Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28583
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Bleser, Peter CDU/CSU 14.03.2013
        Buchholz, Christine DIE LINKE 14.03.2013
        Canel, Sylvia FDP 14.03.2013
        Dr. Enkelmann, Dagmar DIE LINKE 14.03.2013
        Fell, Hans-Josef BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Dr. Gerhardt, Wolfgang FDP 14.03.2013
        Gohlke, Nicole DIE LINKE 14.03.2013
        Groß, Michael SPD 14.03.2013
        Dr. Happach-Kasan,
        Christel
        FDP 14.03.2013
        Dr. Hein, Rosemarie DIE LINKE 14.03.2013
        Herlitzius, Bettina BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Hintze, Peter CDU/CSU 14.03.2013
        Hörster, Joachim CDU/CSU 14.03.2013
        Hoff, Elke FDP 14.03.2013
        Dr. Jochimsen, Lukrezia DIE LINKE 14.03.2013
        Korte, Jan DIE LINKE 14.03.2013
        Krumwiede, Agnes BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Kühn, Stephan BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Leidig, Sabine DIE LINKE 14.03.2013
        Luksic, Oliver FDP 14.03.2013
        Dr. Luther, Michael CDU/CSU 14.03.2013
        Mast, Katja SPD 14.03.2013
        Mayer (Altötting),
        Stephan
        CDU/CSU 14.03.2013
        Möller, Kornelia DIE LINKE 14.03.2013
        Montag, Jerzy BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Dr. Ott, Hermann E. BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Paus, Lisa BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Dr. Pfeiffer, Joachim CDU/CSU 14.03.2013
        Ploetz, Yvonne DIE LINKE 14.03.2013
        Pronold, Florian SPD 14.03.2013
        Reinhold, Hagen FDP 14.03.2013
        Remmers, Ingrid DIE LINKE 14.03.2013
        Dr. Riesenhuber, Heinz CDU/CSU 14.03.2013
        Roth (Augsburg),
        Claudia
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Sager, Krista BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Schäffler, Frank FDP 14.03.2013
        Schieder (Weiden),
        Werner
        SPD 14.03.2013
        Schlecht, Michael DIE LINKE 14.03.2013
        Schmidt (Eisleben),
        Silvia
        SPD 14.03.2013
        Dr. Schmidt, Frithjof BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Schreiner, Ottmar SPD 14.03.2013
        Strothmann, Lena CDU/CSU 14.03.2013
        Wagner (Schleswig),
        Arfst
        BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        14.03.2013
        Zimmermann, Sabine DIE LINKE 14.03.2013
        
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Anlagen
        28584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 2
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Jens Petermann, Raju Sharma,
        Halina Wawzyniak und Jörn Wunderlich (alle
        DIE LINKE) zur Abstimmung über den Ent-
        wurf eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte
        von Opfern sexuellen Missbrauchs (StORMG)
        (Tagesordnungspunkt 7 a)
        Wir haben uns bei dem benannten Gesetzentwurf ent-
        halten.
        Sexualisierte Gewalt gegenüber Kindern und Schutz-
        befohlenen ist ein sehr sensibles Thema. Dabei müssen
        der Schutz der Opfer und die Wiedergutmachung im
        Zentrum der Debatte stehen. Schutz der Opfer meint in
        allererster Linie Prävention. Der beste Opferschutz ist
        Prävention.
        Aus der Sicht der Opfer von sexualisierter Gewalt
        spricht viel dafür, die zivilrechtlichen Verjährungsvor-
        schriften zu verlängern. Alle Abgeordneten sprechen sich
        für die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjährungsfris-
        ten aus. Die existierende Frist von drei Jahren zur Gel-
        tendmachung von Schadenersatz- und Schmerzensgeld-
        ansprüchen ist deutlich zu kurz. Es ist richtig, dass Opfer
        sexualisierter Gewalt im Kindesalter oft massiv traumati-
        siert sind und erst als Erwachsene und nach Jahrzehnten
        in der Lage sind, ihr Schweigen zu brechen. Dass
        Schmerzensgeld- und Schadenersatzansprüche dann
        nicht mehr geltend gemacht werden können, sehen
        wir als erhebliches Problem an. Insoweit begrüßen wir
        ausdrücklich, dass in den Drucksachen 17/3646 und
        17/5774 die Verlängerung der zivilrechtlichen Verjäh-
        rungsfrist auf 30 Jahre gefordert wird, sowie in der
        Drucksache 17/5774 die Anhebung der Regelung zur
        Hemmung der zivilrechtlichen Verjährung.
        Aus rechtsstaatlicher Sicht problematisch ist die Ver-
        längerung der strafrechtlichen Verjährungsfristen in
        beiden Gesetzentwürfen. Die Einführung der strafrecht-
        lichen Verjährungsregelung in Drucksache 17/3646
        knüpft nicht mehr an die für die jeweilige Straftat vorge-
        sehene Höchststrafe an, sondern schafft eine bislang
        nicht bekannte Sonderregelung. Diese Regelung wie
        auch die Verschiebung des Beginns des Laufens der
        strafrechtlichen Verjährung auf das 25. Lebensjahr
        – Drucksache 17/5774 – sind aber aus rechtspolitischer
        Sicht im Hinblick auf den Gesichtspunkt der Rechts-
        sicherheit aus unserer Sicht nicht sachgerecht. Damit
        wird eine Strafverfolgung noch zu einem Zeitpunkt nach
        der Tat gestattet, zu der eine strafrechtliche Sachver-
        haltsaufklärung nach rechtsstaatlichen Maßstäben kaum
        noch möglich sein dürfte. In vielen Fällen wird eine un-
        zureichende Sachverhaltsaufklärung wegen des strafpro-
        zessualen Grundsatzes „in dubio pro reo“ zum Frei-
        spruch des mutmaßlichen Täters führen, was sich aus
        Sicht der Opfer als eine nachträgliche „amtliche Legiti-
        mierung der Tat“ darstellen und den Zweck des Verfah-
        rens aus Opfersicht konterkarieren würde.
        Anlage 3
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Strukturreform des Gebührenrechts des Bun-
        des (Tagesordnungspunkt 13)
        Helmut Brandt (CDU/CSU): Eine für Bürgerinnen
        und Bürger, Wirtschaft und Verwaltung transparente und
        nachvollziehbare Gebührenerhebung ist derzeit aufgrund
        der stark zersplitterten und heterogenen Struktur des
        Verwaltungsgebührenrechts des Bundes in weit mehr als
        200 Gesetzen und Rechtsverordnungen kaum möglich.
        Das ist lästig, teuer und bürokratisch. Ob es beispiels-
        weise um Informationen geht, die Personen oder Unter-
        nehmen benötigen, ob es um die Beantragung eines Per-
        sonalausweises oder um eine TÜV-Plakette geht – wir
        brauchen eine einheitliche Grundlage, aufgrund derer je-
        der die Kosten, die durch behördliches Handeln auf ihn
        zukommen, schnell, leicht und verlässlich nachvollzie-
        hen kann.
        Wie erreichen wir das?
        Mit der Allgemeinen Gebührenverordnung des Bundes
        sollen insbesondere einheitliche und anwenderfreund-
        liche Vorgaben für die Kalkulation kostendeckender Ge-
        bühren geschaffen werden. Dabei sollen die Gebühren
        grundsätzlich auf Grundlage von allgemein ermittelten
        Kostenpauschalen festgestellt werden, sodass die Behör-
        den in der Regel allein anhand von Zeitermittlungen die
        Gebühren für ihre Leistungen einfach und rechtssicher
        berechnen können. Zudem wird durch die grundsätzliche
        Bindung der Gebühr an eine nach betriebswirtschaft-
        lichen Maßstäben berechenbare Kostengrenze der „Preis“
        für die öffentliche Leistung für Bürger sowie Unterneh-
        men verständlich und klar nachvollziehbar. Insgesamt
        wird nicht nur erheblicher Verwaltungsaufwand abge-
        baut, sondern Bürger, Unternehmen und Verwaltung
        werden auch von unnötigen Rechtsverfolgungskosten
        entlastet.
        Tragender Grundsatz der Gebührenbemessung ist
        künftig das Kostendeckungsprinzip. Das bedeutet, dass
        die Kosten, die auf Bürger und Unternehmen für eine in
        Anspruch genommene Verwaltungsleistung zukommen,
        nicht höher sein dürfen als die Personal- und Sachkos-
        ten, die auf Verwaltungsseite für diese Leistung entste-
        hen. Bürger und Unternehmen sollen also künftig vor zu
        hohen, die tatsächlichen Kosten übersteigenden Gebüh-
        ren geschützt werden. Nach dem bisherigen Recht sind
        für die Gebührenhöhe auch die Bedeutung, der wirt-
        schaftliche Wert oder der Nutzen der öffentlichen Leis-
        tung maßgeblich. Diese Kriterien sind unscharf und ha-
        ben in der Vergangenheit teils zu weit über den
        tatsächlichen Kosten liegenden Gebührenforderungen
        geführt. Die Folge waren zahlreiche gerichtliche Aus-
        einandersetzungen. Mit der Deckelung der Gebühren
        durch eine klar nachweisbare Kostengrenze erreichen
        wir ein dringend gebotenes Mehr an Rechtssicherheit.
        Gebührenermäßigungen und sogar Gebührenbefreiun-
        gen sind sowohl durch die Gebührenverordnungen als
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28585
        (A) (C)
        (D)(B)
        auch durch die Behörde im Einzelfall möglich. Sie erlau-
        ben Ausnahmen vom Kostendeckungsprinzip, um sozia-
        len Belangen Rechnung zu tragen und fachspezifische
        Regelungsziele angemessen bei der Gebührenbemes-
        sung zu berücksichtigen. Damit ist im Sinne einer bür-
        gerfreundlichen Verwaltung sichergestellt, dass einkom-
        mensschwache Bürgerinnen und Bürger angemessen
        entlastet werden.
        Im Zeitalter des Computers und des Internets halten
        wir außerdem eine Privilegierung digitaler Kopien für
        notwendig. Mit Blick auf die Förderung einer elektroni-
        schen Verwaltung, die notwendige Entbürokratisierung
        und die Beschleunigung von Prozessen in der Verwal-
        tung ist es uns ein Anliegen, digitale Kopien zu fördern.
        Daher sollten diese günstiger sein als Papierkopien. Für
        die Verwaltung bedeutet es gerade bei umfangreichen
        Unterlagen weit weniger Aufwand, ein Dokument elek-
        tronisch zu versenden als der Kopiervorgang und die
        postalische Versendung. Um die Verwaltung zu entlas-
        ten, aber auch aus Gründen der Bürgerfreundlichkeit und
        der Umweltfreundlichkeit haben wir deshalb im Gesetz
        verankert, dass digitale Kopien gebührenmäßig privile-
        giert werden.
        Mit den Besonderen Gebührenverordnungen der Bun-
        desministerien wird das bislang in circa 200 Gesetzen
        und Verordnungen geregelte, stark zersplitterte Gebühren-
        recht des Bundes in einheitlich aufgebauten Gebühren-
        verordnungen gebündelt. Durch die Zusammenführung
        sämtlicher Gebührentatbestände im Zuständigkeitsbe-
        reich der Bundesministerien jeweils in Gebührenverord-
        nungen werden künftig Bürgerinnen und Bürger sowie
        Unternehmen in die Lage versetzt, sich schnell und ein-
        fach einen Überblick über für sie relevante Gebühren zu
        verschaffen.
        Die Bundesregierung wird bei der Konzipierung der
        Allgemeinen und Besonderen Gebührenverordnungen
        auf die ausgewogene Entwicklung der Gebühren achten.
        Zentrales Ziel ist es, einen für Bürgerinnen und Bürger
        sowie für Unternehmen bezahlbaren Zugang zu Verwal-
        tungsleistungen des Bundes sicherzustellen. Obwohl be-
        reits der Europäische Gerichtshof entschieden hat, dass
        Gebühren angemessen sein müssen, wird nun im Gesetz-
        entwurf noch einmal ausdrücklich festgehalten, dass die
        Höhe der Gebühren kein Hindernis für die Inanspruch-
        nahme einer Leistung sein darf.
        Künftig sind die Gebühren für öffentliche Leistungen
        der Länder grundsätzlich durch Landesrecht zu regeln.
        Dies vermeidet aufwendige Abstimmungsprozesse zwi-
        schen Bund und Ländern und vereinfacht die Rechtsan-
        wendung. Damit entspricht der Bund den Forderungen
        der Länder im Rahmen der Föderalismusreform, diesen
        im Gebührenrecht eigenständige Entscheidungs- und
        Gestaltungsspielräume zu verschaffen. Eine Ausnahme
        gilt für Gesetze, in denen ein Bedürfnis nach bundesein-
        heitlichen Gebührenregelungen für Leistungen von Län-
        derbehörden besteht. Dies ist beispielsweise im Straßen-
        verkehrsrecht der Fall, da in diesem Bereich eine von
        Land zu Land unterschiedliche Gebühr zu einem Wett-
        bewerb zulasten der Verkehrssicherheit führen könnte,
        zum Beispiel bei Gebühren für die Hauptuntersuchung
        an Kfz. In diesen Fällen bestimmt weiterhin der Bund
        – in Abstimmung mit den Ländern – die Gebühren.
        Viele Länder haben bereits einheitliche Gebührenge-
        setze, sodass es auch aus diesem Grund sinnvoll ist, dass
        der Bund nachzieht. Mit dem vorliegenden Gesetzent-
        wurf tragen wir zu mehr Transparenz und Verlässlichkeit
        im Rahmen der Gebührenberechnung und der Gebühren-
        erhebung bei. Wir bringen sozusagen Licht ins Dunkel.
        Das neue Bundesgebührengesetz, mit dem das mehr als
        40 Jahre alte Verwaltungskostengesetz abgelöst wird,
        modernisiert, bereinigt und vereinheitlicht das Verwal-
        tungsgebührenrecht für die gesamte Bundesverwaltung.
        Die Umsetzung der Reform erfolgt über einen Zeitraum
        von höchstens fünf Jahren durch die Allgemeine Gebüh-
        renverordnung der Bundesregierung und die Besonderen
        Gebührenverordnungen der Bundesministerien.
        Kirsten Lühmann (SPD): „Auch ein blindes Huhn
        findet einmal ein Korn“, hat meine Großmutter immer
        gesagt. Es ist ein seltener Glücksmoment, dessen Zeuge
        wir heute hier werden. Der Innenminister legt einen Ge-
        setzentwurf vor, der zum einen nicht in den Mühlen des
        schwarz-gelben Koalitionsbetriebes zermahlen wurde
        und zum anderen wirklich sinnvoll ist.
        Die Strukturreform des Gebührenrechts – nun ja, sie
        gehört nicht zu den drängendsten innenpolitischen Fra-
        gen unserer Zeit, aber es handelt sich dabei dennoch um
        eine sinnvolle Maßnahme. Schaut man sich an, wo das
        Verwaltungsgebührenrecht geregelt ist, findet man über
        200 Gesetze und Verordnungen des Bundes und der Län-
        der, von der Abfallverbringungskostenverordnung über
        die De-Mail-Kostenverordnung, die Projekt-Mechanis-
        men-Kostenverordnung, die Kostenverordnung für die
        Registrierung homöopathischer Arzneimittel bis zur
        Elektro- und Elektronikgerätegesetz-Kostenverordnung
        usw.
        Das vorliegende Gesetz bündelt nun Regelungen aus
        diesen zahlreichen Fachgesetzen, und das ist sinnvoll;
        denn es ist nicht notwendig, dass jede Fachverordnung
        einzeln regelt, wie zum Beispiel Gebühren für eine Aus-
        kunft berechnet werden. Das Recht wird durch die Bün-
        delung einfacher und unbürokratischer. Bei der Berech-
        nung von Gebühren wird zukünftig stärker das Prinzip
        der Kostendeckung zugrunde gelegt. Damit sollen die
        Behörden in die Lage versetzt werden, kostendeckende
        Gebühren festzulegen – in der Regel gemessen am Zeit-
        aufwand. Das ist nicht nur notwendig für die Kostende-
        ckung, sondern auch transparent für die Bürger und Bür-
        gerinnen.
        Ein weiteres Anliegen des Gesetzes ist die Entflech-
        tung von Bund-Länder-Recht. Dieses Ziel entspricht den
        Beschlüssen der Föderalismuskommission II. Die Fest-
        setzung von Gebühren durch den Bund ist teilweise sehr
        aufwendig: Erst muss in allen Ländern der Aufwand ab-
        gefragt werden, dann wird ein Durchschnittswert ermit-
        telt, der dann wiederum aber nicht für alle kostende-
        ckend ist.
        Es gibt zum Beispiel keinen Grund, warum die Ge-
        bühr für das Ausstellen eines Parkausweises für Anwoh-
        28586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        ner durch Bundesrecht geregelt werden muss. Besser ist
        es, Gebührentatbestände, die sich auf Leistungen bezie-
        hen, die durch Landesgesetze geregelt sind, auch durch
        die Länder oder Kommunen festlegen zu lassen. Das
        spart Abstimmungsaufwand, und dabei können regio-
        nale Besonderheiten berücksichtigt werden.
        Die Bundesregierung ist allerdings bei der Entflech-
        tung etwas übers Ziel hinausgeschossen. Im Verkehr soll-
        ten bundesweit einheitliche Regelungen bestehen blei-
        ben. Der Luftverkehr zum Beispiel wird ausschließlich
        durch Gesetzgebung des Bundes bzw. der EU geregelt.
        Hier wäre es nicht sinnvoll, die Gebühren in jedem Bun-
        desland einzeln zu regeln. Das wäre einerseits für die
        Bürger und Bürgerinnen nicht nachvollziehbar, und ande-
        rerseits wollen wir hier keinen Unterbietungswettbewerb.
        Insofern ist es gut, dass die Einwände des Bundesrates be-
        rücksichtigt wurden und die bundeseinheitlichen Gebüh-
        renregelungen im Verkehrsbereich beibehalten werden.
        Unter dem Strich sehen wir hier eindeutige Verbesserun-
        gen und stimmen daher dem Gesetzentwurf zu.
        Es wäre allerdings schön, wenn die Bilanz des Innen-
        ministers außer der Strukturreform des Gebührenrechts
        noch weitere Erfolge vorzuweisen hätte.
        Wenn wir das auch sagen könnten bei der Reform der
        Bundespolizei, dem NPD-Verbot, der Informationsfrei-
        heit und der Armutsmigration! Leider ist das in allen die-
        sen Fragen nicht der Fall. Die Bundespolizei verwaltet
        den Mangel, ein Konzept für die Zukunft hat der Innen-
        minister über seine gesamte Amtszeit hinweg nicht ent-
        wickelt. Beim NPD-Verbot ist er einmal dafür, einmal
        dagegen. Wofür er steht, ist niemandem klar. Bei der In-
        formations- und Pressefreiheit gibt es keine Fortschritte.
        Dabei liegen durch die Evaluierung des Informations-
        freiheitsgesetzes und das aktuelle Urteil zum Presseaus-
        kunftsgesetz klare Empfehlungen vor. Beim Thema Ar-
        mutsmigration schlägt Friedrich schrille Töne an und
        schürt Ressentiments, anstatt Lösungen auf den Tisch zu
        legen.
        Nun kann er sich immerhin die Gebührenstrukturre-
        form ans Revers heften. Schön und gut. Aber ich muss
        ehrlich sagen, von einem Bundesinnenminister erwarte
        ich mehr als das! Im Hahnenkampf kann man übrigens
        folgendes Phänomen beobachten: Wenn der Hahn sich
        nicht entscheiden kann, ober er angreifen oder fliehen
        soll, fängt er an zu picken – eine klassische Über-
        sprungshandlung. Einmal hier und einmal da ein Korn
        aufzupicken, mag einen kurzen Glücksmoment ver-
        schaffen, es bringt aber unser Land nicht weiter. Es wäre
        gut, wenn der Minister sich in den verbleibenden Mona-
        ten dieser Wahlperiode einen Ruck geben und die drän-
        genden innenpolitischen Entscheidungen endlich in An-
        griff nehmen würde.
        Manuel Höferlin (FDP): Die Erhebung von Verwal-
        tungsgebühren ist derzeit für Bürgerinnen und Bürger
        noch schwer durchschaubar und sehr unübersichtlich.
        Mehr als 200 verschiedene Gesetze und Verordnungen
        regeln für zahlreiche Einzelfälle, welche Gebühren in
        welcher Höhe erhoben werden. In zahlreichen Fachge-
        setzen mussten spezielle Regelungen zur Erhebung von
        Verwaltungsgebühren erlassen werden. Das Ergebnis:
        ein Wildwuchs unterschiedlicher Regelungen zu Gebüh-
        renerhebungen in unterschiedlichen Bereichen. Und die-
        ser Zustand ist nicht nur für die Bürgerinnen und Bürger
        ein Problem, die sich einer vorgeblichen verwaltungs-
        politischen Willkür ausgesetzt sehen; er stellt auch die
        Verwaltung vor ein Problem. Die uneinheitlichen Rege-
        lungen für die Erhebung von Verwaltungsgebühren
        sorgen für Rechtsunsicherheit und schaffen den Verwal-
        tungsgerichten unnötig viel Arbeit.
        Die christlich-liberale Koalition hat es sich zum Ziel
        gemacht, diesen Missstand zu beheben. Die Verwaltung
        in Deutschland muss schlank, effizient und bürgernah
        sein. Verwaltungsgebühren sollten – wenn sie schon er-
        hoben werden müssen – transparent sein. Sie sollten auf
        einer gemeinsamen Rechtsgrundlage erhoben werden.
        Und sie dürfen nicht dazu dienen, Bürger von der Durch-
        führung von Verwaltungsakten abzuschrecken.
        Das ist uns mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur
        Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts auch
        gelungen. Lassen Sie mich kurz die wichtigsten Verbes-
        serungen darstellen, die uns mit dem vorliegenden Ge-
        setzentwurf gelungen sind.
        Wir haben im Änderungsantrag der Koalition klar ge-
        regelt, dass zukünftig Gebühren für Verwaltungsakte
        nicht mehr so hoch sein dürfen, dass sie Bürgerinnen
        und Bürger, aber auch Unternehmen davon abhalten,
        die für die Gebühr erbrachte Verwaltungsleistung in
        Anspruch zu nehmen. Diesen sogenannten Prohibitiv-
        gebühren haben wir einen Riegel vorgeschoben. Eine
        Verwaltung sollte eine Leistung anbieten und für diejeni-
        gen, die sie in Anspruch nehmen wollen, auch tatsäch-
        lich zugänglich machen. Das ist ihre Aufgabe.
        Diesen Anspruch untermauern wir, indem wir das
        Kostendeckungsprinzip stärken. Es gilt nun pauschal
        für alle von Verwaltungen erhobenen Gebühren. Ver-
        waltungsgebühren dürfen ab sofort nur noch in der Höhe
        erhoben werden, in der sie tatsächlich individuell zu-
        rechenbare Kosten verursachen. Das ist gerechte Gebüh-
        renerhebung.
        Ein weiterer Aspekt, den wir mit dem neuen Verwal-
        tungsgebührenrecht auch stärken und fördern wollen, ist
        die elektronische Verwaltung. E-Government ist der
        Motor der Verwaltungsmodernisierung, und Deutsch-
        land muss hier mit anderen modernen Demokratien
        Schritt halten.
        Wir konnten bereits erste Erfolge im Planungsverein-
        heitlichungsgesetz erzielen und bringen hierzu auch das
        E-Government-Gesetz auf den Weg, mit dem die elek-
        tronische Verwaltung eine grundsätzliche Stärkung er-
        fährt. Aber solche strukturellen Reformen dürfen am
        Ende nicht an hohen Verwaltungsgebühren für elektroni-
        sche Verwaltungsakte scheitern. Wir haben daher durch-
        gesetzt, dass die einfache elektronische Kopie zukünftig
        für alle Bürgerinnen und Bürger kostenfrei zur Verfü-
        gung gestellt wird. Auch haben wir erreicht, dass die ein-
        fache elektronische Auskunft bei einer Bundesbehörde
        zukünftig kostenfrei ist. Behörden werden hierfür also
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28587
        (A) (C)
        (D)(B)
        den Bürgerinnen und Bürgern keine Gebühren in Rech-
        nung stellen.
        Das ist bürgernahe und moderne Verwaltung. Denn
        eine elektronische Kopie lässt sich in der Regel schneller
        erstellen als eine Papierkopie. Und sie lässt sich
        auch leichter zustellen, zum Beispiel mit einer einfachen
        E-Mail. Die besondere Privilegierung der elektronischen
        Kopie ist in Sachen Bürokratieabbau, Beschleunigung
        der Verwaltungsarbeit und Kosteneffizienz der Verwal-
        tung ein Gewinn für die Bürgerinnen und Bürger.
        Eine weitere Verbesserung, die mit dem vorliegenden
        Entwurf erreicht wird, ist die Vereinheitlichung der
        Grundsätze für Verwaltungsgebühren. Das Kosten-
        deckungsprinzip habe ich in diesem Zusammenhang be-
        reits angesprochen.
        Daneben ist mit den zentralen Regelungen im Gesetz
        zur Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts eine
        bundesweit einheitliche Regelung für die Berechnung
        und Erhebung von Gebühren bei Bundesbehörden ge-
        funden worden. Das schafft nicht nur Klarheit für Bürge-
        rinnen und Bürger. Es entschlackt auch zahlreiche Fach-
        gesetze und entlastet so Bürokratie und Justiz. Denn es
        ist jetzt eben nicht mehr unklar, nach welchem Prinzip
        Gebühren berechnet werden müssen. Es ist jetzt eben
        nicht mehr nötig, gegen Gebühren zu klagen. Und es ist
        auch nicht mehr unklar, woher die Regelung für die Ge-
        bühren überhaupt stammt.
        Wie Sie sehen, konnten wir mit dem neuen Gesetz
        zur Strukturreform des Verwaltungsgebührenrechts eine
        Reihe von Verbesserungen für die Bürgerinnen und Bür-
        ger in Deutschland durchsetzen und die Modernisierung
        der Verwaltung in Deutschland vorantreiben. Mit dem
        neuen Verwaltungsgebührenrecht haben wir einen weite-
        ren Baustein für unsere moderne, bürgernahe Verwal-
        tung geschaffen, die wir mit dem E-Government-Gesetz
        und dem Planungsvereinheitlichungsgesetz weiter mo-
        dernisieren wollen.
        Ich würde mich sehr freuen, wenn Sie diese Verbesse-
        rungen ebenfalls anerkennen, und bitte um Ihre Unter-
        stützung.
        Steffen Bockhahn (DIE LINKE): Die Neuordnung
        des Gebührenrechts des Bundes ist überfällig und im
        Grundsatz auch zu begrüßen. Allein die beabsichtigte
        Entschlackung von 99 Gesetzen und 110 Rechtsverord-
        nungen kann nur als Erfolg gewertet werden. Die Ab-
        sicht, klare Regelungen zu schaffen, die verhindern, dass
        man eine Gebührenregelung auf der dritten Seite des
        vierten Anhangs der fünften Ergänzung einer Verord-
        nung übersieht und damit in eine Falle läuft, ist zu unter-
        stützen. Mehr Übersichtlichkeit und Transparenz bei der
        Frage der zu zahlenden Gebühren sind besser für die
        Bürgerinnen und Bürger, für die Unternehmen und auch
        für die zuständigen Verwaltungen, die sich dann ja auch
        auf einer stabileren und verständlicheren Grundlage be-
        wegen. Wenn es richtig gut läuft, lassen sich eine Reihe
        von Streitigkeiten bis hin zu zähen Verwaltungsgerichts-
        verfahren vermeiden, wenn man diese Neuordnung
        wirklich gut macht. Natürlich ist das Gegenteil bei einer
        schlechten Reform auch denkbar, wenngleich nicht wün-
        schenswert.
        Doch dieses Gesetz wäre keines dieser Bundesregie-
        rung, wenn es nicht auch eine streng neoliberale Logik
        selbst bei diesem Thema verfolgen würde. Natürlich
        kann man es begrüßen, dass der Bund und die Länder Ei-
        genständigkeit bei der Gestaltung der Gebühren bekom-
        men und damit der Föderalismus gelebt wird. Auf der
        anderen Seite – und da kommen wir zum Neoliberalis-
        mus – ist die Ausgestaltung wieder so gewählt, dass es
        nicht den Föderalismus, sondern nur den Wettbewerb
        unter den Ländern stärkt.
        Wieder wird es so sein, dass die Länder, die eine bes-
        sere Finanzausstattung haben, sich gegenüber denen mit
        klammen Kassen einen Vorteil verschaffen können. Wer
        es sich leisten kann, wird auf Gebühren verzichten, um
        beispielsweise Unternehmensansiedlungen zu befördern
        oder Bauanträge für besondere Vorhaben, die finanz-
        starke Einwohnerinnen und Einwohner anlocken, attrak-
        tiver zu machen.
        Und die Länder, die sich den Verzicht auf Einnahmen
        aus Gebühren leisten können, werden es dabei nicht be-
        lassen. Von den finanzschwachen Ländern werden sie
        verlangen, dass Gebühren in voller zulässiger Höhe er-
        hoben werden. So müsse man sich dann um eigene Ein-
        nahmen bemühen, und das wäre dann ja auch nur ge-
        recht. Doch das ist es genau nicht. Den Vorteil aus der
        eigenen Stärke noch zum zusätzlichen Nachteil der
        Schwächeren zu machen, ist ungerecht und unsolida-
        risch. Das Bestehen solcher Absichten muss konkret ver-
        mutet werden, schaut man sich die Äußerungen des hes-
        sischen Staatsministers Boddenberg im Bundesrat zum
        Thema an.
        Diese Verfahrensweise ist denen, die kommunalpoli-
        tisch aktiv sind, bestens vertraut. Eine finanzstarke
        kleine Gemeinde im Umland einer größeren Stadt wirbt
        gewöhnlich mit niedrigen Steuern und Abgaben. Sie bie-
        tet einen niedrigeren Gewerbesteuerhebesatz, eine gerin-
        gere Grundsteuer B als die Großstadt an und zieht so In-
        vestoren und Besserverdienende aus der Stadt ab. Die
        meist in Haushaltsnotlage befindliche Großstadt kann
        aber diesen Wettlauf nach unten nicht mitmachen, weil
        sie durch die jeweilige Rechtsaufsichtsbehörde gezwun-
        gen wird, ihre Einnahmen um das maximal Mögliche zu
        erhöhen. Dabei geht es dann immer wieder um die bei-
        den genannten Steuerquellen und natürlich immer wie-
        der auch um Verwaltungsgebühren. Die Großstadt hat
        also einen erheblichen Nachteil, den sie de facto nie aus-
        gleichen kann. Wettbewerb unter Gleichen geht anders.
        Dieses Prinzip ist in den Kommunen schon so oft ge-
        scheitert, dass man sich fragen muss, warum die Bundes-
        regierung es nicht erkennt oder erkennen will, dass der
        Weg der falsche ist. Zudem entfernen wir uns so noch
        weiter vom Anspruch gleichwertiger Lebensverhältnisse
        in allen Teilen der Republik. Schließlich werden die rei-
        chen Länder in der Lage sein, ihren Vorteil gegenüber
        den schwächeren weiter auszunutzen und deren Ent-
        wicklung so zu bremsen.
        28588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ein weiterer Aspekt ist die gewollte volle Ausnutzung
        des Kostendeckungsprinzips. Auch hier ist es möglich,
        etwas Gutes zu tun oder alles noch schlimmer zu ma-
        chen. Auf den ersten Blick erscheint es sinnvoll, dass
        eine Leistung des Staates auch finanziert werden soll.
        Und wer eine besondere Leistung der Verwaltung in An-
        spruch nimmt, muss diese auch bezahlen. Klingt erst ein-
        mal vernünftig, doch Vorsicht! Auch hier kann es wieder
        passieren, dass es zu einer schlimmen Sache für die klei-
        nen Leute wird; denn wenn der Bund und die Länder
        sich darauf einigen, eine Vollkostendeckung bei Gebüh-
        ren einzuführen, ist es nur eine Frage der Zeit, bis das
        auch von den Kommunen für alle Bereiche verlangt wer-
        den wird. Das kann dann teuer werden. Schließlich
        müssten im schlimmsten Fall für Bauanträge, Personal-
        ausweise oder Reisepässe oder auch für Eheschließun-
        gen oder Eintragungen nach Geburten volle kosten-
        deckende Gebühren gezahlt werden. Im Ergebnis
        müssten nach jeder – zweifelsfrei begrüßenswerten – Ta-
        rifsteigerung im öffentlichen Dienst auch die Gebühren
        erhöht werden. Die Kosten sind dann gestiegen, also
        muss auch die Gebühr steigen. Strompreiserhöhungen
        oder andere Kostensteigerungen können das gleiche Er-
        gebnis hervorbringen.
        Hier gilt es, wirklich wachsam zu sein und eine solche
        Entwicklung zu verhindern. Wenn die Bundesregierung
        auf solche Dinge Rücksicht nimmt, kann es eine gelun-
        gene Sache werden. Die Hinweise dafür sind aber bis
        jetzt ausgeblieben. Wir empfehlen eine Anhörung zum
        Thema. Schlechter werden kann der Gesetzentwurf da-
        durch nicht.
        Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Der vorliegende Entwurf der Bundesregierung
        sieht eine umfangreiche Reform des Gebührenrechts des
        Bundes vor. Es handelt sich hierbei um eine überfällige
        Fleißarbeit des Bundesinnenministeriums.
        Seit 2008 hat der Rechnungshof kontinuierlich
        entsprechende Regelungen angemahnt und schließlich
        sogar auf einen konkreten Fahrplan bis zur 17. Wahl-
        periode gedrängt. Die zentralen Vorschläge des Rech-
        nungshofes wurden jetzt übernommen. Das begrüßen
        wir.
        Inhaltlich geht es um die Bemessung von Gebühren
        nach betriebswirtschaftlichen Grundsätzen und eine
        grundsätzliche Ausrichtung am Kostendeckungsprinzip.
        Dafür wird ein Bundesgebührengesetz geschaffen, das
        das bestehende Verwaltungskostengesetz und das darin
        festgelegte Äquivalenzprinzip ablöst.
        Eine möglichst einfache und rechtssichere Gebühren-
        ermittlung soll grundsätzlich durch die Verwendung von
        Kostenpauschalen gewährleistet werden. Die Möglich-
        keit zu Gebührenermäßigungen und -befreiungen zielt
        auf die Vermeidung von Unbilligkeiten. Erreicht werden
        die Konzentration der allgemeinen Regelungen in einem
        neuen Bundesgebührengesetz und die Bündelung der
        bisher in rund 200 Fachgesetzen und -verordnungen ent-
        haltenen Gebührenregelungen in Gebührenverordnun-
        gen der Bundesministerien. Eine Übergangsfrist von
        fünf Jahren ist vorgesehen. Durch die Zusammenfüh-
        rung sämtlicher Gebührentatbestände im Zuständig-
        keitsbereich der jeweiligen Bundesministerien in ein-
        heitlich aufgebauten Gebührenverordnungen sollen das
        Recht vereinfacht und mehr Transparenz für Bürgerin-
        nen und Bürger sowie die Wirtschaft geschaffen wer-
        den. Die Verwaltung soll durch den besseren Zugang zu
        den Gebührenvorschriften entlastet werden, wenn sich
        der Bearbeitungsaufwand für den Erlass der Gebühren-
        bescheide verringert.
        Schließlich sollen gebührenrechtliche Regelungen für
        öffentliche Leistungen der Behörden in den Ländern
        grundsätzlich den Ländern überlassen werden. Dies ent-
        spricht der Verantwortung der Länder für die Gebühren-
        erhebung von Behörden in den Ländern und Gemeinden.
        Die Entkopplung der Gebührenkompetenz zwischen
        Bund und Ländern soll die Rechtsetzung vereinfachen
        und beschleunigen.
        Der Bundesrat hatte umfangreiche Änderungen ange-
        mahnt, denen die Bundesregierung unserem Eindruck
        nach weitgehend entgegengekommen ist. Dabei wurde
        allerdings deutlich, dass es in einzelnen Bereichen
        durchaus sachgerechter erscheint, durch Bundesregelun-
        gen sicherzustellen, dass es gerade nicht zu einer Ent-
        flechtung der Gebührenverantwortung oder gar zu einem
        Gebührenwettbewerb kommt.
        Im Verkehrsbereich hat man sich dementsprechend
        geeinigt. Ich meine, damit wird deutlich, dass bei allem
        Harmonisierungs- und Entflechtungswillen stets gefragt
        werden muss, ob die zentralen Grundsätze dieses Rege-
        lungsansatzes für den jeweiligen Bereich am Ende
        durchtragen. Wir sollten deshalb in den kommenden Jah-
        ren, auch mithilfe des Bundesrechnungshofes, sorgfältig
        die Konsequenzen dieses Gesetzes beobachten.
        Das gilt sowohl hinsichtlich der Transparenz als auch
        hinsichtlich möglicher ungerechtfertigter Belastungen
        Einzelner. In puncto Transparenz bleibt doch nicht von
        der Hand zu weisen, dass mit einer Rückverlagerung der
        Gebührenhoheit an die Länder zwar in gewissem
        Umfange wegen der Regelungen des Bundesgebühren-
        gesetzes einerseits mehr Struktur in die Berechnungen
        etwa der Gebührensätze kommt. Zugleich aber kommt
        es doch automatisch zu 16 verschiedenen Ländertarifen,
        die auch erst einmal ermittelt werden müssen. Das ist
        ambivalent, und die Wirkungen sind abzuwarten. In
        Sachen möglicher Mehrbelastungen der Bürger wird zu
        beobachten sein, ob es tatsächlich durch das Kosten-
        deckungsprinzip und betriebswirtschaftliche Berech-
        nungsmodi zu einer disziplinierenden Bindungswirkung
        in der Festsetzungspraxis kommt oder ob in bestimmten
        Fällen der über 200 Gesetzeswerke auch Fehlentwick-
        lungen zu erwarten sind, so zum Beispiel der Wegfall
        bislang eingeübter sozialer Aspekte bei der Gebühren-
        festsetzung.
        Gerade weil es offenbleiben muss, ob die den Län-
        dern verschafften eigenständigen Entscheidungs- und
        Gestaltungsspielräume in allen 200 Gesetzen und Ver-
        ordnungen sachgerechte Ergebnisse nach sich ziehen
        werden, werden wir uns bei diesem komplexen Geset-
        zeswerk der Stimme enthalten.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28589
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär beim Bundes-
        minister des Innern: Mit dem heute zur Beratung vorlie-
        genden Gesetzentwurf soll eine grundlegende Moderni-
        sierung des gesamten Verwaltungsgebührenrechts des
        Bundes erreicht werden.
        In den mehr als 40 Jahren seit dem Inkrafttreten des
        Verwaltungskostengesetzes hat sich ein großer Ände-
        rungsbedarf aufgestaut. Derzeit sind die einzelnen
        Gebühren in rund 200 Gesetzen und Verordnungen über
        das gesamte Bundesrecht verstreut. Dies erschwert das
        Auffinden und die Anwendung der Regelungen erheb-
        lich. Die Gebührenerhebung ist deshalb für Bürgerinnen
        und Bürger sowie für Unternehmen oft nur schwer nach-
        vollziehbar.
        Darüber hinaus bestehen erhebliche rechtliche Unsi-
        cherheiten bei der Kalkulation der Gebühren. Dadurch
        kam es in der Vergangenheit zu zahlreichen gerichtli-
        chen Auseinandersetzungen. Folge waren beispielsweise
        bei der Bundesnetzagentur Rückerstattungsansprüche in
        Millionenhöhe.
        Vor diesem Hintergrund wird mit dem Gesetzentwurf
        mehr Transparenz, Rechtssicherheit und Bürgerfreund-
        lichkeit im Gebührenrecht des Bundes herbeigeführt.
        Bürokratie wird abgebaut. Dabei haben wir nicht nur die
        Kosten der Verwaltung im Blick. Wichtig ist es auch, die
        Angemessenheit der Gebühren sicherzustellen.
        Die Reform orientiert sich an den in den Gebührenge-
        setzen der Länder bewährten Strukturen. Zugleich kön-
        nen die Länder künftig für die Leistungen ihrer Behör-
        den die Gebühren selbst bestimmen. Damit setzt der
        Bund die Forderungen der Länder im Rahmen der Föde-
        ralismusreform auch im Gebührenrecht um.
        Das Herzstück der Reform ist das neue Bundesgebüh-
        rengesetz. Nach diesem Gesetz soll die Gebühr grund-
        sätzlich nach dem Kostendeckungsprinzip bestimmt
        werden. Berechnet wird die kostendeckende Gebühr
        nach betriebswirtschaftlichen Maßstäben. Diese klaren
        und verbindlichen Vorgaben stellen in Zukunft die Ge-
        bührenkalkulation auf ein solides Fundament. Zudem
        wird die Gebührenberechnung verständlich und klar
        nachvollziehbar.
        Zusätzlich vereinfachen betriebswirtschaftlich be-
        rechnete Kostenpauschalen die Gebührenberechnung.
        Dies verbessert die Effizienz und Effektivität der Ver-
        waltung.
        Durch die Reform sollen die Leistungen der Bundes-
        behörden nicht teurer werden. Eine Gebührenerhöhung
        ist nicht bezweckt. Im Gegenteil: Künftig sollen den
        Bürgern und der Wirtschaft keine kostenüberdeckenden
        Gebühren mehr auferlegt werden.
        Zudem sind durch Gebührenermäßigungen und sogar
        Gebührenbefreiungen weitreichende Ausnahmen vom
        Kostendeckungsprinzip möglich. Dies erlaubt es, bei-
        spielsweise sozialen Belangen durch eine angemessene
        Entlastung einkommensschwacher Bürger Rechnung zu
        tragen. Die klaren gesetzlichen Vorgaben sorgen für die
        notwendige Rechtssicherheit sowie eine transparente
        und gleichmäßige Rechtsanwendung.
        Zusätzlich wird in das Gesetz ein ausdrückliches
        Verbot von Gebühren aufgenommen, die eine wirtschaft-
        liche Barriere für die Inanspruchnahme von Verwal-
        tungsleistungen bilden. Dies ist eine wesentliche
        Weichenstellung im Sinne einer bürgerfreundlichen Ver-
        waltung.
        Ein weiterer wesentlicher Schwerpunkt der Reform
        ist die grundlegende Bereinigung und Vereinfachung des
        Verwaltungsgebührenrechts des Bundes. Zu diesem
        Zweck werden künftig die bislang zersplittert und unein-
        heitlich geregelten Gebühren in den nur wenigen Gebüh-
        renverordnungen der Bundesministerien übersichtlich
        nach Sachgebieten geordnet zusammengefasst. Damit
        kann sich jedermann schnell, einfach und zuverlässig ei-
        nen Überblick über die Gebühren des Bundes verschaf-
        fen.
        Die Umsetzung der Reform erfolgt durch eine Allge-
        meine und mehrere Besondere Gebührenverordnungen
        über einen Zeitraum von fünf Jahren. Die Bundesregie-
        rung wird bei der Konzipierung dieser Verordnungen auf
        die ausgewogene Entwicklung der Gebühren achten.
        Zentrales Ziel ist es, für jedermann einen bezahlbaren
        Zugang zu Verwaltungsleistungen des Bundes sicherzu-
        stellen.
        Die Zeit drängt. Die Reform ist längst überfällig.
        Wenn wir jetzt nichts tun, bleibt es bei der zersplitterten
        Struktur des Gebührenrechts des Bundes und den rechtli-
        chen Unsicherheiten bei der Gebührenkalkulation. Dies
        sollten wir den Bürgerinnen und Bürgern sowie der
        Wirtschaft in unserem Land nicht mehr länger zumuten.
        Ich bitte Sie, das Vorhaben zu unterstützen.
        Anlage 4
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Privatisierung der
        öffentlichen Sicherheit rückgängig machen (Ta-
        gesordnungspunkt 14)
        Armin Schuster (Weil am Rhein) (CDU/CSU): Die
        öffentliche Sicherheit und Ordnung ist Sache des Staa-
        tes, und das bleibt auch so. Es gilt das Gewaltmonopol
        des Staates, und das stellt in der Bundesrepublik auch
        niemand ernsthaft infrage.
        Nun suggerieren Sie bereits in der Überschrift Ihres
        Antrags, sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen der
        Linken, dass der Staat das Gewaltmonopol schon aus der
        Hand gegeben hat. Um dann wiederum nachzuschieben,
        dies sei zumindest das subjektive Empfinden der Bürge-
        rinnen und Bürger. Wie denn jetzt? Sie sind dann doch
        so seriös, diese abstruse Behauptung nicht selbst aufstel-
        len zu wollen, und deshalb müssen jetzt die armen Bür-
        ger herhalten? Die werden sich für diese unfreiwillige
        Einvernahme sicher bedanken.
        Wir sind meilenweit davon entfernt, Sicherheit nur
        dem zu ermöglichen, der sich das auch privat leisten
        kann. Wir wollen keine Bürgerwehren oder privat gesi-
        cherte Wohnviertel für Wohlhabende. Wir haben auch
        28590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        keine Polizei light, die Grundrechte nicht respektiert und
        das Gewaltmonopol mutwillig oder unwissentlich durch-
        bricht. Solche Szenarien gibt es leider auf dieser Welt;
        sie haben aber mit der Realität in diesem Land rein gar
        nichts zu tun. Und genauso wenig geben wir hoheitliche
        polizeiliche Aufgaben auf.
        Richtig ist: Zum Beispiel im Bereich der Luftsicher-
        heit oder der Bahn greifen Unternehmen und der Staat
        auf private bzw. beliehene Sicherheitskräfte zurück. Da-
        für gibt es gute Gründe. Die Deutsche Bahn schützt ihre
        Objekte mit Unterstützung privater Sicherheitsdienste
        und setzt ihr privates Hausrecht durch; hier werden keine
        hoheitlichen Aufgaben wahrgenommen. Die hoheitlichen
        Aufgaben im Bereich der Bahnanlagen nimmt die Bun-
        despolizei gemäß § 3 des Bundespolizeigesetzes wahr,
        zum Beispiel im Bereich der betriebsbedingten Gefah-
        ren. Dazu gehört aber eben aus gutem Grund nicht die
        Durchsetzung von Eigentümerrechten; das bleibt allei-
        nige Aufgabe der DB AG.
        Anderer Fall: Auf Flughäfen werden durch die Bun-
        despolizei private Sicherheitsfachkräfte eingesetzt, und
        zwar, um Gepäck und Personen einer Luftsicherheits-
        bzw. Fluggastkontrolle zu unterziehen. In Ihrem Antrag
        verschweigen Sie allerdings – oder Sie wissen es nicht
        besser –, dass die eingesetzten Sicherheitskräfte Belie-
        hene der Bundespolizei sind und dass an diesen Kont-
        rollstellen für Eingriffsmaßnahmen Bundespolizisten
        vor Ort jederzeit zur Verfügung stehen. Dabei üben die
        anwesenden Bundespolizisten auch die Fachaufsicht
        aus. Verfassungsrechtlich wird die Möglichkeit, Aufga-
        ben zur Gewährleistung der Luftsicherheit in privat-
        rechtlicher Organisationsform wahrnehmen zu lassen,
        durch Art. 87 Abs. 1 Satz 2 GG eingeräumt. Problema-
        tisch wäre der Einsatz privater Sicherheitskräfte erst
        dort, wo der potenzielle Eingriff in die Grundrechte der
        Bürger hoch wäre. An Flughäfen ist das nicht der Fall,
        da die Personenkontrolle Teil des Vertrags ist, den der
        Fluggast abgeschlossen hat. Sie erfolgt nicht unter
        Zwang oder Gewaltanwendung, sondern mit Einwilli-
        gung des Reisenden. Weigert sich der Fluggast, sich
        kontrollieren zu lassen, so kann er das Flugzeug nicht
        besteigen.
        In Zeiten knapper Ressourcen ist es auch bei der Polizei
        ökonomisch durchaus sinnvoll, einfache Unterstützungs-
        leistungen ohne Eingriffscharakter in einem Beleihungs-
        verhältnis durch private Unternehmen wahrnehmen zu
        lassen.
        Gleichwohl: Wo Unterstützungsaufgaben auf Private
        übertragen werden, müssen staatlicherseits eindeutig de-
        finierte Qualitätsstandards vorausgesetzt werden. Des-
        halb unterstütze ich das Vorhaben, private Sicherheits-
        dienste künftig zu zertifizieren und regelmäßig zu
        auditieren. Führungs- und Personalqualität, Ausbildung
        und regelmäßige Fortbildungen, Arbeitsbedingungen
        und Prozessstandards gehören für mich zum Anforde-
        rungsprofil an diese Unternehmen. Ich begrüße es daher
        sehr, dass die Innenministerkonferenz an einer solchen
        Zertifizierung arbeitet.
        Die Bandbreite der Aufgaben hat sich bei der Bundes-
        polizei in den letzten Jahren erheblich erweitert. Neben
        neuen Anforderungen an die Sicherheitsarchitektur gibt
        es dafür aber auch einen Grund, der hier zur Sprache
        kommen muss: Rationalisierungen und Stellenkürzun-
        gen bei den Polizeien einzelner Länder. Eine Folge da-
        von sind auch verstärkte Unterstützungsanforderungen
        an die Bundespolizei durch Länder, die ihre Aufgaben
        nicht mehr alleine bewältigen können. Da haben Sie
        doch immer gerne mitgemacht, die Damen und Herren
        der Linken, als es darum ging, die Landespolizei in
        Brandenburg zur Ader zu lassen: Über 20 Prozent der
        Stellen wurden mit Ihrer Hilfe bei der Brandenburger
        Polizei gestrichen. In Brandenburg, wo Sie regieren, ver-
        schwindet die Polizei aus der Fläche. Dort entsteht der
        Nährboden für eine private Sicherheitskultur, weil unzu-
        friedene Bürger sich nicht mehr sicher fühlen. Dort muss
        die Bundespolizei unterstützen und daher sorgfältig
        abwägen, wo sie im eigenen Bereich Polizeibeamte
        einsetzt oder bei einfachen Sicherheitstätigkeiten auf
        Unternehmen zurückgreift. Und jetzt wundern Sie sich
        hier wortreich darüber, dass der von Ihnen mitgetragene
        Rückzug staatlicher Sicherheitsbehörden dazu führt,
        dass Aufgaben an Private übertragen werden.
        Meine Damen und Herren von den Linken, Ihr Antrag
        ist eine Mischung aus Unkenntnis und populistischer
        Propaganda. Im Bereich der inneren Sicherheit geht das
        gar nicht.
        Ingo Wellenreuther (CDU/CSU): Die Fraktion Die
        Linke beantragt: „Privatisierung der öffentlichen Sicher-
        heit rückgängig machen“. Schon allein wegen dieses
        Titels ist der Antrag abzulehnen; denn er ist falsch, weil
        er suggeriert, die öffentliche Sicherheit in Deutschland
        sei komplett in private Hände gelegt worden. Das wider-
        spricht zum einen der Realität und wäre zum anderen
        verfassungsrechtlich auch unzulässig.
        Deshalb sage ich für CDU und CSU unmissverständ-
        lich vorneweg: Das staatliche Gewaltmonopol gilt unan-
        gefochten und steht nicht zur Disposition. Unsere Hal-
        tung ist eindeutig, und dazu bedarf es nicht Ihres
        Antrags. Um es klar zu sagen: Es ist ureigene Aufgabe
        des Staates, die innere Sicherheit für unsere Bürger zu
        gewährleisten. Ein Rückzug des Staates aus diesem
        Kernbereich hoheitlichen Handelns kommt nicht in Be-
        tracht.
        Daher dürfen auch zukünftig private Sicherheits-
        dienste nur dort ergänzend tätig werden, wo es sinnvoll
        und rechtlich zulässig ist, aber niemals die staatliche
        Ordnungsmacht ersetzen. Um die Qualität im sensiblen
        Sicherheitsbereich zu wahren, ist es deshalb auch richtig,
        dass derzeit auf Beschluss der Innenministerkonferenz
        eine länderoffene Arbeitsgruppe prüft, wie Unternehmen
        im privaten Sicherheitsgewerbe zertifiziert werden kön-
        nen. Im Mai sind Ergebnisse der Arbeitsgruppe zu er-
        warten.
        Neben der Überschrift geht in Ihrem Antrag aber auch
        sonst einiges durcheinander, und ich möchte einmal ei-
        nige Stellen entflechten bzw. richtigstellen.
        Das Grundproblem Ihres Antrags ist, dass Sie alles,
        was unter dem Stichwort der Privatisierung – zu Recht
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28591
        (A) (C)
        (D)(B)
        und zu Unrecht – diskutiert wird, über einen Kamm
        scheren und einer vollkommen undifferenzierten Kritik
        unterziehen.
        Sie sprechen beispielsweise Fälle an, in denen private
        Sicherheitsdienste Einrichtungen der Bundeswehr über-
        wachen oder Personen- und Gepäckkontrollen auf Flug-
        häfen durchführen dürfen. Dies kritisieren Sie pauschal
        mit dem Hinweis, dass private Sicherheitsdienste nicht
        dem Gemeinwohl verpflichtet seien. Damit liegen Sie
        falsch, denn Sie verkennen, dass die Privaten in den ge-
        nannten Fällen rechtlich als sogenannte Beliehene tätig
        werden. Das heißt: Der Beliehene ist eine durch Gesetz
        geschaffene Privatperson, die vom Staat ermächtigt
        wird, im eigenen Namen öffentlich-rechtliche Aufgaben
        wahrzunehmen. Deshalb ist die Thematisierung dieser
        Bereiche unter dem Begriff der Privatisierung fehl am
        Platz. Den Status des Beliehenen kennzeichnet, dass er
        einer von einem Beamten wahrgenommenen Fach- und
        Rechtsaufsicht untersteht und Teil der Verwaltungsorga-
        nisation ist. In dieser Eigenschaft hat er die Grundrechte
        zu beachten, und er unterliegt auch einer Gemeinwohl-
        bindung.
        Ich bin mir nicht sicher, ob Sie es nicht besser wissen
        oder ob Ihr Antrag einfach nur eine Methode ist, um mit
        solchen Ungenauigkeiten Unsicherheit bei den Men-
        schen zu streuen oder sie in die Irre zu führen.
        Ein weiteres Beispiel: Private Sicherheitsdienste neh-
        men oftmals lediglich „einfache“ Bewachungsaufgaben
        wahr, zum Beispiel im Bereich der auch in Ihrem Antrag
        erwähnten Bahnhöfe. Dabei handelt es sich rechtlich zu-
        meist um sogenannte Verwaltungshelfer, die unterstüt-
        zend einzelne Teilleistungen erbringen. Im Falle des
        Bahnhofs unterstützen die privaten Wachdienste die
        Bundespolizei. Die Privaten verfügen hier aber nicht
        über eine eigene Entscheidungsbefugnis; diese verbleibt
        bei der Verwaltungsbehörde, im Falle des Beispiels
        Bahnhof also bei der Bundespolizei bzw. bei der Bahn.
        Diese Verwaltungshelfer üben daher selbst keine Staats-
        gewalt aus. Insofern greift hier weder die verfassungs-
        rechtliche Privatisierungsschranke des Art. 33 Abs. 4 des
        Grundgesetzes, noch findet hier die von Ihnen kritisierte
        Aushöhlung des staatlichen Gewaltmonopols überhaupt
        statt.
        Stichwort Gewaltmonopol: Sie irren in Ihrem Antrag
        über die Bedeutung dieses Begriffs. Das Gewaltmonopol
        ist die durch den Staat wahrgenommene ausschließliche
        Befugnis, auf seinem Staatsgebiet physische Gewalt ein-
        zusetzen oder ihren Einsatz zuzulassen. Das Gewalt-
        monopol darf aber weder als Sicherheitsmonopol noch
        als Gewaltausübungsmonopol missgedeutet werden.
        Seine Bedeutung ist vielmehr, dass dem Gesetzgeber das
        Gewaltmonopol zusteht und es bei der Ausgestaltung
        rechtsstaatlicher Standards nicht geschmälert werden
        darf. So ist sogar eine Gewaltübertragung und Gewalter-
        mächtigung dann gestattet, wenn sie eine vom Staat
        abgeleitete Befugnis bleibt und dadurch die Funktions-
        fähigkeit des Staates nicht beeinträchtigt, sondern opti-
        miert wird. Diese Grenzen müssen auch zukünftig strikt
        eingehalten werden.
        Richtiggestellt werden müssen auch die Hinweise in
        Ihrem Antrag zum Mindestlohn im Wach- und Sicher-
        heitsgewerbe. Ihr Antrag, datiert vom 24. Oktober 2012,
        spricht von einer tarifvertraglichen Vergütung im Jahr
        2011 von durchschnittlich 7,03 Euro brutto je Stunde.
        Sie erwähnen nicht, dass die Bundesregierung aus CDU/
        CSU und FDP im Jahr 2011 den Tarifvertrag für das
        Wach- und Sicherheitsgewerbe für allgemeinverbind-
        lich erklärt hat und dass danach bereits zum 1. März
        2012 regional gestaffelt Mindestlöhne von 7 Euro bis zu
        8,75 Euro bestanden, die seit dem 1. Januar 2013 noch-
        mals auf mindestens 7,50 Euro und bis zu 8,90 Euro in
        Baden-Württemberg gestiegen sind. Es ist einfach
        unredlich, dass Sie diese Fakten in Ihrem Antrag unter-
        schlagen.
        Zusammenfassend: Ihr Antrag ist getragen von Popu-
        lismus, gespickt mit Fehlern, Reizworten und Ungenau-
        igkeiten und verfasst im Geiste Ihrer Ideologie, wonach
        die Staatsquote in allen Bereichen unserer Gesellschaft
        wachsen soll.
        Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab.
        Wolfgang Gunkel (SPD): Es ist ein sehr wichtiges
        und sensibles Thema, das wir heute diskutieren. Immer
        mehr hoheitliche Aufgaben werden von privaten Sicher-
        heitsunternehmen übernommen. Mitunter kann die
        Übertragung solcher Aufgaben sinnvoll sein. Der Werk-
        schutz für Betriebe ist zum Bespiel eine solche Sache.
        Oder wenn anlässlich der vielen Piraterievorfälle im
        Golf von Aden und vor der Küste Ostafrikas die Reeder
        zum Schutz ihrer Schiffe Wachleute engagieren, halte
        ich das für eine vernünftige Lösung; denn ein flächen-
        deckender Schutz von deutschflaggigen Handelsschiffen
        durch Einsatz der Polizei angesichts der hohen Zahlen
        von Schiffspassagen ist weder personell und logistisch
        noch finanziell möglich.
        Was ich nicht unterstützen kann, ist die auch in dem
        Antrag erwähnte steigende Privatisierung in einigen
        Ländern, zum Beispiel beim Strafvollzug. Einer der
        größten Fehler der ohnehin missglückten Föderalismus-
        reform war die Kompetenzverlagerung für den Strafvoll-
        zug vom Bund auf die Länder. Dass hier dann Politik
        nach Kassenlage betrieben wird, war abzusehen, dass
        dies kein positiver Effekt ist, auch. Es gibt einen Kernbe-
        reich hoheitlicher Gewalt, der beim Staat bleiben muss.
        In meinen Augen gehört der Strafvollzug dazu.
        Ein ebenso unsägliches Beispiel sind die sogenannten
        Bürgerwehren. Ich kenne solche Zusammenkünfte selbst-
        ernannter Beschützer, die auch einmal Polizei spielen
        wollen, aus meiner Arbeit als Polizeibeamter, aber auch
        aus meinem Wahlkreis in einer Grenzregion. Das sind
        Entwicklungen, die dem Rechtsstaat in keiner Weise gut-
        tun. Derartiges ist nicht im Geringsten unterstützens-
        wert.
        Wenn nun private Dienstleister Sicherungsaufgaben,
        wie zum Beispiel beim Werkschutz, übernehmen, müs-
        sen höhere Standards als bisher für die Aus- und Weiter-
        bildung für das Personal gelten. Schwarze Schafe gibt es
        28592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        schließlich genug, wie ich Ihnen an zwei Beispielen
        deutlich machen möchte.
        Schon in meiner aktiven Zeit im Polizeidienst in Ber-
        lin haben wir ausgesprochen schlechte Erfahrungen mit
        dem Wachschutzpersonal im Europacenter gemacht. Die
        Mitarbeiter des dort tätigen Sicherheitsdienstes hatten
        massiv ihre Kompetenzen überschritten und Menschen
        nicht nur festgehalten, wie es auch das „Jedermanns-
        recht“ in der Strafprozessordnung erlaubt, sondern auch
        mit Schlagstöcken Gewalt eingesetzt. Mit ihrem martia-
        lischen Auftreten in komplett schwarzer Kleidung ver-
        mittelten sie optisch den Eindruck einer paramilitäri-
        schen Einheit. Der Sicherheitsdienst wurde schließlich
        aufgelöst; denn die Zustände waren nicht mehr tragbar.
        Ein anderes Beispiel zeigt der Fernsehbericht zu
        Amazon vor einigen Wochen. Dieser wurde vor allem
        unter einem arbeits- und sozialpolitischen Blickwinkel
        auch hier im Bundestag diskutiert. Aber es war auch die
        Sicherheitsfirma massiv in die Kritik geraten; denn der
        Sicherheitsdienst hatte zum einen Verbindungen zur
        rechtsextremen Szene. So trugen denn die Mitarbeiter im
        Film der ARD auch Kleidung der bei Neonazis so be-
        liebten Marke Thor Steinar. Zum anderen hatten auch
        die Mitglieder dieser Firma eindeutig ihre Kompetenzen
        überschritten, indem sie die Mitarbeiterinnen und Mitar-
        beiter von Amazon schikanierten. Amazon hat jetzt die
        Verträge mit dem Sicherheitsdienst gekündigt. Aller-
        dings hätte es so weit nicht kommen dürfen.
        Die beiden Vorfälle zeigen ganz deutlich, dass es in
        dieser Branche einige Menschen gibt, die ihre übertra-
        gene Macht ausnutzen. Solche Hilfssheriffs darf es na-
        türlich nicht geben. Umso wichtiger ist gut geschultes
        Personal. Hier muss der Staat tätig werden und angemes-
        sene Ausbildungsstandards formulieren und umsetzen.
        Für den vorhin bereits erwähnten Schutz von Schiffen
        und für nichtstaatliche militärische Sicherheitsunterneh-
        men hat die SPD-Bundestagsfraktion dies in zwei Anträ-
        gen bereits formuliert. Der Verweis auf die Gewerbeord-
        nung, die auch in dem Antrag der Linken erwähnt wird,
        ist an dieser Stelle sinnvoll.
        Doch nicht nur Wissen und Ausbildung sind ein Pro-
        blem, sondern es müssen auch annehmbare Arbeitsbe-
        dingungen herrschen. Dazu gehört, dass angemessene
        Löhne gezahlt werden. Der flächendeckende gesetzliche
        Mindestlohn ist unverzichtbar.
        Die in dem Antrag geforderte Erhöhung der Staats-
        quote auf Flughäfen und Bahnhöfen halte ich aus ganz
        praktischen Gründen nicht für durchsetzbar. Die Bun-
        despolizei ist mit den bereits anstehenden Aufgaben
        mehr als genug ausgelastet. Dies zeigen auch die Zahlen
        zum Burn-out, die in einer von der GdP in Auftrag gege-
        benen Studie veröffentlicht wurden. Insofern ist eine sol-
        che Übertragung zurück zur Bundespolizei schlicht nicht
        möglich. Die Sicherheitsdienste auf Flughäfen und bei
        der Deutschen Bahn sind von der Bundespolizei gut aus-
        gebildet worden und erledigen die Aufgaben kompetent
        und zuverlässig. Die Frage nach einer angemessenen Be-
        zahlung wurde bereits angesprochen.
        Gisela Piltz (FDP): Es ist schon faszinierend, dass
        bei der Linken ersichtlich die Ablehnung privatwirt-
        schaftlicher Tätigkeit und im Grunde die Ablehnung der
        Marktwirtschaft als solcher noch stärker ausgeprägt ist
        als die Ablehnung gegenüber der Polizei. Vor ziemlich
        genau zwei Jahren, am 7. April 2011 nämlich, debattier-
        ten wir hier im Plenum einen Antrag der Linken, in dem
        diese behauptete, Polizistinnen und Polizisten in unse-
        rem Lande hätten „das Gefühl …, in voller Einsatzmon-
        tur und mit heruntergeklappten Visieren faktisch außer-
        halb des Gesetzes zu stehen“.
        Liest man hingegen den heute hier zu debattierenden
        Antrag, reibt man sich verwundert die Augen, dass die
        Linke nun doch anerkennt, dass Polizistinnen und Poli-
        zisten an Recht und Gesetz gebunden sind und mithin
        bei deren Einsatz sichergestellt ist, dass alles mit rechten
        Dingen zugeht. Da könnte man ja spontan sagen: Glück-
        wunsch! Endlich haben auch Sie verstanden, dass Poli-
        zistinnen und Polizisten wie keine andere Berufsgruppe
        für Recht und Gesetz stehen. Endlich anerkennen Sie,
        dass Polizistinnen und Polizisten in Deutschland keine
        prügelnden Schergen willkürlich angewandter Gewalt
        sind.
        Allein, ich fürchte, dass diese Glückwünsche an der
        Sache vorbeigehen. Der Linken geht es nicht um späte
        Erkenntnis, sondern an diesem Antrag zeigt sich die
        krude Logik linker Ideologie, die schon in sich nicht
        stimmig ist.
        Was wollen Sie denn nun? In Ländern, in denen Sie
        mitregieren, also zum Beispiel im Land Brandenburg
        – oder auch, solange Sie noch nicht aus der Regierung ab-
        gewählt waren, in Berlin –, bauen Sie massiv Stellen bei
        der Polizei ab. Und nicht nur das. Ich fliege ja gelegent-
        lich von und nach Tegel – und da hat sich, völlig unab-
        hängig davon, wer im Land Berlin regiert, also auch unter
        Beteiligung der Linken etwa, bei den Sicherheitskräften
        nichts verändert. Was hat denn die Linke da in der Berli-
        ner Landesregierung gemacht? Nach Ihrer Logik hätten
        Sie das doch sofort in Ihre staatliche Obhut nehmen und
        mit Berliner Staatsangestellten erledigen müssen. Ob
        diese dann allerdings a) besser bezahlt und b) zartfühlen-
        der beim Abtasten und Durchleuchten der Passagiere ge-
        wesen wären, mag dahingestellt bleiben. Und dann
        kommt hier so ein Antrag. Statt solche Anträge zu schrei-
        ben, sollten Sie einfach einmal mit Ihren Kollegen in den
        Ländern reden; denn dort spielt bei der Polizei die Musik.
        Das ist wiederum deshalb schade, weil man über die-
        ses Thema ja durchaus vernünftig diskutieren könnte,
        beispielsweise darüber, dass es selbstverständlich mit
        unserem Rechtsstaat nicht vereinbar ist, wenn „schwarze
        Sheriffs“ die Menschen in Angst und Schrecken verset-
        zen. Oder auch darüber, dass wir Entwicklungen, wie
        wir sie in anderen Ländern beobachten können – dass
        Bürgerwehren eingesetzt werden, die quasi in Selbstjus-
        tiz tätig werden –, in Deutschland nicht hinnehmen
        könnten. Darum geht es der Linken aber nicht. Es geht
        Ihnen nicht darum, Fehlentwicklungen zu verhindern,
        sondern darum, einfach einmal mit Ihrer sozialistischen
        Staatsideologie gegen wirtschaftlich handelnde Unter-
        nehmen vorzugehen. Dazu passt dann auch Ihre – an die-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28593
        (A) (C)
        (D)(B)
        ser Stelle ohnehin völlig deplatzierte – Forderung nach
        dem gesetzlichen Mindestlohn. Da haben Sie dann doch
        noch einen Platz gefunden, um Ihren Textbaustein dazu
        unterzubringen. Durch stete Wiederholung wird die For-
        derung aber nicht besser. Und im Übrigen: An Flughäfen
        zum Beispiel, wo gerade gestreikt wird für höhere
        Löhne, liegt das Lohnniveau schon jetzt über den von Ih-
        nen geforderten 10 Euro pro Stunde, nämlich zum Bei-
        spiel in NRW bei 12,36 Euro zuzüglich Zuschläge.
        Private Sicherheitsunternehmen tragen schon längst
        erheblich zur Sicherheit in Deutschland bei und arbeiten
        als verlässlicher Partner für Sicherheitsbehörden und
        staatliche Einrichtungen wie auch Körperschaften er-
        folgreich. Es ist dabei selbstverständlich, dass überall da,
        wo es um sensible Bereiche geht – und das ist im Sicher-
        heitsbereich ja regelmäßig der Fall – eine ausreichende
        Kontrolle sichergestellt sein muss. Die FDP-Fraktion hat
        sich bereits in der vergangenen Wahlperiode für eine
        effektive Kontrolle privater Sicherheitsdienste ausge-
        sprochen. Dazu gehört etwa, dass bei Abschluss entspre-
        chender Verträge zwischen der öffentlichen Hand und
        Sicherheitsunternehmen bestimmte Vereinbarungen ge-
        troffen werden, was etwa Sicherheitsüberprüfungen an-
        geht oder auch den Umgang mit Erkenntnissen, die im
        Rahmen der Tätigkeit gewonnen werden. Zudem sind
        selbstverständlich die gewerberechtlichen wie auch zum
        Beispiel waffenrechtlichen Vorgaben strikt einzuhalten.
        Selbstverständlich darf das Gewaltmonopol des Staa-
        tes nicht angetastet werden. Aber nicht überall, wo zum
        Beispiel Bewachungsaufgaben wahrgenommen werden
        müssen, müssen dafür Polizisten eingesetzt werden. Kei-
        ner will, dass „schwarze Sheriffs“ Leute verhaften, nach-
        dem sie sie mit körperlicher Gewalt bedroht haben. Aber
        es ist doch auch nicht so, als sei das irgendwo in
        Deutschland Realität, so, wie es die Linke hier glauben
        machen will.
        Jan Korte (DIE LINKE): Wir behandeln heute einen
        Antrag der Fraktion Die Linke, der zum Ziel hat, die Pri-
        vatisierung der öffentlichen Sicherheit rückgängig zu
        machen. Die Branche der privaten Wach- und Sicher-
        heitsdienste stellt mit 3 700 Unternehmen, die rund
        171 000 Angestellte beschäftigen und jährlich einen
        Umsatz von 4,6 Milliarden Euro verzeichnen, einen
        nicht unerheblichen Wirtschaftssektor der Bundesrepu-
        blik dar. Sicherheit ist ein profitables Geschäft, und die
        Branche boomt seit Jahren.
        Das ist ja im Prinzip nichts Falsches, könnte man mei-
        nen. Diese Zahlen beschreiben aber vor allem verschie-
        dene negative Entwicklungen der letzten Jahre: den
        Boom des Niedriglohnsektors zum Beispiel, aber auch
        den schleichenden Rückzug des Staates und die Privati-
        sierung von eigentlich öffentlichen Ordnungs- und
        Sicherheitsaufgaben.
        Ich möchte das mit einer letzten Monat erschienenen
        Meldung des Bezirks Bundespolizei der Gewerkschaft
        der Polizei, GdP, dokumentieren. Nicht zu irgendeinem
        allgemeinen sicherheitspolitischen Thema, sondern dies-
        mal zu einem Punkt, von dem die Gewerkschaft wirklich
        etwas versteht: zu den Arbeitsbedingungen der Bundes-
        polizei und der privaten Luftsicherheitsassistenten an
        den Flughäfen. Die Gewerkschaft bemängelt, dass – ich
        zitiere – „die Bundespolizei seit Jahren jeden frei wer-
        denden Arbeitsplatz eines bundeseigenen Luftsicher-
        heitskontrolleurs nicht mehr neu besetzt, sondern nur
        noch an einen privaten Sicherheitsdienst vergibt und
        dessen Mitarbeiter auf Stundenbasis ‚beleiht‘.“ Der Vor-
        sitzende der GdP, Bezirk Bundespolizei, Josef Scheu-
        ring, wird in dem Artikel auf der Gewerkschaftshome-
        page folgendermaßen zitiert: „Sobald der Arbeitsplatz
        nicht mehr mit Bundesbeschäftigten besetzt ist, sondern
        von ‚Beliehenen‘ privater Sicherheitsfirmen ausgeübt
        wird, beginnt das Diktat inakzeptabler Arbeitsbedingun-
        gen. Insbesondere durch die Anweisung von nur stun-
        denweisen, über den ganzen Tag mit großen Lücken ver-
        teilten Einsatzzeiten, ist eine sinnvolle und verträgliche
        Organisation des Arbeitstages gar nicht mehr möglich.“
        Und weiter: „Durch die Beleihung dieser Aufgabe sind
        die Rahmenbedingungen massiv verschlechtert worden.
        Das hat gravierende Folgen für die dort eingesetzten Be-
        schäftigten und für die Sicherheit.“ Als Lösung für die-
        ses Sicherheitsproblem schlägt die GdP vor, „den Fehler
        der Privatisierung rückgängig zu machen und sicher-
        heitssensible Aufgaben wieder zurück in die öffentliche
        Hand zu holen.“
        Eine gute Idee. Aber was macht die Bundesregie-
        rung? Sie verfolgt lieber die Einführung von Nacktscan-
        nern, die dann von den unterbezahlten und prekär be-
        schäftigten privaten Luftsicherheitsassistenten bedient
        werden sollen. Man muss sich das einmal vor Augen
        führen: In den letzten Jahren gab es einen Bürgerrechts-
        eingriff nach dem anderen, im Namen der Sicherheit.
        Und wenn es nach Innenminister Hans-Peter Friedrich
        ginge, würden noch mehr Daten gesammelt und noch
        mehr Bürger überwacht. Diese Sicherheitsprojekte
        kosten übrigens Millionen, ohne dass ihr Nutzen bislang
        erwiesen wurde. Aber am Sicherheitspersonal wird ge-
        spart. Das ist eine absurde Sicherheitsstrategie. Liebe
        Kolleginnen und Kollegen in den Koalitionsfraktionen:
        Wenn Sie schon nicht auf uns hören wollen, dann hören
        Sie auf die Polizeigewerkschaften! In diesem Fall ist das
        völlig okay.
        Ein anderer Punkt: Zunehmend werden private Wach-
        und Sicherheitsdienste von Städten und Gemeinden
        damit beauftragt, im Rahmen von Public-private-Part-
        nership-Modellen für Sicherheit und Ordnung zu sorgen.
        Obwohl immer wieder behauptet wird, private Sicher-
        heitsfirmen hätten keine Sonderrechte, führen sie
        Tätigkeiten aus, die hoheitliche Befugnisse bzw. Amts-
        trägerschaften erfordern. Die Erweiterung ihrer Zustän-
        digkeiten erfolgt dabei oftmals ohne ausreichende De-
        ckung durch das geltende Recht. Denn theoretisch haben
        die Angestellten der Unternehmen keinerlei Befugnisse,
        die über die Jedermannsrechte – also Notwehr, Nothilfe
        und Festnahmerecht – hinausgehen.
        In einigen Kommunen existieren sogenannte City-
        streifen. Das sind von der Kommune bestellte Privat-
        streifen, die gegen sämtliche Ordnungsverstöße im je-
        weiligen Stadtgebiet vorgehen sollen. Während ihrer
        Streifengänge erteilen die privaten Sicherheitsleute
        Platzverweise, stellen Personalien und begangene Ord-
        28594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        nungswidrigkeiten fest, verhängen Buß- und Warngelder
        und führen Alterskontrollen durch. Tätigkeiten, die ei-
        gentlich in die Zuständigkeit der Polizei fallen. Den Bür-
        gerinnen und Bürgern wird der Eindruck vermittelt, die
        privaten „Ordnungskräfte“ hätten hoheitliche Befugnisse
        und praktisch die gleichen Rechte wie die Polizei. Haben
        sie aber nicht – und zwar zu Recht: Private Sicherheits-
        leute sind nicht, wie die Polizei, dem Schutz der Rechte
        von Bürgerinnen und Bürgern, sondern ihrem Arbeitge-
        ber und ihrem Auftraggeber verpflichtet und werden al-
        les Mögliche tun, um ihren Auftrag umzusetzen. Dass
        dabei oft, absichtlich oder in Unkenntnis der Rechtslage,
        Grenzen überschritten werden, ist genauso bekannt wie
        die unterirdischen Arbeitsbedingungen in der privaten
        Sicherheitsbranche.
        Im besten Fall sollen Sicherheitsdienste zu objektiver
        Sicherheit beitragen. In der Realität sieht das meist an-
        ders aus. Schwarze Sheriffs machen Bürgerinnen und
        Bürgern eher Angst, als ihnen Sicherheit zu vermitteln.
        Das ist aber auch gar nicht im Interesse der Sicherheits-
        unternehmen. Der Politikwissenschaftler Volker Eick
        spricht davon, die Branche lebe „von der Dramatisierung
        vermeintlicher Kriminalitätsbelastungen“. Diese Aus-
        sage ist keineswegs eine Gemeinheit gegenüber den pri-
        vaten Sicherheitsdienstleistern: Es gehört schlichtweg
        zum Tagesgeschäft eines jeden privaten Unternehmens,
        den Bedarf nach dem eigenen Produkt oder der eigenen
        Dienstleistung hochzuhalten. Eick führt weiter aus, es
        lasse sich beobachten, „wie das kommerzielle Sicher-
        heitsgewerbe sozialpolitische Problemlagen zu kriminal-
        politischen umdefiniert“ .Tatsächlich wird privates Si-
        cherheitspersonal im öffentlichen Raum oft eingesetzt,
        um die öffentlich sichtbaren Zeichen einer völlig ver-
        fehlten Sozialpolitik der letzten Bundesregierungen zu
        beseitigen oder zu kaschieren. Spätestens hier wird dann
        klar, dass es am Ende ums Geldmachen geht und nicht
        um eine tatsächliche Verbesserung der öffentlichen
        Sicherheit.
        Wir fordern in unserem Antrag eine Politik, welche
        die Staatsquote in den Bereichen der öffentlichen Sicher-
        heit erhöht, vordringlich in den sicherheitsrelevanten
        Bereichen der Bahn und der Flughäfen. Wir fordern
        klare Regelungen, die garantieren, dass keine in Grund-
        rechte eingreifenden Aufgaben auf Private übertragen
        werden. Und wir fordern erhöhte Standards für die Aus-
        und Fortbildung des Personals von Sicherheitsfirmen so-
        wie eine Bezahlung nach den Tarifen des öffentlichen
        Dienstes. Denn es geht nicht nur darum, unmenschlichen
        Arbeitsbedingungen ein Ende zu setzen, sondern auch
        darum, dass private Sicherheitskräfte die rechtlichen
        Rahmenbedingungen ihres Handelns und die Rechte an-
        derer kennen.
        Außerdem fordern wir die Abkehr von einer Politik
        der inneren Sicherheit, die sich bewusst der rechtlichen
        Grauzonen bedient, die der Einsatz privater Sicherheits-
        dienstleister eröffnet. Als Teil der Exekutive des Staates
        ist die Polizei an Recht und Gesetz gebunden. Aus gu-
        tem Grund gibt es Gesetze, welche die Befugnisse der
        Polizei regeln. Jede Abweichung und jedes Bestreben,
        das staatliche Gewaltmonopol durch Kooperationen mit
        privaten Dienstleistern gleichzeitig zu verwässern wie zu
        erweitern, stellt eine erhebliche Gefährdung von Bürger-
        rechten und Demokratie dar. Dieser Gefahr wollen wir
        mit unserem Antrag entgegenwirken.
        Auch wenn ich davon ausgehe, dass Sie, verehrte
        Kolleginnen und Kollegen von der FDP, dies aus ideolo-
        gischen Gründen nicht hinbekommen werden, so hoffe
        ich doch, im Sinne einer nachhaltigen Stärkung von De-
        mokratie und Bürgerrechten, dass Sie unseren Antrag
        unterstützen werden. Selbstverständlich gilt dies auch
        für die Union; aber hier ist meine Hoffnung, dass Sie
        eine vernünftige Politik zu machen in der Lage sind,
        noch geringer. Aber lassen wir uns überraschen.
        Wolfgang Wieland (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Der Antrag ist – man kennt das von der Linksfraktion –
        ein Gemischtwarenladen mit inneren Widersprüchen. Da
        wird zum einen der fraktionseigenen Skepsis gegen
        gewinnorientierte Unternehmen insgesamt gefrönt, dies-
        mal eben bei den Sicherheits- und Bewachungsdienst-
        leistern. Dann wird – an sich ja eine sehr richtige Forde-
        rung – ein Mindestlohn gefordert, allerdings hier für
        Tätigkeiten, die laut der anderen Forderungen des Antra-
        ges gar nicht mehr ausgeübt werden sollten. Ähnliches
        gilt beim Thema Qualifikation: Es sollen laut Antrag
        Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besser für Aufgaben
        qualifiziert werden, die sie gar nicht mehr übernehmen
        sollen.
        Man mag darin Pragmatismus erkennen, nämlich die
        Einsicht, dass diese Bundesregierung wohl kaum die
        Forderungen des Antrages umsetzen wird und man dann
        vielleicht lieber noch eine Rückfallposition hat. Es ist
        also ein ganzer Strauß an Themen aufgeschrieben und
        angesprochen: Könnte ja sein, dass irgendwas dann doch
        hängen bleibt.
        Dieses etwas bunte Zusammenwürfeln verdeckt aber
        leider auch den Blick auf das Wesentliche, nämlich die
        Frage, ob das staatliche Gewaltmonopol auch durchgän-
        gig vom Staat ausgeübt werden muss, also von Beamtin-
        nen und Beamten, die in einem besonderen Pflicht-
        verhältnis stehen und sich darin bewährt haben. Beim
        Ansprechen dieser Thematik kann man übrigens ein be-
        eindruckend klares Bekenntnis zu eben diesem staatli-
        chen Gewaltmonopol lesen, was man so aus den Reihen
        der Linkspartei auch nicht gewohnt ist.
        Wir haben hier eine klare Position, die sich aus dem
        Grundgesetz direkt ableiten lässt: Hoheitliche Befug-
        nisse gehören als ständige Aufgaben in die Hände von
        Beamten; denn gerade die Ausübung des Gewaltmono-
        pols – sprich: die Anwendung von unmittelbarem kör-
        perlichem Zwang – muss unter striktester Beachtung der
        Verhältnismäßigkeit stattfinden, und ihre parlamentari-
        sche Kontrolle und gerichtliche Anfechtung darf nicht
        auf Hindernisse stoßen, die sich aus unklaren Verant-
        wortlichkeiten, privatrechtlichen Verträgen oder Ähnli-
        chem ergeben.
        Das Gewaltmonopol hat die Gesellschaft über Jahr-
        hunderte entwickelt, es ist eine zivilisatorische Errun-
        genschaft, die man nicht aufgeben darf; denn ihr Sinn
        und Zweck ist es, das Recht des Stärkeren – und damit
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28595
        (A) (C)
        (D)(B)
        pure Gewalt – als Mittel der Interessendurchsetzung ab-
        zulösen durch eine Gewalt, die von der Stärke des
        Rechts gebunden wird. Deswegen dürfen und wollen wir
        nichts tun, was diese Errungenschaft infrage stellt. Das
        bedeutet kein totales und vollständiges Aus für jegliche
        Erledigung durch Private, aber es macht die Leitplanken
        deutlich, innerhalb derer eine Übertragung an Private
        nur stattfinden kann, und es zeigt, dass es hier nicht um
        eine organisatorische Entscheidung geht, sondern um
        zentrale Wertentscheidungen.
        In einem Umfeld wie der Personenkontrolle am
        Flughafen, wo sich die Aufgabe und die möglichen Ge-
        fahrenlagen recht gut prognostizieren lassen, verläuft die
        Bewertung vielleicht anders als bei einer unübersichtli-
        cheren Situation. Aber da es um eine Säule des Rechts-
        staates an sich geht, heißt die Devise: im Zweifel für den
        Staat. Das gilt auch, weil wir die Entstehung zum Bei-
        spiel einer Strafvollzugsindustrie, wie sie in den USA
        mit ihren privaten Gefängnissen entstanden ist und die
        heftig für Gesetzesverschärfungen und damit mehr
        „Kundschaft“ lobbyiert, mit Schrecken sehen.
        Ein zu wenig beachtetes Detail möchte ich an dieser
        Stelle hervorheben: Das ist die Frage des hoheitlichen
        Anscheins privater Sicherheitsleute, die aber keineswegs
        Beliehene sind. Wenn ein gesetzlich mit der Ausübung
        unmittelbaren Zwangs Betrauter äußerlich nach Staats-
        gewalt aussieht, geht das in Ordnung. Aber wenn priva-
        tes Sicherheitspersonal, das lediglich die Jedermann-
        rechte oder ein Hausrecht ausübt, aussieht wie ein SEK,
        dann ist das nicht richtig. Denn Effekte der Einschüchte-
        rung und der Selbstbeschränkung des eigenen Verhaltens
        beim Anblick solch nur vermeintlicher Autorität gehört
        nicht in eine offene Gesellschaft, das Äußere als Droh-
        gebärde darf nicht die Regel sein.
        Die weiteren Fragen, die der Antrag eröffnet, sollte
        man nicht außer Acht lassen. Wir stehen als Partei und
        Fraktion schon lange für einen Mindestlohn. Der muss
        auch im Sicherheitsgewerbe gelten, auch wenn über die
        Höhe noch zu reden ist. Der Forderung nach einer guten
        Ausbildung und insbesondere auch einer rechtlichen und
        rechtsstaatlichen Schulung können wir uns ebenfalls nur
        anschließen.
        Anlage 5
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts: – Änderung der Geschäftsordnung
        des Deutschen Bundestages – hier: Änderung
        der Verhaltensregeln für Mitglieder des Deut-
        schen Bundestages (Anlage 1 der Geschäftsord-
        nung) (Tagesordnungspunkt 15)
        Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU): Mit dem heute
        zur Abstimmung stehenden Gesetzentwurf der Koali-
        tionsfraktionen soll das bisherige Drei-Stufen-Modell
        zur Veröffentlichung der Nebeneinkünfte um weitere
        sieben Stufen auf insgesamt zehn Stufen erweitert wer-
        den. Damit soll mehr Transparenz geschaffen werden.
        Transparenz ist freilich kein Selbstzweck. Transpa-
        renz bei der Frage der Verhaltensregeln, insbesondere
        bezüglich der sogenannten Nebeneinkünfte von Bundes-
        tagsabgeordneten, soll nicht die Neugier interessierter
        Kreise befriedigen oder Neidgefühle bedienen. Worum
        es hier geht und gehen muss, ist, mögliche Interessens-
        kollisionen aufzuzeigen, eventuelle Abhängigkeiten of-
        fenzulegen und auch die Frage, ob die Mandatsausübung
        im Mittelpunkt der Tätigkeit eines Abgeordneten steht.
        Ich möchte erneut – wie bei jeder Diskussion zu diesem
        Thema – klarstellen: Diesen Zielen müssen Verhaltens-
        regeln dienen. Verhaltensregeln müssen also danach be-
        urteilt werden, ob sie insoweit aussagekräftig und damit
        zielführend sind.
        In fast jeder Sitzung der Rechtsstellungskommission
        in dieser Wahlperiode diskutieren wir nun auf Betreiben
        interessanterweise von SPD und Grünen, ob die von ih-
        nen selbst im Jahr 2005 eingeführten Regelungen wirk-
        lich so gut sind. Wir von der Union haben uns der Dis-
        kussion über eine Verbesserung der geltenden Regelung
        – freilich unter Maßgabe der von mir gerade vorher ge-
        nannten Zielsetzung – zu keiner Zeit verweigert und
        deutlich gemacht, dass wir offen sind für eine sinnvolle
        Neuregelung.
        Mit der heute zur Abstimmung stehenden Zehn-Stu-
        fen-Regelung wollen wir mehr Transparenz schaffen;
        denn die höchste Stufe beginnt jetzt nicht mehr bei über
        7 000 Euro, sondern bei über 250 000 Euro. Dies bringt
        in bestimmten Fällen in der Tat einen weiteren Erkennt-
        nisgewinn.
        Ich bleibe aber dabei: Die von Rot-Grün seinerzeit
        beschlossene Regelung der Veröffentlichung von Neben-
        einkünften leidet an einem Grundfehler, nämlich dem
        Bruttozuflussprinzip. Denn dieses kann den Eindruck er-
        wecken, die von einem Kollegen angegebenen Beträge
        seien gleichzusetzen mit seinem Einkommen bzw. Ge-
        winn. Auch bleiben Zweifel daran, ob aus der Höhe der
        sogenannten Nebeneinkünfte allein immer auch Er-
        kenntnisse über Abhängigkeiten bzw. Interessenkollisio-
        nen gewonnen werden können.
        Ich wiederhole auch meine Kritik aus früheren Debat-
        ten, dass die Regelung nicht klar differenziert zwischen
        Einkünften aus dem erlernten Beruf und Nebenverdiens-
        ten aus der – ich nenne es zugespitzt so – Vermarktung
        von Amt oder Mandat.
        Eine nicht unerhebliche Verbesserung im Hinblick
        auf das untaugliche Bruttozuflussprinzip haben wir im-
        merhin heute Morgen in der Rechtsstellungskommission
        noch beschlossen: Jeder Abgeordnete kann Erläuterun-
        gen zu seinen veröffentlichten Beträgen auf seiner
        Homepage einstellen, auf die künftig ein deutlich er-
        kennbarer Link auf der entsprechenden Bundestags-
        homepage direkt verweist.
        Wie gesagt, meine Zweifel an einigen grundlegenden
        Punkten der Veröffentlichungsregelung bleiben, und ich
        will auch nicht verhehlen, dass es in unserer Fraktion bei
        vielen diese Bedenken gibt. Gleichwohl wollen wir den
        Versuch unternehmen, mit einer neuen Stufenregelung
        mehr Transparenz zu erreichen.
        28596 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Für ganz sicher nicht zielführend halten wir aber die
        Forderung nach Veröffentlichung in Euro und Cent, wie
        sie jetzt von der Opposition gefordert wird. Ich habe bis-
        her kein einziges Argument gehört, dass damit ein
        Transparenzgewinn erzielt werden kann. Im Gegenteil
        würde noch viel mehr der Anschein erweckt, dass der
        angegebene Betrag identisch ist mit dem wirtschaftli-
        chen Vorteil.
        Bis zum Fall Steinbrück wollte übrigens ja auch die
        SPD nur eine neue Stufenregelung. Aber angesichts der
        Debatte über die Vortragshonorare ihres mit beachtli-
        chen Nehmerqualitäten ausgestatteten Kanzlerkandida-
        ten hat sie dann die Flucht nach vorn angetreten.
        Auch die vorliegenden Anträge lehnen wir ab, wo-
        nach Berufsgeheimnisträger die Branche ihrer Auftrag-
        geber angeben müssen. Dies ist zum einen nicht prakti-
        kabel. Vor allem aber beinhaltet es die Gefahr der
        Verletzung von Verschwiegenheitspflichten.
        Lassen Sie mich abschließend einmal mehr davor
        warnen, die Rechtsstellung und das Berufsbild des Ab-
        geordneten in eine Richtung zu verändern, die dem
        freien Mandat und dem Parlament insgesamt Schaden
        zufügen würde. Wir brauchen ein Parlament, das aus der
        Breite der Gesellschaft zusammengesetzt ist. Es darf
        nicht dazu kommen, dass bestimmte Berufsgruppen wie
        Freiberufler, Handwerker, Gewerbetreibende immer
        schwerer für die Übernahme eines politischen Mandates
        zu gewinnen sind. Außerdem brauchen wir Abgeord-
        nete, die nicht nur einen Beruf erlernt haben, sondern ihn
        auch noch ausüben; denn dies stärkt die politische Unab-
        hängigkeit und ist damit im Interesse des Parlamentaris-
        mus.
        Und schließlich möchte ich auch eindringlich davor
        warnen, dass durch all die Debatten über Nebentätigkei-
        ten, Veröffentlichungspflichten, Abgeordnetenbeste-
        chung etc. der Eindruck erweckt wird, Parlamentarier
        seien faul, abhängig, raffgierig und korrupt. Dies ent-
        spricht in keiner Weise der Wirklichkeit und schadet des-
        halb dem Ansehen des Parlamentarismus.
        Bernhard Kaster (CDU/CSU): Um was geht es ei-
        gentlich im Kern dieser Debatte?
        Geht es hier um einen populistischen Überbietungs-
        wettbewerb? Geht es um Neiddebatten? Geht es um par-
        teistrategische Schachzüge? Oder geht es womöglich um
        Schadensbegrenzung für eine verunglückte Kanzlerkan-
        didatur, weil, um im aktuellen Sprachgebrauch zu blei-
        ben, das Konklave wohl zu kurz und vor allem unterbe-
        setzt war?
        Es geht hier um ein sehr wichtiges Thema des Parla-
        mentes, ein sehr wichtiges Thema im Verhältnis zwi-
        schen Parlament und Bürgern und der Transparenz ge-
        genüber den Wählern.
        Dafür müssen wir aber über die richtigen Sachver-
        halte sprechen, die tatsächlich relevanten Fälle. Ja, es
        geht um Transparenz, es geht um die Unabhängigkeit
        von Abgeordneten. Grundlage ist hier das Abgeordne-
        tenrecht. Und da haben wir eine große Verantwortung
        gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern wie auch ge-
        genüber den Kolleginnen und Kollegen.
        Zur Chronologie der jetzigen Verhaltensregeln, den
        Problemen in der Praxis und dem Zerrbild, das sich teil-
        weise hieraus ergibt, könnte viel gesagt werden. Aber
        jetzt geht es darum – das hat die Praxis auch gezeigt –
        dass die Verhaltensregeln, die Transparenz, einer Erwei-
        terung bedürfen. Dieses erforderliche Mehr an Transpa-
        renz schaffen wir mit der jetzigen Einführung von zehn
        statt bisher drei Einkunftsstufen.
        Die Debatte aber, so wie sie geführt wird, geht an der
        Wirklichkeit dieses Parlamentes vorbei, einer Parla-
        mentswirklichkeit, auf die wir ruhig ein wenig stolz sein
        können. 70 Prozent der Kolleginnen und Kollegen haben
        überhaupt keine Nebeneinkünfte. Um wen geht es denn
        hier? Im Deutschen Bundestag sind derzeit 15,5 Prozent
        Selbstständige aus den Bereichen Handwerk, Gewerbe
        und Landwirtschaft. Und das ist außerordentlich erfreu-
        lich. Weitere 15,9 Prozent sind freiberuflich Tätige, also
        Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Apotheker und Inge-
        nieure; auch das ist sehr erfreulich! Wir als Union begrü-
        ßen diese Zusammensetzung ausdrücklich. All diese
        Kolleginnen und Kollegen, die sich dazu entschieden ha-
        ben, ihre eigene Berufs- und Lebensbiografie für viel-
        leicht zwei oder drei Legislaturperioden zu unterbrechen
        – das ist bei über 50 Prozent der Kollegen der Fall –,
        müssen doch verständlicherweise Wege finden, wie sie
        ihren Betrieb, ihr Büro, ihre Kanzlei für eine solche Zeit
        weiterlaufen lassen können. Deswegen werden wir als
        Koalition keiner Regelung zustimmen, die es diesen Be-
        rufsgruppen weiter erschwert oder sogar unmöglich
        macht, sich um ein Bundestagsmandat zu bewerben.
        Die jetzigen Regelungen, insbesondere das Bruttozu-
        flussprinzip, führen bereits jetzt in der Darstellung zu ei-
        nem vollkommenen Zerrbild bei vielen Kolleginnen und
        Kollegen. Mit der heutigen Beschlussempfehlung des
        1. Ausschusses wird der Deutsche Bundestag das bishe-
        rige Drei-Stufen-Modell auf insgesamt zehn Stufen er-
        weitern. Wir sorgen damit für einen weiteren und not-
        wendigen Transparenzgewinn im eigentlichen Kern der
        Sache, nämlich mögliche Abhängigkeiten von Abgeord-
        neten aufzuzeigen. Allein darum geht es; der gläserne
        Bürger darf nicht das Ziel sein, der gläserne Abgeord-
        nete auch nicht. Wir wollen für die Zukunft kein Funk-
        tionärsparlament, wir wollen auch in Zukunft Selbststän-
        dige und Freiberufler in einer guten Mischung im Deut-
        schen Bundestag.
        Die Debatte über Einzelfälle – ja, sogar über einen
        Extremfall – darf nicht dazu führen, dass berufliche Ne-
        bentätigkeiten von Handwerkern, Unternehmern, aber
        auch Rechtsanwälten und Ärzten in Bausch und Bogen
        einem Generalverdacht ausgesetzt werden. Das schadet
        letztlich dem Parlament und dem Ansehen der Abgeord-
        neten – und zwar auch dem Ansehen derer, die über-
        haupt keine entgeltlichen Nebentätigkeiten ausüben!
        Christian Lange (Backnang) (SPD): Ich begründe
        die beiden Änderungsanträge der SPD-Bundestagsfrak-
        tion. Wir wollen die Veröffentlichung der Nebenein-
        künfte auf Euro und Cent sowie die Nennung der Bran-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28597
        (A) (C)
        (D)(B)
        chen. Dies entspricht den Vorschlägen der CDU/CSU
        und FDP, von denen Sie heute nichts mehr wissen wol-
        len. Ich begrüße das Vorgehen von Peer Steinbrück. Er
        ist unser Vorbild. Was für ihn gilt, muss für alle gelten.
        Dieser Vorschlag entspricht meiner eigenen ursprüng-
        lichen Forderung und ist jetzt gemeinsamer Antrag von
        SPD und Grünen. Wie dringend notwendig eine Ver-
        schärfung der Transparenzregeln ist, zeigt der Fall von
        Michael Fuchs.
        Auf Fuchs’ Bundestagsseite war jahrelang zu lesen,
        dass er Vorträge für die britische Hakluyt Society gehal-
        ten hatte. Nach Recherchen von abgeordnetenwatch.de
        und stern, 9. Januar 2013, wurde deutlich, dass es sich in
        Wahrheit nicht um die gemeinnützige geografisch-histo-
        rische Gesellschaft, sondern einen privaten Nachrichten-
        dienst mit ähnlichem Namen, Hakluyt & Company, han-
        delte. Fuchs hat nach Recherchen des stern seit August
        2008 mehr als 13 bezahlte Vorträge für die Londoner Be-
        ratungsfirma Hakluyt & Company gehalten und erhielt
        dafür insgesamt mindestens 57 000 Euro.
        Hakluyt & Company wurde 1995 von ehemaligen
        Mitgliedern des britischen Geheimdienstes gegründet.
        Die Firma beschafft für Unternehmen unveröffentlichte
        Informationen, zum Beispiel über andere Unternehmen,
        über Kampagnen von Nichtregierungsorganisationen,
        aber auch über Regierungsvorhaben.
        Die Verwechslung der umstrittenen Firma mit der ge-
        meinnützigen Hakluyt Society nahm ihren Ausgang in
        einer unvollständigen Meldung von Michael Fuchs, der
        2008 den ersten Vortrag dort nur mit „Hakluyt London“
        bei der Bundestagsverwaltung meldete. Wie daraus
        „Hakluyt Society“ wurde, ist bis heute ungeklärt.
        Es wundert deshalb nicht, dass Michael Fuchs, der in
        den vergangenen drei Jahren mindestens 100 000 Euro
        zusätzlich eingenommen hat, sich gegen die Veröffentli-
        chung konkreter Zahlen ausspricht und darüber hinaus-
        gehend auch zumindest die Nennung der Branche, in der
        Einkünfte erzielt werden. Er könne sich höchstens vor-
        stellen, „dass wir die gegenwärtige Transparenzregelung
        um einige Stufen ergänzen“, sagte Fuchs, 14. Oktober
        2012, dapd.
        Der Vorgang zeigt, wie wichtig es ist, dass wir weit-
        gehende Nachvollziehbarkeit schaffen, wie hoch die
        Einnahmen aus Nebentätigkeiten sind, und zwar auf
        Euro und Cent, aber auch von wem bzw. aus welcher
        Branche die Einnahmen stammen. Dies wurde von
        CDU/CSU und FDP bislang kategorisch abgelehnt.
        Das Bundesverfassungsgericht hat aber in seinem Ur-
        teil vom 4. Juli 2007 mit einer 4:4-Entscheidung die der-
        zeit geltende Stufenregelung bekräftigt. Einer Offenle-
        gung genauerer Zahlen stünde damit nichts im Wege,
        solange die schützenswerten Interessen, zum Beispiel
        spezielle Verschwiegenheitspflichten von Ärzten oder
        Anwälten, gewahrt bleiben. Mit der Nennung lediglich
        der Branche, in der die Nebeneinkünfte erzielt werden,
        kommen wir gebotenen Verschwiegenheitspflichten
        nach.
        Mit den Transparenzregelungen sollen berufliche und
        sonstige Verpflichtungen des Abgeordneten neben dem
        Mandat und daraus zu erzielende Einkünfte den Wählern
        sichtbar gemacht werden. Sie sollen sich mithilfe von In-
        formationen über mögliche Interessenverflechtungen
        und wirtschaftliche Abhängigkeiten ein besseres Urteil
        über die Wahrnehmung des Mandats durch den Abge-
        ordneten auch im Hinblick auf dessen Unabhängigkeit
        bilden können.
        Diesbezügliche Kenntnis ist nicht nur für die Wahl-
        entscheidung wichtig. Sie sichert auch die Fähigkeit des
        Deutschen Bundestages und seiner Mitglieder, unabhän-
        gig von verdeckter Beeinflussung durch zahlende Inte-
        ressenten das Volk als Ganzes zu vertreten. Das Volk hat
        Anspruch darauf, zu wissen, von wem – und in welcher
        Größenordnung – seine Vertreter Geld oder geldwerte
        Leistungen entgegennehmen. Das Interesse des Abge-
        ordneten, Informationen aus der Sphäre beruflicher Tä-
        tigkeiten vertraulich behandelt zu sehen, ist gegenüber
        dem öffentlichen Interesse an der Erkennbarkeit mögli-
        cher Interessenverknüpfungen der Mitglieder des Deut-
        schen Bundestages grundsätzlich nachrangig.
        Wichtig ist außerdem, dass Verstöße entsprechend
        empfindlich geahndet werden können. Wenn Abgeord-
        nete Nebeneinkünfte verschweigen und dies bekannt
        wird, soll ein Betrag in gleicher Höhe von ihrer Diät ab-
        gezogen werden.
        Ich fordere Sie deshalb auf: Stimmen Sie den Anträ-
        gen von SPD und Grünen zu!
        Sonja Steffen (SPD): Das Volk hat Anspruch darauf,
        zu erfahren, von wem – und in welcher Größenordnung
        – seine Volksvertreter Geld oder geldwerte Leistungen
        entgegennehmen.
        Bisher müssen die Abgeordneten ihre Nebeneinkünfte
        in drei Stufen offenlegen. Diese Offenlegungspraxis hat
        zu viel Kritik geführt, beispielsweise von Transparency
        International Deutschland, nach deren Einschätzung sich
        die Veröffentlichung in drei Stufen als kontraproduktiv
        und eher verwirrend erwiesen hat. Dies sei besonders bei
        Angaben zur dritten Stufe der Fall, mit der alle Ein-
        künfte ab 7 000 Euro erfasst werden. Hinter dieser Stufe
        können sich vier-, fünf- oder sechsstellige Eurobeträge
        verbergen.
        Die Koalition möchte hier nun mit einem Vorschlag
        Abhilfe schaffen, der die Stufen von drei auf zehn Stufen
        ausbaut und so genauere Einsicht bis zu einer Höhe von
        250 000 Euro ermöglicht.
        Auch wenn dies eine Verbesserung gegenüber der bis-
        herigen Praxis darstellt, lehnen wir diesen Vorschlag ab.
        Das bedeutet nicht, dass wir die Ausübung von Nebentä-
        tigkeiten durch Abgeordnete grundsätzlich ablehnen.
        Für ehrliche Arbeit braucht man sich nicht zu schämen,
        und diese soll auch weiterhin neben dem Mandat ausge-
        übt werden dürfen. Gerade Selbstständige müssen si-
        cherstellen können, dass mit der Annahme des Mandats
        die eigene, oft mühsam aufgebaute Existenz nicht aufge-
        geben werden muss. Anders wäre eine Rückkehr in den
        eigenen Beruf und damit eine Absicherung für die Zeit
        28598 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        nach dem Mandat für diese Gruppe oft nicht möglich.
        Insbesondere gilt es, die eigene Familie, den Lebenspart-
        ner und die Kinder über die vier Jahre des Mandats hi-
        naus abzusichern. Und es kann auch um Verpflichtungen
        Dritten gegenüber gehen, wie beispielsweise den eige-
        nen langjährigen Mitarbeitern im Betrieb oder der Kanz-
        lei.
        Aber wir sind es den Bürgerinnen und Bürgern, die
        mit ihren Steuergeldern auch unsere Diäten, Büroaus-
        stattungen und Mitarbeiter finanzieren, schuldig, unsere
        Einkünfte auf Euro und Cent offenzulegen. Ohne Trans-
        parenz gibt es kein Vertrauen, und ohne Vertrauen gibt es
        auch langfristig keine parlamentarische Demokratie mit
        einer breiten Akzeptanz.
        Die von der Koalition vorgeschlagene neue Regelung
        ist leider genauso verwirrend wie die alte, nur dass sie
        die höheren Einkünfte stärker einbezieht. Die tatsächli-
        chen Bruttoeinkünfte eines Abgeordneten, der jährlich
        einmal Stufe zwei, einmal Stufe drei und einmal Stufe
        vier verdient, liegen mindestens bei 25 503 Euro. Sie
        können aber auch bis zu 52 000 Euro betragen – das nen-
        nen Sie transparent?
        Wenn ich achtmal Stufe vier verdiene, liegt mein Ein-
        kommen zwischen 120 000 und 240 000 Euro. Ich weiß
        ja nicht, wie es den Kollegen der Koalitionsfraktionen
        geht, aber für mich macht das schon einen ganz schönen
        Unterschied.
        Zudem fällt auf, dass Ihre Sprünge zwischen den Stu-
        fen von eins bis zehn immer größer werden. Liegt der
        Unterschied zwischen Stufe zwei und drei noch bei
        8 000 Euro, sind es zwischen Stufe fünf und sechs schon
        25 000 Euro und schließlich zwischen Stufe acht und
        neun 100 000 Euro. Heißt das, je mehr ich verdiene,
        desto unwichtiger ist eine möglichst exakte Offenle-
        gung?
        Ich bin mir außerdem sicher, dass der Großteil der
        Menschen automatisch immer von den oberen Grenz-
        werten ausgeht. Nach dem Motto: Der verdient dreimal
        Stufe eins? Na, dann hat der doch mindestens
        10 000 Euro zusätzlich! – Dabei könnten es, wie wir
        wissen, auch nur 3 000 Euro sein. Ganz abgesehen da-
        von, dass wir hier immer noch von Bruttoeinkommen
        sprechen, das noch versteuert werden muss.
        Ich meine daher, dass es auch in unserem eigenen In-
        teresse ist, hier für mehr Transparenz zu sorgen. Diese
        bekommen wir aber nur mit einer Offenlegung der tat-
        sächlichen Höhe der Einkünfte. Ich bitte Sie daher, unse-
        rem Antrag für eine Offenlegung auf Euro und Cent zu-
        zustimmen.
        Das Bundesverfassungsgericht hat außerdem festge-
        stellt, dass das Interesse des Abgeordneten, Informatio-
        nen aus der Sphäre beruflicher Tätigkeiten vertraulich
        behandelt zu sehen, gegenüber dem öffentlichen Inte-
        resse an der Erkennbarkeit möglicher Interessenver-
        knüpfungen grundsätzlich nachrangig ist. Wir fordern
        daher, dass bei der Veröffentlichung der Nebentätigkei-
        ten von Abgeordneten, die als Berufsgeheimnisträger
        wie Rechtsanwälte und Steuerberater tätig sind, zumin-
        dest die Branche des Vertragspartners, Auftraggebers
        oder Mandanten offengelegt werden muss.
        Das Argument der Kolleginnen und Kollegen von der
        Koalition, die Kennzeichnung der Branche sei abzuleh-
        nen, da das Risiko vor allem im ländlichen Raum zu
        groß sei, über die Branchenangabe den Vertragspartner
        des Abgeordneten identifizieren zu können, ist schein-
        heilig. Es ist sogar eher ein Argument für die Branchen-
        angabe. Denn gerade in einer solchen von Ihnen geschil-
        derten Situation kann es zu großen Interessenkonflikten
        kommen.
        Mit den Transparenzregelungen sollen den Wählerin-
        nen und Wählern mögliche Interessenverflechtungen
        und wirtschaftliche Abhängigkeiten aufgezeigt werden,
        damit sie sich über die Unabhängigkeit ihres Abgeordne-
        ten ein Bild machen können. Denken Sie daran: Ohne
        Transparenz gibt es kein Vertrauen, und ohne Vertrauen
        gibt es keine funktionierende parlamentarische Demo-
        kratie.
        Jörg van Essen (FDP): Anknüpfend an die große
        öffentliche Debatte über die Vortragstätigkeit des Kolle-
        gen Peer Steinbrück hat sich auch in meiner Fraktion
        eine Diskussion darüber entwickelt, ob die bisher in den
        Verhaltensregeln genannten drei Stufen für Nebenein-
        künfte geeignet sind, der Öffentlichkeit die notwendige
        Transparenz zu ermöglichen.
        Für meine Fraktion lege ich Wert darauf, dass wir Ne-
        bentätigkeiten von Abgeordneten grundsätzlich ermögli-
        chen wollen. Im Gegensatz zu Beamten sind Freiberufler
        nicht abgesichert, wenn sie durch den Willen des Wäh-
        lers oder der Partei nicht wieder für eine weitere Tätig-
        keit im Deutschen Bundestag nominiert werden. Es
        macht deshalb Sinn, dass diese Kollegen einen Fuß in
        der Tür zu ihrem bisherigen Beruf haben und deshalb
        dann auch die Chance, in diesen nach einem Ausschei-
        den aus dem Bundestag zurückzukehren.
        Meine Fraktion lehnt die betragsgenaue Darlegung
        der Nebeneinkünfte ab. Durch die zehn nunmehr zur
        Verfügung stehenden Stufen kann sich der Bürger ein
        zutreffendes Bild von der Wertigkeit einer Nebentätig-
        keit machen. Das Bundesverfassungsgericht – darauf
        weise ich ausdrücklich hin – hat so eine betragsgenaue
        Darlegung auch nicht gefordert. Von daher halten wir die
        nun zu verabschiedende Veränderung der Verhaltensre-
        geln für einen guten Fortschritt, der zu zusätzlicher not-
        wendiger Transparenz führen wird.
        Raju Sharma (DIE LINKE): Wir befassen uns heute
        erneut mit der Frage, wie Politik transparent gestaltet
        werden kann. Speziell geht es um Transparenz in eigener
        Sache, nämlich um die Offenlegung von Nebentätigkei-
        ten, von Auftraggebern und von Nebeneinkommen. So
        begrüßenswert es ist, dass das Thema Transparenz im
        Bundestag endlich Konjunktur hat, so frustrierend ist es
        zugleich, weil sich einfach nichts bewegt. Die Bundesre-
        gierung mauert, wo sie kann: beim Lobbyistenregister,
        bei der Korruptionsbekämpfung, bei der Parteienfinan-
        zierung.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28599
        (A) (C)
        (D)(B)
        Nun gab es eine öffentliche Debatte über Nebenein-
        künfte. Der Begriff ist schon nicht ganz richtig, weil bei
        manchem Kollegen das „Nebeneinkommen“ die Jahres-
        diät schnell einmal um ein Mehrfaches übersteigt. Mit
        dieser Debatte wurde die Bundesregierung jetzt sozu-
        sagen zum Jagen getragen. Jetzt lautet der Vorschlag, die
        Verhaltensregeln für die Abgeordneten so zu ändern,
        dass Nebeneinkünfte nicht mehr in drei, sondern in zehn
        Stufen veröffentlicht werden müssen.
        Das ist nun das Gegenteil von Transparenz. Das ist
        vielmehr eine Verschleierungstaktik. Ob 3, 10 oder 15
        Stufen: Die Bürgerinnen und Bürger wollen zu Recht
        wissen, für wen ihre Abgeordneten sonst noch tätig sind
        und wie viel Geld fließt. Das ist ein berechtigtes Inte-
        resse; denn nur so kann man sich ein Bild davon ma-
        chen, in welche Abhängigkeiten oder Interessenkon-
        flikte sich ein Abgeordneter möglicherweise begibt.
        Diese Klarheit schafft eine Veröffentlichungspflicht mit
        zehn Stufen nicht. Im Gegenteil: Genauso gut könnten
        CDU und FDP vorschlagen, Nebeneinkommen in islän-
        dischen Kronen, in römischen Ziffern und mit kyrilli-
        schen Buchstaben zu veröffentlichen. Dann ist zwar alles
        gesagt, das aber praktisch trotzdem nicht zu gebrauchen.
        Die Linke sagt: Schluss mit dieser Verschleierungs-
        taktik! Wir haben zwei übersichtliche Änderungsanträge
        vorgelegt, denen jeder Abgeordnete ohne größere Pro-
        bleme zustimmen könnte. Wir wollen die Veröffentli-
        chung aller Nebeneinkünfte – und zwar auf Heller und
        Pfennig. Natürlich sollen auch die Auftraggeber genannt
        werden. Es ist doch relevant, zu wissen, ob ein Gesund-
        heitspolitiker beispielsweise auf den Gehalts- und Hono-
        rarlisten von Pharmakonzernen oder Lobbyorganisatio-
        nen steht und, wenn ja, wie viel Geld genau fließt. Das
        muss nicht zwangsläufig anrüchig sein. Damit sich aber
        genau dazu jeder ein Bild machen kann, ist Transparenz
        – echte Transparenz – notwendig.
        Keine Fraktion, kein Abgeordneter sollte sich hier
        zieren. Das Mandat ist unser Hauptberuf. Wir haben von
        den Wählerinnen und Wählern einen Auftrag erhalten.
        Wer glaubt, der Diener mehrerer Herren sein zu müssen,
        soll sich wenigstens nicht in Schweigen hüllen, sondern
        ehrlich und aufrecht Klarheit schaffen.
        Ein beliebter Einwand ist das Problem mit Berufsge-
        heimnisträgern wie Rechtsanwälten oder Ärzten. Hier ist
        tatsächlich Fingerspitzengefühl und eine besondere Re-
        gelung notwendig. Das Prinzip dabei sollte sein: So viel
        Transparenz wie möglich, so viel Vertraulichkeit wie nö-
        tig. Natürlich achtet die Linke beispielsweise die ärztliche
        oder anwaltliche Schweigepflicht. Weder soll ein Straf-
        verteidiger seine Mandanten preisgeben noch soll ein
        Abgeordneter, der im Nebenberuf als Schönheitschirurg
        tätig ist, seine Kundschaft in einer Drucksache des Bun-
        destages outen müssen. Die Linke schlägt daher eine Re-
        gelung vor, nach der in diesen und ähnlichen, klar ab-
        grenzbaren Fällen statt des Auftraggebers die Branche
        zu nennen ist. Wir halten das für einen praktikablen
        Weg.
        Die Abgeordneten der Linken leisten diese eigentlich
        selbstverständliche Transparenz schon heute. Die Kolle-
        ginnen und Kollegen meiner Fraktion veröffentlichen
        freiwillig ihre Nebeneinkünfte centgenau. Nehmen Sie
        sich daran ein Beispiel.
        Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Meine Fraktion hat die anderen Fraktionen im Bundes-
        tag zu einer umfassenden Transparenzinitiative aufge-
        fordert. Transparenz schafft Vertrauen in politische Ent-
        scheidungen, schützt sie vor Manipulationen mit dem
        Scheckbuch und stützt die Legitimität unserer Demokra-
        tie.
        Dazu zählt auch echte Transparenz bei Nebeneinkünf-
        ten von Abgeordneten. Bürgerinnen und Bürger haben
        ein Recht, zu erfahren, welchen Nebentätigkeiten Abge-
        ordnete neben ihrem Mandat nachgehen. Sie haben ein
        Recht, zu erfahren, wie hoch die Einkünfte aus diesen
        Nebentätigkeiten sind und welche Interessen die Abge-
        ordneten in diesem Rahmen vertreten. Nur so ist für Bür-
        gerinnen und Bürger nachvollziehbar, ob Abgeordnete
        den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit tatsächlich auf ihr Man-
        dat legen. Und nur so ist für Bürgerinnen und Bürger er-
        kennbar, ob eine Beeinflussung der Abgeordnetentätig-
        keit droht.
        Wir haben zu den heute zur Abstimmung stehenden
        Änderungen der Verhaltensregeln für Abgeordnete er-
        neut zwei Änderungsanträge eingebracht, die zu einem
        echten Mehr an Transparenz führen sollen.
        Wir fordern darin nicht zum ersten Mal die betragsge-
        naue Offenlegung der Nebeneinkünfte in Euro und Cent.
        Erst auf unsere beständigen Forderungen und auf das
        Drängen der Öffentlichkeit nach mehr Transparenz hin
        hat die Koalition sich veranlasst gesehen, Nebenein-
        künfte nun nicht mehr in drei, sondern in zehn Stufen
        veröffentlichen zu wollen. Ob Abgeordnete nun 8 000
        oder 15 000 Euro aus einer Nebentätigkeit verdienen, ob
        eine Tätigkeit 160 000 oder 250 000 Euro einbringt, das
        spielt dabei weiterhin keine Rolle. Von den lauten Forde-
        rungen aus der Koalition nach detailgenauer Offenle-
        gung der Nebeneinkünfte des Kanzlerkandidaten der SPD
        im letzten Jahr blieb erwartungsgemäß wenig übrig, als
        es um die Offenlegung der eigenen Einkünfte ging.
        Wir meinen, Bürgerinnen und Bürger sollen ganz ge-
        nau erfahren, wie viel Geld Abgeordnete aus Nebentä-
        tigkeiten beziehen, und fordern die Koalition erneut auf,
        bei allen Abgeordneten des Bundestages das gleiche
        Maß anzulegen, auch bei sich selbst.
        Deutlich werden soll aber auch, wer bei Nebenein-
        künften hinter den Aufträgen steckt. Deswegen verlan-
        gen wir, dass Berufsgeheimnisträger, die den Namen ih-
        rer Mandanten verschweigen dürfen, dann wenigstens
        die Branche angeben müssen, aus der diese stammen.
        Anlage 6
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Queere Jugendliche
        unterstützen (Tagesordnungspunkt 16)
        Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Wir hatten in den zu-
        rückliegenden Jahren mehrfach die Gelegenheit, uns
        28600 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        über die Situation insbesondere von schwulen und lesbi-
        schen Jugendlichen auszutauschen. Stets hat dabei die
        Sachlichkeit und der Respekt vor diesem Personenkreis
        im Vordergrund gestanden. Ich bin mir insofern sicher,
        dass wir auch dieses Mal eine von gegenseitigem Re-
        spekt geprägte Debatte führen werden.
        Junge Menschen, die ein Coming-out als Lesbe, als
        Schwuler, als Transsexueller haben, sind vor eine ganze
        Reihe von Problemlagen gestellt, mit der sie umgehen
        müssen. Neben der Frage der Reaktion ihres engsten
        Umfelds wie Familie und Freunde ändern sich auch Per-
        spektiven am Arbeitsplatz oder in der Schule. Nach wie
        vor ist es in Deutschland so, dass ein Verständnis oder
        eine Akzeptanz nicht selbstverständlich ist. Reaktionen
        können noch immer sehr unterschiedlich ausfallen.
        Junge Menschen in Deutschland müssen noch immer
        eine Menge an Mut aufbringen, um zu ihrem Lebensent-
        wurf offen zu stehen. Nicht selten ist davon zu hören,
        dass Freunde oder sogar Eltern sich abwenden, wenn sie
        mit einem Coming-out konfrontiert werden.
        Andererseits sind wir uns alle einig, dass sich das Ver-
        halten der Gesellschaft in vielfacher Art und Weise
        grundlegend geändert hat. Schritt für Schritt geht unsere
        Gesellschaft einen Weg hin zu einem respektvollen und
        diskriminierungsfreien Umgang mit der Verschiedenheit
        sexueller Orientierung. Dies ist jedoch noch längst nicht
        selbstverständlich. Wie das individuelle Umfeld reagiert
        und Formen einer gefühlten Andersartigkeit aufnimmt,
        ist noch immer begleitet von Unberechenbarkeit. Für
        Betroffene ist dies besonders quälend und belastend. Un-
        ser Anspruch kann nicht sein, die Aufnahme dieses Per-
        sonenkreises in unsere Mitte von Zufälligkeiten abhän-
        gig zu machen. Dies wird unserem selbst gesetzten
        Anspruch an eine diskriminierungsfreie Gesellschaft, die
        auf gegenseitigem Verständnis füreinander und der Ak-
        zeptanz verschiedener Lebensformen beruht, noch nicht
        gerecht. Vieles wird nicht mehr offen ausgesprochen,
        aber auch subtiles oder implizites Verhalten kann sehr
        schmerzhaft und belastend sein.
        Es muss eine Kultur der Vielfalt entstehen, allerdings
        ohne den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu verlieren.
        Aus diesem Grund ist es wichtig, besonders den Jugend-
        lichen und jungen Erwachsenen ein Umfeld zu ermögli-
        chen, in dem sie selbstbestimmt ihre sexuelle Orientie-
        rung leben können.
        Wahr ist aber auch: Die deutsche Gesellschaft ist be-
        reits einen weiten Weg gegangen, wenn man betrachtet,
        wo wir herkommen, und vor allen Dingen wenn wir uns
        vergegenwärtigen, wie anderswo mit diesen Fragen der
        Andersartigkeit umgegangen wird. Da brauchen wir
        nicht bis in den muslimischen Kulturkreis zu gehen, da
        reicht der Blick in das östliche Europa, wo Menschen
        noch immer körperlicher Gewalt und anderen Formen
        von Menschenrechtsverletzungen ausgesetzt sind. Und
        ich brauche an dieser Stelle nicht zu erwähnen, dass die
        Weltgesundheitsorganisation WHO Homosexualität erst
        1990 von der Liste psychischer Krankheiten strich.
        Ich bin der Bundesregierung dankbar, dass sie bereits
        eine ganze Reihe von Maßnahmen unterstützt, die auf ei-
        nen Abbau noch bestehender Vorurteile und auf die
        Schaffung eines besseren Klimas hinwirken. Ich möchte
        an dieser Stelle betonen, dass die christlich-liberale Ko-
        alition bei ihren jugendpolitischen Bemühungen die Un-
        terschiedlichkeit von Jugendlichen berücksichtigt. Über
        das Förderinstrument des Kinder- und Jugendplans des
        Bundes unterstützt sie unterschiedliche Angebote zum
        Beispiel für lesbische und schwule Jugendliche. Eine de-
        taillierte Aufstellung des Engagements hat das BMFSFJ
        bereits vor einiger Zeit vorgelegt.
        Beispiel für das BMFSFJ ist das bundesweit agie-
        rende Jugendnetzwerk Lambda e. V. Es vertritt die Inte-
        ressen junger Lesben, Schwuler, Bisexueller und Trans-
        gender in der Öffentlichkeit und wird seit 1990
        regelmäßig aus Mitteln des Kinder- und Jugendplans ge-
        fördert. Lambda bietet für Jugendliche eine Jugendbera-
        tung an, in der die Jugendlichen in einer Peer-to-Peer-
        Beratung Unterstützung bei Themen wie „Coming-out“,
        „Partnerschaft“ und „Diskriminierung“ erhalten.
        Die Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung
        zum Beispiel adressiert lesbische, schwule und bisexu-
        elle Jugendliche zum Themenbereich „Sexualaufklä-
        rung“ und „Aidsprävention“. Die Broschüre „Hetero-
        sexuell? Homosexuell? Sexuelle Orientierung und
        Coming-out“ informiert spezifisch zum Coming-out und
        spricht damit sowohl Jugendliche als auch ihre Eltern an.
        Dies, um nur einige zentrale Beispiele zu benennen.
        Eine ganze Reihe von Forderungen, die die Grünen in
        ihrem Antrag stellen, fallen jedoch nicht in die Zustän-
        digkeit des Bundes. Darauf wurde bereits mehrfach im
        Rahmen der Debatten zu diesem Thema hingewiesen.
        Bei allem Engagement in der Sache bleibt es dabei, dass
        die verfassungsmäßigen Kompetenzen beachtet werden
        müssen.
        Besonders erfreulich ist, dass wir in den zurücklie-
        genden Monaten beim Thema Intersexualität ein gutes
        Stück weitergekommen sind. Durch die Änderung des
        Personenstandrechts ist es in der Zukunft möglich, dass
        intersexuelle Menschen sich nicht mehr entscheiden
        müssen, ob sie in ihren offiziellen Dokumenten die binä-
        ren Kategorien „männlich“ oder „weiblich“ angeben
        müssen. Es steht den intersexuellen Menschen frei, sich
        für eines der beiden Geschlechter zu entscheiden oder
        die Eintragung offen zu lassen. Mit diesem Schritt gehö-
        ren wir weltweit zu den Vorreitern. Ich hoffe, dass sich
        viele weitere Staaten anschließen werden, und ich bin
        guten Mutes, dass unser Beispiel in Europa Schule ma-
        chen wird.
        Ich freue mich, dass das BMFSFJ meinem Vorschlag
        gefolgt ist und noch in diesem Jahr einen großen Kon-
        gress zum Thema Intersexualität plant, in dem auf brei-
        ter Basis ein Erfahrungsaustausch, eine Standortbestim-
        mung und eine Koordination weiterer Maßnahmen
        erfolgen wird. Ich denke, dies ist sehr wichtig. Insbeson-
        dere ist es mir ein wichtiges Anliegen, das Thema „Ver-
        bot von geschlechtsfestlegenden Operationen bei Min-
        derjährigen“ anzugehen. Ich habe den Eindruck, dass wir
        hier parteiübergreifend am gleichen Strang ziehen. Und
        ich bin auch hier zuversichtlich, zu einer gemeinsamen
        Lösung zu kommen, die im Sinne der intersexuellen
        Menschen in Deutschland ist.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28601
        (A) (C)
        (D)(B)
        Christel Humme (SPD): Heute debattieren wir über
        einen Antrag der Grünen mit einem sperrigen Titel und
        doch einem sehr berechtigten Anliegen.
        Worum geht es?
        Es geht darum, alle Jugendliche bei der Entwicklung
        ihrer Persönlichkeit so zu stärken, dass sie ihre sexuelle
        Orientierung und ihre Geschlechtsidentität selbstbe-
        stimmt und angstfrei entdecken, akzeptieren und leben
        können.
        Bereits 2005 hat die damalige rot-grüne Koalition mit
        dem Antrag „Schwule und lesbische Jugendliche – Mit-
        tendrin statt außen vor“ die richtige Richtung vorgege-
        ben: „Lesben und Schwule dürfen nicht länger als
        ‚Randgruppen‘ angesehen werden, sondern haben ganz
        selbstverständlich ihren Platz in der Mitte der Gesell-
        schaft.“
        Diese Selbstverständlichkeit bezieht sich nicht nur
        auf lesbische oder schwule Jugendliche, sondern auf alle
        jungen Menschen, die für sich eine andere Form der
        Sexualität und Geschlechtsidentität entdecken. Gay,
        lesbian, bisexual, transsexual, transgender, intersexual:
        Diese Varianten sexueller Orientierungen und Identitäten
        verstecken sich hinter der vermutlich für viele Bürgerin-
        nen und Bürger nicht unbedingt geläufigen englischen
        Abkürzung GLBTTI. Alle diese Menschen eint die Er-
        fahrung, anders zu sein als ihre Umgebung, anders als
        die meisten ihrer Freunde, Bekannten, anders als das,
        was sie bisher als vermeintlich normal und üblich ken-
        nengelernt haben.
        Vor diesem Hintergrund schrecken viele Jugendliche
        vor dem sogenannten Coming-out, also dem offensiven
        Umgang mit der eigenen Andersartigkeit, zurück. Und
        das nicht ohne Grund. Spott, verletzende Kommentare
        oder gar körperliche Gewalt gegenüber Lesben, Schwu-
        len, bi-, trans- oder intersexuellen Menschen sind noch
        immer weit verbreitet. Die Angst vor den Reaktionen der
        eigenen Familie, der besten Freunde oder Freundinnen
        führt viele dieser jungen Menschen in die Isolation und
        Verzweiflung. Ihr Selbstmordrisiko ist Studien zufolge
        signifikant höher als bei heterosexuellen Jugendlichen.
        Was ist zu tun?
        Wir müssen dafür sorgen, dass es endlich als normal
        wahrgenommen wird, verschieden zu sein. Wir müssen
        überall in unserer Gesellschaft eine Kultur der Anti-
        diskriminierung und der Wertschätzung von Vielfalt
        verankern. Dazu sind wir Politikerinnen und Politiker
        gefordert. Wir müssen den Rahmen für eine diskriminie-
        rungsfreie Gesellschaft setzen und mit nachhaltigen Prä-
        ventionsstrategien gegensteuern.
        Das Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz, AGG, hat
        in diesem Zusammenhang eine wichtige Signalwirkung.
        Denn es hat ausdrücklich auch zum Ziel, Benachteili-
        gungen aufgrund der sexuellen Identität zu verhindern
        oder zu beseitigen.
        Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ha-
        ben uns darüber hinaus stark dafür gemacht, das Gleich-
        behandlungsgebot in Art. 3 unseres Grundgesetzes um
        den entscheidenden Satz „Niemand darf wegen seiner
        sexuellen Identität benachteiligt oder bevorzugt werden“
        zu erweitern.
        Leider, meine Damen und Herren von der Regie-
        rungskoalition, haben Sie 2011 die Gesetzentwürfe von
        SPD, Grünen und Linken ebenso abgelehnt wie vorher-
        gehende Initiativen aus den Ländern. Damit wurde fahr-
        lässig eine Gelegenheit für eine wichtige Botschaft ver-
        worfen. Über alle Parteigrenzen hinweg hätten wir
        dokumentieren können, dass Diskriminierungen unserer
        Bürgerinnen und Bürger aufgrund ihrer sexuellen Identi-
        tät alles andere als ein Kavaliersdelikt sind.
        Auch die aktuellen Diskussionen und die heutige
        Plenardebatte über die volle Gleichstellung von
        Lebenspartnerschaften mit der Ehe und vor allem um das
        Adoptionsrecht für lesbische und schwule Paare senden
        die mehr oder weniger subtile Botschaft: Einige Bürge-
        rinnen und einige Bürger sind durch ihre Art zu leben
        und zu lieben weniger schützenswert als andere. Diese
        Botschaft, die die Regierung Merkel damit aussendet, ist
        beschämend und ein schleichendes Gift für eine bunte
        und solidarische Gesellschaft.
        Woher noch kommen eigentlich die Vorbehalte, die
        Verachtung und der Hass, die vielen schwulen und lesbi-
        schen Jugendlichen im Alltag noch immer entgegen-
        schlagen?
        Das Magazin der Süddeutschen Zeitung befragte
        kürzlich Kinder aus sogenannten Regenbogenfamilien,
        welche Erfahrungen sie machen, wenn sie anderen von
        ihrer Familienkonstellation mit zwei Vätern oder zwei
        Müttern erzählen. „Kinder nehmen das alles total normal
        auf. Wenn, dann waren es immer die Eltern, die damit
        ein Problem hatten.“ So bringt es ein Mädchen auf den
        Punkt.
        Ich finde diese Einschätzung ganz zentral. Sie zeigt:
        Wir müssen gerade Erwachsene sensibilisieren, dass zu
        dem traditionellen Familienbild, das sie als „normal“ an-
        sehen, längst weitere Beziehungsformen getreten sind, in
        denen Menschen füreinander langfristig Verantwortung
        übernehmen. Keine ist der anderen überlegen, und alle
        verdienen Unterstützung und Respekt.
        Gleichzeitig – das macht auch der vorliegende Antrag
        deutlich – brauchen vor allem die Jugendlichen selbst
        passende Beratungs- und Unterstützungsangebote. Ne-
        ben entsprechenden Angeboten vor Ort gehört für ratsu-
        chende junge Menschen auf jeden Fall der Austausch
        mit Gleichaltrigen dazu. Oft ist hier das Internet der erste
        Schritt zur Vernetzung. Hier können häufig wichtige Im-
        pulse gegeben werden, um das Selbstbewusstsein der
        verunsicherten Jugendlichen zu stärken.
        Stellvertretend für eine gelungene Ansprache möchte
        ich die Internetplattform dbna erwähnen, die sich unter
        dem Mut machenden Namen „du bist nicht allein“ seit
        1997 ausschließlich an schwule und bisexuelle Jugendli-
        che wendet.
        Schule und vielfach auch der Sport sind die beiden
        wichtigsten Bereiche im Alltag von Kindern und Ju-
        gendlichen, in denen es zu diskriminierenden Situatio-
        nen kommt und Aufklärung und Hilfe geleistet werden
        28602 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        muss. Die Lösungen sind bekannt, aber noch immer
        nicht flächendeckend umgesetzt. Sexuelle Vielfalt muss
        positiv vermittelt werden und selbstverständlich auch
        Bestandteil in Schulbüchern sein. Denn Schwule, Les-
        ben, Trans- und Intersexuelle gehören längst zur Lebens-
        wirklichkeit unserer Gesellschaft, schaffen es aber noch
        immer zu selten in die Lehrpläne der Schulen.
        Lehrerinnen und Lehrer müssen schon während ihres
        Studiums stärker für die Thematik sensibilisiert und
        ebenso wie Beschäftigte in Jugend- und Sporteinrichtun-
        gen entsprechend weitergebildet werden.
        Für dies alles brauchen wir die Bereitschaft der Län-
        der. Vielfach ist sie schon vorhanden. Mein Bundesland
        NRW beispielsweise hat im Oktober 2012 einen „Ak-
        tionsplan für Gleichstellung und Akzeptanz sexueller
        und geschlechtlicher Vielfalt“ verabschiedet. Damit hat
        die rot-grüne Landesregierung unter Hannelore Kraft
        Antidiskriminierungspolitik erstmals zu einer Quer-
        schnittsaufgabe aller Ressorts gemacht. Insgesamt über
        100 Maßnahmen sollen dazu beitragen, wichtige gesell-
        schaftliche Veränderungen anzustoßen und die Rechte
        sexueller Minderheiten nicht nur auf dem Papier, son-
        dern auch im Alltag zu stärken.
        Ich bin stolz auf diesen Aktionsplan, an dem im Vor-
        feld in einem breiten Beteiligungsprozess maßgeblich
        auch Nichtregierungsorganisationen mitgewirkt haben.
        Ich hoffe, dass das Beispiel von NRW, ebenso wie
        gute Initiativen etwa aus Berlin und Rheinland-Pfalz,
        auch in anderen Bundesländern Schule machen werden –
        und so auch die Bundesregierung endlich dazu bringen
        werden, einen nationalen Aktionsplan gegen Homo- und
        Transphobie vorzulegen.
        Ebenso wichtig ist eine fundierte Bestandsaufnahme
        der Lebenssituation homosexueller Jugendlicher in
        Deutschland, die wir bereits 2005 gefordert haben.
        Lassen Sie mich nun noch auf eine Gruppe Jugendli-
        cher zu sprechen kommen, über deren spezielle Nöte
        und Bedürfnisse wir alle vermutlich erst durch die Anhö-
        rung im Familienausschuss im Juni vergangenen Jahres
        mehr erfahren haben. Ich rede von intersexuellen
        Jugendlichen, die von den geschilderten Problemen bei
        ihrer Identitätsfindung in besonderem Maße betroffen
        sind. Sie – und ihre Angehörigen – benötigen daher spe-
        zifische Beratungs- und Unterstützungsangebote.
        Intersexuelle müssen in ihrem Menschenrecht auf
        körperliche Unversehrtheit und Selbstbestimmung ge-
        stärkt werden. Wir fordern – außer in Fällen akuter
        Lebensgefahr – ein Verbot sämtlicher Geschlechtsopera-
        tionen an minderjährigen intersexuellen Menschen. Nur
        mit ihrer Einwilligung und auf ihren ausdrücklichen
        Wunsch hin sollen diese Operationen mit ihren weitrei-
        chenden Folgen künftig möglich sein.
        Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten ste-
        hen für eine demokratische und tolerante Gesellschaft, in
        der jede und jeder seine Persönlichkeit frei und ohne
        Angst entfalten kann. Gerade Jugendliche, deren sexu-
        elle Orientierung und geschlechtliche Identität nicht mit
        den heterosexuell geprägten Strukturen übereinstimmen,
        benötigen Hilfe und Unterstützung bei dem schwierigen
        Prozess ihrer Selbstfindung.
        Daher unterstützen wir den vorliegenden Antrag von
        Bündnis 90/Die Grünen.
        Michael Kauch (FDP): Für die FDP gilt: Diskrimi-
        nierung ist nicht zu akzeptieren – egal wo und in welcher
        Form sie in unserer Gesellschaft stattfindet. Deshalb ist
        es für uns auch ein wichtiges Anliegen, dass schwule,
        lesbische, bisexuelle, transsexuelle und intersexuelle Ju-
        gendliche gleichberechtigte Chancen haben, ohne Dis-
        kriminierung aufzuwachsen.
        Auch die Studie im Auftrag des Bundesministeriums
        für Familie, Senioren, Frauen und Jugend zur Lebens-
        situation und Diskriminierungserfahrungen von homo-
        sexuellen Jugendlichen macht den gesellschaftlichen
        Handlungsbedarf deutlich.
        Es ist daher richtig, dass wir uns im Deutschen Bun-
        destag mit diesem Themenkomplex befassen. Dennoch
        muss uns allen klar sein, dass der Großteil der Vor-
        schläge im vorliegenden Antrag, insbesondere zur Schul-
        politik und Jugendhilfe vor Ort, in die Kompetenz der
        Bundesländer fällt. Die Länder und Kommunen sind hier
        in der Verantwortung und müssen dafür auch entspre-
        chende Mittel bereitstellen. Auch ein möglicher Ak-
        tionsplan muss diese föderale Aufgabenverteilung be-
        achten.
        Weiterhin ist es mir ein persönliches Anliegen, dass
        die im Antrag erwähnten Zielgruppen nicht alle über ei-
        nen Kamm geschoren werden. Ein schwuler Jugendli-
        cher im Coming-out hat andere Bedürfnisse als ein trans-
        sexueller Jugendlicher – und dieser oder diese wiederum
        andere als ein intersexueller. Gleichzeitig ist gerade die
        Gruppenidentität unterschiedlich: Kaum ein schwuler
        Junge, kaum ein lesbisches Mädchen definiert sich als
        „queer“. Sie sind zunächst froh, wenn sie ihre Identität
        als schwul oder lesbisch gefunden haben.
        Der Begriff LGBTTI mag politisch korrekt sein – An-
        gebote, die auf LGBTTI als Gesamtgruppe zielen, dürf-
        ten aber an der Lebenswirklichkeit der Jugendlichen vor-
        beigehen. Unterstützen kann man diese Jugendlichen als
        Gesamtgruppe allerdings sehr wohl, und zwar in der ge-
        sellschaftlichen Unterstützung einer vielfältigen und to-
        leranten Gesellschaft, in der das Individuum in seiner
        Einzigartigkeit im Mittelpunkt steht.
        Es besteht kein Zweifel, dass auch heute noch das Co-
        ming-out eine Herausforderung ist. Lesbische und
        schwule Jugendliche müssen ebenso wie trans- und in-
        tersexuelle junge Menschen ihre Identität finden. Sie
        müssen in Teilen der Gesellschaft stärker um ihre Ak-
        zeptanz kämpfen und brauchen dafür Anerkennung und
        Unterstützung. Unterstützung für Jugendliche im Co-
        ming-out muss dabei auf eins achten: Sie darf die Ju-
        gendlichen nicht durch eine falsche Antidiskriminie-
        rungsrhetorik in eine Opferecke stellen. Stattdessen
        müssen wir sie stolz und stark machen, dass sie ihre
        Identität finden; denn selbstbewusste Jugendliche sind
        seltener Opfer von Diskriminierung.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28603
        (A) (C)
        (D)(B)
        Gute Beispiele wie das schwul-lesbische Schulaufklä-
        rungsprojekt SchLAu NRW, das Nachahmer in anderen
        Bundesländern gefunden hat, müssen bundesweit ver-
        breitet werden. Dazu leistet die Bundesstiftung „Magnus
        Hirschfeld“ einen wichtigen Beitrag. Sie finanzierte als
        ihr erstes Projekt die Bundesvernetzung der Schulaufklä-
        rungsprojekte. Das ist ein gelungener Beitrag des Bun-
        des.
        Es waren die Liberalen, die in dieser Wahlperiode da-
        für gesorgt haben, dass die Bundesstiftung Realität
        wurde. Die Stiftung wurde bereits im Jahr 2000 vom
        Bundestag versprochen. Dieses Versprechen wurde we-
        der von Rot-Grün noch von Schwarz-Rot in die Realität
        umgesetzt. Wir haben es gemacht und haben damit eine
        Struktur geschaffen, die durch Bildung und Forschung
        der Diskriminierung Homosexueller entgegenwirkt.
        10 Millionen Euro Stiftungskapital haben wir dafür be-
        reitgestellt. Wir Liberale arbeiten daran, dass die Finanz-
        ausstattung der Stiftung in der nächsten Wahlperiode
        noch weiter ausgebaut wird. Und als Kuratoriumsmit-
        glied der Stiftung war und ist es mir ein vorrangiges An-
        liegen, dass die Aufklärung in Schule und Jugendarbeit
        dabei vorangebracht wird.
        Abschließend danke ich den Sozialarbeiterinnen und
        Sozialarbeitern in den schwul-lesbischen Jugendzentren,
        aber vor allem den vielen ehrenamtlichen Helfern in den
        Schulaufklärungsprojekten. Sie leisten die wertvolle Ar-
        beit vor Ort, die wir von politischer Seite nur begleiten,
        aber nicht ersetzen können.
        Unser Ziel ist klar: Wir wollen, dass schwule, lesbi-
        sche, bi-, trans- und intersexuelle Jugendliche so fühlen,
        so lieben und so leben können, wie sie es wollen – frei
        von Diskriminierung und stolz darauf, wie sie sind.
        Dr. Barbara Höll (DIE LINKE): „Manchmal ist es
        erschreckend, wenn ich den Anruf von Eltern erhalte, die
        mir erklären, dass dies eine der letztgewählten Nummern
        mit dem Handy gewesen sei, welches ihr transsexuelles
        Kind gewählt habe, bevor es sich das Leben nahm, und
        ich ihnen antworte: Ja, ihr Kind hatte einen Termin bei
        uns, jetzt weiß ich, warum es nicht gekommen ist.“ So
        Mari Günther, Leiterin des Zentrums „Queer leben“,
        einem Beratungs- und Hilfeprojekt für Transsexuelle,
        Transgender und Intersexuelle. Diese bedrückenden
        Sätze sagte Mari Günther gestern in einem Gespräch zu
        mir.
        Mit dem Projekt „Queer leben“ wird Kindern, Ju-
        gendlichen, jungen Erwachsenen und ihren Eltern gehol-
        fen, wenn sie Probleme aufgrund ihrer sexuellen und ge-
        schlechtlichen Identität und/oder der Diskriminierung
        erfahren haben. Mehr als 20 Fachkräfte arbeiten dort.
        Seit zwei Jahren existiert das Zentrum, an das sich Men-
        schen aus dem gesamten Bundesgebiet wenden. Der Be-
        darf ist riesig, deshalb werden fast im Wochentakt neue
        Mitarbeiter eingestellt. Finanziert wird dies über die
        Sozialhilfeträger der Kommunen, aus denen die Jugend-
        lichen ursprünglich stammen.
        Junge Menschen brauchen Hilfe und Unterstützung,
        wenn sie im schwierigen Prozess der Findung ihrer sexu-
        ellen und geschlechtlichen Identität sind, insbesondere
        wenn sie nicht mit einer heterosexuellen „Normalität“
        übereinstimmen. Hier können Konflikte entstehen.
        Selbst wenn das familiäre Umfeld das Coming-out un-
        terstützt, können die jungen Menschen mit Vorurteilen in
        der Schule oder der Ausbildung konfrontiert werden.
        Die Kinder und Jugendlichen wissen in den Konflikt-
        situationen oftmals nicht, wo sie Hilfe und Unterstüt-
        zung bekommen können. Manche Eltern, Betreuer und
        Erzieher sind mit dieser Thematik überfordert. Dann lei-
        den diese jungen Menschen massiv unter der fehlenden
        Unterstützung.
        Berliner Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter, die
        obdachlose Jugendliche auf dem Berliner Alexander-
        platz betreuen, berichten davon, dass etwa ein Viertel der
        Jugendlichen wegen Diskriminierungserfahrungen auf-
        grund ihrer sexuellen Identität von zu Hause weglaufen
        und auf der Straße landen. Internationale Studien bele-
        gen, dass Obdachlosigkeit überproportional lesbische,
        schwule und Trans*Jugendliche betrifft. Auch das Sui-
        zidrisiko ist enorm hoch.
        Leider gibt es zu Deutschland keine systematischen
        Untersuchungen und nur eine schlechte Datenlage zur
        Problemlage dieser Jugendlichen. Umso unverständ-
        licher ist es, dass die bereits 2005 angekündigte Studie
        zur Situation von lesbischen und schwulen Jugendlichen
        dem Deutschen Bundestag noch immer nicht vorgelegt
        wurde.
        Wir müssen handeln, deswegen unterstützen wir den
        Antrag von Bündnis 90/Die Grünen als Zusammenfas-
        sung notwendiger Maßnahmen.
        Der rot-rote Berliner Senat verabschiedete im Jahr
        2009 ein umfangreiches Maßnahmenpaket unter dem Ti-
        tel „Berlin tritt ein für Selbstbestimmung und die Akzep-
        tanz sexueller Vielfalt“ auf Anregung der Fraktion Die
        Linke im Berliner Abgeordnetenhaus. Mit dem mit etwa
        2,1 Millionen Euro ausgestatteten Paket wurde die Ak-
        zeptanzförderung in Verwaltungen, Institutionen, der
        Privatwirtschaft und bei Schulen sowie Kitas in Angriff
        genommen. Der Schwerpunkt lag auf dem Bildungs-
        bereich, also der Unterstützung queerer Jugendlicher.
        Obwohl die Evaluation der Maßnahmen weiteren Hand-
        lungsbedarf anmahnte, kürzte die nachfolgende Koa-
        lition aus SPD und CDU die Mittel für diese Projekte.
        Aber Berlin setzte ein Zeichen, das von den Bundes-
        ländern Nordrhein-Westfalen, Rheinland-Pfalz, Ham-
        burg und jüngst Sachsen-Anhalt aufgegriffen wurde, die
        ähnliche Maßnahmenpakete in Angriff nahmen und um-
        setzten.
        Doch Kinder und Jugendliche können sich nicht aus-
        suchen, wo sie geboren werden und wie sie aufwachsen.
        In einigen Bundesländern und Regionen werden queere
        Jugendliche unterstützt und bekommen Hilfe, in anderen
        nicht. Doch der Bund steht in der Pflicht. Er muss dafür
        Sorge tragen, dass junge Menschen in allen Bundeslän-
        dern und Regionen ähnlich gefördert werden, wenn sie
        existenzielle Probleme bekommen. Es besteht Hand-
        lungsbedarf.
        28604 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ich wünsche mir, dass die jungen Menschen bald aus-
        reichend gefördert werden, damit Mari Günther nie wie-
        der derartige Anrufe von Angehörigen erhält.
        Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): In
        diesen Tagen wird viel über lesbische und schwule Paare
        diskutiert – in den Medien, vor dem Verfassungsgericht
        und auch hier im Bundestag. Diese Debatten sind richtig
        und wichtig. Aber wir dürfen über diese Debatten nicht
        vergessen: Lesben und Schwule werden nicht in dem
        Alter geboren, in dem man eine Partnerschaft eingeht,
        eine Familie gründet oder gar für diese Familie vor Ge-
        richten streitet. Nein, Lesben und Schwule sind anfangs
        Kinder und später Jugendliche, die die gleichen Nöte
        und Sorgen haben wie andere Jugendliche in der Puber-
        tät auch. Sie fragen sich, ob ihre Klassenkameraden sie
        hübsch finden. Sie fragen sich, ob sie jemandem ihre
        Liebe gestehen sollen. Sie regen sich über ihre Eltern
        und die Ungerechtigkeiten in der Welt auf.
        Aber bei allen diesen Gemeinsamkeiten gibt es eben
        auch wichtige Unterschiede:
        Erstens. Lesbischen und schwulen Jugendlichen
        fehlen die Role Models, die Bezugspersonen. Sie haben
        oftmals keine Vorbilder in ihrer Familie, an ihrer Schule
        oder im Freundeskreis.
        Zweitens. Lesbische und schwule Jugendliche haben
        sehr häufig das Gefühl, allein zu sein. Das einzige
        Mädchen zu sein, das Herzklopfen beim Anblick ihrer
        besten Freundin bekommt. Der einzige Junge zu sein,
        der seinen Klassenkameraden hinterherguckt.
        Drittens. Junge Lesben und Schwule wachsen immer
        noch häufig in einem Umfeld auf, das strukturell homo-
        phob ist. Hinzu kommt: Lesbische und schwule Jugend-
        liche finden in Deutschland medial nicht statt. Lesben
        und Schwule sind heute sichtbarer in den Medien als
        noch vor 20 Jahren, aber es sind Menschen, die dem Ju-
        gendalter längst entwachsen sind.
        So bleibt „schwul“ eines der häufigsten Schimpfwör-
        ter auf deutschen Schulhöfen. Lehrerinnen und Lehrer
        gehen bei ihren Klassen unausgesprochen von deren
        Heterosexualität aus. Mädchen, die Fußball spielen, wer-
        den als Lesben denunziert, „Schwuchtel“ ist gleichbe-
        deutend mit Versager. Und auch die Familie bietet oft
        keinen Schutzraum. Die Frage „Wie sag ich’s meinen
        Eltern?“ stellt sich fast allen lesbischen und schwulen
        Jugendlichen.
        Viele Jugendliche scheitern an ihrem Coming-out;
        lesbische und schwule Jugendliche sind überdurch-
        schnittlich häufig obdachlos. Ihr Suizidrisiko ist um ein
        Mehrfaches höher. Dennoch gibt es kaum spezialisierte
        Beratungsstellen in Deutschland.
        Und gibt es ein Bewusstsein für diese Lücke bei der
        Bundesregierung?
        Es ist erschreckend, wie unsensibel die Bundesregie-
        rung mit diesem Thema umgeht. Auf eine Kleine
        Anfrage meiner Fraktion hat die Bundesregierung im
        letzten Jahr geantwortet, dass in Deutschland „ein um-
        fangreiches Netzwerk an Schwangerschaftsberatungs-
        stellen“ zur Verfügung stünde. Kann das wirklich ernst
        gemeint sein? Schwangerschaftskonfliktberatung ist
        doch keine Beratung für Lesben und Schwule; es ist Be-
        ratung für Heterosexuelle. Das ist kein Programm zur
        Beratung von lesbischen und schwulen Jugendlichen.
        Das ist nicht geschlechtersensibel. Das ist einfach nur ig-
        norante Politik.
        Des Weiteren stehen Notunterkünfte für queere Ju-
        gendliche nur in wenigen Städten zur Verfügung. Und
        auch Eltern, die Beratung suchen, finden häufig kein
        passendes Angebot, insbesondere wenn sie schlecht
        Deutsch sprechen.
        Die Gruppen der transsexuellen Jugendlichen und der
        intersexuellen Jugendlichen mögen zahlenmäßig klein
        sein. Aber: Eine inklusive, diverse Gesellschaft verlangt
        nicht nur die Gleichbehandlung aller, sondern auch das
        Eingehen auf die speziellen Probleme von allen. Bei
        transsexuellen Kindern und Jugendlichen scheint der
        Fall klar zu sein: Die Altersbeschränkung im Transsexu-
        ellengesetz gilt schon seit den frühen 80ern nicht mehr;
        Kinder und Jugendliche können ihr gelebtes und gefühl-
        tes Geschlecht in ihre Ausweispapiere eintragen lassen.
        Aber wie der Fall Alex im letzten Jahr sehr deutlich ge-
        macht hat: Nur weil etwas auf dem Papier steht, heißt
        das noch lange nicht, dass es umgesetzt wird. Das Ju-
        gendamt war wenig sensibel gegenüber diesem Mäd-
        chen, das auf dem Papier noch ein Junge war.
        Intersexuelle Jugendliche wiederum wissen oftmals
        gar nichts von ihrer geschlechtlichen Besonderheit. Sie
        müssen in ihren Rechten gestärkt und umfassend infor-
        miert werden. Und mehr als das: Wie vom Deutschen
        Ethikrat gefordert, müssen sie in die Entscheidungen
        über medizinische Eingriffe einbezogen werden. Im
        Dezember schrieb die Bundesregierung in der Antwort
        auf die Kleine Anfrage meiner Fraktion zum Thema In-
        tersexualität, dass ihre Meinungsbildung an diesem
        Punkt noch nicht abgeschlossen sei. Für Bündnis 90/Die
        Grünen ist klar: Jugendliche sind selbstständige Men-
        schen und haben eigene Rechte. Sie dürfen Auto fahren,
        sie dürfen eine Ausbildung beginnen, sie dürfen arbei-
        ten. Aber sie dürfen nicht über medizinische Eingriffe
        bestimmen, die ihnen im Extremfall die Chance nehmen,
        Kinder zu bekommen und ein erfülltes Sexualleben zu
        haben?
        Wir sagen: Deshalb brauchen wir eine konzertierte
        Aktion. Wir brauchen einen bundesweiten Aktionsplan
        gegen Homophobie und Transphobie. Wir brauchen ei-
        nen Aktionsplan für Toleranz und Vielfalt. Viele Bun-
        desländer setzen ähnliche Pläne bereits um; Nordrhein-
        Westfalen, Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz
        seien als Beispiele angeführt.
        Der bundesweite Aktionsplan muss die für Jugendli-
        che besonders wichtigen Bereiche Elternhaus, Schule,
        Jugendhilfe und Sport umfassen und gezielte Beratungs-
        angebote und Antidiskriminierungsmaßnahmen enthal-
        ten. Denn darum sollte es uns allen gehen – allen jungen
        Menschen das Gefühl zu geben: So, wie ihr seid, seid ihr
        in unserer Gesellschaft willkommen!
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28605
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 7
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung der Beschlussempfehlung und des
        Berichts:
        – Verordnung zur Änderung der Vorschriften
        über elektromagnetische Felder und das te-
        lekommunikationsrechtliche Nachweisverfah-
        ren
        – Vierter Bericht der Bundesregierung über
        die Forschungsergebnisse in Bezug auf die
        Emissionsminderungsmöglichkeiten der ge-
        samten Mobilfunktechnologie und in Bezug
        auf gesundheitliche Auswirkungen
        – Fünfter Bericht der Bundesregierung über
        die Forschungsergebnisse in Bezug auf die
        Emissionsminderungsmöglichkeiten der ge-
        samten Mobilfunktechnologie und in Bezug
        auf gesundheitliche Auswirkungen
        (Tagesordnungspunkt 26)
        Dr. Michael Paul (CDU/CSU): Technische Entwick-
        lungen machen uns an vielen Stellen das Leben leichter.
        Beinahe jeder hier im Saal benutzt täglich elektronische
        Geräte – ob zur Kommunikation, zur Datenübertragung
        oder im modernen Auto.
        Aber die zunehmende Nutzung dieser Technologien
        bedeutet gleichzeitig auch eine ansteigende Zahl von
        elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen
        Feldern. Dabei unterscheidet man zwischen niederfre-
        quenten Feldern, etwa im Bereich der Stromnetze mit
        den bekannten 50 Hertz, und den hochfrequenten Fel-
        dern, etwa im Handy, bei bis zu 1 800 Hertz.
        Was vor 80 Jahren mit dem flächendeckenden Ausbau
        der Stromnetze und der Erfindung von Rundfunk und
        Fernsehen begann, setzt sich heute in der alltäglichen
        Nutzung von Handys oder Smartphones, WLAN und
        LTE-Netzen, Navigationssystemen oder Bluetooth-Ge-
        räten fort. Die meisten von uns können sich diese An-
        wendungen gar nicht mehr aus dem täglichen Leben
        wegdenken.
        Sosehr sie aber dem Menschen nutzen, muss bei jeder
        bewährten und neuen Technologie sichergestellt sein,
        dass von ihrer Nutzung keinerlei Schaden für Mensch
        und Umwelt ausgeht. Genau diesem Ziel, dem Schutz
        der Menschen und der Umwelt vor elektrischen, magne-
        tischen und elektromagnetischen Feldern, dient die heute
        debattierte Regelung: die Verordnung zur Änderung der
        Vorschriften über elektromagnetische Felder und das te-
        lekommunikationsrechtliche Nachweisverfahren.
        Dass mit dieser Regelung das Ziel, Mensch und Um-
        welt zu schützen, erreicht wird, bestätigen zahlreiche re-
        nommierte Wissenschaftler, die jahrelange Erfahrung
        auf dem Gebiet der Wirkung solcher elektromagneti-
        scher Felder auf den menschlichen Körper gesammelt
        haben.
        International führend ist auf diesem Gebiet die Inter-
        nationale Kommission für den Schutz vor nichtionisie-
        render Strahlung, ICNIRP: International Commission on
        NonIonizing Radiation Protection, in der Wissenschaft-
        ler aus Schweden, Australien, Finnland, den USA, Ita-
        lien, den Philippinen, Großbritannien, den Niederlanden,
        Japan, Österreich und Deutschland zusammenarbeiten.
        Der Vorsitzende dieser hochrangigen Kommission, Herr
        Rüdiger Matthes, der gleichzeitig im Bundesamt für
        Strahlenschutz für den Schutz vor nichtionisierender
        Strahlung zuständig ist, war Sachverständiger in der An-
        hörung des Bundestags-Umweltausschusses am 27. Fe-
        bruar 2013. Dort teilte er mit – ich zitiere –: „Die in der
        Novelle“ – 26. BImSchV – „vorgeschlagenen Grenz-
        werte sind nach aktuellem wissenschaftlichem Kenntnis-
        stand geeignet, vor allen nachgewiesenen Gesundheits-
        wirkungen und den damit verbundenen Gefahren zu
        schützen.“
        Meine Fraktion und ich persönlich halten es für sehr
        wichtig, die berechtigten Befürchtungen der Menschen
        vor negativen Auswirkungen elektromagnetischer Felder
        auf die Gesundheit ernst zu nehmen. Wir alle in diesem
        Haus sollten – bei aller auch notwendigen Auseinander-
        setzung in der Sache – uns nicht gegenseitig den Willen
        absprechen, die menschliche Gesundheit und unsere
        Umwelt vor negativen Einwirkungen schützen zu wol-
        len. Aber, meine Damen und Herren von der Opposition:
        Angst machen ist kein Beitrag zur Lösung!
        Es ist richtig, dass wir transparent mit den möglichen
        Einwirkungen elektromagnetischer Felder auf den mensch-
        lichen Körper umgehen und diese offen aussprechen.
        Denn dass hoch- und niederfrequente elektrische und
        magnetische Felder hier negative Folgen haben können,
        steht fest. Ebenso steht aber fest, dass Art, Größenord-
        nung und Verteilung der Felder durch die technische
        Ausgestaltung erheblichen Einfluss auf die Folgen haben
        und diese zum Positiven verändern können. Ebenso gilt
        der Grundsatz, dass elektromagnetische Felder mit
        wachsendem Abstand zur Quelle abnehmen.
        Zentrale Bestandteile der hier vorliegenden Neurege-
        lung sind deshalb die festgelegten Abstände und Feld-
        grenzwerte. Für beide Punkte setzen die Regelungen die
        Empfehlungen des Rates der Europäischen Union, der
        ICNIRP und der deutschen Strahlenschutzkommission
        ohne jede Einschränkung um.
        Die Opposition macht es sich leicht, indem sie nach
        jeder neuen Grenzwertfestlegung noch strengere Grenz-
        werte fordert und nach noch geringeren Abständen ruft.
        Das führt aber in der Sache nicht weiter. Mehr noch: Der
        Vorwurf der Opposition, die Grenzwerte seien im Aus-
        land viel strenger als bei uns, ist nicht nur in der Sache
        haltlos, sondern zeigt auch noch, dass die Systematik ei-
        nes Grenzwerts nicht verstanden wurde.
        Zum einen haben im internationalen Vergleich von
        52 Ländern mit bekannten Grenzwerten genau drei Län-
        der scheinbar strengere „Grenzwerte“ festgelegt als wir
        in Deutschland. Das hieße, dass Deutschland die viert-
        strengsten Grenzwerte hätte, was für sich genommen ja
        schon nicht schlecht wäre. Tatsächlich aber muss man
        wissen, dass in diesen drei Ländern die Werte entweder
        28606 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        nur Empfehlung sind und daher keinen zwingenden
        rechtlichen Charakter haben oder sie für eine durch-
        schnittliche Anlagenauslastung festgelegt wurden – also
        bei halber Leistung der Anlage gemessen –, während
        sich unsere Grenzwerte auf die volle Anlagenauslastung
        beziehen. Hier werden also Äpfel mit Birnen verglichen.
        Bei einem objektiven Vergleich haben wir bei uns die
        anspruchsvollsten Grenzwerte!
        Andererseits ist die Funktion der Grenzwerte sicherzu-
        stellen, dass bei ihrer Unterschreitung nach ständig ak-
        tualisiertem Stand von Wissenschaft und Technik keine
        Gesundheitsbeeinträchtigungen beim Menschen entste-
        hen können. Genau das hat die Internationale Strahlen-
        schutzkommission für die hier festgelegten Grenzwerte
        nachgewiesen.
        Das bedeutet: Strengere Grenz- und vor allem Ab-
        standswerte würden zwar die Kosten zum Beispiel des
        Netzausbaus – zulasten der Verbraucher – verteuern, auf
        der anderen Seite aber den Schutz von Mensch und Na-
        tur kein Stück voranbringen. Mehr noch: Der durch die
        Energiewende nötige Ausbau der Stromnetze würde we-
        sentlich erschwert. Damit in Zukunft in Ballungsräumen
        wie dem Ruhrgebiet die Menschen und die Industrie mit
        dem Windstrom von der Nord- und Ostsee versorgt wer-
        den können, sind nun einmal Tausende Kilometer neuer
        Hochspannungsleitungen nötig. Das gilt erst recht, wenn
        ich Sie, meine Damen und Herren von der Opposition,
        ernst nehmen würde in Ihrer Forderung, nach dem Aus-
        stieg aus der Kernenergie auch aus der Kohle aussteigen
        zu wollen. Das zeigt: Ihre Forderungen passen nicht zu-
        sammen!
        Eine wichtige Frage, die viele Menschen bewegt, ist,
        ob bei Einführung der hier vorgesehenen Grenzwerte für
        elektromagnetische Felder die Gefahr besteht, dass diese
        Felder beim Menschen Krebserkrankungen hervorrufen.
        Die Opposition verkürzt daraus die Aussage: Elektro-
        magnetische Felder sind krebserregend – obwohl sie es
        besser weiß. Denn in der Sachverständigenanhörung des
        Umweltausschusses hat Herr Professor Leitgeb, Vorsit-
        zender der deutschen Strahlenschutzkommission, SSK,
        die Hintergründe dieses angstschürenden, plakativen
        Satzes erklärt: Basis der Behauptung ist eine Untersu-
        chung der International Agency for Research on Cancer,
        IARC, eines Untergremiums der Weltgesundheitsorgani-
        sation, WHO. Diese Kommission untersucht Stoffe und
        Geräte daraufhin, ob durch sie, bei entsprechender An-
        wendung oder Verwendung, die Gefahr einer möglichen
        Krebserkrankung besteht. Die IARC hat 2002 bezie-
        hungsweise 2011 festgestellt, was auch schon zuvor be-
        kannt war: Durch elektromagnetische Felder kann mög-
        licherweise dann Krebs entstehen, wenn diese in
        entsprechender Dauer und Intensität auf den Menschen
        einwirken. Aber eben auch nur unter dieser Bedingung.
        Oder, um es mit Paracelsus’ Worten zu sagen: Die Dosis
        macht das Gift!
        Genau aus diesem Grund ist zum Beispiel auch der
        Stoff „Kaffee“ in die gleiche Kategorie der Krebsgefahr
        eingestuft worden wie die elektromagnetischen Felder,
        weil bei entsprechend intensivem Konsum die Besorgnis
        von Darmkrebs festgestellt wurde.
        Diesen Zusammenhang, dass es auf die Dauer und die
        Intensität der Einwirkung entscheidend ankommt, muss
        man kennen und benennen, wenn man die Menschen in
        unserem Land nicht verängstigen will. Das wird aber in
        der Diskussion von Ihnen, den Damen und Herren der
        Opposition, schlicht außen vor gelassen. Damit schüren
        Sie Angst! Das hat nichts damit zu tun, die berechtigten
        Sorgen und Befürchtungen der Menschen ernst zu neh-
        men.
        Lassen Sie mich die wesentlichen Änderungen dieser
        Regelung zusammenfassen:
        Zwar bestehen im Moment bereits hinreichende Ab-
        stands- und Grenzwertfestlegungen für Strom- und
        Bahntrassen, Transformatoren und Schaltanlagen, je-
        doch nur im Bereich des Wechselstroms und auch nur im
        gewerblichen Bereich. Diese Regelungslücken schließen
        wir. Es werden erstmals Regeln für Gleichstromanlagen
        getroffen. Das ist deshalb wichtig, weil die Windkraft
        vom Norden über weite Strecken nach Westen und Sü-
        den transportiert werden muss. Das erfordert erstmalig
        den Bau neuer, verlustfreier Hochspannungsgleich-
        stromübertragungsleitungen, die bisher in Deutschland
        nicht verwendet wurden.
        Die digitale Funktechnologie macht Polizei, Feuer-
        wehr und Katastrophenschutz einsatzfähiger, aber auch
        diese Technik erzeugt elektromagnetische Felder. Die
        öffentlichen und privaten Anlagen werden nun wie die
        gewerblichen erfasst.
        Die Regelungen werden nun an die technischen
        Neuerungen der vergangenen 15 Jahre angepasst. Denn
        die Elektromobilität spart zwar CO2-Emissionen, aber
        die Ladestationen für die Fahrzeuge schaffen durch ihre
        Induktionsladetechnik neue elektrische Felder. Für diese
        neuen Techniken werden jetzt erstmalig Grenzwerte ein-
        geführt, die die Gesundheit der Menschen und den
        Schutz der Umwelt sicherstellen.
        Damit dieser Schutz aber dauerhaft und auch trotz al-
        ler zukünftigen technischen Entwicklungen stets ge-
        währleistet ist, werden durch diese Neuregelung darüber
        hinaus erstens eine regelmäßige Überprüfung der beste-
        henden Grenz- und Abstandswerte und gegebenenfalls
        die Anpassung an den Stand von Wissenschaft und Tech-
        nik festgelegt, zweitens eine neue Minderungspflicht für
        Betreiber von Niederfrequenz- und Gleichstromanlagen
        eingeführt, die gewährleistet, dass der Betrieb dieser An-
        lagen den maximalen Schutz von Bevölkerung und
        Umwelt sicherstellt, und drittens im Bereich der Mobil-
        funknetze die Selbstverpflichtung der Betreiber weiter-
        entwickelt.
        Dadurch soll die dauerhafte Finanzierung bestehender
        Forschungsprogramme gesichert werden, damit auch zu-
        künftig noch unbekannte Gefahren von hochfrequenten
        elektromagnetischen Feldern für die Gesundheit des
        Menschen erforscht werden. Darüber hinaus wünsche
        ich mir, dass eine entsprechende Selbstverpflichtung
        auch von den Übertragungsnetzbetreibern abgegeben
        wird, in der sie sich an den Kosten der Forschung im Be-
        reich der niederfrequenten Netze beteiligen.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28607
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dirk Becker (SPD): Die Bundesregierung legt einen
        Entwurf für eine Verordnung vor, die die Guidelines der
        Internationalen Kommission zum Schutz vor nichtioni-
        sierender Strahlung, ICNIRP, von 2010 sowie die ent-
        sprechend angepasste EU-Ratsempfehlung umsetzt.
        Es wird damit versucht, neue und neuartige Technolo-
        gien mit der 26. Bundes-Immissionsschutzverordnung,
        26. BImSchV, zu erfassen und zu regeln.
        Die SPD-Fraktion begrüßt ausdrücklich, dass unter
        die Regelung auch Hochspannungsgleichstromanlagen,
        HGÜ, fallen sollen sowie der Anwendungsbereich auf
        gewerbliche, hoheitliche und private ortsfeste Anlagen
        ausgeweitet werden soll. Auch die Erfassung des Be-
        reichs der Niederfrequenzen von 1 Hertz bis 100 Kilo-
        hertz und das neu eingeführte Minimierungsgebot begrü-
        ßen wir.
        Ich muss jedoch sagen, dass die Bundesregierung mit
        ihrem Verordnungsentwurf weit hinter dem Möglichen
        und Nötigen geblieben ist.
        Nach langen Diskussionen wurden 2001 noch unter
        der rot-grünen Bundesregierung Regelungen getroffen
        und Grenzwerte festgelegt, die ausdrücklich nicht in
        Stein gemeißelt sein sollten. Die Strahlenschutzkommis-
        sion, SSK, stellte bereits damals fest, dass es großen
        Forschungsbedarf gebe, der gegebenenfalls eine Neube-
        wertung der Thematik und eine Neufestsetzung von ver-
        schärften Grenzwerten nötig machen könnte.
        Bereits seit nunmehr über zehn Jahren wird intensiv
        geforscht, und weltweit erzielte Studienergebnisse wer-
        den aufgearbeitet. Das Deutsche Mobilfunk-Forschungs-
        programm, DMF, mit seinen über 50 Projekten sei hier
        nur stellvertretend erwähnt. Weltweit liegen mittlerweile
        über 20 000 Studien vor. Auch wenn es bisher keine
        wissenschaftlich anerkannten Beweise für gesundheits-
        relevante Wirkungen elektrischer, magnetischer und
        elektromagnetischer Felder über die bisher bekannten
        – insbesondere thermischen – Wirkzusammenhänge gibt,
        so verdichten sich doch die Hinweise auf potenzielle
        athermische Gefährdungen. Das mag daran liegen, dass
        die Beweisführung in diesem Bereich äußerst schwer ist,
        weil es noch an Erfahrungen mit Langzeitwirkungen
        mangelt. Auch ist es schwierig, mit experimentellen Un-
        tersuchungen die erhöhten Expositionen und chronische
        Erkrankungen in Zusammenhang zu setzen, der Beweis-
        kraft erlangen könnte.
        Die Internationale Krebsforschungsagentur, IARC,
        der Weltgesundheitsorganisation hat aber bereits auf die
        Datenbasis reagiert und nieder- und auch hochfrequente
        elektromagnetische Felder als möglicherweise krebser-
        regend eingestuft.
        Leider muss ich feststellen, dass die Bundesregierung
        aus all dem keine Konsequenzen zieht. Wir werfen der
        Bundesregierung daher vor, dass sie mit der Verordnung
        den aktuellen wissenschaftlichen Forschungs- und Er-
        kenntnisstand nicht aufnimmt. Wider besseres Wissen
        hält sie an den überkommenen Grenzwerten fest. Es
        wird immer deutlicher, dass die Grenzwerte zu nah an
        den real nachweisbaren Wirkzusammenhängen liegen,
        also den nötigen Vorsorgeabstand vermissen lassen. Eine
        verantwortungsbewusste Politik schaut anders aus.
        Wir kritisieren die Bundesregierung außerdem, weil
        die Verordnung handwerklich schlecht gemacht ist. Für
        was lässt sich die Bundesregierung von der Strahlen-
        schutzkommission beraten und finanziert diese, wenn
        die SSK offensichtlich bei der Erarbeitung der Verord-
        nung nicht mitwirken durfte? Daraus folgt die weitere
        Frage, auf welche Daten und Beratung die Bundesregie-
        rung überhaupt zurückgegriffen hat. Nachvollziehbare
        und transparente Rechtssetzung schaut ebenfalls anders
        aus.
        In Zeiten wie diesen, in denen die Menschen zuneh-
        mend den verschiedenartigsten Belastungen und gesund-
        heitlichen Risiken ausgesetzt sind, muss der Staat seine
        Aufgaben und Pflichten zum Schutz der Bevölkerung
        und zur Minimierung von gesundheitsrelevanten Risiken
        konsequent erfüllen.
        Wie in vielen Bereichen des Verbraucher- und Ge-
        sundheitsschutzes kommt diese Bundesregierung auch
        mit dieser Verordnung ihrer Schutz- und Vorsorgepflicht
        nicht nach.
        Auch kritisieren wir, dass sich die Bundesregierung
        offensichtlich um keine internationale und europäische
        Harmonisierung der Grenzwerte und rechtlichen Rege-
        lungen bemüht. Die EU regelt viele Lebensbereiche bis
        ins kleinste Detail gemeinschaftlich. Im Bereich der
        Grenzwerte für elektromagnetische Felder ist Europa
        aber noch immer ein bunter Flickenteppich. Und be-
        trachtet man die einzelnen Regelungen, kann man davon
        ableiten, dass der Bundesregierung der Vorsorgeschutz
        weitgehend egal ist. Andere Länder sind wesentlich kon-
        sequenter und weiter. Klar ist hier an erster Stelle die
        Schweiz zu nennen. Aber auch Polen, Großbritannien
        und die Niederlande nehmen das Schutzbedürfnis ihrer
        Bürger ernster.
        Die SPD-Fraktion fordert die Bundesregierung daher
        auf – so wie sie es bereits mit ihrem Entschließungsan-
        trag in den Ausschüssen getan hat –, diesen Verord-
        nungsentwurf zurückzuziehen und grundlegend zu über-
        arbeiten.
        Dem aktuellen Erkenntnisstand der bisher erfolgten
        Forschungsanstrengungen muss Rechnung getragen
        werden, und die Grenzwerte für elektromagnetische Fel-
        der müssen mit einem sinnvollen Vorsorgefaktor ver-
        schärft werden. Hier gibt es in anderen Ländern teils
        sehr gute Beispiele, wie das geschehen könnte.
        Wir brauchen also vorsorgeorientierte und insbeson-
        dere auch kindgerechte Grenzwerte für sensible Orte wie
        Kitas, Schulen und Krankenhäuser, aber auch für Privat-
        räume wie Schlaf-, Kinder- und Wohnzimmer – und das
        sowohl für den Niederfrequenzbereich als auch für den
        Hochfrequenzbereich. In unserem Entschließungsantrag
        haben wir dazu konkrete Vorschläge unterbreitet.
        Künftige auftretende starke Feldquellen müssen von
        der Verordnung ebenfalls erfasst werden, damit von An-
        fang an eine Regelung für diese neuen Technologien be-
        steht. Das geplante Minimierungsgebot soll unter An-
        28608 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        wendung des Standes der Technik auf alle Bereiche der
        nichtionisierenden Strahlung ausgeweitet und regelmä-
        ßig evaluiert werden. Überhaupt müssen alle von einer
        Anlage erzeugten Frequenzen wie Oberwellen und Sei-
        tenbänder für die Grenzwertermittlung herangezogen
        werden.
        Alle neuen Stromübertragungsanlagen wie Höchst-
        und Hochspannungsleitungen – und nach Übergangsfris-
        ten auch bestehende Altanlagen – müssen in das Über-
        spannungsverbot einbezogen werden.
        Mit Blick auf die Energiewende und den damit ver-
        bundenen Bedarf nach Ausbau und Neubau von Strom-
        netzen ist ein Pilotprojekt zur Demonstration der Vorteile
        von modernen Kompaktbauweisen bei Strommasten
        mehr als sinnvoll. Damit könnte der Stand der Technik
        beim Leitungsbau überprüft und die Akzeptanz neuer
        Stromtrassen erhöht werden.
        Weiter soll sich die Bundesregierung um zumindest
        eine europäische Harmonisierung bemühen. Es kann
        nicht angehen, dass in diesem hochsensiblen Bereich
        noch immer mit vielen unterschiedlichen Maßstäben ge-
        arbeitet wird.
        In der Begründung zum Verordnungsentwurf schreibt
        die Bundesregierung selbst, dass „die Exposition durch
        elektrische, magnetische und elektromagnetische Felder
        in der heutigen Umwelt infolge der Nutzung moderner
        Technologien, dem Ausbau des Hochspannungsnetzes
        und der technischen Weiterentwicklung seit Jahren zu-
        nehmen“. Es ist auch mit einer weiteren Zunahme
        – Stichworte: smart grids, smart homes, Fernablesung
        etc. – zu rechnen. Die Bundesregierung muss sich also
        endlich ihrer Verantwortung bewusst werden und ihre
        Pflichten zum vorsorgenden Schutz der Bevölkerung
        wahrnehmen. Die SPD-Fraktion ist dann auch zur Zu-
        sammenarbeit bereit.
        Judith Skudelny (FDP): Deutschland ist ein High-
        techland. Darauf sind wir stolz und wollen unseren Stan-
        dard stetig verbessern. Dazu gehört auch der Umgang
        mit elektrischen, magnetischen und elektromagnetischen
        Feldern, die von den meisten der Geräte – Handy, Lap-
        top etc. – ausgehen.
        Die vorliegende Verordnung wird der schwierigen
        Balance zwischen dem Erfordernis des Schutzes und der
        Vorsorge vor schädlichen Umwelteinwirkungen und
        dem offensichtlichen Bedarf an der Nutzung moderner
        Technologien gerecht. Beispielsweise dem dringend not-
        wendigen Leitungsausbau zur Umsetzung der Energie-
        wende und der Nutzung von Mobilfunkgeräten.
        Die Novellierung dient der Anpassung an den neues-
        ten technischen und wissenschaftlichen Stand. Dabei
        bleiben die Grenzwerte im Wesentlichen bestehen. Diese
        Beibehaltung der Grenzwerte ist richtig, da auch nach
        Erkenntnissen der Strahlenschutzkommission, SSK,
        keine wissenschaftlichen Erkenntnisse vorliegen, die
        eine Änderung des bisherigen Schutz- und Grenzwert-
        konzepts rechtfertigen. Dies bestätigen auch der vorlie-
        gende vierte und fünfte Bericht der Bundesregierung
        über die Forschungsergebnisse in Bezug auf die Emissi-
        onsminderungsmöglichkeiten der gesamten Mobilfunk-
        technologie und in Bezug auf gesundheitliche Auswir-
        kungen.
        So kommt die Strahlenschutzkommission zu dem
        Schluss, dass auch nach Bewertung der neueren Litera-
        tur keine wissenschaftlichen Erkenntnisse im Hinblick
        auf mögliche Beeinträchtigungen der Gesundheit durch
        niederfrequente elektrische und magnetische Felder vor-
        liegen, die ausreichend belastungsfähig wären, um eine
        Veränderung der bestehenden Grenzwertregelung der
        26. BImSchV zu rechtfertigen. Aus der Analyse der vor-
        liegenden wissenschaftlichen Literatur ergeben sich
        auch keine ausreichenden Belege, um zusätzliche verrin-
        gerte Vorsorgewerte zu empfehlen, von denen ein quan-
        tifizierbarer gesundheitlicher Nutzen zu erwarten wäre.
        Zu den wesentlichen Neuerungen der vorliegenden
        Verordnung zählt die Erweiterung des Anwendungsbe-
        reichs auf alle Frequenzbereiche. Erfasst wird damit
        auch die Hochspannungs-Gleichstromübertragung,
        HGÜ. Diese spielt im Rahmen der Energiewende beim
        Leitungsausbau eine wesentliche Rolle und war bisher
        nicht geregelt. Auch die Beschränkung der Regelung auf
        gewerblich betriebene Anlagen entfällt. Damit wird
        künftig auch der Digitalfunk der Behörden und Organi-
        sationen mit Sicherheitsaufgaben, BOS-Anlagen, von
        der Verordnung erfasst.
        Außerdem soll beim Bau neuer Stromtrassen künftig
        die Überspannung von Wohngebäuden untersagt wer-
        den. Eine weitere wesentliche Neuerung stellt das soge-
        nannte Minderungsgebot dar, wonach in der Verordnung
        festgelegt ist, dass auch beim Ausbau der Stromnetze
        elektrische und magnetische Felder zu mindern sind.
        Bei der Debatte werden immer die Gefahren der
        Strahlung angeprangert. Welchen Nutzen uns beispiels-
        weise die moderne Telekommunikation und die Strom-
        leitungen bringen, wird immer nur am Rande themati-
        siert.
        Doch wenn man ehrlich ist, besitzt nahezu jeder ein
        oder sogar mehrere Handys und Laptops. Wir alle, auch
        die Kolleginnen und Kollegen der Opposition, möchten
        überall und rund um die Uhr erreichbar sein. So sind
        technische Anwendungen, die elektromagnetische Fel-
        der nutzen, wie drahtlose Informationsübertragungs- und
        Kommunikationsverfahren, ein nicht mehr wegzuden-
        kender Bestandteil unseres Lebens geworden. Dies zeigt,
        dass wir uns bewusst für diese Technik entschieden ha-
        ben und diese befürworten.
        Beispielsweise haben wir es den Handys zu verdan-
        ken, dass Hilfe wesentlich schneller am Unfallort ein-
        trifft. Viele Eltern geben ihren Kindern Handys, damit
        sie sich im Notfall immer melden können und so auch
        selbstständiger sein können. Bei der Verfolgung von
        Straftaten wird die Möglichkeit der Ortung durch das
        Handy erfolgreich eingesetzt, um nur einige Beispiele zu
        nennen.
        Der Ausbau der Stromleitungen, insbesondere der
        HGÜ-Leitungen, ist enorm wichtig für die von allen
        Bürgern zu Recht geforderte Versorgungssicherheit. Es
        ist scheinheilig von der Opposition, auf der einen Seite
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28609
        (A) (C)
        (D)(B)
        die Energiewende zu fordern, aber auf der anderen Seite
        den Bürgern gegenüber nicht offen und ehrlich zu sagen,
        dass wir hierfür neue Leitungen brauchen, von denen
        entsprechende Felder ausgehen.
        Wir müssen also eine angemessene Balance finden,
        um mit den positiven Errungenschaften der Nutzung mo-
        derner Technologien einerseits und den elektrischen,
        magnetischen und elektromagnetischen Feldern anderer-
        seits umzugehen.
        Dieser Anforderung wird die vorliegende Novelle ge-
        recht. So wird mit ihr eine ausgewogene Regelung zum
        Schutz und zur Vorsorge vor gesundheitlichen Auswir-
        kungen nichtionisierender Strahlung geschaffen. Außer-
        dem flankiert die Novellierung der Verordnung den zügi-
        gen Ausbau der Übertragungsnetze im Hoch- und
        Höchstspannungsbereich.
        Vorsorgender Gesundheitsschutz mit Augenmaß führt
        insgesamt zu einer Verbesserung des Strahlenschutzes
        und dadurch zu einer höheren Akzeptanz des Netzaus-
        baus durch die Bevölkerung vor Ort, ohne die Kosten
        des Netzausbaus und damit die Stromkosten weiter in
        die Höhe zu treiben.
        Wenn die Opposition erwähnt, dass die Schweiz und
        Italien niedrigere Grenzwerte als Deutschland haben
        und als sie zum Beispiel von der Internationalen Kom-
        mission zum Schutz vor nichtionisierender Strahlung,
        ICNIRP, empfohlen werden, ist es wichtig zu wissen,
        dass diese Werte nicht auf dem Nachweis neuer Gesund-
        heitsbeeinträchtigungen oder auf einem konkreten Ver-
        dacht, wissenschaftlich mit allgemeinen wissenschaftli-
        chen Unsicherheiten begründet, beruhen.
        Auch werden die Grenzwerte der 26. BImSchV in den
        meisten Fällen nicht ausgeschöpft.
        Interessant ist, dass die Opposition in ihren beiden
        Entschließungsanträgen einige der Anregungen unseres
        Sachverständigen Professor Norbert Leitgeb der Anhö-
        rung am 27. Februar 2013 aufgenommen hat, beispiels-
        weise die Forderung nach der Erfassung neuer Technolo-
        gien durch die vorliegende Novellierung. Dies ist auch
        für uns ein sehr wichtiges Anliegen, da wir eine techno-
        logieoffene Entwicklung fördern. Wir sind diesen Anre-
        gungen nachgegangen. Der Anwendungsbereich der
        Verordnung sowie die Begriffsbestimmungen für Hoch-
        frequenz- und Niederfrequenzanlagen sind so gefasst,
        dass grundsätzlich auch künftig häufig auftretende Feld-
        quellen neuer Technologien erfasst werden. So werden
        beispielsweise Anlagen zur induktiven Energieübertra-
        gung, wie zum Beispiel Ladestationen für Elektroautos,
        erfasst.
        Richtig ist, dass es in Bezug auf die Langzeitwirkung
        von Handystrahlung und auf die Reaktion von Kindern
        auf hochfrequente elektromagnetische Felder noch keine
        ausreichenden Erkenntnisse gibt. Hier besteht weiterer
        Forschungsbedarf. Entsprechende Studien wurden auch
        bereits begonnen. Das Wissen über die biologischen
        Wirkungen von Feldern insgesamt ist aber bereits so um-
        fangreich, dass durchaus eine verantwortliche Entschei-
        dung über die Festsetzung von Grenzwerten zum Schutz
        der Bevölkerung erfolgen kann.
        Bei der Novellierung der 26. BImSchV kann es nicht
        darum gehen, die weitere Nutzung der Mobilfunktech-
        nologie nur dann zuzulassen, wenn ihre Unschädlichkeit
        bewiesen ist. Ein solcher Nachweis kann für keine Tech-
        nologie gelingen, da nur das Vorhandensein von Gefah-
        ren und Risiken bewiesen werden kann, nicht aber ihre
        Abwesenheit. Dies gilt für alle Lebensbereiche.
        Es muss vielmehr darum gehen, die mit einer Techno-
        logie verbundenen Risiken so umfassend wie möglich zu
        erkennen, um dann eine informierte und bewusste Ent-
        scheidung über die Akzeptanz oder Inakzeptanz be-
        stimmter (Rest-)Risiken zu treffen. Diesen Anforderun-
        gen wird die vorliegende Verordnung gerecht.
        Sabine Stüber (DIE LINKE): In Deutschland sind
        die Vorschriften zum Schutz der Menschen vor gesund-
        heitlichen Schäden durch elektromagnetische Felder
        über 15 Jahre alt. Das ist eine lange Zeit. Und die Tech-
        nik, auch die Mobilfunktechnik, hat seither, wie wir alle
        wissen, eine rasante Entwicklung durchlaufen.
        Änderungen dieser Vorschriften werden von der EU-
        Kommission seit Jahren angemahnt. Denn wissenschaft-
        liche Untersuchungen belegen, dass elektromagnetische
        Felder Menschen krankmachen können. Ich sage be-
        wusst „krankmachen können“, nicht zwangsläufig müs-
        sen; denn ein wissenschaftlicher Nachweis, vor allem für
        Langzeitwirkungen, steht noch aus.
        Wir alle sind elektromagnetischen Feldern durch
        Sendefunkanlagen und Stromübertragungsnetze ausge-
        setzt, ohne dies beeinflussen zu können. Deshalb steht
        der Staat in der Pflicht, für den Schutz der Bevölkerung
        vor gesundheitlichen Risiken zu sorgen. Elektromagne-
        tische Felder haben mit Handys, Smartphones oder Tab-
        lets unseren Alltag erobert – ob am Arbeitsplatz oder
        unterwegs. Nur zu Hause legen wir selber fest, ob es
        noch ein elektrisches Gerät sein soll, noch eine Telefon-
        ladestation oder eine Funkuhr – ich könnte die Liste
        endlos fortführen.
        Die Bundesregierung will nun mit der vorgelegten
        Verordnung Schutz vor schädlichen Umwelteinwirkun-
        gen und entsprechende Vorsorge gewährleisten. So sol-
        len außer für gewerbliche Funkanlagen auch für den
        Betrieb privater und hoheitlicher Sendeanlagen und
        Stromleitungsnetze Vorschriften gelten.
        Das sind durchaus Verbesserungen. Im Ganzen gese-
        hen bleibt die Verordnung jedoch weit hinter den Erwar-
        tungen und vor allem hinter den technischen Möglich-
        keiten zurück. Das haben Experten in einer öffentlichen
        Anhörung vorige Woche im Bundestag mit deutlicher
        Mehrheit bestätigt.
        Selbst der Vertreter aus dem Bundesamt für Strahlen-
        schutz, auf den sich die Regierungskoalition – so vehe-
        ment – beruft, rudert bei der Frage nach den gesundheit-
        lichen Risiken zurück. Er ist der Meinung, dass selbst
        wissenschaftliche Ergebnisse, die nicht hundertprozentig
        gesundheitliche Risiken belegen, allemal ausreichen, um
        „eine Besorgnis zu begründen“. Nach seiner Empfeh-
        lung sollten Wohngebiete beim Neubau von Stromtras-
        sen generell gemieden werden. Da ist viel Auslegungs-
        28610 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        spielraum, und das heißt für mich: jwd, also janz weit
        draußen! Andere Gutachter waren da mit ihren Empfeh-
        lungen von 400 bis 600 Metern Abstand zu Wohnhäu-
        sern konkreter.
        Für Kinder besteht bei einer dauerhaften Belastung
        durch elektromagnetische Felder ab 0,3 Mikrotesla
        durch Stromleitungen ein erhöhtes Leukämierisiko. Das
        ist wissenschaftlich exakt belegt. Und dann schauen Sie
        sich draußen um, und rechnen Sie die Funksendemasten
        dazu. Die Mobilfunkstrahlung steht immer wieder unter
        dem Verdacht, Krebs und Alzheimer auszulösen.
        Das Hauptproblem sind und bleiben die viel zu hohen
        Grenzwerte, denen Menschen dauerhaft ausgesetzt sein
        dürfen, und daran ändert die Verordnung nicht viel. Die
        Linke fordert deshalb Vorsorgegrenzwerte von 0,2 Mi-
        krotesla für Orte, an denen sich Menschen lange aufhal-
        ten. Technisch machbar sind unsere Grenzwerte und
        sollten zumindest für Wohnungen als geschützte Orte
        verbindlich sein. Dabei darf nicht vergessen werden: Es
        geht hier um Grenzwerte für elektromagnetische Felder
        von draußen, denen die Bürgerinnen und Bürger ausge-
        setzt sind, ohne sie beeinflussen zu können.
        Wir wissen: Alle Grenzwerte sind politische Werte.
        Sie orientieren sich an wissenschaftlichen Erkenntnis-
        sen, nur leider viel zu selten an den neuesten. Auch in
        diesem Verordnungsentwurf folgt die Politik nicht den
        neuesten wissenschaftlichen Empfehlungen.
        Aber was heißt hier die Politik? Wir, die Abgeordne-
        ten sind es, die heute darüber entscheiden, wie hoch das
        Gesundheitsrisiko sein darf, dem die Menschen in die-
        sem Land unfreiwillig durch elektromagnetische Felder
        weiterhin ausgesetzt sein werden.
        Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Die Auseinandersetzung über die Frage, ob langfristig
        wirkende elektrische, magnetische und elektromagneti-
        sche Felder zu Gesundheitsgefährdungen führen können,
        wird seit Jahren zum Teil erbittert geführt. Die Hinweise
        auf Risiken sind inzwischen so konkret, dass sowohl die
        WHO als auch der Europarat Handlungsbedarf sehen.
        Die Internationale Krebsforschungsagentur, IARC,
        der Weltgesundheitsorganisation, WHO, hat inzwischen
        sowohl niederfrequente als auch hochfrequente elektro-
        magnetische Felder neu bewertet. 2002 stufte die IARC
        bereits niederfrequente und statische Felder in die
        Gruppe 2 B ihrer Skala ein, 2011 dann auch die hochfre-
        quenten Felder. Das heißt, elektromagnetische Felder
        werden nun als „möglicherweise krebserregend“ bewer-
        tet. Sie stehen damit auf einer Stufe mit Methylquecksil-
        ber, Blei, Kobalt, Schiffsdiesel, Chloroform und DDT.
        Das ist eine Aufforderung, vorsorglich tätig zu werden.
        Ganz aktuell legt die Europäische Umweltagentur in
        Kopenhagen in ihrem im Januar veröffentlichten Bericht
        „Späte Lehren aus frühen Warnungen, Band II“ dar, wa-
        rum sie, um Gefahren zu reduzieren, auch bei den elek-
        tromagnetischen Feldern die breitere Anwendung des
        „Vorsorgeprinzips“ empfiehlt. Der Bericht legt dar, dass
        wissenschaftliche Unsicherheit keine Rechtfertigung für
        Untätigkeit ist, wenn plausible Hinweise auf potenziell
        schwerwiegende Gefährdungen vorliegen.
        Die Bundesregierung legt uns nun einen Entwurf für
        die Novellierung der 26. Bundes-Immissionsschutz-
        verordnung, BImSchV, vor, der die Chance, endlich vor-
        sorgeorientierte Grenzwerte in Deutschland einzuführen,
        vergibt. Er setzt gerade einmal die längst von neuen
        wissenschaftlichen Erkenntnissen überholten EU-
        Ratsempfehlungen von 1999 um. Für die nieder-
        frequente elektromagnetische Strahlung wird immerhin
        ein Minimierungsgebot eingeführt, für die hochfre-
        quente Strahlung aber nicht. Das Gebäudeüberspan-
        nungsverbot für neue Anlagen soll es erst ab 2015 ge-
        ben, für Altanlagen soll es das überhaupt nicht geben
        und für alle 110-kV-Leitungen unverständlicherweise
        auch nicht.
        Auch die Expertenanhörung des Deutschen Bundes-
        tags zur vorgelegten Novelle am 27. Februar 2013 hat
        leider bei der Bundesregierung nicht dazu geführt, ihren
        Entwurf stärker auf neuere Erkenntnisse abzustimmen.
        Mehrheitlich machten die Experten deutlich, dass die
        bisherigen Regelungen nur auf die bestätigten, mit ei-
        nem Kausalzusammenhang zu beschreibenden akuten
        Wirkungen elektrischer, magnetischer und elektromag-
        netischer Felder beruhen und der Sicherheitsfaktor nicht
        ausreichend ist. Die wissenschaftlichen Erkenntnisse,
        die bei der IARC zur Höherstufung in der Bewertungs-
        skala führten, wurden für die vorgelegten Regelungen
        nicht berücksichtigt. Das ist vor allem vor dem Hinter-
        grund völlig inakzeptabel, dass konsistente Befunde aus
        epidemiologischen Untersuchungen zur niederfrequen-
        ten Strahlung vorliegen, wonach magnetische Felder der
        Energieversorgung schon in deutlich geringeren Intensi-
        täten als von der Verordnung zugelassen mit dem Auftre-
        ten von kindlicher Leukämie korrespondieren. Ähnli-
        ches gilt im Bereich der hochfrequenten Strahlung zu
        erhobenen Daten bezüglich bestimmter Hirntumore. Es
        ist nach den Erfahrungen mit anderen chronisch wirksa-
        men Noxen, zum Beispiel Tabakrauch, nicht zu erwar-
        ten, dass es in absehbarer Zeit gelingen wird, die in
        epidemiologischen Studien festgestellten Zusammen-
        hänge zwischen erhöhten Expositionen und chronischen
        Erkrankungen durch experimentelle Untersuchungen in
        allen Details zu stützen oder gar vom biophysikalischen
        Primärmechanismus bis zum Eintritt des nachweisbaren
        physiologischen Schadens zu erklären. Es gibt aber eben
        aus experimentellen Untersuchungen genug Hinweise
        auf gesundheitsrelevante Wirkungen technogener elek-
        trischer, magnetischer und elektromagnetischer Felder.
        Für genau solche Zusammenhänge wurde das Vorsorge-
        prinzip entwickelt.
        Die bei der Beratung der Novelle im Umweltaus-
        schuss am 13. März von der Union vorgetragene Be-
        hauptung, es gebe in Europa nur drei Länder, die ambi-
        tioniertere Grenzwerte als Deutschland festgelegt hätten,
        ist angesichts der Antwort der Bundesregierung auf eine
        Kleine Anfrage von mir (Drucksache 16/6133) nicht
        nachvollziehbar. Aus der Antwort ergibt sich, dass
        Italien, die Schweiz, Luxemburg, Großbritannien, die
        Niederlande, Schweden, Dänemark und Irland in min-
        destens einem der Bereiche Niederfrequenz oder Hoch-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 228. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 14. März 2013 28611
        (A) (C)
        (D)(B)
        frequenz niedrigere Grenzwerte als Deutschland haben.
        All diese Länder orientieren sich nicht an der Empfeh-
        lung des Rates der Europäischen Union von 1999, son-
        dern am Vorsorgeprinzip.
        Die Grünen lehnen die vorgelegte Novelle der
        26. BImSchV aus den dargelegten Gründen als unzurei-
        chend ab.
        Der Entschließungsantrag der Linken enthält die glei-
        che Kritik, die auch wir an der Novelle haben, fordert
        dann aber Grenzwerte, die nicht hergeleitet und begrün-
        det sind. Deshalb enthalten wir uns zu diesem Antrag.
        Gemeinsam mit der SPD haben wir dagegen im Aus-
        schuss einen Antrag eingebracht, der vorsorgeorientierte
        und kindgerechte Grenzwerte fordert. Außerdem müssen
        alle Stromübertragungsleitungen im Hoch- und Höchst-
        spannungsbereich in das Überspannungsverbot einbezo-
        gen werden, also auch die 110-kV-Leitungen und – mit
        angemessener Übergangszeit – die Altanlagen. Zukünf-
        tig häufig auftretende starke Feldquellen müssen in die
        Verordnung aufgenommen werden. Alle von einer An-
        lage erzeugten Frequenzen, also auch Oberwellen oder
        Seitenbänder, müssen für die Grenzwertermittlung mit
        herangezogen werden.
        Auf EU-Ebene muss eine Überarbeitung der Empfeh-
        lung des Rates der Europäischen Union 1999/519/EG
        erfolgen, die den aktuellen Wissensstand aufgreift und
        unter konsequenter Anwendung des Vorsorgeprinzips in
        allen Mitgliedstaaten ein hohes, harmonisiertes Schutz-
        niveau festlegt.
        Ursula Heinen-Esser, Parl. Staatssekretärin beim
        Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
        sicherheit: Die zur Novellierung anstehende Verordnung
        über elektromagnetische Felder regelt unter anderem
        Grenzwerte für so unterschiedliche Anlagenarten wie
        Hochspannungsleitungen und Mobilfunkanlagen.
        Die Verordnung ist seit ihrem Inkrafttreten Anfang
        1997 nicht geändert worden. Sie bedarf dringend der
        Anpassung an den heutigen technischen und wissen-
        schaftlichen Stand.
        Bisherige Regelungslücken sollen nun geschlossen
        werden. Dazu wird der Anwendungsbereich der Verord-
        nung zum Beispiel auf Anlagen, die privat oder hoheit-
        lich betrieben werden, erweitert. Damit gelten die Grenz-
        werte künftig auch für die ortsfesten Anlagen des
        Digitalfunks der Behörden und Organisationen mit Sicher-
        heitsaufgaben. Aktuell bedeutsam ist auch die Einbezie-
        hung der Anlagen der Hochspannungsgleichstromüber-
        tragung, der sogenannten HGÜ-Leitungen.
        Einen Beitrag zum Bürokratieabbau leistet die Novelle
        durch die geplante Reduzierung von Anzeigepflichten,
        die entfallen können, soweit die bislang anzuzeigenden
        Daten bereits elektronisch bei der Bundesnetzagentur
        vorhanden sind.
        Diese Änderungen sind bislang auf eine breite Zu-
        stimmung gestoßen. Von manchen wird die Frage aufge-
        worfen, ob die in der Verordnung vorgesehenen Grenz-
        werte die Bevölkerung ausreichend schützen.
        Festzuhalten ist, dass die Grenzwerte der Regierungs-
        vorlage auf der Basis wissenschaftlicher Erkenntnisse
        festgelegt worden sind. Dabei sind alle nach wissen-
        schaftlichen Standards und Grundsätzen erhaltenen For-
        schungsergebnisse einbezogen worden.
        Es gibt auch heute keine belastbaren wissenschaft-
        lichen Hinweise, diese Grenzwerte infrage zu stellen.
        Dies belegen die Ergebnisse umfangreicher Forschungen
        der letzten Jahre.
        Im Dezember 2001 hat die damalige rot-grüne Bun-
        desregierung von einer Verschärfung der Grenzwerte für
        den Mobilfunk Abstand genommen und stattdessen ihre
        sonstigen Vorsorgeanstrengungen im Bereich Mobilfunk
        verstärkt. Ich weise hier zum Beispiel auf die Einrich-
        tung einer Standortdatenbank bei der Bundesnetzagentur
        und das „Deutsche Mobilfunk-Forschungsprogramm“
        hin. Außerdem hat die damalige Bundesregierung die
        freiwillige Selbstverpflichtung der Mobilfunknetzbetrei-
        ber entgegengenommen, die Anfang 2012 ergänzt wor-
        den ist. Die Bundesregierung achtet in den jährlich
        durchzuführenden Überprüfungsgesprächen darauf, dass
        die Betreiber ihre freiwilligen Zusagen einhalten.
        Für Niederfrequenz- und Gleichstromanlagen, also
        Anlagen der Stromübertragung, enthält die Novelle übri-
        gens auch Vorsorgeregelungen.
        Diese umfassen folgende Punkte: Der Grenzwert für
        den Bahnstrom wurde der Empfehlung der Internationa-
        len Strahlenschutzkommission, ICNIRP, aus dem Jahr
        2010 entsprechend halbiert. Der bisherige Grenzwert
        von 100 Mikrotesla für das magnetische Feld bleibt un-
        verändert. Entgegen der Empfehlung der ICNIRP, den
        Grenzwert auf 200 Mikrotesla zu erhöhen, soll das bis-
        herige Schutzniveau beibehalten werden. Neu ist ein all-
        gemeines Minderungsgebot: Betreiber von Niederfre-
        quenzanlagen werden verpflichtet, die Möglichkeiten
        auszuschöpfen, die Exposition durch nichtionisierende
        Strahlung nach dem Stand der Technik zu vermindern.
        Diese allgemeine Minderungspflicht ist noch durch eine
        allgemeine Verwaltungsvorschrift zu konkretisieren. Und
        schließlich ein Überspannungsverbot: Werden neue
        Stromtrassen errichtet, dürfen die Hochspannungsstrom-
        leitungen Wohngebäude nicht mehr überspannen.
        Diese Vorsorgeregelungen haben eine unmittelbare
        Bedeutung für den Stromnetzausbau. Entsprechend in-
        tensiv sind sie mit allen Verfahrensbeteiligten auf ihre
        Angemessenheit und Ausgewogenheit hin geprüft
        worden. Ziel war es, den Schutz der Bevölkerung sicher-
        zustellen, ohne dabei den Ausbau der Stromnetze unan-
        gemessen zu erschweren. Dies wird mit der Novelle
        erreicht. Letztlich erkennen alle, die am Rechtsetzungs-
        verfahren beteiligt waren, an, dass die Novelle insgesamt
        eine deutliche Verbesserung für den Strahlenschutz
        bringt.
        228. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 3, ZP 2 Regierungserklärung zur Energieinfrastruktur
        TOP 4 Zukunftsinvestitionen in die Wirtschaft
        TOP 34, ZP 3 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 35, ZP 4 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 5 Aktuelle Stunde zu Verfassungsänderungen in Ungarn
        TOP 5 Conterganstiftungsgesetz
        TOP 6 Bilanz nach 10 Jahren Agenda 2010
        TOP 7 Sexueller Missbrauch
        TOP 8, ZP 6, 7 Gleichstellung von Lebenspartnerschaft und Ehe
        TOP 9 Kronzeugenregelung im Strafrecht
        TOP 10 Weltweite Bildungssituation
        TOP 11 Altersgeld für freiwillig ausscheidende Beamte
        TOP 12, ZP 8, 9 Hilfe für Opfer des Giftgasangriffs auf Halabja
        TOP 13 Strukturreform des Gebührenrechts des Bundes
        TOP 14 Privatisierung der öffentlichen Sicherheit
        TOP 15 Änderung der Geschäftsordnung - Verhaltensregeln
        TOP 16 Unterstützung queerer Jugendlicher
        TOP 17, ZP 10 Energieeinsparungsgesetz
        TOP 18 Elektronischer Rechtsverkehr mit Gerichten
        TOP 19 Deutschland im UN-Sicherheitsrat
        TOP 20 Umsetzung der Verbraucherrechterichtlinie
        TOP 21 Verkehrsinfrastruktur
        TOP 22 Verfahrensrechte Beschuldigter im Strafverfahren
        TOP 23 Verhütung von Folter
        TOP 24 Professorenbesoldung
        TOP 25 Mindestpersonalbemessung in der Krankenhauspflege
        TOP 26 Vorschriften über elektromagnetische Felder
        TOP 27 Kindernachzugsrecht
        Anlagen