelten zukünftig auch für au-
ßerhalb von Geschäftsräumen geschlossene Verträge
über Finanzdienstleistungen. Der Verbraucher ist in
beiden Situationen in gleicher Weise schutzbedürftig.
Unternehmer haben den Vorteil, dass sie bei beiden
Vertriebsformen einheitliche Informationsunterlagen
verwenden können.

Zweitens. Obwohl soziale Dienstleistungen und
Gesundheitsdienstleistungen von der Verbraucher-
rechterichtlinie vollständig ausgenommen sind, soll
dem Verbraucher nach unserem Entwurf auch in die-
sen Bereichen ein Widerrufsrecht zustehen. Denn auch
hier kann der Verbraucher überrumpelt werden, zum
Beispiel beim Verkauf von Medizinprodukten auf
Kaffeefahrten. Ausgenommen sind aus gutem Grund
Hausbesuche des Arztes.

Drittens. Unternehmer werden in Zukunft eine euro-
paweit einheitliche Musterwiderrufsbelehrung ver-
wenden können. Hierdurch werden Kosten und Risiken
im Fall eines grenzüberschreitenden Angebots deutlich
verringert. Auch für Verbraucher ist es hilfreich, in
einheitlicher Weise über ihr Widerrufsrecht belehrt zu
werden.

Viertens. Im Fall einer fehlenden oder falschen
Widerrufsbelehrung erlischt das bislang „ewige“
Widerrufsrecht zukünftig nach Ablauf eines Jahres.
Dies gilt auch für Altverträge, also Verträge, die vor
Inkrafttreten des Gesetzes geschlossen worden sind.
Hierdurch erhalten Unternehmen mehr Rechts- und
Planungssicherheit. Verbraucher haben im Fall einer
nicht ordnungsgemäßen Belehrung ein Jahr Zeit, zu
entscheiden, ob sie den Vertrag widerrufen wollen.

Fünftens. Schließlich nutzen wir solche Bereichs-
ausnahmen konsequent aus, durch die wir weitere
Bürokratie verhindern können. So werden zum Beispiel
im Laden geschlossene Geschäfte des täglichen
Lebens, die sofort erfüllt werden, auch zukünftig kei-
nen umfangreichen Informationspflichten unterliegen.
Diese wären im Verhältnis zum Wert des Geschäfts
unverhältnismäßig. Auch die Verbraucher erwarten in
diesem Fall keine umfangreichen Informationen, die
zudem mitunter noch eingepreist würden.

Die Bundesregierung hat eine gute Grundlage
vorgelegt. Als Gesetzgeber sind wir nun gemeinsam
dazu aufgefordert, die für die Umsetzung notwendigen
Vorschriften bis zum 13. Dezember dieses Jahres zu

Zu Protokoll gegebene Reden





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



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erlassen. Ich bitte Sie, sich engagiert und konstruktiv
daran zu beteiligen, damit wir dieses Ziel gemeinsam
erreichen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722834800

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/12637 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ander-
weitige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die
Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 21:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Sören Bartol, Martin Burkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Stillstand in der Verkehrspolitik überwin-
den – Zukunftskommission zur Reform der
Infrastrukturfinanzierung einrichten

– zu dem Antrag der Abgeordneten Sabine
Leidig, Herbert Behrens, Thomas Lutze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Grundlegende Neuausrichtung der Ver-
kehrsinvestitionspolitik für Klima- und Um-
weltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerech-
tigkeit und neue Arbeitsplätze

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Anton
Hofreiter, Winfried Hermann, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Durch eine neue Investitionspolitik zu mehr
Verkehr auf der Schiene

– Drucksachen 17/5022, 17/1971, 17/1988,
17/8386 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Werner Simmling

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1722834900

Eine zukunftsorientierte Verkehrsinfrastruktur und

die damit verbundene Mobilität von Personen und Gü-
tern bildet eine entscheidende Grundlage für den
Wohlstand in unserem Land. Das stellt auch die SPD in
ihrem Antrag fest. Da es der christlich-liberalen Ko-
alition in den letzten Jahren gelungen ist, Wachstum zu
kreieren, Beschäftigung zu schaffen und Arbeitslosig-
keit drastisch abzubauen, haben wir nach der Defini-
tion der SPD eine gute Verkehrsinfrastruktur geschaf-
fen und eine gute Verkehrspolitik betrieben. Für dieses
Lob möchten wir uns bedanken.

Ja, Deutschland ist mit seinen geringen Rohstoffre-
serven, der zentralen Lage in der Mitte Europas und
seiner sehr exportorientierten Wirtschaft auf eine leis-
tungsfähige und moderne Infrastruktur angewiesen.
Deshalb hat diese Bundesregierung große Anstrengun-
gen unternommen, die Verkehrsinfrastruktur nicht nur
zu erhalten, sondern auch auszubauen. Auch aus die-
sem Grunde haben wir die Infrastrukturbeschleuni-
gungsprogramme I und II in Milliardenhöhe gestartet,
um den Ausbau voranzutreiben.

Sie sehen, wir bauen unsere Infrastruktur immer
weiter aus. Wir ruhen uns nicht auf den Erfolgen der
Vergangenheit aus, sondern passen die Verkehrspolitik
immer wieder den neuen Gegebenheiten an. Deshalb
arbeiten wir derzeit am Bundesverkehrswegeplan
2015. Gemeinsam mit den Ländern erstellt das Bun-
desverkehrsministerium ein Konzept für die Zukunft;
denn wir wissen, dass eine leistungsfähige Verkehrsin-
frastruktur das Rückgrat eines starken und dynami-
schen Wirtschaftsstandortes Deutschland ist.

Aber wir haben natürlich auch die Haushaltskonso-
lidierung und insbesondere die Schuldenbremse zu be-
rücksichtigen. Plan- und maßlose Forderungen aufzu-
stellen, ist einfach unseriös. Die Linken stellen einen
Forderungskatalog auf, ohne zu berücksichtigen, dass
die Haushaltskonsolidierung die Höhe des Gesamt-
und Verkehrsetats massiv beschränkt. Einen Wunsch-
katalog abgeben ohne Rücksicht auf die Kosten, ist zu
einfach und bei den Linken rein ideologisch motiviert.
Zudem sind die Forderungen teilweise von der Realität
überholt. So hat die Bundesregierung eine Förderung
der Investitionen in den Ersatz der Schienenwege der
öffentlichen nicht bundeseigenen Eisenbahnen im
Schienengüterfernverkehrsnetz schon längst beschlos-
sen.

Wir wissen, dass die Bahn eines der umweltfreund-
lichsten Verkehrsmittel ist, das Fahrrad einmal ausge-
nommen. Weder Pkw noch Lkw, geschweige denn das
Flugzeug, sind so klimaschonend wie die Bahn; denn
sie weist unter dem Gesichtspunkt Energieeffizienz
eindeutige Vorteile auf.

Deshalb ist es auch im Interesse des Umwelt- und
Klimaschutzes unser Ziel, einen großen Teil des in Zu-
kunft zusätzlich anfallenden Güterverkehrsaufkom-
mens auf die Schiene zu verlagern. Auch dies gehört zu
unserem Konzept zur Vermeidung von CO2-Emissio-
nen und zum Erreichen unserer Klimaschutzziele. Die
Bahn der Zukunft wird in diesem Zusammenhang eine
herausragende Rolle spielen. Wir wissen, dass es bis
2025 im Personenverkehr einen Zuwachs von circa
26 Prozent und im Güterverkehr von circa 65 Prozent
geben wird.

Aus diesem Grund setzen wir uns auch für den Aus-
bau des Schienennetzes ein, um mehr Güter auf die
Schiene zu bekommen, um mehr Menschen zu gewin-
nen, das Auto stehen zu lassen und mit den öffentlichen
Verkehrsmitteln zur Arbeit zu fahren.





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


Um die Bahn aber wirklich attraktiver zu machen,
ist es notwendig, das Schienennetz auszubauen. Und
genau hier setzt meine Kritik an den Grünen an. In
Berlin stellen sich die Grünen hin und fordern den
Ausbau zahlreicher Schienenwege, sowohl für den
Personen- als auch für den Güterverkehr. Wenn es
dann aber vor Ort um die konkrete Umsetzung geht,
tauchen die Grünen nicht einfach unter. Nein, sie
wechseln die Position und sind auf der Seite der Aus-
baugegner zu finden. Teilweise organisieren die Grü-
nen den Widerstand sogar. Gründe lassen sich immer
finden. Mal ist es ein Biotop, das nicht berührt, dann
ist es ein wertvoller Wald, der nicht beeinträchtigt
werden darf.

Es stellt sich die Frage: Ist es Taktik? Fehlt den
Grünen einfach der Gesamtüberblick und verlieren sie
sich im Kleinklein, oder ist es Politikstrategie und Ar-
beitsteilung: In Berlin für den Ausbau, vor Ort gegen
jegliche Änderungen?

Es gibt noch Baustellen, an denen wir arbeiten.
Derzeit verhandeln wir die Fortsetzung der Leistungs-
und Finanzierungsvereinbarung sowie des Eisenbahn-
regulierungsgesetzes. Seien Sie versichert, dass diese
Koalition auch weiterhin sicherstellen wird, dass In-
vestitionen in unsere Verkehrsinfrastruktur dorthin ge-
lenkt werden, wo sie den größten Nutzen für unsere
Bürgerinnen und Bürger und unsere Wirtschaft haben.


Reinhold Sendker (CDU):
Rede ID: ID1722835000

Ich danke Ihnen ausdrücklich für die heutige

Debatte, in der wir uns mit unserer Verkehrsinfrastruk-
tur und ihrer Weiterentwicklung beschäftigen. Geben
Sie uns damit doch die Gelegenheit, einmal aufzuzei-
gen, wie erfolgreich wir doch in den letzten dreiein-
halb Jahren die Infrastrukturpolitik in diesem Land
weiter nach vorne gebracht haben – und das trotz gro-
ßer Herausforderungen im Rahmen der Haushaltskon-
solidierung.

Während andere vorher unsere Infrastruktur auf
Verschleiß gefahren haben, hat die unionsgeführte
Bundesregierung in der Infrastrukturpolitik eindeutig
dem Erhalt Priorität eingeräumt, also Erhalt vor
Ausbau. So haben wir die Mittel für Erhalt und Sanie-
rung massiv aufgestockt. Ich komme aus Nordrhein-
Westfalen. Wenn dort aktuell Brückensperrungen an
der A 1 vorgenommen werden müssen und teilweise
Brücken für den Schwerlastverkehr nicht befahrbar
sind, dann sind das heute die Folgen Ihrer Politik,
nicht rechtzeitig investiert zu haben. Die enormen
Staus im Kölner Raum und anderswo, die aktuell täg-
lich gemeldet werden, sind nicht nur eine Belastung
für Mensch und Umwelt, sie verursachen auch einen
nicht bezifferbaren volkswirtschaftlichen Schaden und
sind das Erbe eines Jahrzehnts SPD-dominierter Ver-
kehrspolitik. Hingegen danke ich unserem Minister
ausdrücklich, dass er sich mit dem Brückensanie-
rungsprogramm dieser Thematik angenommen hat,
und hoffe sehr, dass so weitere Brückensperrungen
vermieden werden können.

Bei engen finanziellen Spielräumen stehen bei den
Bedarfsmaßnahmen die Engpässe, Verkehrsknoten so-
wie Lückenschlüsse ganz oben auf der Agenda. Mit
den vorhandenen Investitionsmitteln gilt es vor allem,
die Qualität der Bestandsnetze von Schiene, Straße
und Wasserwegen zu sichern. Mit Blick auf die schon
erwähnte Haushaltskonsolidierung sind wir stolz, dass
es uns in den vergangenen Jahren gelungen ist, die In-
vestitionslinie auf hohem Niveau über 10 Milliarden
Euro zu verstetigen. Mit den Infrastrukturbeschleuni-
gungsprogrammen haben wir in den letzten beiden
Jahren noch einmal fast 2 Milliarden Euro zusätzlich
zur Verfügung stellen können.

Das sind deutlich mehr investive Mittel für die Ver-
kehrsinfrastruktur als in den Jahren vor der Krise, und
das ist ein Erfolg, den wir uns auch hier und heute in
dieser Debatte nicht zerreden lassen!

Mit Blick auf die Substanzerhaltung unserer Ver-
kehrswege stehen wir natürlich auch neueren Ansätzen
der Optimierung von Bestand und Ausbau mit großem
Interesse gegenüber, vor allem wenn sie Einsparpoten-
zial und mehr Transparenz bieten. Hier sind öffentlich-
private Partnerschaften ein ausgezeichneter Ansatz.
Dazu bringen die Koalitionsfraktionen in dieser
Woche einen Antrag ein. Nach den ersten vier erfolg-
reichen Pilotprojekten läuft die zweite Staffel mit wei-
teren acht teilweise modifizierten Projekten. Durch die
Bündelung der baubedingten Staus auf einen kürzeren
Zeitraum ist ÖPP von enormem volkswirtschaftlichem
Nutzen und eine echte wirtschaftliche Alternative zum
konventionellen Bau.

Allerdings sehen auch wir Verbesserungspotenziale:
So gilt es, die Transparenz zu erhöhen; denn Transpa-
renz schafft mehr Akzeptanz. Hierzu zählen genauso
eine frühzeitige Information und Beteiligung der Öf-
fentlichkeit wie auch eine möglichst weitreichende
Transparenz während der Betriebsphase. Mehr Infor-
mation, mehr Kommunikation, mehr Dialog zwischen
Auftraggeber, Öffentlichkeit und Betroffenen vor Ort
sollen die Variante öffentlich-privater Partnerschaft
noch attraktiver machen.

Interessant ist, dass auch die SPD im heute debat-
tierten Antrag die Fortentwicklung dieser Beschaf-
fungsvariante fordert, unter anderem auch in meinem
Heimatland Nordrhein-Westfalen, jedoch weiter Vor-
behalte gegen diese Variante des Ausbaus äußert. ÖPP
ist schon jetzt eine Erfolgsgeschichte, und die christ-
lich-liberale Koalition hat ÖPP weiter vorangebracht.

Mehr Transparenz hat die Koalition auch mit dem
Finanzierungskreislauf Straße hergestellt, und das ist
gut so! Die Koalitionsvereinbarung der christlich-libe-
ralen Regierung sieht einen Prüfauftrag zur Herstel-
lung eines Finanzierungskreislaufs Straße unter direk-
ter Zuweisung der Lkw-Maut an die VIFG vor. Genau
das haben wir umgesetzt. Die Einnahmen aus der
Lkw-Maut fließen jetzt eins zu eins zurück in die
Straße. Mit Interesse schauen wir auf die Ergebnisse
der Daehre-Kommission. Gleichwohl gilt es, richtige

Zu Protokoll gegebene Reden





Reinhold Sendker


(A) (C)



(D)(B)


Ansätze zu einem schlüssigen Gesamtkonzept zusam-
menzuführen und die Lasten gezielt zu verteilen.
Ferner gilt es, den gegebenen Rechtsrahmen zu be-
rücksichtigen. Diese Koalition kämpft um mehr Mittel
für die Verkehrsinfrastruktur. In dieser Legislatur ha-
ben wir viel erreicht; diese erfolgreiche Politik werden
wir in den nächsten Jahren fortsetzen!


Sören Bartol (SPD):
Rede ID: ID1722835100

Mit der heutigen Debatte über die uns vorliegende

Beschlussempfehlung schließt sich der Kreis einer seit
dem Beginn der Legislaturperiode laufenden Diskus-
sion über die Bedeutung der Verkehrsinfrastruktur für
unser Land und die dafür notwendige Finanzierung.
Die heutige Diskussion gibt uns die Chance, eine Bi-
lanz der schwarz-gelben Bundesregierung und der sie
tragenden Regierungskoalition von CDU/CSU und
FDP in der Verkehrspolitik zu ziehen.

Bereits vor zwei Jahren hat die SPD-Bundestags-
fraktion allen Fraktionen im Deutschen Bundestag
vorgeschlagen, in einer konzertierten Aktion eine Zu-
kunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinan-
zierung in Deutschland einzurichten. Unser Ziel war
es, den damals nach wenigen Monaten bereits vorhan-
denen Stillstand in der Verkehrspolitik zu überwinden,
der mit dem damals neuen Bundesverkehrsminister
Dr. Peter Ramsauer und der schwarz-gelben Regie-
rungskoalition eingetreten war.

Ich denke, damals wie heute sind wir uns fraktions-
übergreifend einig, dass eine gute Verkehrsinfrastruk-
tur das wirtschaftliche Wachstum, Beschäftigung und
Wohlstand in Deutschland sichert. Sie ermöglicht eine
bezahlbare Mobilität für alle und garantiert den Un-
ternehmen, den Transport ihrer Waren und Produkte
sicher zu organisieren. Sie sichert den Menschen in
unserem Land gesellschaftliche Teilhabe am öffentli-
chen Leben wie auch die notwendige räumliche Flexi-
bilität, um am Arbeitsmarkt bestehen zu können.

Obwohl die Verkehrspolitiker von CDU/CSU und
FDP in dem ersten Entwurf des Koalitionsvertrags im
Herbst 2009 bereits den Vorschlag einer Regierungs-
kommission selbst in die Diskussion gebracht hatten,
hat die Mehrheit der Regierungskoalition im Verkehrs-
ausschuss des Deutschen Bundestages unseren Vor-
schlag nicht aufgegriffen und unseren Antrag abge-
lehnt. Bereits damals wurde offensichtlich, dass es
Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer an dem not-
wendigen Mut fehlt, sich den drängenden Fragen einer
modernen Politik für die Verkehrsinfrastruktur und de-
ren Finanzierung zu stellen. Dabei war die schwarz-
gelbe Regierungskoalition ambitioniert gestartet. In
den Verhandlungen des Verkehrshaushalts im Früh-
jahr 2010 forderten die Vertreter von CDU/CSU und
FDP im Verkehrsausschuss mit einem eigenen Antrag
den Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer auf, ein
Finanzierungskonzept vorzulegen. Dabei definierten
sie Eckpunkte.

Schauen wir heute gemeinsam zurück auf die Zeit
der schwarz-gelben Bundesregierung und die Bilanz in

der Verkehrspolitik seit 2009, erkennen wir eine große,
weite Leere. Zentrale Forderungen des Koalitionsver-
trags waren schon in der ersten Hälfte der Legislatur-
periode klammheimlich beerdigt worden. Es fehlte die
Kraft, sie ernsthaft – auch im Konflikt mit dem Bundes-
umweltminister oder Bundesfinanzminister – durchzu-
setzen.

Ich will an dieser Stelle nur einige Punkte aufzäh-
len: Die Kreditfähigkeit der Verkehrsinfrastrukturfi-
nanzierungsgesellschaft, VIFG, kommt nicht. Die Di-
rektzuweisung der Lkw-Maut an die VIFG kommt
nicht. Der sogenannte Finanzierungskreislauf Straße
ist Verkehrspolitik aus dem 20. Jahrhundert. Mit gro-
ßem Impetus verkündet, besteht er de facto nur auf
dem Blatt Papier und wird bei sinkenden Lkw-Maut-
einnahmen zum Bumerang, der den Verkehrsträger
Straße und den dort notwendigen Investitionen massiv
schadet. Eine klare Prioritätensetzung bei den Projek-
ten des Bundesverkehrswegeplans heißt bei Bundes-
verkehrsminister Ramsauer, die Investitionsmittel
nach Gutsherrenart zu verteilen. Bei dem Ausbau von
ÖPP-Projekten verheddert sich der Bundesverkehrs-
minister mit intransparenten Wirtschaftlichkeitsunter-
suchungen, und die Regierungsfraktionen brauchen
über drei Jahre, um in einem Antrag ihre eigene Posi-
tion im Deutschen Bundestag zum Thema zu finden.
Bei der Abstufung von Bundesfernstraßen schafft es
der Bundesverkehrsminister, sich mit den Bundeslän-
dern lediglich auf rund 2 000 Kilometer zu einigen.
Möglich und notwendig wäre eine Länge von bis zu
20 000 Kilometern. Die Einführung einer Leistungs-
und Finanzierungsvereinbarung, LuFV, Straße ist im
Gestrüpp von Zuständigkeiten zwischen Bundesver-
kehrsministerium, externen Beratern und Bundeslän-
dern geendet. Ob die geplanten Modellvorhaben den
notwendigen Erfolg bringen, ist mehr als zweifelhaft.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regie-
rungskoalition, ich habe damals nicht verstanden, wa-
rum Sie als Vertreter der Regierungskoalition auf un-
seren Vorschlag nicht eingegangen sind. Das mag
sicherlich dem Reflex geschuldet sein, dass man Vor-
schläge einer Oppositionsfraktion pflichtschuldig von
vornherein ablehnt. Dass die Bundesregierung jedoch
dem mit schwarz-gelber Mehrheit beschlossenen Auf-
trag des Verkehrsausschusses des Deutschen Bundes-
tages vom Frühjahr 2010 nicht nachgekommen ist und
ein umfassendes Konzept zur Finanzierung unserer
Verkehrsinfrastruktur verweigert hat, finde ich igno-
rant.

Ich bin mir sicher, dass Sie vor drei Jahren eine
Chance verpasst haben. Die Diskussion über ein zu-
kunftsfähiges Konzept wurde damit nicht dort geführt,
wo sie hingehört: in die Bundesregierung und in den
Deutschen Bundestag. Es bildeten sich Nebenschau-
plätze wie die Daehre-Kommission der Verkehrsminis-
terkonferenz. In letzter Konsequenz haben sich Bun-
desverkehrsminister Peter Ramsauer und die schwarz-
gelbe Regierungskoalition aus der Diskussion über
eine auskömmliche Finanzierung unserer Verkehrsin-

Zu Protokoll gegebene Reden





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


frastruktur und die dafür notwendigen Strukturrefor-
men verabschiedet. Damit haben die Vertreter von
CDU/CSU und FDP einen Stillstand der Verkehrspoli-
tik zu verantworten, der einzigartig ist.

Während der Bundesverkehrsminister zu schwach
war, entscheidende Reformen auf den Weg zu bringen,
ist die SPD-Bundestagsfraktion im Deutschen Bundes-
tag aktiv geworden. Unser Ziel: ein neuer gesellschaft-
licher Konsens für unsere Verkehrsinfrastruktur. Mit
unserem Projekt „Infrastrukturkonsens 2020“ hat
meine Fraktion einen neuen Politikstil bestritten: Neue
Politikinhalte haben wir im regelmäßigen Dialog mit
Bürgerinnen und Bürger wie auch mit Vertretern von
Verbänden und Unternehmen entwickelt, breit disku-
tiert und in neuen Konzeptpapieren vorgelegt.

Bundesverkehrsminister Peter Ramsauer kannte in
den letzten Jahren nur eine Debatte: die Einführung
der Pkw-Maut. Damit stellte er die weitere Belastung
der Nutzer in den Vordergrund. Wir haben eine andere
Reihenfolge der Diskussion gewählt: Wir haben erst
über das „Was“ und die Prioritäten diskutiert und da-
mit eine breite Basis für einen Konsens gelegt, welche
Verkehrsprojekte vorrangig finanziert werden sollten.
Darauf aufbauend haben wir mit allen Beteiligten über
das „Wie“ diskutiert und damit über notwendige
Strukturreformen gesprochen, die für eine effektive
Verwendung der Mittel notwendig sind. Aus meiner
Sicht sind diese beiden Schritte die Voraussetzung da-
für, dass wir mit allen Vertretern von Verbänden und
Unternehmen über neue Modelle der Finanzierung re-
den können. Auch hier haben wir in dieser Woche un-
sere Vorschläge vorgelegt.

Die SPD-Bundestagsfraktion ist bereit. Wir wollen
nach vier Jahren Stillstand in der deutschen Verkehrs-
politik wieder die Verantwortung in unserem Land
übernehmen. Unsere Vorschläge liegen für alle trans-
parent auf dem Tisch. Alle Bürgerinnen und Bürger in
unserem Land wissen, was wir wollen. Während Bun-
desverkehrsminister Peter Ramsauer ideenlos in Rich-
tung Bundestagswahl stolpert, machen wir konkrete
Vorschläge, die wir nach der Bundestagswahl am
22. September 2013 umsetzen wollen. Das breite Inte-
resse unter den Menschen in unserem Land, aber auch
unter den Vertretern der Verbände und Unternehmen
für unsere Ideen des Projekts „Infrastrukturkonsens
2020“ gibt uns recht: Wir haben die besseren Konzepte
als die Regierungsparteien CDU/CSU und FDP. Wäh-
rend dort Leere herrscht, ist unser Instrumentenkoffer
voll gefüllt.

Das Konzept zur Bürgerbeteiligung und Planungs-
beschleunigung ist ein gutes Bespiel dafür, wie es uns
gelungen ist, in der Verkehrspolitik einen neuen Kon-
sens zu schaffen und zugleich eine Vorreiterrolle zu
übernehmen. Denn wir waren die Ersten im Bund, die
ein solches Konzept vorgelegt haben.

Wir ziehen damit die Konsequenzen aus den gesell-
schaftlichen Konflikten aus Großvorhaben wie Stutt-
gart 21. Aber nicht in dem Sinne, dass wir diese ver-

hindern wollen, sondern dass wir sagen: Die für unser
Land notwendige Infrastruktur schaffen wir nur, wenn
wir sie frühzeitig zusammen mit den Bürgerinnen und
Bürgern diskutieren und auf den Weg bringen.

Das Konzept enthält deshalb konkrete Vorschläge,
wie die Bürgerbeteiligung bei Planungsverfahren durch
frühzeitige Einbeziehung der Bürgerinnen und Bürger
verbessert und zugleich Planungsverfahren beschleu-
nigt werden können. Es geht uns um eine neue Kommu-
nikations- und Planungskultur, Transparenz statt Pla-
nung hinter verschlossenen Türen und einen Dialog
auf Augenhöhe. Bürgerbeteiligung und Planungsbe-
schleunigung sind dabei für uns keine Gegensätze. Wir
machen eine ganze Reihe von Vorschlägen, wie sich Pla-
nungen weiter verkürzen lassen. So sollten wir Dopp-
lungen bei der Untersuchung der Umweltverträglich-
keit vermeiden.

Wir sind aber überzeugt, dass wir die Gesamtpla-
nungs- und Umsetzungszeiten gerade für umstrittene
Projekte am besten dadurch verkürzen, dass wir die
Bürgerinnen und Bürger frühzeitig in Entscheidungen
über Infrastrukturvorhaben einbinden und Transpa-
renz über die Planung herstellen.

Dies betrifft sowohl die Entscheidung bei der Bun-
desverkehrswegeplanung, welche Projekte überhaupt
gebaut werden, also auch die Festlegung der konkre-
ten Trassen und der Dimensionierung. Hier wollen wir
im Fachplanungsrecht die Verpflichtung aufnehmen,
dass alle interessierten Bürgerinnen und Bürger bei
Neubauvorhaben bereits vor dem Planfeststellungs-
verfahren zu beteiligen sind. Wir sind dabei der
Meinung, dass man es Behörden und öffentlichen
Planungsträgern nicht freistellen kann, ob sie nun die
Bürgerinnen und Bürger beteiligen oder nicht. Wir
brauchen vielmehr verbindliche Standards; denn nur
dann haben die Bauträger auch Rechtssicherheit.

Ich will mit Blick auf die Finanzierung unserer Bun-
desverkehrswege aber auch betonen: Wir müssen uns
von der Illusion verabschieden, dass jedes Wunschpro-
jekt finanzierbar ist, wenn man nur lange genug war-
tet. Verkehrspolitik muss im eigentlichen Wortsinn wie-
der Wirtschaftspolitik werden. Wirtschaftlich handeln
bedeutet: mit knappen Mitteln möglichst viel Nutzen
herausholen. Und: Wir müssen deutlich effizienter
bauen mit einer überjährigen Projektfinanzierung und
einem verbesserten Management.

Am Ende werden wir jedoch auch bei einer klaren
Prioritätensetzung und einer realistischen Projektpla-
nung mehr Geld benötigen. Baukostensteigerungen,
Bürgerbeteiligung, verbesserter Lärmschutz erhöhen
in der Summe die Kosten der einzelnen Projekte. Eine
Erhöhung des Etats innerhalb des Rahmens der Schul-
denbremse kann aber nur unter der Beteiligung der
Steuerzahler und der Nutzer erfolgen.

Allein durch das Umschichten von Mitteln im Bun-
deshaushalt werden wir eine auskömmliche Finanzie-
rung nicht erreichen. Die SPD-Bundestagsfraktion
schlägt daher vor, die Steuern dort, wo es verträglich

Zu Protokoll gegebene Reden





Sören Bartol


(A) (C)



(D)(B)


ist, für einige wenige zu erhöhen und einen Teil der
Mehreinnahmen in unsere Verkehrswege zu investie-
ren. Das wird jedoch auch nicht ausreichen. Bei der
Lkw-Maut sehe ich daher grundsätzlichen Überprü-
fungsbedarf. Wir werden nach dem vierjährigen Maut-
moratorium in der nächsten Legislaturperiode die
Lkw-Maut fortentwickeln müssen. Dies gilt übrigens
für alle möglichen Regierungsparteien von FDP über
Union bis zu den Grünen. Unser Ziel ist die Ausdeh-
nung der Lkw-Maut auf alle Bundesstraßen. Ich hoffe,
dass die aktuelle Bundesregierung einer neuen Folge-
regierung die dafür notwendigen Voraussetzungen
hinterlässt. Das sich andeutende Desaster um die
Nachfolge des derzeit geltenden Maut-Konzessions-
vertrags mit dem Unternehmen Toll Collect lässt mich
Schlimmstes erwarten.

In dieser Legislaturperiode haben sich die Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP einer Reformdebatte ver-
weigert. Ich hoffe, dass sich dies in der kommenden
Legislaturperiode nicht fortsetzen wird. Noch einmal
können wir uns vier verschenkte Jahre nicht leisten.


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1722835200

Die uns vorliegenden Anträge der Oppositionsfrak-

tionen beziehen sich nicht auf punktuelle Änderungen
in der Verkehrspolitik, sondern befassen sich – indem
sie die Infrastruktur thematisieren – mit ganz grund-
sätzlichen Weichenstellungen der Verkehrspolitik. Neu
sind uns allerdings Ihre Positionen nicht. Sie werden
von Ihnen in regelmäßigen Abständen übermittelt, und
so kommt es mir vor, als hätte ich diese Rede in Reaktion
auf Ihre Forderungen schon einige Male gehalten.

Was mir insbesondere an dem Antrag der SPD deut-
lich missfällt, ist, dass Sie auf der einen Seite ein
grundsätzlich neues Konzept der Verkehrsinvestitions-
politik fordern, auf der anderen Seite aber wenig kon-
krete Vorschläge anbieten. Vollmundig sprechen Sie
von einem Stillstand in der Verkehrspolitik, ohne aber
aufzuzeigen, an welchen Stellschrauben Ihrer Meinung
nach gedreht werden müsste. Sie fällen Globalurteile,
aber bieten keine Lösungsvorschläge. Wie Sie selbst
wissen, orientiert sich die effektive Politikgestaltung
an dem politisch Machbaren. Ihr Antrag ist daher
Wahlkampf, aber keine ernsthafte Auseinandersetzung
mit den verkehrspolitischen Notwendigkeiten.

Was davon abgesehen aber sicherlich zu konstatie-
ren ist, sind die zentralen Probleme der Infrastruktur-
politik. Über diese herrscht auch durchaus interfrak-
tioneller Konsens. Dabei handelt es sich erstens um
die frappierende Unterfinanzierung der Verkehrsinfra-
struktur, die bereits seit vielen Jahren die Regierungen
beschäftigt, zweitens die unbedingte Notwendigkeit
von Effizienz im Mitteleinsatz und drittens die zuneh-
menden Anforderungen an ökologische Kriterien. Diese
Feststellungen dürfen wohl als „common sense“ be-
zeichnet werden. Vor uns hat sie bereits die Pällmann-
Kommission artikuliert, und die jetzige Bundesregie-
rung hat sie in den Koalitionsvertrag geschrieben.

Was Sie bei aller Fundamentalkritik in Ihren Anträ-
gen allerdings unterschlagen, sind die maßgeblichen
Schritte, die bereits eingeleitet worden sind!

Erstens. Die Bundesregierung hat jüngst ihre Neu-
konzeption des Bundesverkehrswegeplanes vorgelegt.
Der nächste BVWP gilt als entscheidende Richtschnur
für die zukünftige Infrastrukturentwicklung, und er
wird dank der aktuellen Bundesregierung das erste
Mal eine effiziente Gesamtnetzplanung darstellen. Die
neue Grundkonzeption legt eine verkehrsträgerüber-
greifende Netzstrategie fest, sodass den verkehrlichen
Anforderungen sehr viel besser entsprochen werden
kann.

Wichtigste Aufgabe in der Grundkonzeption ist die
Entwicklung von Kriterien zur Priorisierung der Ver-
kehrsinfrastrukturinvestitionen, um ein realistisches
und finanzierbares Gesamtkonzept aufzustellen. Kern-
stück des Regierungsvorschlags ist daher die bedarfs-
gerechte Priorisierungsstrategie, die jetzt zuerst dem
Erhalt die nötige Priorität vor dem Neu- und Ausbau
zusichert und dann erst die verbleibenden Finanzmit-
tel auf die drei Verkehrsträger verteilt – und dies nicht
nach ideologischen Kriterien, so wie es Oppositions-
politik ist, sondern nach dem Kriterium der Gesamt-
wirkung des Budgetplans. Das beinhaltet die Auftei-
lung des Budgets sowohl aus gesamtwirtschaftlicher
als auch aus umwelt- und naturschutzfachlicher Sicht.

Um weiterhin sicherzustellen, dass die Projekte in-
nerhalb der einzelnen Verkehrsträger nach Umset-
zungsdringlichkeit unterschieden werden, wird eine
zusätzliche Dringlichkeitsstufe „Vordringlicher Bedarf
Plus“ eingeführt. Darunter werden die Projekte zu-
sammengefasst, die aus fachlicher Sicht eine hohe Be-
deutung haben. Die Länderquoten sind damit ein gro-
ßes Stück weit ausgehebelt! Die Grundkonzeption der
Bundesregierung ermöglicht so eine Mittelverwendung
nach Bedarf und nicht nach Proporz!

Zweitens. Auch das Thema Finanzierung ist die
Bundesregierung angegangen. Es ist unumstritten,
dass die Umstellung auf die sogenannte Nutzerfinan-
zierung im Sinne des Mittelzuwachses wäre, dass aber
die Einführung weiterer Fahrzeugklassen oder zusätz-
licher Straßen, die mit der Maut taxiert würden, als
hochkompliziertes Unterfangen gilt. Die Ausweitung
der Maut ist sowohl technisch risikobehaftet als auch
ein ernsthaftes Akzeptanzproblem in der autofahrenden
Bevölkerung. Rot-Grün stand in seinen vergangenen
Amtszeiten bekanntlich vor denselben Herausforderun-
gen und hat in sieben Jahren Regierungsverantwortung
das Problem nicht gelöst. Wir sind in dieser Legisla-
turperiode hingegen schon einige wichtige Schritte ge-
gangen.

Am 15. April 2011 hat der Deutsche Bundestag den
Gesetzentwurf zur Neuregelung mautrechtlicher Vor-
schriften für Bundesfernstraßen angenommen. Die Ein-
führung der Bundesstraßenmaut wurde zum 1. August
2012 umgesetzt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Werner Simmling


(A) (C)



(D)(B)


Sie artikulieren an dieser Stelle gerne den Vorwurf:
Die Einführung eines Finanzierungskreislaufes Straße
durch die Bundesregierung, der die Einnahmen aus
der Lkw-Maut lediglich für Investitionen in die Straße
vorsieht, schwächt das Gesamtverkehrsnetz und macht
die Schiene damit komplett von den Steuereinahmen
der öffentlichen Hand abhängig. Wir sagen: Die
Schiene hat gezeigt, dass es positiv sein kann, wenn
Mautmittel, also Trassenentgelte (Schienenmaut), für
Investitionen zur Verfügung stehen, weil sie von den
Begehrlichkeiten der jährlichen Haushaltsplanung
entkoppelt werden und ein verlässlicher Finanzierungs-
kreislauf entsteht.

Die Straße ist erheblich konjunkturanfälliger als die
Schiene – eine verlässlichere Finanzierungsgrundlage
für die Unterhaltung und den Ausbau der Bundesfern-
straßen ist entsprechend dringlich. Den Finanzie-
rungskreislauf Straße hat man uns zu verdanken.

In dem Kontext sei noch bemerkt: Wir ergänzen die
fehlenden Mautmittel bei Schiene und Wasserstraße
durch zusätzliche Haushaltsmittel.

Der wirksamste und auch gerechtfertigte Weg, um
die Mittel für die Schiene zu erhöhen, ist die Kappung
der Gewinnabführungs- und Beherrschungsverträge.
Die FDP hält, wie auch die Europäische Kommission,
an einer stärkeren Unabhängigkeit der DB Netz AG
von der Konzernmutter fest. Der integrierte Konzern
kann zwar bestehen bleiben, aber nicht in der heutigen
Form. Innerhalb der Bundesregierung gibt es keine ge-
genteilige Festlegung. Aus Sicht der FDP ist eine stär-
kere Unabhängigkeit des Netzes notwendig, um mehr
Wettbewerb auf die Schiene zu bringen und um einen
unangemessenen Finanzmittelabfluss aus dem Netz zu
verhindern.

Drittens. Wir haben auch im ökologischen Kontext
eine erhebliche Entscheidung gefällt. Die Grünen ar-
gumentieren doch gerne, dass die Verlagerung trans-
portierter Güter von der Straße auf die Schiene eines
der wichtigsten verkehrspolitischen Ziele sei, weil das
einen wichtigen Effekt im Sinne des Klimaschutzes be-
deute. Um dieses Ziel zu erreichen – so ihre Argumen-
tation weiter – müsste der Schutz von Bahnlärm ver-
bessert und der Schienenbonus abgeschafft werden.

Und wie so oft bei den Anträgen der Opposition in
der Vergangenheit ist die Regierungskoalition auch
hier in ihren Überlegungen und Maßnahmen schon
viel weiter. Wir, die Koalitionsfraktionen von Union
und FDP, haben in unserem Antrag zum Ausbau der
Rheintalbahn die Abschaffung des Schienenbonus und
die Einführung lärmabhängiger Trassenpreise im No-
vember 2011 verankert und beschlossen. Es ist der
Bundesrat, der die Wirksamkeit des Beschlusses bis-
lang hemmt.

Mein Fazit auf Ihre Anträge ist also: Einer differen-
zierten Betrachtungsweise halten Ihre Kritik und For-
derungen nicht stand. Die Regierung hat bis hierhin
gute Arbeit geleistet.


Sabine Leidig (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722835300

Die Verkehrsinvestitionspolitik muss vom Kopf auf

die Füße gestellt werden. Es ist Unsinn, dem schädli-
chen Verkehrswachstum hinterherzubauen. Ausgangs-
punkt einer grundlegend neuen Ausrichtung müssen
klare Zielvorgaben sein, denen der Einsatz der öffent-
lichen Mittel dienen muss: Klima- und Umweltschutz,
Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und gute Ar-
beitsplätze.

Die drei Oppositionsanträge zur Neuausrichtung
der Verkehrsinvestitionspolitik stammen aus dem Juni
2010. Wir werden unsere Positionen und Vorschläge
sicher in der nächsten Wahlperiode wieder einbringen.

Die Chance, einen Richtungswechsel einzuleiten
– weg vom Straßen- und Flugverkehr, weg von Ver-
kehrswachstum, hin zur Schiene und Verkehrsvermei-
dung –, hat diese Bundesregierung gänzlich vertan.

Dass in der Verkehrsinvestitionspolitik einiges im
Argen liegt, darüber sind sich alle einig. Bei der
Schiene braucht es für die Realisierung des Bedarfs-
plans noch fast 40 Milliarden Euro. Der Horizont liegt
hier also etwa beim Jahr 2050. Das macht keinen Sinn,
das weiß eigentlich auch jede und jeder, nur sträubt
sich die Regierung vor dem Offenbarungseid.

Bei der Straße sieht es nicht besser aus. Eine Ant-
wort auf eine Nachfrage zum Haushalt 2010 ergab,
dass derzeit planfestgestellte Projekte mit einem Volu-
men von knapp 3,5 Milliarden Euro nicht gebaut wer-
den können. 2012 können keine neuen Projekte in den
Straßenbauplan aufgenommen werden.

Während aber die Koalition und leider auch die
SPD Defizite vor allem darin sehen, dass es zu wenig
Mittel für den „bedarfsgerechten Ausbau“ der Ver-
kehrsinfrastruktur gibt, ziehen wir grundsätzlich an-
dere Schlussfolgerungen aus der derzeit offenkundigen
misslichen Lage: Die Lösung besteht nicht darin, mehr
Geld ins System zu pumpen. Nein, es geht auch hier
ums UmFAIRteilen – nach sozial-ökologischen Krite-
rien.

Weil die Teilhabe aller Menschen an Mobilität mit
den Erfordernissen von Klima- und Umweltschutz ver-
bunden werden muss, ist eine weitgehende Abkehr vom
Neu- und Ausbau von Straßen hin zum deutlichen Aus-
bau des öffentlichen Verkehrsangebotes und der Ver-
besserung der Bedingungen des nichtmotorisierten
Verkehrs nötig.

Der am meisten klimaschädliche Flugverkehr weist
seit Jahren die größten Zuwachsraten auf. Eine
Vulkanaschewolke hat sichtbar gemacht, dass mehr
als die Hälfte aller Flüge innereuropäisch sind; ein
Viertel ist innerdeutscher Luftverkehr. Statt des unko-
ordinierten und hochsubventionierten Ausbaus von

(Regionaldes europäisches Konzept „SchieneEuropa2025“, das die Verlagerung eines Großteils der innereuropäischen Flüge ermöglicht. Zu Protokoll gegebene Reden Sabine Leidig Beim Erhalt von Fernstraßen könnte man mit einer „Leistungsund Finanzierungsvereinbarung Straße“ langfristig jährlich rund 500 Millionen Euro sparen. Und bei allen Verkehrsträgern müssen die Bedarfsbzw. Ausbaupläne auf den Prüfstand. Wer heutzutage noch Autobahnen (aus-)baut, handelt unverantwortlich gegenüber den künftigen Generationen. „Güterzüge auf die Autobahn“ wäre das zeitgemäße Motto. Wir brauchen eine klare Priorität, die Anwohnerinnen und Anwohner vor Lärm schützt, zum Beispiel durch siedlungsferne Trassen, und den Lkw-Verkehr ersetzt. Bei der Schiene haben wir seit Jahren nur noch eine Verwaltung des Mangels, gepaart mit völlig falschen Investitionsprioritäten: Der Bedarfsplan wimmelt von milliardenschweren Neubaustrecken, die praktisch nur dem ICE-Verkehr dienen. Es ist doch Wahnsinn, dass für maximal 50 ICE am Tag eine Neubaustrecke zwischen Frankfurt und Köln gebaut wurde, während Hunderte Güterzüge weiterhin durchs Rheintal schleichen und dort Hunderttausenden Menschen das Leben unerträglich machen, vom Milliardengrab Stuttgart 21 mit angeschlossener Neubaustrecke ganz zu schweigen. Unter dem Motto „klug kleckern statt klotzen“ stehen wir – mit Bürgerinitiativen und Bewegungen auch in anderen Ländern Europas – gegen „grande opere inutili“ – große unnütze Projekte –, bei denen Milliarden verbaut werden, wenige profitieren und die Versorgung in der Fläche auf der Strecke bleibt. Die Anträge der Fraktionen von SPD, Linken und Bündnis 90/Die Grünen, die in diesem Tagesordnungspunkt behandelt werden sollen, sind sehr verschieden ausgerichtet. Sie widmen sich unterschiedlichen Aspekten der Investitionspolitik des Bundes und benennen ganz unterschiedliche Ziele. Eines haben sie allerdings gemeinsam: Sie setzen bei der katastrophalen Investitionspolitik im Verkehrssektor an. Zu Recht; denn dieses „Gewurschtel“ im Hause Ramsauer ist unerträglich. Die prekäre finanzielle Situation wird besonders vor dem Hintergrund eines immer enger werdenden Verkehrsbudgets deutlich. Und während die Bundesregierung die Investitionsmittel sinken lässt, steigen die Bedarfe für den Erhalt der vorhandenen Infrastruktur stetig. Die Straßen bröckeln weiter, Brücken verlieren ihre Tragfähigkeit, die Anzahl der Langsamfahrstellen der Bahn nimmt zu. Dennoch lässt die Verkehrspolitik der Bundesregierung auch in dieser kritischen Situation keine Struktur erkennen. Ihr fehlen Ziele, Prioritäten und Umsetzungsstrategien. Entgegen ihren Ankündigungen haben weiterhin Neubaumaßnahmen Vorrang vor Erhaltungsinvestitionen. Beredte Beispiele sind die sogenannten Infrastrukturbeschleunigungsprogramme: Spatenstiche werden finanziert, die Umsetzung der Neubaumaßnahmen jedoch ist finanziell überhaupt nicht abgedeckt. Dazu kommt, dass die zu wenigen Erhaltungsmittel des Bundes für die Fernstraßen teilweise durch die Bundesländer für Neubaumaßnahmen genutzt werden. Die Bundesregierung duldet dies sehenden Auges. Priorität haben politisches Potenzial und Öffentlichkeitswirksamkeit von Herrn Ramsauers Investitionsentscheidungen, nicht etwa volkswirtschaftlicher Nutzen oder Zukunftsfähigkeit. Besonders deutlich wird dies beim Blick auf das Schienennetz. Auf der Schiene stehen nach wie vor Prestigeprojekte für die Bundesregierung im Vordergrund, egal was sie kosten und wie sinnvoll sie sind. Stuttgart 21 ist dafür nur ein Beispiel. Internationale Verpflichtungen wie die zum Ausbau der Rheinschiene oder effektive Ausbaumaßnahmen an Knoten müssen nach Herrn Ramsauers Politikverständnis zurücktreten. Gerade für die Eisenbahn sehe ich ein hohes Entwicklungspotenzial. Außerdem halte ich den Ausbau dieses Verkehrsträgers aus Sicht des Umweltund Klimaschutzes für dringend geboten. Schließlich ist sie sehr viel energieeffizienter als der Pkw. Auf der Schiene hat sich die Elektromobilität längst bewährt. Die Bahn ist sicherer als das Auto. Nur muss sie insgesamt attraktiver werden und stärker zum Umsteigen einladen. Eine Reihe von Maßnahmen sind dafür dringend erforderlich. Wir wollen einen fairen Wettbewerb zwischen den Verkehrsträgern. Das heißt für uns insbesondere die Ausweitung der Lkw-Maut. An den Einnahmen ist die Schiene auch künftig zu beteiligen. Externe Kosten sind bei allen Verkehrsträgern zu internalisieren; auch das stärkt die Bahn. Die Investitionen in das Schienennetz sind aufzustocken. Dabei sollten auch die nichtbundeseigenen Netze mit Bundesmitteln gefördert werden. Wir benötigen einen DeutschlandTakt im Schienenpersonenverkehr. Der Schwerpunkt der Investitionen muss zunächst auf der Beseitigung von Flaschenhälsen liegen, nicht auf der Errichtung unnötiger Prestigeprojekte. Wir wollen einen angemessenen Lärmschutz erreichen; denn der schafft Akzeptanz für diesen Verkehrsträger. Der Schienenbonus gehört endlich abgeschafft. Wir fordern, dass die internationalen Korridore rasch mit dem Zugleitund -sicherungssystem ERTMS/ETCS ausgestattet werden. Analog zur Straße gehören regionale Schienennetze in die Hand der Bundesländer. Wir brauchen eine bessere Kontrolle der Deutschen Bahn AG. Derzeit gleicht sie einer Black Box. Dafür ist die Leistungsund Finanzierungsvereinbarung entsprechend zu korrigieren. Außerdem sollte die Bundesnetzagentur mit besseren Kontrollrechten ausgestattet werden. Und nicht zuletzt gehören die unsäglichen Quersubventionierungen abgeschafft. Gewinne der Infrastrukturen müssen ins Netz reinvestiert werden und dürfen in Zukunft nicht in andere Sparten gepumpt werden. Allein bei Betrachtung des Verkehrsträgers Schiene wird deutlich: Es ist höchste Zeit, die Investitionspolitik neu auszurichten. Ich habe allerdings keine Hoff Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Anton Hofreiter nung, dass Minister Ramsauer in den verbleibenden Monaten bis zum Ende der Legislaturperiode hierzu einen Erkenntniszuwachs erlangt. Herrn Ramsauers Erbe aus der jetzigen Wahlperiode ist leider eine schwere Bürde für die künftige Hausspitze; denn sie muss eine Reihe von Fehlentscheidungen ausbügeln. Umso dringender ist der Handlungsbedarf der künftigen Bundesregierung, die Investitionen im Verkehrssektor zukunftsträchtig zu tätigen. Wir brauchen zum Ende des Jahres endlich eine ambitionierte und couragierte Verkehrspolitik. Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be schlussempfehlung des Ausschusses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung auf der Drucksache 17/8386. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/5022 mit dem Titel „Stillstand in der Verkehrspolitik überwinden – Zukunftskommission zur Reform der Infrastrukturfinanzierung einrichten“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegenprobe! – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der SPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen angenommen. Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/1971 mit dem Titel „Grundlegende Neuausrichtung der Verkehrsinvestitionspolitik für Klimaund Umweltschutz, Barrierefreiheit, soziale Gerechtigkeit und neue Arbeitsplätze“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung von SPD und Grünen angenommen. Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/1988 mit dem Titel „Durch eine neue Investitionspolitik zu mehr Verkehr auf der Schiene“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung von SPD und Linken angenommen. Tagesordnungspunkt 22: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten im Strafverfahren – Drucksache 17/12578 – Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuss Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Reden zu Protokoll genommen. Der Europäische Rat hat in seiner Entschließung vom 30. November 2009 einen Fahrplan zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen oder Beschuldigten in Strafverfahren vorgesehen. Die in diesem Fahrplan vorgesehenen Maßnahmen A und B sind das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren sowie das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren ist in der Richtlinie 2010/64/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Oktober 2010 festgehalten. Die Richtlinie 2012/13/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 22. Mai 2012 regelt das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf zur Stärkung der Verfahrensrechte von Beschuldigten in Strafverfahren sollen die diesbezüglichen europarechtlichen Vorgaben in nationales Recht umgesetzt werden. Nach deutschem Recht bestehen schon jetzt weitgehende Regelungen zu den in der Richtlinie geforderten Informationsund Teilhaberechten von beschuldigten Personen in Strafverfahren. Dies ist vor allem dem Umstand geschuldet, dass die Bundesrepublik Deutschland sich schon immer für die Schaffung dieser gemeinsamen Mindeststandards innerhalb der Europäischen Union eingesetzt hat. Es besteht mithin nur in wenigen Teilen Anpassungsbedarf. Dies sind Bereiche, in denen durch die europäischen Vorgaben einzelne, dem geltenden Strafverfahrensund Gerichtsverfassungsrecht bereits bekannte, Gewährleistungen noch weiter ausgebaut werden. Hinsichtlich des Rechts auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren konzentriert der vorliegende Gesetzentwurf die notwendigen Anpassungen in § 187 GVG. Bereits aus Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK ergibt sich der grundlegende Anspruch einer beschuldigten oder verurteilten Person auf unentgeltliche Übersetzungsoder Dolmetschleistungen während des gesamten Strafverfahrens. Schon nach bisheriger Rechtslage und Praxis wurde diesem grundlegenden Anspruch Rechnung getragen. Der Gesetzentwurf schlägt daher in § 187 Abs. 1 Satz 1 GVG-E lediglich eine geringfügige sprachliche Anpassung der derzeit geltenden Regelung vor und ergänzt einen neuen § 187 Abs. 1 Satz 2 GVG-E. Die Richtlinie 2012/13/EU sieht in Art. 3 Abs. 1 Buchstabe d eine Belehrungspflicht hinsichtlich des Rechts auf Dolmetschleistungen vor. Diese Vorgabe wird im neuen Satz 2 normiert. In § 187 Abs. 2 GVG-E wird der Anspruch auf Übersetzung inhaltlich ausgestaltet. Dieser Anspruch auf Übersetzung dient der Umsetzung von Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU. In der Regel ist nach dem Ge Dr. Patrick Sensburg setzentwurf eine schriftliche Übersetzung von freiheitsentziehenden Anordnungen sowie von Anklageschriften, Strafbefehlen und nichtrechtskräftigen Urteilen erforderlich. Eine lediglich auszugsweise Übersetzung reicht nach § 187 Abs. 2 Satz 2 GVG-E aber dann aus, wenn schon dadurch die Verteidigungsrechte der beschuldigten Person ausreichend gewahrt werden. Ein vollständiges Absehen von der schriftlichen Übersetzung soll schließlich nach Maßgabe der Sätze 4 und 5 möglich sein. Hiernach kann dem Beschuldigten anstelle der schriftlichen Übersetzung lediglich eine mündliche Übersetzung oder eine mündliche Zusammenfassung der wesentlichen Unterlagen zur Verfügung gestellt werden, soweit das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 3 Buchstabe e EMRK gewährleistet ist. Als Regelbeispiel für die fehlende Notwendigkeit einer schriftlichen Übersetzung nennt § 187 Abs. 2 Satz 5 GVG-E den Fall des verteidigten Angeklagten. Gemäß § 187 Abs. 3 GVG-E kann die beschuldigte Person auf die Übersetzung verzichten, wenn sie zuvor belehrt wurde. Belehrung und Verzicht sind zu dokumentieren. Mit dieser Regelung wird Art. 3 Abs. 8 der Richtlinie 2010/64/EU umgesetzt. § 187 Abs. 4 GVG-E entspricht dem bisher geltenden § 187 Abs. 2 GVG. Auch § 189 GVG wird geringfügig geändert. Es wird ein neuer Abs. 4 eingefügt. Dieser dient der Umsetzung des Art. 5 der Richtlinie 2010/64/EU. Im neuen Abs. 4 wird festgelegt, dass der Dolmetscher oder Übersetzer „über Umstände, die ihm bei seiner Tätigkeit zur Kenntnis gelangen, Verschwiegenheit wahren“ muss. Diese Ergänzung ist notwendig, da die Verpflichtung aller herangezogenen Dolmetscher zur Verschwiegenheit nach aktueller Rechtslage nicht einheitlich normiert ist. Hinsichtlich des Rechts auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren wurden nur punktuell Erweiterungen der Vorschriften der StPO vorgenommen. So findet sich in § 37 Abs. 3 StPO-E nun die Regelung, dass in den Fällen des § 187 Abs. 1 und 2 GVG-E „das Urteil zusammen mit der Übersetzung“ zuzustellen ist. § 114 b Abs. 2 Satz 2 StPO-E legt fest: „Ein Beschuldigter, der der deutschen Sprache nicht hinreichend mächtig ist oder der höroder sprachbehindert ist, ist in einer verständlichen Sprache darauf hinzuweisen, dass er nach Maßgabe des § 187 Absatz 1 bis 3 des Gerichtsverfassungsgesetzes für das gesamte Strafverfahren die unentgeltliche Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers beanspruchen kann.“ Durch diese Regelung wird die in Art. 3 Abs. 1 Buchstabe d der Richtlinie 2012/13/EU vorgesehene Belehrungspflicht hinsichtlich des Rechts auf Dolmetschleistungen umgesetzt. § 136 Abs. 1 Satz 3 StPO-E schließlich ergänzt die bisherige Rechtslage um den Zusatz „und unter den Voraussetzungen des § 140 Absatz 1 und 2 die Bestellung eines Verteidigers beanspruchen“. Art. 3 Abs. 1 Buchstabe b der Richtlinie 2012/13/EU schreibt eine Belehrung des Beschuldigten über einen möglichen Anspruch auf unentgeltliche Rechtsberatung vor. Ein solcher Hinweis erfolgte nach geltender Rechtslage grundsätzlich nicht. Daher ist eine entsprechende Ergänzung notwendig. Am 1. Februar 2013 nahm der Bundesrat zu dem Gesetzentwurf Stellung. In seiner Stellungnahme kritisiert er die drei folgenden Punkte: Zunächst wirft der Bundesrat die Frage auf, ob die Regelung in § 189 Abs. 4 GVG-E nicht klarer gefasst werden müsste und ob sie in § 189 GVG richtig verortet ist. Weiter meint der Bundesrat in seiner Stellungnahme, dass die in § 114 b Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 a StPO-E vorgesehene Belehrung über einen Anspruch des Beschuldigten auf Bestellung eines Verteidigers in den Fällen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO im Widerspruch zur Vorschrift des § 141 Abs. 1 und 3 StPO steht. Danach erfolgt die Bestellung eines Pflichtverteidigers während des Vorverfahrens bis zum Abschluss der Ermittlungen Antrag der Staatsanwaltschaft. Ein Antrag des Beschuldigten ist nach herrschender Meinung in diesem Verfahrensstadium lediglich als Anregung an die Staatsanwaltschaft zu behandeln. Diese Einschränkung sollte auch in der Belehrung und damit im Gesetzestext zum Ausdruck kommen, um entsprechenden Fehlvorstellungen beim Beschuldigten vorzubeugen. Eine Klarstellung nur in der Begründung des Gesetzentwurfs reicht hierfür nicht aus. Schließlich führt der Bundesrat aus, dass die in § 136 Abs. 1 Satz 3 StPO-E vorgesehene Belehrung über einen Anspruch des Beschuldigten auf Bestellung eines Verteidigers in den Fällen des § 140 Abs. 1 und 2 StPO im Widerspruch zur Vorschrift des § 141 Abs. 1 und 3 StPO steht. Danach erfolgt die Bestellung eines Pflichtverteidigers während des Vorverfahrens bis zum Abschluss der Ermittlungen lich nur auf Antrag der Staatsanwaltschaft. Ein Antrag des Beschuldigten ist nach herrschender Meinung in diesem Verfahrensstadium lediglich als Anregung an die Staatsanwaltschaft zu behandeln. Diese Einschränkung sollte auch in der Belehrung und damit im Gesetzestext zum Ausdruck kommen, um entsprechenden Fehlvorstellungen beim Beschuldigten vorzubeugen. Eine Klarstellung nur in der Begründung des Gesetzentwurfs reicht hierfür nicht aus. Zu der vom Bundesrat unter Punkt eins angebrachten Kritik führt die Bundesregierung zutreffend aus, dass im weiteren Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens noch zu prüfen ist, ob der gewünschte Regelungsinhalt des § 189 Abs. 4 GVG-E über die Verpflichtung der Dolmetscher und Übersetzer zur Verschwiegenheit im Wortlaut noch klarer zum Ausdruck gebracht werden kann. Auch bei einer etwaigen Änderung der Norm Zu Protokoll gegebene Reden Dr. Patrick Sensburg werden indes der Ausnahmecharakter der bundesgesetzlichen Vorschrift, der die Dolmetschergesetze der Länder unberührt lässt, sowie die generelle Hinweispflicht des Gerichts als Kernelemente der Regelung beizubehalten sein. Hinsichtlich des Standorts der Regelung besteht allerdings kein weiterer Prüfbedarf. Den anderen beiden in der Stellungnahme des Bundesrates angesprochenen Punkten ist nach meiner Meinung auch im parlamentarischen Verfahren zuzustimmen. Änderungsbedarf besteht insoweit allerdings nicht, da die Gesetzesbegründung hierzu alles Notwendige ausführt. Wir werden in dem nun anstehenden parlamentarischen Verfahren alle noch offenen Punkte zu klären wissen. Damit wird der vorliegende Gesetzentwurf ein weiterer Erfolg der christlich-liberalen Koalition werden. Nach dem gerade verabschiedeten Gesetz zur Intensivierung der Videokonferenztechnik in staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen Verfahren wird es uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf gelingen, weitere maßgebliche Verbesserungen in Strafverfahren zu implementieren. Wir beraten heute über einen Gesetzentwurf der Bundesregierung, der die Umsetzung zweier EURichtlinien zur Stärkung der Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren zum Gegenstand hat. Dabei handelt es sich zum einen um die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren und zum anderen um die Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Diese Richtlinien aus den Jahren 2010 und 2012 dienen dem langfristigen Ziel, Verfahrensrechte von Verdächtigen und Beschuldigten in Strafverfahren zu stärken. Hierzu hatte die EU bereits 2009 einen umfassenden Fahrplan aufgestellt. Der Gesetzentwurf, der lediglich die Richtlinien umsetzt, sieht überwiegend nur punktuelle inhaltliche oder nur sprachliche Änderungen vor, da die angestrebten Mindeststandards von Verfahrensrechten in Deutschland bereits fester Bestandteil des Gerichtsverfassungsgesetzes und der Strafprozessordnung sind. Es gibt einige wichtige Neuerungen. Zu nennen sind die neuen Belehrungsund Dokumentationspflichten. Insbesondere die Belehrungspflichten greifen jetzt früher und sind weiter gefasst. Beschuldigte müssen in Zukunft bereits bei der Festnahme über mögliche Rechtsbehelfe und die Möglichkeit zur Einsichtnahme in Aktenabschriften bei fehlender Verteidigung unterrichtet werden. Das sind zweckmäßige und wichtige Regelungen. Insgesamt werden in diesem Gesetzentwurf die EURichtlinien in nationales Recht umgesetzt. Die Regelungen sind meiner Ansicht nach auch richtig und notwendig. Der vorliegende Gesetzentwurf dient der Umset zung europäischen Rechts. Dabei geht es zum einen um das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen im Strafverfahren und zum anderen um das Recht auf Belehrungen und Unterrichtungen in Strafverfahren. Die Erweiterung der Rechte des Beschuldigten im Hinblick auf Belehrungspflichten sowie Dolmetschund Übersetzungsleistungen sind positiv zu bewerten. Sie tragen dazu bei, dass die Waffengleichheit im Verfahren hergestellt wird. Die durch die vorliegenden Richtlinien auf europäischer Ebene nun endlich in Angriff genommene europaweite Herstellung von einheitlichen Mindeststandards bei Verfahrensrechten von Beschuldigten erfolgt zwar sehr spät, nämlich nach bereits umgesetzten Rechtsakten zur Anerkennung von – nach hiesigen Maßstäben nicht rechtsstaatlich zustande gekommenen – ausländischen Haftbefehlen und anderen Verfolgungsmaßnahmen. Dennoch sind die damit verbundenen Verbesserungen für die Beschuldigten zu begrüßen. Insbesondere die Verschwiegenheitspflicht für Dolmetscher erscheint uns angemessen und sinnvoll. Dolmetscher agieren in den in Rede stehenden Fällen quasi als Scharnier. Diese Scharnierfunktion macht es aus unserer Sicht notwendig, sie der Verschwiegenheitspflicht zu unterwerfen. Dies insbesondere deshalb, weil auch für die Beschuldigten Vertrauen in Dolmetscher eine Voraussetzung ist, um ein faires Verfahren zu gewährleisten. Auch die Regelungen zur Umsetzung der Richtlinie im Bereich der förmlichen Belehrungen und der Frage der Akteneinsicht finden wir begrüßenswert. Hier zeigt die Bundesregierung, dass ein Interesse an Waffengleichheit im Verfahren hergestellt wird. Den positiven Umsetzungsakten stehen allerdings Regelungen gegenüber, die Wirkung zulasten der Beschuldigten entfalten. Es ist aus unserer Sicht nicht hinzunehmen, dass die Neureglung in § 187 Abs. 2 GVG davon ausgeht, dass eine mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung wesentlicher Unterlagen im Regelfall ausreicht, sofern der Beschuldigte einen Verteidiger hat. Art. 3 der Richtlinie 2010/64/EU besagt eindeutig: „Die Mitgliedstaaten stellen sicher, dass verdächtige oder beschuldigte Personen, die die Sprache des Strafverfahrens nicht verstehen, innerhalb einer angemessenen Frist eine schriftliche Übersetzung aller Unterlagen erhalten, die wesentlich sind, um zu gewährleisten, dass sie imstande sind, ihre Verteidigungsrechte wahrzunehmen, und um ein faires Verfahren zu gewährleisten.“ Zu den „wesentlichen Unterlagen“ zählen nach der Richtlinie aber eben „jegliche Anordnung einer freiheitsentziehenden Maßnahme, jegliche Anklageschrift und jegliches Urteil“. Der Wortlaut „jegliches Urteil“ heißt dann aber eben auch rechtskräftige Urteile. Aus unserer Sicht kann sich die Bundesregierung bei der Neuregelung des § 187 Abs. 2 GVG gerade nicht auf die Ausnahme der Richtlinie berufen. Diese erlaubt eine mündliche Übersetzung oder Zu Protokoll gegebene Reden Halina Wawzyniak mündliche Zusammenfassung gerade nur, wenn dies „einem fairen Verfahren nicht entgegensteht“. Die pauschale Annahme der Bundesregierung, sofern ein Verteidiger zur Verfügung stehe, reiche eine mündliche Zusammenfassung oder Übersetzung aus, ist aus unserer Sicht nicht von der Ausnahmeregelung gedeckt. Sachgerechter wäre aus Sicht der Linken gewesen, die Formulierung der Ausnahme in die Neuregelung des § 187 Abs. 2 GVG zu übernehmen um somit im Einzelfall eine Abwägung treffen zu können, ob eine mündliche Übersetzung oder mündliche Zusammenfassung ausreichend ist. Die Tatsache, dass die juristische Sprache an sich schon für viele Menschen mit gewissen „Übersetzungsschwierigkeiten“ verbunden ist, macht es aus unserer Sicht notwendig, dem Beschuldigten eine Auseinandersetzung in seiner eigenen Sprache im Detail und nicht im Rahmen einer Zusammenfassung oder gar mündlichen Übersetzung zu gewähren. Nur das sichert aus unserer Sicht wirkliche Waffengleichheit. Insbesondere die Tatsache, dass bei rechtskräftigen Urteilen nicht einmal eine mündliche Übersetzung oder Zusammenfassung vorgesehen ist, scheint uns mit der Richtlinie nicht vereinbar zu sein. Wie das so ist, wenn einerseits positive Dinge und andererseits negative Dinge in Gesetzentwürfen stehen, werden wir uns bei diesem Gesetzentwurf enthalten. Es sei denn, Sie denken über die Änderung des § 187 Abs. 2 GVG noch einmal nach. Der Vertrag von Lissabon hat mit Inkrafttreten am 1. Dezember 2009 den Weg frei gemacht für eine demokratisch besser legitimierte und an gemeinsamen Grundsätzen orientierte Innenund Justizpolitik der Europäischen Union. Auf dem Weg zu gemeinsamen rechtsstaatlichen Mindeststandards wurde von uns Grünen wiederholt angemahnt, das Ungleichgewicht zwischen Regelungen im exekutiv-repressiven Bereich und der effektiven rechtlichen Absicherung der Verfahrensrechte zu beseitigen. Der große Wurf in Form einer umfassenden Richtlinie zur Stärkung der Verfahrensrechte auf europäischer Ebene ist jedoch gescheitert. Stattdessen hat die Europäische Kommission im November 2009 einen „Fahrplan zur Stärkung der Rechte von Verdächtigen oder Beschuldigten im Strafverfahren“ vorgelegt. Von sechs Maßnahmen dieses Fahrplans sind bisher Richtlinien zu lediglich zwei Maßnahmen verabschiedet worden: die Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen in Strafverfahren und die Richtlinie über das Recht auf Belehrung und Unterrichtung in Strafverfahren. Die Richtlinie über das Recht auf Rechtsbeistand in Strafverfahren und das Recht auf Kontaktaufnahme bei der Festnahme befindet sich noch im europäischen parlamentarischen Verfahren. Andere Maßnahmen, wie die besonderen Garantien für schutzbedürftige Beschuldigte, ein Grünbuch für die Untersuchungshaft und insbesondere ge meinsame Mindeststandards für die Prozesskostenhilfe, stehen noch aus. Die Bundesregierung hat nun einen Gesetzentwurf vorgelegt, der die Vorgaben der Richtlinien bezüglich der Dolmetscherleistungen und Übersetzungen sowie der Belehrungen in Strafverfahren umsetzen soll. In der Begründung des Gesetzentwurfs schätzt die Bundesregierung den Umsetzungsbedarf in diesen Bereichen der Beschuldigtenrechte in Deutschland als gering ein und erklärt, es seien lediglich punktuelle Änderungen des deutschen Rechts notwendig. Die Konsequenzen dieser Fehleinschätzung zeigen sich in den grundlegenden Mängeln des Gesetzentwurfs. Die Bundesregierung setzt die Richtlinienvorgaben vollkommen unvollständig und nach dem Motto: „So viel wie unbedingt nötig, so wenig wie irgendwie möglich“ um. Dabei verkennt die Bundesregierung nicht nur, dass auf dem Gebiet der Schaffung einer europäischen Rechtsstaatlichkeit mehr getan werden muss als das unbedingt Notwendige, sondern sie ignoriert auch, dass der Gesetzentwurf wesentliche Vorgaben beider Richtlinien für Mindeststandards der Verfahrensrechte unterschreitet. So werden beispielsweise Richtlinienvorgaben bezüglich des Rechts auf Belehrung im Zusammenhang mit dem Verfahren des europäischen Haftbefehls überhaupt nicht umgesetzt. Die Rechte Beschuldigter im Auslieferungsverfahren, welches auf der Festnahme aufgrund eines europäischen Haftbefehls erfolgt – diese sieht die Richtlinie ausdrücklich vor –, kommen im Gesetzentwurf der Bundesregierung ebenso wenig vor wie die gesetzliche Regelung, dass der Betroffene eine schriftliche Übersetzung des gegen ihn erstellten europäischen Haftbefehls erhält. Auch bei der Ausgestaltung des Regel-AusnahmeVerhältnisses im Rahmen der schriftlichen Übersetzung von wesentlichen Unterlagen geht der Umsetzungsentwurf der Bundesregierung am Geist der Richtlinie vorbei. Andererseits ist bisher das Verfahren der Beantragung und Beschlussfassung der Dolmetscherbestellung samt Rechtsmitteln in Deutschland überhaupt nicht gesetzlich geregelt. Die Umsetzung gibt den Anlass, hier nachzuarbeiten. Aber der Entwurf enthält dazu nichts. All diese offenen Punkte und ihre Umsetzung müssen dringend in einer Sachverständigenanhörung geklärt werden. Alles in allem hat der Gesetzentwurf der Bundesregierung seinen Titel nicht verdient. Von einer Stärkung der Verfahrensrechte kann hier bisher wohl kaum die Rede sein. Vielmehr ist der Entwurf offensichtlich lediglich aus der Kostenvermeidungsperspektive heraus geschrieben worden. Solche Discount-Verfahrensrechte dürfen sich Deutschland und Europa nicht erlauben. Wir Grüne wollen keine europäische Justizpolitik auf dem kleinsten Nenner, sondern in Deutschland und Europa hohe Standards, Rechtsschutz und Rechtsstaatlichkeit. Der Gesetzentwurf der Zu Protokoll gegebene Reden Jerzy Montag Bundesregierung muss im parlamentarischen Verfahren dringend rechtsstaatlich angereichert werden. In dieser Form kann er von uns nur abgelehnt werden. D Wir beraten heute mit dem Gesetz zur Stärkung der Beschuldigtenrechte im Strafverfahren die nationale Umsetzung der ersten beiden EU-Richtlinien zur Schaffung europäischer Mindeststandards für Beschuldigte. Deutschland hat sich bei der Erarbeitung der sogenannten Roadmap „Beschuldigtenrechte“ stets vehement für solche Regelungen eingesetzt. Deshalb ist es wichtig, dass wir jetzt die wenigen in unserem Recht erforderlichen Anpassungen zeitgerecht, also noch in dieser Legislaturperiode, vornehmen. Dabei haben wir sowohl im Bereich der Übersetzungsund Dolmetschleistungen als auch bei den Informationsund Belehrungsrechten des Beschuldigten insgesamt nur geringen Umsetzungsbedarf. Denn die deutschen Staatsanwaltschaften und Gerichte haben bereits bisher die Vorgaben an Übersetzungen und Belehrungen, die namentlich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte aufgestellt hat, respektiert und beachtet. Das deutsche Strafverfahrensrecht ist von dem Grundsatz geprägt, dass der Beschuldigte kein bloßes Objekt des Verfahrens sein darf. Vielmehr muss er zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Strafverfahrens Einfluss nehmen können. Das deutsche Recht nimmt daher schon heute besondere Rücksicht auf Personen, die nicht über ausreichende Sprachkenntnisse verfügen oder hörbzw. sprachbehindert sind. Soweit dies erforderlich ist, räumt es ihnen einen Anspruch auf Hinzuziehung eines Dolmetschers oder Übersetzers ein. Auch die Information des Beschuldigten über seine Verteidigungsrechte ist bereits nach geltender Rechtslage Pflicht für sämtliche Ermittlungsbehörden. Deutschland verfügt also im Bereich der Mindestrechte des Beschuldigten im Strafverfahren bereits über ein hohes Schutzniveau. Gesetzgeberischer Handlungsbedarf besteht deshalb nur in wenigen Teilbereichen, in denen durch die europäischen Vorgaben einzelne, dem geltenden Verfahrensrecht bereits bekannte Gewährleistungen noch weiter konkretisiert werden. Kernpunkt bei der Umsetzung der Richtlinie über das Recht auf Dolmetschleistungen und Übersetzungen ist die Schaffung einer ausdrücklichen gesetzlichen Pflicht zur schriftlichen Übersetzung verfahrenswichtiger Dokumente, insbesondere von Strafurteilen. Der Neuregelung liegt dabei folgender Gedanke zugrunde: Liegt ein für die Wahrung der Verteidigungsrechte wichtiges Dokument vor, ist dieses grundsätzlich schriftlich zu übersetzen. Das entspricht dem Leitbild der Richtlinie. Der Gesetzentwurf führt hierzu beispielhaft weitere wichtige Dokumente an, etwa den Strafbefehl oder die Anklageschrift. Hierdurch wird einerseits das in der Praxis zu beachtende Schutzniveau konkretisiert, ohne andererseits die Rechtspflege mit einem starren Katalog an einer sachgerechten Lösung des Einzelfalles zu hindern. Abweichungen vom Grundsatz der Übersetzungspflicht sind – entsprechend den in der Richtlinie verankerten Ausnahmetatbeständen – möglich, bedürfen aber gesonderter Begründung. Dabei muss das Gericht nach seinem pflichtgemäßen Ermessen entscheiden, ob eine lediglich teilweise schriftliche Übersetzung oder die bloß mündliche Übertragung eines Dokuments die Verteidigungsrechte des Beschuldigten ausreichend wahrt. Der Gesetzentwurf nennt hierfür exemplarisch den Fall, dass der Beschuldigte durch einen Verteidiger bei der Wahrung seiner Rechte unterstützt wird. Verkürzt lässt sich zusammenfassen: Die vorgeschlagene Regelung dient einer praxisgerechten Ausgestaltung der neuen EU-Vorgaben zur Übersetzungspflicht. Der Beschuldigte kann grundsätzlich eine vollständige Übersetzung der für seine Verteidigung notwendigen Dokumente verlangen. Das Gericht kann aber im begründeten Einzelfall hiervon abweichen. Die Praxis und nicht zuletzt auch die Haushalte der Bundesländer sollen also nicht mit einer starren und von der Richtlinie in diesem Umfang auch keineswegs geforderten generellen Übersetzungspflicht belastet werden. Weiterhin sieht die Neuregelung die Möglichkeit eines Verzichts des Beschuldigten auf die schriftliche Übersetzungsleistung vor, wobei sie sich auch hier eng am Wortlaut der Richtlinie orientiert. Zudem soll die jeweils als Dolmetscher oder Übersetzer eingesetzte Person zur Verschwiegenheit angehalten werden, soweit dies nicht bereits aufgrund einer landesrechtlichen Regelung geschehen ist. Bei der weiteren jetzt umzusetzenden Richtlinie, die Belehrungsund Unterrichtungsrechte des Beschuldigten betrifft, sind ebenfalls nur wenige Detailregelungen nötig: Der Gesetzentwurf beschränkt sich hier auf die Ergänzung des geltenden Verfahrensrechts um dort bislang nicht enthaltene Belehrungen und Dokumentationspflichten. Ihnen liegt nach alledem ein sehr kompakter und praxistauglicher Gesetzentwurf vor, der die Vorgaben der beiden Richtlinien effektiv in nationales Recht umsetzt. Ich bin überzeugt, dass der Gesetzentwurf einen ausgewogenen Kompromiss zwischen den europäischen Verpflichtungen auf der einen Seite und den Anforderungen der Rechtspflege auf der anderen Seite darstellt. Das Vorhaben fügt sich zudem in das gewohnte und bewährte Regelwerk des Strafverfahrens ein, ohne die personellen und finanziellen Ressourcen der Bundesländer aus dem Blick zu verlieren. Für die Umsetzung Zu Protokoll gegebene Reden Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler des ersten Teils EU-weiter Mindeststandards für Beschuldigte bitte ich Sie daher um Ihre Zustimmung. Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent wurfs auf Drucksache 17/12578 an den Rechtsausschuss vorgeschlagen. – Anderweitige Vorschläge werden nicht gemacht. Dann ist die Überweisung so beschlossen. Ich rufe die Tagesordnungspunkte 23 a und 23 b auf: a)





(A) (C)


(D)(B)

Dr. Anton Hofreiter (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722835400




(A) (C)


(D)(B)

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722835500
Dr. Patrick Sensburg (CDU):
Rede ID: ID1722835600




(A) (C)


(D)(B)





(A) (C)


(D)(B)

Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1722835700
Halina Wawzyniak (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722835800




(A) (C)


(D)(B)

Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722835900




(A) (C)


(D)(B)

Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1722836000




(A) (C)


(D)(B)

Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722836100
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck

(Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter

und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Nationale Stelle zur Verhütung von Folter
stärken

– Drucksachen 17/11207, 17/12730 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Christoph Strässer
Marina Schuster
Katrin Werner

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss)


– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle
zur Verhütung von Folter

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Jahresbericht 2010/2011 der Nationalen
Stelle zur Verhütung von Folter

– Drucksachen 17/3134, 17/3578 Nr. 1.2, 17/9377,
17/9802 Nr. 5, 17/10085 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Christoph Strässer
Marina Schuster
Katrin Werner
Volker Beck (Köln)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1722836200

Auch wenn heute ein eher formales Thema auf der

Tagesordnung steht, nämlich die finanzielle Ausstat-
tung einer Bundesstelle, so steht dahinter doch nicht
weniger als ein Thema von hoher Brisanz und men-
schenrechtlicher sowie völkerrechtlicher Relevanz:
Wir reden über Folter.

Folter zerstört Leben. Wer Menschen foltert, zielt
darauf ab, eine Persönlichkeit in ihrer Substanz zu er-

schüttern und zerstören. Professor Volker Faust führt

Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1722836300
„Um
ihr Ziel zu erreichen, gehen die Folterer planmäßig
vor. Die psychische Zermürbung muss schrittweise er-
folgen. Das ist ein genau kalkulierter Prozess, der kalt-
blütig und den individuellen Eigenschaften des jeweili-
gen Opfers entsprechend durchgeführt wird. Es hätte
wenig Sinn, sofort mit den härtesten Maßnahmen zu
beginnen. Dem Opfer muss man genügend Zeit lassen,
damit es die Qualen und Erniedrigungen ausgiebig er-
lebt, sich mit ihnen identifiziert und stückweise den
Willen zum Widerstand verliert: ‚Zuerst dachte ich, sie
würden mich totschlagen, darauf war ich gefasst. Und
hätten sie es doch nur getan. Aber das schlimmste wa-
ren die Pausen‘ (Zitat). Der Gefolterte muss völlig
hilflos jeden inneren Halt und jedes Selbstbewusstsein
verlieren, er muss weinen und um Gnade betteln, er
muss in panischer, unkontrollierter Angst Urin und
Stuhl lassen, er muss wünschen, endlich getötet zu
werden, anstatt so dahinzuvegetieren. Grausamer als
der Schmerz ist oft auch das Alleinsein nach der Fol-
ter. Dabei wird man fast verrückt. Man fühlt sich wie
ein Tier, abhängig von der Gnade seines sadistischen
Herrn. So findet sich das Opfer selbst nach seiner Ent-
lassung als körperlich noch irgendwie lebendig wie-
der – jedoch seelisch zerstört. Das ist der Sinn der mo-
dernen Folter.“

Die Folgen von Folter können neben den augenfäl-
ligen oder versteckten körperlichen Schädigungen
auch vielfältige traumatische Störungen sein: phobi-
sche Ängste, Lähmungen, Beziehungsstörungen, Schlaf-
und Konzentrationsstörungen und vieles mehr. Wer
Menschen foltert, zerstört ihr Leben.

Neben den Auswirkungen auf den einzelnen Men-
schen hat Folter auch gravierende zivilisatorische
Konsequenzen. Folter ist ein Kernmerkmal jeder Dik-
tatur. Eine Gesellschaft, die systematisch Folter an-
wendet, schüchtert die Menschen ein, verunsichert sie
in ihrem Sicherheits- und Rechtsbewusstsein. Eine fol-
ternde Regierung hintergeht die Rechtsstaatlichkeit
auf perfide und grausame Weise, sei es, dass diese Fol-
ter aktiv von staatlicher Gewalt angewendet wird, oder
aber dass durch einen Staat Folter billigend in Kauf
genommen wird. Wer Folterer nicht strafrechtlich ver-
folgt, macht sich zum Mittäter.

Auch die Glaubwürdigkeit eines Rechtssystems wird
durch unter Folter erzielte Aussagen unterminiert. Wer
Menschen unter seelischen oder körperlichen Druck
setzt, um Informationen zu bekommen, kann sich ihres
Wahrheitsgehaltes nie wirklich sicher sein. Folter zer-
stört Wahrheit und damit Rechtssicherheit.

Daher verabschiedeten die Vereinten Nationen am
10. Dezember 1984 vor dem Hintergrund der Allge-
meinen Erklärung der Menschenrechte und dem Inter-
nationalen Pakt über bürgerliche und politische
Rechte eine völkerrechtlich verbindliche Anti-Folter-
Konvention. Nach dieser Konvention bezeichnet Folter
„jede Handlung, durch die einer Person vorsätzlich
große körperliche oder seelische Schmerzen oder Lei-





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


den zugefügt werden, zum Beispiel um von ihr oder ei-
nem Dritten eine Aussage oder ein Geständnis zu er-
langen, um sie für eine tatsächlich oder mutmaßlich
von ihr oder einem Dritten begangene Tat zu bestrafen
oder um sie oder einen Dritten einzuschüchtern oder
zu nötigen …“.

Auch die Europäische Konvention zum Schutze der
Menschenrechte enthält in Art. 3 ein niedergeschriebe-
nes Folterverbot. Nach Art. 2, Abs. 1 der VN-Anti-Fol-
ter-Konvention gibt es darüber hinaus eine Aufforde-
rung zur Prävention von Folter: „Jeder Vertragsstaat
trifft wirksame gesetzgeberische, verwaltungsmäßige,
gerichtliche oder sonstige Maßnahmen, um Folterun-
gen in allen seiner Hoheitsgewalt unterstehenden Ge-
bieten zu verhindern.“

Auf dieser völkerrechtlichen Grundlage wurde die
Bundesstelle zur Verhütung von Folter im November
2008 eingerichtet und damit den Verpflichtungen
Deutschlands nachgekommen. Dies stellt der vorlie-
gende Antrag von Bündnis 90/Die Grünen auch fest.
Allerdings nehmen die Verfasser und die Nationale
Stelle zur Verhütung von Folter eine zu geringe perso-
nelle und auch multidisziplinär unausgewogene sowie
eine mangelnde finanzielle Ausstattung der Nationalen
Stelle zur Verhütung von Folter wahr. Und je nach
Maßstab für die Notwendigkeiten der Auftragserfül-
lung ist dies auch nachvollziehbar. Sie fordern daher
eine Änderung der Verwaltungsvereinbarung des Bun-
des und der Länder über die Nationale Stelle zur Ver-
hütung von Folter, um die Mittel für diese erhöhen zu
können.

Die Stelle wird zu einem Drittel vom Bund und zu
zwei Dritteln von den Ländern finanziert. Insgesamt
stehen durch die gemeinsame Finanzierung von Bund
und Ländern dieser nationalen Einrichtung zur Verhü-
tung von Folter 300 000 Euro im Jahr 2013, wie auch
schon 2012, zur Verfügung.

Der Antrag schließt sich an den Änderungsantrag
zum Bundeshaushalt aus dem Monat September 2012
an. Darin wurde eine Erhöhung des Ansatzes für
die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter von
100 000 Euro – Einzelplan 07, Titel 63205 – auf
300 000 Euro gefordert – eine legitime Forderung der
Opposition, deren Angemessenheit hier allerdings zur
Debatte steht.

Was wir dabei nicht diskutieren – und ich bitte, dies
fein säuberlich zu trennen –, ist die fachliche Qualität
und die Kompetenz der Mitarbeiter der Präventions-
stelle, über deren Arbeit uns die Berichte vorliegen
und über die ich mir bei Begegnungen im Bundestag
und beim Besuch einer Justizvollzugsanstalt auch ein
eigenes Bild machen konnte. Hier wird hervorragende
Arbeit geleistet!

Doch nun zum Antrag von Bündnis 90/Die Grünen.
Die Bundesstelle hat durch die große Zahl der zu be-
suchenden Gewahrsamseinrichtungen einen umfang-
reichen Aufgabenbereich. Diese sind jedoch nicht in-
nerhalb einer bestimmten Frist zu inspizieren. Die

Inspektion kann und soll spontan und stichprobenartig
erfolgen. Die Erkenntnisse der Untersuchungen lassen
sich zusammenfassend positiv beschreiben: Die men-
schenrechtliche Situation in den deutschen Gewahr-
samseinrichtungen gibt keinen Anlass zur großen
Sorge. Die baulichen, fachlichen und personellen
Standards in Deutschland sind, vor allem im Vergleich
zu anderen Staaten der Welt, sehr hoch. Die menschen-
rechtliche Situation Inhaftierter ist mindestens gut.

Und sollte tatsächlich ein Verstoß gegen die Anti-
Folter-Konvention vorliegen, bietet Deutschland alle
rechtsstaatlichen Mittel, sich dagegen zur Wehr zu set-
zen, wie der Teilerfolg des Kindermörders Magnus
Gäfgen vor dem Europäischen Gerichtshof für Men-
schenrechte, EGM, im vergangenen Jahr zeigte. Schon
für die Androhung von Folter durch Polizisten wurde
die Bundesrepublik verurteilt. Gerade dieser Einzelfall
zeigt die Seltenheit entsprechender Vorkommnisse.

Daher gilt: Prävention ist wichtig, eine Ausweitung
der Arbeit der Bundesstelle ist angesichts der Fakten-
lage zur Folter, der menschenrechtlichen Gesamtsitua-
tion sowie der verfügbaren Rechtsmittel in Deutsch-
land aber nicht notwendig. Insofern besteht auch für
eine Erhöhung des Betrags im Haushalt kein aktueller
Anlass. Wir halten die momentane Praxis der Stichpro-
ben und Reaktionen auf Hinweise für ausreichend, um
die Pflichten der VN-Anti-Folter-Konvention zu erfül-
len.

Das geht insbesondere aus den vorliegenden Jah-
resberichten der Bundesstelle hervor. Im Jahresbericht
2009/2010 wurden auf der Grundlage von Besuchen
bei der Bundespolizei und der Bundeswehr sowie in
Zusammenarbeit mit der Länderkommission zur Ver-
hütung von Folter Empfehlungen abgegeben. Diese
Empfehlungen zeigen, auf welch hohem Niveau der
Gewahrsam und der Strafvollzug in Deutschland
durchgeführt werden. Tatsächliche Folter konnte nicht
erkannt werden, stattdessen wurden Empfehlungen wie
die nachfolgende gegeben: Bei künftigen Neubauten
solle unbedingt auf einen Tageslichtzugang in den Ge-
wahrsamszellen geachtet werden. Auch bei kurzfristi-
gen Aufenthalten werde dies als dringend notwendig
erachtet. Weiter heißt es, die Hausordnung solle durch
das Bundespolizeipräsidium in die gängigen Sprachen
übersetzt und allen Dienststellen zur Verfügung ge-
stellt werden.

Beide Empfehlungen sind richtig und wichtig, ver-
deutlichen aber, dass bereits stichprobenartige Besu-
che durch die Mitarbeiter der Bundesstelle ausreichen,
um die strukturellen Standards zu überprüfen und Ver-
besserungen vorzuschlagen. Noch deutlicher sind die
Feststellungen im Jahresbericht 2010/2011: Nach Be-
suchen von Einrichtungen der Bundespolizei und der
Bundeswehr gibt die Bundesstelle Empfehlungen ab.
Dem Bericht zufolge wird die Beantwortung von Anre-
gungen und Empfehlungen in der Regel hochrangig
wahrgenommen, jedoch nicht immer zeitgerecht. Die
Aufsichtsbehörden zeigten sich jedoch häufig gegen-
über den Empfehlungen sehr aufgeschlossen. Laut

Zu Protokoll gegebene Reden





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


dem Bericht sind keine Hinweise auf Folter oder ent-
würdigende Behandlung festgestellt worden.

All dies zeigt: Die Bundesstelle arbeitet gut, sie legt
Ergebnisse vor, und ihre Ergebnisse werden von den
Empfängern angemessen rezipiert und grundsätzlich
umgesetzt, auch wenn es zu zeitlichen Verzögerungen
kommt. Angesichts dieser Situation kann man nicht von
einer Unterfinanzierung der Bundesstelle zur Verhü-
tung der Folter sprechen. Meine Fraktion lehnt den
vorliegenden Antrag ab. Nichtsdestotrotz bleibt auch
in Deutschland das Thema Folter auf der Agenda, und
das ist gut so. Wir dürfen hinter unser erreichtes Ni-
veau nicht zurück. Daher begrüße ich ausdrücklich den
Besuch des UN-Unterausschusses für Folterpräven-
tion vom 8. bis 12. April in Deutschland. Bei diesem
Besuch wird es auch um die Frage der Ausgestaltung
und Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung
der Folter gehen.

Die Justizministerkonferenz wird sich im Anschluss
– am 24./25. April – ebenfalls mit der Ausstattung der
Nationalen Stelle beschäftigen. Sollten hier neue fi-
nanzielle Notwendigkeiten sichtbar werden, zeigt sich
auch meine Fraktion gesprächsbereit; denn eines gilt
es in aller Deutlichkeit zu sagen: Folter zerstört. Da-
her ist sie zu verurteilen und zu unterbinden – um der
Menschen willen und zum Schutze der Demokratie.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1722836400

Ich möchte meiner Rede ein Zitat voranstellen, wel-

ches Anliegen und Inhalt des Antrages, den wir heute
debattieren, ziemlich genau auf den Punkt bringt.
Albert Schweitzer hat das Wichtigste dazu gesagt, was
man sagen kann; ich zitiere: „Das gute Beispiel ist
nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beeinflussen,
es ist die einzige.“

Ich möchte, dass Sie dieses Zitat im Hinterkopf be-
halten, wenn wir über die Ausstattung unserer deut-
schen Stelle zur Verhütung von Folter reden. Welches
Beispiel geben wir in einer Welt ab, in der der Ruf und
die Reputation von Rechtsstaatlichkeit, Demokratie
und Menschenwürde gerade aufgrund des Verhaltens
eben dieser Rechtsstaaten nicht nur in Konfliktregio-
nen, sondern auch in ihren eigenen Gesellschaften auf
dem Spiel stehen, in einer Situation, in der wir Deut-
sche oft genug in Richtung anderer zeigen und auf die
vollständige Umsetzung internationaler Menschen-
rechtsnormen – zu Recht übrigens – drängen? Die Le-
gitimität dazu haben wir aber nur dann, wenn wir auch
zu Hause unsere Aufgaben erledigen.

Die bei der Kriminologischen Zentralstelle in Wies-
baden angesiedelte Nationale Stelle zur Verhütung von
Folter besteht aus der 2008 eingerichteten Bundesstelle
und der 2010 geschaffenen Länderkommission. Beide
kooperieren eng miteinander. Die Bundesstelle ist für
die etwa 360 Gewahrsamseinrichtungen des Bundes
– Bundespolizei, Bundeswehr, Zoll – zuständig, die
Länderkommission für die weit über 1 000 Gewahr-
samseinrichtungen der Länder – Polizei, Justiz, Psychia-
trien, Heime.

Grundlage der Nationalen Stelle zur Verhütung von
Folter ist das Zusatzprotokoll zur UN-Anti-Folter-
Konvention. Für Deutschland ist es am 3. Januar 2009
völkerrechtlich in Kraft getreten. Es verpflichtet Deutsch-
land, einen nationalen Präventionsmechanismus für
alle Einrichtungen zu schaffen, in denen Menschen die
Freiheit entzogen ist. Dies ist geschehen – aufgrund
der föderalen Struktur institutionell und finanziell
zweigleisig mit der Bundesstelle und der Länderkom-
mission.

Die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter ist
laut ihrem Bericht in Deutschland auf keine Anzeichen
von Folter gestoßen. Dies ist die gute Nachricht. Die
schlechte Nachricht ist, dass sie personell und finan-
ziell absolut unzureichend ausgestattet ist und ihren
gesetzlichen Auftrag nicht erfüllen kann. Die SPD-
Fraktion hat die mangelhafte Ausstattung schon mehr-
mals scharf kritisiert und bereits letzten Herbst bei den
Haushaltsberatungen für 2012 eine Aufstockung bean-
tragt. Und um dies noch einmal zu betonen und kein
Missverständnis aufkommen zu lassen: Es geht nicht
darum, zu bezweifeln, dass in deutschen Gewahrsams-
einrichtungen auf allen Ebenen hohe menschenrecht-
liche Standards eingehalten werden. Es geht darum,
dafür Sorge zu tragen, dass das auch so bleibt – es geht
um Prävention!

Von Anbeginn an litt der nationale Präventionsme-
chanismus in Deutschland an unzureichender finan-
zieller und personeller Ausstattung. Bei einem Budget

(100 000 Euro vom Bund, 200 000 Euro von den Ländern)

Stelle mit fünf ehrenamtlichen Mitgliedern, einer Büro-
kraft und drei wissenschaftlichen Mitarbeitern ihre
umfangreichen Aufgaben nicht erfüllen. Damit ist das
Zusatzprotokoll zwar möglicherweise formal umge-
setzt, nicht aber materiell.

Meine sehr geehrten Damen und Herren von der
Regierungskoalition, in der Beschlussempfehlung zum
Antrag der Grünen heißt es – ich zitiere: „Der Deut-
sche Bundestag begrüßt die Empfehlungen der Natio-
nalen Stelle zur Verhütung von Folter sowie das oft
umgehende Aufgreifen und nachfolgende Umsetzen
der Empfehlungen durch die Bundes- und Länderein-
richtungen. Die intensive Auseinandersetzung der zu-
ständigen Bundes- und Ländereinrichtungen mit dem
Bericht der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter
und die Umsetzung der Empfehlungen in einer Vielzahl
von Fällen sind Beleg für die große Bedeutung der Na-
tionalen Stelle zur Verhütung von Folter innerhalb
Deutschlands.“ Und weiter heißt es dort: „Der Deut-
sche Bundestag zeigt sich erfreut, dass die Nationale
Stelle zur Verhütung von Folter nach eigener Aussage
,auf allen Handlungsebenen auf Offenheit und positive
Resonanz‘ gestoßen ist. Darüber hinaus nimmt der
Deutsche Bundestag erfreut zur Kenntnis, dass der
UN-Antifolterausschuss in seinem nach Art. 19 des
Übereinkommens vorgelegten Bericht die Schaffung
der Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter aus-
drücklich lobt.“

Zu Protokoll gegebene Reden





Christoph Strässer


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(D)(B)


Aufgrund der totalen Unterfinanzierung dieser
Stelle müssen diese Freude und dieses Lob durch die
Bundesregierung in den Ohren der Verantwortlichen,
derjenigen, die den Auftrag zu erledigen haben, wie
blanker Hohn klingen.

Schlimmeres ist in der Stellungnahme der Union
nachzulesen. Zitat: „Nach Auskunft des Leiters der
Bundesstelle zur Verhütung von Folter, Klaus Lange-
Lehngut, könnten in drei Jahren 10 Prozent der Ein-
richtungen besucht werden. Möglicherweise habe dies
ja doch einen ausreichenden präventiven Effekt, schließ-
lich verfahre man in anderen gesellschaftlichen Be-
reichen genauso, so zum Beispiel in der Gastronomie.
Es sei unmöglich, alle Restaurants und sonstigen gast-
ronomischen Einrichtungen regelmäßig zu kontrollie-
ren.“

Es ist schon ein Skandal, dass Sie hier einen Ver-
gleich zwischen der Situation von Gastronomien und
der Verhütung von Folter herstellen. Natürlich ist es
äußerst wichtig, in Deutschland eine qualitativ hoch-
wertige Gastrowirtschaft zu haben. Aber bei der Folter
geht es um beabsichtigte Gewaltstraftatbestände auf
Kosten von Leib und Leben der Betroffenen. Es mag
sein, dass eine schlechte Gastronomie den Gesund-
heitszustand ihrer Gäste gefährdet, aber dass sie es auf
die gezielte Schmerzzufügung oder gar den Tod ihrer
Gäste abgesehen hätte, ist wohl eher unwahrschein-
lich. Ganz abgesehen von der desaströsen Außenwir-
kung, die eine fehlende Ausstattung unserer Stelle zur
Verhütung von Folter weltweit haben kann – auch das
ist in der Gastronomiewirtschaft wahrscheinlich eher
weniger der Fall. Meine sehr geehrten Damen und
Herren von der Union, diesen Vergleich hätten Sie sich
wirklich sparen können. All das muss bei den Verant-
wortlichen einen verheerenden Eindruck hinterlassen
haben.

Nicht ohne Grund hat Professor Hansjörg Geiger
im August 2012 seinen ehrenamtlichen Vorsitz in der
Länderkommission niedergelegt. Nämlich aus Protest
gegen die chronische Unterfinanzierung der Nationa-
len Stelle. Zum Vergleich: Den 300 000 Euro für die
deutsche Stelle zur Verhütung von Folter stehen mehr
als 3 Millionen Euro für den nationalen Präventions-
mechanismus Frankreichs gegenüber. Innerhalb von
drei Jahren konnte in Frankreich fast ein Drittel aller
Gewahrsamseinrichtungen besucht werden. Daran
sollten wir uns orientieren!

Bereits in ihrem Jahresbericht 2009/2010 be-
schreibt die Bundesstelle, dass sie ihre Aufgaben „nur
ansatzweise“ erfüllen konnte, da die vorhandenen per-
sonellen und finanziellen Ressourcen unzureichend
seien. Trotz dieser Kritik wurde die personelle und fi-
nanzielle Ausstattung der Nationalen Stelle nicht ver-
bessert. Die Nationale Stelle bemängelt dies daher in
ihrem Jahresbericht 2010/2011 weiterhin.

Die Präventionsmechanismen Deutschlands zur Ver-
hütung von Folter dürfen kein Feigenblatt sein. Des-
halb haben wir uns auf Bundesebene mehrfach für eine

Erhöhung des Bundesanteils eingesetzt, beim Haus-
haltsentwurf 2013 auf 180 000 Euro. Unsere Ände-
rungsanträge wurden stets von Schwarz-Gelb abge-
lehnt, nicht zuletzt mit dem Hinweis auf den
korrespondierenden Anteil der Länder. Deshalb muss
das Problem von Bund und Ländern gemeinsam gelöst
werden.

Anfang April wird der UN-Unterausschuss für Fol-
terprävention nach Deutschland kommen und sich mit
dem nationalen Präventionsmechanismus befassen.
Die Peinlichkeit der Fragen und noch mehr der Ant-
worten wird hoffentlich zu einer Verbesserung der Aus-
stattung durch Bund und Länder führen.

Deutschland setzt sich weltweit dafür ein, dass mög-
lichst viele Staaten das Zusatzprotokoll zur UN-Anti-
Folter-Konvention ratifizieren und einen nationalen
Präventionsmechanismus schaffen. Bei dessen Ausge-
staltung sollte Deutschland beispielhaft vorangehen;
denn wir befürchten, dass sich menschenrechtlich pro-
blematische Vertragsstaaten an der knappen hiesigen
Ausstattung orientieren könnten. 63 Staaten haben das
Zusatzprotokoll bislang ratifiziert, unter anderem
Aserbaidschan, Mali und Mexiko. Ein schwacher na-
tionaler Präventionsmechanismus geht zulasten jener
Menschen, für die das Zusatzprotokoll geschaffen
wurde. Die Bundesrepublik Deutschland gibt in diesem
Zusammenhang kein gutes Bild ab; denn – ich komme
auf mein Ausgangszitat zurück –: „Das gute Beispiel
ist nicht eine Möglichkeit, andere Menschen zu beein-
flussen, es ist die einzige.“


Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1722836500

Ende des 19. Jahrhunderts war Folter als Praxis

des europäischen Strafrechts so unüblich geworden,
dass Victor Hugo gar zu dem Schluss kam, Folter habe
„aufgehört zu existieren“. Hugos Feststellung be-
schreibt jedoch leider eher einen Trend als eine abge-
schlossene Entwicklung. Zwar hatte die Zahl der Vor-
fälle von Folter in Europa im 19. Jahrhundert im
Vergleich zum Mittelalter tatsächlich stark abgenom-
men, gleichzeitig wurden jedoch in europäischen Ko-
lonien weiterhin Foltermethoden angewandt. Und
auch heute ist Folter in vielen Staaten immer noch
Praxis. Laut Amnesty International werden in mehr als
150 Ländern weltweit Gefangene gefoltert oder miss-
handelt.

Das Verbot der Folter ist ein absolutes Menschen-
recht. Art. 5 der Allgemeinen Erklärung der Men-
schenrechte legt fest: „Niemand darf der Folter oder
grausamer, unmenschlicher oder erniedrigender Be-
handlung oder Strafe unterworfen werden.“

Dieses Verbot gilt ausnahmslos und unmissver-
ständlich, es ist sogenanntes zwingendes Völkerrecht.
Folter ist mit unserem Verständnis von Demokratie,
Rechtsstaat und Menschenrechten unvereinbar.

Die Anti-Folter-Konvention der Vereinten Nationen
legt eine Reihe von Maßnahmen fest, die den Schutz
vor Folter gewährleisten und durchsetzen sollen. Sehr

Zu Protokoll gegebene Reden





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


genau müssen zum Beispiel die Menschenrechte von
Personen, die in Gewahrsam genommen sind, in den
Blick genommen werden. Das asymmetrische Macht-
verhältnis macht sie besonders schutzbedürftig. Im
Rahmen des Europarates gibt es mit dem Europäi-
schen Komitee zur Verhütung von Folter und un-
menschlicher oder erniedrigender Behandlung oder
Strafe bereits seit über 20 Jahren eine unabhängige
Kontrollinstanz, die unangekündigte Inspektionen jeg-
licher Gewahrsamseinrichtungen in allen Mitglied-
staaten vornehmen kann. Das Zusatzprotokoll der VN-
Anti-Folter-Konvention greift diesen Mechanismus auf
internationaler Ebene auf und führt ein System unab-
hängiger Kontrollen durch internationale und natio-
nale Institutionen ein.

Gerade in einem Rechtsstaat wie Deutschland müs-
sen wir immer wieder sicherstellen, dass die Men-
schenrechte besonders Schutzbedürftiger ausreichend
Aufmerksamkeit erfahren. Mit der Einrichtung der Na-
tionalen Stelle zur Verhütung von Folter 2008 hat
Deutschland seine Verpflichtungen aus dem Zusatz-
protokoll der VN-Anti-Folter-Konvention erfüllt und
eine unabhängige Kontrollinstitution auf den Weg ge-
bracht.

An dieser Stelle möchte ich den Mitarbeitern der
Bundesstelle und der Länderkommission für ihren he-
rausragenden Einsatz danken. In den vergangenen
vier Jahren haben sie zahlreiche Gewahrsamseinrich-
tungen in ganz Deutschland überprüft. 2010 und 2011
führte die Nationale Stelle insgesamt 42 Inspektions-
besuche von Justizvollzugsanstalten, psychiatrischen
Kliniken, Abschiebehafteinrichtungen sowie Gewahr-
samseinrichtungen der Polizei, der Bundeswehr und
des Zolls durch.

Zwar vermerkten die Kontrolleure keine Vorfälle
von Folter; sie stellten jedoch in mehreren Fällen inak-
zeptable Missstände fest. Es ist dringend notwendig,
dass wir die Beanstandungen der Nationalen Stelle
sehr ernst nehmen. Ich begrüße es sehr, dass die Emp-
fehlungen, die im Anschluss an die jeweiligen Inspek-
tionen an die zuständigen Aufsichtsbehörden weiterge-
leitet wurden, bereits zu einer ganzen Reihe von
Verbesserungen geführt haben.

Ich weiß, dass die finanzielle und personelle Aus-
stattung der Nationalen Stelle immer wieder in der
Kritik steht. Nicht zuletzt die Nationale Stelle selbst hat
vermehrt auf ihre schwierigen Arbeitsbedingungen
hingewiesen. Auch die Bundesregierung ist sich der
Thematik der Ausstattung durchaus bewusst. Der
10. Bericht der Bundesregierung über ihre Menschen-
rechtspolitik vom Oktober letzten Jahres schlägt eine
Überprüfung der Ausstattung nach dem Vorliegen ers-
ter Praxisberichte vor.

Ich möchte jedoch darauf hinweisen, dass die Bun-
desregierung hier nicht allein in der Verantwortung
steht. Die Ausstattung der Nationalen Stelle wird
durch eine Verwaltungsvereinbarung zwischen Bund
und Ländern geregelt. Diese legt nicht nur ein Fi-

nanzierungsverhältnis von eins zu zwei, sondern
auch die genauen Summen fest. Zur Finanzierung wer-
den durch den Bund 100 000 Euro und durch die Län-
der 200 000 Euro zur Verfügung gestellt. Um eine bes-
sere Ausstattung der Nationalen Stelle zur Verhütung
von Folter zu gewährleisten, muss zunächst diese Ver-
waltungsvereinbarung geändert werden.

Liebe Kollegen und Kolleginnen von den Grünen,
Sie stellen diesen Umstand in Ihrem Antrag richtig
fest, denken ihn aber nicht bis zur letzten Konsequenz
zu Ende. Eine einseitige Anhebung der Haushalts-
mittel durch die Bundesregierung ist nicht möglich.
Bisher gab es zu einer Änderung der bestehenden Ver-
waltungsvereinbarung unter den Ländern keine ein-
heitliche Position. Diese kann die Bundesregierung
auch nicht erzwingen.

Der Vorstoß durch Hessen, das 2012 den Vorsitz der
Justizministerkonferenz innehatte, ist jedoch ein posi-
tives Signal. Auf der Justizministerkonferenz im letzten
November wurde eine Überprüfung der Ausstattung
der Nationalen Stelle beschlossen. Hessen prüft nun
unter Beteiligung des Bundes, ob eine Verbesserung
der Ausstattung notwendig ist, und erarbeitet einen
Vorschlag, wie diese umgesetzt werden kann. Die Emp-
fehlung soll auf der Konferenz der Amtschefinnen und
Amtschefs im April diskutiert werden.

Wir sollten dieser Prüfung nicht vorgreifen. Bevor
wir Forderungen stellen, sollten wir die Bestandsauf-
nahme abwarten und uns dann am Vorschlag der Jus-
tizministerkonferenz orientieren. Der vorliegende An-
trag ist daher abzulehnen, auch wenn ich klar sage:
Wir unterstützen die Arbeit der Stelle ausdrücklich!

Lassen Sie mich noch auf einen letzten Punkt auf-
merksam machen. Obwohl die finanziellen und perso-
nellen Kapazitäten der Nationalen Stelle immer wieder
bemängelt werden, gibt es gleichzeitig Bestrebungen,
ihren Aufgabenbereich auszuweiten. Erst im Januar
wurde bekannt gegeben, dass die Nationale Stelle in
Zukunft auch Kontrollen in deutschen Pflegeheimen
durchführen soll. Ich halte dieses Vorhaben für nicht
unproblematisch.

Verstehen Sie mich nicht falsch: Ich möchte keines-
falls abstreiten, dass es Missstände in Pflegeheimen
gibt, dass Pflegebedürftige einen besonderen Schutz
genießen müssen und dass eine Überwachung inhalt-
lich dem Mandat der Nationalen Stelle zugeordnet
werden kann. Allerdings werden durch den Medizini-
schen Dienst der Krankenversicherung sowie den
Prüfdienst der privaten Krankenversicherungen be-
reits regelmäßige Kontrollen durchgeführt.

Bevor wir der Nationalen Stelle neue Aufgaben zu-
weisen, sollte der Fokus darauf liegen, sie für ihr jetzi-
ges Mandat bestmöglich auszustatten.


Katrin Werner (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722836600

Das Folterverbot ist in allen zentralen Menschen-

rechtsverträgen verankert: in Art. 5 der Allgemeinen
Erklärung der Menschenrechte, in Art. 7 des Interna-

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Werner


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(D)(B)


tionalen Paktes über bürgerliche und politische Rechte
sowie in Art. 3 der Europäischen Konvention zum
Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten.
Darüber hinaus haben gegenwärtig 146 Staaten auch
die UN-Anti-Folter-Konvention ratifiziert. Damit sind
ausreichende vertragsvölkerrechtliche Grundlagen
vorhanden, um die Geißel der Folter endgültig aus der
Welt zu schaffen. Durch die langjährige Anwendungs-
praxis ist das Folterverbot zudem inzwischen als Völ-
kergewohnheitsrecht zu interpretieren.

Es ist einerseits ein beachtlicher Erfolg, wenn mitt-
lerweile offenbar selbst zahlreiche autoritäre Regime
meinen, das Folterverbot als Verhaltenskodex akzep-
tieren zu müssen. Gleichwohl gilt auch hier: Vertrauen
ist gut, Kontrolle ist besser!

Es ist unbestreitbar, dass in zahlreichen Unterzeich-
nerstaaten zum Teil massiv bzw. systematisch gegen
das Folterverbot verstoßen wird: Kasachstan, Belarus,
Sri Lanka und Saudi-Arabien sind einige solcher
Fälle. Jedoch müssen eben auch die USA mit zu die-
sem Kreis gezählt werden wegen ihrer bekannt gewor-
denen „Verhörmethode“ des „Waterboarding“ und
den anderen schrecklichen Folterpraktiken, die vor al-
lem gegenüber Terrorverdächtigen in Guantanamo
systematisch praktiziert wurden.

Das Beispiel Guantanamo lehrt zudem, dass auch
Demokratien nicht per se vor Rückfällen in antihuma-
nistische Zustände gefeit sind, auch wenn dies bei
Diktaturen systembedingt häufiger der Fall ist. Wenn
die Demokratie die Auseinandersetzung mit der Dikta-
tur aber für sich entscheiden will, muss sie sich als das
humanere, politisch freiere und sozial gerechtere Ge-
sellschaftssystem behaupten. Dies verlangt von allen
Demokratien eine Vorbildrolle bei der Einhaltung der
Menschenrechte und hohe Standards zu deren Umset-
zung und Anwendung in der gesellschaftlichen Alltags-
realität.

Leider muss bei dem wichtigen Thema Folterprä-
vention festgestellt werden, dass Deutschland seine
Vorbildfunktion als Demokratie geradezu sträflich ver-
nachlässigt. Es gibt zwar formal seit Ende 2008 eine
Bundesstelle zur Verhütung von Folter mit Sitz in
Wiesbaden, die den gesetzlichen Auftrag hat, Orte der
Freiheitsentziehung aufzusuchen und auf mögliche
Missstände zu untersuchen. Bereits in ihrem ersten
Jahresbericht 2009/2010 hat die Bundesstelle jedoch
darauf hingewiesen, dass sie wegen unzureichender
personeller und finanzieller Ressourcen ihren gesetz-
lichen Auftrag bestenfalls „nur ansatzweise“ erfüllen
könne. Der Jahresbericht 2010/2011 knüpft hieran
nahtlos an. Die Bundesstelle ist allein für 360 Gewahr-
samseinrichtungen zuständig. Ihr bisheriges Budget in
Höhe von 100 000 Euro ermöglicht lediglich die An-
stellung von maximal drei wissenschaftlichen Mitar-
beiterinnen und Mitarbeitern in Vollzeit sowie einer
Fachangestellten für Bürokommunikation. Zusammen
mit den jeweiligen Länderkommissionen müssten so-
gar mehrere Tausend Gewahrsamseinrichtungen in
Deutschland überwacht werden, was mit dem gegen-

wärtigen Personaltableau faktisch unmöglich ist. Un-
ser Nachbar Frankreich gibt übrigens bei einer deut-
lich geringeren Gesamtbevölkerungszahl in diesem
Bereich jährlich rund 3,3 Millionen Euro aus!

Das ist nicht nur Ausdruck der typischen Placebo-
politik von Schwarz-Gelb, die wir beim Thema Men-
schenrechte schon zur Genüge kennen. Die Vernach-
lässigung der Folterprävention in Deutschland ist
vielmehr ein handfester politischer Skandal, weil die
Bundesregierung damit bewusst riskiert, dass schlimms-
tenfalls schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen
in bundesdeutschen Gewahrsamseinrichtungen unent-
deckt bleiben und die Betroffenen unter menschen-
rechtslosen Umständen leben müssen. Hierbei hilft
letztlich nur die regelmäßige Kontrolle von außen und
durch unabhängige Dritte, um zu verhindern, dass sich
menschenrechtswidrige Praktiken dauerhaft etablie-
ren können. Genau darum geht es bei der Folterprä-
vention.

Es entspricht einer schallenden Ohrfeige für die
Bundesregierung, dass der UN-Ausschuss gegen Fol-
ter in seinen abschließenden Bemerkungen vom
12. Dezember 2011 zum Fünften Staatenbericht
Deutschlands eben diese Defizite gerügt hat. Wer die
UN-Anti-Folter-Konvention ernst nimmt, kann diese
Kritik nur begrüßen. Solange die Bundesregierung
nämlich immer nur bestimmte Länder wie vor allem
Russland, China, Vietnam, Kuba, Venezuela, Aserbai-
dschan, Serbien, Belarus oder die Ukraine wegen ihrer
Menschenrechtsdefizite durch den Kakao zieht, aber
zu Menschenrechtsverletzungen in befreundeten, west-
lichen bzw. prowestlich orientierten Ländern vornehm
schweigt und ihre eigenen Hausaufgaben unerledigt
lässt, ist sie vollkommen unglaubwürdig. Dies gilt
ebenfalls für die anderen Oppositionsfraktionen. Wie
dem aktuellen „Spiegel“ zu entnehmen ist, betätigen
sich schon seit geraumer Zeit prominente Sozialdemo-
kraten als eifrige Lobbyisten für das Nasarbajew-Re-
gime in Kasachstan, in dessen Gefängnissen Folter auf
der Tagesordnung steht und das friedliche Gewerk-
schaftsproteste zusammenschießen lässt. Wie will die
SPD eigentlich die Defizite bei der Folterprävention in
Deutschland kritisieren, wenn sie gleichzeitig einem
ausländischen autoritären Folterregime dabei hilft,
sein Prestige im Westen aufzupolieren? Der „Spiegel“
bezeichnet Kasachstan sogar als die „Lieblingsauto-
kratie“ der Sozialdemokratie. So sieht also die Dop-
pelmoral der SPD aus: Menschenrechtsverstöße in
Ländern mit unabhängigen politischen Führungen
werden skandalisiert und diejenigen in prowestlichen
kooperationswilligen Diktaturen dürfen sogar noch
schlimmer sein, ohne dass aus der SPD auch nur ein
Laut ertönt! Für die Linke ist klar: Menschenrechts-
verstöße müssen überall und gegenüber jeder Regie-
rung thematisiert werden, die hierfür die politische
Verantwortung trägt – allerdings ohne dabei in der
Pose des Oberlehrers und Moralapostels aufzutreten,
die uns ohnehin niemand abnimmt. Die praktische In-
strumentalisierung der Menschenrechte und die Ver-
wendung von doppelten Standards beruhen immer auf

Zu Protokoll gegebene Reden





Katrin Werner


(A) (C)



(D)(B)


politischem Kalkül. Dafür gibt es von uns keine Unter-
stützung!

Der aktuelle Antrag der Grünen weist dagegen zu
Recht auf die Missstände bei der Folterprävention in
Deutschland hin. Er ist im Analyse- wie im Forde-
rungsteil richtig. Ich will an dieser Stelle auch erwäh-
nen, dass sich die Grünen und die Linke in den
zurückliegenden Haushaltsberatungen im Menschen-
rechtsausschuss wechselseitig bei ihren Änderungsan-
trägen zu Mittelerhöhungen für die nationale Anti-
folterstelle unterstützt haben. Dies zeigt, dass trotz
fortbestehender politischer Unterschiede zwischen
den beiden genannten Oppositionsfraktionen dennoch
Sachentscheidungen zugunsten der Betroffenen mög-
lich sind. Parteitaktische Abgrenzungsrituale sind beim
Thema Menschenrechte völlig fehl am Platz. Und
selbstverständlich stimmt vor diesem Hintergrund die
Linke auch dem vorliegenden Antrag der Grünen zu.


Tom Koenigs (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722836700

Das Verbot von Folter und unmenschlicher Behand-

lung ist eine der wichtigsten Menschenrechtsgarantien
und ein Teil von verschiedenen Menschenrechtsverträ-
gen, die die Bundesrepublik Deutschland ratifiziert
hat. Um unserer menschenrechtlichen Verantwortung
gerecht zu werden und um glaubwürdig für Menschen-
rechte eintreten zu können, müssen auch wir in
Deutschland immer weiter an der Umsetzung und Ver-
wirklichung des Folterverbots arbeiten.

Deshalb hat die Bundesrepublik Deutschland das
Übereinkommen der Vereinten Nationen gegen Folter
und das Zusatzprotokoll zu dem Übereinkommen rati-
fiziert. Dieses Zusatzprotokoll fordert, den Schutz vor
Folter und Misshandlung zu verstärken. Dazu müssen
alle Staaten nationale Präventionsmechanismen er-
richten.

In Deutschland haben wir diese Verpflichtung durch
die Errichtung der Nationalen Stelle zur Verhütung
von Folter allerdings nur der Form nach erfüllt. Sie
hat die Aufgabe, Orte der Freiheitsentziehung aufzusu-
chen, auf Missstände aufmerksam zu machen und den
Behörden Empfehlungen zu unterbreiten. Mit den von
der Bundesregierung zur Verfügung gestellten Mitteln
kann die Nationale Stelle zur Verhütung von Folter
aber ihre Kontrollpflichten nicht erfüllen und damit
auch ihrem gesetzlichen Auftrag nicht nachkommen.

Mit insgesamt weniger als zehn Mitarbeitern für
Bund und Länder, darunter fünf ehrenamtliche Mit-
glieder, können nicht mehrere Tausend Gewahrsams-
einrichtungen in Deutschland regelmäßig besucht und
Missstände aufgedeckt werden. Das ist einfach nicht
möglich, auch wenn die wenigen Mitarbeiter mit den
begrenzten Ressourcen eine hervorragende Arbeit leis-
ten.

Für die ehrenamtliche Leitung der Bundesstelle ist
nur eine einzige Person und noch nicht einmal eine
Stellvertretung vorgesehen. Bei der Abwesenheit des
Bundesstellenleiters, zum Beispiel wenn er krank ist,

können gar keine Inspektionsbesuche durchgeführt
werden. Er allein ist für etwa 360 Gewahrsamseinrich-
tungen des Bundes zuständig. Auf Landesebene sieht
es leider nicht besser aus: Nur vier ehrenamtliche Mit-
arbeiter können für die Länderkommission Kontrollen
der Gewahrsamseinrichtungen der Länder durchfüh-
ren. Das sind fast 2 000 Gewahrsamseinrichtungen,
von denen wir hier reden – die geschlossenen Abtei-
lungen in Altersheimen noch nicht einmal mitgezählt.

International ist Deutschland damit ein Negativbei-
spiel. Frankreich gibt beispielsweise das Zehnfache
aus und stellt über 3 Millionen Euro für seinen natio-
nalen Präventionsmechanismus zur Verfügung. Im Ge-
gensatz zu Deutschland sind nicht fünf ehrenamtliche
Mitglieder angestellt, sondern 16 hauptamtliche Kon-
trolleure in Vollzeit und zusätzliche 16 Kontrolleure in
Teilzeit.

Das Fakultativprotokoll zu dem Übereinkommen
der Vereinten Nationen gegen Folter fordert regelmä-
ßige Besuche. In der Praxis jedoch können Gewahr-
samseinrichtungen im Schnitt nur alle 15 Jahre aufge-
sucht werden. Von regelmäßigen Kontrollen kann also
hier keine Rede sein.

Oft denken wir, das Thema Folter sei in Europa
nicht mehr aktuell. Aber gerade im Zusammenhang mit
der Terrorismusbekämpfung und den außergerichtli-
chen CIA-Flügen wurde deutlich, dass auch hier, mit-
ten in Europa, die Verhinderung von Folter eine Auf-
gabe bleibt, die wir weiter ernst nehmen müssen. Und
darum brauchen wir die Nationale Stelle zur Verhü-
tung von Folter. Ihre Bedeutung darf nicht unterschätzt
werden. Sie leistet wertvolle Arbeit. Dennoch wird die
Nationale Stelle zur Verhütung von Folter von der
Bundesregierung nicht ausreichend gewürdigt, ja gar
stiefmütterlich behandelt.

Auch der VN-Ausschuss gegen Folter kritisiert in
seinen „Abschließenden Bemerkungen“ vom 12. De-
zember 2011 die mangelnde personelle und finanzielle
Ausstattung der Nationalen Stelle und empfiehlt der
Bundesregierung diese „mit angemessenen personel-
len, finanziellen, technischen und logistischen Mitteln
auszustatten“. Der VN-Ausschuss gegen Folter macht
deutlich, dass die Nationale Stelle durch die fehlenden
Ressourcen „an einer angemessenen Erfüllung ihres
Überwachungsauftrags gehindert wird“.

Aus Protest gegen die defizitäre Ausstattung der Na-
tionalen Stelle zur Verhütung von Folter ist im Septem-
ber 2012 Hansjörg Geiger als Mitglied der Länder-
kommission zurückgetreten. Sein Rücktritt war und ist
blamabel für die Bundesregierung. Seine Entschei-
dung überrascht jedoch nicht. Obwohl die Nationale
Stelle zur Verhütung von Folter schon in ihrem ersten
Jahresbericht von 2009/2010 die mangelnde Ausstat-
tung kritisiert hat, wurden die Mittel nicht erhöht. Sie
musste daher ihre Kritik in ihrem Jahresbericht 2010/
2011 wiederholen: „Mit nur fünf ehrenamtlichen Mit-
gliedern und Mitteln für nur drei wissenschaftliche
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sowie einer Fachan-

Zu Protokoll gegebene Reden





Tom Koenigs


(A) (C)



(D)(B)


gestellten für Bürokommunikation sind die Kapazitä-
ten für die regelmäßige Prüfung mehrerer tausend Ge-
wahrsamseinrichtungen absolut unzureichend.“

Auch an der multidisziplinären Aufstellung des Per-
sonals, die das Zusatzprotokoll fordert, fehlt es bisher
noch. Insbesondere für Inspektionsbesuche ist es wich-
tig, dass der Nationalen Stelle Mitglieder mit medizini-
schem und psychiatrischem Sachverstand angehören.
Dies ist bisher nicht der Fall, sodass auf externe Sach-
verständige zurückgegriffen werden muss.

Bis heute ist die Bundesregierung diesen Forderun-
gen der Nationalen Stelle und des VN-Ausschusses ge-
gen Folter nicht nachgekommen. Wir Grüne haben be-
reits am 26. September 2012 einen Haushaltsantrag
eingereicht, der die finanzielle und personelle Ausstat-
tung verbessert hätte. Die Bundesregierung hat unse-
ren Haushaltsantrag abgelehnt, selbst aber keine kon-
struktiven Schritte vorgenommen.

Wir fordern die Bundesregierung deshalb dazu auf,
ihren völkerrechtlichen Verpflichtungen aus dem Fa-
kultativprotokoll zum VN-Übereinkommen gegen Fol-
ter nachzukommen. Der Anteil des Bundes muss auf
mindestens 300 000 Euro erhöht werden, um die Bun-
desstelle in die Lage zu versetzen, ihre Aufgaben in an-
gemessener Weise zu erfüllen. Menschenrechtsinstru-
mente dürfen kein Feigenblatt sein.

Im Mai 2013 findet zum zweiten Mal im Menschen-
rechtsrat der Vereinten Nationen eine Überprüfung
Deutschlands in der Universal Periodic Review statt.
Die Bundesregierung sollte diese Chance ergreifen
und zeigen, dass sie zu der menschenrechtlichen Ver-
antwortung Deutschlands steht. Das UPR-Verfahren
bietet der Bundesregierung eine Plattform, deutlich zu
machen, dass sie glaubwürdig für Menschenrechte ein-
tritt – im eigenen Land und in der Welt. Der Preis für
eine bessere finanzielle und personelle Ausstattung der
Nationalen Stelle zur Verhütung von Folter ist sehr ge-
ring im Vergleich zu dem hohen Wert an Integrität und
Glaubwürdigkeit, den Deutschland dadurch gewinnt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722836800

Wir kommen damit zur Abstimmung über die Be-

schlussempfehlung des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen mit dem Titel „Nationale Stelle zur
Verhütung von Folter stärken“. Der Ausschuss empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12730,
den Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/11207 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-
men der Koalition gegen die Stimmen der Opposition
angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe auf Drucksache 17/10085 zu den Un-
terrichtungen durch die Bundesregierung mit den Titeln
„Jahresbericht 2009/2010 der Bundesstelle zur Verhü-
tung von Folter“ und „Jahresbericht 2010/2011 der Na-

tionalen Stelle zur Verhütung von Folter“. Der Aus-
schuss empfiehlt, in Kenntnis der Unterrichtungen auf
den Drucksachen 17/3134 und 17/9377 eine Entschlie-
ßung anzunehmen. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalition
gegen die Stimmen der Opposition angenommen.

Tagesordnungspunkt 24:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Neure-
gelung der Professorenbesoldung und zur Än-
derung weiterer dienstrechtlicher Vorschriften

(Professorenbesoldungsneuregelungsgesetz)


– Drucksachen 17/12455, 17/12662 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Haushaltsausschuss
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Tankred Schipanski (CDU):
Rede ID: ID1722836900

Am 14. Februar 2012 hat das Bundesverfassungs-

gericht der Klage eines hessischen W-2-Professors
stattgegeben und entschieden, dass dessen Besoldung
nicht den Anforderungen an eine amtsangemessene
Alimentation im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG ent-
spricht. Aufgrund unserer föderalen Ordnung sind die
Länder für die Besoldung der großen Mehrheit der
Professorinnen und Professoren in Deutschland ver-
antwortlich. Auch gilt das Urteil unmittelbar nur für
das Land Hessen. Jedoch besteht aufgrund ähnlicher
Rechtsgrundlagen auch Änderungsbedarf auf Bundes-
ebene. Hier werden in erster Linie Professoren der
Bundeswehrhochschulen sowie das Spitzenpersonal
außeruniversitärer Forschungseinrichtungen von der
Neufassung des Gesetzes profitieren.

Mit der Verabschiedung des Professorenbesol-
dungsgesetzes im Jahr 2002 wurde ein zweigliedriges
Vergütungssystem eingeführt, bestehend aus einem fes-
ten Grundgehalt und variablen Leistungsbezügen. Ich
möchte ausdrücklich hervorheben, dass das BVerfG
am zweigliedrigen Vergütungssystem keinen Anstoß
genommen hat. Deshalb soll es auch beibehalten wer-
den. Zum 1. Januar 2005 löste schließlich die W-Be-
soldung die alte C-Besoldung ab. Um bei gleichblei-
benden Ausgaben finanzielle Spielräume für die
Vergabe von Leistungsbezügen zu erhalten, wurden die
W-Grundgehälter gegenüber der C-Besoldung abge-
senkt.

Das BVerfG hat in seinem Urteil festgestellt, dass
diese Leistungsbezüge keinen alimentativen Charakter
im Sinne von Art. 33 Abs. 5 GG haben und folglich bei
der Klärung der Frage, ob die Besoldung eines Profes-
sors den Anforderungen an eine amtsangemessene Ali-
mentation genügt, nicht einbezogen werden dürfen.





Tankred Schipanski


(A) (C)



(D)(B)


Bei der Urteilsfindung zog das BVerfG Vergleiche mit
den Bezügen in der Besoldungsgruppe A. Das Gericht
kritisierte insbesondere, dass das Grundgehalt eines
W-2-Professors lediglich der Besoldung eines 40-jäh-
rigen Oberregierungsrats entspreche und somit unter-
halb der Eingangsstufe A 15 bzw. der Endstufe A 13
läge. Beim Vergleich zwischen den Besoldungsgruppen
A und W stünden Qualifikation und Besoldung in ei-
nem Missverhältnis.

Mithilfe von drei Veränderungen wollen wir dieses
Missverhältnis nun beseitigen und dem Urteil Rech-
nung tragen:

Erstens sollen die Grundgehälter der Besoldungs-
gruppen W 2 und W 3 angehoben werden. Wie stark
werden die Grundgehälter erhöht? In der Urteils-
begründung wurde deutlich, dass das BVerfG die maß-
gebliche Vergleichsgruppe für W-2-Professoren in Be-
amten der Besoldungsgruppe A 15 sieht; für W-3-
Professoren sind es Beamte der Besoldungsgruppe
A 16. Auf dieses Niveau werden die Grundgehälter für
W-2- und W-3-Professoren künftig angehoben. Mit die-
sem ersten Schritt stellen wir die vom BVerfG ange-
mahnte amtsangemessene Alimentation sicher.

Zweitens werden diese Grundgehälter in Erfah-
rungsstufen gestaffelt. Vorgesehen sind drei Stufen mit
einer Laufzeit von jeweils sieben Jahren; die Endstufe
wird folglich nach 14 Jahren erreicht. Künftig erhält
ein W-2-Professor in Stufe 1 ein Grundgehalt in Höhe
von 5 100 Euro, in Stufe 2 sind es 5 400 Euro und in
Stufe 3 schließlich 5 700 Euro. Aufgrund des aus
Art. 33 Abs. 5 GG hergeleiteten Abstandsgebotes – ein
W-3-Professor muss auch in Zukunft mehr verdienen
als ein W-2-Professor – werden zudem die Grundge-
hälter von W-3-Professoren erhöht. Sie erhalten künf-
tig ein Grundgehalt in Höhe von 5 700 Euro, Stufe 1,
bzw. 6 100 Euro, Stufe 2, und 6 500 Euro, Stufe 3. Die
beiden vorgeschalteten Erfahrungsstufen dienen in
erster Linie dem Zweck, bei in etwa gleichbleibenden
Gesamtausgaben auch in Zukunft in möglichst großem
Umfang Mittel für Leistungsbezüge zur Verfügung zu
haben.

Drittens werden bislang gewährte Leistungsbezüge
zum Teil auf die neuen Grundgehälter angerechnet.
Hierbei wird jedoch – aus gutem Grund – zwischen
verschiedenen Leistungsbezügen unterschieden. Be-
sondere Leistungsbezüge, die Professorinnen und Pro-
fessoren für hervorragende Leistungen in Forschung
und Lehre gewährt werden, bleiben von der Anrech-
nung ebenso ausgenommen wie Funktionsleistungsbe-
züge, die für die Übernahme von Aufgaben im Rahmen
der Hochschulleitung und der Hochschulselbstverwal-
tung – zum Beispiel Rektor, Prorektor, Dekan, Prode-
kan etc. – erfolgen. Angerechnet werden hingegen Be-
rufungs- und Bleibeleistungsbezüge. Aus Sicht der
Wissenschaft halte ich dies für eine gute Regelung, da
auch in Zukunft finanzielle Anreize gesetzt werden, um
hervorragende Leistung und die Übernahme verant-
wortungsvoller Ämter zu belohnen.

Insgesamt entstehen dem Bund durch das neue Ge-
setz Mehrkosten in Höhe von voraussichtlich 0,6 Mil-
lionen Euro pro Jahr. Diese Summe ist überschaubar
und muss in die Hand genommen werden, um das Ver-
fassungsgerichtsurteil vonseiten des Bundes umzuset-
zen. Zudem stehen diesen Ausgaben einmalige Entlas-
tungen in Höhe von 0,2 Millionen Euro gegenüber.

Als Vertreter der Bildungs- und Forschungspolitiker
ist es mir wichtig, hervorzuheben, dass gegenüber dem
ersten Referentenentwurf vom 19. November 2012 be-
reits zwei Verbesserungen im Sinne der Wissenschaft
Eingang in den Gesetzentwurf gefunden haben. Zu-
nächst ist es gelungen, zu erreichen, dass bei der An-
rechnung von Erfahrungszeiten, die zur Eingruppie-
rung in eine Erfahrungsstufe maßgeblich sind, auch
hauptberufliche wissenschaftliche Tätigkeiten an einer
öffentlich geförderten in- oder ausländischen For-
schungseinrichtung berücksichtigt werden. Durch
diese Regelung tragen wir sowohl den politischen Zie-
len der Internationalisierung als auch dem Austausch
zwischen universitärer und außeruniversitärer For-
schung Rechnung.

Zweitens werden, wie bereits dargelegt, besondere
Leistungsbezüge – die für sehr gute Leistungen in For-
schung und Lehre gewährt werden – nicht auf das neue
Grundgehalt angerechnet. Demgegenüber sah der Re-
ferentenentwurf noch vor, besondere Leistungsbezüge
maximal bis zur Hälfte auf das neue Grundgehalt an-
zurechnen. Eine solche Verrechnung wäre mit dem
Leistungsprinzip in der W-Besoldung jedoch nicht zu
vereinbaren. Durch die neue Regelung werden auch
weiterhin Spitzenleistungen von Professorinnen und
Professoren in Forschung und Lehre belohnt und die
richtigen Anreize gesetzt.

Zusammenfassend lässt sich deshalb festhalten: Für
uns Bildungs- und Forschungspolitiker ist dieser Ge-
setzentwurf eine gute Verhandlungsgrundlage für das
bevorstehende parlamentarische Gesetzgebungsver-
fahren.


Wolfgang Gunkel (SPD):
Rede ID: ID1722837000

Heute beraten wir ein ganzes Bündel dienstrechtli-

cher Vorschriften, die geändert werden sollen.
Der Änderung der Professorenbesoldung liegt eine

Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Fe-
bruar 2012 zur Professorenbesoldung im Land Hessen
zugrunde. Die strukturell ähnlichen Regelungen des
Bundes müssen entsprechend ebenso geändert werden.

Die Grundgehälter der Besoldungsgruppen W 2
und W 3 werden erhöht, um den amtsangemessenen
Unterhalt sicherzustellen. Es werden drei Erfahrungs-
stufen eingeführt. Auf die zusätzlichen leistungsabhän-
gigen Besoldungsbestandteile soll auch künftig kein
Rechtsanspruch bestehen.

Ein zweiter und ausdrücklich begrüßenswerter
Bestandteil des vorgelegten Gesetzentwurfs ist die
rückwährende Gewährung des Familienzuschlags bei
eingetragenen Lebenspartnerschaften. Auch dieser

Zu Protokoll gegebene Reden





Wolfgang Gunkel


(A) (C)



(D)(B)


Gesetzesänderung liegt eine Entscheidung des Bun-
desverfassungsgerichts zugrunde. In diesem Fall hatte
das Gericht am 19. Juni 2012 entschieden, dass die
Ungleichbehandlung von eingetragener Lebenspart-
nerschaft und Ehe beim beamtenrechtlichen Familien-
zuschlag nach § 40 Abs. 1 Nr. 1 Bundesbesoldungsge-
setz seit dem 1. August 2001 unvereinbar mit dem
allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 Grund-
gesetz ist.

Der Gesetzgeber wird mit dem Beschluss des
Bundesverfassungsgerichts verpflichtet, den festge-
stellten Verfassungsverstoß rückwirkend zum Zeit-
punkt der Einführung des Instituts der eingetragenen
Lebenspartnerschaft mit Wirkung zum 1. August 2001
zu beseitigen. Allerdings wird hier der Anspruch nur
gewährt, wenn er bereits in der Vergangenheit geltend
gemacht wurde und noch nicht bestandskräftig abge-
lehnt wurde. Deshalb ist die Zahl der Empfänger auch
sehr überschaubar. Nichtsdestotrotz ist dies ein wichti-
ges politisches Signal.

Weiterhin enthält der vorgelegte Gesetzentwurf
Änderungen zur Praxis der Dienstpostenbündelung.
Diese soll nun nach einer Entscheidung des Bundes-
verwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 geändert wer-
den. Dass eine rechtssichere Regelung nun gefunden
werden soll, ist durchaus zu begrüßen. Ob der vorlie-
gende Gesetzentwurf diesen Anforderungen gerecht
wird, ist zu prüfen.

Insofern verweise ich auf die Anhörung des Innen-
ausschusses zu diesem Gesetzentwurf und weiteren
Änderungen im Dienstrecht am 18. März 2013.


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1722837100

Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Profes-

sorenbesoldung setzt die christlich-liberale Koalition
einen Auftrag des Bundesverfassungsgerichts um. Im
Februar 2012 hatte das Gericht die Vergütung von
Professoren im Bundesland Hessen wegen eines zu
niedrig angesetzten Grundgehalts in der Besoldungs-
gruppe W 2 für verfassungswidrig befunden und die
zweite Komponente der Professorenvergütung in Form
flexibler Leistungsbezüge nicht für ausreichend aner-
kannt, um die Defizite bei den Grundgehältern zu kom-
pensieren.

Insbesondere kritisierte das Gericht, dass mit dem
Grundgehalt der Besoldungsgruppe W 2 weder der
Ausbildung oder dem Dienstrang eines Professors
noch der Verantwortung, die mit seinem Amt verbun-
den ist, angemessen Rechnung getragen wird. Dies
lässt sich insofern nachvollziehen, als im Vergleich die
Vergütung eines W-2-Professors niedriger war als die
eines jungen Gymnasialdirektors oder eines dienstäl-
teren Grundschullehrers.

Aus dem Urteil ergab sich gesetzgeberischer Hand-
lungsbedarf nicht nur für Hessen, sondern auch für die
übrigen Bundesländer und den Bund. Betroffen von
der Bundesreform sind die rund 850 Professoren in
den Hochschulen des Bundes, zum Beispiel an den

Bundeswehruniversitäten oder der Fachhochschule
für öffentliche Verwaltung, und in Forschungseinrich-
tungen, die vom Bund mitfinanziert werden, wie
beispielsweise die Institute der Max-Planck- und
Fraunhofer-Gesellschaft oder der Helmholtz-Gemein-
schaft.

Mit der Reform führt die Koalition in der Bundesbe-
soldungsordnung W für die Besoldungsgruppen W 2
und W 3 drei Erfahrungsstufen mit einer Dauer von je
sieben Jahren ein. Professoren können also die
höchste Erfahrungsstufe bereits nach 14 Jahren errei-
chen. Das Grundgehalt wird für die erste Erfahrungs-
stufe um gut 400 Euro angehoben; für W-2-Professo-
ren, die bereits 14 Jahre im Amt sind, beläuft sich die
Erhöhung auf rund 1 000 Euro, für W-3-Professoren
auf der höchsten Erfahrungsstufe um rund 830 Euro.
Durch die Stufenregelung wird die zunehmende Be-
rufspraxis honoriert; besonders leistungsstarke Pro-
fessoren können jedoch auch vor Ablauf der sieben
Jahre in die nächsthöhere Stufe aufsteigen.

Gleichzeitig besteht weiterhin die bewährte Mög-
lichkeit, flexible Leistungsbezüge als Anreiz oder zur
Motivation zu vergeben, erstens bei Berufungs- und
Bleibeverhandlungen, zweitens wegen besonderer
Leistungen in Forschung und Lehre und drittens bei
Übernahme eines Hochschulamtes. Während die
besonderen und die Funktionsleistungsbezüge anrech-
nungsfrei bleiben, sollen Berufungs- und Bleibeleis-
tungsbezüge voll auf das erhöhte Grundgehalt ange-
rechnet werden. Das heißt, bisher gewährte
Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge werden um den
gleichen Betrag reduziert, wie sich das Grundgehalt
erhöht. Übersteigt der Leistungsbezug diese Erhö-
hung, bleibt der restliche Betrag dem Professor erhal-
ten.

Im Zuge der parlamentarischen Beratungen des Ge-
setzentwurfs muss aus Sicht der FDP-Fraktion und
nach meiner persönlichen Meinung bei der Anrech-
nung der Berufungs- und Bleibeleistungsbezüge nach-
gesteuert werden. Wir Liberale setzen uns dafür ein,
das Leistungsprinzip im öffentlichen Dienst weiter zu
stärken. Würden Bleibeleistungsbezüge, die zeigen,
dass ein Professor überdurchschnittliche Arbeit leistet,
nach der Reform komplett verrechnet, setzte das aus
unserer Sicht ein falsches Zeichen. Benachteiligt wür-
den diejenigen, die in der Vergangenheit diese beson-
dere Anerkennung erhalten haben, gegenüber denjeni-
gen ohne solche Leistungsbezüge, deren Grundgehalt
erhöht wird. Wir schlagen deshalb eine bloß anteilige
Anrechnung nach Vorbild der Gesetzesvorlage aus
Sachsen vor, wo ein Sockelbetrag von mindestens
30 Prozent unangetastet bleibt. Damit erhalten wir
den wesentlichen Anreiz des Leistungsbezugs; neue
Professoren werden im Gegensatz zu bereits berufenen
aber auch nicht dauerhaft benachteiligt. Denn wegen
des erhöhten Grundgehalts werden – das haben Hoch-
schulen bereits angekündigt – die Leistungsbezüge
künftig niedriger ausfallen als in der Vergangenheit.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)


Über diese und weitere Anpassungen im Dienst-
recht wird im Zuge einer Expertenanhörung am
18. März 2013 weiter diskutiert werden, die sich neben
der Professorenbesoldung mit den Gesetzesinitiativen
der Koalition zur Familienpflegezeit und zum Alters-
geld befassen wird. Der vorliegende Gesetzentwurf
stellt dafür eine gute Beratungsgrundlage dar und
wird nach Abstimmung unserer Änderungsvorschläge
von der Koalition sicher erfolgreich zum Abschluss
gebracht.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722837200

Derzeit wird viel über die Agenda 2010 und ihre

Folgen geredet – die Folgen der Idee des „flexiblen
Menschen“, wie es der Soziologe Richard Sennett kri-
tisch formulierte. Aber der Leitsatz „Fördern und For-
dern“ wurde nicht nur auf Erwerbslose gemünzt, die es
auf die nicht vorhandenen Arbeitsplätze zu platzieren
galt. Auch für Professorinnen und Professoren meinte
die damalige rot-grüne Koalition diesen Leitspruch
der neoliberalen Ära anwenden zu müssen. Pate stand
offensichtlich das noch nie stimmige Klischee des fau-
len Professors, der sich im Beamtenverhältnis ausruht,
mit Unlust lehrt und schon seit Jahren nichts veröffent-
licht hat. Dem wollte man nun wohl auf die Sprünge
helfen.

Auf diese Weise entstand die W-Besoldung, die die
Grundgehälter absenkte und sogenannte leistungsab-
hängige Entgeltbestandteile für Professorinnen und
Professoren einführte. Als wäre die intrinsische Moti-
vation von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern
nicht ihr bestimmender Antrieb, musste nun der
schnöde Mammon als Stimulanz herhalten.

Man setzte die Hochschullehrerinnen und -lehrer in
einen Wettbewerb zueinander, ohne jedoch dessen Kri-
terien und Rahmenbedingungen zu definieren. Ich er-
innere mich gut an die damaligen Debatten. In den
Hochschulen und Landesministerien zerbrach man
sich den Kopf, wie ein entsprechendes Verfahren der
„Leistungsbemessung“ denn gestaltet und in konkrete
Satzungen gegossen werden sollte. Sollte die Zahl der
betreuten Promotionen ein Kriterium sein? Die der
eingeworbenen Drittmittel für die Forschung? Die der
gehaltenen Lehrstunden? Schnell wurde klar, dass
Leistung in der Wissenschaft eine kaum trennscharf
und präzise zu bewertende Maßeinheit ist. Leistung
kann die eine nobelpreistaugliche Entdeckung, eine
gute Personalführung, aber auch eine hervorragende
Lehre sein. Sie ist nicht in Gehaltsbestandteilen ab-
bildbar.

Trotzdem wurden die entsprechenden Satzungen ge-
schaffen. Im Ergebnis bildete sich ein föderaler Fli-
ckenteppich an Besoldungsmodalitäten heraus, der
kaum noch zu überschauen ist. Wir haben mittlerweile
eine große Spreizung in den Professorengehältern, die
wie üblich ein starkes Nord-Süd-Gefälle aufweist.
Nach einer Erhebung des Deutschen Hochschulver-
bands variieren die durchschnittlichen Jahresgehälter
für Hochschullehrer in der Besoldungsgruppe W 2

zwischen 48 968 Euro in Berlin und 56 932 Euro in
Bayern. In der Besoldungsgruppe W 3 werden zwi-
schen 59 324 Euro (Berlin) und 67 889 Euro (Bayern)
bezahlt. Hinter diesen Durchschnittswerten verbergen
sich ihrerseits große Spannen. Nicht nur die einzelnen
Professorinnen und Professoren, sondern auch die
Bundesländer wurden in einen problematischen Wett-
bewerb gesetzt, der Sieger und Verlierer kennt.

Dem hat das Bundesverfassungsgericht im vergan-
genen Jahr erste Grenzen gesetzt. Ein Grundgehalt
von 3 890 Euro und eine Leistungszulage von
23,72 Euro seien zu wenig und dem Amt nicht ange-
messen. Geklagt hatte ein frisch berufener Professor
der Chemie aus Marburg. Die Uni Marburg begrüßte
das Urteil, weil die mittlerweile entstandenen Unter-
schiede in den Gehältern nicht mehr zeitgemäß seien.
Alle Professorinnen und Professoren hätten die gleichen
Dienstaufgaben. Die grassierende Wettbewerbsunkul-
tur bekam eine klare Grenze aufgezeigt – nicht weil die
Gewinner zu viel, sondern weil die Verlierer zu wenig
verdienen.

Das Urteil hat den Ländern, aber auch dem Bund
die Aufgabe gegeben, mehr Gleichheit und mehr
Gerechtigkeit in der Bezahlung von Hochschullehre-
rinnen und -lehrern umzusetzen. Diese wenigen Min-
destanforderungen hat die Bundesregierung im vorlie-
genden Gesetzentwurf erfüllt – vor allem höhere
Grundgehälter sowie die Wiedereinführung von Erfah-
rungsstufen. Der Entwurf sieht vor, dass insbesondere
die Spitzenverdiener ihre in Bleibe- oder Anwerbungs-
verhandlungen erlangten Bezüge weiter erhalten.
Niedrigere Leistungsbezüge werden mit dem nun ange-
hobenen Grundgehalt verrechnet. Die zusätzlichen
Mehrkosten sollen von den Hochschulen und For-
schungseinrichtungen selbst getragen werden und
könnten sich negativ auf die Beschäftigungsbedingun-
gen des übrigen Personals auswirken. Wir meinen:
Der Bund sollte die anfallenden 600 000 Euro jährlich
zuschießen. Das zahlt er aus der Portokasse.

Der uns hier vorliegende Gesetzentwurf kann kaum
noch eine leitende Funktion für die Bundesländer be-
anspruchen, betrifft er doch nur die etwa 850 Lehr-
stuhlinhabenden an Hochschulen und Instituten des
Bundes. Die Länder können, Föderalismusreform sei
Dank, eigenständig auf das Urteil reagieren. Wir wer-
den daher auch zukünftig einen intransparenten und
teilweise grotesken Abwerbungswettbewerb um die
vermeintlich „Exzellenten“ der restlichen etwa 40 000
Professorinnen und Professoren im Landesdienst erle-
ben. Die strukturellen Schwächen der W-Besoldung
bleiben uns ebenfalls erhalten: intransparente Zula-
gen, der unsinnige Unterschied zwischen W 2 und W 3
oder die schlechten Bedingungen der Juniorprofesso-
rinnen und -professoren etwa, die bei einem geringen
Gehalt gar keine Leistungszulagen erhalten können.
Man hat widerwillig an den Symptomen einer ver-
korksten Besoldungsstruktur herumgedoktert.

Wir sollten nach alldem schon fragen, ob das Beam-
tentum für die heutigen, kollektiven Methoden von

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Petra Sitte


(A) (C)



(D)(B)


Wissenschaft in autonom agierenden Institutionen
überhaupt eine angemessene Beschäftigungsform ist.
Der Ordinarius erscheint doch eher wie ein histori-
sches Relikt, nicht wie ein Zukunftsmodell. 90 Prozent
der Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler arbeiten
angestellt, wiederum 85 Prozent von ihnen befristet.
Kaum ein Land leistet sich eine derartige Hierarchie
in seinen Hochschulen. Wer eine wünschenswerte Per-
sonalstruktur für morgen entwickelt, sollte sich um
bessere Arbeits- und Tarifbedingungen für alle wissen-
schaftlich Tätigen bemühen. Hier sollten wir ebenso
fix zu Ergebnissen kommen, und zwar ohne dass ein
Verfassungsgericht dies der Politik erst ins Stammbuch
schreiben muss. Meine Fraktion hat wie die anderen
auch dazu Vorschläge gemacht, die der Umsetzung
harren.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Der große Wurf zum Recht des öffentlichen Dienstes
ist Bundesregierung und Koalition in dieser Wahlpe-
riode wahrlich nicht gelungen – aber das war bei die-
sem Bündnis wohl auch nicht anders zu erwarten.

Teilweise richtige, aber meist viel zu zaghafte An-
sätze zur Modernisierung des Dienstrechts wechseln
sich bis heute mit ausgemachten Zumutungen, ja Un-
verschämtheiten gegenüber den Beamtinnen und Be-
amten des Bundes ab.

Das Beamtenrecht ist zugegebenermaßen eine kom-
plexe Materie, bei der der Teufel häufig im Detail
steckt. Oft geht es darum, an kleinen Stellschrauben zu
drehen. Aber auch kleine Stellschrauben lassen sich,
statt plump und halbherzig, mit dem richtigen Augen-
maß und der nötigen Konsequenz bewegen.

Mit dem Entwurf, der uns heute vorliegt, liefert uns
die schwarz-gelbe Bundesregierung bloßes Stückwerk,
das es allerdings in sich hat.

Ich will mit dem Thema Gleichstellung von Le-
benspartnerschaften beginnen. Hier liefert die Koali-
tion – wenn auch in anderem rechtlichen Zusammen-
hang – erneut ein Paradebeispiel sowohl ihrer inneren
Zerstrittenheit als auch ihrer politischen Unentschlos-
senheit und Handlungsunfähigkeit. Der kleine Koali-
tionspartner würde gerne in Richtung Gleichstellung
gehen; der große kommt wieder einmal mit den Errun-
genschaften einer modernen Gesellschaft nicht klar.
Vor diesem Hintergrund bekommt es die Bundesregie-
rung nicht hin, eine europa- und verfassungsrechts-
konforme Gleichbehandlung im Besoldungsrecht des
Bundes vorzulegen. Denn zutreffenderweise müssen
die Leistungen rückwirkend ab dem Zeitpunkt der Be-
gründung der Lebenspartnerschaft erbracht werden.
Und zwar nicht nur beim Familienzuschlag, sondern,
wie das BVerfG festgestellt hat, auch bei der Hinter-
bliebenenversorgung, Beihilfe und sonstigen Leistun-
gen. Auch die Einschränkung auf zeitnah geltend ge-
machte Leistungen und abschließend entschiedene
Ansprüche ist unzulässig. Wir werden dazu einen Än-

derungsantrag in den Innenausschuss einbringen und
der Koalition so hoffentlich weiterhelfen.

Nächstes Thema: Dienstpostenbündelung. Das Bun-
desverwaltungsgericht hat Mitte 2011 klargestellt,
dass Funktionen (Dienstposten), die eine Beamtin oder
ein Beamter ausübt, „nicht ohne sachlichen Grund ge-
bündelt, das heißt mehreren Statusämtern einer Lauf-
bahngruppe zugeordnet werden“ dürfen. Gleichwohl
ist anerkannt, dass sich eine Bündelung von Dienst-
posten sachlich rechtfertigen lässt. Leistungsprinzip,
Alimentationsprinzip und vor allem der Grundsatz der
amtsangemessenen Beschäftigung setzen hier aber
Grenzen. In bestimmten Konstellationen wird es zur
Wahrung einer optimalen Aufgabenerledigung nütz-
lich und sinnvoll sein, auf dieses Instrument zurückzu-
greifen, zum Beispiel wenn aufgrund mangelnden
Nachwuchses ein Dienstposten kurzfristig nicht besetzt
werden kann.

In Anbetracht des nach wie vor ungebremsten Auf-
gabenaufwuchses in manchen Teilen der Verwaltung
– man denke nur an die Bundespolizei – darf die
Dienstpostenbündelung allerdings nicht überstrapa-
ziert werden. Grundsätzlich muss gelten, was wir stets
betonen: Eine funktionsfähige, Bürger- und Allgemein-
wohlinteressen unterstützende Verwaltung braucht
Personal. Öffentlicher Dienst zum Spartarif? Dazu
von uns ein klares Nein! Dies nur ganz grundsätzlich.

Im Detail müssen wir insbesondere auf einen im Ge-
setzentwurf eher unauffälligen Punkt kritisch hinweisen.
Eine pauschale Bündelung von bis zu fünf Dienstpos-
ten im Bereich der Postnachfolgeunternehmen lehnen
wir ab. Genau hier droht eine Überstrapazierung der
Dienstpostenbündelung.

Dabei geht es nicht allein um die Zahl der Posten,
die gebündelt werden können, sondern vor allem auch
darum, dass die Bündelung im Falle der rund 110 000
Beamtinnen und Beamten in den Postnachfolgeunter-
nehmen laufbahnübergreifend stattfinden kann. Auch
wenn der Einsatz dieser Bundesbediensteten nicht sta-
tus-, sondern aufgabenbezogen erfolgt, so sprechen
wir hier nach wie vor von Bundesbeamtinnen und -be-
amten, vor die sich der Bund als Dienstherr schützend
stellen muss. Dies haben wir bereits im Rahmen des
Gesetzentwurfs zur Postbeamtenversorgungskasse aus-
drücklich betont und bleiben dabei. Die betriebswirt-
schaftliche Ausrichtung des Nachfolgeunternehmens
darf nicht dazu führen, dass eine Beamtin aus dem
gehobenen Dienst per Bündelung mit Aufgaben des
einfachen Dienstes betraut wird. Die kommende Anhö-
rung zu dem vorliegenden Gesetzentwurf wird Gelegen-
heit bieten, auch dieses Thema näher zu beleuchten.

Ein Gesetzentwurf dieser Bundesregierung aber
wäre natürlich nicht komplett ohne eine versteckte
Boshaftigkeit. Der Entwurf enthält bezüglich der Bun-
desbesoldungsordnungen A und B eine Neuregelung
der Stellenzulage für Soldaten und Beamte in fliegeri-
scher Verwendung. Nach dem Entwurf sind soge-
nannte sonstige ständige Luftfahrtbesatzungsangehö-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


rige der Bundespolizei von der Stellenzulage, anders
als bisher, ausgeschlossen. Hier zeigt sich die Bundes-
regierung von ihrer hinterhältigen Seite, indem sie die
höchstrichterliche Feststellung, dass sogenannte Wärme-
bildoperatoren der Bundespolizei unter den Begriff
der sonstigen ständigen Luftfahrtbesatzungsangehöri-
gen fallen und ihnen folgerichtig eine Stellenzulage zu-
steht, mit einem gesetzlichen Federstrich aushebelt.

Nicht nur vonseiten der polizeilichen Interessenver-
tretung wundert man sich über dieses Vorgehen. Man
mag über eine Differenzierung der Höhe der Zulage
für die sogenannte WBO sprechen; pauschal wegkür-
zen sollte man sie nicht. Insbesondere dann nicht,
wenn man daran interessiert ist, das Nachwuchspro-
blem bei der fliegenden Polizei in Angriff zu nehmen.
Auch wenn wir das Thema „Attraktivität des öffent-
lichen Dienstes“ nicht auf monetäre Aspekte reduzie-
ren: Derartige Signale sind in jedem Fall kontrapro-
duktiv. Auch darüber wird in der Anhörung am Montag
zu reden sein.

Für die eigentliche Regelung zur Professorenbesol-
dung nehmen wir zur Kenntnis, dass die Gewerkschaf-
ten wohl keinerlei Einwände mehr vortragen wollen.
Wir wollen dagegen von Sachverständigen hören, ob
angesichts der vorgesehenen, von vielen dem Gesetz-
geber nicht zugetrauten Anhebung der Grundgehälter
tatsächlich die Kuh vom Eis ist oder angesichts der
sehr ausführlichen weiteren Vorgaben aus Karlsruhe
zur Amtsangemessenheit weitere Nachbesserungen zu
besorgen sind.

Rechtspolitisch bleiben Leistungselemente in der
Besoldung ganz zentral, wenn es um eine motivierend
wirkende individuelle Einkommensgerechtigkeit geht.
Diese müssen aber mit den gerichtlichen Vorgaben
zum Alimentationsprinzip vereinbar bleiben. Karls-
ruhe hat mit seiner Entscheidung gleichwohl ver-
dienstvoll die Tür dafür geöffnet, überhaupt Zulagen-
systeme als alimentationskompensierend in Betracht
zu ziehen. Das ist wichtig für ein reformorientiertes
Dienstrecht. Denn die Zukunft auch des Beamtentums
– ich zitiere diesen Satz von Gisela Färber gerne –
liegt nicht in seiner Vergangenheit.

D
Dr. Christoph Bergner (CDU):
Rede ID: ID1722837300


Mit dem Gesetzentwurf zur Neuregelung der Profes-
sorenbesoldung und zur Änderung weiterer dienst-
rechtlicher Vorschriften greift die Bundesregierung
Änderungsbedarf aus verschiedenen Bereichen des öf-
fentlichen Dienstrechts auf.

Im Mittelpunkt des Vorhabens steht die Neuregelung
der Professorenbesoldung. Diese Neuregelung berück-
sichtigt die Entscheidung des Bundesverfassungs-
gerichts vom Februar des vergangenen Jahres zur
Ausgestaltung der Besoldung verbeamteter Professo-
ren. Das Bundesverfassungsgericht hat – vereinfacht
gesprochen – einen höheren Anteil der den Professo-
ren gesetzlich garantierten Bezüge verlangt. Dies setzt

der Entwurf für die direkt und indirekt betroffenen
rund 850 Professoren in den Hochschulen und in den
vom Bund mitfinanzierten Forschungseinrichtungen
des Bundes um.

Die Grundgehälter in den Besoldungsgruppen W 2
und W 3 werden, gestaffelt in drei Erfahrungsstufen,
rückwirkend zum 1. Januar 2013 deutlich erhöht. Die
bewährten leistungsabhängigen Besoldungsbestand-
teile – dies betrifft Bezüge, die Professoren anlässlich
ihrer Berufung, wegen besonderer Leistungen in
Forschung und Lehre oder bei Übernahme eines
Hochschulamtes erhalten können – bleiben bestehen.
Zugleich wird die besoldungsrechtliche Begrenzung
für diese Leistungsbezüge, der sogenannte Vergabe-
rahmen, abgeschafft.

Die neue Gehaltsstruktur gilt sowohl für neuberu-
fene als auch für Bestandsprofessoren. Die bereits be-
rufenen Professoren werden sachgerecht übergeleitet;
die bisherigen Leistungsbezüge werden überwiegend
nicht angerechnet.

Insgesamt stellen die ausgewogenen Regelungen
ein positives Signal für den Wissenschaftsstandort
Deutschland dar.

Der Gesetzentwurf greift daneben Regelungsbedarf
in einem Bereich auf, der für die personalwirtschaftli-
che Praxis in der Bundesverwaltung von erheblicher
Bedeutung ist. Unter Bezugnahme auf ein in einem Be-
förderungsstreitverfahren ergangenes Urteil des Bun-
desverwaltungsgerichts vom 30. Juni 2011 haben ver-
schiedene Instanzgerichte die Dienstpostenbündelung,
das heißt die Zuordnung einer Funktion zu mehreren
Ämtern, infrage gestellt. Mit dem Gesetzentwurf wird
die Zulässigkeit dieses Instruments klargestellt. Die
Dienstpostenbündelung trägt dem Umstand Rechnung,
dass die auf einem Dienstposten wahrzunehmenden
Aufgaben nicht immer einheitlich sind und einem stän-
digen Wechsel unterliegen können. Dies gilt in beson-
derem Maße für oberste Bundesbehörden, ist aber
nicht auf diese beschränkt. In personalwirtschaftlicher
Hinsicht gewährleistet die Dienstpostenbündelung ei-
nen kurzfristigen Personaleinsatz, weil mit ihr sicher-
gestellt werden kann, dass die Besetzung vakanter
Dienstposten nicht in Fällen scheitert, in denen eine
Neubewertung des Dienstpostens kurzfristig nicht
möglich ist und die bisherige Wertigkeit dem Statusamt
möglicher Umsetzungsbewerber nicht entspricht.
Darüber hinaus ermöglicht sie die in der Bundes-
verwaltung eingeführte und in den vergangenen Jahr-
zehnten von der Rechtsprechung auch nicht beanstan-
dete Praxis von Beförderungen ohne Wechsel der
Funktion. Die damit eröffneten Möglichkeiten der
Personalförderung dienen letztlich auch der Aufga-
benwahrnehmung.

Schließlich schafft der Gesetzentwurf neben einer
rückwirkenden Gewährung des Familienzuschlags an
Beamte in eingetragenen Lebenspartnerschaften auch
die rechtlichen Rahmenbedingungen zur Verlagerung
einzelner Aufgaben aus der Bundeswehrverwaltung in

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Christoph Bergner


(A) (C)



(D)(B)


die Geschäftsbereiche des Bundesministeriums des In-
nern und des Bundesministeriums der Finanzen.

Ergänzt wird dieses Paket, mit dem die umfangrei-
che Dienstrechtsagenda für diese Legislaturperiode
abgeschlossen wird, durch das Gesetz zur Übertra-
gung der Familienpflegezeit auf Beamte sowie den von
den Koalitionsfraktionen eingebrachten Entwurf eines
Altersgeldgesetzes.

Zu allen drei Vorhaben hat die CDU/CSU-Fraktion
eine Anhörung beantragt, um auf dieser Grundlage zu
einem fundierten und gleichzeitig möglichst raschen
Gesetzesbeschluss zu kommen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722837400

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf den Drucksachen 17/12455 und 17/12662 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie
an den Haushaltsausschuss vorgeschlagen. – Anderwei-
tige Vorschläge gibt es nicht. Dann ist die Überweisung
so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Harald
Weinberg, Kathrin Senger-Schäfer, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Bessere Krankenhauspflege durch Mindest-
personalbemessung
– Drucksache 17/12095 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Lothar Riebsamen (CDU):
Rede ID: ID1722837500

Betrachtet man die immer wieder aufkommende

Diskussion um die aktuelle Situation im Pflegebereich
und besonders den jetzt zu debattierenden Antrag,
stellt man fest, dass stets zu kurz kommt, dass die in der
Pflege beschäftigten Menschen eine hervorragende
und ausgezeichnete Arbeit machen. Hierfür möchte ich
ihnen persönlich meinen Dank aussprechen.

Dass die Personalsituation in der Pflege stets ange-
spannt war und durch einen massiven Stellenabbau
noch verschärft wurde, ist seit langem bekannt. Als
Reaktion hierauf wurde für die Jahre 2009 bis 2011
das sogenannte Pflegestellensonderprogramm auf-
gelegt.

An diesem Programm nahmen im genannten Zeit-
raum insgesamt 1 133 Krankenhäuser teil; das sind
über zwei Drittel der anspruchsberechtigten Kliniken.
Durch die Bereitstellung von insgesamt über 1 Mil-
liarde Euro wurden so in den drei Jahren des Sonder-
programms über 14 400 zusätzliche Vollzeitpflegestel-
len geschaffen. Das Pflegestellensonderprogramm
war also ein voller Erfolg und entschärfte die ange-
spannte Personalsituation im Pflegebereich massiv.

Um eine adäquate Qualität sicherzustellen, ist die
Weiterentwicklung von Qualitätsindikatoren ein wich-
tiger und erforderlicher Schritt, an welchem auch die
Krankenhäuser selber ein originäres Interesse haben.
Ziel muss sein, die Qualität der Versorgungsleistungen
noch mehr in den Vordergrund zu rücken.

Zusätzlich zur Strukturqualität nehmen auch die
Prozessqualität und die Ergebnisqualität eine wichtige
Rolle ein. Durch sie wird verhindert, dass aufgrund
der undifferenzierten Einsparung von Ressourcen ver-
meintlich mehr Wirtschaftlichkeit zu erzielen ist. Denn
Strukturqualität bedeutet, durch qualifiziertes Perso-
nal und den am Bedarf orientierten Einsatz von Sach-
kosten sowie Investitionen vernünftige Bedingungen
für die Behandlung der Patientinnen und Patienten zu
schaffen. Hierzu gehört selbstverständlich auch die
Pflege. Niemand anders kann besser beurteilen, an
welcher Stelle im Krankenhaus Ressourcen optimal
eingesetzt werden sollen, als das Krankenhaus selber.

Darüber hinaus wird über die Definition von Pro-
zessqualität sichergestellt, dass Leistungen und Ziel-
setzungen – gerade auch im Pflegebereich – objektiv
beurteilt werden können.

Entscheidend ist letztlich die Ergebnisqualität
– also der Gesundheitsfortschritt, die Zufriedenheit
und das Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten
im Rahmen der Behandlung – letztlich der Behand-
lungserfolg.

Selbstverständlich müssen Daten zur Qualität öf-
fentlich zugänglich sein und einfach abgerufen werden
können. Damit sich Patientinnen und Patienten zu-
künftig über die Qualität informieren können, sollten
die Ergebnisse der Qualitätssicherung, soweit diese
zur Information geeignet sind, noch mehr als bisher
veröffentlicht werden, beispielsweise in den Qualitäts-
berichten der Krankenhäuser.

Ein generelles Problem, mit dem sich die Kranken-
häuser in Deutschland auseinandersetzen müssen, ist
der Rückzug der Länder aus der dualen Krankenhaus-
finanzierung. Die Bundesländer sind verpflichtet,
Mittel für Investitionen der Krankenhäuser zur Verfü-
gung zu stellen, kommen dieser Verpflichtung aller-
dings in nicht ausreichendem Umfang nach. Die Mittel
für den Krankenhausbereich sinken seit Jahren und
Jahrzehnten stark.

Dieser Rückgang führt dazu, dass Krankenhäuser
notwendige Ausgaben für Investitionen durch Quer-
subventionen aus Krankenhausentgelten finanzieren.
Diese sind hierfür nicht gedacht, und die Mittel wer-
den vor allem durch Mengenausweitungen, also einen
Anstieg der Fallzahlen, aufgebracht. Derartige Men-
genausweitungen, soweit sie aus Finanzierungsgrün-
den und nicht aus der medizinischen Notwendigkeit
heraus geschehen, sind nicht zielführend und müssen
vermieden werden.

Laut Statistischem Bundesamt betrugen die Fallkos-
tensteigerungen zwischen dem Jahr 2007 und dem





Lothar Riebsamen


(A) (C)



(D)(B)


Jahr 2011 12,7 Prozent, während die Steigerung der
Fallkostenerstattung laut WIdO 13,3 Prozent betrug.
Ich gehe davon aus, dass die Differenz in die Finanzie-
rung von Investitionen floss. Das Geld fehlt jedoch im
laufenden Betrieb. Hiermit sollten Pflegestellen finan-
ziert werden.

Gerade im Zusammenhang mit einer drohenden
Verschärfung des Pflegenotstands war jüngst die Ver-
meidung eines – von der EU geplanten – erschwerten
Zugangs zu Pflegeberufen ein großer Erfolg. Diese
Aktion, die zu einer Akademisierung der Ausbildung
im Pflegebereich geführt hätte, konnte durch starken
politischen Einsatz der Bundesregierung und unserer
Kollegen der EVP-Fraktion im Europaparlament er-
folgreich vermieden werden.

Das Abwenden dieses Damoklesschwertes eines
verschärften Ausbildungszugangs muss dabei unter
dem Aspekt des demografischen Wandels betrachtet
werden. Um das Niveau an Pflegekräften annähernd
konstant zu halten, müssten in den nächsten Jahrzehn-
ten – bei unveränderten Rahmenbedingungen – nach
manchen Schätzungen bis zu 50 Prozent eines Schul-
abschlussjahrgangs in Pflegeberufen arbeiten. Dies
kann man sich nur sehr schwer vorstellen. Allerdings
wird der Anteil der Pflegekräfte an allen Beschäftigten
von 2 Prozent im Jahr 2009 auf 8 Prozent im Jahr 2050
ansteigen.

Das Gesundheitssystem im Allgemeinen und das
Krankenhauswesen im Besonderen sind bei der christ-
lich-liberalen Koalition in guten Händen. Notwendige
Hilfen werden kurzfristig gewährt. In der kommenden
Legislaturperiode werden wir grundlegende Struk-
turfragen angehen.


Mechthild Rawert (SPD):
Rede ID: ID1722837600

Zu den zentralen Zukunftsaufgaben aller Kranken-

häuser gehören die Fachkräfteausstattung, die Fach-
kräftesicherung und -entwicklung sowie das Vorhalten
attraktiver Arbeitsplätze. Krankenhausträger tragen
Verantwortung und Fürsorge für ihre Beschäftigten.
Sie tragen im Rahmen ihrer Arbeitgeberfunktion
Verantwortung für die Steigerung der Attraktivität der
Gesundheitsfachberufe, tragen Verantwortung für die
Umsetzung von Professionalisierungsstrategien in der
Pflege. Nur so wird der Sicherheit und der qualitativ
hochwertigen Versorgung der Patientinnen und Pa-
tienten gedient.

Die Entwicklung der letzten Jahre zeigt allerdings,
dass die Personalsituation in den Krankenhäusern
mehr und mehr an Brisanz gewinnt. Seitens der
Krankenhausträger wurde bei den Expertinnen und
Experten in der Pflege dramatisch gespart.

Der aus Kosteneinsparungsgründen erfolgte mas-
sive Stellenabbau insbesondere im Pflegedienst betraf
nicht alle Qualifikationsniveaus gleichermaßen. Ver-
liererinnen und Verlierer waren vor allem die Gesund-
heits- und Krankenpflegehelferinnen und -helfer

(zwischen 1999 und 2009: minus 27,7 Prozent) und


Ungelernte (minus 13 Prozent), während sich Service-
kräfte sowie -helferinnen und -helfer neue Beschäfti-
gungsperspektiven erschlossen haben. Deutlich
zugenommen hat die Zahl der atypischen Beschäfti-
gungsverhältnisse (Minijobs, Leiharbeit, Teilzeit). Es
fanden eine deutliche Leistungsverdichtung und eine
Erhöhung der Arbeitsbelastung bei den Beschäftigten
statt. Insbesondere der Aufwand in der Pflege ist ge-
stiegen, unter anderem auch aufgrund der gestiegenen
qualitativen Anforderungen in der Begleitung und
Betreuung von immer mehr demenziell erkrankten,
hochaltrigen und multimorbiden Patientinnen und
Patienten bei gleichzeitig immer kürzer werdenden
Verweildauern.

Die SPD-Bundestagsfraktion steht hinter den in der
Pflege Beschäftigten in den Krankenhäusern: Es ist
Zeit, mehr deutliche Zeichen der Wertschätzung für die
Beschäftigten in den Krankenhäusern zu setzen. Dazu
gehört, dass die Beschäftigten an der allgemeinen
Tariflohnentwicklung teilhaben können. Wir brauchen
leistungsgerechte tarifliche Entlohnungssysteme, die
Sicherung professioneller Handlungsautonomie, flexible
Arbeitszeitmodelle, qualitativ hochwertige Weiterbil-
dungsangebote, moderne teamorientierte Kommunika-
tions- und Kooperationsstrukturen, Modelle zur Verein-
barkeit von Beruf und Familie oder Beruf und Pflege
sowie alters- und alternsgerechte Arbeitsplätze.

All dies sind Entscheidungsfaktoren für den Einstieg
bzw. den Verbleib im Berufsfeld Pflege. All dies sind
angesichts der bestehenden Konkurrenz um Fach-
kräfte Entscheidungsfaktoren für den Verbleib an ei-
nem konkreten Krankenhaus.

Zur Verbesserung der Situation der Beschäftigten,
zur Verbesserung einer qualitativ hochwertigen statio-
nären Versorgung wurde von der sozialdemokrati-
schen Gesundheitsministerin Ulla Schmidt das Pflege-
stellen-Förderprogramm ins Leben gerufen. Dies war
ein großer Erfolg: Auswertungen zufolge sind dadurch
zwischen 2009 und 2011 über 15 000 Pflegestellen
geschaffen worden. Leider haben einzelne Kranken-
hausträger dieses Programm durch „Mitnahme-
effekte“ missbraucht. Diese Möglichkeiten sind künf-
tig zu unterbinden. Zu verhindern ist auch, dass
Krankenhäuser aus rein wirtschaftlichen Gründen auf
Mengenausweitungen setzen, die nicht der Sicherheit
und guten Versorgung der Patientinnen und Patienten
dienen.

Als SPD-Bundestagsfraktion unterstützen wir nicht
nur am Equal Pay Day die Forderungen der Beschäf-
tigten – zumeist Frauen – in der Pflege. Wir Sozial-
demokratinnen und Sozialdemokraten setzen uns für
strukturelle Verbesserungen im Interesse der Beschäf-
tigten und der Patientinnen und Patienten ein. Des-
halb machen wir uns für Personalmindeststandards in
Krankenhäusern stark.

Auch der Antrag „Bessere Krankenhauspflege
durch Mindestpersonalbemessung“ der Linksfraktion
spricht wichtige Probleme der stationären Versorgung

Zu Protokoll gegebene Reden





Mechthild Rawert


(A) (C)



(D)(B)


an. Ich hoffe auf eine baldige umfassende Debatte im
Gesundheitsausschuss. Gespannt bin ich darauf, was
Schwarz-Gelb anführen wird, um die Situation der Be-
schäftigten in den Krankenhäusern in den wenigen
Monaten dieser Legislaturperiode noch zu verbessern;
bis jetzt ist auf jeden Fall noch nichts erreicht. Ich
schlage eine öffentliche Anhörung mit Beschäftigten-
vertreterinnen und -vertretern, den Tarifpartnerinnen
und -partnern und entsprechenden Fachverbänden
vor. Die Beschäftigten in der stationären Pflege haben
es verdient.


Lars Lindemann (FDP):
Rede ID: ID1722837700

Der Antrag der Linken „Bessere Krankenhaus-

pflege durch Mindestpersonalbemessung“ ist in seiner
Absicht gut. In seinem analytischen Teil beschreibt er
die personelle Situation an einigen deutschen Kran-
kenhäusern durchaus zutreffend.

Man müsste blind sein, wollte man nicht sehen, dass
in der Tat die Qualität der Patientenversorgung unter
Personalmangel leidet. Auch die Stichwörter von
„enormem wirtschaftlichen Druck“ auf die Kranken-
häuser und in dessen Folge „unhaltbaren Zuständen“,
„massiven Überstunden“, „gefährlicher Pflege“ und
„lebensbedrohlichen Situationen“ sind leider nicht
nur rhetorische Übertreibung.

Leider ist gut gemeint aber nicht automatisch gut
gemacht. Im Gegenteil, manchmal sind die gut ge-
meinten Vorschläge die gefährlichsten.

Es ist ein klassisch linker Ansatz, zu glauben, die
beschriebenen Zustände seien durch schlichtes Vor-
schreiben der gewünschten Endeffekte in einem Geset-
zestext zu ändern. Die Illusion, der Staat könnte in
geradezu naiver Vereinfachung der vielfältigen Wirk-
faktoren der Krankenversorgung ein bestimmtes Er-
gebnis festlegen, ist etwas für einfache Geister. Hier
meinen Sie, liebe Kollegen von der Linken, offenbar,
durch die simple Vorschrift eines pauschalen Perso-
nal-Patienten-Quotienten eine so komplexe Größe wie
die Qualität der Pflege nicht nur steuern, sondern
auch noch restlos vereinheitlichen zu können.

Dabei sprechen wir über eine enorme Vielfalt von
regionalen oder lokalen Faktoren, der individuellen
Organisation der einzelnen Häuser, ihres Fächer- und
Leistungsspektrums, ihrer bestehenden Personalstruk-
tur, ihrer Traditionen, ihrer Trägerschaft, ihrer Kon-
zepte, ihres Patientenguts, ihres Versorgungsumfeldes
im ambulanten und stationären Bereich, kulturelle Un-
terschiede und solche der flankierenden Leistungs-
angebote im Umfeld und vieles andere mehr.

All das ignoriert der Antrag der Linken und behaup-
tet, die einheitliche, für alle gleiche Personaldichte
würde automatisch die Pflege verbessern und überall
gleichmachen. Eine Standardisierung von Personalbe-
messungen betreibt im Übrigen bereits das InEK durch
seine kalkulierten Pflegebedarfe. Diese ändern nichts
an den beschriebenen Missständen.

Es ist immer wieder verblüffend: Wie gut starre
Planwirtschaft funktioniert und wie wenig bedrucktes
Papier wert ist, wenn die komplexe Wirklichkeit und
die realen Funktionsweisen von Menschen und Orga-
nisationen außer Acht gelassen werden, sollte gerade
die Linke wissen. Schließlich ist ihre Vorgängerpartei
brutal daran gescheitert, Ergebnisse komplexer Pro-
zesse staatlich festlegen und gleichschalten zu wollen,
ohne die tatsächlich wirksamen Kräfte und vielfältigen
Motivationen von Menschen zu beachten.

Deshalb ist es beim Stichwort Motivation besonders
schade, liebe Kollegen von der Linken, dass Sie in Ih-
rem Antrag eigentlich den entscheidenden Hinweis für
eine vernünftige Problemlösung selber geben, ohne
ihn aufzugreifen.

Sie beklagen nämlich, dass eine hohe Qualität in
der Pflege nicht gesondert vergütet werde. Sie haben
vollkommen recht in diesem Befund! Leider gilt dies
nicht nur bei der Pflege. Verrückterweise ziehen Sie
aber daraus nicht die logische Konsequenz, dass man
eben genau das tun sollte: gute Pflegeergebnisse be-
lohnen. Stattdessen wollen Sie dieses Nichtbelohnen
guter und Nichtbestrafen schlechter Pflege gar nicht
antasten, sondern allen an dieser Stelle dieselbe perso-
nelle Infrastruktur vorschreiben. Absurd!

Wenn wir wollen, dass in einer Situation knapper
Kassen die Krankenhäuser ihre Pflege so organisie-
ren, dass das Ergebnis dieser Pflege qualitativ gut ist,
dann müssen wir erstens diese Qualität objektiv und
unabhängig erfassen und zweitens dann auch beloh-
nen. Das wäre eine echte Investition von Versorgungs-
forschung und Krankenkassen. Langfristig würde das
nicht nur die Qualität verbessern. Gute Versorgungs-
ergebnisse sparen auch Kosten. Zu ihrem eigenen
Schaden bewegen sich die Kassen aber hier nur wenig
und reagieren auf jedes Risiko kurzfristiger Mehrkos-
ten mit einem Blockadereflex. Leider verhindert diese
Kurzfristhysterie immer wieder langfristigen Nutzen.

Statt hier anzusetzen, kommen Sie zu einem ganz an-
deren Schluss. Sie ignorieren die Finanz- und Nach-
wuchssituation aus Einfachheitsgründen und sagen:
Wir schreiben einfach jedem Krankenhaus dasselbe
Zahlenverhältnis Pflegekräfte-Patienten vor. Und
dann sind Sie noch so naiv zu glauben, dies würde Ih-
ren ultimativen Gleichheitstraum erfüllen, dass es
dann keine Unterschiede mehr im Niveau der Pflege
gäbe. Man kann sich nur wundern.

Außerdem machen Sie weder einen Vorschlag, aus
welcher Quelle das Personalplus finanziert werden
soll – ich vermute, am Ende wird auch hier irgendwie
schließlich doch wieder der universelle linke Deus ex
Machina auftauchen, der am Ende alle linken Blüten-
träume finanziert, nämlich „die Reichen“ –, noch er-
klären Sie, wie Pflegeberufe so attraktiv werden kön-
nen, dass überhaupt mittelfristig genug Nachwuchs
zur Verfügung steht.

In Berlin war es in der letzten Legislaturperiode un-
ter anderem Ihre linke Gesundheitssenatorin, die eine

Zu Protokoll gegebene Reden





Lars Lindemann


(A) (C)



(D)(B)


von der FDP geforderte einjährige Krankenpflegehel-
ferausbildung abgelehnt hat, durch deren Absolventen
Krankenschwestern und -pfleger von nichtpflegerischen
Aufgaben hätten entlastet werden können.

Auch im Bundestag sind es immer die Linken, die
sich gegen differenzierte, leistungsabhängige Vergü-
tungselemente wehren, weil eine Belohnung der Besse-
ren eben immer auch einen Druck auf die Schlechteren
bedeutet. Dafür müsste man Vielfalt und Differenzie-
rung akzeptieren können. Das widerspricht aber dia-
metral dem linken Gleichheitsdogma. Deshalb ist Ih-
nen der Ansatz der Belohnung guter Leistung so
unsympathisch. In der Regel wollen sie Gutleister
– „die starken Schultern“ – ja mehr belasten, damit
sie schwächer werden.

Aber nochmals: In dem Ziel und auch der Notwen-
digkeit einer besseren personellen Ausstattung der
Pflege sind wir uns einig. Hier muss mehr geschehen,
und die begonnenen Reformschritte müssen mutig er-
gänzt werden.

Außerdem müssen die Krankenhäuser endlich aus
der fatalen Zwangslage befreit werden, ihre enormen
Investitionsstaus und die daraus resultierenden Mehr-
kosten immer wieder durch Personaleinsparung ge-
genfinanzieren zu müssen. Hier sind im Übrigen in der
dualen Finanzierung ganz wesentlich die Bundeslän-
der gefragt. Sie lassen die Häuser allzu oft im Regen
stehen. Berlin ist hierfür ein trauriges Beispiel: Der
Investitionsstau der Charité steigt seit Jahren rapide
und liegt mittlerweile bei 1 Milliarde Euro! Der Vor-
stand der Charité hat klargemacht, dass die absolute
Grenze des Personalabbaus erreicht und die Patienten-
sicherheit bedroht ist, sollte hier weiterer Einspardruck
entstehen. Die Tarifbewegung, die innerhalb der Cha-
rité – und übrigens nicht bundeseinheitlich für alle
gleich – eine Verbesserung der Personalbemessung
fordert, ist deshalb verständlich. Das Land Berlin muss
hier ebenso wie andere Bundesländer seine Pflicht zur
Finanzierung der Investitionskosten der Krankenhäu-
ser erfüllen und in der Haushaltspolitik neue Prioritä-
ten setzen. Hier verdienen die Krankenhäuser definitiv
einen höheren Stellenwert.

Wenn die Häuser durch die Länder von diesen Las-
ten befreit und von den Krankenkassen für ihre stei-
genden, auch sächlichen Betriebskosten fair vergütet
werden, wenn zusätzlich hohe Pflegestandards und
gute Ergebnisse auch belohnt werden, dann brauchen
sie keine Zahlenverhältnisse vorzuschreiben, die als
Papiertiger enden. Und nur dann entsteht eine origi-
näre und langfristige Motivation zur Investition in gute
Pflege. Wie das einzelne Haus dies organisiert, ist
seine Sache.

Die Häuser sollten nicht in totaler Ignoranz ihrer
Vielfalt und regionalen Unterschiede dabei bevormun-
det werden. Wir Liberale wollen auch hier ausdrück-
lich Vielfalt; denn wenn sich gute Pflege lohnt, dann ist
Vielfalt die Grundlage für bessere Pflegekonzepte, für
Differenzierung, Fortschritt und Entwicklung. Evolu-

tion braucht Vielfalt, sonst stirbt das Leben aus. Das
gilt auch für die notwendige Evolution der Pflege.

Bevormundung der Krankenhäuser durch Gleich-
schaltungs- und Vorschriftswahn, Ignoranz der Reali-
täten und zentrale Gleichschaltung der Personalbe-
messung einer vielfältigen Krankenhauslandschaft
würden gute Pflege erschweren. Deshalb lehnen wir
Ihren Antrag ab.


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722837800

Mit diesem Antrag wollen wir die Pflege in Kran-

kenhäusern verbessern. Dass da was im Argen liegt,
das ist mittlerweile offenkundig. Fast jede/r, die/der in
der letzten Zeit in einem Krankenhaus war, hat es be-
merkt: Die Pflegekräfte sind am Limit; sie müssen von
Jahr zu Jahr immer mehr Arbeit schultern. Obwohl die
meisten Pflegenden sich für ihre Patientinnen und Pa-
tienten selbstaufopfernd einsetzen, bleibt am Ende ei-
ner Schicht oft ein flaues Gefühl zurück. Die Pflege-
kräfte wissen, dass eine bessere Pflege möglich wäre,
wenn sie mehr Zeit für die Patientinnen und Patienten
hätten.

Die „Fließband-Pflege“ macht auch die Pflegenden
krank: Überlastungsanzeigen und Burn outs haben
sprunghaft zugenommen; kaum ein Pflegender hält
durch bis zur Rente.

Zu wenig und überlastetes Personal in der Pflege
kann auch gefährlich sein. Wenn in der Nacht auf einer
Station nur ein einziger Krankenpfleger Dienst hat,
aber 2 von 30 Patientinnen gleichzeitig auf Hilfe ange-
wiesen sind, dann wird der Pfleger entscheiden müs-
sen, wen er vernachlässigt. Zu wenig Zeit in der Pflege
bedeutet auch, dass die Hygiene, zum Beispiel die
Händedesinfektion, weniger ernst genommen wird.
Dazu gibt es mittlerweile Untersuchungen, die das be-
legen. Das führt zu mehr Infektionen der Patientinnen
und Patienten mit multiresistenten Keimen, die in meh-
reren Hunderttausend Fällen jedes Jahr krankmachen,
Amputationen nach sich ziehen können und in Zehn-
tausenden Fällen sogar zum Tod führen.

Das Schlimme ist: Diese Verhältnisse sind nicht des-
wegen so, weil es nicht anders ginge. Es sind die poli-
tischen Weichenstellungen der Krankenhauspolitik in
den letzten 15 Jahren, die Einsparungen gerade in der
Pflege zum Ziel hatten. Krankenhäuser stehen im Wett-
bewerb miteinander und werden nach Fällen bezahlt.
Das Krankenhaus also, das möglichst viele Fälle, zum
Beispiel Operationen, bearbeitet, arbeitet profitabel.
Ein Krankenhaus, das auf gute Pflege setzt, wird es
nicht lange geben, denn es erwirtschaftet hohe Ver-
luste. Mit den unter Rot-Grün eingeführten Fallpau-
schalen wurden die Pflegedienste zu reinen Kostenstel-
len degradiert, die angeblich keinen Anteil an der
Wertschöpfung im Krankenhausbetrieb haben. Und
dementsprechend werden sie von den Krankenhausma-
nagern auch behandelt: Die Zahl der Patientinnen und
Patienten ist von 2003 bis 2011 von 17,30 Millionen
auf 18,34 Millionen gestiegen, während die Zahl der
Pflegekräfte (Vollzeitäquivalente) von 2003 bis 2011

Zu Protokoll gegebene Reden





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)


von 320 158 auf 310 817 zurückgegangen ist. Und
schon 2003 war die Situation äußerst angespannt.

Gegen diese Arbeitsverdichtung regt sich nun erst-
mals organisierter Widerstand. Die Verdi-Tarifkom-
mission an der Charité hier in Berlin verhandelt mit
dem Arbeitgeber derzeit über einen neuen Tarifver-
trag. Dabei geht es nicht um höhere Löhne. Die Be-
schäftigten wollen unter anderem erreichen, dass für
jede Station festgestellt wird, wie viel Pflegekräfte be-
nötigt werden. Der Arbeitgeber soll sich verpflichten,
dieses Minimum einzuhalten.

Diese Forderung ist gut für die Beschäftigten, und
sie ist gut für die Patientinnen und Patienten. Sie stellt
sich aber völlig gegen die derzeitige Logik der Kran-
kenhausfinanzierung. Ich wünsche den Kolleginnen
und Kollegen daher viel Erfolg in dieser Auseinander-
setzung. Aber selbst wenn diese Forderungen durchge-
setzt würden, und selbst wenn andere Krankenhäuser
diesem guten Beispiel folgen würden: Es würde ein
Flickenteppich aus einzelnen tariflichen Lösungen ent-
stehen. Unter den Bedingungen der DRGs würde es
den Wettbewerb zwischen den Krankenhäusern sogar
weiter anheizen. Die Pflegekräfte haben aber überall
in der Bundesrepublik Anspruch auf gute Arbeitsbe-
dingungen, und die Patientinnen und Patienten haben
überall den Anspruch auf eine gute Pflege.

Deshalb fordert die Linke in dem heute zur Debatte
stehenden Antrag: Wir brauchen eine bundesweite ge-
setzliche Mindestpersonalbemessung für jedes Kran-
kenhaus. Wir können nicht weiter zusehen, wie Patien-
tinnen und Patienten darunter zu leiden haben, dass
Pflegekräfte mehr leisten müssen, als sie können. Und
wir können auch nicht weiter zusehen, wie die Pflegen-
den unter derart ungesunden und belastenden Bedin-
gungen arbeiten.

Klar ist: Das wird Geld kosten. Und ich bin mir si-
cher, Sie werden mir gleich vorwerfen, in dem Antrag
stünde nicht, woher dieses Geld kommen soll. Aber
einmal abgesehen von dem dann von mir immer wieder
vorgetragenen Hinweis auf unser Bürgerversiche-
rungskonzept: Derzeit befinden sich fast 30 Milliarden
Euro Rücklagen im System. Der Finanzminister ist of-
fenbar der Ansicht, dass das Gesundheitssystem zu viel
Geld hat, sonst würde er nicht gerade diese Woche
wieder weitere 1,5 Milliarden Euro für seine Haus-
haltssanierung entnehmen. Ich finde, dieses Geld wäre
in mehr Pflegekräften, besseren Arbeitsbedingungen
und gesünderen Patienten besser angelegt.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Seit Tagen, Wochen und Monaten steht die Situation
der Krankenhäuser im öffentlichen Fokus. Es wird mit-
unter hochemotional über Finanzhilfen, Personalman-
gel und Rettungsprogramme diskutiert.

Leider hat die Diskussion bisher nicht dazu geführt,
einmal tiefer in das System der Unter-, Fehl- und
Überversorgung einzudringen. Sie führt bislang auch

nicht dazu, dass die wirklichen Herausforderungen in
einer immer älter werdenden Gesellschaft in den Vor-
dergrund rücken. Und es wird nicht deutlich, worin die
Ursachen für den Personalmangel bei den Gesund-
heitsberufen im Krankenhaus bestehen.

Unserer Meinung nach hapert es an einer umsichti-
gen Krankenhausplanung, an der berufsgruppenüber-
greifenden Zusammenarbeit. Es gibt keine wirklich
transparente Personaleinsatzplanung. Pflege ist Aus-
tausch und Kommunikation – doch dieser Aspekt gerät
immer mehr in den Hintergrund. Es fehlt der Kranken-
pflege an Anerkennung von oben und an Freiraum für
Entscheidungen. Die kurz- wie auch die langfristige
Personalplanung läuft oft völlig am tatsächlichen Be-
darf vorbei.

Die Dienstleistungsgewerkschaft Verdi bezifferte im
Februar den Personalmangel in der Pflege auf
70 000 Vollzeitstellen. Die Deutsche Krankenhausge-
sellschaft spricht lediglich von 3 000 Stellen. Wir wis-
sen also noch nicht einmal, wie hoch der eigentliche
Personalbedarf ist.

Was wir aber wissen, ist, dass sich in den letzten
Jahren die Arbeitsbedingungen in den Krankenhäu-
sern nicht zum Besseren entwickelt haben. Die zuneh-
mende Arbeitsverdichtung, die Überforderung durch
die wachsende Anzahl von Menschen, die nicht nur der
Pflege, sondern auch der Betreuung bedürfen, weil sie
zum Beispiel sehr alt oder dement sind, belasten die
Gesundheitsberufe im Alltag enorm.

Obendrein wurde das Pflegepersonal in einigen
Krankenhäusern in den letzten Jahren noch ausge-
dünnt, während zugleich das ärztliche Personal weiter
aufgestockt wurde. Das verstehe, wer will. Eigentlich
sollte es für jedes Krankenhaus ein natürliches Anlie-
gen sein, Personal in der Pflege auszubilden, weiterzu-
bilden und dieses qualifizierte Personal dann auch zu
halten. Eine einseitige Fokussierung auf die Sicherung
der ärztlichen Belegschaft führt auf Dauer nicht zur
Qualitätssteigerung der Behandlung im Krankenhaus.
Eine Operation kann eben nicht stattfinden, wenn die
OP-Schwestern und Pfleger fehlen, mögen dabei noch
so viele Ärzte anwesend sein. Die Genesung der Pa-
tienten und Patientinnen ist nach einem gelungenen
Eingriff nicht selbstverständlich, wenn danach die
pflegerische Versorgung schlecht ist. Wir wissen doch,
dass sich die Rationierung von Pflegeleistungen auf
die Pflegequalität und somit auf die Ergebnisqualität
auswirkt.

Durch die Pflegestudie RN4Cast – eine der bislang
umfassendsten Datensammlungen zur Personalpla-
nung in der Pflege – wissen wir, dass die Unzufrieden-
heit des Pflegepersonals in den letzten Jahren zuge-
nommen hat. Das hat viele Ursachen; eine davon ist
die permanente Überlastungssituation durch Unterbe-
setzung. Auch die fehlende Vereinbarkeit von Beruf
und Familie, die mangelnde Anerkennung in der Orga-
nisation und noch vieles mehr führen zu Unzufrie-
denheit. Und unzufriedene Pflegekräfte erzielen
schlechtere Arbeitsergebnisse. Gerade in einem so
personenbezogenen Beruf ist diese Entwicklung nicht
akzeptabel.

Zu Protokoll gegebene Reden





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)


Die Studie machte auch deutlich, dass eine
schlechte Bedarfsplanung von Pflegekräften in einem
Land die Arbeitsmigration in andere Länder erhöht.
Können wir uns das leisten?

Es darf nicht dazu kommen, dass innerhalb der
Krankenhauspersonalplanung die Pflege als Stiefkind
behandelt wird, dass die Pflege als der Bereich gilt, bei
dem man als Erstes kürzen kann, wenn das Budget
knapper zu werden droht. Doch genau diese Entwick-
lung sehen wir derzeit.

Deshalb sehen auch wir Grüne die Notwendigkeit
einer Personalbemessung in der Pflege. Aber wir dür-
fen dabei die anderen Faktoren nicht aus den Augen
verlieren, die die Arbeitszufriedenheit beeinflussen.
Und es muss uns klar sein, dass wir derzeit über kein
wirklich gutes Instrumentarium verfügen. Die Pflege-
Personalregelung, PPR, ist aus heutiger Sicht nicht
mehr ausreichend. Sie ist zu oberflächlich und nicht
mehr aktuell.

Was wir also brauchen, ist ein neues Personalbe-
darfsermittlungsverfahren. Das muss sowohl den fixen
Aufwand pro Patient und Patientin als auch den varia-
blen und zusätzlichen Aufwand abbilden. So sind bei-
spielsweise bei einer OP-Vorbereitung immer gleiche
Maßnahmen notwendig, die gut kalkulierbar und plan-
bar sind. Es gibt variable Aufwendungen, wie die
Versorgung einer Wunde, die sich unterschiedlich, un-
vorhersehbar, entwickeln können und auch an die Auf-
enthaltsdauer im Krankenhaus gebunden sind. Zudem
gibt es einen Zusatzaufwand, der je nach Anzahl der
Erkrankungen des Patienten und der Patientin weitere
Pflegetätigkeiten erfordert. All diese Positionen müs-
sen jeweils an die unterschiedlichen Fachbereiche ei-
nes Krankenhauses angepasst werden.

Das ist kein leichtes Unterfangen, und das sollten
wir bei allem Eifer auch berücksichtigen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722837900

Interfraktionell ist die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/12095 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Da es keine ander-
weitigen Vorschläge gibt, ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 26:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss)


– zu der Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Änderung der Vorschriften
über elektromagnetische Felder und das
telekommunikationsrechtliche Nachweisver-
fahren

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Vierter Bericht der Bundesregierung über
die Forschungsergebnisse in Bezug auf die
Emissionsminderungsmöglichkeiten der ge-
samten Mobilfunktechnologie und in Bezug
auf gesundheitliche Auswirkungen

– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung

Fünfter Bericht der Bundesregierung über
die Forschungsergebnisse in Bezug auf die
Emissionsminderungsmöglichkeiten der ge-
samten Mobilfunktechnologie und in Bezug
auf gesundheitliche Auswirkungen

– Drucksachen 17/12372, 17/12441 Nr. 2.4,
17/4408, 17/4588 Nr. 3, 17/12027, 17/12238
Nr. 1.4, 17/12738 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Dirk Becker
Michael Kauch
Sabine Stüber
Sylvia Kotting-Uhl

Der Ausschuss hat in seine Empfehlung den Vierten
und Fünften Bericht der Bundesregierung über die For-
schungsergebnisse in Bezug auf die Emissionsminde-
rungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunktechnologie
und in Bezug auf gesundheitliche Auswirkungen mit
einbezogen. Diese Vorlagen sollen jetzt ebenfalls ab-
schließend beraten werden. – Sie sind damit einverstan-
den. Dann ist das so beschlossen.

Zu der Beratung der Verordnung der Bundesregierung
liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke
vor.

Die Reden sollen auch hier zu Protokoll gegeben
werden. – Sie sind damit einverstanden.1)

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit empfiehlt
in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12738,
in Kenntnis der Unterrichtungen auf den Drucksachen
17/4408 und 17/12027 der Verordnung der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/12372 zuzustimmen. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Regierungsfraktionen gegen die
Stimmen der Oppositionsfraktionen angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12742.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und
der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung
der Grünen abgelehnt.

Tagesordnungspunkt 27:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Memet
Kilic, Josef Philip Winkler, Katja Dörner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Das Kindernachzugsrecht am Kindeswohl
ausrichten

– Drucksache 17/12395 –

1) Anlage 7





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Michael Frieser (CSU):
Rede ID: ID1722838000

Der Antrag der Grünen impliziert zu Unrecht, dass

das Kindernachzugsrecht in Deutschland dem Kindes-
wohl entgegenstehen würde. Es wird ein Bild einer un-
menschlichen Abwehrhaltung heraufbeschworen, das
mit der Realität nichts gemein hat. Betrachten wir an
dieser Stelle die Rechtslage einmal realistisch. Die
Grundsätze der Familienzusammenführungsrichtlinie
werden unter anderem durch die Grundrechtecharta,
die UN-Kinderrechtskonvention und die Menschen-
rechtskonvention gewährleistet.

Als Erstes zu der Forderung, die Integrationsbedin-
gungen für über 16-jährige Kinder beim Nachzug auf-
zuheben. Diese Forderung sieht nur bei oberfläch-
licher Betrachtung wie ein Segen für die Jugendlichen
aus.

Hier ist zunächst anzumerken, dass die Familien-
zusammenführungsrichtlinie grundsätzlich Einschrän-
kungen für Kinder ab 12 Jahren gestattet. Die deutsche
Regelung setzt hingegen erst bei Jugendlichen ab
16 Jahren an.

Je jünger Kinder bei der Einreise sind, desto ein-
facher fällt ihnen das Erlernen der Sprache des Auf-
nahmelandes. In der Regel ist ihre Integrationsfähig-
keit hoch, da sie bei ihren Eltern in der neuen Kultur
aufwachsen. Anders ist die Situation von über 16-jäh-
rigen Jugendlichen, die bereits ein recht eigenständi-
ges Leben führen, in ihrer Heimat sozialisiert und inte-
griert sind und nicht wie jüngere Kinder auf ihr
Elternhaus angewiesen sind. Da sich die Vorausset-
zungen der Kinder mit steigendem Alter zum Zeitpunkt
des Nachzugs verändern, sind auch die unterschied-
lichen Regelungen gerechtfertigt. Ein Jugendlicher,
bei dem entweder aufgrund seiner Sprachkenntnisse
oder aufgrund seiner bisherigen Ausbildung und Le-
bensverhältnisse zu vermuten ist, dass er sich in die
Lebensverhältnisse in Deutschland einfügen kann,
kann sich in unserem Land eine Zukunft aufbauen. Das
Ziel der geforderten positiven Integrationsprognose
dient dem Jugendlichen, der nicht aus seiner Heimat
herausgerissen werden soll, wenn die Prognose zeigt,
dass er in Deutschland keine Zukunft hat.

Als Integrationsbeauftragter der CDU/CSU-Frak-
tion weiß ich, dass Integrationspolitik erfolgreich und
praktikabel organisiert werden muss, sodass wir zu ei-
nem gedeihlichen Miteinander kommen. Wer das nicht
tut, wird den Menschen nicht gerecht. Nicht für alle
Menschen ist der Zuzug nach Deutschland der beste
Weg. Es ist weder für die Menschen noch für das Auf-
nahmeland praktikabel, die Möglichkeiten für den Zu-

zug losgelöst von der Möglichkeit einer erfolgreichen
Integration zu betrachten.

In einer Studie des Sachverständigenrats deutscher
Stiftungen für Integration und Migration befand von
1 220 befragten Drittstaatsangehörigen in Deutsch-
land – also die Menschen, die von der Regelung betrof-
fen sind – eine Mehrheit von 69,8 Prozent die von den
Grünen kritisierten Sprachanforderungen als hilf-
reich! Nur 3,3 Prozent nahmen an, dass die Anforde-
rungen den neu zuwandernden Familienangehörigen
nicht helfen, sich von Anfang an in Deutschland zu-
rechtzufinden.

Die Einzigartigkeit jeder familiären Situation bringt
es mit sich, dass in Einzelfällen der Nachzug eines
Kindes geboten ist, obwohl grundsätzlich kein recht-
licher Anspruch gegeben ist. Für diese Fälle existiert
eine Härtefallregelung in § 32 Abs. 4 AufenthG.

Die Grünen fordern nun statt der Berücksichtigung
einer besonderen Härte lediglich die Orientierung allein
am Kindeswohl. Wie bereits ausgeführt, dienen die ge-
forderten Integrationsbedingungen bereits dem Kindes-
wohl.

Der Vollzug des Aufenthaltsgesetzes liegt in der
Kompetenz der Länder. Bei der Anwendung der Härte-
fallregelung ist jeder Sachbearbeiter an Recht und Ge-
setz gebunden. Er muss für seine Ermessensentschei-
dung alle Aspekte des Einzelfalls berücksichtigen.

Auch die Kritik an der Prüfung ausländischer Ur-
kunden und der Möglichkeit, im Familiennachzugsver-
fahren das Verwandtschaftsverhältnis mittels DNS-
Test nachweisen zu lassen, zeigt, dass die Verfasser des
vorliegenden Antrags nicht mit den tatsächlichen Ge-
gebenheiten und Bedürfnissen der Antragsteller ver-
traut sind.

Der Vorwurf, es würden pauschal Zweifel an der
Echtheit von Urkunden geäußert, obwohl die Antrag-
steller keine Möglichkeit hätten, auf die Zuverlässig-
keit des Urkundenwesens einzuwirken, zeigt das man-
gelnde Verständnis für den Sinn und Zweck einer
Urkundenprüfung. Es geht bei der Prüfung der Echt-
heit von Urkunden nicht um ein eventuelles Verschul-
den der Antragsteller, sondern um die Tatsache, dass
es Länder mit gravierenden Mängeln im Urkundenwe-
sen gibt, die den Beweiswert der Urkunde tangieren.
Für diese Fälle bieten die Auslandsvertretungen im
Rahmen der Amtshilfe die Vermittlung eines Urkun-
denüberprüfungsverfahrens an.

Wenn dennoch ein entscheidungserheblicher Nach-
weis der Abstammung nicht erbracht werden kann, be-
steht die Möglichkeit eines freiwilligen DNS-Abstam-
mungsgutachtens. Die Forderung, diesen freiwilligen
Nachweis nur noch als Ultima Ratio zuzulassen, ver-
kennt, dass in einigen Fällen ein DNS-Beweis für die
Betroffenen leichter und schneller zu erbringen ist als
die vermeintlich weniger belastenden Beweismittel.
Ein Zwang zur Durchführung eines DNS-Abstam-
mungsgutachtens besteht nicht.





Michael Frieser


(A) (C)



(D)(B)


Zusammenfassend ist festzustellen, dass der vorlie-
gende Antrag den praktischen Anforderungen an das
Nachzugsverfahren nicht gerecht wird und deshalb ab-
zulehnen ist.


Rüdiger Veit (SPD):
Rede ID: ID1722838100

Die Kolleginnen und Kollegen der Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen wollen mit dem vorliegenden
Antrag erreichen, dass das Kindernachzugsrecht am
Kindeswohl ausgerichtet wird. Auch für uns ist das
Wohlergehen von Kindern von besonderer Wichtigkeit.
So fordern wir in unserem Gesetzentwurf zur Verbesse-
rung der Situation Minderjähriger im Aufenthalts- und
Asylverfahrensrecht: Im Aufenthalts- und im Asylver-
fahrensgesetz wird klargestellt, dass bei der Rechtsan-
wendung das Wohl des Kindes ein vorrangig zu be-
rücksichtigender Gesichtspunkt ist.“

In § 32 Abs. 2 AufenthG werden für den Nachzug
von Kindern über 16 Jahren besondere – die Nach-
zugsmöglichkeiten beschränkende – Bedingungen er-
hoben. Deutschland ist der einzige Staat in der Euro-
päischen Union, der solchermaßen verfährt.

Es mag zunächst dahingestellt bleiben, ob die Ant-
wort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der
Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die Grünen,
Drucksache 17/10279, eine befriedigende Auskunft
gibt, was wissenschaftlich belastbare Erkenntnisse
angeht, nach denen über 16-jährige nachziehende Kin-
der mehr Probleme bei der Integration in Deutschland
aufwiesen als im Familienverband eingereiste Kinder.
Die vage Antwort, Kinder im schulpflichtigen Alter
integrierten sich oftmals besser als solche, die fast bis
ins Erwachsenenalter in einer anderen Kultur auf-
wüchsen, stellt meiner Ansicht nach eher eine schlichte
Behauptung dar als eine empirisch nachgewiesene Tat-
sache.

Nicht von der Hand zu weisen ist jedoch das im vor-
liegenden Antrag von den Kolleginnen und Kollegen
vorgetragene Argument, dass das Spracherfordernis
des § 32 Abs. 2 AufenthG für den Nachzug eines Kin-
des über 16 Jahren, das Beherrschen der deutschen
Sprache – was laut den Allgemeinen Verwaltungsvor-
schriften zum Aufenthaltsgesetz, AVwV-AufenthG, die
Stufe C 1 der kompetenten Sprachanwendung des Ge-
meinsamen europäischen Referenzrahmens für Spra-
chen, GER, bedeutet –, wesentlich höher ist als das für
die Einbürgerung eines Ausländers geforderte Sprach-
niveau B 1 GER. Das ist auch in meinen Augen ein
Wertungswiderspruch.

Andererseits ist das Beherrschen der deutschen
Sprache gemäß § 32 Abs. 2 AufenthG nur ein Erforder-
nis für die Einreise eines über 16-jährigen Kindes. Da-
neben kann der Nachzug auch gewährt werden, wenn
„gewährleistet erscheint, dass es sich aufgrund seiner
bisherigen Ausbildung und Lebensverhältnisse“ in
Deutschland wird einfügen können. Diese Alternative
setzt dann nicht mehr so gute Sprachkenntnisse voraus,
wenngleich Sprachkenntnisse auch hier Indizien für
eine positive Integrationsprognose sind. Laut den All-

gemeinen Verwaltungsvorschriften zum Aufenthaltsge-
setz soll das dann angenommen werden können, wenn
das Kind in einem Mitgliedstaat der Europäischen
Union, des Abkommens über den Europäischen Wirt-
schaftsraum oder einem der in § 41 Abs. 1 Aufenthalts-
verordnung genannten Staaten aufgewachsen ist. Wa-
rum sich Kinder aus Australien, Israel, Japan, Kanada,
der Republik Korea oder Andorra und Honduras leich-
ter bei uns integrieren können als zum Beispiel türki-
sche Kinder, vermag ich nicht nachzuvollziehen und
finde es auch vom Ansatz her diskriminierend. Insofern
ist auch diese Alternative des § 32 Abs. 2 AufenthG
eher eng.

Diese letztgenannten Voraussetzungen finden sich
allerdings wohlgemerkt nicht im Gesetz, sondern in
den Verwaltungsvorschriften. Der Gesetzestext selbst
ist hier nicht so restriktiv.

Der Forderung der Antragstellerinnen und -steller
nach einer Angleichung der Nachzugsansprüche von
subsidiär geschützten Personen an die von GFK-
Flüchtlingen können wir uns anschließen. Wir teilen
die Argumentation der Antragsteller auch dahin ge-
hend, dass eine Gleichstellung von subsidiär geschütz-
ten Personen mit GFK-Flüchtlingen unter anderem
deswegen erfolgen muss, weil Deutschland im Septem-
ber 2011 die Neufassung der sogenannten Qualifika-
tionsrichtlinie beschlossen hat, in der eben gerade die
Gleichbehandlung von GFK-Flüchtlingen mit Perso-
nen, die Anspruch auf subsidiären Schutz haben, be-
schlossen wurde. Außerdem trifft die Aussage der Bun-
desregierung in der Antwort auf die Kleine Anfrage
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen nicht zu, dass
„der Schutzbedarf von Personen mit Anspruch auf
subsidiären Schutz … häufig zeitlich begrenzt“ sei.
Dies ist, soweit mir bekannt, eine nirgends nachgewie-
sene Behauptung.

Die Kolleginnen und Kollegen von Bündnis 90/Die
Grünen wollen des Weiteren den Familiennachzug für
alle Personen mit einem humanitären Aufenthaltsrecht
öffnen, was bislang nicht geltendes Recht ist. Begrün-
dung hierfür war immer, dass der Aufenthalt dieser
Personen ein vorübergehender ist. Die Praxis hat aber
längst gezeigt, dass dies nicht zutrifft. Zudem muss
auch die Trennung der Familie eines sich mit einem
humanitären Aufenthaltsrecht in Deutschland aufhal-
tenden Flüchtlings an Art. 6 GG gemessen werden. Die
gesetzliche Fixierung einer quasi unüberwindlichen
Trennung für diese Personengruppe erscheint im
Lichte des Art. 6 GG als nicht haltbar.

Allerdings vermag ich dem Antrag nicht zu entneh-
men, wie der Anspruch konkret ausgestaltet werden
soll, also ob das Ergebnis eine Ermessens- oder An-
spruchsnorm sein soll. Eine Anspruchsnorm bedürfte
wohl doch noch ein paar mehr und vor allem genaue-
rer Voraussetzungen.

Unter Nr. II Lit. 1 Buchstabe f fordern die Kollegin-
nen und Kollegen, den Kindernachzug in den nicht von
den Abs. 1 bis 3 des § 32 AufenthG erfassten Fallkon-

Zu Protokoll gegebene Reden





Rüdiger Veit


(A) (C)



(D)(B)


stellationen allein am Kindeswohl zu orientieren und
nicht an einer im Einzelfall nachzuweisenden Härte.
Laut dem Gesetzestext ist das Kindeswohl – so wört-
lich – bereits jetzt bei der Beurteilung einer besonde-
ren Härte zu berücksichtigen.

Dies wird jedoch durch die Allgemeinen Verwal-
tungsvorschriften zum Aufenthaltsgesetz verschärft,
wo es heißt, dass bei der nach § 32 Abs. 4 AufenthG zu-
treffenden Ermessensentscheidung „insbesondere das
Wohl des Kindes und die einwanderungs- und integra-
tionspolitischen Belange der Bundesrepublik Deutsch-
land zu berücksichtigen“ sind. Ich finde es schon pro-
blematisch, wenn ein Entscheider bei einem Antrag auf
Kindernachzug prüfen soll, ob der Nachzug dem Kin-
deswohl entspricht und außerdem einwanderungspoli-
tisch gesehen Sinn macht. Sollte er zu dem Ergebnis
kommen, dass dies nicht der Fall ist, würde er dann ge-
gen das Kindeswohl entscheiden?

Mir ist klar, dass wir hier keine Verwaltungsvor-
schriften entwerfen, aber mein Erstaunen über die vor-
handenen wollte ich an dieser Stelle doch einmal geäu-
ßert haben.

Des Weiteren dringt die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen mit dem vorliegenden Antrag darauf, die
Durchführung von DNS-Abstammungstests an klare
Regeln zu binden und grundsätzlich nur in begründe-
ten, nicht anders zu lösenden Einzelfällen zur Bestim-
mung der Familienzugehörigkeit anzuwenden. Insbe-
sondere ist es ungerecht, einem Antragsteller, der alle
ihm zur Verfügung stehenden Unterlagen vorgelegt
hat, mit dem generellen Hinweis zu begegnen, dass die
von Behörden seines Landes ausgestellten Urkunden
generell nicht glaubhaft seien. Das hat er schwerlich
zu vertreten. Aus Datenschutzgründen und Gründen,
die das Persönlichkeitsrecht eines jeden Menschen
schützen, halten wir eine Einschränkung der Möglich-
keit der Durchführung von DNS-Tests grundsätzlich
für unterstützenswert. Ich kann auch nicht erkennen,
dass solche Tests aufenthaltsrechtlich notwendig wä-
ren.

Schließlich soll mit dem Antrag der Anspruch auf
Kindernachzug auch zu einem getrennt lebenden El-
ternteil ermöglicht werden, wenn die Eltern das Sorge-
recht gemeinsam ausüben und der andere Elternteil
zugestimmt hat. Abgesehen davon, dass der Begriff des
„alleinigen Sorgerechts“ in vielen Staaten so nicht
vorhanden ist, ist es in der heutigen Zeit bei der Viel-
zahl der verschiedenen Lebensentwürfe und Familien-
zusammensetzungen nicht mehr angebracht, die Ent-
scheidung, wo ein Kind leben darf und wo nicht, von
dem alleinigen Sorgerecht abhängig zu machen. Viel-
mehr sollte auch hier das Kindeswohl im Mittelpunkt
stehen und die Zustimmung beider Eltern dazu, wo das
Kind am besten leben soll.

In vielen Fragen stimmen wir den im vorliegenden
Antrag erhobenen Forderungen zu. Einige sind uns je-
doch noch etwas zu ungenau. Wir gehen davon aus,

dass sie in den Ausschusssitzungen und laufenden Be-
ratungen konkretisiert werden.

Hartfrid Wolff (Rems-Murr) (FDP):
Zuwanderer sind in Deutschland willkommen. Wir

sehen die Chancen einer durch Zuwanderung berei-
cherten Gesellschaft und wollen diese stärken.

Zuwanderer sind aber selbst auch klar gefordert.
Die deutsche Sprache, die Grund- und Menschen-
rechte sowie Demokratie und Rechtsstaat sind das für
alle geltende Fundament unserer Gesellschaft.

Grüne, Linke und Sozialdemokraten wollen, wie sie
wieder einmal in Antragsform zeigen, etwas anderes:
Sie wollen die Abschaffung einer Deutschlernpflicht
für nachzugswillige Familienmitglieder. Damit werden
sie, wie immer mit solchen Anträgen zur Migrations-
politik, die Akzeptanz von Ausländern in Deutschland
erschweren, indem sie falsche Erwartungen wecken
und statt Engagement nur Anspruchsdenken fördern.

Die Oppositionsparteien und vor allem Linke und
Grüne verwenden jeden beliebigen Vorgang aus der
Zuwanderungspolitik, um einer ungesteuerten Zuwande-
rung das Wort zu reden. Wachsende Belastungen für die
sozialen Sicherungssysteme und ansteigende Auslän-
derfeindlichkeit nehmen sie dafür billigend in Kauf.

Wer, wie die Grünen mit dem vorliegenden Antrag,
systematisch verhindern will, dass Menschen, die nach
Deutschland kommen, hier auch eine Lebensperspek-
tive haben und Chancen entwickeln können, der schadet
vor allem diesen Zuwanderern. Er schadet überhaupt
der Öffnung Deutschlands für qualifizierte Zuwande-
rung.

Wir sollten alle so ehrlich sein, gemeinsam anzuer-
kennen, dass abgeschottete Migrantenmilieus ohne
jegliches Interesse an deutscher Sprache und Integra-
tion in Deutschland nicht zum friedlichen Zusammen-
leben in Deutschland beitragen.

Wer dann noch, wie die Grünen im vorliegenden
Antrag, trotz anerkannt fragwürdiger Urkundenlage in
bestimmten Ländern in jedem Fall eine Einzelfallprü-
fung verlangt und die Kosten des Anliegens der Ein-
wanderer dem deutschen Steuerzahler aufbürden will,
der will durch uneingeschränkte Bürokratieaufblähung
jegliche Kontrolle der Einwanderung unterbinden.

Die Grünen freilich zielen auf eine nichtintegrierte
und daher im politischen Diskurs unmündige Men-
schenschar ab, die sie nach Möglichkeit trotzdem am
Wahlrecht teilhaben lassen wollen.

Wenn die Oppositionsparteien endlich nicht nur mit
Anträgen der vorliegenden Art um Migrantenstimmen
buhlen würden, sondern auch einmal die Anliegen des
friedlichen Zusammenlebens und der Bekämpfung der
Gettobildung aufgreifen wollten, wäre eine solche Ini-
tiative vielleicht ernst zu nehmen.

Wir Liberalen gestalten dagegen eine zukunftsträch-
tige Zuwanderungspolitik gemeinsam in der Koalition

Zu Protokoll gegebene Reden





Hartfrid Wolff (Rems-Murr)



(A) (C)



(D)(B)


mit der Union. Statt politischer Nachsicht mit Integra-
tionsfehlleistungen einerseits und daraus resultieren-
den Ressentiments der Bevölkerung gegen Zuwanderer
andererseits wollen wir eine Steuerung der Zuwande-
rung nach zusammenhängenden, klaren, transparenten
und gewichteten Kriterien, die die Integrationsziele
klar benennt und einfordert.

Wer dauerhaft hier leben und Bürgerrechte ausüben
will, muss Deutscher werden wollen. Die Vorausset-
zungen dazu gehören dabei gerade hinsichtlich der
zeitlichen Anforderungen auf den Prüfstand.

Umgekehrt wollen wir das dann aber auch ohne
Wenn und Aber zugestehen: Wir wollen eine neue Kul-
tur des Willkommens, die nicht falsche Versprechungen
auf Kosten anderer Leute macht, sondern Chancen
und Perspektiven eröffnet: für die, die nicht nur „terri-
torial“ nach Deutschland kommen, sondern in unse-
rem Land und unserer Gesellschaft auch wirklich an-
kommen wollen.

Wir halten es nicht für unzumutbar, Deutsch zu ler-
nen. Wir halten Zuwanderer nicht, wie SPD oder
Linke, für bemitleidenswerte und unfähige Menschen,
denen nur mit Nachsicht oder Sozialhilfe begegnet
werden kann und die auf Generationen hinaus mit dem
Unwort „Migrationshintergrund“ stigmatisiert werden
sollen.

Wir meinen, dass hier endlich ein Umdenken erfol-
gen muss: Statt der Unkultur eines auf Dauer erniedri-
genden Mitleids und des Verzichts auf Integrationsfor-
derungen muss Deutschland in der Integrationspolitik
endlich positiv denken.

In dieser Hinsicht sagen natürlich auch wir: Kin-
dernachzug ist ein wichtiges Thema. Aber wenn die
Antragsteller so tun, als würde das Kindeswohl beim
Nachzug missachtet, dann ist das einfach nicht hin-
nehmbar. Und die Antragsteller vergessen, dass es na-
türlich auch Missbrauchsmöglichkeiten gibt, die wir
im Blick behalten müssen.

Selbstverständlich muss man ständig prüfen, ob
man nicht etwas verbessern kann. Wir, FDP und CDU/
CSU, haben im Rahmen des Richtlinienumsetzungsge-
setzes das Kindeswohl ganz klar in den Mittelpunkt ge-
rückt – so stark wie keine Regierung zuvor.

Beispielhaft sei zudem erwähnt: Erstmals gibt es
dank der schwarz-gelben Koalition ein bundesgesetz-
liches Bleiberecht für Kinder und Jugendliche – unab-
hängig vom Status der Eltern.

Wir brauchen eine Kultur der Anerkennung für die-
jenigen Zuwanderer, die die Integration in Deutsch-
land geschafft haben. Wir halten integrierte Zuwande-
rer mit ihren Erfahrungen für eine große Bereicherung
unserer Gesellschaft. Wir beglückwünschen diejeni-
gen, die sich erfolgreich integriert haben. Sie können
stolz auf ihre Leistung sein, und wir sind dankbar und
stolz, dass sie sich für Deutschland entschieden haben.

Die Grünen wollen ein Deutschland, in dem eth-
nisch klar voneinander segregierte Gruppen sprachlos
nebeneinanderher existieren.

Wir wollen ein Deutschland, in dem Menschen
– egal welcher Herkunft – friedlich miteinander leben
und sich über die Ziele ihres Zusammenlebens verstän-
digen und Vorbehalte, Vorurteile und Ängste durch
Kommunikation abbauen können.

Das ist der Unterschied zwischen der rot-rot-grü-
nen „Toleranz durch Ignoranz“ und der liberalen Kul-
tur des Willkommens.


Sevim Dağdelen (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1722838200

Die Linke setzt sich seit langem für ein möglichst

umfassendes Recht auf Familienzusammenführung
ein, das insbesondere auch nicht von der wirtschaftli-
chen und sozialen Lage der Betroffenen abhängig ge-
macht werden darf. Die Linke fordert, dass die zahlrei-
chen Einschränkungen des Menschenrechts auf
Familienzusammenleben in der Praxis endlich ohne
Wenn und Aber beendet werden. So wie die Gesetzes-
lage und die Verwaltungspraxis insgesamt von einer
generellen Abwehrhaltung, von Misstrauen, Unterstel-
lungen und Generalverdacht geprägt sind, zeigt sich
auch beim Nachzug von minderjährigen Kindern aus-
ländische Eltern dieser (Un-)Geist der „Steuerung“,
und das meint vor allem „Begrenzung“ von Migration.
Auch wenn die Bundesregierung 2010 nach jahrelan-
gem Verzögern den Vorbehalt zur UN-Kinderrechts-
konvention zurückgenommen hat, lässt dies leider
nicht darauf schließen, dass ihr das Kindeswohl im Zu-
sammenhang mit der Migration tatsächlich am Herzen
liegt. Dagegen spricht bereits die Auffassung der Bun-
desregierung, dass die Rücknahme des Vorbehalts kein
Gesetzesänderungen im Asyl- und Aufenthaltsgesetz
und insbesondere bezüglich der Frage der aufent-
haltsrechtlichen Handlungsfähigkeit Minderjähriger
ab 16 Jahren bedarf. Die Beschränkung des Kinder-
nachzugs auf das 16. Lebensjahr verhindert oft, dass
der Aufenthaltswechsel zu einem für den Jugendlichen
günstigeren Zeitpunkt erfolgen kann, also zum Beispiel
erst nach Abschluss einer Ausbildung. In jedem Fall
verhindert sie in vielen Fällen das Zusammenleben
von 16- und 17-jährigen Jugendlichen mit ihren
Eltern. Die Linke fordert auch die Berücksichtigung
von familiären Bindungen über die Kernfamilie hi-
naus, wie es zum Beispiel im EU-Freizügigkeitsrecht
der Fall ist, auch wenn diese Regelungen uns noch
nicht weit genug gehen.

Auch wenn § 32 des Aufenthaltsgesetzes, AufenthG,
und einige Stellen der Allgemeinen Verwaltungsvor-
schrift zum Aufenthaltsgesetz, insbesondere bezüglich
der Familienzusammenführung, eine Kindeswohlprü-
fung beim Kindernachzug vorsehen – ein systematisch
und wirksam zu berücksichtigender Vorrang des Kin-
deswohls ist im Asyl- und Aufenthaltsrecht nicht ver-
ankert. Dass es letztlich wie beim Ehegattennachzug
auch um eine soziale Selektion geht, zeigt, dass schon
der theoretische Anspruch auf Leistungen des SGB II

Zu Protokoll gegebene Reden





Sevim Dağdelen

(A) (C)



(D)(B)


die Familienzusammenführung verhindert – und das,
obwohl in Deutschland generell Familien und Allein-
erziehende besonders von Armut bedroht sind. Bei Mi-
grantinnen und Migranten und hierbei insbesondere
bei Ausländerinnen und Ausländern wissen wir, dass
zu den finanziellen noch ausländerrechtliche Probleme
hinzukommen, die ihnen das Leben schwer machen

(sollen). Eine tatsächliche Inanspruchnahme von so-

zialen Leistungen kommt für viele gar nicht oder nur
teilweise infrage, weil das den weiteren Aufenthalt ge-
fährden könnte oder die Betroffenen dies zumindest
fürchten müssen. Zwar wird der Bezug von Ausbil-
dungsförderung bei der aufenthaltsrechtlichen Beur-
teilung inzwischen nicht mehr als „schädlich“ angese-
hen; ein indirekter Druck auf ausländische Kinder und
Jugendliche, längere Ausbildungen zu meiden, besteht
jedoch nach wie vor, weil sich das geringe oder feh-
lende Einkommen während einer Ausbildung oder des
Studiums negativ auf den Status insbesondere auch von
Familienangehörigen auswirken kann.

Auch die Verstöße gegen EU-Recht und die Recht-
sprechung des Europäischen Gerichtshofs beim Kin-
dernachzug sind eklatant. Insbesondere fehlt eine ernst
zu nehmende individuelle Einzel- und Verhältnismä-
ßigkeitsprüfung, wie es zum Beispiel im Chakroun-
Urteil des EuGH gefordert wurde, wenn auch nur eine
Nachzugsvoraussetzung nicht erfüllt ist. Den Nachzug
von Kindern zu ihren Eltern mit der Begründung zu
verhindern, dass der Lebensunterhalt um 20 Euro zu
niedrig liegt, ist eben nicht nur offenkundig unmensch-
lich, sondern auch ein Verstoß gegen EU-Recht.

Eine besondere ausländerrechtliche Schikane und
Diskriminierung ist im Gendiagnostikgesetz festge-
schrieben, wonach ausländischen und binationalen
Familien weniger Schutzrechte zugestanden werden
als anderen Personen, die sich einem Gentest unterzie-
hen. Die Regelungen zur Durchführung eines Abstam-
mungstestes dienen ausschließlich der Feststellung
von biologischen Verwandtschaftsverhältnissen. Die in
§ 17 Abs. 8 des Gendiagnostikgesetzes enthaltene Son-
derregelung beim Nachweis eines Verwandtschaftsver-
hältnisses unter anderem im aufenthaltsrechtlichen
Verfahren zum Familiennachzug muss ersatzlos gestri-
chen werden; denn Migrantinnen und Migranten aus
über 40 Staaten sind von einer diskriminierenden
Praxis betroffen. Von ihnen werden Urkunden zum
Nachweis der Verwandtschaft nicht anerkannt und
auch andere behördliche Belege oftmals nicht akzep-
tiert. Den biologischen Abstammungsnachweis durch
einen DNA-Test für diese Menschen zum maßgeblichen
Kriterium für die Beurteilung der Familienbeziehung
zu machen, haben wir damals abgelehnt und lehnen
ihn heute ab; denn Kindern von sozialen Vätern wird
damit faktisch ihr Grundrecht auf Familienzusammen-
leben verwehrt. Beim Nachweis eines Verwandt-
schaftsverhältnisses bei Staatsangehörigen aus so-
genannten Problemstaaten mit – aus Sicht der
Bundesrepublik Deutschland – unzureichenden Ur-
kundssystemen dürfen keine überhöhten Anforderun-
gen gestellt werden. Im Zweifelsfall muss zum Beispiel

die Abgabe von Versicherungen an Eides statt zur Klä-
rung der Familiensituation ausreichen, wenn keine ge-
genteiligen gesicherten Erkenntnisse vorliegen.

Im Zuwanderungsrecht hat das Kindeswohl grund-
sätzlich nur unzureichend Niederschlag gefunden,
ganz zu schweigen vom Vorrang des Kindeswohls. Die
UN-Kinderrechtskonvention verlangt eine vorrangige
Berücksichtigung des Kindeswohls bei allen staatli-
chen Maßnahmen, unabhängig von Herkunft und
Status des Kindes. Die bisherigen Bundesregierungen
haben keine Abhilfe dafür geschaffen, die konventions-
widrige Missachtung des Kindeswohls endlich zu be-
enden bzw. zu verhindern. Die Linke fordert deshalb
eine ausdrückliche Verankerung der vorrangigen Be-
rücksichtigung des Kindeswohls im Asylverfahrens-,
Asylbewerberleistungs- und Aufenthaltsgesetz. Die
Familienzusammenführung muss so gestaltet werden,
dass das Kindeswohl dabei Priorität hat. Das Recht
auf ein wohlwollendes, humanes und beschleunigtes
Verfahren muss in der Verwaltungspraxis umgesetzt
werden.

Den Antrag der Grünen begrüßen wir unabhängig
von unseren im Detail weitergehenden Forderungen,
weil er unstrittige Probleme und Einschränkungen des
Kindernachzugs aufzeigt und beseitigen will. Schade
ist nur, dass er so spät in der Legislaturperiode einge-
bracht wird; denn eine ernst zu nehmende, gründliche
Beratung dieses Antrags ist in der verbleibenden Zeit
bis zur Sommerpause wohl nicht mehr zu erwarten.


Memet Kilic (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1722838300

Im deutschen Recht wird der Kindernachzug durch

verschiedene Vorschriften erheblich erschwert. Pro-
bleme gibt es insbesondere bei dem Nachzug von über
16-jährigen Kindern sowie bei Kindern von Personen
mit einem humanitären Aufenthaltstitel und getrennt
lebenden Elternteilen, die die Personensorge gemein-
sam ausüben.

Es ist Zeit, die familienfeindlichen Regelungen im
Nachzugsrecht zu überwinden und endlich die Interes-
sen der Kinder in den Vordergrund zu stellen. Ich
möchte im Folgenden auf einige unserer Vorschläge
eingehen.

Minderjährige ab dem 16. Lebensjahr müssen für
den Nachzug zu ihren hier lebenden Eltern entweder
Sprachkenntnisse oder sonstige Integrationsvoraus-
setzungen nachweisen. Die von den Kindern geforder-
ten Sprachkenntnisse liegen sogar deutlich über den
Anforderungen für eine Einbürgerung. Dadurch wer-
den der Nachzug und die Familienzusammenführung
stark erschwert und teilweise sogar verhindert.

Hinzu kommt, dass Kinder aus bestimmten Ländern
benachteiligt werden. Die Bundesregierung prognosti-
ziert zum Beispiel bei Kindern aus Australien, Israel,
Japan, Kanada, der Republik Korea, Neuseeland und
den USA in der Regel gute Integrationsvoraussetzungen,
während bei Kindern aus anderen Staaten pauschal
schlechtere Integrationsvoraussetzungen vermutet wer-

Zu Protokoll gegebene Reden





Memet Kilic


(A) (C)



(D)(B)


den. Möglicherweise sind die Lernvoraussetzungen für
Kinder in den restlichen Staaten schlechter als bei den
eben aufgezählten. Jedoch kann niemand belegen,
dass die Kinder aus den nichtprivilegierten Staaten
später spezifische Integrationsprobleme aufweisen.
Das ist reinste Wahrsagerei und bedenklich im Hin-
blick auf das Diskriminierungsverbot. Hinter jedem
Einzelfall stecken individuelle menschliche Schicksale.
Eine pauschale Betrachtung kann nicht infrage kom-
men.

Deutschland hat damit die härtesten Regeln inner-
halb der Europäischen Union; denn kein anderes EU-
Land hat diese Sonderregelungen für 16- bis 18-jährige
Kinder. Es ist verfehlt, für den Zuzug nach Deutsch-
land höhere Sprachanforderungen zu stellen, als für
eine Einbürgerung erforderlich sind. Die Integrations-
bedingungen für über 16-jährige Kinder beim Nach-
zug müssen aufgehoben werden.

Im deutschen Kindernachzugsrecht werden subsi-
diär geschützte Personen gegenüber Flüchtlingen
nach der Genfer Flüchtlingskonvention benachteiligt.
Dabei sollten beide Personengruppen nach der EU-
Qualifikationsrichtlinie von 2011 gleichbehandelt
werden. Die Bundesregierung hat dieser Richtlinie
zwar zugestimmt, jedoch setzt sie den Beschluss nicht
um. Es gibt absolut keinen Grund die überfällige
Gleichstellung dieser Personengruppen nicht schon
heute umzusetzen. Deshalb fordern wir eine sofortige
Gleichbehandlung im Kindernachzug.

Nach geltendem Recht sind Personen mit bestimm-
ten, insbesondere humanitären Aufenthaltstiteln vom
Kindernachzug ausgeschlossen. Das hat das Bundes-
verfassungsgericht schon 1987 klargestellt: Auch
nichtdeutsche Familienangehörige stehen nach Art. 6
Grundgesetz unter dem besonderen Schutze der staat-
lichen Ordnung. Der dauerhafte Ausschluss des Fami-
liennachzugs ist ein gravierender Eingriff in das Recht
auf familiäres Zusammenleben. Wir gehen davon aus,
dass die Regelung grundrechtswidrig ist. Dem soll die-
ser Antrag abhelfen.

Darüber hinaus wird besonders der Nachzug von
Kindern getrennt lebender Elternteile in unzumutbarer
Weise erschwert. Sie dürfen grundsätzlich nur zu ihrem
Elternteil nachziehen, wenn dieser das alleinige Sor-
gerecht hat. Damit wird der Nachzug von Kindern aus
Ländern, die ein alleiniges Sorgerecht nach unserem

Verständnis nicht kennen, weitgehend ausgeschlossen.
Zwar sieht das Aufenthaltsrecht noch eine Härtefallre-
gelung vor. Wir wissen aber alle, dass es praktisch un-
möglich ist, die zuständigen Behörden von einer be-
sonderen Härte zu überzeugen. Auch hier gibt es
dringenden Änderungsbedarf. Maßgeblich sollte al-
lein sein, dass der zusammenführende Elternteil sorge-
berechtigt ist und der andere Elternteil dem Nachzug
zugestimmt hat.

Besonders wichtig ist uns schließlich eine Öffnung
des Kindernachzugs im Ermessen. Bei den Verhand-
lungen zum Zuwanderungsgesetz hatten wir damals
mit der SPD in die Härtefallregelung aufgenommen,
dass das Kindeswohl und die familiäre Situation vor-
rangig berücksichtigt werden sollten. Die Bundesre-
gierung hat die Absicht des damaligen Gesetzgebers
jedoch konterkariert. Nach der von ihr entworfenen
Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthalts-
gesetz soll der Rechtsanwender – gleichberechtigt
neben dem Kindeswohl – den auf „Steuerung und
Begrenzung“ ausgerichteten „integrations- und ein-
wanderungspolitischen Belangen der Bundesrepublik
Deutschland“ Geltung verschaffen. Der Kindernach-
zug im Ermessen ist dadurch weitgehend zum Erliegen
gekommen. Wir schlagen daher vor, den Kindernach-
zug nicht vom Vorliegen einer besonderen Härte ab-
hängig zu machen und das Ermessen der zuständigen
Behörden allein am Kindeswohl zu orientieren.

Wir müssen die unzumutbaren Steine auf dem Weg
zur Familienzusammenführung beseitigen. Mit unse-
rem Antrag fordern wir die Bundesregierung auf, das
Kindernachzugsrecht am Kindeswohl auszurichten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1722838400

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/12395 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist das so beschlossen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung. Ich berufe die
nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf morgen,
Freitag, den 15. März 2013, 9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen.

Ich wünsche Ihnen eine freundliche Nacht.