Protokoll:
17219

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Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 219

  • date_rangeDatum: 31. Januar 2013

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:02 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:34 Uhr

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  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/219 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 219. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 I n h a l t : Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Absetzung der Tagesordnungspunkte 8, 22, 33 und 40 g . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 7: – Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregierung: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Inter- nationalen Sicherheitsunterstützungs- truppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Sicher- heitsrates der Vereinten Nationen (Drucksachen 17/11685, 17/12096) . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/12097) . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Rebmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . . Dr. Frithjof Schmidt (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bijan Djir-Sarai (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Andreas Schockenhoff (CDU/CSU) . . . . . Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 4: a) Antrag der Abgeordneten Jan van Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Keine Rüstungsexporte als Instrument der Außenpolitik – Export- verbot jetzt durchsetzen (Drucksache 17/10842) . . . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüs- tungsgüter im Jahr 2011 (Rüstungs- exportbericht 2011) (Drucksache 17/11785) . . . . . . . . . . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie – zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus Barthel, Heidemarie Wieczorek- Zeul, Edelgard Bulmahn, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion der SPD: Frühzeitige Veröffentlichung der Rüstungsexportberichte sicherstel- len – Parlamentsrechte über Rüs- tungsexporte einführen 27069 A 27070 C 27070 C 27070 D 27071 A 27071 C 27072 C 27074 A 27075 A 27076 A 27077 A 27077 C 27077 D 27079 A 27080 A 27080 D 27085 C 27081 B 27081 C Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Rüs- tungsexporte kontrollieren – Frie- den sichern und Menschenrechte wahren (Drucksachen 17/9188, 17/9412, 17/12098) . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Joachim Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . Klaus Barthel (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . . Stefan Liebich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Edelgard Bulmahn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jan van Aken (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 40: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Strukturreform des Gebühren- rechts des Bundes (Drucksache 17/10422) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes über konjunkturstatistische Erhebun- gen in bestimmten Dienstleistungsberei- chen (Dienstleistungskonjunkturstatis- tikgesetz – DLKonjStatG) (Drucksache 17/12014) . . . . . . . . . . . . . . . c) Antrag der Abgeordneten Dr. Valerie Wilms, Dr. Anton Hofreiter, Bettina Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Neustart für ein europäisches Zugsiche- rungssystem (Drucksache 17/10844) . . . . . . . . . . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Mechthild Rawert, Bärbel Bas, Elke Ferner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Rezeptfreiheit von Notfallkontrazeptiva – Pille danach – gewährleisten (Drucksache 17/11039) . . . . . . . . . . . . . . . e) Antrag der Abgeordneten Agnes Krumwiede, Birgitt Bender, Tabea Rößner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Zeitnahes Krankengeld für unständig und kurzfristig Beschäftigte sowie Selb- ständige (Drucksache 17/12067) . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Yvonne Ploetz, Dr. Martina Bunge, Cornelia Möhring, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Die Pille danach rezeptfrei machen (Drucksache 17/12102) . . . . . . . . . . . . . . h) Antrag der Abgeordneten Sevim Dağdelen, Diana Golze, Jan Korte, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für gleiche Rechte – Einbürge- rungen erleichtern (Drucksache 17/12185) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 41: a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung des von der Bundesregierung eingebrach- ten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Pro- tokoll vom 16. Mai 2012 zu den Anlie- gen der irischen Bevölkerung bezüglich des Vertrags von Lissabon (Drucksachen 17/11367, 17/12169) . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Elek- tro- und Elektronikgerätegesetzes (Drucksachen 17/11368, 17/12216) . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit zu der Verordnung der Bundesregierung: Verordnung zur Be- schränkung der Verwendung gefährli- cher Stoffe in Elektro- und Elektronikge- räten (Elektro- und Elektronikgeräte- Stoff-Verordnung – ElektroStoffV) (Drucksachen 17/11836, 17/11907 Nr. 2, 17/12216) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . d) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Viola von Cramon- Taubadel, Volker Beck (Köln), Ute Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine glaubwürdige Außenpolitik gegenüber Usbekistan (Drucksachen 17/6498, 17/7712) . . . . . . . e)–q) Beratung der Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses: Sammelübersich- ten 513, 514, 515, 516, 517, 518, 519, 520, 521, 522, 523, 524 und 525 zu Peti- tionen (Drucksachen 17/12073, 17/12074, 17/12075, 27081 C 27081 D 27083 B 27088 A 27090 B 27091 C 27092 D 27094 D 27096 B 27098 B 27100 A 27101 B 27102 D 27104 D 27105 A 27105 A 27105 A 27105 A 27105 B 27105 B 27105 C 27105 D 27106 A 27106 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 III 17/12076, 17/12077, 17/12078, 17/12079, 17/12080, 17/12081, 17/12082, 17/12083, 17/12084, 17/12085) . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 2: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bundeswahlge- setzes (Drucksachen 17/11820, 17/12174) . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 3: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Johannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD so- wie der Abgeordneten Ute Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller (Köln), weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Eine kohärente Ge- samtstrategie für Pakistan – Für eine ak- tive Einbindungsdiplomatie, Stärkung der demokratischen Kräfte und eine verlässli- che Entwicklungszusammenarbeit (Drucksachen 17/11033, 17/11451) . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: Beratung der Beschlussempfehlung des Aus- schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Durchführung der Internationalen Ge- sundheitsvorschriften (2005) und zur Än- derung weiterer Gesetze (Drucksachen 17/7576, 17/8615, 17/8871, 17/12170) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE: Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen Andrej Hunko (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas de Maizière, Bundes- minister BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rolf Mützenich (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Elke Hoff (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bernd Siebert (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Rainer Arnold (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Florian Hahn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Hans-Peter Bartels (SPD) . . . . . . . . . . . . Karin Strenz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Philipp Mißfelder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 3: a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der steu- erlichen Förderung der privaten Al- tersvorsorge (Altersvorsorge-Ver- besserungsgesetz – AltvVerbG) (Drucksachen 17/10818, 17/12219) . . – Bericht des Haushaltsausschusses ge- mäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/12220) . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Fi- nanzausschusses zu dem Antrag der Abge- ordneten Matthias W. Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Risiken der Riester-Rente offen legen – Alters- vorsorge von Finanzmärkten entkop- peln (Drucksachen 17/9194, 17/12219) . . . . . . Dr. Mathias Middelberg (CDU/CSU) . . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Grund (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Petra Hinz (Essen) (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . Annette Sawade (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . Frank Schäffler (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Karl Holmeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ingrid Arndt-Brauer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . 27106 C 27107 D 27108 A 27108 B 27108 C 27109 C 27111 B 27112 B 27113 B 27114 D 27115 D 27117 C 27118 C 27120 A 27121 A 27122 B 27124 A 27124 D 27125 A 27125 A 27125 B 27127 B 27129 B 27129 C 27130 A 27131 C 27132 D 27134 B 27136 A 27137 C 27138 C 27140 A 27140 D 27141 C 27143 A 27144 B IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 Tagesordnungspunkt 6: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Gabriele Hiller-Ohm, Karin Roth (Esslingen), Elvira Drobinski- Weiß, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Transparenz für soziale und öko- logische Unternehmensverantwortung her- stellen – Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Arbeits- und Umweltbe- dingungen auf europäischer Ebene einfüh- ren (Drucksachen 17/11319, 17/12110) . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Kerstin Andreae, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Aktiengesetzes (Drucksache 17/11686) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Johann Wadephul (CDU/CSU) . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jutta Krellmann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Golombeck (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Peter Weiß (Emmendingen) (CDU/CSU) . . . Tagesordnungspunkt 5: a) Erste Beratung des von der Bundesre- gierung eingebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts (2. Kostenrechtsmo- dernisierungsgesetz – 2. KostRMoG) (Drucksache 17/11471) . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung des Prozesskosten- hilfe- und Beratungshilferechts (Drucksache 17/11472) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Einführung von Kostenhilfe für Drittbetroffene in Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Men- schenrechte (EGMR-Kostenhilfegesetz – EGMRKHG) (Drucksache 17/11211) . . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be- grenzung der Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe (Prozesskostenhilfe- begrenzungsgesetz – PKHBegrenzG) (Drucksache 17/1216) . . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Än- derung des Beratungshilferechts (Drucksache 17/2164) . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 7: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär- kung des Erfolgsbezugs im Gerichtsvollzie- herkostenrecht (Drucksache 17/5313) . . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 8: Antrag der Abgeordneten Ingrid Hönlinger, Josef Philip Winkler, Jerzy Montag, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Kostenrechtsmoder- nisierung bei Vertretung in Asylverfahren und Übersetzungsleistungen nachbessern (Drucksache 17/12173) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger,  Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Angela Kolb, Ministerin  (Sachsen-Anhalt) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Seif (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul, Tom Koenigs, Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- 27146 A 27146 A 27146 B 27147 C 27148 C 27149 D 27150 D 27152 B 27153 B 27154 B 27155 A 27156 A 27157 D 27157 D 27158 A 27158 A 27158 A 27158 A 27158 B 27158 B 27159 C 27161 A 27162 C 27164 B 27165 C 27167 B 27168 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 V NIS 90/DIE GRÜNEN: Sahel-Region stabi- lisieren – Humanitäre Katastrophe ein- dämmen (Drucksachen 17/10792, 17/11431) . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Strässer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Heinrich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Christine Buchholz (DIE LINKE) . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherkennung und zur Qualitätssi- cherung durch klinische Krebsregister (Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz – KFRG) (Drucksachen 17/11267, 17/12221) . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martina Bunge (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Lothar Riebsamen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Beschlussempfehlung und Bericht des Sport- ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster, Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Die Rolle des Sports in der Auswärtigen Kultur- und Bil- dungspolitik  (Drucksachen 17/9731, 17/11580) . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Freitag (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Joachim Günther (Plauen) (FDP) . . . . . . . . . . Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Viola von Cramon-Taubadel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Eberhard Gienger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Reform der elterli- chen Sorge nicht miteinander verheira- teter Eltern (Drucksachen 17/11048, 17/12198) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsausschusses – zu dem Antrag der Fraktion der SPD: Neuregelung der elterlichen Sorge bei nicht verheirateten Eltern – zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn Wunderlich, Dr. Diether Dehm, Heidrun Dittrich, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion DIE LINKE: Neu- regelung des Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Eltern – zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gemeinsames elterliches Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern (Drucksachen 17/8601, 17/9402, 17/3219, 17/12198) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Karin Roth (Esslin- gen), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding (Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Soziale Sicherung als Motor solidarischer und nachhalti- ger Entwicklungspolitik (Drucksachen 17/7358, 17/11429) . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Uwe Kekeritz, Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: 27169 C 27169 D 27170 D 27172 C 27174 C 27175 B 27176 B 27176 C 27177 D 27179 A 27180 A 27180 D 27181 D 27182 C 27182 D 27184 A 27184 A 27185 B 27187 A 27188 A 27188 C 27189 C 27190 C 27191 D 27191 D 27192 B 27193 B 27194 A 27195 C 27196 C 27197 B 27198 B 27200 A VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 Aktionsplan Soziale Sicherung – Ein Beitrag zur weltweiten sozialen Wende (Drucksachen 17/11665, 17/11960) . . . . . Helga Daub (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Roth (Esslingen) (SPD) . . . . . . . . . . . . Sibylle Pfeiffer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Sabine Weiss (Wesel I) (CDU/CSU) . . . . . . . Niema Movassat (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Heiderich (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Außen- wirtschaftsrechts (Drucksachen 17/11127, 17/12101) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 14: Antrag der Abgeordneten Kornelia Möller, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Reisen für alle – Für einen sozialen Tourismus (Drucksache 17/11588) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur zu- sätzlichen Förderung von Kindern un- ter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (Drucksachen 17/12057, 17/12217) . . . . . – Bericht des Haushaltsausschusses gemäß § 96 der Geschäftsordnung (Drucksache 17/12218) . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Erste Beratung des von den Abgeordneten Markus Kurth, Volker Beck (Köln), Wolfgang Wieland, weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Um- setzung der UN-Behindertenrechtskonven- tion im Wahlrecht (Drucksache 17/12068) . . . . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Reinhard Grindel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Stefan Ruppert (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Schmidt (Aachen) (SPD) . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur innerstaatli- chen Umsetzung des Fiskalvertrags (Drucksachen 17/12058, 17/12222) . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenstands- rechtlicher Vorschriften (Personenstands- rechts-Änderungsgesetz-PStRÄndG) (Drucksachen 17/10489, 17/12192) . . . . . . . . Stefanie Vogelsang (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Dr. Sascha Raabe, Wolfgang Tiefensee, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Transparenz in den Zahlungsflüssen im Rohstoffbereich und keine Nutzung von Konfliktmineralien (Drucksache 17/11876) Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 20: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur 27200 A 27200 B 27201 B 27203 A 27203 C 27204 D 27205 D 27206 D 27208 B 27208 C 27208 D 27209 A 27209 B 27209 C 27210 C 27212 D 27213 B 27213 D 27215 A 27215 B 27216 D 27217 A 27217 B 27218 A 27219 B 27220 B 27221 A 27221 D 27223 A 27224 A 27225 C 27227 A 27227 D 27228 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 VII Änderung des Telekommunikationsgeset- zes und zur Neuregelung der Bestands- datenauskunft (Drucksache 17/12034) . . . . . . . . . . . . . . . . . Armin Schuster (Weil am Rhein)  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Hartmann (Wackernheim)  (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Gisela Piltz (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Korte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ole Schröder, Parl. Staatssekretär  BMI . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: a) Antrag der Abgeordneten Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra Crone, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Förderung des ökologischen Landbaus – Wachstumspotentiale in Deutschland für deutsche Produzenten erschließen (Drucksache 17/10862) . . . . . . . . . . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Ernährung, Landwirt- schaft und Verbraucherschutz zu dem An- trag der Abgeordneten Heinz Paula, Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Ökologische Land- und Lebens- mittelwirtschaft stärken (Drucksachen 17/7186, 17/8954) . . . . . . . Hans-Georg von der Marwitz  (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heinz Paula (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Alexander Süßmair (DIE LINKE) . . . . . . . . . Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 24: Zweite und dritte Beratung des von der Bun- desregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung versicherungs- rechtlicher Vorschriften (Drucksachen 17/11469, 17/12199) . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Ingo Egloff (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Judith Skudelny (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Antrag der Abgeordneten Inge Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Uranmunition ächten (Drucksache 17/11898) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Reinhard Brandl (CDU/CSU) . . . . . . . . Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Uta Zapf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Zweite und dritte Beratung des vom Bundes- rat eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum Schutz des Erbrechts und der Verfah- rensbeteiligungsrechte nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder im Nachlassver- fahren (Drucksachen 17/9427, 17/12212) . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef Fell, weiteren Abgeord- neten und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe (Drucksachen 17/9390, 17/10182) . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Wirtschaft und Technolo- gie – zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf Hempelmann, Doris Barnett, Klaus Barthel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Anpassung des deutschen Bergrechts – zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-Schröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Novelle des Bundesberggesetzes und ande- 27229 D 27229 D 27230 D 27231 B 27232 B 27233 B 27235 D 27236 D 27237 A 27237 A 27238 B 27239 D 27240 D 27241 C 27242 C 27242 D 27243 C 27244 A 27244 D 27245 D 27246 D 27246 D 27247 C 27248 A 27249 C 27250 A 27251 A 27251 D 27251 D 27253 B 27253 D 27254 D 27255 C 27256 C VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 rer Vorschriften zur bergbaulichen Vorhabengenehmigung – zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver Krischer, Stephan Kühn, Undine Kurth (Quedlinburg), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein neues Bergrecht für das 21. Jahr- hundert (Drucksachen 17/9560, 17/9034, 17/8133, 17/10182) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Todtenhausen (FDP) . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters (Drucksache 17/12163) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Granold (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundesministerin BMJ . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 9: Antrag der Abgeordneten Angelika Graf (Ro- senheim), Dr. Edgar Franke, Dr. Carola Reimann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Überlebenshilfe in der Drogenpolitik – Situation der Substitution von Opiatabhängigen verbessern und Sub- stitutionsbehandlung im Strafvollzug ge- währleisten (Drucksache 17/12181) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Achten Geset- zes zur Änderung des Urheberrechtsgeset- zes (Drucksache 17/12013) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ansgar Heveling (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Burkhard Lischka (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Max Stadler, Parl. Staatssekretär  BMJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung der berufli- chen Aus- und Weiterbildung in der Alten- pflege (Drucksache 17/12179) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Erwin Rüddel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE) . . . . . Elisabeth Scharfenberg (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Erste Beratung des vom Bundesrat einge- brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände- rung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Drucksache 17/12036) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: Antrag der Abgeordneten Maria Michalk, Karl Schiewerling, Paul Lehrieder, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Molitor, Dr. Heinrich L. Kolb, Sebastian Blumenthal, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben aus- schöpfen (Drucksache 17/12180) . . . . . . . . . . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Silvia Schmidt (Eisleben) (SPD) . . . . . . . . . . Gabriele Molitor (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27256 C 27256 D 27258 B 27259 A 27259 D 27260 C 27262 A 27262 A 27263 B 27264 A 27264 B 27265 B 27266 C 27266 C 27266 D 27267 B 27268 A 27268 C 27269 D 27270 D 27270 D 27271 D 27272 D 27273 B 27273 D 27274 D 27276 A 27276 B 27276 C 27277 C 27278 C 27279 D 27281 B 27282 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 IX Zusatztagesordnungspunkt 10: a) Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU-weite Regelungen zur Durchfüh- rung von klinischen Prüfungen mit Hu- manarzneimitteln – Schutz der Teilneh- merinnen und Teilnehmer sicherstellen – hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Ge- setzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bun- destag in Angelegenheiten der Europäi- schen Union (Drucksache 17/12183) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Kathrin Vogler, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, wei- terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: EU-weite Regelungen zur Durchführung von klinischen Prüfun- gen mit Humanarzneimitteln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen – hier: Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Arti- kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zu- sammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angele- genheiten der Europäischen Union (Drucksache 17/12184 (neu)) . . . . . . . . . . Kathrin Vogler (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Neuabdruck der Antwort des Parl. Staatsse- kretärs Hans-Joachim Otto auf die Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) (218. Sitzung, Druck- sache 17/12162, Frage 36) . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunter- stützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Füh- rung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zu- letzt Resolution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten Na- tionen (Tagesordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ute Koczy (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Tabea Rößner und Josef Philip Winkler (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fort- setzung der Beteiligung bewaffneter deut- scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna- tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assis- tance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolu- tion 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Si- cherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages- ordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Agnes Brugger, Katja Dörner, Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting-Uhl, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Lisa Paus, Ulrich Schneider, Dr. Gerhard Schick und Dorothea Steiner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortset- zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationa- len Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha- nistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Sicher- heitsrates der Vereinten Nationen (Tagesord- nungspunkt 7) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Omid Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, Priska Hinz (Herborn), Tom Koenigs, Nicole Maisch, Jerzy Montag, Manuel Sarrazin, Markus Tressel und Daniela Wagner (alle BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung zu 27283 A 27283 A 27283 B 27284 B 27285 D 27287 A 27287 C 27287 C 27287 D 27288 B 27288 D 27289 C 27290 A X Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an dem Ein- satz der Internationalen Sicherheitsunterstüt- zungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Füh- rung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zu- letzt Resolution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten Na- tionen (Tagesordnungspunkt 7) . . . . . . . . . . . Anlage 7 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Gesetzes zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander ver- heirateter Eltern (Tagesordnungspunkt 11 a) Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Jarzombek (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisie- rung des Außenwirtschaftsrechts (Tagesord- nungspunkt 13) Erich G. Fritz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Andreas G. Lämmel (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Rolf Hempelmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Lötzer (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . . . . . Katja Keul (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär  BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Reisen für alle – Für einen sozia- len Tourismus (Tagesordnungspunkt 14) Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Kornelia Möller (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Markus Tressel (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur zusätzlichen Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege (Tagesordnungspunkt 15) Andreas Mattfeldt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dagmar Ziegler (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Miriam Gruß (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur innerstaatli- chen Umsetzung des Fiskalvertrags (Tages- ordnungspunkt 17) Norbert Barthle (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU). . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . Dr. Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE) . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention im Wahl- recht (Tagesordnungspunkt 25) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und an- derer Gesetze (Tagesordnungspunkt 31) Heike Brehmer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Paul Lehrieder (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Angelika Krüger-Leißner (SPD) . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Überlebenshilfe in der Drogen- politik – Situation der Substitution von Opiat- 27291 B 27292 B 27292 D 27293 B 27295 D 27296 C 27297 C 27298 C 27299 B 27300 A 27301 B 27302 C 27303 C 27304 B 27305 C 27306 D 27306 C 27308 B 27309 C 27310 C 27311 B 27312 A 27312 D 27313 C 27315 B 27316 B 27316 D 27317 B 27318 C 27319 C 27320 C 27321 D 27322 C 27323 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 XI abhängigen verbessern – Substitutionsbe- handlung im Strafvollzug gewährleisten (Zusatztagesordnungspunkt 9) Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE). . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag der Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU-weite Regelungen zur Durchführung von klinischen Prüfungen mit Human- arzneimitteln – Schutz der Teilnehmerin- nen und Teilnehmer sicherstellen; hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta- ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund- gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegen- heiten der Europäischen Union – Antrag der Fraktion DIE LINKE: EU- weite Regelungen zur Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarznei- mitteln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen; hier: Stellung- nahme des Deutschen Bundestages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam- menarbeit von Bundesregierung und Deut- schem Bundestag in Angelegenheiten der Europäischen Union (Zusatztagesordnungspunkt 10 a und b) Rudolf Henke (CDU/CSU). . . . . . . . . . . . . . . Stephan Stracke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27324 A 27325 C 27326 D 27327 B 27328 A 27329 B 27331 A 27332 B 27333 B 27334 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27069 (A) (C) (D)(B) 219. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 Beginn: 9.02 Uhr
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    Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27287 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Neuabdruck der Antwort des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) (218. Sitzung) (Drucksache 17/12162, Frage 36): Wann wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundes- tag den nach § 3 des Energieleitungsausbaugesetzes, EnLAG, seit dem 1. Oktober 2012 fälligen Fortschrittsbericht zum Ausbau der Höchstspannungsnetze vorlegen, vor dem Hinter- grund, dass die Bundesnetzagentur die Prüfung des Netzent- wicklungsplans inzwischen abgeschlossen hat, was die Bun- desregierung in ihrer Antwort auf meine mündliche Frage 79, Plenarprotokoll 17/210, als Grund für die Verzögerung ange- geben hat, und was sind die Gründe für die weitere Verspä- tung? Der Bericht wurde mit Schreiben vom 4. Dezember 2012 an den Deutschen Bundestag übersandt. Anlage 3 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit- kräfte an dem Einsatz der Internationalen Si- cherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutio- nen, zuletzt Resolution 2069 (2012) vom 9. Ok- tober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 7) Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Die Entscheidung des Parlamentes über den Ein- satz von Soldatinnen und Soldaten in Krisengebieten und bei kriegerischen Auseinandersetzungen übertragen jedem Abgeordneten eine besonders hohe Verantwor- tung. Denn mit dieser Entscheidung ist unmittelbar eine Entscheidung über Menschenleben verbunden. Nach sehr gründlicher Abwägung zu den Zielen, den Risiken und der geplanten Vorgehensweise dieses Einsatzes habe ich mich entschieden, mich bei der Entscheidung zu ei- ner Fortsetzung des ISAF-Mandates zu enthalten. Einerseits stimme ich den genannten Zielen des Ein- satzes zu einer Befriedung Afghanistans ausdrücklich zu. Und ich weiß, dass nach jahrelangen kriegerischen Auseinandersetzungen der Aufbau einer Zivilgesell- schaft viel Einsatz, auch Risikoübernahme und vor allem Zeit erfordert. An dieser Stelle sage ich ausdrücklich Dank den Soldatinnen und Soldaten, die bereit sind, die mit dem Einsatz in Afghanistan verbundenen erhebli- chen Risiken zu tragen. Aber der Einsatz hat sich auch gelohnt. Es gab beim zivilen Aufbau erkennbare Fort- schritte. Schulen wurden errichtet, Brunnen angelegt, Straßen gebaut. Die Zivilgesellschaft und vor allem Frauen genießen heute in vielen Regionen einen ganz  Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Brase, Willi SPD 31.01.2013 Canel, Sylvia FDP 31.01.2013 Dittrich, Heidrun DIE LINKE 31.01.2013 Heil, Hubertus SPD 31.01.2013 Dr. Hendricks, Barbara SPD 31.01.2013 Humme, Christel SPD 31.01.2013 Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 31.01.2013 Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 31.01.2013 Kudla, Bettina CDU/CSU 31.01.2013 Menzner, Dorothée DIE LINKE 31.01.2013 Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 31.01.2013 Remmers, Ingrid DIE LINKE 31.01.2013 Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 31.01.2013 Schlecht, Michael DIE LINKE 31.01.2013 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 31.01.2013 Schreiner, Ottmar SPD 31.01.2013 Sendker, Reinhold CDU/CSU 31.01.2013 Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 31.01.2013 Thönnes, Franz SPD 31.01.2013 Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 31.01.2013 Widmann-Mauz, Annette CDU/CSU 31.01.2013 Ziegler, Dagmar SPD 31.01.2013 Anlagen 27288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) anderen Schutz und haben ganz andere Möglichkeiten, als sie es unter der Herrschaft von Extremisten erfahren haben und erwarten könnten. Unter militärischem Schutz gerade auch der Bundeswehr arbeiten demokratische Nichtregierungsorganisation am Aufbau demokratischer Strukturen in Afghanistan. Ohne diesen Schutz ausländi- scher Streitkräfte hätten diese Projekte nicht umgesetzt werden können. Und wir wissen, ein schneller und unge- ordneter Abzug dieser Truppen würde zivile Helfer im Land gefährden und potenziell das Engagement dieser Menschen vor Ort unmöglich machen. Andererseits haben die ausländischen Truppen und auch die Bundeswehr bzw. die Bundesregierung sich nie wirklich klar und unmissverständlich allein diesen Zie- len des zivilen Aufbaus verpflichtet und alle Maßnah- men und Aktionen strikt an diesen Zielen ausgerichtet. Dabei geht es mir nicht um die bloße Anzahl der nach Afghanistan gesandten Soldatinnen und Soldaten. Es geht mir um die Umsetzung konkreter Ziele. Der vorlie- gende Antrag der Bundesregierung enthält nur wenig Konkretes zur zivilen Zukunft des Landes. Die Bundes- regierung müsste klar benennen, welche Projekte sie im Zuge der Entwicklungszusammenarbeit fördern will, und sie muss ihre Zusagen aus der Geberkonferenz 2012 in Tokio einhalten. Es fehlen ein klares Bekenntnis der Bundesregierung, sich gegenüber den ISAF-Partnern für eine Beendigung von nicht mit dem Völkerrecht verein- baren gezielten Tötungen einzusetzen, und die unmiss- verständliche Aussage, dass sich die Bundeswehr nicht an solchen Aktionen beteiligt. Bei jedem militärischen Einsatz ist die klare Ausrichtung der Maßnahmen auf ei- nen zivilen Aufbau unabdingbar, im Prinzip erfüllt der vorgelegte Antrag der Bundesregierung diese Anforde- rungen nicht. Mit meiner Enthaltung zum vorliegenden Antrag der Bundesregierung will ich meine Zustimmung zu den Zielen, zu vielen Projekten und der Vorgehensweise der Bundeswehr ausdrücken, gleichzeitig aber meiner Kritik an der Nichteinhaltung von unabdingbaren Vorausset- zungen für eine Entsendung von Einsatztruppen Aus- druck verleihen. Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit die- sem Mandat will die Bundesregierung den Abzug der ISAF-Truppen aus Afghanistan bis Ende 2014 vorberei- ten. Damit tritt das deutsche Engagement in eine neue Phase ein. Ich werde mich zu diesem Mandat enthalten, das ich aus vielen Gründen für nicht zustimmungsfähig halte. So kritisiere ich, dass keine konzipierte und glaub- hafte Abzugsplanung vorliegt, dass immer noch keine unabhängige Evaluation des deutschen Engagements in Afghanistan stattfindet und es bis heute keine Agenda bis 2014 und danach gibt. Die schwierigste Situation erleben jedoch jetzt die Menschen in Afghanistan. Niemand kann vorhersehen, wie die verschiedenen Akteure in Afghanistan und der Region auf einen Truppenabzug reagieren werden. Die Sicherheitslage bleibt schwierig, die regierungsfeindli- chen Kräfte bleiben gefährlich und bedrohen die Bevöl- kerung, vielfach tödlich. Mir ist daher mit meinem Votum das politische Signal wichtig, dass es weiterhin eine internationale Verantwortung gibt, den Menschen in Afghanistan nach den langen Jahren des Krieges den Weg zu einer Entwicklung in Frieden zu ermöglichen. Der Einsatz in Afghanistan ist immer noch großen Gefahren ausgesetzt. Ich möchte an dieser Stelle meinen Dank und meine Wertschätzung ausdrücken für all dieje- nigen, die als zivile Helferinnen und Helfer, als Soldatin- nen und Soldaten, in Verbindung mit ihren Familienan- gehörigen, Aufgaben in Afghanistan erfüllen. Dieses Mandat fordert in Afghanistan mitunter den höchsten Einsatz, und das darf nie vergessen werden. In Afghanistan findet eine Zeitenwende statt. Die kommenden zwei Jahre sind eine Phase des Übergangs, in der die Beendigung des ISAF-Engagements vollzogen werden soll. Ziel ist es, dass die afghanische Regierung in der Lage ist, die Sicherheitsverantwortung landesweit und so vollständig wie möglich wahrzunehmen. Daher verändert sich auch das Mandat für Afghanistan, wenn die deutschen Truppen verringert werden. Unglaubwür- dig ist jedoch, dass bis zum 28. Februar 2014 immer noch mindestens 3 300 deutsche Soldatinnen und Solda- ten in Afghanistan stationiert sein werden. Zweifel, dass ein wirklicher Abzug mit dieser großen Zahl bis Ende 2014 damit möglich wird, sind begründet. Die Transition ist für Afghanistan ein extremes Ri- siko, aber hoffentlich auch mit Chancen verbunden. Der damit verbundene Abzug stellt jedoch auch die interna- tionale Gemeinschaft und Deutschland vor komplexe Aufgaben. Auch schwinden mit einer abnehmenden Zahl an Soldatinnen und Soldaten die mediale Aufmerk- samkeit und die politische Bereitschaft, sich den weiter bestehenden Problemen intensiv zu widmen. Wir dürfen die Menschen in Afghanistan aber nicht alleinlassen. In Deutschland muss energisch dafür einge- treten werden, dass die angekündigte langfristige Unter- stützung im zivilen und im entwicklungspolitischen Be- reich tatsächlich verwirklicht wird. Deutschland muss zu seinen Versprechen und seiner Verantwortung für Afgha- nistan stehen. Daher ist es ein fatales Signal, wenn die Bundesregierung die Mittel für den zivilen Aufbau um 10 Millionen Euro für 2013 gekürzt hat. Dabei hatte sie noch auf der Tokio-Konferenz 2012 versprochen, 430 Millionen Euro bis 2015 jährlich bereitzustellen. Hier zeigt sich die Brüchigkeit der geleisteten Verspre- chen auf internationaler Ebene. Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Den Antrag zum Kriegseinsatz der Bundeswehr in Afghanistan lehne ich ab. Seit mehr als elf Jahren führt Deutschland inzwischen Krieg in Afghanistan. Zehntausende Menschen, ganz überwiegend Zivilisten, sind getötet und verletzt wor- den. Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung lehnen den Krieg ab. Er ist nicht zu gewinnen. Trotzdem soll er fort- gesetzt werden, zunächst bis März nächsten Jahres mit bis zu 4 400 Soldaten. Dann soll das Mandat erneut ver- längert werden, mindestens bis Ende 2014. Tausende Menschen werden wieder Opfer sein, meist afghanische Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27289 (A) (C) (D)(B) Zivilisten, Polizisten und Soldaten, aber auch Nato-Sol- daten. Die Versicherungen der Bundesregierung bezüglich einer fortschreitenden Verbesserung der Sicherheitslage der Bevölkerung sind trügerisch. Aktuelle Auswertun- gen internationaler Organisationen zeichnen ein anderes Bild. Sie gehen davon aus, dass die afghanischen Sicher- heitskräfte überfordert und unvorbereitet auf den Über- gang sind. Dafür spricht auch die hohe Zahl der im letz- ten Jahr getöteten afghanischen Sicherheitskräfte, über 3 000. Und die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölke- rung ist im letzten halben Jahr wieder gestiegen. Weiter Krieg führen, ist der falsche Weg. Die offen- sive Aufstandsbekämpfung durch die ISAF-Truppen führt unweigerlich zu weiterer Eskalation. Wertvolle Zeit wird vertan. Anstatt Kommandounternehmen und gezielte Tötungen einzustellen und mit den Aufständi- schen über Waffenstillstand und die Erhaltung des bisher Erreichten zu verhandeln, wird weitergemacht bis zum bitteren Ende in der Hoffnung, es werde noch alles gut und sicher in Afghanistan. Völkerrechtswidrige gezielte Tötungen von „feindlichen Kämpfern“ durch Spezialein- heiten oder bewaffnete Drohnen werden intensiviert. Im deutschen Verantwortungsbereich wurden Kampfdroh- nen mit Tötungsauftrag stationiert. Aufgrund welcher Informationen die Todeslisten erstellt werden, ist un- durchsichtig und nicht überprüfbar. Den gezielten Tö- tungen fallen häufig am Krieg völlig Unbeteiligte oder zu Unrecht Denunzierte zum Opfer. Die Bundesregie- rung behauptet, die Bundeswehr beteilige sich nicht an solchen Tötungen. Sie hat aber eingeräumt, sie könne nicht ausschließen, dass Informationen, die sie für Aktio- nen zur Gefangennahme liefert, nicht doch zum Auffül- len der Tötungslisten für Drohnen oder Special Forces der Alliierten genutzt werden. Die Folge sind immer neuer Hass, Gewalt und Krieg, und Verhandlungen kom- men nicht zustande. Ohne Verhandlungen, Vereinbarun- gen und Waffenstillstandsabkommen mit den Aufständi- schen wird es nichts mit mehr Sicherheit, auch nicht bis Ende 2014. Und viel schlimmer noch: Als Konsequenz für die Zeit danach droht erneut ein fürchterlicher Bürgerkrieg – oder doch die Verlängerung des NATO-Kampfeinsatzes und Krieges. Dann wird es ein neues „Schutzmandat“ mit Kampf- auftrag geben. Auch das ISAF-Mandat war ursprünglich lediglich ein Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung und der Regierung in Kabul – anders als das Mandat Enduring Freedom. Es wurde zum Kriegsmandat von heute umgedeutet. Ein Weiter-so darf es nicht geben. Der Krieg in Af- ghanistan muss unverzüglich beendet werden. Die Alter- nativen sind Verhandlungen mit allen Beteiligten, auch den Aufständischen, und Waffenstillstandsabkommen, vielleicht zunächst regionale wie in dem Verantwor- tungsbereich der Bundeswehr. Deshalb stimme ich mit Nein. Anlage 4 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Tabea Rößner und Josef Philip Winkler (alle BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab- stimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungs- truppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re- solution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages- ordnungspunkt 7) Auf der Londoner Afghanistan-Konferenz 2010 ha- ben die an ISAF beteiligten Nationen die Beendigung des Einsatzes bis Ende 2014 beschlossen. Die afghani- schen Sicherheitskräfte sollen dazu befähigt werden, selbst für die Sicherheit in Afghanistan zu sorgen. Wir wollen, dass Deutschland bis dahin weiterhin einen Bei- trag dazu leistet, die afghanischen Sicherheitskräfte aus- zubilden. Die Entscheidung, den ISAF-Militäreinsatz zu been- den, ist richtig. Mit seinem Ende wird dem politischen Prozess endlich Vorrang gegeben. Denn nur politisches und ziviles Engagement kann der afghanischen Bevölke- rung eine wahrhaft nachhaltige Perspektive bieten. Nur zivile Aufbauhilfe kann zum Aufbau von Verwal- tungsstrukturen, eines Justiz-, Bildungs- oder auch Ge- sundheitssystems beitragen. Nur durch die zivilen Anstrengungen kann sich eine nachhaltige Wirtschafts- perspektive entwickeln. Die zivile Aufbaustrategie darf militärischen Zielsetzungen nicht untergeordnet werden. Unsere Erwartung in ein neues ISAF-Mandat ist, dass es einen eindeutigen und entschlossenen Weg in Rich- tung der Beendigung des Einsatzes Ende 2014 darlegt. Der nun vorgelegte Antrag der Bundesregierung wird diesem Anspruch jedoch nicht gerecht. Im Besonderen betrifft dies die Mandatsobergrenze, die auf 4 400 Solda- tinnen und Soldaten festgelegt wurde. In der Begrün- dung wird bis zum Mandatsende eine Reduktion der Truppenzahl auf 3 300 in Aussicht gestellt. Wenn am 1. März 2014 noch mehr als 3 000 Soldatinnen und Sol- daten in Afghanistan stehen, scheint uns ein vollständi- ger Abzug der Bundeswehr bis Ende 2014 nur schwer durchführbar. Zur geplanten Folgemission ab 2015 fehlen konkrete Informationen. In der Begründung des Mandats wird le- diglich darauf hingewiesen, dass eine Folgemission mit deutlich geringerem Personalansatz geplant werde. Was dies genau bedeutet, ist jedoch unklar. Mit der durch die Bundesregierung vorgelegten Entwicklung der Kontin- gentgröße ist zu befürchten, dass auch ab 2015 eine vier- stellige Zahl von Soldatinnen und Soldaten der Bundes- wehr in Afghanistan verbleiben soll. Aus unserer Sicht erzeugt das vorgelegte Mandat eine Pfadabhängigkeit für die Folgemission, die wir nicht mittragen wollen. 27290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Gleichzeitig sehen wir, dass Deutschland durch sei- nen Einsatz in Afghanistan eine Schutzverantwortung für die afghanische Bevölkerung übernommen hat. Die- ser Verantwortung müssen wir sowohl mit unserem zivi- len als auch militärischen Engagement weiter gerecht werden. Unser Ziel ist es, das militärische Engagement rasch und entschlossen zu reduzieren. Ein sofortiger Ab- zug würde aus unserer Sicht nicht nur bereits Erreichtes, sondern auch die Zukunft der afghanischen Kinder, Frauen und Männer in existenzieller Art und Weise ge- fährden. Wir haben uns in der Summe dazu entschieden, uns bei der Abstimmung über die Fortsetzung des ISAF- Mandates der Bundeswehr zu enthalten. Dies ist eine Gewissensentscheidung. Der Entschließungsantrag unserer Fraktion findet un- sere Unterstützung und legt unsere Position im Hinblick auf den Afghanistan-Einsatz näher dar. Anlage 5 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Agnes Brugger, Katja Dörner, Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting- Uhl, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Lisa Paus, Ulrich Schneider, Dr. Gerhard Schick und Dorothea Steiner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fortset- zung der Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis- tan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Resolution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 7) Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundes- wehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, die Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen ha- ben, und fordert wie kaum eine andere das Gewissen und Herz der Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Dem Engagement der in Afghanistan eingesetzten zivilen Helferinnen und Helfer, Soldatinnen und Soldaten sowie ihren Familienangehörigen gilt unser großer Dank und unsere Wertschätzung. Das vorliegende Mandat versagt dabei, den vollstän- digen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vorzube- reiten. Die Politik der Bundesregierung und das ISAF- Mandat schreiben das Primat des Militärischen vor dem Zivilen weiter fort. Nach wie vor finden in Afghanistan durch ISAF-Nationen verübte gezielte Tötungen durch Kommandoaktionen und Drohnenangriffe statt, die eine Verhandlungslösung konterkarieren. Wir stimmen gegen einen solchen Militäreinsatz, der zur Gewalteskalation beiträgt und kontraproduktiv für die Schaffung von Frie- den in Afghanistan ist. Strategie der Aufstandsbekämpfung schmälert Chan- cen auf Frieden: Seit über einem Jahrzehnt beteiligt sich die Bundeswehr am ISAF-Einsatz in Afghanistan. Noch immer ist die Sicherheitslage sehr angespannt, unbere- chenbar und besorgniserregend. Die vergangenen Jahre waren geprägt von gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen ISAF-Truppen und afghanischen Sicherheits- kräften auf der einen Seite und Taliban und anderen Aufständischen auf der anderen. Für die meisten zivilen Opfer sind die Anschläge der Aufständischen verant- wortlich. Aber auch die Strategie der offensiven Auf- standsbekämpfung durch die ISAF-Truppen hat zu einer zunehmenden Eskalation beigetragen. Die vor allem von den USA und anderen ISAF-Nationen weiter durch- geführten massiven gezielten Tötungen mit zahlreichen zivilen Opfern in Afghanistan und Pakistan tragen nach wie vor maßgeblich zur Eskalation der Gewalt bei. Der Einsatz von bewaffneten Drohnen fordert zahlreiche zivile Opfer, zerstört den Rückhalt in der afghanischen Bevölkerung und fördert die Radikalisierung und den Zulauf bei den Aufständischen. So werden die Bemü- hungen um eine Verhandlungslösung, die Stabilisierung der Sicherheitslage und der Erfolg des Transitions- prozesses in Afghanistan massiv konterkariert. Die Stra- tegie, mit militärischen Mitteln den Frieden in Afghanis- tan erzwingen zu wollen, ist gescheitert. Keine glaubwürdige Abzugsplanung: Das vorlie- gende Mandat ist weit davon entfernt, die Voraussetzun- gen für einen geordneten und glaubwürdigen Abzug der Bundeswehr bis 2014 aus Afghanistan zu schaffen. Es sieht weiterhin eine Obergrenze von 4 400 Soldatinnen und Soldaten vor und stellt selbst bei positiver Entwick- lung der Sicherheitslage bis März 2014 immer noch 3 300 deutsche Einsatzkräfte zur Verfügung. Mit einem Abzugsmandat hat eine solche Kontingentplanung nichts zu tun. Die Bundesregierung stellt damit den selbst angekündigten und international vereinbarten Abzug in- frage, der unter diesen Bedingungen nur noch schwer durchführbar scheint. In der NATO beteiligt sich die Bundesregierung bereits an der Planung einer ISAF- Nachfolgemission. Weder über den geplanten Umfang einer möglichen deutschen militärischen Beteiligung noch über die Strategie und die völkerrechtliche Grund- lage eines solchen Einsatzes gibt es vonseiten der Bun- desregierung Aufklärung. Wenn wir wollen, dass die Bundeswehr bis 2014 abzieht, brauchen wir hierzu be- reits jetzt ein Mandat, das die Voraussetzungen für einen geordneten Abzugsprozess im nächsten Mandatszeit- raum schafft. Es steht aber im Gegenteil zu befürchten, dass die Pläne der Bundesregierung darauf angelegt sind, Vorfestlegungen in Bezug auf eine Nachfolgemis- sion zu schaffen und eine vierstellige Zahl von Bundes- wehrangehörigen auch nach 2014 in Afghanistan zu sta- tionieren. Dieses Verfahren ist nicht nur intransparent, sondern hat mit Mandatswahrheit und -klarheit gegen- über Parlament und Öffentlichkeit nichts zu tun. Versöhnung und Wiederaufbau verlässlich unterstüt- zen: Für einen nachhaltigen Frieden in Afghanistan muss ein breiter Versöhnungsprozess stattfinden und der wirt- schaftliche und institutionelle Wiederaufbau des Landes vorangetrieben werden. Menschenrechtsverletzungen, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27291 (A) (C) (D)(B) ungeachtet von welcher Seite, müssen aufgedeckt und aufgearbeitet werden. Nur so gibt es eine Chance, dass der Versöhnungsprozess in der nach wie vor traumati- sierten und zerrissenen afghanischen Gesellschaft gelin- gen kann. Ein Waffenstillstand alleine reicht nicht aus, um Frieden zu schaffen. Auch wenn dies im von Krieg und Gewaltherrschaft geprägten Afghanistan schwierig ist und schmerzhafte Kompromisse abverlangt, müssen alle Möglichkeiten genutzt werden, um ein größtmögli- ches Maß an Gerechtigkeit walten zu lassen. Diese mit einem echten Versöhnungsprozess verbundenen Heraus- forderungen werden von dem vorliegenden Mandat und der Afghanistan-Politik der Bundesregierung nicht ange- gangen. Wiederaufbau und Versöhnung gehören ins Zen- trum der Afghanistan-Politik. Doch die Unterstützung bei der Entwicklung grundlegender Staatsstrukturen und einer funktionierenden Verwaltung wird weiterhin ver- nachlässigt. Darüber hinaus fehlt es an einem Gesamt- konzept und einer sinnvollen Schwerpunktlegung für die wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans. Diese muss sich an den Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung und den Gegebenheiten vor Ort orientieren. Der für die afghanische Wirtschaft zentrale landwirtschaftliche Sek- tor und die Modernisierung des afghanischen Bildungs- systems müssen dabei im Vordergrund stehen. Ein weite- rer wichtiger Schwerpunkt im Rahmen des zivilen Wiederaufbaus ist die Stärkung der Zivilgesellschaft. Der Weg zu einem nachhaltigen Frieden in Afghanis- tan ist noch lang und steinig und erfordert eine langfris- tige und verlässliche Unterstützung durch die internatio- nale Gemeinschaft. Das vorliegende Mandat bleibt eine Antwort auf die Frage schuldig, wie das deutsche Enga- gement für den Aufbau in Afghanistan in einem ange- messenen Umfang fortgesetzt werden kann und lässt an- ders als das Vorgängermandat die Höhe der Mittel für den zivilen Wiederaufbau offen. Die Bundesregierung hat ihre Versprechen diesbezüglich schon gebrochen: Nur ein halbes Jahr nach ihren Zusagen auf der Geber- konferenz in Tokio wurden die Mittel des Afghanistan- Stabilitätspakts um 10 Millionen gekürzt. Dem zukünfti- gen deutschen Engagement fehlt eine überzeugende und umfassende Gesamtstrategie für den Aufbau Afghanis- tans. Wir lehnen die Strategie der offensiven Aufstandsbe- kämpfung und die weiter fortgesetzten völkerrechtswid- rigen gezielten Tötungen ab. Sie stehen einer friedlichen Lösung des Konfliktes durch Verhandlungen entgegen. Wir fordern Mandatswahrheit und -klarheit in der Frage des Abzugs und sagen Nein zu einem Mandat, das sich einer realistischen und geordneten Abzugsplanung bis Ende 2014 verweigert. Unser Votum richtet sich nicht gegen die in Afghanistan eingesetzten Soldatinnen und Soldaten, sondern gegen die falsche Afghanistan-Politik der Bundesregierung. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Omid Nouripour, Marieluise Beck (Bremen), Cornelia Behm, Hans-Josef Fell, Priska Hinz (Herborn), Tom Koenigs, Nicole Maisch, Jerzy Montag, Manuel Sarrazin, Markus Tressel und Daniela Wagner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be- waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicherheitsunterstützungs- truppe in Afghanistan (International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re- solution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages- ordnungspunkt 7) Nur eine politische Lösung kann verhindern, dass Af- ghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen in einen neuen, blutigen Bürgerkrieg zurückfällt. Die Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft müssen daher ihre Anstrengungen erhöhen, um den Ver- handlungs- und Reintegrationsprozess in Afghanistan zu unterstützen und eine Friedenslösung unter Einbezie- hung der beteiligten Nachbarstaaten zu erzielen. Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass die erreich- ten Fortschritte insbesondere bei Menschenrechten ins- besondere für Frauen und Mädchen im Rahmen der Ver- handlungen nicht ausgehöhlt werden. Der zivile Aufbau in Afghanistan erfordert ein lang- fristiges Engagement der internationalen Gemeinschaft und verlässliche Zusagen für Hilfen und Unterstützungs- leistungen auch über das Jahr 2014 hinaus. Hierzu ge- hört, die im Juli 2012 auf der Geberkonferenz in Tokio gemachte Zusage einzuhalten, bis einschließlich 2015 jährlich 430 Millionen Euro für den zivilen Aufbau be- reitzustellen. Die Bundesregierung belässt es jedoch bei vagen Zusagen und hat sich im Rahmen der letzten Haushaltsverhandlungen von verbindlichen Mittelzusa- gen für Afghanistan verabschiedet. Dies ist ein herber Rückschlag für die afghanische Zivilbevölkerung. Um der Verantwortung Deutschlands für die Men- schen in Afghanistan endlich gerecht zu werden, muss die Bundesregierung bindende Verpflichtungen ausspre- chen. Darüber hinaus braucht es vor allem eine umfas- sende Agenda für den zivilen Aufbau, die das deutsche Engagement im politischen und entwicklungspolitischen Bereich für die Zeit nach 2014 für Afghanistan verläss- lich festlegt. Dies ist auch erforderlich, da in Afghanis- tan die Befürchtung zunimmt, dass mit dem militäri- schen Abzug auch die meisten Aufbauhelferinnen und -helfer das Land verlassen werden. Im militärischen Engagement setzen Partnernationen weiter auf kontraproduktive „gezielte Tötungen“. Die Bundesregierung muss sich im Rahmen von ISAF und gegenüber den Partnern dafür einsetzen, dass dieses fal- sche Vorgehen beendet wird. Sie muss außerdem sicher- stellen, dass sich die Bundeswehr nicht an solchen Ak- tionen beteiligt. Es ist zu kritisieren, dass die Bundesregierung hin- sichtlich ihrer Abzugsplanung im Ungefähren bleibt. Die enormen logistischen und sicherheitspolitischen Heraus- 27292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) forderungen müssen endlich nachvollziehbar ausbuch- stabiert werden, um verlässlich und transparent darzule- gen, wie der zugesagte Abzug sämtlicher Truppen mit einem Kampfauftrag bis Ende 2014 in verantwortbarer Art und Weise realisiert werden soll. Die Bundesregierung muss sich in diesem Zusam- menhang auch dafür einsetzen, dass die afghanischen Ortskräfte, die für die Bundeswehr unter anderem als Dolmetscher, Fahrer und Arbeiter tätig waren und nun Repressalien durch die Taliban befürchten, nicht ihrem Schicksal überlassen werden, und sie muss ihnen ein großzügiges Aufnahmeangebot machen. Trotz unserer Kritik an der unzureichenden und teil- weise fehlgeleiteten Afghanistan-Strategie der Bundes- regierung stimmen wir dem Mandat zur Verlängerung des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr bis zum 28. Februar 2014 zu. Dies ist eine schwere Gewissens- entscheidung. Mit dem Engagement der internationalen Gemein- schaft haben wir eine Schutzverantwortung für die Menschen in Afghanistan übernommen. Wir fühlen uns weiterhin verpflichtet, sie nicht alleine zu lassen. Zu- stimmung bedeutet auch, dass wir Mitverantwortung übernehmen für den schwierigen, oft lebensgefährlichen Einsatz der Soldatinnen und Soldaten und der zivilen Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer. Ein sofortiger militärischer Abzug würde die Men- schen in Afghanistan in einem neu eskalierenden Bür- gerkrieg alleine zurücklassen und die gesamte Region destabilisieren. Die Polizei und die Armee Afghanistans sind noch nicht in der Lage, verlässlich für die Sicherheit im Land zu sorgen. Expertinnen und Experten sowie Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft aus Afghanistan machen immer wieder deutlich, dass des- wegen eine – wenn auch befristete – militärische Präsenz internationaler Truppen notwendig ist. Anlage 7 Erklärungen nach § 31 GO zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset- zes zur Reform der elterlichen Sorge nicht mit- einander verheirateter Eltern (Tagesordnungs- punkt 11 a) Sylvia Canel (FDP): Eheliche und nichteheliche Kinder haben einen Anspruch darauf, dass ihre Väter und Mütter gleichermaßen Verantwortung über ihr Le- ben übernehmen. Deshalb sollen die bisher geltenden Rechte von ledigen Vätern deutlich verbessert werden. Das ist nicht nur meine persönliche Auffassung, sondern auch die klare politische Haltung der FDP-Bundestags- fraktion. Die Stärkung des Sorgerechts insbesondere bei außer- ehelich geborenen Kindern ist aus meiner Sicht bereits von Geburt an sicherzustellen. Denn beide Elternteile, unabhängig von dem Familienstand, sind dazu verpflich- tet, im Sinne des Kindeswohls zu handeln. Dies kann nur gewährleistet werden, wenn künftig die Väter das Recht bekommen, ihre Fürsorge und Sorgepflicht bereits von Geburt an ausüben zu können. Bereits 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Men- schenrechte die Sorgerechtsregelungen, die in Deutsch- land vorherrschen, als menschenrechtswidrig deklariert. Die Begründung beruft sich auf die Unterscheidung zwi- schen ehelichen und nichtehelichen Neugeborenen. Dem- zufolge werden Neugeborene von nicht verheirateten Paaren deutlich benachteiligt, da es keine klare Regelung des gemeinsamen Sorgerechts gibt. Der Europäische Ge- richtshof für Menschenrechte erstellte jedoch einen kla- ren Forderungskatalog bezüglich der Neuregelung des gemeinsamen Sorgerechts bei nicht verheirateten Eltern- paaren. Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auch auf die UN-Kinderrechtskonvention verwiesen. Hier heißt es, dass alle Kinder das Recht besitzen, von beiden El- ternteilen gleichermaßen erzogen zu werden, unabhän- gig von dem Familienstand der Eltern. Die Neuregelung des gemeinsamen Sorgerechts von nichtehelichen Neugeborenen wird durch den vorliegen- den Gesetzentwurf vereinfacht und nimmt Rücksicht auf die moderne Form der Beziehung. Dementsprechend soll ein Vater, der seine Vaterschaft bereits anerkennt, auch das Recht bekommen, sich um sein Kind zu sorgen und zu kümmern. Sollte es zum Streit der Elternteile kommen, wird ein Gericht im Sinne des Kindeswohls entscheiden. Jedoch sollte meiner Ansicht nach der Vater dieses Recht bereits mit der Geburt des Kindes erhalten. Einen anderen Weg erachte ich als eine Diskriminierung des Kindsvaters. Vor diesem Hintergrund soll die Reform der elterli- chen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern weiter vorangebracht werden und um einen Punkt erweitert werden. Väter sollen bereits von Geburt das Recht erhal- ten, sich ihrer Verantwortung zu stellen und sich glei- chermaßen um das Kind zu kümmern. Diese Forderung ist zum Wohle des Kindes. Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Bei der heutigen Abstimmung des Bundestages zum Gesetz zur Reform der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter El- tern – Bundestagsdrucksache 17/11048 – stimme ich heute mit Nein. Es ist richtig, die Rechte der Väter zu stärken; inso- fern ist der heute vorliegende Gesetzentwurf eine Ver- besserung in der Sache. Dennoch halte ich dabei die zwangsweise Einschaltung eines Gerichtes, um auch Vä- tern das Sorgerecht zuzusprechen, für falsch. Art. 3 des Grundgesetzes lautet wie folgt: (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich. (2) Männer und Frauen sind gleichberech- tigt. Der Staat fördert die tatsächliche Durchsetzung der Gleichberechtigung von Frauen und Männern und wirkt auf die Be- seitigung bestehender Nachteile hin. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27293 (A) (C) (D)(B) Dieser zentrale Gleichheitsgrundsatz des Grundgeset- zes muss auch beim Sorgerecht gelten. So halte ich es für geboten, dass Mutter und Vater das gemeinsame Sor- gerecht bei der Geburt eines Kindes erhalten, unabhän- gig davon, ob sie verheiratet sind oder nicht. Ein Verfah- ren, bei dem der Vater seine Rechte erst beantragen und einen Gerichtsbeschluss herbeiführen muss, halte ich für falsch. Dies gilt umso mehr, wenn dies zu einer mögli- cherweise sehr schwierigen familienrechtlichen Aus- einandersetzung und Entscheidung führt. Das häufig vorgetragene Argument von Kollegen, dieses Gesetz würde ohnehin nur in – wenigen – stritti- gen Fällen greifen, halte ich für ein sehr schwaches Ar- gument. Denn gerade für die problematischen und stritti- gen Fälle ist das Gesetz ja da; bei einem Einvernehmen wird es ohnehin nicht zum Tragen kommen. Aus Sicht des Kindes halte ich es für wichtig, dass so- wohl Mutter wie auch Vater Verantwortung übernehmen – das erwarte ich von beiden Elternteilen – und dass diese dazu auch tragfähige gemeinsame Lösungen ent- wickeln. Es gibt darüber hinaus Fälle, in denen eine Ausnahme angezeigt ist, insbesondere wenn Gewalt ausgeübt wird oder wurde oder das Kindeswohl beeinträchtigt werden könnte. Hierfür wäre eine entsprechende Regelung wün- schenswert; ansonsten sollte das Gesetz von einem ge- meinsamen Sorgerecht ausgehen. Anlage 8 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts (Tagesordnungspunkt 13) Erich G. Fritz (CDU/CSU): In zweiter und dritter Le- sung beraten wir heute eine Novelle des Außenwirt- schaftsgesetzes. Sie führt zu einer erheblichen Vereinfa- chung und Entschlackung des aus dem Jahre 1962 stammenden deutschen Außenwirtschaftsrechts. Mit der vorliegenden Überarbeitung erfüllen wir eine Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag vom 26. Okto- ber 2009. Ich freue mich, dass in den abschließenden Ausschussberatungen eine sehr weitgehende Überein- stimmung zwischen den Fraktionen zu erkennen war und dass die Notwendigkeit und die Art der Überarbeitung viel Zustimmung gefunden hat. Ich habe es bereits in meiner letzten Rede versichert und wiederhole es gerne: Das Außenwirtschaftsgesetz genießt weltweit einen hervorragenden Ruf und wird daher seine bewährten Grundstrukturen, insbesondere den Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit, beibehal- ten. Doch es wurde Zeit für eine Modernisierung. Das Außenwirtschaftsgesetz ist vor 50 Jahren in Kraft getreten. Seither hat sich, wie wir alle wissen, im Rechtsrahmen der Außenwirtschaft national, europäisch und international einiges geändert, und die Kontroll- und Genehmigungspraxis in Deutschland wurde immer weiter entwickelt. Die Europäische Union hat Zustän- digkeiten im Außenhandel übernommen und in ihrem Zuständigkeitsbereich einen gemeinsamen Exportkon- trollmechanismus aufgebaut. Auch deshalb sind das Au- ßenwirtschaftsgesetz, AWG, und die Außenwirtschafts- verordnung, AWV, häufig geändert worden. AWG und AWV glichen bisher einem Flickenteppich. Sie waren unübersichtlich und wenig nutzerfreundlich. Selbst Juristen und Experten haben teilweise Schwierig- keiten, sich in diesem Dschungel von 50 Paragrafen noch zurechtzufinden. Nach der Novelle sollen es nur noch 28 Bestimmungen sein. Im Interesse der Expor- teure, insbesondere der kleinen und mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die oft nicht über eine ei- gene Rechtsabteilung verfügen, müssen die Regelungen gestrafft und verständlicher formuliert werden, auch für Nicht-Juristen. Die Neufassung ist also eine notwendige Anpassung, und ich gratuliere der Bundesregierung zu ihrer Entscheidung, das Außenwirtschaftsrecht zu novel- lieren. Um es noch einmal plastisch zusammenzufassen: Das AWG stammt aus einer Zeit vor dem Binnenmarkt, natürlich auch vor dem Lissabon-Vertrag. Das BAFA hat sich in dieser Zeit ebenso entwickelt wie die Expertise der Unternehmen im Umgang mit den nötigen Verfah- ren. Die Hauptzollämter haben ihre Fähigkeiten enorm entwickelt. Die Compliance-Regeln in den Unternehmen haben den Grad innerbetrieblicher Selbstkontrolle erheb- lich ausgeweitet. Fahndungsmöglichkeiten wurden unter anderem durch Aufbau und Entwicklung des Zollkrimi- nalinstitutes ausgebaut. Die Dual-Use-Verordnung der Europäischen Union ist heute unmittelbar geltendes Recht in Deutschland. Der Gemeinsame Standpunkt der EU wie die fortgeschriebenen Exportrichtlinien der Bun- desregierung binden Regierungshandeln. Wir haben ein sehr hohes Niveau der Ausfuhrkontrolle erreicht, das seine Wirkung entfalten kann. Dual-Use-Güter sind im normalen Handelsverkehr unter Kontrolle. Der Staat kommt seiner Verpflichtung nach, und die Exporteure können damit umgehen. Wir dürfen aber auch den Güterhandel nicht nur unter dem Gesichtspunkt der doppelt verwendbaren Güter be- trachten, sondern müssen auch an die Millionen von Pro- dukten denken, die das Verfahren durchlaufen, ohne je- mals in die Gefahr zu geraten, im weitesten Sinne militärisch verwendet zu werden. Deshalb war ein An- spruch an die Überarbeitung auch, die Regelungen klar, überschaubar und eindeutig zu machen. Solche An- sprüche wurden auch von der Rechtsprechung immer wieder an den Gesetzgeber gestellt. Die dafür notwendigen Veränderungen liefern auch modernere Definitionen für ein besseres sprachliches Verständnis. Das AWG wird an die moderne Terminolo- gie angepasst. Es erhält so eine zeitgemäße Sprache und wird mit den europarechtlich etablierten Begriffen in Einklang gebracht. Da das nationale und das europäische Recht eng verzahnt sind, werden so Widersprüche besei- tigt. Viele Begrifflichkeiten waren schlicht veraltet. Dies ist nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt, dass viele der Definitionen aus der Zeit vor der Wieder- vereinigung und vor der Dual-Use-Verordnung – erstma- liges Inkrafttreten 1994, grundlegende Überarbeitung 27294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) 2009 – stammen. Es ist also an der Zeit, den Definitions- katalog zu überarbeiten. Einige Begriffe entfallen ganz, und einige werden sprachlich vereinfacht. „Fremde Wirtschaftsgebiete“, um ein Beispiel zu nen- nen, hat der Teilung Deutschlands Rechnung getragen. Künftig sollen die Begriffe „In- und Ausland“ verwendet werden. Auch sollen AWG und AWV besser und übersicht- licher strukturiert werden. Ein Beispiel: Die außenwirt- schaftsrechtlichen Einfuhrverfahrensvorschriften finden sich derzeit sowohl im AWG als auch in der AWV. Im Interesse der Übersichtlichkeit werden sie nunmehr ein- heitlich in der AWV geregelt und damit an die Ausfuhr- verfahrensvorschriften angeglichen. Sie sehen, es geht hier nicht um eine grundlegende Änderung der Inhalte, etwa um laxere Ausfuhrbestim- mungen, wie teils fälschlicherweise in der Presse be- hauptet und skandalisiert, sondern vor allem um eine Anpassung an die moderne Begrifflichkeit und eine schlankere Fassung der Bestimmungen, die gleichzeitig eine Präzisierung ist, weil viele Rechtsvorschriften nicht mehr mühsam aus jeweils anderen Gesetzen abgeleitet werden müssen, sondern sich eindeutig im AWG finden. Vergleicht man Außenwirtschaftsgesetz alt und neu, so wird klar, dass sich in der Sache nur wenig ändert. Ich war sehr enttäuscht, dass Teile der Opposition ab- sichtlich, zumindest aber durch Nachlässigkeit falsche Behauptungen über laxere Rüstungskontrollen durch das neue AWG verbreitet haben, die explizit nicht vorgese- hen sind. Denn das AWG geht weit über Rüstung hinaus, und der Bereich Rüstung innerhalb des AWG bleibt völlig unberührt von der Überarbeitung. Ich sage es noch ein- mal: Die Überarbeitung des Außenwirtschaftsrechts sieht keinerlei Erleichterungen für den Export von Rüs- tungsgütern vor. Insofern ist es gelinde gesagt verwun- derlich, wenn das Magazin Der Spiegel in seiner Aus- gabe vom 16. Juli 2012, Ausgabe 29/2012, Seite 16, mit dem irreführenden Titel „Rüstungsexporte: Deutsche Waffen für die Welt“ behauptet, die Bundesregierung wolle mit der Gesetzesnovellierung „den Export von Waffen und Rüstungsgütern vereinfachen“. Davon kann keine Rede sein. Kriegswaffenkontrollgesetz, Rüstungs- exportrichtlinien der Bundesregierung und der Gemein- same Standpunkt verändern sich nicht. Es bleibt zu hoffen, dass man sich zwischenzeitlich ernsthaft mit dem Inhalt des Entwurfs vertraut gemacht hat. Denn die Inhalte der bestehenden Verbote und Ge- nehmigungsinhalte bleiben dieselben. Die vorliegende Gesetzesmodernisierung führt nicht dazu, dass sich Rüs- tungsgüter aus Deutschland leichter exportieren lassen. Was in der Tat entfällt, sind überholte Ermächtigungs- grundlagen, die seit Inkrafttreten des Gesetzes schlicht nie genutzt wurden. Gerne gebe ich Ihnen ein Beispiel: Nach § 17 AWG können Rechtsgeschäfte über die Ver- breitung ausländischer Filme und anderer audiovisueller Werke beschränkt werden, um die deutsche Filmwirt- schaft zu schützen. Die Beschränkungen hatten keinen außenwirtschaftsrechtlichen, sondern einen industrie- politischen Hintergrund. Von der Ermächtigungsgrund- lage wurde noch nie Gebrauch gemacht. Sie ist auch nicht nötig. Wichtige Grundlagen, wie beispielsweise der soge- nannte Einzeleingriff, §§ 6, 7 AWG-Novelle, bleiben er- halten. Nach wie vor können also Lieferungen, die nach dem geltenden Recht legal wären, durch einen Ein- zeleingriff gemäß § 6, ehemals § 2 Abs. 2 AWG, unter- sagt werden, um bestimmte Gefahren abzuwenden, zum Beispiel für die auswärtigen Beziehungen Deutschlands. Die Voraussetzungen einer solchen Ausfuhrbeschrän- kung in Form eines Verwaltungsakts soll durch die Ge- setzesnovelle auch für den Seeverkehr außerhalb des deutschen Küstenmeers konkretisiert werden, § 7 AWG- Novelle. Zusätzlich zu der Anpassung an die moderne Termi- nologie sind einige inhaltliche Änderungen im Bereich der Straf- und Bußgeldbewehrungen vorgesehen, die ich Ihnen gerne noch einmal erläutere: Bislang fiel es schwer, zwischen dem Tatbestand ei- ner Ordnungswidrigkeit und dem einer Straftat zu unter- scheiden. Die bisherigen Straf- und Bußgeldbewehrun- gen sind schwer verständlich, weil sie an unbestimmte Rechtsbegriffe anknüpfen. Verstöße gegen bestimmte Ge- nehmigungserfordernisse werden zu Straftaten, wenn sie geeignet sind, die „auswärtigen Beziehungen der Bun- desrepublik Deutschland“ erheblich zu gefährden, § 34 Abs. 2 AWG Dies ist eine schwammige Formulierung. Die Rechtsprechung hat die Bestimmungen aus gutem Grund kritisiert: Es sei für den Adressaten schwer er- kennbar, wann er sich strafbar machen könne, weil nicht immer klar sei, in welchen Fällen das Auswärtige Amt diesen Tatbestand bescheinige. Deshalb seien die gelten- den Straf- und Bußgeldbewehrungen „am Rande der Verfassungswidrigkeit“. Ich halte es daher für richtig, dass die Novelle auf un- bestimmte Rechtsbegriffe in der Zukunft verzichten soll. Die Straf- und Bußgeldbewehrungen werden in der No- velle klarer als bisher am Grad der Vorwerfbarkeit aus- gerichtet. Mit anderen Worten, vorsätzliche Verstöße ge- gen bestimmte Verbote und Genehmigungserfordernisse, die bisher als Ordnungswidrigkeiten behandelt werden, sollen zukünftig als Straftaten bewertet werden. Auch hier bietet sich ein kurzes Beispiel zum besse- ren Verständnis an: Die ungenehmigte Ausfuhr von Waf- fen wird als Straftat geahndet. Das ist bisher so, und das wird auch so bleiben. Nach dem vorliegenden Gesetz- entwurf wird aber auch die ungenehmigte Ausfuhr zivi- ler Güter, die für militärische Zwecke missbraucht wer- den können, eine Straftat, wenn der Täter vorsätzlich handelt, § 18 AWG-Novelle. Damit ist die klare Bot- schaft verbunden: Wer sich bewusst über das Außenwirt- schaftsrecht hinwegsetzt, handelt nicht nur ordnungs- widrig, er macht sich vielmehr strafbar. Eine Ahndung von Ordnungswidrigkeiten als Straf- taten soll hingegen nicht mehr möglich sein. Der Ge- setzentwurf – mit Ausnahme von Verstößen gegen Waf- fenembargos – verzichtet auf eine Strafbewehrung fahrlässigen Handelns, das heißt von Verstößen gegen Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27295 (A) (C) (D)(B) die erforderliche Sorgfalt. Der Grund hierfür ist ein- leuchtend: Mitarbeiter exportierender Unternehmen sol- len nicht kriminalisiert werden, wenn sie sich rechtstreu verhalten wollen, ihnen aber versehentlich ein Arbeits- fehler unterläuft. Gerade bei Unternehmen, die automati- sierte Kontrollverfahren eingerichtet haben, kann es zu versehentlichen Verstößen im Bereich der Ordnungswid- rigkeiten kommen. In diesen Fällen ist die Verhängung eines Bußgeldes gegen das Unternehmen die angemes- sene Sanktion. Nach dem Struck‘schen Gesetz, dass kein Gesetz den Bundestag so verlässt, wie es ihn erreicht hat, wurde auch diese Vorlage der Bundesregierung im Wirtschafts- ausschuss verändert. Wir haben im § 22 einen Absatz 4 eingefügt, der die Möglichkeit eröffnet, von der Verfol- gung einer Ordnungswidrigkeit abzusehen, wenn ein Verstoß im Wege der Eigenkontrolle aufgedeckt und der zuständigen Behörde angezeigt wurde sowie angemes- sene Maßnahmen zur Verhinderung eines Verstoßes aus gleichem Grund getroffen werden. Für Unternehmen entsteht so der Anreiz, durch firmeninterne Compliance- Maßnahmen und freiwillige Meldungen an die Behörden zur Aufdeckung und Behebung von Verstößen beizutra- gen. Wir waren dabei natürlich der Meinung, dass genau dieser Sachverhalt von den Behörden überprüft werden kann. Gerade für kleinere Unternehmen kann diese Re- gelung aber vereinfachend wirken und dabei das Kon- trollniveau sogar erhöhen. Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass Verstöße gegen Waffenembargos verschärft werden. Eine Liefe- rung von Rüstungsgütern in ein Embargoland, oder die Vermittlung eines solchen Geschäfts wird als Verbrechen bestraft. Festzuhalten ist: Die Strafbewehrungen für vor- sätzliche Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht werden deutlich verschärft. Erlauben Sie mir, auch kurz auf den Bereich der Ge- setzesnovelle einzugehen, der die Überarbeitung der AWV betrifft. Ich meine die Genehmigungserfordernisse für Güter mit doppeltem Verwendungszweck, den soge- nannten Dual-Use-Bereich. Gemeint sind damit Export- güter, die für zivile, gegebenenfalls aber auch für militä- rische Zwecke eingesetzt werden können. Meine Damen und Herren, sehr verehrte Kollegen von der Opposition, es handelt sich um deutsche Sonder- vorschriften aus einer Zeit, als es noch keine vergleich- baren Bestimmungen im europäischen Recht gab. Mitt- lerweile sind sie durch korrespondierende europäische Vorschriften überlagert. Das Nebeneinander der europäi- schen und deutschen Genehmigungserfordernisse mit weitgehend identischem Regelungsgehalt führt nicht zu einer verbesserten Exportkontrolle, sondern nur zu einer bürokratischen Belastung der Unternehmen und zu Wett- bewerbsnachteilen gegenüber ihren europäischen Kon- kurrenten. Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Welche Dual-Use-Güter gelistet sind, ist im deutschen Recht in der Ausfuhrliste geregelt. Diese erfasst neben den europa- weit gelisteten Gütern auch Güter, die nur in Deutsch- land gelistet sind – sogenannte 900er-Listenpositionen –: Häufig sind die nationalen Listungen auf Einzelfallent- scheidungen – durch Einzeleingriff gemäß § 2 Abs. 2 AWG – zurückzuführen. Viele dieser gelisteten Güter sind veraltet bzw. haben ihre Praxisrelevanz verloren. Aus diesem Grund wird die deutsche Güterliste gekürzt. Zudem wird auf die Wiedergabe der Güter der Dual- Use-Verordnung verzichtet; denn diese Güter sind ohne- hin von der vorrangig geltenden EG-Dual-Use-Güter- VO erfasst. Sie sehen also, dass die vorliegende Novelle deutlich in die Klasse der Weiterentwicklung effizienten Regie- rens in Deutschland einzuordnen ist. Dies hat im Übri- gen auch deutlich die überwiegend positive Resonanz von Fachleuten aus Wirtschaft und Wissenschaft wäh- rend der öffentlichen Anhörung des Wirtschaftsaus- schusses am 10. Dezember ergeben. Auch Fachmagazine finden positive Worte für die Novelle: So lobt der DIHK die Erleichterung für deutsche Unternehmen. Die AW-Prax spricht von „übersichtlicheren und für den Nutzer freundlicheren“ Vorschriften, die je- doch „keineswegs dazu führen, dass sich insbesondere Rüstungsexporte einfacher gestalten als bisher“ – ver- gleiche AW-Prax, August 2012, Seite 255. Im Gegenteil, mit der AWG-Novelle sorgt die Bundesregierung für klare Regeln sowie fairen Wettbewerb für die export- orientierte deutsche Wirtschaft, die ich gerne zu unter- stützen bereit bin. Ich bedanke mich bei den Mitberichterstattern, den Mitarbeitern des BMWi sowie bei den Sachverständi- gen, die durch ihre Beiträge und Diskussionen wesent- lich zu einem gemeinsamen Verständnis und einem gu- ten Ergebnis beigetragen haben. Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Die Novelle des Außenwirtschaftsgesetzes, AWG, ist ein wichtiger Schritt zur Stärkung des Exportstandortes Deutschland, insbesondere für unsere kleineren und mittleren Unter- nehmen. Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht nicht um die Lockerung der Regeln für Rüstungsexporte. Dies ist eine unseriöse Behauptung. Die Novelle sieht keiner- lei Erleichterungen für den Export von Rüstungsgütern vor. Die unter Rot-Grün beschlossenen „Politischen Grundsätze der Bundesregierung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem Jahr 2000 gelten unverändert. Wir aktualisieren heute ein Gesetz aus dem Jahr 1962. Das AWG und die Außenwirtschaftsverordnung, AWV, wurden in den vergangenen Jahrzehnten sehr häufig ge- ändert und gleichen einem Flickenteppich; eine separate Überarbeitung der AWV erfolgt noch. Wir führen das bewährte deutsche Außenwirtschafts- recht fort, es ist aber ein zentrales Anliegen der christ- lich-liberalen Koalition: das Außenwirtschaftsrecht ver- einfachen, Rechtssicherheit für Anwender gewährleisten und deutsche Sondervorschriften aufheben, um deutsche Exporteure gegenüber ihren europäischen Konkurrenten nicht zu benachteiligen, Stichwort „level playing field“. Der Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit bleibt erhal- ten. In der Anhörung des Wirtschaftsausschusses be- 27296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) scheinigten alle Experten dem neuen Gesetz, ein sehr modernes und praktikables zu sein. Es geht also um eine Vereinfachung und eine über- sichtlichere Gestaltung des AWG. Wir nehmen eine Neu- strukturierung und Verschlankung vor, heben überholte Vorschriften auf, neben der Anpassung an europarechtli- che Vorgaben ist die sprachliche Vereinfachung ein we- sentliches Ziel. Die Anzahl der Paragrafen wird fast hal- biert. Insbesondere im EU-Recht ist eine Anpassung an die Entwicklung seit 1962 (!) dringend geboten. In dieser Zeit hat die EU beträchtliche Kompetenzen gewonnen, die Stichworte lauten „Binnenmarkt“, „Kapitalmarkt“, „gemeinsame Handelspolitik“ etc. Wir nehmen eine Ver- einfachung und Abschaffung bestimmter Begriffe vor. So ist beispielsweise der Begriff „fremde Wirtschaftsge- biete“ als Bezeichnung für die ehemalige DDR nicht mehr notwendig. Aus „Datenverarbeitungsprogrammen“ wird der gängige Begriff „Software“. Die Stellungnahme der Nationalen Normenkontrollra- tes, NKR, gibt uns recht: „Gleichwohl leistet das Rege- lungsvorhaben einen wichtigen Beitrag zur Rechts- und Verwaltungsvereinfachung. Im Rahmen seines gesetzli- chen Prüfauftrags begrüßt der Nationale Normenkon- trollrat das Regelungsvorhaben.“ Weiterhin fassen wir die Straf- und Bußgeldvorschrif- ten neu. Vorsätzliche Verstöße, zum Beispiel gegen Waf- fenembargos sollen künftig härter geahndet werden. An- dere fahrlässige Verstöße sollen dagegen nicht mehr als Straftat, sondern nur noch als Ordnungswidrigkeit ge- ahndet werden. Nationale Sondervorschriften zu den Dual-Use-Gütern schaffen wir ab. Sie sind unnötig, da hier bereits eine Regelung im EU-Recht existiert. Die bisherigen Bestimmungen sehen – in anderen EU-Län- dern nicht geltende – zusätzliche Genehmigungserfor- dernisse für Dual-Use-Güter innerhalb der EU vor. Sie stammen aus einer Zeit, als es noch keine einheitlichen europäischen Regelungen gab. Die inzwischen einge- führte EG-Dual-Use-Verordnung regelt nunmehr die ein- heitliche und umfassende Kontrolle von Dual-Use-Gü- tern durch alle EU-Mitgliedstaaten. Damit haben die deutschen Sondervorschriften ihre Bedeutung verloren, zumal sie einen nicht unerheblichen bürokratischen Auf- wand für die betroffenen Unternehmen verursachen und damit einen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen eu- ropäischen Unternehmen darstellten. Ein wesentliches Ergebnis der parlamentarischen Be- ratung ist die Neuregelung der Selbstanzeige. Es gibt künftig die Möglichkeit einer „Selbstanzeige“ von Un- ternehmen bei einem fahrlässigen Verstoß gegen Melde- pflichten bei Ausfuhren in § 22 Abs. 4 (neu) AWG. In diesem Fall finden keine weiteren Sanktionen im Ord- nungswidrigkeitenrecht statt, die nicht bei Straftatbe- ständen gilt. Voraussetzungen sind einfach. Der Verstoß muss im Wege der Eigenkontrolle innerhalb des Unternehmens aufgedeckt und der Behörde angezeigt werden. Es sind Maßnahmen zur Verhinderung eines weiteren Verstoßes aus dem gleichem Grund zu treffen. Beim Status quo in der Verwaltungspraxis könnten bereits kleine Formfeh- ler, die im Zuge des firmeninternen Compliance-Ma- nagements aufgedeckt und gemeldet werden, Anlass für weitreichende Prüfungen und langwierige, potenziell ko- stenträchtige Verfahren – drohende Ordnungsgelder von bis zu 500 000 Euro pro Verstoß – sein. Dies wider- spricht zunehmenden Compliance-Bestrebungen, die ge- rade einen Anreiz für die Unternehmen schaffen sollen, durch firmeninterne Maßnahmen und freiwillige Mel- dungen an die Behörden zur Aufdeckung und Behebung von Fehlern beizutragen. Dadurch werden auch die staatlichen Stellen entlastet, und wir setzen gezielte An- reize für die Selbstkontrolle innerhalb der Unternehmen. Ich komme also zu dem Fazit, dass wir hier beträchtli- che Erleichterungen gerade für kleinere und mittlere Un- ternehmen beschließen, die über keine eigene Rechtsab- teilung verfügen oder teure Anwaltskanzleien bezahlen können. Dies wurde auch in der Anhörung des Wirt- schaftsausschusses bestätigt. Wir erreichen eine Entschlackung und Modernisierung des Außenwirt- schaftsrechts. Wir schaffen Erleichterungen und Rechts- sicherheit gerade für den Mittelstand. Die Neufassung der Außenwirtschaftsverordnung muss nun zügig erfol- gen, um das Gesetzeswerk zu komplettieren Diesem Gesetz kann man nur zustimmen. Rolf Hempelmann (SPD): Die Bundesregierung hat uns einen Gesetzentwurf zur Modernisierung des Au- ßenwirtschaftsrechts vorgelegt, mit welchem sie das Au- ßenwirtschaftsgesetz vereinfachen und vor allem moder- nisieren will. Unbenommen, die Anzahl der Vorschriften wurde verringert, die Grundstruktur blieb. Wie die Sachverständigenanhörung zum Außenwirt- schaftsrecht Anfang Dezember ergab, ist jedoch die Handhabung des Gesetzes nicht verbessert worden. Das Außenwirtschaftsgesetz bleibt nach Aussage der Wirt- schaft hinreichend kompliziert, und die Erwartungen der Wirtschaft sind daher eher gedämpft. Grundsätzlich eröffnet eine Modernisierung des Au- ßenwirtschaftsgesetzes die Chance, die Vorgaben aus dem EU-Verhaltenskodex und der gemeinsamen Posi- tion in deutsches Recht zu übernehmen und so das Ge- setz an zivilgesellschaftliche und europäische Entwick- lungen anzupassen. Hierbei geht es insbesondere um die Kriterien aus den „Politischen Grundsätzen der Bundes- regierung für den Export von Kriegswaffen und sonsti- gen Rüstungsgütern“ und aus dem Gemeinsamen Stand- punkt des Rates vom 8. Dezember 2008 betreffend gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von Militärtechnologie und Militärgütern. Zwar gelten diese Kriterien schon jetzt verbindlich, sind aber nicht gesetzlich geregelt. Ihr eigener Sachver- ständiger sagte in der Anhörung, „unter dem Gesichts- punkt der Bestimmtheit gesehen …, hätte das dann viel- leicht einen höheren Stellenwert“, und bezog sich auf die Einbeziehung dieser Kriterien. Kriterien wie zum Bei- spiel die Beachtung von Menschenrechten in Empfän- gerländern deutscher Rüstungsgüter sowie die Förde- rung von Frieden und Freiheit in der Welt hätten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27297 (A) (C) (D)(B) Gesetzesrang. Und in anderen europäischen Ländern ist es kein Problem, die Regelungen aus dem Gemeinsamen Standpunkt in innerstaatliche Gesetze aufzunehmen. Bisher lehnten die Bundesregierung und die sie stüt- zenden Koalitionsfraktionen die Aufnahme der Vorga- ben aus den Politischen Grundsätzen und dem Gemein- samen Standpunkt mit der Begründung ab, dies würde das Außenwirtschaftsgesetz überfrachten. Die SPD hat im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie einen Vor- schlag gemacht, wie die Kriterien aus den Politischen Grundsätzen und dem Gemeinsamen Standpunkt in das Außenwirtschaftsgesetz integriert werden könnten. Die- sen Änderungsvorschlag haben Sie mit der Mehrheit der Koalitionsfraktionen aus fadenscheinigen Gründen ab- gelehnt: Die Kriterien würden ja schon verbindlich gel- ten, war ein Argument. Außerdem würde ein solcher Verweis – so verstehe ich Ihre Anmerkungen im Wirt- schaftsausschuss – für alle Güter, die unter das Außen- wirtschaftsgesetz fallen, gelten. Sie haben sich nicht ausreichend mit unserer Intention und der Gesetzessyste- matik beschäftigt. Das Außenwirtschaftsrecht gilt für alle Außenwirtschaftsgüter, die keine Kriegswaffen nach dem Kriegswaffenkontrollgesetz sind, somit auch für an- dere Rüstungsgüter und Dual-Use-Güter. Auf diese Gü- ter kann und sollte ein solcher Verweis beschränkt wer- den. Einen anderen Vorschlag, wie die Kriterien ins Gesetz aufgenommen werden könnten, sind Sie bislang schuldig geblieben. Wir fordern Sie jetzt noch einmal auf – das können Sie auch in unserem Entschließungsan- trag lesen –, diese Kriterien in das Außenwirtschaftsge- setz aufzunehmen. Kommen wir zu einem weiteren Punkt: Einzelne Rüs- tungsexportentscheidungen der Bundesregierung haben in der vergangenen Zeit wiederholt Diskussionen und Kritik ausgelöst. Dabei zeigt sich auch, dass es an einer entsprechenden parlamentarischen Beteiligung und Transparenz fehlt, die gerade der Bedeutung und Brisanz der Entscheidungen angemessen wäre. Darüber hinaus werden Rüstungsexportberichte verspätet vorgelegt, der Bericht für 2010 zum Beispiel lag erst circa zwei Jahre später vor. Dies ist nicht haltbar. Die SPD fordert eine feste Frist zur Vorlage des Rüstungsexportberichts. Diese Forderung ist nicht neu. Anfang 2012 hat die SPD-Bundestagsfraktion diese Forderung mit anderen in einen Antrag gegossen. Bei der Erarbeitung der Novelle zum Außenwirtschaftsgesetz hätte man durchaus darauf stoßen können. Darüber hinaus fordern wir inhaltliche Vorgaben für den Rüstungsexportbericht im Gesetz. Im Gegensatz zu Deutschland ist das woanders in Europa, wie zum Beispiel in Spanien, durchaus üblich. Kommen wir zu den tatsächlichen Ausfuhren: Bei Exporten wird vermerkt, dass und welche Exportgeneh- migung vorliegt. Es besteht derzeit aber keine Übersicht über die Höhe der real getätigten Exporte. Dabei geht es um das Ausschöpfen von Exportgenehmigungen. Die SPD-Bundestagsfraktion fordert daher eine gesetzlich verankerte Informationspflicht der Unternehmen über getätigte Exporte, welche es der Bundesregierung er- möglicht, für alle Rüstungsgüter Zahlen über tatsächli- che Ausfuhren vorzulegen. Eine solche Erhebung vorzu- nehmen, ist auf europäischer Ebene schon angeregt worden und wird zum Beispiel in Schweden seit Jahren praktiziert. Schließlich sind der Entschlackung die deutschen Sondervorschriften zur Ausfuhr von Dual-Use-Gütern zum Opfer gefallen. Begründet wird diese Aufhebung mit der Geltung der europäischen Dual-Use-Verordnung, dem bürokratischen Aufwand für die betroffenen Unter- nehmen und dem Wettbewerbsnachteil gegenüber Wett- bewerbern aus anderen Mitgliedstaaten. Nur, warum bleiben sie aber auf europäischer Ebene untätig? Die SPD-Bundestagsfraktion sieht eine große Aufgabe darin, in Europa auf politischer und operationeller Ebene ver- stärkt und innereuropäisch zusammenzuarbeiten. Sie nutzen Europa nur als Grund zur Aufhebung der Sonder- vorschriften und bleiben ansonsten untätig. Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen Entschlie- ßungsantrag eingebracht. Darin fordern wir die Bundes- regierung auf, ihren Gesetzentwurf zum Außenwirt- schaftsrecht noch einmal zu überarbeiten. Die wichtigsten Gründe habe ich schon genannt. Die SPD- Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf, so wie er derzeit vorliegt, nicht zustimmen. Ulla Lötzer (DIE LINKE): Würde es im vorliegenden Gesetzentwurf zur Modernisierung des Außenwirt- schaftsrechts allein um die „Entschlackung“ und sprach- liche Verbesserungen sowie die Anpassung an europäi- sche Entwicklungen gehen, könnten wir dem Entwurf möglicherweise zustimmen. Aber wie oft steckt der Teu- fel im Detail. Zwar hat die die Fülle der Änderungen nicht die Grundstruktur des Außenwirtschaftsgesetzes, AWG, geändert. Aber hier liegt das Problem und setzt unsere Kritik an. Denn wie bislang wird der Export von Dual-Use-Gütern und Rüstungs- und Kriegswaffen nicht ausreichend reguliert, begrenzt und damit verhindert. Uns ist klar, dass das AWG einen viel breiteren Gel- tungsbereich als Rüstungsexporte und Dual-Use-Güter umfasst. Fakt ist jedoch auch, dass das AWG und seine zugehörige Verordnung sowie das Kriegswaffenkontroll- gesetz die zentralen Gesetze sind, die deutsche Rüs- tungsexporte im weiteren Sinne maßgeblich ermögli- chen. Der vorgelegte Gesetzentwurf erleichtert in der Summe nun sogar den Export von Rüstungs- und Dual- Use-Gütern. Bisher gültige Restriktionen, die nach deutschem Recht vorgeschrieben waren, aber nach europäischem Recht nicht sind, entfallen. Beispielsweise kann laut al- tem AWG die Ausfuhr von Gütern beschränkt werden, die für die Entwicklung, Erzeugung oder den Einsatz von Waffen, Munitionen oder Kriegsgerät nützlich sind. Künftig soll dies nur noch für Güter gelten, die aus- drücklich für die Entwicklung, Erzeugung oder den Ein- satz von Waffen, Munitionen und Rüstungsgütern vorge- sehen sind. Das heißt, die Güter müssen explizit für diese Zwecke bestimmt sein. Damit wird zum einen eine deutlich größere Bandbreite von Gütern abgedeckt. Zum anderen wird der Exporteur aus der Verantwortung für die spätere Verwendung seiner Güter schlicht entlassen. 27298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Ebenso sollen nach der Novelle des AWG die ohnehin weitreichenden und intransparenten Genehmigungen ohne Befristung erteilt werden. Die Befristung wäre zwar auch nach neuem Recht noch möglich, aber eben nicht länger zwingend notwendig. Entsprechend könnten Lieferungen für transnationale Rüstungskoproduktionen nun ohne zeitliches Limit genehmigt werden. Die Folge wäre ein maßgeblicher Kontrollverlust bei der Ausfuhr der betroffenen Güter. Schließlich sieht der Gesetzentwurf bei den Straf- und Bußgeldvorschriften zwar einige Verschärfungen, aber zugleich auch Erleichterungen vor. So muss etwa einem Exporteur von Rüstungsgütern künftig nachgewiesen werden, dass er vorsätzlich gegen die geltenden Gesetze gehandelt hat. Fahrlässige Verstöße gegen das AWG werden nur noch als Ordnungswidrigkeiten geahndet. Lediglich leichtfertige Verstöße gegen ein Waffen- embargo werden noch strafbewehrt. Im Gegenzug hat es die Koalition völlig versäumt, in die Novelle des AWG dringend notwendige Grenzen für den Export von Rüstungsgütern mit aufzunehmen. Im Entschließungsantrag der SPD wird in diesem Sinne die Aufnahme der „Politischen Grundsätze der Bundesregie- rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ angemahnt. Aber wie schon in der Debatte im Wirtschaftsaus- schuss angemerkt, würde dies nicht zur wirklichen Re- duktion oder zu dem Stopp der Rüstungsexporte in Kriegs- und Krisengebiete führen. Machen wir uns nichts vor: Die politischen Grundsätze sind allesamt un- verbindliche Absichtserklärungen ohne praktische Kon- sequenz. Nach wie vor erhalten deshalb Diktaturen und Regierungen, die schwere Menschenrechtsverletzungen zu verantworten haben, relativ problemlos Rüstungs- güter aus deutscher Produktion, wenn es denn dem au- ßenpolitischen Interesse entspricht. Und so erreicht der Export dieser Güter jedes Jahr ein neues Hoch. Deutsche Waffen und zugehörige Güter finden sich weltweit in steigenden Größenordnungen in allen Kriegs- und Kri- sengebieten. Die Interessen der deutschen Rüstungsindustrie auf dem schwer umkämpften Markt geben den Takt vor, nicht die Menschenrechte, insbesondere der Erhalt von Frieden. Daran werden auch die leider zahmen Forde- rungen der SPD nichts ändern, sollten sie ins AWG auf- genommen werden. Sie sind politische Kosmetik und dem schlechten Gewissen geschuldet – nicht mehr und nicht weniger. Aus diesen Gründen lehnen wir den vorliegenden Ge- setzentwurf der Bundesregierung ab und können den Entschließungsantrag der SPD ebenso wenig mittragen. Von beiden Seiten wurde explizit versäumt, über klare Verbote des Exports von Rüstungsexporten und entspre- chende Dual-Use-Güter die bisher für unzählige Men- schen tödliche deutsche Genehmigungspraxis bei Waffen- ausfuhren nachdrücklich und wirksam zu unterbinden. Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute Morgen haben wir noch darüber diskutiert, was man alles bei Rüstungsexporten ändern muss, und schon am gleichen Abend bietet sich eine Gelegenheit, die neu ge- wonnenen Erkenntnisse in Taten umzusetzen. Wir soll- ten den Gesetzentwurf an den Ausschuss zurücküber- weisen und gründlich überarbeiten. Das würde dann auch zu den Verlautbarungen passen, mit denen einige Abgeordnete der Koalition neuerdings öffentlich von sich reden machen. Neben den Kollegen Stinner, Polenz und Kiesewetter hat nun auch der Kollege Djir-Sarai von der FDP Reformbedarf und mehr Transparenz bei der Rüstungs- exportkontrolle gefordert. Er kündigt noch in dieser Legislaturperiode einen Vorstoß für mehr Transparenz an. Hier wäre jetzt die Gelegenheit. Komisch nur, dass davon in diesem Gesetzentwurf nichts zu finden ist. Da- bei wäre das Außenwirtschaftsgesetz die richtige Stelle, um transparente Verfahren gesetzlich zu verankern. Zeitnahe Unterrichtung über Rüstungsexporte? Ein- bindung des Bundestages bei sensiblen Exporten? Oder gar eine gesetzliche Bindung an menschenrechtliche Kriterien? Von alldem keine Spur. Nichts davon findet sich in Ihrem Gesetzentwurf. Einen Änderungsantrag, der darauf abzielte, den „Gemeinsamen Standpunkt der EU zu Rüstungsexporten“ in das Gesetz zu integrieren, haben Sie mit Ihrer Mehrheit im Ausschuss abgeschmet- tert. Wie passt ein solches Verhalten mit Ihren öffentli- chen Äußerungen zusammen? Sie versprechen etwas und tun dann das genaue Gegenteil. Die Österreicher haben es uns gerade vorgemacht und den Gemeinsamen Standpunkt der EU in Sachen Rüstungsexporte in ihr nationales Außenwirtschaftsgesetz übernommen. Die formaljuristischen Bedenken aus dem deutschen Wirtschaftsministerium sind nicht wirklich überzeugend. Warum soll bei uns nicht möglich sein, was in anderen europäischen Ländern längst gemacht wird? Dem Ent- schließungsantrag der SPD stimmen wir daher gerne zu. Wir wollen, dass Parlament und Öffentlichkeit künftig vierteljährlich umfassend unterrichtet werden. Endver- bleibskontrolle soll bei uns auch tatsächliche Kontrolle vor Ort bedeuten und nicht nur ein Ehrenwort des Ver- käufers umfassen. Neben dem Gemeinsamen Standpunkt muss auch die Rüstungsexportrichtlinie gesetzlich verankert werden. Menschenrechtskriterien sollen so künftig verbindlich bei der Entscheidung berücksichtigt werden. Die Bundesregierung macht sich offensichtlich nur Sorgen um die Nöte der Rüstungsindustrie und möchte daher bewusst keine transparenten Verfahren. Deren Strukturprobleme sind virulent: Die Staatsverschuldung steigt, und die Einkaufslisten der westlichen Verteidi- gungsminister werden kürzer. Die Interessenten der Rüstungsindustrie kommen daher zunehmend aus Nicht- NATO- oder Nicht-EU-Staaten. Allein mit den eigenen Mitteln aus den westlichen Verteidigungsbudgets könnte die europäische Rüstungsindustrie niemals ausgelastet werden. Auch 20 Jahre nach dem Ende des Ost-West- Konflikts sind die Überkapazitäten viel zu groß. Um die heimische Rüstungsindustrie trotz knapper Kassen am Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27299 (A) (C) (D)(B) Leben erhalten zu können, werden daher Exportwünsche der Firmen immer großzügiger beschieden. Dabei ist auch das wieder einmal eine denkbar kurz- sichtige Politik – nicht nur aus friedenspolitischer Sicht, sondern auch aus der Perspektive der exportierenden Industrie. Es führt kein Weg daran vorbei, die europäische – und mit ihr die deutsche – Rüstungsindustrie umfassend umzubauen. Es muss nicht jeder Staat die ganze Ferti- gungskette von militärischem Equipment vorhalten. Solch ein antiquiertes Souveränitätsverständnis muss endlich überwunden werden. Brauchen wir wirklich schon allein in Deutschland zwei große Hersteller für ge- panzerte Fahrzeuge? Wir brauchen stattdessen eine euro- päische Definition von Kernfähigkeiten, das heißt, wir müssen definieren, was militärisch gebraucht wird und was davon auch tatsächlich selbst entwickelt und her- gestellt werden muss. Wenn das geklärt ist, gilt es, den übrigen Betreibern konsequent Hilfestellung beim Umbau auf eine zivile Produktion zu leisten. Viele der jetzigen Rüstungsbetriebe verfügen bereits über zivile Sparten, die sie ausbauen könnten. Selbst Gewerkschaften wie die IG Metall haben sich hierüber bereits differenzierte Gedanken gemacht. Die 80 000 betroffenen Arbeitnehmer müssen deswegen noch lange nicht auf der Straße stehen. Indem die Bun- desregierung aber stattdessen weiterhin auf großzügige Exportgenehmigungen setzt und sich einer restriktiven Genehmigungspraxis verweigert, gibt sie der Rüstungs- industrie falsche Anreize. Das Problem Ihres Gesetzes ist weniger das, was darin steht, als das, was nicht darin steht. Die Konkretisierung der Straftatbestände ist zwar durchaus begrüßenswert, die eigentliche Chance der Ge- setzesnovellierung ist damit allerdings nicht genutzt worden. Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister für Wirtschaft und Technologie: Mit der Novellierung des Außenwirtschaftsrechts wird eine wichtige Zusage aus dem Koalitionsvertrag eingelöst. Unser Außenwirtschaftsrecht wird besser, indem die ausgesprochen komplexen Vorschriften vereinfacht wer- den. Dabei bleibt das hohe Kontrollniveau unangetastet. Deutschland ist eine Exportnation, und deshalb ist das Außenwirtschaftsrecht für uns so bedeutsam. Wir sind weltweit drittgrößter Exporteur von Waren. Deshalb ste- hen wir in einer besonderen Verantwortung: Kritische Güter dürfen nicht in falsche Hände gelangen. Eine ef- fektive Exportkontrolle setzt aber auch voraus, dass die Vorschriften verständlich sind. Wir dürfen unsere Exportunternehmen nicht mit unnötig komplizierten Vorschriften belasten, sondern wir müssen dafür sorgen, dass unsere hohen Standards in einen möglichst ver- ständlichen Rechtsrahmen gefasst werden. Warum brauchen wir diese Novelle? Unser Außen- wirtschaftsrecht ist bereits 1961 in Kraft getreten. Seitdem hat sich Europa kontinuierlich verändert. Die EU-Mitgliedstaaten haben ein gemeinsames EU-Export- kontrollrecht geschaffen. Aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten müssen unsere exportierenden Unternehmen daher sowohl euro- päisches als auch nationales Recht beachten. Das trägt zur Komplexität der Materie bei. Zu einer effektiven Exportkontrolle gehört auch, dass das Exportkontroll- system bei Bedarf an neue außen- und sicherheitspoliti- sche Gefährdungen angepasst wird. Das war und ist ein besonderes Anliegen des deutschen Gesetzgebers. Des- halb wurde das Außenwirtschaftsgesetz seit 1961 etwa 60-mal geändert. Diese stetigen Überarbeitungen hatten ihren Preis: Unser Außenwirtschaftsrecht ist besonders unübersichtlich und schwer verständlich geworden. Das ändert sich jetzt. Mit der Novelle wird das AWG vereinfacht und übersichtlicher gestaltet. Die Experten haben dies in der Anhörung am 10. Dezember letzten Jahres bestätigt: Dieses Ziel erreichen wir, ohne die hohen Standards anzutasten. Worin besteht also diese Vereinfachung? Nach dem Entwurf wird das AWG massiv gekürzt. Es entfallen ei- nige Beschränkungsmöglichkeiten, die ausschließlich industriepolitisch motiviert waren. Es bleibt bei den klassischen außenwirtschaftsrechtlichen Beschränkun- gen. Diese bleiben unangetastet. Die Novelle führt daher nicht zu einer Vereinfachung beim Export von Rüstungs- gütern. Das spricht auch gegen den Entschließungs- antrag der SPD-Fraktion. Dieser würde das Gesetz nur unangemessen aufblähen und neue bürokratische Anfor- derungen einführen. Mit den Zielen der Novelle, ein ein- faches Außenwirtschaftsrecht zu schaffen, hat das nichts zu tun. Zudem wird die Achtung der Menschenrechte schon nach geltendem Recht bei der Genehmigungs- erteilung zwingend geprüft. Weiter wird das gesamte Außenwirtschaftsrecht sprachlich überarbeitet. Es werden Wertungswidersprüche zwischen dem europäischen Recht und dem deutschen Außenwirtschaftsrecht beseitigt. Schließlich möchte ich noch auf wichtige materiell- rechtliche Änderungen hinweisen. Mit der Novelle werden auch alle Straf- und Bußgeldbewehrungen über- arbeitet. Es bestehen Zweifel, ob die Strafbewehrungen nach dem geltenden AWG hinreichend bestimmt sind. Das hat die Rechtsprechung kritisiert. Zudem ist die Abgrenzung zwischen Straftaten und Ordnungswidrig- keiten sehr schwierig. Der Gesetzentwurf differenziert hier klar nach dem Grad der Vorwerfbarkeit: Vorsätzliche Verstöße gegen wesentliche Genehmigungserfordernisse oder Verbote sind immer Straftaten. Fahrlässig begangene Verstöße sind mit wenigen Ausnahmen Ordnungswidrigkeiten. Mit dieser Anpassung ist eine klare Botschaft verbun- den: Wer sich bewusst über das Außenwirtschaftsrecht hinwegsetzt, wird bestraft. Das führt bei Vorsatztaten zu einer Strafverschärfung im Vergleich zum Status quo. Bei fahrlässigen Verstößen sieht der Entwurf dagegen eine Erleichterung vor: Wenn dem Mitarbeiter eines exportierenden Unternehmens versehentlich ein Fehler unterläuft, wird er nicht kriminalisiert. Solche Mitarbei- ter wollen sich eigentlich rechtstreu verhalten. In diesen Fällen ist ein Bußgeld die angemessene Sanktion. 27300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Lassen Sie mich zusammenfassen. Der Schwerpunkt der Novelle liegt auf der Rechtsbereinigung und Verein- fachung. Zudem gibt es eine deutliche Abgrenzung zwischen strafbarem und ordnungswidrigem Verhalten. Damit tragen wir zur Klarheit und Übersichtlichkeit des Gesetzes bei – im Interesse unserer Exportunternehmen und damit im Interesse Deutschlands. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Reisen für alle – Für einen sozialen Tourismus (Tagesordnungs- punkt 14) Marlene Mortler (CDU/CSU): Ihr Antrag weist zu Recht darauf hin, dass die Teilhabe aller Bevölkerungs- kreise am Tourismus erklärtes Ziel der Bundesregierung ist. In den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundes- regierung vom Dezember 2008 heißt es: „Auch Men- schen mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen Einschränkungen sollen reisen können“. Das ist auch un- ser erklärtes Ziel. Es stimmt auch, dass die Bundesrepu- blik sich grundsätzlich für einen nachhaltigen sozialen Tourismus im Sinne der UNWTO-Menschenrechtskon- vention einsetzt, die das Recht auf direkten und persön- lichen Zugang zur Entdeckung und zu dem Genuss der Ressourcen des Planeten für alle Bewohner der Welt ge- währleisten soll. Hier ist aber eher die Reisefreiheit ge- meint. Ich gebe Ihnen recht, dass vielen Menschen das Geld fürs Reisen fehlt. Das beste Mittel dagegen ist eine ver- nünftige Wirtschaftspolitik, damit genügend Geld im Lohnbeutel ist. Wir sind auf gutem Weg: Gestern ging über den Ti- cker: Tarifgehälter 2012 deutlich um 2,7 Prozent gestie- gen. So weit so gut. Ehrlich gesagt fühle ich mich aller- dings ein wenig wie vor 14 Tagen: Damals haben wir an eben dieser Stelle einen Antrag Ihrer Fraktion zum Thema Schulspeisung für alle debattiert. Der Dissens zwischen uns von damals ist der von heute. Sie tischen munter wünschenswerte Wohltaten auf. Der Bund soll zahlen und koordinieren. Wir müssen uns aber nicht nur fragen, was wünschenswert ist, sondern auch: Was ist machbar? Und vor allem: Was leistet un- sere Bundesregierung auf diesem Gebiet bereits? Eini- ges! Und das, obwohl sie nach dem Grundgesetz nur den Rahmen festlegen darf. Denn, wie Sie wissen bzw. wis- sen sollten, fällt der Tourismus in die Zuständigkeiten der Bundesländer. Deshalb richten sich Ihre Forderun- gen an die falsche Adresse. Zunächst zu Ihrer Forderung, die Bundesregierung solle Mitglied in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus, IOST, werden und dort aktiv mitarbei- ten: Die Forderung von Ihnen ist nicht neu. Wir haben Sie bereits am 24. Februar 2011 hier an dieser Stelle de- battiert. Damals wie heute lehne ich sie ab. Warum? Erstens. Ein möglicher Nutzen einer Mitgliedschaft Deutschlands in der bisher relativ unbekannten Interna- tionalen Organisation für Sozialtourismus ist nur schwer erkennbar. So sind zum Beispiel Praxisbeispiele anderer Staaten oder Perspektiven des Sozialtourismus auf euro- päischer Ebene schon Gegenstand des Projektes Calypso der Europäischen Kommission, auf das auch ausdrück- lich auf der Internetseite der IOST hingewiesen wird. In dieser Studie konnte nicht belegt werden, wie die darge- stellten Praktiken oder daraus abgeleitete mögliche euro- päische Programme sich wirtschaftlich auswirken. Die geplante Ausgestaltung von Calypso lässt die Entste- hung eines Subventionswettlaufs zwischen den Mit- gliedstaaten befürchten mit der Gefahr, dass sich fi- nanziell selbst tragende Angebotsstrukturen zugunsten subventionsabhängiger Strukturen verdrängt würden. Eine solche mögliche Entwicklung lehnen wir ab. Zweitens. Die Bundesregierung hat zu Recht darauf hingewiesen, dass es sich auch haushaltspolitisch nicht rechtfertigen ließe, mit staatlichen Mitteln den Urlaub bestimmter Bevölkerungsgruppen in anderen Mitglied- staaten zu finanzieren. Drittens. In der Mitgliederliste der IOST finden sich keine Regierungen, lediglich Ministerien einzelner Län- der. Aus Deutschland ist das Bundes Forum Kinder- und Jugendreisen dabei, das mit Mitteln des Kinder- und Ju- gendplans des Bundes gefördert wird. Sie fordern Reisezuschüsse für Hartz-IV-Empfänger. Es ist bekannt, dass Hartz-IV-Empfänger nach der Er- reichbarkeits-Anordnung keinen Anspruch auf Urlaub haben. Diese dürfen nur verreisen, wenn die Arbeits- agentur zustimmt; denn Arbeitslose müssen für kurzfris- tige Jobangebote zur Verfügung stehen. Zuschüsse zum Urlaub stehen Hartz-IV-Empfängern nicht zu. Kinder von Hartz-IV-Empfängern brauchen allerdings auf Klas- senfahrten nicht zu verzichten. Grundsätzlich ist die Unterstützung von Klassenfahrten Sache der Schulträ- ger; aber nach einer Reihe von Vorschriften wie SGB II, SGB III, BKGG, AsylbLG und auch für Familien mit ge- ringem Einkommen gibt es Zuschüsse für mehrtätige Klassenfahrten. Die Bundesregierung fördert zudem in erheblichem Umfang den Bau und die Einrichtung von Familienferi- enstätten, Jugendbildungs- und Begegnungsstätten, Ju- gendherbergen, die internationale Jugendarbeit im Rahmen des Kinder- und Jugendplans des Bundes sowie zum Beispiel den gezielten bilateralen Jugendaustausch über das Deutsch-Französische Jugendwerk und das Deutsch- Polnische Jugendwerk. Es ist sogar vorgesehen, das Budget für das DFJW für dieses Jahr um 1 Million Euro zu erhöhen. Darüber hinaus fördert der Bund Projekte der Natio- nalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo, und der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien, abm. Hier möchte ich gern auf das Projekt „Zukunfts- projekt Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“ hinweisen. Dieses wurde auf Initiative der christlich- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27301 (A) (C) (D)(B) liberalen Bundestagsfraktionen auf Betreiben des Bundes- wirtschaftsministeriums gerade auf den Weg gebracht. Auch die Länder engagieren sich: Sie unterstützen ge- ringverdienende Familien bei der Finanzierung gemein- samer Ferien zum Beispiel in gemeinnützigen Familien- ferienstätten durch Individualzuschüsse. Ich verweise an dieser Stelle auf neue vorbildliche Programme der Länder Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sowie „Familien- begegnung mit Bildung“, die Ferien für Familien, Sozial- hilfeempfänger anbieten, die nur sehr wenig oder nichts kosten und in die auch Hartz-IV-Empfänger einbezogen werden. Auf lokaler Ebene gibt es weitere Programme zur Kinder- und Jugenderholung zum Beispiel in Ferien- lagern, die über Jugendämter aus öffentlichen Mitteln finanziert werden, Unterstützung gibt es auch von freien Trägern und den Kirchen. Reisen lässt sich nicht von oben nach unten diktieren. Welche Möglichkeiten gibt es, preisgünstiges Reisen weiter zu fördern? Wir müssen uns nicht nur um mehr Zuschüsse küm- mern, sondern sollten dafür sorgen, dass das Angebot für günstige Quartiere und Reisen erweitert wird. Auch das ist aber Landessache bzw. eine kommunale Angelegen- heit: An diese Stelle appelliere ich, den Investoren preis- günstig Grundstücke oder vernünftige Liegenschaften zur Verfügung zu stellen oder eigene Grundstücke fürs Campen, wie zum Beispiel in Frankreich. Kommunen müssen Angebote vorhalten. Ich weiß, dass es zurzeit mehrere private Investoren gibt, die Platz zum Bauen von Hotels suchen. Dazu ge- hört aber ebenso die Bereitschaft des einheimischen Gast- und Hotelgewerbes, neue Hotels zuzulassen. Ich kenne aus der Praxis in Bayern durchaus Beispiele, wo neue Investoren bei den Einheimischen auf Granit gebis- sen haben. Was Ihre Forderung nach der Erhebung von statisti- schen Reisedaten zum Sozialtourismus betrifft, bin ich der Ansicht: Man sollte Daten erheben, die nicht nur den Sozialtourismus, sondern die gesamte demografische Entwicklung mit Blick auf das Reiseverhalten insgesamt im Fokus haben und die von Ihnen genannten Personen- gruppen um die der Migranten erweitern. Aus den oben genannten Gründen ist Ihr Antrag ins- gesamt abzulehnen. Ingbert Liebing (CDU/CSU): Der vorliegende An- trag kritisiert die Bundesregierung für die mangelnde Förderung eines sozialen Tourismus’ in Deutschland. Die Fraktion der Linken fordert, dass sich die Bundesre- gierung in diesem Bereich mehr engagiert und ein Pro- gramm zur Durchsetzung eines sozialen Tourismus’ vor- legt. Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Teilhabe aller Be- völkerungsgruppen am Tourismus ein wichtiges Thema. Dies bezieht sich unter anderem auf Menschen aller Al- tersgruppen, Personen mit geringem Einkommen oder Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Für all diese Gruppen bietet Tourismus einen wichtigen Zugang zu Erholung, Bildung und dem Kennenlernen anderer Umgebungen. Dies ist uns durchaus bewusst, und so ist die umfassende Teilhabe aller Menschen an touristischen Angeboten erklärtes Ziel der Bundesregierung. Und zu diesem Ziel stehen auch wir als CDU/CSU-Fraktion. Mit ihrem Antrag verliert die Linke dagegen aus den Augen, wie vielfältig „Tourismus für alle“ in Deutschland be- reits durch die Bundesregierung gefördert wird. Zunächst möchte ich auf eine generelle inhaltliche Schwäche des Antrags eingehen. Die Linke fordert die „Stärkung von Verantwortung und Kompetenzen des Bundes für einen sozialen Tourismus“. Gesetzlich ist aber festgelegt, dass Tourismusförderung primär eine Kompetenz der Länder ist. Ebenso wird die Wiederauf- nahme der Landesförderung für Familienreisen gefor- dert. Hier ist die Bundesregierung jedoch klar der fal- sche Adressat. Die Fraktion der Linken sollte sich zunächst einmal über die Kompetenzaufteilung der Bun- desrepublik informieren, bevor sie solche Forderungen stellt. Eine weitere konkrete Forderung bezieht sich auf die Bereitstellung von Mitteln im Rahmen der Regelbedarfs- sätze. Die Regelsätze im SGB II sind jedoch rechtssicher ausgestattet, vom Bundesverfassungsgericht bestätigt. Darüber hinausgehende Wohltaten zu versprechen, mag für die Linken attraktiv sein – verantwortungsvoll ist das nicht angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidie- rung, der Schuldenbremse, aber auch angesichts des Ge- bots sozialer Gerechtigkeit. Je mehr wir für SGB-II- Bezieher bieten, umso mehr empfinden dies die Gering- verdiener, die knapp über der Einkommensgrenze lie- gen, also sozial ungerecht. Zudem wird der Kinder- und Jugendtourismus bereits in umfassender Weise durch die Bundesregierung unter- stützt. Das Jahr 2013 steht im Zeichen des von der Deut- schen Zentrale für Tourismus ausgerufenen Themenjah- res „Junges Reiseland Deutschland“. Für 2013 wird allein die DZT mit 28,275 Millionen Euro durch die Bundesregierung gefördert. Denn gerade für Kinder und Jugendliche haben Reisen eine große soziale und päda- gogische Bedeutung. So werden viele Projekte gefördert: Für Jugendbil- dungs- und Jugendbegegnungsstätten stehen auch in die- sem Jahr wieder 3 Millionen Euro zur Verfügung. Im Rahmen des Kinder- und Jugendplans stellt die Bundes- regierung für die Internationale Jugendarbeit 17,9 Mil- lionen Euro bereit. Ebenso erhält das Deutsch-Französi- sche Jugendwerk im Jahr 2013 Fördermittel in der Höhe von 11,226 Millionen Euro. Auch im 2012 begonnenen „Zukunftsprojekt Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“, dessen Trägerschaft das Deutsche Ju- gendherbergswerk innehat, fördert das BMWi die Ange- bote sowohl gemeinnütziger als auch kommerzieller An- bieter. Hier liegt das Gesamtbudget bei 325 000 Euro, Eigenanteil DJH 32 500 Euro. Positives Beispiel für die Förderung gemeinsamer Urlaube mit der gesamten Familie ist auch die Bundes- arbeitsgemeinschaft Familienerholung. Seit den 50er- Jahren werden in rund 120 Familienerholungsstätten in 27302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) ganz Deutschland kostengünstige Urlaubsangebote ge- macht. Dabei richtet sich die Förderung unter anderem auch an alleinerziehende Elternteile, kinderreiche Fami- lien oder solche mit behinderten oder pflegebedürftigen Angehörigen. Diese gehören unter anderem zu den Be- völkerungskreisen, deren Förderung die Linke im vorlie- genden Antrag fordert. Doch auch außerhalb des Kinder- und Jugendtouris- mus’ setzt sich die Bundesregierung für eine verbesserte Teilhabe an touristischen Angeboten ein. Besonders durch barrierefreie Angebote können große Teile der Be- völkerung profitieren. Obwohl es hier schon viele posi- tive Beispiele gibt, müssen die Angebote noch ausge- weitet und verbessert werden. Dies geschieht zum Beispiel durch das Projekt „Tourismus für alle: Entwick- lungen und Vermarktung barrierefreier Angebote und Dienstleistungen in Deutschland“, welches die Bundes- regierung mit fast 500 000 Euro unterstützt. Zentrales Anliegen dieses Projektes ist es, den barrierefreien Tou- rismus zu erleichtern und die Teilhabe von Menschen mit Mobilitätseinschränkungen zu verbessern. Dies soll etwa durch einheitliche Qualitätsmerkmale oder die Sen- sibilisierung von Mitarbeitern geschehen. Zuletzt möchte ich auch auf die vielfältigen Urlaubs- formen hinweisen, die außerhalb der direkten Förderung der Bundesregierung günstigen, aber attraktiven Urlaub ermöglichen. Gerade in ländlichen Räumen werden be- sonders Familien, aber auch Senioren, Geringverdienern oder Menschen mit körperlichen Einschränkungen her- vorragende Urlaubsangebote gemacht. Ein letzter Punkt, der gegen diesen Antrag spricht und den ich besonders hervorheben möchte, betrifft die er- neut geforderte Mitgliedschaft in der International Orga- nisation of Social Tourism. Dieses Thema hatten wir erst vor zwei Jahren im Plenum auf der Tagesordnung und haben es sowohl hier als auch in den Ausschüssen inten- siv diskutiert. Schließlich wurde der dazugehörige An- trag aus gutem Grund abgelehnt. Neben allgemeinen for- malen Bedenken, nach denen die Beteiligung der Bundesrepublik in einer vornehmlich von Nichtregie- rungsorganisationen geprägten Organisation eher frag- würdig ist, sprach vor allem die umfassende Förderung, die die Bundesregierung in diesem Bereich schon vor- nimmt, gegen die Mitgliedschaft. Diese wäre nicht ziel- führend gewesen. Warum die Linke diesen bereits inten- siv diskutierten Punkt innerhalb so kurzer Zeit erneut auf die Tagesordnung setzt, ist mir nicht klar. Er spricht klar gegen den vorliegenden Antrag. Es ist offensichtlich, dass der vorliegende Antrag der Fraktion der Linken wenig hilfreich ist. Nicht nur, dass der Antrag die gesetzlich festgelegte Kompetenzauftei- lung von Bund und Ländern ignoriert; auch kommende Generationen werden uns dankbar sein, dass wir lang- fristig die Belastung durch einen ausgeglichenen Haus- halt gering halten, anstatt diesen durch Urlaubsförderung weiter hinauszuschieben. Die vielfältigen Angebote und Projekte, die die Bun- desregierung mit initiiert hat und fördert, zeigen deut- lich, wie sehr sie sich für den umfassenden Zugang aller Bevölkerungskreise zu touristischen Angeboten einsetzt. Dieses Engagement wird zusätzlich von einer großen Zahl an Initiativen der Länder und Kommunen komple- mentiert. Eine letze Anmerkung möchte ich aber gerade an die Adresse der Antragssteller der Fraktion Die Linke anfü- gen: Sie schreiben von einem Recht auf Tourismus. Als direkte Nachfolger der SED ist dies eine unglaubliche Dreistigkeit. Sie stehen in der Tradition derer, die ihr Volk in der damaligen DDR mit Mauer und Stacheldraht eingesperrt haben, in einem Land, in dem es kein Recht auf Tourismus und kein freies Reisen gab. Und Sie reden heute von einem solchen „Recht auf Tourismus“? Mit dieser Vergangenheit ist die Fraktion der Linken die al- lerletzte, die solche Forderungen stellen darf. Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Wir haben heute erneut die Gelegenheit, über ein wichtiges Thema zu sprechen. Sind Reisen und Urlaub für alle erschwinglich? Dabei geht es um die zentrale Frage, ob alle Menschen Chan- cen auf Teilhabe in unserer Gesellschaft erhalten. So bit- ter wie es ist: Dass wir in dieser Frage von der Regie- rung und den Koalitionsfraktionen keine Initiative erwarten können, dürfte in diesem Hause niemanden mehr überraschen. Erst gestern hat das Kabinett ent- schieden, den vierten Armuts- und Reichtumsbericht, auf den wir seit etlichen Monaten vergeblich warten, noch weiter hinauszuzögern und – ich nehme an – den Bericht noch stärker zu verwässern. Schwarz-Gelb will offensichtlich keine offene Debatte über die Entwick- lung von Arm und Reich in diesem Land. Beschämend ist das. Die Fraktion die Linke hat uns einen Antrag vorge- legt, der besagt: Alle Menschen sollen am Tourismus teilhaben können. Dafür setzt sich die SPD seit langem ein. Wir haben 2009 in den Tourismuspolitischen Leitli- nien der Bundesregierung festgelegt: „Auch Menschen mit gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Ein- schränkungen sollen reisen können.“ Die SPD-Fraktion hat in dieser Wahlperiode mehrere Initiativen für die Teilhabe am Tourismus ins Parlament gebracht. Vor al- lem Menschen mit Behinderungen finden noch viele Barrieren vor, die ihnen das Reisen unmöglich machen. Das müssen wir gemeinsam mit den Ländern und Kommunen ändern. Weg mit den Barrieren – reißen wir sie ein! Wir haben 2011 einen umfangreichen Maßnah- menkatalog für barrierefreien Tourismus in Deutschland vorgelegt. Schwarz-Gelb hat diesen leider abgelehnt. Teilhabe am Tourismus ist aber auch eine Frage von Arm oder Reich. Fest steht: Wir sind weit davon ent- fernt, dass sich jede Familie, Alleinerziehende mit Kin- dern und jeder Rentner eine Urlaubsreise leisten kann. Deshalb ist es richtig, Menschen, die aus eigener Tasche keinen Urlaub stemmen können, zu unterstützen. Wir wissen alle: Besonders Kinder und Heranwachsende profitieren von Reisen in ihrer Persönlichkeitsentwick- lung. Für Familien, die besonders wenig zum Leben haben und auf Arbeitslosengeld I oder Sozialhilfe ange- wiesen sind, springt der Staat für mehrtägige Klassen- fahrten der Kinder und Jugendlichen ein. So ist gesi- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27303 (A) (C) (D)(B) chert, dass die Kinder nicht außen vor bleiben, wenn ihre Klasse verreist. Die SPD hat in den Hartz-IV-Verhandlungen Anfang 2011 erreicht, dass auch eintägige Schulausflüge finan- ziert werden. Ebenso haben wir uns im Vermittlungsaus- schuss erfolgreich dafür eingesetzt, dass vom Bildungs- und Teilhabepaket auch Kinder aus Familien profitieren, die Kinderzuschlag und Wohngeld beziehen. Dadurch haben rund 500 000 Kinder und Jugendliche zusätzlich Anspruch auf die monatlichen 10 Euro, die auch für Fe- rienfreizeiten angespart werden können. CDU/CSU und FDP wollten das verhindern. Gut, dass Schwarz-Gelb im Bundesrat nicht mehr an der SPD vorbeikommt, schon gar nicht mehr nach dem tollen Wahlsieg von Stephan Weil in Niedersachsen. Wir haben auch die Berechnung der Regelsätze von Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Grundsicherung im Alter kritisiert. Frau von der Leyen rechnet zum Beispiel bei der dem Regelsatz zugrunde liegenden Auswertung der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die Ausga- ben für Beherbergungskosten einfach heraus. Auch durch andere „Tricks“ vermindert die Sozialministerin den Regelsatz künstlich. Verstecken, Tricksen, Aussit- zen – so sieht das Programm der Regierung Merkel aus. Die Linke spricht in ihrem Antrag die Finanzierung von Familienerholung und damit eine traurige Bilanz an: Mittlerweile haben sechs der sechzehn Bundesländer die Zuschüsse eingestellt. Dies sind vor allem Länder, wo Schwarz-Gelb noch regiert oder bis vor kurzem in Ver- antwortung war. 2011 haben CDU und FDP die Landes- zuschüsse auch in meinem Bundesland, Schleswig-Hol- stein, gestrichen. Nun führt die SPD die Regierung im schönen Norden. Ich hoffe, dass sich der Wind damit zwischen Nord- und Ostsee dreht und Reisen für Fami- lien mit geringem Einkommen wieder vom Land unter- stützt werden. Die Debatte zeigt aber auch: Es muss genügend preis- werte Urlaubsangebote geben. Diese stellen zum Beispiel das Jugendherbergswerk, die Bundesarbeitsgemeinschaft Familienerholung, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kir- chen, Naturfreunde und viele andere Einrichtungen be- reit. Die Linke fordert hier zu Recht mehr Investitionen. Denn viele Unterkünfte leiden unter einem Renovie- rungsstau. Dieser verstärkt sich noch, wenn die staatliche Förderung, so wie jetzt, zurückgefahren wird. Sehr geehrte Mitglieder der Regierungskoalition, ge- nau das haben Sie zu verantworten. Sie haben im Haus- halt 2013 die Mittel für Jugendherbergen, Jugendbil- dungs- und Begegnungsstätten um 1,5 Millionen Euro auf nur noch 3 Millionen Euro gekürzt. Damit brechen in vielen Häusern weitere Mittel weg. Sanierungen, Erwei- terungen, Neubauten müssen damit verschoben werden oder bleiben ganz auf der Strecke. Die SPD hat sich im Haushaltsausschuss mit einem Antrag gegen die Kür- zungen gestellt. Den haben CDU/CSU und FDP abgebü- gelt – zulasten der Jugendherbergen und anderer Ein- richtungen. Das ist der falsche Weg. Der Antrag der Fraktion Die Linke geht dagegen in die richtige Richtung. Einige der Forderungen sind aller- dings fragwürdig. Sie fordern, das Thema Sozialtouris- mus in alle touristischen Aus- und Weiterbildungen auf- zunehmen. Ich glaube nicht, dass dies unbedingt in den Lehrplan angehender Köche oder Restaurantfachfrauen gehören muss. Auch Ihre erneute Forderung, dass deut- sche Behörden in der Internationalen Organisation für Sozialtourismus, kurz ISTO, mitarbeiten sollen, halten wir nicht für stichhaltig, da kaum andere staatliche Stel- len Mitglied der ISTO sind. Zudem ist Deutschland mit dem BundesForum Kinder- und Jugendreisen bereits gut vertreten. Alle Menschen müssen sich einen Urlaub leis- ten können. Das muss unser Anspruch sein. Das Kernproblem, das diese Regierung nicht löst, ist doch, dass die Einkommen der Menschen zu niedrig sind. Wir brauchen endlich einen flächendeckenden ge- setzlichen Mindestlohn und eine höhere Tarifbindung, indem die Tarifverträge leichter allgemeinverbindlich werden können. Das sichert gute Löhne. Davon will Schwarz-Gelb aber nichts wissen. CDU/CSU und FDP haben kein Interesse, allen Bürgerinnen und Bürgern Teilhabechancen zu gewähren. Das müssen die Men- schen wissen, wenn Sie am 22. September 2013 zur Wahl gehen. Jens Ackermann (FDP): Reisen für alle; für einen sozialen Tourismus. – Wer da nicht sofort an 40 Jahre FDGB-Heime und Ernteeinsätze unter dem Deckmantel der netten Feriengestaltung denkt, der hat die DDR nicht erlebt oder verdrängt. In ihrem Antrag fordern die Linken dann auch, wie man es von ihnen gewohnt ist, eine ganze Reihe von Maßnahmen auf nationaler, europäischer und gar internationaler Ebene – egal ob es realistisch ist oder einfach nur schön klingt. Natürlich sei es jedem Bürger unseres Landes vergönnt, zu reisen oder in den Urlaub zu fahren. Doch jeder, vor allem jede junge Familie weiß, dass Urlaub nun mal nicht alltäglich, sondern etwas Be- sonderes ist. Auch Familien aus der sogenannten Mittel- schicht können nicht jederzeit in den Urlaub reisen; denn auch sie haben zuerst andere, wichtigere – grundlegen- dere – finanzielle Verpflichtungen. Dann stellt sich mir auch noch die Frage, wo für die Linken Urlaub oder Reisen anfängt. Reicht es nicht manchmal, mit der S-Bahn raus an den Müggelsee zu fahren? Muss man denn immer die Ferne als das einzige Reiseerlebnis anpreisen? Ich glaube jedes Kind erinnert sich mehr an die lustigen und schönen Momente mit lie- ben Menschen – egal wo diese stattfanden. Für mich und meine Fraktion steht es aber natürlich außer Frage, dass den Menschen die Möglichkeit gege- ben werden sollte, frei zu entscheiden, was sie mit ihrer Freizeit anfangen wollen. Dazu haben wir auch bis heute einen sehr wichtigen Beitrag geleistet. 2012 waren so viele Menschen in Deutschland erwerbstätig wie noch nie zuvor. Mit durchschnittlich 416 000 mehr Erwerbstä- tigen als 2011 konnte der Rekord aus dem vorangegan- genen Jahr nochmals gebrochen werden. Zudem gab es im vergangenen Jahr mit durchschnittlich 2,897 Millio- nen so wenige Arbeitslose wie seit über 20 Jahren nicht mehr. Die teilweise verheerende Arbeitsmarktsituation in vergleichbaren europäischen Ländern zeigt, wie ro- 27304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) bust der deutsche Arbeitsmarkt mittlerweile ist. Nur so kann Teilhabe für alle geschaffen werden. So werden die Rentenkassen aufgefüllt und am Ende haben alle etwas davon. Wir wollen keine Fördermittel oder Geldgeschenke mit der Gießkanne verteilen. Wir möchten, dass alle Menschen in unserem Land in Lohn und Brot stehen und sich damit ihre Freizeit selbst so gestalten, wie sie es gerne möchten und für richtig halten. Es soll auch tat- sächlich Bürgerinnen und Bürger geben, die nicht gerne reisen. Dass noch in diesem Jahr alle mehr im Geldbeutel ha- ben werden und sich dafür vielleicht auch so etwas wie einen Ausflug oder eine kleine Reise leisten können, da- rauf sind wir stolz. So haben wir als christlich-liberale Koalition beschlossen, den steuerlichen Grundfreibetrag in zwei Stufen 2013 und 2014 um insgesamt 350 Euro anzuheben. Parallel dazu soll die kalte Progression abge- mildert werden, indem der Tarifverlauf so angepasst wird, dass die Steuersätze erst bei einem höheren Einkommen greifen. Damit hat unsere Koalition Entlas- tungen von 6,1 Milliarden Euro auf den Weg gebracht. Dieses Projekt wird leider zulasten der kleineren und mittleren Einkommen von Rot-Grün im Bundesrat blockiert. Die Praxisgebühr wurde abgeschafft. Die Pa- tienten und damit genau jene Familien werden im Jahr um bis zu 160 Euro entlastet. Das Arbeitslosengeld II steigt. Der Regelbedarf steigt auf 382 Euro. Das alles sind Schritte, um soziale Annäherung zu schaffen – nicht die Forderung nach einem sozialen Tourismus. Den brauchen wir dann nämlich nicht. Wir blicken trotz der Krisenmeldungen aus Europa und der Welt auf eine po- sitive Entwicklung in Deutschland und so soll es unserer Meinung nach auch weitergehen. Ich möchte jetzt noch auf eine der Forderungen aus ihrem Forderungskatalog eingehen, liebe Linksfraktion. Es gibt seit 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket, das schon jetzt ein- oder mehrtägige Klassenreisen von Kin- dern unterstützt, sodass es zukünftig nahezu jedem Kind möglich sein sollte, an einer Klassenfahrt teilzunehmen. Im Übrigen hatte die Linke zehn Legislaturperioden Zeit, all diese Maßnahmen vorzubereiten. Leider hat sie diese Zeit, wie so oft, nicht genutzt, um Wohlstand und Freiheit zu mehren – ganz im Gegenteil. Kornelia Möller (DIE LINKE): Unser Antrag ist ein Plädoyer für mehr Solidarität im Tourismus, und zwar national wie auch international. Der aktuelle EU-Sozial- bericht gibt erneut Anlass, das Thema Solidarität ganz oben auf die Agenda der Politik zu setzen. In Europa driften arme und reiche Länder immer weiter auseinan- der, und die Krisenbewältigungspolitik der Bundesregie- rung reißt diese Kluft noch weiter auf. Und auch im ei- genen Land besteht ein großes Solidaritätsdefizit. Deswegen musste der Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung auch weichgespült werden. Im Tourismus vertieft und verfestigt sich eine Zwei- klassengesellschaft als Folge des Auseinanderdriftens der Einkommen. Diese Entwicklung wollen wir nicht hinnehmen. Die Tourismuspolitik der Koalition ist gekennzeich- net durch einseitige ökonomische und Gewinnausrich- tung, durch Marktgläubigkeit, durch Entsolidarisierung, durch schlechte Arbeits- und Einkommensbedingungen für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der Branche und eine tiefe soziale Spaltung des inländischen touristischen Kundenpotenzials. Die vorliegenden Fak- ten sprechen eine klare Sprache: In Deutschland ist ein großer Teil der Bevölkerung vom Tourismus ausge- schlossen. Die Tourismuspolitik der Bundesregierung ist euro- pafeindlich, vor allem, wenn es um sozialen Tourismus geht. Das zeigte bereits die Debatte zum Antrag der Linksfraktion zur Mitarbeit im Rahmen der Internationa- len Sozialtouristik-Organisation, ISTO. Bei Merkel und Co. dominierten nationaler Egoismus, wenn sie die Mit- arbeit im Rahmen der EU-Initiative Calypso strikt ableh- nen, wenn sie das zweifellos erhebliche touristische Potenzial der Bundesrepublik und die Erfahrungen auf diesem Gebiet nicht in den Dienst der Verbesserung des europäischen Sozialtourismus stellen wollen. Die Argu- mente sind teilweise haarsträubend: Frau Mortler, Vor- sitzende der CDU/CSU-Fraktionsarbeitsgruppe Touris- mus, wollte zum Beispiel verhindern, „dass deutsche Steuerzahler den Urlaub beispielsweise dänischer Rent- ner in Spanien finanzieren“. Das ist völlig aus der Luft gegriffener Unsinn. Da werden Gespenster an die Wand gemalt, um Solidarität zu verhindern. Noch abenteuerli- cher ist das Argument, dass es sich bei einem öffentlich geförderten Urlauberaustausch über Ländergrenzen hin- weg „um Ausgrenzung“ handelt und sich die „betroffe- nen Menschen als Reisende zweiter Klasse fühlen müss- ten“. Liebe Frau Mortler, was glauben Sie, wie sich jene Menschen in unserem Land fühlen, denen jegliches Rei- sen, Urlaub überhaupt, aufgrund ihrer sozialen Situation verwehrt sind? Bei solcher Geisteshaltung ist es nicht verwunderlich, dass dem Vorschlag des EU-Industrie- kommissars Tajani von 2012, zwecks besserer Auslas- tung von Urlaubsunterkünften in der Nebensaison Rei- sen für Seniorinnen und Senioren mit öffentlichen Mitteln zu subventionieren, von deutscher Seite sofort eine Abfuhr erteilt wurde, und dies, obwohl Tajanis Vor- stoß in erster Linie auf höhere Steuereinnahmen zielte. Wir meinen: Bei allen großen und wichtigen europäi- schen Sozialtourismusinitiativen sollte Deutschland mit seinem Potenzial nicht länger abseits stehen. Und ist es nicht ein Armutszeugnis, wenn die deut- sche Reisebranche zwölf Jahre brauchte, um den Globa- len Ethik-Kodex der Welttourismusorganisation zu un- terschreiben, der die Förderung des Sozialtourismus ausdrücklich fordert? Solidarität darf kein Lippenbekenntnis sein. Notwen- dig sind konkrete politische Weichenstellungen. Genau darauf zielt unser Antrag. Er beinhaltet einen ganzen Komplex von Maßnahmen für einen sozialen und solida- rischen Tourismus und bildet deshalb ein scharfes Kontrastprogramm zur gegenwärtigen schwarz-gelben Tourismuspolitik. Wir erinnern Sie von den Regierungs- parteien damit an ihre eigenen tourismuspolitischen Leitlinien, an den Vorsatz, dass auch Menschen mit ge- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27305 (A) (C) (D)(B) sundheitlichen, sozialen und finanziellen Einschränkun- gen reisen können sollen – ein Versprechen, das Sie bis- her nicht eingelöst haben. Die Linksfraktion fordert ein ausreichendes Budget für Erholungsurlaub für Bedarfsgemeinschaften und Fa- milien mit Kindern im Rahmen der Regelbedarfssätze des SGB II sowie des SGB XII und die Aufstockung von öffentlichen Mitteln für die Finanzierung von Projekten des sozialen Tourismus. Das ist überfällig. Einen Schwerpunkt sehen wir in der verstärkten öf- fentlichen Förderung des Familienurlaubs sowie von Reisen Alleinerziehender mit Kindern. Das Niveau ver- gangener Jahre muss wieder erreicht werden. Denn die Reiseintensität von Familien ist innerhalb von 20 Jahren um 11 Prozent zurückgegangen. 2010 verreiste nur noch gut jede zweite Familie für mindestens fünf Tage. Wir halten die Wiederaufnahme und Erweiterung der Landesförderung für Familienreisen in verschiedenen Bundesländern für dringend notwendig und plädieren auch dafür, den Zugang zu diesen Reisen zu vereinfa- chen, zu entbürokratisieren und weitgehend zu verein- heitlichen. Vielfach scheitert gefördertes Reisen an büro- kratischen Barrieren. Mit der stärkeren Förderung von Familienreisen wird unsere Gesellschaft nicht nur kinderfreundlicher. Auch der Umsatz der Branche mit der touristischen Kernziel- gruppe Familien kann wieder erhöht werden. In vielen Fällen bringt mehr Solidarität im Tourismus der Branche und auch den Kommunen einen Zuwachs an Einnahmen und sichert vor allem Arbeitsplätze. Das belegen auch Fakten aus dem internationalen Sozialtourismus. Vielfältige Erfahrungen besitzt unser Land im geför- derten Kinder- und Jugendtourismus. Aber die Möglich- keiten sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Deshalb begrüßen wir das von der Regierung geförderte „Zu- kunftsprojekt Kinder- und Jugendtourismus in Deutsch- land“. Aber noch ist nicht erkennbar, ob gerade jenen Gruppen damit eine besondere Förderung zuteil wird, die bisher außen vor geblieben sind. Dabei muss ins Bewusstsein gerufen werden, dass noch vor drei Jahren Urlaubsreisen für mehr als ein Fünftel der Haushalte mit Kindern unter 14 Jahren finanziell unerschwinglich wa- ren. Aktuellere Zahlen kann ich Ihnen hierzu leider nicht präsentieren, weil der Aufbau einer soliden Statistik zur sozialen Struktur des Tourismus leider bisher versäumt wurde – vielleicht sogar bewusst? Wir setzen uns mit unserem Antrag dafür ein, auch dieses Versäumnis aus der Welt zu schaffen. Tourismus hat eine wichtige soziale Dimension, und für staatliche Entscheidungen auf diesem Gebiet, die das Leben von Millionen bestimmen, braucht man seriöse Fakten. Öko- logische und soziale Nachhaltigkeit im Tourismus – ein- geschlossen auch weitere Fortschritte bei der Barriere- freiheit – kann, wie wir wissen, nicht dem Markt überlassen bleiben, sondern braucht politische Gestal- tung. Und als Teil einer solchen politischen Gestaltung betrachten wir das von der Linksfraktion vorgeschlagene Fünfjahresprogramm für sozialen Tourismus, das die Bundesregierung dem Bundestag vorlegen soll. Wohl- bemerkt: Die Bundesregierung soll dieses Programm vorlegen. Damit dürfte wohl ausgeschlossen sein, dass es sich um die Rückkehr zu FDGB-Reisen handelt, wie es in einigen gehässigen Kommentaren bereits hieß – ob- gleich Frau Merkel die positiven Auswirkungen der FDGB-Reisen kennen sollte. Für alle anderen möchte ich hier auf einen großen Unterschied im Vergleich zwischen FDGB-Feriendienst und den heutigen kümmerlichen Ansätzen eines Sozial- tourismus in der Bundesrepublik hinweisen: Weil soziale Gerechtigkeit, Erholung, Bildung, Reproduktion des Arbeitsvermögens als oberste Prinzipien der Ferienpoli- tik des FDGB galten und die Reisen erschwinglich und preislich stabil waren – und deshalb so begehrt und von Millionen Menschen genutzt –, hat ihre Bereitstellung die damaligen ökonomischen Möglichkeiten überschrit- ten. Die heutige Bundesrepublik als ein reiches Land besitzt diese ökonomischen Möglichkeiten; trotzdem sind Millionen Menschen, darunter ein Drittel Kinder, von Urlaubsreisen ausgeschlossen. Diesen fundamenta- len Unterschied kann man auch mit Diffamierungen nicht überdecken. Ich hätte mir als Kind eine FDGB-Reise gewünscht. Dazu kam es aber nicht, weil ich im Westen geboren und aufgewachsen bin. Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir haben heute wieder ein außerordentlich wichtiges Thema auf der Tagesordnung, den Sozialtourismus. Tou- rismus an sich hat ja viele, auch soziale, Aufgaben, die man ihm auf den ersten Blick nicht immer direkt zu- schreibt. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir dieses Thema heute noch einmal intensiv beleuchten. Für uns Deutsche hat das Reisen bekanntermaßen ei- nen hohen Stellenwert, und gerade in Zeiten steigenden Stresses – wir haben ja zuletzt in dieser Woche zur Kenntnis nehmen müssen, dass Stress und Burnout sich immer weiter verbreiten – ist es wichtig, dass Erholung, Abstand vom Alltag und auch Naturerlebnis nicht zu weit in den Hintergrund geraten. Dennoch geht auch in diesem Bereich die Schere zwi- schen denjenigen, die sich das leisten können, und denje- nigen, die keine Chance darauf haben, immer weiter auf. Für viele Menschen ist Tourismus, das heißt das Verrei- sen und das Abschalten in einer anderen als der gewohn- ten Atmosphäre nur ein unerreichbarer Wunschtraum. Meines Erachtens brauchen wir deshalb nicht nur aus sozialen, sondern auch aus ökonomischen und gesund- heitspolitischen Gründen in diesem Land eine Debatte über einen Bereich des Tourismus, der bisher in Deutschland ein Schattendasein führte, ganz im Gegen- teil zu anderen europäischen Nachbarstaaten. Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss hat am 13./14. September 2006 eine Stellungnahme zum „Sozialtourismus in Europa“ beschlossen. Darin finden sich einige äußerst interessante Ansätze; zwei davon möchte ich in diesem Zusammenhang noch einmal her- vorheben und zitieren. Ich habe die gleichen Punkte schon einmal angesprochen, als wir über den Beitritt der 27306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Bundesrepublik zur OITS, der Sozialtourismusorganisa- tion, debattiert haben. Erstens. Unter Punkt 4.2.2.1 wird die Agence Natio- nale pour les Chèques-Vacances, ANCV, mit einem Ge- schäftsvolumen von circa 1 Milliarde Euro beschrieben. Dieses Beispiel sollte uns ein Vorbild sein. Weiter heißt es – daraus möchte ich direkt zitieren –: „Sozial und wirtschaftlich ist das Programm eindeutig rentabel, denn einerseits konnten dadurch viele ältere Menschen erst- mals in Urlaub fahren, andere Städte und Gegebenheiten kennenlernen, gleichberechtigte soziale Kontakte knüp- fen und ihren körperlichen Zustand verbessern, wobei eine vernünftige Qualität und die Akzeptanz durch die Nutzer gewährleistet ist; und andererseits werden für je- den in das Programm investierten Euro 1,70 Euro wieder eingenommen.“ Zweitens. Es heißt in den Empfehlungen unter Punkt 9.3: „Den Touristikunternehmen sei empfohlen, sich ent- schlossen an den Sozialtourismusaktivitäten zu beteili- gen. Der Sozialtourismus vertritt Werte, die mit einer korrekten Unternehmensführung, mit Wettbewerbsfähig- keit und Rentabilität vereinbar sind …“. Ich glaube, dass diese Stellungnahme deutlich macht, dass wir hier eben nicht über ein Randthema sprechen. Und ein Bereich, der uns dabei ganz besonders am Her- zen liegen muss, ist der Kinder- und Jugendtourismus. Reisen bildet, und Reisen trägt zu einer positiven Per- sönlichkeitsentwicklung bei. Für Kinder und Jugend- liche gilt das besonders. Hier eine Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen zu gewährleisten, muss unser Ziel sein. Wir können es uns nicht mehr erlauben, ganze ge- sellschaftliche Gruppen bzw. deren Kinder davon auszu- schließen. Für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche be- steht die Gefahr, aus sozialen Gründen nicht an Reisen, Klassenfahrten, Freizeiten und anderen Angeboten teil- nehmen zu können. Es gibt in Deutschland zwar mit 82,2 Prozent eine auch im internationalen Vergleich hohe Urlaubsreiseintensität bei Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren. Jugendliche aus einkommensschwa- chen Familien nehmen mit 70,4 Prozent allerdings deut- lich weniger am Tourismus teil. Das größte Problem dabei: Öffentlich geförderte Kin- der- und Jugendreisen sind dabei sowohl im Kontext von Kinder- und Jugenderholung als auch bezogen auf die internationale Jugendarbeit seit den 90er-Jahren rückläu- fig. Der Staat zieht sich dabei sukzessive aus der Verant- wortung: Staatliche Förderungen im Kinder- und Ju- gendreisebereich sind um bis zu 30 Prozent gesunken. Die Zahl der Kinder- und Jugenderholungen hat sich in den Jahren 2000 bis 2004 um 23 Prozent reduziert. So besteht nicht nur die Gefahr, dass Kinder- und Ju- gendreisen teurer werden. Nein, es besteht auch die Ge- fahr, dass sich die soziale Schere weiter öffnet. Deshalb muss sich die öffentliche Hand wieder stärker engagie- ren, gerade bei den geförderten Kinder- und Jugenderho- lungen. Ein schöner Nebeneffekt davon könnte sein, dass man auch die innerdeutsche Reiseaktivität von Jugendlichen steigern könnte. Nicht nur unter sozialen Aspekten wäre es deshalb sinnvoll, durchaus auch einmal die eigene Re- gion oder das europäische Umfeld in den Blick zu neh- men. Ich weiß, dass nicht alles, was wünschenswert wäre, auch immer ad hoc durchsetzbar ist. Dennoch müssen wir den Weg beschreiten, hier endlich Bewegung auch in Richtung des Sozialtourismus zu bekommen. Wir müs- sen endlich aus sozialen, gesundheitspolitischen und am Ende auch ökonomischen Gründen den Menschen ein Angebot zur Erholung machen, die das normalerweise nicht so einfach finanziell bewerkstelligen können. Da- für brauchen wir einen gesellschaftlichen Wandel und auch die Bereitschaft, das Notwendige zu erkennen. Die Debatte hat jetzt erst begonnen. Ich hoffe, wir können sie unaufgeregt und vor allem zielorientiert führen. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur zusätzlichen Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kinderta- gespflege (Tagesordnungspunkt 15) Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Die Tatsache, dass wir in Windeseile das heute zu debattierende Gesetz ein- bringen und behandeln müssen, verdanken wir Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, und das, obwohl eben nicht der Bund für den Kitaausbau zustän- dig ist, sondern Länder und Kommunen. Ihre Blockade im Bundesrat erstaunt mich zutiefst, da es bereits, das wissen sie genau, eine Einigung darüber gab, dass der Bund erneut weiteres Geld für den Kitaausbau und die Bewirtschaftungskosten bereitgestellt hat. Denn bei un- serer christlich-liberalen Koalition hat gerade die Schaf- fung von Kitaplätzen und die damit verbundene Unter- stützung der Kommunen besondere Priorität. Als Kaufmann habe ich einmal gelernt: Verträge müssen ein- gehalten werden. Doch für Sie von Rot-Grün scheint Vertragstreue an- scheinend nicht zu gelten, und ich frage mich: Wo ist die Verlässlichkeit Ihrer großen Volkspartei geblieben? Sie sagen mit Ihrer Blockade des Fiskalvertragsgesetzes im Bundesrat Nein zum Kinderbetreuungsausbau, Sie sagen Nein zur Entlastung der Kommunen und Nein zur Unter- stützung für Eltern mit kleinen Kindern! Respekt, meine Damen und Herren! Eine derartige Haltung erfordert durchaus Charakter. Sie haben für mich mit dieser Blocka- dehaltung einmal mehr Ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie haben damit einmal mehr gezeigt, worum es Ihnen wirk- lich geht – nämlich darum, Politik auf dem Rücken der Familien und damit gegen Familien zu machen. Es geht Ihnen nicht darum, den gemeinsam vereinbar- ten Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter drei Jahren umzusetzen. Es geht Ihnen nicht darum, die Kommunen zu entlasten. Es geht Ihnen nicht darum, die Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27307 (A) (C) (D)(B) Eltern mit kleinen Kindern zu unterstützen. Nein, es geht Ihnen einzig und allein darum, zu blockieren. Dafür habe ich kein Verständnis, und dafür haben auch die Men- schen in unserem Land kein Verständnis. Die heutige Debatte zeigt, dass ihre Blockadehaltung im Bundesrat ja nun nichts Neues ist, und wir haben diese schon vor der Landtagswahl in Niedersachsen erle- ben dürfen. Wenn es das ist, was wir und die Menschen in Deutschland in den kommenden Monaten von Rot- Grün erwarten dürfen, dann kann ich nur sagen: So macht man keine seriöse Politik. Wir, die christlich-liberale Koalition, machen konstruk- tive Politik für die Menschen, für die Kommunen und für die Eltern mit kleinen Kindern, die eben einen Be- treuungsplatz dringend brauchen. Deshalb hat das Fami- lienministerium von Kristina Schröder unter Hochdruck einen Gesetzentwurf erarbeitet, damit wir den verein- barten Ausbau der Kindertagesbetreuung trotz Ihrer Blockade umsetzen können. Wir lassen uns durch Ihre taktischen Spielchen nicht vom richtigen Weg abbrin- gen. Wir sind überzeugt davon, dass wir die Kommunen in diesem Bereich entlasten müssen, und deshalb stellt der Bund zusätzlich zu den schon 2007 zugesagten 4 Mil- liarden Euro für Kitabau und Betriebskosten weitere 580,5 Millionen Euro für Investitionskosten sowie wei- tere 75 Millionen Euro jährlich für Betriebskosten zur Verfügung. Sie sehen, wir reden nicht nur – so wie Sie, verehrte Kollegen von den Dagegen-Parteien –, sondern wir handeln und geben das Geld. Man kann schon fast den Eindruck haben, wir tragen den Ländern das Geld geradezu noch hinterher, damit diejenigen Eltern, die ihr Kind in einer Einrichtung betreuen lassen wollen, ab Au- gust dieses Jahres auch die Möglichkeit dazu haben. Rot-Grün blockiert ja nicht nur den Kitaausbau, nein, Sie blockieren auch das Steuerabkommen mit der Schweiz und die Entlastung der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer durch Anpassungen der Steuerprogres- sion. Sie stellen sich so offen gegen die Arbeitnehmer- schaft in diesem Land. Offensichtlich ist Ihnen Ihre Blockadehaltung so viel wert, dass Sie im Fall des Steuer- abkommens mit der Schweiz freiwillig auf Milliarden- einnahmen verzichten wollen. Aberwitzig ist allerdings, dass Sie sich sogleich auf die Fahnen schreiben, dass der Haushalt konsolidiert werden muss. Lustiger und un- glaubwürdiger geht’s nimmer. Mit Ihrer Blockade dieses Gesetzes demonstrieren Sie einmal mehr, dass Sie nicht mit Geld umgehen können. Die Menschen erwarten keine taktischen Spielchen, sondern sie erwarten von uns zu Recht Problemlösun- gen, und die bieten wir von der christlich-liberalen Koali- tion den Menschen in unserem Land. Wir sind diejeni- gen, die die Kommunen entlasten und ihnen dadurch Spielräume für Investitionen, wie zum Beispiel in Frei- bäder, Bibliotheken oder Schulen, geben. Wir sind die- jenigen, die den Eltern eine Wahlfreiheit in der Kinder- betreuung ermöglichen. Wir sind diejenigen, die Eltern einen Betreuungsplatz für ihre kleinen Kinder bieten. Damit sind wir diejenigen, bei denen es zuerst um die Menschen in unserem Land – nicht wie bei Ihnen aus- schließlich um die Partei – geht. Norbert Geis (CDU/CSU): Bund, Länder und Kom- munen hatten sich auf dem Krippengipfel 2007 auf 750 000 Kitaplätze geeinigt. Dies entspricht einem durchschnittlichen Versorgungsgrad von 35 Prozent. Durchschnittlich heißt, dass es in den Städten einen hö- heren Bedarf geben kann als auf dem Land. Einigkeit be- stand aber damals darin, dass im Durchschnitt dieser Versorgungsgrad von 35 Prozent zur Erfüllung des Be- darfs ausreichen wird. Damals wurde weiter vereinbart, dass dieses Ziel von 750 000 Kitaplätzen bis zum 1. August 2013 erreicht sein soll. Einig war man sich auch darüber, dass Bund, Länder und Gemeinden zu je einem Drittel die Kosten für den bedarfsgerechten Ausbau zu übernehmen haben. Diese Kosten für den Ausbau wurden damals mit 12 Milliarden Euro kalkuliert. Also entfielen auf den Bund 4 Milliarden Euro, die er auch unverzüglich zur Verfügung gestellt hat. Bereits 2007 hat der Bund das Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ aufgelegt. In einer Verwaltungsvereinbarung wurde geregelt, dass das Geld des Bundes an das einzelne Land in Höhe der jeweiligen Quote weitergeleitet wird. Die Länder sollten dann das Geld des Bundes zusammen mit dem von ihnen zu erbringenden Anteil an die Kommunen aufteilen. Es besteht kein Zweifel, dass der Bund keine verfas- sungsmäßige Verpflichtung hat, sich an dem bedarfsge- rechten Ausbau der Kita zu beteiligen. Der Bund sah sich jedoch aufgrund des gesamten politischen Interesses am Ausbau der Kita verpflichtet, seinen Eindrittelanteil für den Ausbau der Tageseinrichtungen und Kinderta- gespflege zu erbringen. Gerade in der jetzt ansetzenden Diskussion, in der man versucht, dem Bund für Säumnisse der Länder die Schuld in die Schuhe zu schieben, ist es gut, festzuhal- ten, dass alle drei Partner aufgrund von damaligen Erhe- bungen auf dem Kindergipfel der Auffassung waren, der Ausbau von Kindertagesplätzen für 35 Prozent der Kin- der vom 1. bis zum 3. Lebensjahr sei ausreichend. Auch der Stichtag 1. August 2013 wurde einvernehmlich fest- gelegt. Wahr ist schließlich auch, dass die Länder trotz dieses Stichtages nur sehr zögerlich ans Werk gegangen sind. Die Ausnahme bildet Bayern. Bayern hat die Be- treuungsquote in den letzten fünf Jahren verdreifacht. Dies war möglich, weil Bayern sofort aus Landesmitteln 680 Millionen Euro bereitgestellt hat. Kein Bundesland hat bisher in einem derart hohen Umfang eigene Landes- mittel investiert. Das Gesamtvolumen bis 2013 wird auf 1,2 Milliarden Euro geschätzt, zwei Drittel vom Land, ein Drittel vom Bund. Die Vervielfachung der Quote war natürlich auch deshalb möglich, weil die bayerischen Kommunen eine hervorragende Arbeit geleistet haben. Der Vorwurf also, der Bund habe nicht alles getan, um den Bedarf zu sichern, entbehrt jeder Grundlage. Es sind die Länder und teilweise wohl auch die Kommunen, die bisher ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen sind. Jede Stadt, jede Gemeinde muss selbst ermitteln, wie hoch der Bedarf an U-3-Plätzen ist. Die Kommunen 27308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) müssen die Plätze zur Verfügung stellen, doch nicht der Bund. Der Bund ist am Ende nur Zahlmeister. Er kann doch den Kommunen nicht vorschreiben, wie viele Plätze bereitzustellen sind. Dazu ist der Bund aus verfas- sungsrechtlichen, aber auch aus praktischen Gründen nicht in der Lage, weil die Gemeinden viel eher die Er- hebungen dafür machen können als der Bund. Dieses Versäumnis von einem großen Teil der Kom- munen ist auch der Grund dafür, dass bislang keine Transparenz herrscht, wie viele Plätze wirklich ge- braucht werden. Die Erhebungen hätten längst gemacht und der Bedarf hätte längst festgestellt werden müssen. Auf einmal regt sich nun die Besorgnis, dass 750 000 Plätze nicht ausreichen könnten. Auch den Durchschnittsbedarf von 35 Prozent, von dem 2007 noch ausgegangen werden konnte, hat man auf 39 Prozent nach oben korrigiert. Deshalb haben die Länder und der Bund ja auch vereinbart, für weitere 30 000 Plätze Geld bereitzustellen. Wiederum hat der Bund sofort reagiert. Er hat sofort 580 Millionen Euro in den Haushalt einge- stellt. Jetzt hätte man eigentlich erwarten dürfen, dass die Länder nicht lange fackeln, sondern zugreifen. Weit gefehlt. Die Länder haben mit der Ablehnung des Fiskal- vertragsumsetzungsgesetzes im Bundesrat die Auszah- lung der 580 Millionen Euro gestoppt. Statt sich an die eigene Brust zu klopfen, wird nun dem Bund wieder die Schuld in die Schuhe geschoben. Der Bund aber hat wiederum sehr schnell gehandelt. Durch den besonderen Einsatz der Ministerin ist es ge- lungen, in kürzester Frist diesen Gesetzentwurf zur zu- sätzlichen Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege vorzule- gen und damit die 50 Millionen Euro bereitzustellen. Wertvolle Zeit durch das Verhalten der Länder wurde zwar vergeudet, aber es ist immer noch Zeit genug. Diese christliche-liberale Koalition hat alles getan, um den Rechtsanspruch zum 1. August 2013 zu erfüllen. Gelingt dies da und dort nicht, liegt es nicht am Bund, sondern an den Ländern und Kommunen. Wo es Aus- bauhemmnisse gibt, hilft der Bund. Er kann sich aber nicht über die Länderhoheit und die kommunale Pla- nungshoheit und die örtliche Zuständigkeit der Kommu- nen hinwegsetzen. Am Geld wird jedenfalls der rechtzeitige Ausbau nicht scheitern. Zu den 580 Millionen Euro kommt für die Kommunen und die Träger der Kitas ein Programm der KfW für verbilligte Kredite für den Kitaausbau. Hinzu kommen das Programm Kindertagespflege und das neue Programm zur Förderung betrieblicher Kindes- betreuung. Dazu kommt die Erhöhung des Betriebskos- tenzuschusses von 75 Millionen jährlich für die zusätzli- chen 30 000 Kitaplätze. Wer angesichts dieser Anstrengungen der Koalition und der Familienministerin dem Bund Versäumnisse vorwirft, der muss sich selbst den Vorwurf der Polemik gefallen lassen. Dagmar Ziegler (SPD): Heute beraten wir einen Ge- setzentwurf, der Ländern und Kommunen beim Kitaaus- bau zusätzlich unter die Arme greift. Das ist höchste Zeit. Die Bundesregierung hat den Kitaausbau in den letzten Jahren blockiert. Der Gesetzentwurf kommt nicht wegen, sondern trotz unserer Bundesregierung. Über Jahre haben Länder und Kommunen laut und vernehmlich um Hilfe gerufen. Denn ihnen stand und steht immer noch das Wasser bis zum Hals. Die Annah- men, die den Beschlüssen des Krippengipfels von 2007 zugrunde lagen, sind von der Wirklichkeit überholt wor- den. Noch mehr Eltern als damals angenommen, wollen für ihr Kind einen Kitaplatz bekommen. Das hat der 14. Kinder- und Jugendbericht gestern nochmal deutlich belegt. Deshalb brauchen Länder und Kommunen zusätzliche Unterstützung durch den Bund. Sie können die gewal- tige Kraftanstrengung des Kitaausbaus und der Erfüllung des Rechtanspruchs ab August dieses Jahres allein nicht bewältigen. Doch all diese Hilferufe haben sowohl die zuständige Ministerin Schröder als auch Bundeskanzlerin Merkel geflissentlich überhört. Die Bundesregierung hat ihre Zeit lieber damit vertan, eine wirkungsvolle Quote für Frauen zu verhindern und das bildungsfeindliche und rückwärtsgewandte Betreuungsgeld einzuführen. Ohne das Engagement der Länder würde der Bund immer noch blockieren. Es ist nur den SPD-Ministerprä- sidenten Kurt Beck und Olaf Scholz zu verdanken, dass wir heute zusätzliche Kitamittel beschließen können. Sie haben einen zusätzlichen Bundeszuschuss bei den Fis- kalpaktverhandlungen im letzten Jahr zum Thema ge- macht, und sie haben ihre Zustimmung zum Fiskalpakt davon abhängig gemacht, dass der Bund beim Ausbau der Betreuungsinfrastruktur noch mal eine Schippe oben draufpackt. Der Gesetzentwurf, den wir heute beschlie- ßen wollen, setzt nun diese Vereinbarung zwischen Län- dern und Bund um. Und selbst die haben Sie noch zu hintertreiben versucht. Die Bundesregierung hat den Ländern bei den Fiskal- paktverhandlungen eine unbürokratische und schnelle Umsetzung versprochen und sich nicht daran gehalten. Mit kleinlichen Nachforderungen haben Sie, Ministerin Schröder, die Umsetzung um weitere Monate verzögert. Jetzt müssen Sie endlich dafür sorgen, dass das Geld dort ankommt, wo es am dringendsten gebraucht wird, nämlich vor Ort. Wir erwarten von der Bundesregierung jetzt endlich zügiges und professionelles Handeln. Kein Verschleppen und Verzögern mehr! Werden Sie Ihrer Verantwortung für den Kitaausbau endlich mal gerecht! Aber Geld ist bekanntlich nicht alles im Leben. Es gibt noch viele andere Maßnahmen, die Sie auch an- packen müssten – es aber nicht tun: Überall in Deutschland werden die Klagen über feh- lende pädagogische Fachkräfte immer lauter. Die SPD- Bundestagsfraktion fordert schon seit Jahren, dass sich die Bundesregierung mit Ländern und Kommunen in ei- nem Krippengipfel an einen Tisch setzt und konkrete Schritte zur Forcierung des Krippenausbaus vereinbart. Und wir fordern – ebenfalls seit Jahren – eine Fachkräfte- offensive, um zusätzliche Menschen für den Beruf der Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27309 (A) (C) (D)(B) Erzieherin oder des Erziehers zu gewinnen und zu be- geistern. Die Zeit drängt. Die Bundesregierung muss jetzt in enger Zusammenarbeit mit Ländern, Kommunen und Trägern eine bundesweite Fachkräfteinitiative starten, um den steigenden Bedarf an Erzieherinnen und Erzie- hern zu decken. Außerdem wird der wachsende Fach- kräftebedarf nur zu decken sein, wenn die Arbeitsbedin- gungen im Erzieherberuf verbessert werden. SPD-geführte Länder machen vor, wie es geht: Ham- burg ist es gelungen, den Rechtsanspruch für Kinder un- ter drei Jahren bereits um ein Jahr vorzuziehen. Er wirkt dort schon seit dem 1. August 2012. Nordrhein-Westfalen hat nach der Regierungsüber- nahme durch Hannelore Kraft schnell einen Krippengip- fel einberufen, nachdem die CDU-geführte Vorgängerre- gierung den Krippenausbau verschlafen hatte. Das rot- grün geführte Land unterstützt gezielt notleidende Kom- munen, damit auch sie den Ausbau schaffen. In Niedersachsen hingegen sieht es hier im wahrsten Sinne des Wortes schwarz aus. Selbst CDU-Bürgermeis- ter beklagen die mangelnde finanzielle Beteiligung des Landes beim Krippenausbau. Das wird sich unter dem neuen Ministerpräsidenten Stefan Weil jetzt endlich und zügig ändern. In der letzten Legislaturperiode hat die SPD durch- gesetzt, dass Finanzhilfen in Milliardenhöhe für den Krippenausbau bereitgestellt werden. Denn wir haben gesehen, dass der Ausbau von Bildung und Betreuung eine entscheidende gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar- stellt. Ob für unsere Kinder und Jugendlichen gute Kita- und Ganztagsschulplätze vorhanden sind, entscheidet über ihre Zukunft. Denn gute Kitas und Ganztagsschulen eröffnen bessere Bildungschancen, sind Orte der Integra- tion und ermöglichen Eltern, Beruf und Familie zu ver- einbaren und deshalb selbst für sich zu sorgen. Sie sind die beste Armutsprävention und außerdem die Bildungs- institutionen, in denen die Fachkräfte entwickelt werden, die auch die deutsche Wirtschaft doch so dringend braucht. Ohne den damaligen Bundesfinanzminister Steinbrück wäre der Krippenausbau nicht möglich gewesen. Es war Peer Steinbrück, der 2007 4 Milliarden Euro in ein Son- dervermögen für den Krippenausbau überführt und für einen jährlichen Bundeszuschuss zu den laufenden Kos- ten des Kitabetriebs vor Ort gesorgt hat. Diesen Weg werden wir in Regierungsverantwortung konsequent fortsetzen. Wir werden Ihr bildungsfeind- liches Betreuungsgeld sofort abschaffen und die dadurch frei werdenden Mittel vollständig in den Kitausbau ste- cken. Damit sollen die Kommunen noch mehr Plätze schaffen können, die Öffnungszeiten der Einrichtungen verlängern und für eine bessere Betreuungsqualität sor- gen können. Denn nur gute Kitas sind in der Lage, un- sere Kinder optimal zu fördern und ihre Talente zu ent- decken und zu fördern. Die 16. Legislaturperiode war die Zeit des quantitativen Kitaausbaus unter Finanz- minister Peer Steinbrück. Die 17. Legislaturperiode ist die Zeit des Nichtstuns unter Bundeskanzlerin Merkel. Die 18. Legislaturperiode wird die Zeit der Qualitäts- offensive unter Bundeskanzler Peer Steinbrück werden. Eine SPD-regierte Bundesregierung wird das Thema Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen aus der Abstell- kammer holen, wohin Schwarz-Gelb es verdammt hat. Bei uns wird der Ausbau der Bildungsinfrastruktur ganz oben auf der Tagesordnung stehen. Denn wir haben uns ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Wir wollen, dass jedes Kind und jeder Jugendliche ab 2020 einen Rechtsan- spruch auf Ganztagskitas und Ganztagsschulen hat, da- mit alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland gleiche Bildungschancen haben und auch die Benachteiligten wieder berechtigte Hoffnung auf sozialen Aufstieg be- kommen. Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Und genau das wer- den wir in den nächsten Monaten tun. Ich freue mich auf die Auseinandersetzung um die beste Zukunft für unser Land. Miriam Gruß (FDP): Für den benötigten Ausbau der Infrastruktur der Kinderbetreuung wurde bisher von kei- ner anderen Bundesregierung so viel investiert. Bund, Länder und Kommunen haben sich geeinigt: Es werden 12 Milliarden Euro für dieses wichtige, gesamtgesell- schaftliche Ziel ausgegeben. 4 Milliarden Euro davon werden vom Bund getragen. Mit dem heutigen Gesetz- entwurf werden nun nochmals 580,5 Millionen Euro vom Bund nachgelegt. Zu unserem Teil der Verantwor- tung stehen wir, wie auch zu dem Rechtsanspruch auf Betreuung für unter dreijährige Kinder, der am 1. August 2013 in Kraft treten wird. Dazu stehen wir; denn wir wissen: Eine gute und verlässliche Familienpolitik ermu- tigt Paare dazu, Kinder zu bekommen. Dafür bedarf es dreier Komponenten: Die erste Komponente besteht aus den Rahmenbedin- gungen. Das sind sowohl die rechtlichen, wie beispiels- weise der Rechtsanspruch, als auch die Infrastruktur- bedingungen, zum Beispiel Kitas, Horte, Tagesmütter und Tagesväter. Die zweite Komponente besteht aus den finanziellen Unterstützungen. Deutschland liegt hier laut internatio- nalen Vergleichen in der weltweiten Spitzengruppe. Schließlich die dritte Komponente: Das ist das, was die Ministerin „Zeit für Familie“ genannt hat. Hier sind die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein verlässli- ches Umfeld und ein sicherer Arbeitsplatz besonders wichtig. Denn uns allen ist bewusst, dass Unsicherheit über den Arbeitsplatz oft zur Folge hat, dass viele Menschen mit dem Kinderwunsch warten. Einige davon warten dann zu lange. Meiner Meinung nach kann nie- mand bestreiten, dass die gute Konjunkturlage der letz- ten drei Jahre unter Schwarz-Gelb zu mehr Verlässlich- keit und Sicherheit am Arbeitsmarkt und dadurch zu mehr Sicherheit für Familienplanungen geführt hat. 27310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Heute geht es um die zusätzlichen 580,5 Millionen Euro, die der Bund bereitstellt, und um die Frage, warum wir dieses schon beschlossene Finanzpaket heute noch einmal in den Bundestag einbringen müssen. Die Antwort darauf lautet: Wir müssen das tun, weil die Bundesländer nur langsam und schleppend ihren Teil der Verantwortung wahrgenommen haben. Es hat sich herausgestellt, dass einige Länder die 4 Milliarden Euro nur äußerst zögerlich abgerufen haben. Auch hat sich gezeigt, dass diese mit der Umsetzung des Kitabaupro- gramms und den dafür vorgegebenen zeitlichen Vorga- ben nicht Schritt halten. In diesem Zusammenhang darf man schon einmal da- rauf hinweisen, dass das grün-rote Baden-Württemberg mit 61,7 Prozent, Stand 6. Dezember 2012, das Schluss- licht beim Mittelabruf bildet. Der Bund steht zu seinem Teil der Verantwortung. Wir fordern hier die rot-grünen Regierungen dieser Länder ausdrücklich dazu auf, auch ihren Teil beizutragen. Der Fiskalpakt wurde von den Ländern abgelehnt. Dieser beinhaltete auch die zusätzlichen 580,5 Millionen Euro für den Kitaausbau. Deswegen müssen wir heute den Ländern das Geld quasi hinterhertragen. Diese feh- lende Wahrnehmung der beim Krippengipfel 2007 ein- stimmig beschlossenen Strategie ärgert mich umso mehr, als die Länder äußerst genau darauf achten, dass der Bund sich nicht in ihre Kompetenzen einmischt. Wenn etwa ein Vorschlag für schärfere Berichtspflichten ge- macht wird, gibt es einen lauten Aufschrei. Aber die Eltern der Kinder erwarten von den Landesfürsten keine taktischen Spielchen, sondern die Umsetzung dessen, was sie selbst mit beschlossen haben. Dass wir das vereinbarte Ziel von 750 000 Plätzen für Kinder unter drei Jahren noch nicht erreicht haben, ist uns bewusst. Wir haben aufgrund des ermittelten Be- darfs trotzdem 30 000 Plätze zusätzlich vorgesehen und wissen doch auch, dass in einigen Regionen auch das nicht ausreichen wird. Es bedarf deshalb auch noch in den nächsten Jahren erheblicher Anstrengungen, um hier eine Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Möglich- keiten zu erreichen. Es ärgert mich, dass von einigen Ländervertretern und der Opposition Zahlen von 100 000 oder 150 000 noch fehlenden Plätzen in den Raum geworfen werden. Es ist wahr: Wir haben alle zusammen die Bedarfsquote noch nicht erfüllt; aber jeder – Bund, Länder und Kommunen – muss sich selbst die Frage stellen: Was tue ich, um den Ausbau zu beschleunigen? Hier vermisse ich beispielsweise von der Landesre- gierung Initiativen zur Entrümpelung der Landesbauord- nungen, damit der Ausbau nicht durch überzogene Standards bei der Höhe von Kleiderhaken und Toiletten- becken verzögert wird. Auch fehlen mir hier Initiativen der Landesregierungen, die es ermöglichen, die EU- Hygieneverordnungen in der Tagespflege großzügig aus- zulegen. Die Länder besitzen hier einen großen Spiel- raum, welchen sie auch nutzen sollten. Mit unserem Antrag zur Stärkung der Tagespflege haben wir unseren Beitrag geleistet, aber auch hier liegt vieles in der Zu- ständigkeit der Länder. Es ist die Aufgabe der Länder, hier aktiv zu werden. Eines kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung versi- chern: Die Eltern wollen nicht hören, wessen Schuld es ist, wenn der Ausbau der Betreuungskapazität in ihrer Kommune noch nicht ausreichend ist, sondern sie möch- ten wissen, was von Bund, Ländern und Kommunen getan wird, um eine Lösung dafür zu finden. Die rechtli- chen Rahmenbedingungen werden vom Bund gesetzt; er gibt auch das Geld, sie auszufüllen. Die Länder und Kommunen sind in der Pflicht, die Umsetzung vor Ort zu organisieren. Diana Golze (DIE LINKE): Seit Jahren geistert das Wort „Wahlfreiheit“ umher, wenn das Thema Kinderta- gesbetreuung auf der Tagesordnung steht. Für einen Teil dieser „Wahlfreiheit“ hat sich die Bundesregierung über Monate hinweg eine Schlammschlacht geliefert und vor- bei an der mehrheitlichen Meinung in der Bevölkerung, der Fachwelt und entgegen des derzeitigen Standes der frühkindlichen Forschung eine „Kitafernhalteprämie“ beschlossen. Milliarden wurden in die Hand genommen und Lieblingsprojekte einzelner Kabinettsmitglieder zur Verhandlungsmasse gemacht, nur um zu erhalten, was kaum noch jemand möchte: ein Familienbild, dass Kin- dererziehung zur Privatsache macht und die öffentliche Verantwortung hierfür auf die Zahlung eines Taschen- geldes reduziert. Die Rede ist natürlich von der hitzigen Debatte um die Einführung des Betreuungsgeldes – der Leistung, die für die größte Mogelpackung in Sachen moderner Familienpolitik steht. Seit Jahren umstritten und trotzdem mit einer Verbis- senheit umgesetzt, die man sich auch bei der anderen Seite dieser „Wahlfreiheit“ – der Kinderbetreuung in öf- fentlicher Verantwortung – immer noch nur wünschen kann. Hier treibt das Engagement der Bundesregierung indes andere Blüten. Neue Unwörter wie „Kitaplatz- Sharing“ und „Erzieheraustausch“ machen klar, in wel- chem Dilemma wir in Sachen Kindertagesbetreuung bis heute stecken. Alte Vorurteile halten sich beharrlich, und wo sie nicht mehr zu halten sind, werden sie mit Kampfreden einer ansonsten schweigenden Ministerin Schröder kleingeredet. Statt endlich das zu tun, was ihr eigentlicher Job ist, wird immer und immer wieder der gleiche Sprechzettel hervorgeholt, nämlich dass der Bund seinen Beitrag in Form des einmal zur Verfügung gestellten Sondervermögens für den Kitaausbau bereits geleistet hat, dass nun alle anderen dran seien in der Wahrnehmung ihrer Verantwortung. Ich sage Ihnen, Frau Ministerin: Das Maß an Ignoranz der Verantwortung des Bundes ist voll. Seit Jahren wird das viel zu schleppend verlaufende Ausbautempo schön- geredet, das Fehlen einer Bedarfsplanung ist an der Ta- gesordnung und an den daraus resultierenden falschen Ausbauzielen wird festgehalten. Hilferufe der kommu- nalen Spitzenverbände werden so lange in die Schublade gelegt, bis man die Diskussion endlich da hat, wo man sie schon immer haben wollte: fernab von einer Debatte um die Qualität von Kindertagesbetreuung, von dem be- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27311 (A) (C) (D)(B) stehenden Fachkräftemangel und von den schwierigen Arbeitsbedingungen in der Kindertagespflege. Das, was uns nun erneut in Form eines Gesetzentwurfes vorgelegt wurde, überbietet jede bisher da gewesene Augenwi- scherei. Die durch Ihren Vorschlag zu schaffenden 30 000 Plätze reichen nicht im Ansatz aus, um in die Nähe der 220 000 fehlenden Plätze zu kommen – von der Erfül- lung eines Rechtsanspruches ganz zu schweigen. Sie lie- fern auch diesmal keine Lösung dafür, dass trotz dieser Aufstockung und langfristigen Beteiligung des Bundes an den Gesamtkosten der überwiegende Teil der dauer- haften Kosten an den Kommunen hängen bleibt. Es kann nicht sein, dass die Erfüllung eines vom Bund geschaffe- nen Rechtsanspruches und damit der qualitative und quantitative Ausbau der Kinderbetreuung davon abhän- gen soll, wie voll oder wie leer die Kasse der jeweiligen Kommune ist. Die Linke bleibt darum bei ihrer Forderung nach ei- nem Spitzentreffen zwischen den verantwortlichen Ak- teuren aus Bund, Ländern und Kommunen unter Beteili- gung der wissenschaftlichen Fachwelt. Ein solcher Krippengipfel ist dringend nötig, um den tatsächlichen Stand des Betreuungsausbaus und des Ausbaubedarfes zu ermitteln und endlich ehrlich sofortige Maßnahmen zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu verabreden. Wenn Sie, Frau Ministerin, daraus auch noch ein regel- mäßig tagendes Gremium mit dem Auftrag, die Umset- zung des Ausbaus zu begleiten und im Bedarfsfall umge- hend notwendige Lösungsvorschläge zu erarbeiten, schaffen würden, dann können Sie auch wieder davon reden, dass der Bund seine Verantwortung wahrnimmt. So aber ist auch dieser Gesetzentwurf ein Tropfen auf den heißen Stein, der mit unnötig repressiven Fristen den Ländern und Kommunen einmal mehr die Pistole auf die Brust setzt und damit für uns nicht zustimmungsfähig ist. Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, der Finanz- mittel in Höhe von 580 Millionen Euro für 30 000 zu- sätzliche U-3-Plätze bringen wird. Die Beratungen in den Ausschüssen haben es uns schon verraten: Dieser Gesetzentwurf wird eine breite Mehrheit finden. Und auch im Bundesrat – der morgen über den Gesetzentwurf beschließt – ist nicht mit Widerstand zu rechnen. Denn jetzt darf es nur noch ein Ziel geben: Die zusätzlichen Mittel müssen so schnell wie möglich dahin, wo sie be- nötigt werden: in die Kommunen, in die Kitas. Dass dieses Geld erst jetzt auf den Weg gebracht wird, dass wertvolle Zeit mit Blick auf den Rechtsan- spruch auf einen U-3-Platz, der ab dem 1. August be- steht, verplempert wurde, ist keinem parteitaktischen Kalkül der Bundesländer im Bundesrat zu verdanken. Das wollen uns zwar die Koalitionsfraktionen weisma- chen, aber Fakt ist, dass die Verantwortung einzig und allein bei der Bundesregierung liegt. Bis Dezember letz- ten Jahres waren die Regelungen über die zusätzlichen Kitamittel Bestandteil des Gesetzentwurfs zur inner- staatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags. Der Bundes- rat hat dem Gesetzentwurf zur Umsetzung des Fiskalver- trags nicht zugestimmt, weil die Bundesregierung sich nicht an die Zusage gehalten hat, die sie den Ländern zur Neufestlegung der Entflechtungsmittel gegeben hat. Mit dem Kitaausbau hat die Kritik der Bundesländer über- haupt nichts zu tun. Dasselbe Schwarze-Peter-Spiel hat Ministerin Schröder übrigens auch bei den zusätzlichen Kitamillio- nen versucht. Einigungen, die im August zwischen dem Familienministerium und den Ländern erzielt wurden, fanden keinen Niederschlag in dem Gesetzentwurf, den die Bundesregierung im Oktober vorgelegt hat. Erst hat Ministerin Schröder versucht, die Länder mit monatli- chen Berichtspflichten über die Verwendung der Mittel zu drangsalieren. Dann hat sie viel zu lange eine Eini- gung über die Auszahlung der zugesagten Betriebsmittel in Höhe von 75 Millionen Euro jährlich blockiert, und das, nachdem sie selbst seit Jahren keinen müden Cent zusätzlich für den Kitaausbau beim Finanzminister aus- verhandeln konnte. Daher, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Koalitionsfraktionen, hören Sie endlich auf, den Bundes- ländern oder gar der Opposition die Schuld für die ver- zögerte Auszahlung der Mittel in die Schuhe zu schie- ben. Das ist der Sache nicht dienlich und interessiert die Eltern, die einen Kitaplatz für ihr Kind brauchen, so- wieso nicht. Die zusätzlichen Mittel sind ein wichtiger Schritt und für viele Kommunen sicherlich der letzte Rettungsanker. Aber auch mit diesen zusätzlichen 580 Millionen Euro kann die Erfüllung des Rechtsanspruchs nicht überall si- chergestellt werden. In vielen Kommunen, die in den letzten Jahren in den U-3-Ausbau investiert, aber einen deutlich höheren Bedarf als die ursprünglich avisierten 35 bzw. jetzt 39 Prozent haben, werden Eltern mit ihrem Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf trotz- dem keinen Kitaplatz finden. Deshalb halten wir Grünen ein Sonderprogramm, das sich gerade an Kommunen mit besonders hohen Bedarfen richtet, für dringend geboten. Die Kommunen fordern nicht nur die Beteiligung des Bundes und der Länder an eventuellen Schadenersatzan- sprüchen, die Eltern wohl aufgrund fehlender Kitaplätze einklagen könnten. Ich halte diese Forderung für nicht zielführend, weil wir jetzt in den Ausbau und nicht spä- ter in den Schadenersatz für nicht erfolgten Ausbau in- vestieren müssen. Die Kommunen rechnen aber auch da- mit, dass die Anzahl der Kinder in den Gruppen erhöht und damit zentrale Qualitätsstandards gesenkt werden. Das darf auf keinen Fall passieren. Es reicht nicht, wie wir es von der Ministerin kennen, auf die Bedeutung hoher Qualitätsstandards hinzuwei- sen. Der Bund muss auch handeln. Er ist auch bei der Frage der Qualität in der Pflicht und sollte sich seiner Verantwortung endlich stellen. 27312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags (Tagesordnungspunkt 17) Norbert Barthle (CDU/CSU): Wir verabschieden heute im Bundestag zum zweiten Mal das Fiskalver- tragsumsetzungsgesetz. Es ist äußerst ärgerlich, dass der Bundesrat dem Gesetz im ersten Anlauf nicht zuge- stimmt hat. Ich möchte daran erinnern: Auch die Länder haben im vergangenen Sommer den Fiskalvertrag ratifi- ziert. Auch die Länder haben daher die gesamtstaatliche Verantwortung, die durch die Ratifizierung notwendig gewordenen Folgerechtsänderungen mitzutragen. Es ist manchmal schon schwer erträglich, wie die Ländermehrheit derzeit immer wieder Rosinenpickerei betreibt. Ich gehe davon aus, dass das Gesetz für die zu- sätzlichen Mittel für den Kitaausbau ohne Probleme den Bundesrat passieren wird. Dann aber das Gesetz zur in- nerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags als Faust- pfand für taktische Spielchen im Bundesrat zu nutzen, wäre mehr als unangemessen. Das werden auch die Bürgerinnen und Bürger im Land so sehen. Ich bin daher sehr gespannt auf die erneute Entscheidung des Bundes- rates zu diesem Gesetz. Der Fiskalvertrag ist das zentrale Instrument, um dem Prinzip der Solidität europaweit zu besserer Geltung zu verhelfen. Die Bedeutung der Verpflichtung für die Un- terzeichnerstaaten, Schuldenbremsen nach deutschem Vorbild umzusetzen und ihre Einhaltung zu kontrollie- ren, kann gar nicht stark genug gewürdigt werden. Deutschland hat mit der im Zuge der Föderalismusre- form II eingeführten deutschen Schuldenbremse und der parallelen Einrichtung des Stabilitätsrats zentrale Vorga- ben des Fiskalvertrags bereits jetzt erfüllt. Mit dem Fiskalvertragsumsetzungsgesetz regeln wir die zusätz- lich notwendigen rechtlichen Ergänzungen zur inner- staatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags und des refor- mierten Stabilitäts- und Wachstumspakts. So wird die zulässige Obergrenze für das strukturelle gesamtstaatli- che Finanzierungsdefizit von maximal 0,5 Prozent des BIP im Haushaltsgrundsätzegesetz festgeschrieben. Mit der Änderung des Sanktionszahlungs-Aufteilungsgeset- zes wird die innerstaatliche Aufteilung der mit der Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts neu einge- führten Sanktionen zur Sicherung der Haushaltsdisziplin geregelt. Der Stabilitätsrat wird zudem damit beauftragt, die Einhaltung der strukturellen gesamtstaatlichen Defizit- obergrenze zu überwachen. Zur Unterstützung des Stabi- litätsrates bei dieser Aufgabe wird ein unabhängiger Beirat eingerichtet. Mit der Überwachung der gesamt- staatlichen Regeln durch den Stabilitätsrat und seinen unabhängigen Beirat trägt Deutschland den Anforderun- gen des Fiskalvertrags und der von der Europäischen Kommission vorgelegten gemeinsamen Grundsätze – auch hinsichtlich der darin geforderten starken Rolle unabhängiger Institutionen – vollständig Rechnung. Durch die Kombination von Stabilitätsrat und unabhän- gigem Beirat wird ein optimales Institutionengefüge zur Überwachung der Einhaltung der Vorgaben des Fiskal- vertrags geschaffen. Im Rahmen des heute zu verabschiedenden Gesetzes schreiben wir auch fest, dass das Guthaben auf dem so- genannten Kontrollkonto der Schuldenregel am Ende des Jahres 2015 auf null gesetzt wird. Die Koalition hat immer gesagt, dass die Überschüsse im Kontrollkonto nicht über die Dauer des Übergangszeitraumes hinaus Wirkung entfalten sollen. Sobald die Schuldenbremse ab 2016 in den Regelbetrieb übergeht, starten wir daher nun mit einem sauberen Kontrollkonto. Dies ist ein sehr wichtiges Signal insbesondere ge- genüber den europäischen Partnern, die ähnliche Schul- denbremsen national verankern müssen. Und auch den Bundesländern sollte diese Regelung ein Ansporn sein, selbst rechtzeitig für eine wasserdichte Umsetzung der grundgesetzlichen Verpflichtungen zu sorgen. Da liegt in manchen Ländern noch einiges im Argen. Das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz ist ein wichti- ges Gesetz. Wir erleben derzeit in Europa, dass Ver- trauen langsam, aber sicher zurückkehrt. Gerade jetzt dürfen wir mit unseren Anstrengungen zu Strukturrefor- men, Haushaltskonsolidierung und einer Stärkung des institutionellen Rahmens der Währungsunion nicht nachlassen. Wir sind in einer kritischen Phase der Krisenbewältigung, nämlich in der Phase, zu beweisen, dass wir es nicht nur kurzfristig, sondern auch dauerhaft ernst meinen mit allen Reformzusagen. Deutschland muss dabei mit gutem Beispiel vorange- hen, um den Umsetzungsdruck auch in allen anderen Ländern aufrechtzuerhalten. Der Fiskalvertrag ist seit 1. Januar 2013 in Kraft. Wir müssen nun schleunigst alle notwendigen gesetzlichen Anpassungen verabschieden. Wir riskieren sonst nicht nur eine große Blamage gegen- über unseren Partnern. Wir riskieren auch den Verlust von Glaubwürdigkeit, die in dieser Phase der Stabilisie- rung und Konsolidierung im Euro-Raum so dringend notwendig ist. Ich appelliere an alle, sich dieser gesamt- staatlichen und europäischen Verantwortung bewusst zu sein. Das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz ist kein Ge- setz für politische Spielchen. Ich bitte daher um eine breite Zustimmung des Deutschen Bundestages. Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Nach der verfas- sungsrechtlichen Verankerung der Schuldenbremse und der Schaffung des Stabilitätsrats gehen wir mit dem Fis- kalpakt den nächsten Schritt hin zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik und zu tragfähigen Staatsfinanzen. Mit dem Fiskalvertragsumsetzungsgesetz werden die da- rüber hinaus notwendigen rechtlichen Ergänzungen zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags und des reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakts geregelt. Bereits in diesem Jahr wird der Bund trotz Fälligwer- dens zweier weiterer ESM-Raten die erst ab 2016 durch die Schuldenbremse vorgegebene Grenze für die struktu- relle Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Brutto- inlandsprodukts unterschreiten. Das ist drei Jahre früher Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27313 (A) (C) (D)(B) als verfassungsrechtlich vorgeschrieben. Wir sind damit für die europäische Schuldenregel gut aufgestellt. Um Deutschland zukunftsfest zu machen, müssen wir den Weg der wachstumsorientierten Haushaltskonsoli- dierung konsequent fortsetzen. Nur nachhaltiges Wachs- tum schafft Vertrauen und Verlässlichkeit. Wachstum ist dann stabil und zukunftsgerichtet, wenn es auf solide Finanzen aufbaut. Denn diese geben uns und den nach- kommenden Generationen die notwendigen Handlungs- spielräume für eine gute Zukunft Deutschlands. Die Herausforderungen liegen auf der Hand: Haushaltskon- solidierung, Stärkung der Infrastrukturinvestitionen und Verbesserung der Finanzkraft der Kommunen. Trotz steigender Einnahmen haben wir im Bundes- haushalt 2013 die Ausgabenseite begrenzt. Gegenüber dem Beginn der Legislaturperiode konnten wir die Aus- gaben nominal absenken. Damit kommt auch der für 2014 angestrebte strukturelle Haushaltsausgleich in greifbare Nähe. Diese konsequente Konsolidierung wird auch wieder mehr Spielräume schaffen zur Gestaltung freier Zukunft. Konsolidierung heißt Zukunftssicherung. Deutschland braucht eine leistungsfähige Verkehrsin- frastruktur. Ausreichende und qualitativ hochwertige Verkehrswege sind die Lebensadern unserer Volkswirt- schaft und sichern ein Höchstmaß an gesellschaftlicher Mobilität. Um die Leistungsfähigkeit unserer Verkehrswege zu sichern und das weiter ansteigende Verkehrsaufkommen bewältigen zu können, sind erhebliche Investitionen not- wendig. Zwar konnten im aktuellen Bundeshaushalt Ge- samtinvestitionen für die Verkehrswege von jährlich über 10 Milliarden Euro und damit über dem Niveau der Vorjahre verankert werden. Diese Mittel reichen aber immer noch nicht, um alle Projekte in unserem Land zu finanzieren, die dringend realisiert werden müssten. Auch die Zusatzmilliarde aus dem „Infrastrukturbe- schleunigungsprogramm“ von Anfang 2012 sowie die zusätzliche Dreiviertelmilliarde Euro für den Bundes- haushalt 2013 versetzt den Bund allenfalls in die Lage, einen Teil des gewaltigen Finanzierungsbedarfs zu de- cken. Wir müssen mehr Finanzmittel für den Erhalt und die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur bereitstel- len. Zu einer überzeugenden Haushaltskonsolidierung ge- hört auch, die Kommunen zu unterstützen, damit sie ihre Aufgaben erfüllen und ihre Haushalte ebenfalls konsoli- dieren können. Die christlich-liberale Koalition hat Anfang Novem- ber den Weg für die größte finanzielle Entlastung der Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland freigemacht. Durch die Übernahme der Nettoausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Er- werbsminderung entlastet der Bund die Kommunen al- lein im Zeitraum 2012 bis 2016 um rund 18,5 Milliarden Euro. Wir müssen die Kommunen aber noch weiter entlas- ten. Eine alternde Gesellschaft mit einem stetig wach- senden Anteil an Menschen mit Behinderung überfordert die kommunal finanzierten Daseinsvorsorgeleistungen. Die bevorstehenden Herausforderungen haben sich zu einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe entwickelt. Be- hinderung ist ein Lebensrisiko, das jeden Menschen je- derzeit treffen kann. Wir müssen die Eingliederungshilfe für Menschen mit Behinderung zu einer zeitgemäßen und zukunftsorientierten Hilfe weiterentwickeln, die den behinderten Menschen und seine Bedürfnisse in den Mittelpunkt stellt und ihn in die Gesellschaft gut inte- griert. Die Umsetzung der Eingliederungshilfereform sollte in einem eigenen Bundesleistungsgesetz erfolgen, um Menschen mit Behinderung aus dem „Fürsorgesystem“ herauszuführen. Ich begrüße die im Rahmen der inner- staatlichen Umsetzung der neuen Vorgaben des Fiskal- vertrages erzielte Einigung zwischen Bund und Ländern, die Vorschriften zur Eingliederungshilfe durch ein Bun- desleistungsgesetz abzulösen. Als gesamtgesellschaftli- che Aufgabe muss sich der Bund künftig an den Kosten für die Eingliederungshilfe angemessen beteiligen. Die dafür notwendigen finanziellen Spielräume müssen wir im Rahmen der Haushaltskonsolidierung erarbeiten. Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Erst vor zwei Monaten haben wir über den gleichen Entwurf dieses Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalver- trags gesprochen. Das Gesetz hat kurz vor Weihnachten – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit – keine Zustimmung im Bundesrat gefunden, und auch die SPD- Bundestagsfraktion hat das Gesetz damals abgelehnt. Mit dem Gesetz sollen in Deutschland die Vorausset- zungen für die nationale Anwendung des Fiskalvertrages geschaffen werden. Man muss daran erinnern, dass Fi- nanzminister Schäuble und auch die Bundeskanzlerin noch vor einem Jahr, nach der Aushandlung des Vertra- ges, erzählt haben, Deutschland sei quasi das Vorbild für diesen Vertrag und erfülle mit seiner Schuldenbremse bereits alle Vorgaben. Dass das nicht zutreffend ist, se- hen wir an diesem Umsetzungsgesetz. Es gibt aber auch noch ein anderes Problem. Der Ver- trag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der Wirtschafts- und Währungsunion wurde als völkerrecht- licher Vertrag geschlossen. Wenn schon eine Einigung im Wege der Primärrechtsänderung nicht möglich gewe- sen ist, wäre doch wenigstens eine Regelung im Rahmen des europäischen Sekundärrechts deutlich besser gewe- sen. Einerseits ist der Vertrag in seiner jetzigen Kon- struktion weniger wirkungsvoll, da lediglich die Einfüh- rung von nationalen Schuldenregeln vorgeschrieben wird, die Einhaltung dieser selbstgewählten nationalen Regeln durch den Vertrag ist aber nicht sichergestellt. Auch das Zustandekommen des Vertrages aus natio- naler Perspektive ist ein Problem. Wie beim ESM hat auch bei dieser Vereinbarung die Bundesregierung es versäumt, die nationalen Gesetzgeber rechtzeitig und umfassend einzubeziehen. Schließlich konterkariert die Vorgabe des Vertrages unsere verfassungsrechtliche Schuldenregel. Während durch das Ergebnis der Födera- lismuskommission II eine Schuldenregel in Höhe von 0,35 Prozent/BIP für den Bund ab 2016 und eine Null- verschuldungsregel für die Länder ab 2020 eingeführt 27314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) wurde, entsteht nun durch den neuen Vertrag eine ge- samtstaatliche Begrenzung des strukturellen Defizits in Höhe von 0,5 Prozent des BIP bereits ab 2013. Wenn die Bundesregierung solche weitreichenden Vertragsver- handlungen auf zwischenstaatlicher Ebene führt, muss sie die nationalen Haushaltsgesetzgeber nicht nur infor- mieren, sondern in die Verhandlungen mit einbeziehen. Das hat die Bundesregierung unterlassen und damit in eklatanter Weise gegen das Grundgesetz verstoßen, wie ihr das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 19. Juni 2012 bescheinigt hat. Warum brauchen wir nun also ein Umsetzungsgesetz, bzw. welche Defizite weist die deutsche Schuldenregel gegenüber den Vorgaben des Fiskalvertrages auf? Die EU-Kommission hat für eine möglichst einheitliche Ein- führung der Schuldenregeln in den Teilnehmerstaaten des Fiskalvertrages am 20. Juni 2012 gemeinsame Grundsätze veröffentlicht. Dabei gilt ein wesentlicher Grundsatz der Rolle und Unabhängigkeit der für die Überwachung zuständigen Institutionen. Die Kommis- sion hält darin fest, dass für die Glaubwürdigkeit und Transparenz der Schuldenregeln – „Korrekturmechanis- men“, wie sie technisch genannt werden – wesentlich ist, dass die Überwachung durch unabhängige oder funktio- nal autonome Stellen erfolgt. Für diese Stellen müssen nationale Rechtsvorschriften erlassen werden, die ihnen ein hohes Maß an funktionaler Autonomie gewähren, einschließlich eines gesetzlich verankerten Status’, der die Freiheit von Einflussnahme sichert, die Benennungs- verfahren festlegt und angemessene Ressourcen und ei- nen zur Erfüllung ihres Auftrags angemessenen Zugang zu Informationen garantiert. Die Kommission verfolgt hiermit ein Modell, das in den vergangenen Jahren in vielen Ländern innerhalb und außerhalb Europas in der einen oder anderen Form um- gesetzt worden ist – oft als „Fiscal Council“ bezeichnet – und das in der ökonomischen Literatur und in internatio- nalen Organisationen wie der OECD viele Befürworter hat. Deutschland als entschiedener Befürworter der Ein- führung und Überwachung einer Fiskal- bzw. Schulden- regel sollte sich dieser Entwicklung nicht verschließen. Die Bundesregierung will mit ihrem Gesetzentwurf zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalpaktes keine neue Institution schaffen, sondern die Rolle des Stabili- tätsrates stärken und ihm einen sogenannten Unabhängi- gen Beirat beistellen. Dieser Vorschlag genügt den An- forderungen nicht, und auch andere Länder sind in diesem Bereich viel weiter. Dies hat auch die Anhörung gezeigt, die der Haushaltausschuss anlässlich der Bera- tungen zum ersten Gesetzentwurf am 19. November letzten Jahres unter Beteiligung internationaler Experten durchgeführt hat. So haben Schweden und die Nieder- lande inzwischen renommierte Institutionen etabliert, die eine unabhängige Beratung und objektive Betrach- tung der Fiskalpolitik sicherstellen. Die USA haben das Congressional Budget Office sogar schon 1975 geschaf- fen. In Großbritannien hat die aktuelle Regierungskoali- tion aus Konservativen und Liberalen ein solches Fiscal Council eingerichtet, nur in Deutschland verweigert sich die Regierungskoalition diesen Fortschritten. Auch in einem aktuellen Bericht des Internationalen Währungsfonds vom November 2012 über die Ausge- staltungen nationaler Fiskalregeln wird deutlich, dass Deutschland nicht über unabhängige Einrichtungen zur Überwachung der Einhaltung der eigenen Schulden- bremse verfügt. Von „funktioneller Eigenständigkeit ge- genüber den Haushaltsbehörden des Mitgliedstaates“ kann beim Stabilitätsrat nicht ernsthaft die Rede sein. Denn dem Stabilitätsrat gehören die Länderfinanzminis- ter und der Bundesfinanzminister an. Eine Institution, die aus den für die Haushaltsbehörden verantwortlichen Ministern besteht, kann nicht glaubwürdig für sich eine funktionale Eigenständigkeit gegenüber eben diesen Haushaltsbehörden behaupten. Die von der Bundesregierung als Argument angeführ- ten gesetzlichen Regelungen über die Beschlussfassung können diesen Konstruktionsmangel ebenso wenig hei- len wie die Beigabe eines unabhängigen Beirats. Ein un- abhängiges Beratergremium macht aus einer abhängigen keine unabhängige Institution. Auch ist der Vorschlag der Koalitionsfraktion nicht in Einklang zu bringen mit dem bereits auf europäischer Ebene bestehenden Gesetzespaket „Sixpack“ und dem gerade in der Verhandlung steckendem „Twopack“. Beide setzen voraus – ich zitiere –, dass die europäi- schen Mitgliedstaaten über „einen unabhängigen Rat für Finanzpolitik“ verfügen, „dessen funktionelle Eigen- ständigkeit gegenüber den Haushaltsbehörden des Mit- gliedstaats gegeben und dessen Aufgabe es ist, die Um- setzung der nationalen Haushaltsregeln zu überwachen“. Es gibt keinerlei Regelung zu Amtszeit, Ernennung und Entlassung oder Amtsausstattung. In dem Beirat sind lediglich die drei Mitglieder, die von Bundesbank, Sachverständigenrat und Forschungsinstitutsverbund der Gemeinschaftsdiagnose benannt werden, als unabhängig zu bezeichnen; die anderen sechs Mitglieder werden von den Vertretern der staatlichen Ebenen und Sozialver- sicherungen benannt, deren Haushaltsgebaren kontrol- liert werden soll. Bei diesem Verhältnis von 3 : 6 von ei- nem unabhängigen Beirat zu sprechen, ist ein Witz. Eine solche Regelung würde Deutschland einem anderen Land in Europa nicht durchgehen lassen. Mit diesen wesentlichen Abweichungen von den ver- bindlichen Grundsätzen der EU-Kommission zur Ausge- staltung der nationalen Schuldenregeln tragen deshalb auch die Bundesregierung und die sie tragenden Koali- tionsfraktionen das Klagerisiko vor dem EuGH. Die SPD ist der festen Überzeugung, dass weder der Stabili- tätsrat noch ein sogenannter unabhängiger Beirat als Gremium dienen kann, um die Finanzpolitik der Regie- rung auszuwerten. Dazu braucht es eine andere Rege- lung, und deshalb schlagen wir die Einrichtung eines Nationalen Rates für Haushalts- und Finanzpolitik vor. Wir haben dafür einen ausführlichen Änderungsantrag in die Beratungen eingebracht. Gleichzeitig entstünde durch die Einrichtung dieses nationalen Rates mit einem entsprechenden Sekretariat, organisiert als Arbeitsstab beim Deutschen Bundestag, auch die notwendige Verbesserung der Ausstattung des Parlamentes um den gestiegenen Anforderungen, nicht Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27315 (A) (C) (D)(B) zuletzt durch die seit 2008 anhaltende Finanzkrise, sowie den neuen gesetzlichen Beteiligungsrechten und -pflichten, die teilweise nach höchstrichterlicher Recht- sprechung verankert wurden, gerecht werden zu können. Die öffentliche Anhörung des Haushaltsausschusses hat zu dieser Frage den Nachholbedarf des Bundestages gegenüber den Parlamenten anderer westlicher Demo- kratien deutlich belegt. Wir begrüßen dagegen, dass die Koalitionsfraktionen mit einer Ergänzung in dem heute vorliegenden Gesetz- entwurf inzwischen den durch einen willkürlich gewähl- ten Ausgangspunkt für den Abbaupfad des strukturellen Defizits im Bundeshaushalt entstandenen Positivsaldo auf dem Kontrollkonto der Schuldenbremse löschen wol- len. Schließlich würde durch eine mögliche Inanspruch- nahme dieses Saldos in Form von zusätzlichen Verschul- dungsmöglichkeiten, die sich nach Berechnungen der Bundesbank bis zum Jahr 2015 auf 50 Milliarden Euro summieren werden, die Glaubwürdigkeit der noch jungen verfassungsrechtlichen Schuldenregel gefährdet. Mit die- ser Änderung der Koalitionsfraktionen wird nun endlich auf die anhaltende Kritik der SPD-Bundestagsfraktion seit mehr als zwei Jahren, die aber auch von Sachverstän- digenrat, der Bundesbank, und dem Bundesrechnungshof unterstützt wurde, eingegangen. Gleichwohl wird durch diese Änderung nicht die Ur- sache, nämlich der willkürlich gewählte Abbaupfad, kor- rigiert. Damit hält sich die Koalition eine Hintertür für die unterjährige Nutzung dieser Verschuldungsspiel- räume im Haushaltsvollzug oder auch bei Nachtrags- haushalten offen, wie auch die Bundesbank in ihrer Stel- lungnahme zur schon genannten Anhörung kritisiert. Politisches Wunschdenken darf keinen Einfluss mehr auf unsere Finanz- und Haushaltsplanung haben. In Richtung der Regierungskoalition sage ich dazu: Das muss man aber auch wollen. Leider bekomme ich immer mehr den Eindruck, dass Sie sich nicht trauen, ihre Poli- tik unabhängiger und ehrlicher Analysen auszusetzen. Weil Sie sich unserem Vorschlag für eine Verbesse- rung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages gerade im Haushaltsausschuss offenbar aus Angst vor der Unbill der Exekutive verweigern – obwohl Sie dem Anliegen nach eigenem Bekunden bei den Beratungen grundsätz- lich zustimmen –, lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab. Dr. Florian Toncar (FDP): Wenn wir heute das Ge- setz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags verabschieden, lohnt sich ein Rückblick auf das Jahr 2009, in dem eine der wichtigsten Reformen in Deutsch- land, das Einfügen der Schuldenbremse in das Grundge- setz, im Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Das war mitten in der Finanzkrise mutig. Ich glaube, das ist nicht nur Anlass, stolz auf unser Land zu sein, sondern durchaus auch Anlass, stolz auf das politische System in Deutschland zu sein, das früher als viele andere erkannt hat, dass zu viele Schulden eine Gefahr für Staaten und für Gesellschaften darstellen können. Wir können stolz darauf sein, dass Deutschland sich früher als andere Län- der dafür entschieden hat, etwas dagegen zu tun. Die christlich-liberale Koalition hat seit dem Jahr 2010 gewaltige Anstrengungen unternommen, um den Haushalt zu konsolidieren. In der Krise stand eher das Geldausgeben im Vordergrund. Damals sind immerhin 80 Milliarden Euro für Konjunkturprogramme ausgege- ben worden. Es hat sich gezeigt, dass viele dieser Ausga- ben durchaus richtig waren; dennoch mussten die da- durch entstandenen Schulden in den Folgejahren wieder ausgeglichen werden, um die Haushalte zu konsolidie- ren. Eine der politischen Leistungen der christlich-libe- ralen Koalition ist es, intelligent gespart zu haben; denn Einsparen ist immer schwerer als Ausgeben. Einsparen und gleichzeitig in die Zukunft zu investie- ren, ist dabei die eigentliche politische Leistung. Die ha- ben wir als Koalition erbracht. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Bereits im abgelaufenen Jahr 2012 wurde die Zielmarke der Schuldenbremse in Deutschland ein- gehalten: 0,32 Prozent Neuverschuldung beim Bund. Dieses Ziel haben wir vier Jahre früher erreicht, als das Grundgesetz es von uns verlangt. Darauf sind wir stolz. Ich glaube, vor drei, vier Jahren hätte es niemand für möglich gehalten, dass wir das bereits im Jahr 2012 er- reichen würden. Das ist eine gute Nachricht, insbeson- dere für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland. Das haben wir geschafft, obwohl wir neue Schwer- punkte gesetzt und investiert haben – im Bereich Bil- dung und Forschung beispielsweise haben wir 12 Mil- liarden Euro mehr ausgegeben –, obwohl wir die Kommunen um annähernd 20 Milliarden Euro entlastet haben und obwohl wir mit dem ESM infolge der Staats- schuldenkrise eine Verpflichtung übernommen haben, die uns bisher 17 Milliarden Euro gekostet hat. Trotz all dieser Sonderbelastungen haben wir es geschafft, den Haushalt weitgehend zu konsolidieren. Jedenfalls sind wir auf einem sehr guten Weg. Das Volumen, um das wir die Neuverschuldung schneller gesenkt haben, als es das Grundgesetz von uns verlangt, wurde auf einem sogenannten Kontrollkonto gebucht: Wenn der Bund in einem Jahr weniger Schul- den macht als erlaubt, darf er in den folgenden Jahren et- was mehr Schulden machen. Ein Vorwurf der Opposi- tion lautete immer, die Koalition würde sich so eine „Kriegskasse“ für das Wahljahr 2013 anlegen, um dann noch einmal richtig Geld auszugeben, um Wahlpro- gramme finanzieren zu können. Angekommen im Jahr 2013, muss die Opposition nun einräumen, dass die Aus- gaben konstant geblieben sind und die Schulden weiter abgebaut werden. Wenn dieser Gesetzentwurf heute nun beschlossen wird, dann wird das Kontrollkonto, das die Opposition für eine Wahlkampfkasse gehalten hat, voll- ständig gelöscht. Unsere Sparerfolge dürfen also in den kommenden Jahren nicht durch neue Ausgaben zu- nichtegemacht werden. Das ist eine sinnvolle Regelung und zeigt auch, dass Verschwörungstheorien oft einfach nur Verschwörungstheorien sind. Mit dem Fiskalpakt hat die christlich-liberale Bundes- regierung es geschafft, diese Politik der Konsolidierung und der finanziellen Stabilität auf Europa zu übertragen. Lange galt eine Neuverschuldungsgrenze von 3 Prozent in Europa, die mit dem Maastricht-Vertrag festgelegt wurde. Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die diese 27316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) europaweite Verschuldungsgrenze maßgeblich mit ein- gerissen hat, indem sie sich selber nicht daran gehalten hat. Das musste repariert werden. Die christlich-liberale Koalition ist das angegangen. Das Wort „Fiskalpakt“ ist letzten Endes nur ein Begriff dafür, dass es uns, dieser Regierung, zusammen mit unseren europäischen Part- nern gelungen ist, die Fehlentscheidungen von damals zu korrigieren und in Europa wieder strenge Regeln ge- gen Verschuldung einzuführen, damit Staaten nicht wie- der in die Situation kommen, in der sich einige Länder Europas zurzeit befinden. Dieser Fiskalpakt ist ein gro- ßer europapolitischer Erfolg der Bundesregierung. Er enthält strenge Regeln, klare Sanktionen und auch ein Bekenntnis zum Abbau der bestehenden Staatsverschul- dung. Das wird jetzt mit diesem Gesetz ins deutsche Recht umgesetzt, sofern das erforderlich ist. Im Haushalts- grundsätzegesetz wird noch einmal klargestellt, dass ne- ben der Schuldenobergrenze von 0,35 Prozent die etwas anders berechnete Grenze nach dem Fiskalpakt gilt, nämlich 0,5 Prozent. Der sogenannte Stabilitätsrat über- wacht die Einhaltung des Fiskalpakts, damit das transpa- rent und unabhängig geschieht. Ein besonders wichtiger Punkt sind die Strafzahlun- gen der Länder. Der Bund hat sich im Rahmen eines Kompromisses – um einen für Deutschland und Europa elementar wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung, nämlich den Fiskalpakt, zu retten – auch den Ländern gegenüber verpflichtet, deren Strafzahlungen mit zu übernehmen, wenn sie dazu beitragen, dass Deutschland gegen den Fiskalpakt verstößt. Das war meines Erach- tens eine sehr großzügige Geste des Bundes, mit der er noch einmal gezeigt hat, dass ihm außenpolitische und europapolitische Interessen sowie finanzielle Stabilität wichtiger sind als das Klein-Klein um Zuständigkeiten in unserem Föderalismus und die parteitaktischen Schar- mützel von Rot-Grün. Dafür muss man denen, die das verhandelt haben, ein großes Kompliment machen. Wenn der Fiskalpakt daran gescheitert wäre, wäre das für Deutschland und Europa unverantwortlich gewesen. Ich fasse zusammen: Europa denkt um – solide Finan- zen statt Strohfeuer, ausgeglichene Haushalte als binden- des Ziel für alle. Das ist ein Beitrag zur Lösung dieser Krise und auch ein Beitrag für eine stabile Währungs- union in der Zukunft. Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes sorgt Deutschland für noch mehr finan- zielle Solidität. Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Die Koalitions- fraktionen CDU/CSU und FDP haben erneut einen Gesetzentwurf zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags vorgelegt. Dieser entspricht im Kern dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Drucksache 17/10976. Die Linke, die SPD und der Bundesrat haben im De- zember 2012 ihre Zustimmung verweigert. Wir sind der Auffassung, dass der Fiskalvertrag nicht zur Stabilisie- rung des Euro führt. Der Vertrag soll vielmehr genutzt werden, um die Kosten der Finanzkrise auf die Bürgerin- nen und Bürger abzuwälzen. Das lehnen wir ab. Im März 2012 haben 25 EU-Regierungen den Fiskal- vertrag unterzeichnet. In diesem Vertrag ist eine Ober- grenze für das jährliche strukturelle Defizit von höchs- tens 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts festgelegt. Das ist auch der wichtigste Punkt des neuen Entwurfes zur Umsetzung des Fiskalvertrages. Diese Regelung lehnen wir ab. Sie ist ökonomischer Unsinn. Sie schränkt die Handlungsfähigkeit der EU-Staaten dramatisch ein. Griechenland ist ein trauriges Beispiel dafür, dass Kürzungspolitik nicht der Ausweg aus der Krise ist. Ferner ist vorgesehen, dass der Stabilitätsrat damit beauftragt wird, die Einhaltung dieser Defizitgrenze zu überwachen. Zur Unterstützung des Stabilitätsrates soll ein unabhängiger Beirat eingerichtet werden. Meine Erfahrung mit unabhängigen Beiräten ist, dass sie in der Regel nicht unabhängig sind. Zudem soll mit der Änderung des Sanktionszah- lungs-Aufteilungsgesetzes die innerstaatliche Aufteilung der Sanktionen zur „Sicherung der Haushaltsdisziplin“ geregelt werden. Jeder, der es wissen will, weiß, dass das Problem nicht die fehlende Haushaltsdisziplin der Regierungen ist. Der Fiskalvertrag soll die EU angeblich in eine Stabi- litätsunion umwandeln und auf diese Weise dazu beitra- gen, die Euro-Krise zu überwinden. Dies wird jedoch nicht gelingen: Die Euro-Krise wurde nicht dadurch aus- gelöst, dass die Staaten über ihre Verhältnisse gelebt bzw. eine zu laxe Ausgabenpolitik betrieben hätten. Die hohe Verschuldung einiger Mitgliedstaaten ist vielmehr auf die Finanzkrise zurückzuführen, in der die Staaten Banken, die sich verspekuliert hatten, mit Milliarden- summen gerettet haben. Zur Abwehr der darauffolgen- den Wirtschaftskrise mussten weitere Milliarden aufge- bracht werden. Allein in Deutschland wurden über 335 Milliarden Euro aufgewandt, um die Krisenauswir- kungen zu bekämpfen. Anstatt nun endlich die Finanzmärkte wirksam zu regulieren, werden mit dem Fiskalvertrag die Vertrags- staaten „diszipliniert“, das heißt zu einer strikten Kürzungspolitik gezwungen. Dies löst die Euro-Krise nicht, sondern verschärft sie. Der Finanzsektor hat bis heute noch keinen substanziellen Beitrag dazu geleistet, seinen Anteil an der Verschuldung zu finanzieren. Selbst die geplante Finanztransaktionsteuer wird in keiner Weise die Schäden, die die Banken verursacht haben, decken können. Wir brauchen eine Zwangsanleihe auf große Vermögen, wie es das Deutsche Institut für Wirt- schaftsforschung vorgeschlagen hat. Die Einnahmen aus dieser Anleihe würden den Fiskalvertrag sofort überflüs- sig machen. Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ- NEN): Ein weiteres Mal diskutieren wir heute über ein Gesetz zur Umsetzung des Fiskalvertrags. Dabei könnte längst alles klar sein: Der Bundestag hatte ein entspre- chendes Gesetz ja bereits Ende 2012 beschlossen. Die Länder haben das Gesetz im Bundesrat allerdings blo- ckiert. Das war leider folgerichtig, weil die Bundesregie- rung ihre eigenen Zusagen nicht eingehalten hat. Bis Jahresende wurde keine Neuregelung der sogenannten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27317 (A) (C) (D)(B) Entflechtungsmittel auf den Weg gebracht, wie es die Bundesregierung den Ländern versprochen hatte. Die Bundesregierung hat hoch gepokert und verloren, weil sich die Länder das zu Recht nicht haben bieten lassen. Gesetzesverabschiedung im Schnelldurchlauf: Es ist schon verwunderlich, wie eilig es die Bundesregierung letztes Jahr hatte, das vorliegende Gesetz zu verabschie- den. Für die abschließende Beratung gab es nicht einmal eine eigene Debatte, das Gesetz wurde hier im Bundes- tag zusammen mit dem Haushalt für 2013 behandelt. Es konnte gar nicht schnell genug gehen, weil die Fiskal- vertragsumsetzung noch im selben Jahr festgezurrt wer- den sollte, im Bundestag wie im Bundesrat. Budget Of- fice wurde wegen Zeitdruck nicht diskutiert. Etwas mehr Zeit hätte den Beratungen allerdings gut- getan. Im Raum stand beispielsweise der Vorschlag, das unabhängige Kontrollgremium, das laut Fiskalvertrag die Einhaltung der Fiskalregeln überwachen soll, zur Einführung einer Institution wie dem Budget Office in den USA zu nutzen. So eine Institution wäre nicht nur unabhängiger als ein Beirat für den bestehenden Stabili- tätsrat; sie könnte durch wissenschaftliche Expertise und unabhängige Beratung auch die Rolle des Parlaments stärken. Für diese Idee sollte es auch in den Reihen der Koalition Sympathien geben. Umso ärgerlicher, dass wir durch das damalige hastige Verfahren nicht wirklich da- rüber beraten konnten. Ich würde mir im Interesse des gesamten Hauses wünschen, dass wir an diesem Punkt vielleicht doch noch zusammenfinden. Forderungen der Länder ernst nehmen: Das Fiskal- vertragsumsetzungsgesetz werden wir heute ein zweites Mal beschließen, und ich hoffe, dass die Koalition aus der letzten Panne gelernt hat. Noch ist das Gesetz für die Entflechtungsmittel nicht in den Bundestag eingebracht worden. Wünschenswert wäre jetzt ein paralleles Verfah- ren gewesen, um weitere Konflikte zwischen Bundesre- gierung und Ländern zu vermeiden. Wir werden sehen, ob diese Beschlussfassung von Erfolg gekrönt ist oder ob eine dritte Runde notwendig wird. Ich hoffe, diese Peinlichkeit bleibt uns erspart. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven- tion im Wahlrecht (Tagesordnungspunkt 25) Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Der vorliegende Ge- setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist eine gute Grundlage für erfolgversprechende Beratungen in den Ausschüssen und ein Ergebnis, das pauschalen Wahlrechtsausschluss beendet. Momentan haben wir ei- nen Diskriminierungstatbestand, der eines der grundle- gendsten Bürgerrechte – das Wahlrecht – betrifft. Ich meine: Er muss noch vor der diesjährigen Bundestags- wahl beseitigt werden. Die Behindertenbewegung fordert das seit Monaten. Initiiert von der Monitoringstelle des Deutschen Institu- tes für Menschenrechte sprachen sich 22 Verbände über den Deutschen Behindertenrat für die sofortige Strei- chung von Abs. 2 und 3 in § 13 Wahlgesetz aus. Die Koalition aus CDU, CSU und FDP hat eine große Chance vertan, bei der Änderung des Bundeswahlgeset- zes diese Verbändeposition aufzugreifen. Damit vergab sie auch eine Chance, die Interessenvertretungen von Menschen mit Behinderungen als Partner und politische Mitgestalter auf Augenhöhe öffentlich zu würdigen. Das widerspricht ihrer Selbstverpflichtung aus der Ratifizie- rung der UN-Konvention, Art. 4, Abs. a: „Die Vertrags- staaten verpflichten sich … alle geeigneten Gesetzge- bungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten Rechte zu treffen.“ Zu diesen anerkannten Rechten ge- hört nach Art. 29 ausdrücklich die Teilhabe am politi- schen und öffentlichen Leben. Bis heute fehlen verlässliche Zahlen, wie viele Men- schen nicht wählen dürfen, weil eine Betreuung „in allen Angelegenheiten“ bestellt wurde. Von 1,2 Millionen Menschen in Betreuung sollen es, geschätzt, zwischen 15 000 und 20 000 sein. Doch geht es weniger um die Zahl der Betroffenen. Schon ein Einziger genügte, um das Grundsatzproblem aufzuwerfen: Dürfen Gesetze oder Richter, Menschen mit Behinderungen zu Nicht- staatsbürgern erklären – ihnen das Wahlrecht entziehen –, obgleich im Betreuungsrecht ihre Staatsbürgerlichkeit ausdrücklich vorausgesetzt ist? Bleibt das Wahlrecht all- gemein, wenn es pauschal eingeschränkt werden darf, ohne dass eine individuelle Straftat vorliegt, die zum Entzug aller staatsbürgerlichen Rechte führt? Wir haben die absurde Situation, dass Straftäter ohne Behinderung in Deutschland wählen dürfen, soweit ihnen das Wahl- recht nicht per Richterspruch aberkannt wurde, während Straftätern mit Behinderung, untergebracht in der foren- sischen Psychiatrie, das Wahlrecht entzogen ist. Das ist ein Diskriminierungstatbestand, der sofort aufzuheben ist. Ich erinnere noch einmal an die Forderung der Frak- tion Die Linke, endlich die Antidiskriminierungsricht- linie der Europäischen Union zu ratifizieren. Fast ein Viertel der Anfragen in der Antidiskriminierungsstelle des Bundes kommen von Menschen, die sich wegen ei- ner Behinderung benachteiligt fühlen. Jeder fünfte Deut- sche verbindet nach einer Forsa-Umfrage mit dem Wort „Behinderung“ auch die Tatbestände „Benachteiligung“ und „Diskriminierung“. Das muss alarmieren. Gestern gedachten wir der Opfer der „Euthanasie“- Morde. Die Vorstufe zu diesen menschenverachtenden Morden war die gewohnheitsmäßige und gesetzliche Diskriminierung. Wer „Euthanasie“ unumkehrbar un- möglich machen will, muss sorgsam jede noch so kleine Diskriminierung infolge einer Behinderung ahnden und gesellschaftlich ächten. Deshalb plädiere ich auch ener- gisch für eine Aufhebung des Wahlrechtsausschlusses innerhalb des Wahlrechtes und nicht im Betreuungs- recht, wie es von einigen Kollegen ins Gespräch ge- bracht wurde. Das deutsche Betreuungsrecht berührt zu Recht das Wahlrecht bisher nicht. Das Wahlrecht als Staatsbürgerrecht schlechthin gehört nicht in einen 27318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Rechtskreis, der ausdrücklich vom Defizit eines Men- schen ausgeht. Das Hohe Haus wird sich sehr bald mit dem Betreuungsrecht im Lichte der UN-Konvention be- fassen müssen. Dann geht es aber um die volle Hand- lungs- und Geschäftsfähigkeit jedes Menschen. Davon ist unser dem Vormundschaftsgedanken nach wie vor verpflichtetes Betreuungsrecht noch weit entfernt. Es entspricht nicht dem Behinderungsbegriff der UN-Be- hindertenrechtskonvention. Dieser Konvention entspräche ein umfassendes As- sistenzrecht, das den Anspruch jedes Menschen mit Be- hinderung auf bedarfsgerechte Assistenz einkommens- und vermögensunabhängig regelt und zugleich den Be- ruf des Assistenten gesetzlich bestimmt. Das Vorsorge- recht geht da in die richtige Richtung. Auch die Bundes- wahlordnung schreibt den Anspruch der Unterstützung bei der Wahl schon heute fest. Wir sind auch deshalb gegen eine Regelung des Wahlrechtsausschlusses innerhalb des Betreuungsrech- tes, weil dieses im Sinne des BGB auf die „natürliche Einsichtsfähigkeit“ abstellt. Praktisch wird jedoch schon jetzt nicht von dieser natürlichen Einsichtsfähigkeit aus- gegangen. Menschen mit Vorsorgevollmacht dürfen sich bei der Wahl vertreten lassen, selbst wenn sie dement sind. Aber Demente ohne Vorsorgevollmacht dürfen nicht wählen. Jede Wählerin und jeder Wähler müsste eigentlich überprüft werden, ob er natürlich einsichts- fähig ist oder nicht. Es geht beim Wahlrecht eben nicht um ein natürlich-physiologisches Vermögen. Es geht um politische Meinung, selbst als Ahnung oder als Gefühl oder aus früherer Gewohnheit. Diese kann jeder Mensch entwickeln, auch wenn er viele Lebensangelegenheiten nicht selbst regeln kann. Energisch spricht sich die Linke gegen den Vorschlag aus Koalitionskreisen aus, dass ein Richter, eine Richte- rin über die Aberkennung des Wahlrechts entscheiden soll. Herr Minister Friedrich stellt dabei auf die „richter- liche Überzeugungsbildung“ ab. Ob ein Mensch jedoch seine staatsbürgerlichen Rechte wahrnehmen kann, ist eine praktische Frage. Erst wenn der Wahlakt ausgeübt wurde, wird sich erwiesen haben, welche Politik ein Wähler, eine Wählerin für sich einsichtig fand. Wer den Wahlakt nicht mehr bewältigt, wählt eben nicht. Wer den Wahlakt nicht versteht, gibt eben eine ungültige Stimme ab. Nichtwahl und ungültige Wahl lässt das Wahlrecht ausdrücklich zu, egal ob ich mit oder ohne Behinderung nicht oder ungültig wähle. Es geht um die Allgemeinheit der Wahl. Der Staats- bürger will das Recht nicht als Privileg, meinte einst He- gel. Nach unserem Verständnis des Staatsbürgerrechts könnte der § 13 des Bundeswahlgesetzes sogar komplett entfallen. Wird nicht von der Einsichtsfähigkeit ausge- gangen, wäre es juristisch sogar konsequent, das Wahl- recht an keine Altersgrenze zu koppeln, also jegliche Al- tersbegrenzung aufzuheben. Doch diese Debatte würde die dringliche – jetzt mög- liche – Gesetzesänderung nur verzögern. Deshalb werde ich meiner Fraktion empfehlen, dem Gesetzentwurf zu- zustimmen. Auch im Interesse einer breiten öffentlichen Debatte über notwendige Anforderungen für die politi- sche Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Bun- destagswahljahr. Menschen mit Behinderungen brau- chen barrierefreie Wahllokale, Wahlunterlagen in leichter Sprache, Wahlschablonen und andere Leitsys- teme – und eine Wahlwerbung, die für jeden Menschen mit Beeinträchtigung zugänglich und verständlich ist. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 31) Heike Brehmer (CDU/CSU): Zwei Jahre Bildungs- und Teilhabepaket bedeuten zwei Jahre „Mitmachen möglich machen“. Das Bildungs- und Teilhabepaket bie- tet Kindern und Jugendlichen aus Geringverdienerfami- lien seit zwei Jahren eine Chance, an Bildungsangeboten und Aktivitäten mit Gleichaltrigen teilzunehmen. Dazu gehören Angebote aus den Bereichen Sport, Musik und Kultur ebenso wie das warme Mittagessen in der Schule, der Kita oder im Hort. Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erst- mals seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze im Jahr 2005 bedürftigen Kindern und Jugendlichen eine Chance gegeben, an Bildungs- und Freizeitangeboten teilzuneh- men. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dies haben Sie versäumt, als Sie seinerzeit in der Regierungsverantwor- tung waren und die Hartz-IV-Gesetze auf den Weg ge- bracht haben. Der CDU/CSU liegt das Thema Bildung besonders am Herzen; denn Bildung ist der Schlüssel zum Eintritt ins spätere Erwerbsleben, zu beruflichem Erfolg und Wohlstand. Vor rund einem Jahr, im März 2012, habe ich in diesem Hohen Hause ebenfalls zum Thema Bildungs- und Teilhabepaket gesprochen. Damals habe ich aus den Erfahrungen in meinem Wahlkreis Harz berichtet. In meinem Wahlkreis wird das Bildungs- und Teilhabepaket sehr gut von den betroffenen Familien angenommen. Inzwischen ist ein weiteres Jahr in der Umsetzung des Teilhabepakets vergangen. Die Praxis der vergangenen zwei Jahre hat gezeigt: Das Bildungspaket wird gut an- genommen, die derzeitigen Regelungen führten aber an einigen Stellen zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand. Das liegt zum Teil daran, dass wir es beim Bildungs- und Teilhabepaket mit Sachleistungen zu tun haben. Sach- leistungen erfordern oftmals einen höheren Verwaltungs- aufwand als Geldleistungen. Als wir 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket einge- führt haben, haben wir uns ganz bewusst für das Sach- leistungsprinzip entschieden. Die Leistungen sollen dort ankommen, wo sie hingehören: zu den Kindern und Ju- gendlichen aus den bedürftigen Familien. Nach zwei Jahren Praxiserfahrung wollen wir für die betroffenen Familien auf der einen Seite und für Träger und Leistungserbringer auf der anderen Seite die Umset- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27319 (A) (C) (D)(B) zung des Teilhabepakets erleichtern. Wir wollen Büro- kratie abbauen und die Inanspruchnahme erleichtern. Darauf haben sich die Vertreter von Bund, Ländern und kommunalen Spitzenverbänden im Vorfeld des vier- ten Runden Tisches zum Bildungs- und Teilhabepaket im Herbst 2012 verständigt. Im Anschluss daran hat die Bund-Länder-AG „Bildung und Teilhabe“ einen Vor- schlag erarbeitet, den die Arbeits- und Sozialminister auf ihrer gemeinsamen Konferenz im November 2012 auf- gegriffen haben. Die Länder haben sich einstimmig auf die folgenden Punkte zur Verwaltungsvereinfachung geeinigt: Veraus- lagte Geldmittel sollen im Nachhinein erstattet werden können, wenn Leistungen nicht rechtzeitig erbracht wer- den konnten, wie zum Beispiel vor einem Klassenaus- flug. Bei der Teilhabe soll es die Möglichkeit geben, Mittel für Teilhabeangebote im Bewilligungszeitraum anzusparen, auch rückwirkend. Bei der Schülerbeförde- rung soll der Eigenanteil künftig in der Regel bei 5 Euro angesetzt werden. Die Möglichkeit einer Geldleistung für anstehende Klassenfahrten bedeutet keine grundle- gende Abkehr vom Sachleistungsprinzip. Unter be- stimmten Voraussetzungen soll es möglich sein, die Teil- habeleistung von 10 Euro pro Monat nicht nur für die Bereiche Sport, Musik, Kultur usw., sondern in Ausnah- mefällen auch für Ausrüstungsgegenstände in diesen Be- reichen verwenden zu können. Es soll in Zukunft mög- lich sein, dass die Träger mit den Leistungserbringern auch im SGB XII pauschal abrechnen können. Nach den anfänglichen Anlaufschwierigkeiten des Bildungs- und Teilhabepakets hat unsere Ministerin Frau Dr. von der Leyen reagiert und die Runden Tische ins Leben gerufen, welche seitdem regelmäßig stattfinden. Sie bieten den politischen und gesellschaftlichen Akteu- ren die Möglichkeit, ihre Erfahrungen rund ums Bil- dungspaket auszutauschen. Dieser Austausch ist wichtig; denn die kommunalen Träger vor Ort sind es, die das Bildungs- und Teilhabe- paket vor Ort umsetzen. Jobcenter und Arbeitsagenturen leisten ebenso wie Landkreise und kreisfreie Städte eine hervorragende Arbeit, so auch in meinem Wahlkreis Harz. Hier ist das örtliche Jobcenter – die Kommunale Beschäftigungsagentur KoBa – zuständig. Die Mitarbei- terinnen und Mitarbeiter der KoBa zeigen sich bei der Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets sehr enga- giert und leisten eine hervorragende Arbeit. Das Jobcenter leistet einen großen Beitrag im Bereich Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation im Landkreis Harz und ist ein zuverlässiger Ansprechpartner für die Betroffenen. Auch die Vereine aus den Bereichen Sport, Kultur und weiteren Freizeitangeboten profitieren vom Bildungs- und Teilhabepaket. In dieser Woche verlieh der Deutsche Olympische Sportbund gemeinsam mit dem Bundespräsidenten die Auszeichnung „Sterne des Sports“ an engagierte Sport- vereine in ganz Deutschland. Der Präsident des Kreissportbundes Harz, Herr Rühe, berichtete mir, dass das Bildungs- und Teilhabepaket nach wie vor sehr gut angenommen wird. Viele Sport- vereine im Harz profitieren von den Möglichkeiten der Vereinsmitgliedschaft für Kinder aus sozial schwächeren Familien. Das bereichert die Gemeinschaft unter den Kindern, aber auch die Vereinslandschaft. Wir in der christlich-liberalen Koalition wollen allen Kindern und Jugendlichen aus bedürftigen Familien auch in Zukunft eine Chance auf Bildung und Teilhabe ermöglichen. Aus diesem Grund begrüßen wir die Vor- schläge von Bund, Ländern und kommunalen Spitzen- verbänden, den Verwaltungsaufwand beim Bildungspa- ket zu vereinfachen. Wir wollen die Inanspruchnahme des Bildungspakets für Eltern und Kinder erleichtern. Wir wollen die kom- munalen Träger und Leistungserbringer von unnötigem bürokratischem Aufwand entlasten. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposi- tion, ich appelliere an Sie, dem Gesetzentwurf zuzustim- men, welchen die Bund-Länder-AG im konstruktiven Miteinander vorbereitet haben. Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich denke, wir sind uns alle einig, dass Kinder unsere Zukunft sind, der Grund- pfeiler unserer Gesellschaft. Sie kennzeichnen den Weg, den unsere Gesellschaft künftig gehen wird. Wohin die- ser Weg führt, hängt entscheidend davon ab, welche Chancen wir jungen Menschen eröffnen und welche Möglichkeiten wir ihnen bieten. Was gibt es Schlimme- res für Kinder, als nicht mit ihren Klassenkameraden am Schulausflug teilnehmen zu können, weil den Eltern hierzu schlichtweg die finanziellen Mittel fehlen? Die unionsgeführte Bundesregierung hat dafür ge- sorgt, dass Kinder die schmerzliche Erfahrung, nicht da- bei sein zu können, künftig nicht mehr machen müssen. Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde durch das Ge- setz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Ände- rung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz- buch eingeführt. Die Änderungen sind am 1. April 2011 rückwirkend zum 1. Januar 2011 in Kraft getreten. Neben der infolge des Bundesverfassungsgerichtsur- teils vom 9. Februar 2010 notwendig gewordenen Neu- bemessung der Regelleistungen für Kinder und Jugendli- che verfolgt das Gesetz das Ziel, ein gleichberechtigtes Maß an Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und den gleichberechtigten Zugang zu Bildung im schulischen und außerschulischen Bereich für Kinder aus besonders förderungsbedürftigen Haushalten sicherzustellen. Das Bildungspaket gibt 2,5 Millionen bedürftigen Kindern aus Geringverdienerfamilien bessere Zukunftschancen. Das Bildungspaket leistet einen wichtigen Beitrag, damit Kinder aus ärmeren Familien am gesellschaftlichen Le- ben teilhaben können und bessere Bildungschancen ha- ben. Eltern, die auf Hartz IV oder Wohngeld angewiesen sind, können für ihre Kinder ein staatlich subventionier- tes Mittagessen in der Schule, einen monatlichen Zu- schuss für den Sportverein oder Nachhilfe beantragen. Ganze 1,6 Milliarden Euro wurden hierfür vom Bund bereitgestellt. Neben dem Mittagessen, dem Zuschuss zum Sportverein sowie der Lernförderung gehören auch 27320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) die Teilnahme an Ausflügen, Schulbedarf sowie Schü- lerbeförderung zum breiten Leistungsspektrum des Bil- dungspakets. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten ist das Bildungs- und Teilhabepaket – entgegen der weit- läufigen Meinung – nunmehr auch sehr gut angenom- men worden. Zwar ist die Antragsquote von 62 Prozent aus dem März des vergangenen Jahres noch nicht ausrei- chend und durchaus noch ausbaufähig – jedoch schon ein beachtlicher Schritt. Die aktuellen Zahlen müssen jetzt abgewartet und entsprechend bewertet werden. In meinem Wahlkreis Würzburg beispielsweise sind die Ausgaben im SGB-II-Bereich 2012 gegenüber dem Vorjahr um etwa 50 Prozent gestiegen. Insbesondere bei den Leistungen für eine notwendige Lernförderung und der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Gemeinschaft waren sogar Steigerungen von über 100 Prozent zu verzeichnen. Man kann also mit Recht behaupten, dass sich das Bildungs- und Teilhabepaket in Würzburg etabliert hat, was aber auch an der guten In- formationsweitergabe der Schulen und Kindertagesein- richtungen hin zu den Eltern liegt. Wir machen auch keinen Hehl daraus, dass die Ver- gabe der Mittel aus dem Bildungspaket noch nicht rei- bungslos verläuft. So wird beispielsweise der enorme Verwaltungsaufwand vielfach als eine der Haupthürden für die Inanspruchnahme angeführt. Daher begrüßen wir die vom Bundesrat durch den Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze eingebrachten Änderungen. Diese sind auch das Ergebnis der sogenannten Runden Tische mit den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden, die in regelmäßigen Abständen tagen, das Programm bewerten und begleiten und damit schnell auf Beschwerden und Schwierigkeiten eingehen können. In Anbetracht der Erfahrungen bei der Anwendung des Bildungs- und Teilhabepaketes sollen einige Maß- nahmen auf den Weg gebracht werden, die zu Vereinfa- chungen auf Verwaltungsebene führen, um die Inan- spruchnahme des Paketes zu erleichtern. Einigkeit konnte demnach auf folgende Verwaltungsvereinfachun- gen erzielt werden: So wird beispielsweise der Eigenanteil im Rahmen der Schülerbeförderung künftig in der Regel auf 5 Euro festgesetzt; eine abweichende Festsetzung bleibt jedoch möglich. Zudem wird unter bestimmten Voraussetzungen die Teilhabeleistung von bis zu 10 Euro im Monat nicht nur für Verwendungszwecke im Bereich Sport, Spiel, Kultur und Freizeit, sondern in Ausnahmefällen auch für benö- tigte Ausrüstungsgegenstände verwendet werden kön- nen. Den kommunalen Trägern soll die Möglichkeit einge- räumt werden, Mittel für Klassenfahrten auch als für den unmittelbaren Zweck nachgewiesene Geldleistungen zu erbringen. Ungeachtet des Sach- und Dienstleistungsprinzips sollen verauslagte Geldmittel auch nachträglich erstattet werden können, wenn Leistungen zum Beispiel vor ei- nem Klassenausflug nicht rechtzeitig erbracht werden konnten. Im Bereich der Teilhabe soll es ermöglicht werden, Mittel für Freizeiten und andere Teilhabeangebote im Bewilligungszeitraum auch rückwirkend anzusparen. Schließlich sollen die Träger mit den Leistungsanbie- tern auch im SGB XII pauschal abrechnen können. Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Gesetzent- wurf einen wesentlichen Beitrag zur Vereinfachung und gezielten Optimierung des Verwaltungsaufwands beim Bildungs- und Teilhabepaket leisten wird und die Inan- spruchnahme sowie Akzeptanz noch weiter steigern wird. Angelika Krüger-Leißner (SPD): Wir sind uns ei- nig, dass alle Kinder und Jugendliche in unserem Land das Recht auf Bildung und soziokulturelle Teilhabe ha- ben. Dieses Recht ist uns Verpflichtung und Ansporn zu- gleich. Die finanziellen Möglichkeiten der Eltern dürfen nicht ausschlaggebend dafür sein, in welchem Umfang die Kinder und Jugendlichen dieses Recht wahrnehmen können. Mit dem Urteil vom 9. Februar 2010 hat das Bundes- verfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, die Re- gelbedarfe neu zu bemessen. Dabei hat uns das Bundes- verfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben, die Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums und die Teilhabe an Bildung für alle Kinder in unserem Land ins Augenmerk zu nehmen. Im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Ermittlung der Regelbedarfe vom 24. März 2011 und den langen so- wie umfangreichen Verhandlungen wurde rückwirkend zum 1. Januar 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket eingeführt. Die gesetzlichen Regelungen sehen vor, dass die Leistungen zur Deckung der genannten Bedarfe fast ausschließlich durch Sach- und Dienstleistungen er- bracht werden. Die Bundesregierung hat sich seinerzeit dagegen entschieden, die Bedarfe unbürokratisch über eine Anpassung der Regelsätze zu decken. Dies wurde und wird zu Recht durch Expertinnen und Experten so- wie Verbände kritisiert. Schon zu Beginn war klar, dass das Bildungs- und Teilhabepaket zwar gut gemeint war, aber zu einem er- heblichen sowie unberechtigten Verwaltungsaufwand führen wird. Darauf hatten auch Vertreter der Praxis und der Länder verwiesen. Die Umsetzung hat die örtlichen Akteure und Träger enorm belastet und unnötig Ressour- cen gebunden. Die geringe Inanspruchnahme der Mittel aus dem Bil- dungs- und Teilhabepaket untermauert diese Einschät- zung. Wenngleich sich in 2012 der Mittelabfluss gegen- über 2011 verbessert hat, kann uns das Ergebnis bei weitem nicht zufriedenstellen; es bleibt hinter den Er- wartungen zurück. Die hohen bürokratischen Hürden stellen eine erheb- liche Hemmschwelle dar, schrecken viele Anspruchsbe- rechtigte ab und haben die Teilhabechancen der Kinder Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27321 (A) (C) (D)(B) und Jugendlichen in unserem Land nicht wesentlich ver- bessert. Dass der Bund eine erhebliche Summe Geld für die Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an Bildung und am gesellschaftlichen Leben, im sportlichen wie kreati- ven Bereich, zur Verfügung stellt, aber viel zu wenig bei den Kindern ankommt, darf uns nicht ruhen lassen, nach besseren Lösungen zu suchen. Die Probleme wurden von vielen Seiten angespro- chen und erkannt. Es freut mich, dass sich der Bund und die Länder mit den kommunalen Spitzenverbänden auf einen Verbesserungskatalog einigten und den nun vorlie- genden Gesetzentwurf entwickelt haben. Die vorliegenden Verbesserungen sind unstrittig so- wie kostenneutral und betreffen einige zentrale Leistun- gen im Bildungs- und Teilhabepaket. Lassen Sie mich drei der Verbesserungen besonders betonen: Erstens die Schülerbeförderung. Die Praxis hat ge- zeigt, dass die Ermittlung des durch die Schülerinnen und Schüler zu tragenden zumutbaren Eigenanteils an der Schülerbeförderung äußerst kompliziert war. Daher ist es ein Gebot der verwaltungspraktischen Handhab- barkeit, für den Regelfall einen Wert ansetzen zu kön- nen, der eine gleichmäßige und rechtssichere Handha- bung ermöglicht. Aus der Erfahrung der Verwaltungspraxis der kom- munalen Träger ergibt sich dabei ein Durchschnittswert von 5 Euro monatlich. Dennoch bleibt für Fälle, die auf- grund persönlicher oder örtlicher Verhältnisse von der Regel abweichen, die Möglichkeit gegeben, den Eigen- anteil individuell zu ermitteln. Zweitens Unterstützung für Sport und Kultur. Die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Ge- meinschaft wird derzeit in der Gestalt gefördert, dass für Angebote im Bereich Sport, Spiel, Kultur und Gesellig- keit die Zahlung eines Mitgliedsbeitrags übernommen wird. Gleiches gilt für Angebote im kreativen und künst- lerischen Bereich, bei dem derzeit nur die Vergütung für die pädagogische Leistung zu übernehmen ist. Oftmals scheitert die Teilnahme an diesen Angeboten aber nicht an den Honorarkosten für den Unterricht oder an den Mitgliedsbeiträgen, da diese Angebote häufig eh- renamtlich organisiert sind und zum Teil kostenlos zur Verfügung stehen. Oftmals führt das Fehlen benötigter Ausrüstung, wie zum Beispiel Musikinstrumente oder sportbezogene Schutzkleidung, dazu, dass Kindern und Jugendlichen die Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben verwehrt ist. Mit der vorgeschlagenen Verbesserung, auch die eben angesprochene Ausrüstung nun zu fördern, wird die Un- terstützung für Kinder und Jugendliche im kulturellen und sportlichen Bereich praxisnaher gestaltet und die Teilhabe somit deutlich erleichtert. Das dritte Beispiel betrifft die Unterstützung für Schul- und Kitafahrten: Für Schul- und Kitafahrten so- wie für Ausflüge ist alternativ neben der Sach- und Dienstleistung nun auch die Geldleistung möglich, wie es nach früherer Praxis in der Sozialhilfe möglich war. Ich bin mir sicher, dass für die Unterstützung bei Schul- und Kitafahrten die kommunalen Träger von der Mög- lichkeit der Geldleistung zukünftig regen Gebrauch ma- chen werden, weil diese verwaltungstechnisch viel weni- ger umständlich ist. Diese drei Beispiele zeigen sehr deutlich, wie man bisher mit komplizierten bürokratischen Regelungen Anspruchsberechtigte abgeschreckt und von der Inan- spruchnahme der Leistungen aus dem Bildungs- und Teilhabepaket abgehalten hat. Mit den angesprochenen Änderungen wird sich das nun merklich verbessern. Der vorliegende Gesetzentwurf bringt viele Verbesse- rungen. Dennoch kann er nicht darüber hinwegtäuschen, dass weiterer Verbesserungsbedarf besteht, um ein gleich- berechtigtes Maß an Teilhabe am gesellschaftlichen Le- ben und einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu ermöglichen. Viele Vertreter aus der Praxis und einige Länderver- treter haben weitere Schritte aufgezeigt. Dieses Bil- dungs- und Teilhabepaket und die damit unnötigerweise einhergehende Bürokratie wären überhaupt nicht nötig, wenn die Gewährleistung der soziokulturellen Teilhabe für Kinder und Jugendliche über die Anpassung der Re- gelsätze erfolgt wäre. Wir können die Chancengleichheit der Kinder und Ju- gendlichen in unserem Land mit dieser gesetzlichen Re- gelung lediglich ein Stück verbessern. Das unterschrei- ben wir dann auch. Wir würden aber gerne mehr tun. Unsere Vorschläge zum Ausbau der Bildungs- und Betreuungsinfrastruktur liegen auf dem Tisch. Sie sollen den Kindern und Jugendlichen echte Zukunftschancen und mehr Bildungsgerechtigkeit geben. Wir werden sie umsetzen, wenn nicht jetzt, dann im Herbst dieses Jah- res. Pascal Kober (FDP): Dem vorausgegangen war das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die rot-grüne Gesetzgebung als verfassungswidrig beurteilt hatte und den Gesetzgeber aufgefordert hatte, die Regelsätze für Kinder und Jugendliche erstmals eigenständig zu be- rechnen. Diese christlich-liberale Bundesregierung hatte sich dann dazu entschlossen, die Leistungen für Bildung und Teilhabe von Kindern zentral durch die Jobcenter administrieren zu lassen. Dem hat sich die Opposition im Bundesrat verwei- gert, und so wurde im Vermittlungsverfahren auf Druck von SPD und Grünen festgelegt, dass die Leistungen von den Kommunen erbracht werden sollen. Dies hatten auch die Kommunen begrüßt. Es hätte der Opposition schon damals klar sein müs- sen, dass dies zu einer sehr unterschiedlichen Umset- zung des Bildungspakets vor Ort führt. Die Kommunen waren unterschiedlich gut auf diese neue Aufgabe vorbe- reitet. Die Grünen haben sich dann am Ende dem Kompro- miss verweigert und nicht zugestimmt. Das hatte aber nichts mit dem Bildungs- und Teilhabepaket zu tun. Denn am 21. Februar 2011 haben sie einen einstimmigen 27322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Beschluss in ihrem Parteirat getroffen. Darin heißt es: „Gleichwohl haben wir in den langen Verhandlungen bis zum gestrigen Abend wichtige Änderungen erreicht: Das Bildungs- und Teilhabepaket wird von den Kommunen organisiert und nicht von den Jobcentern, wie sich dies die Arbeitsministerin vorstellte. Hier haben wir überbor- dende Bürokratie verhindert. … Und die Kommunen ha- ben eine hohe Gestaltungsmöglichkeit bei der konkreten Umsetzung der Leistungen vor Ort.“ Das, was sie in den vergangenen Monaten immer wie- der am Bildungspaket kritisieren, die Bürokratie und den hohen Verwaltungsaufwand, das haben sie selbst mit ver- ursacht. Dies halte ich bei der derzeitigen Betrachtung des Bildungspakets für wichtig zu erwähnen. Diese christlich-liberale Bundesregierung hat sich beim Thema Bildungspaket nicht auf die Position zu- rückgezogen, dass die Kommunen sich jetzt um alles Weitere kümmern müssten. Ministerin von der Leyen hat schon sehr bald nach In- krafttreten des Gesetzes begonnen, durch runde Tische, an denen Bund, Länder und Kommunen beteiligt waren, Startschwierigkeiten zu beheben und insgesamt Verbes- serungen vorzunehmen. Ergebnis dieser Gespräche, bei denen es nicht um ideologische Fragen, sondern ganz konkret um Verbesserungen am Bildungs- und Teilhabe- paket ging, damit die Kinder und Jugendlichen noch mehr davon profitieren können, ist der heute zu bera- tende Gesetzentwurf. Es ist eine große Leistung dieser Ministerin und der Regierungskoalition, die sehr unterschiedlichen Interes- sen der Länder im Rahmen der Gespräche zu diesem von allen getragenen Gesetzentwurf vereint zu haben. So wird nun klargestellt, dass mit den 10 Euro monatlich, die für Mitgliedsbeiträge verwendet werden können, auch Ausrüstungsgegenstände bezahlt werden können. Zudem wird es nach dem Gesetzentwurf möglich sein, in begründeten Fällen bereits vom Berechtigten verauslagte Mittel nachträglich zu erstatten. Dies macht das Verfahren deutlich einfacher. Um die Teilnahme an Klassenfahrten weiter zu erleichtern, wird zudem die Möglichkeit geschaffen, hierfür auch Geldleistungen zur Verfügung zu stellen. Bei Schülerfahrkarten, die auch privat genutzt wer- den, haben wir uns darauf verständigt, dass ein Eigenan- teil von mindestens 5 Euro erbracht werden muss. Dieser begründet sich aus der Auswertung von empirischen Da- ten zum Mobilitätsverhalten von Schülerinnen und Schülern. Wir haben mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ei- nen neuen Weg bei der Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen, beschritten. Auf diesem Weg sind Probleme entstanden, die wir alle so nicht erwartet hatten; manche hatten ja, wie vorhin beschrieben, auch keine erwartet. Dennoch halte ich das Bildungs- und Teilhabepaket für eine gute Leistung dieser christlich-liberalen Regierungskoalition und bin mir sicher, dass alle im Rückblick von einigen Jahren zu diesem Schluss kommen werden. Auch wenn wir uns manches in der Ausgestaltung an- ders gewünscht hätten, gehen wir jetzt die bestehenden Probleme an. Die neuen Zahlen zur Inanspruchnahme und der Akzeptanz des Bildungspakets werden voraus- sichtlich im April erscheinen. Ich bin mir sicher, dass wir dabei weiterhin eine deutliche Zunahme der Inan- spruchnahme verzeichnen werden und die Akzeptanz der Leistungen weiter zunimmt. Mit dem Gesetzentwurf werden wir dies unterstützen. Diana Golze (DIE LINKE): Im Februar 2010 er- zwang das Bundesverfassungsgericht eine Neuermitt- lung der Regelbedarfe für die Leistungen zur Sicherung des Existenzminimums. In dem hierzu erlassenen Urteil stellte das Gericht fest, dass die bis dahin geltende Ausgestaltung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist. Insbesondere der Bedarf von in Bedarfsgemeinschaften lebenden Minderjährigen stand auf dem Prüfstand. Be- mängelt wurde hier vor allem, dass der Gesetzgeber es versäumt hat, die besonderen Bedürfnisse von Kindern im Regelsatz abzubilden. „Kinder sind keine kleinen Erwachsenen“ ist eine der zentralen Aussagen in dem Urteil. Entscheidend ist, dass die Richter feststellten: Es geht nicht nur um die Sicherung des physischen Exis- tenzminimums, sondern auch um das soziokulturelle Existenzminimum. Die Neuermittlung dieses Existenz- minimums wurde dem Gesetzgeber aufgetragen. Die Antwort der Bundesregierung war insbesondere für Kinder ernüchternd. Es ist kein Geheimnis, dass die Fraktion Die Linke die von Frau von der Leyen vorge- legte Neuberechnung der Grundsicherung für unzurei- chend erachtet und in ihr einen neuerlichen Verfassungs- bruch sieht. Es ist auch nicht neu, dass wir die Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes für einen Etikettenschwindel halten. Dieses Paket ist im Grundan- satz falsch, und dies aus verschiedenen, für die Fraktion Die Linke aber grundlegenden Gründen. Wir können und werden keinem Gesetzentwurf zu- stimmen können, der Eltern unter den Generalverdacht stellt, zusätzliche Geldleistungen nicht zum Wohl ihrer Kinder zu verwenden, sondern für andere Zwecke. Die unerträglichen Vorwürfe, dass davon Flachbildschirme gekauft würden oder das Geld ohnehin in diverse Genussmittel umgesetzt wird, sind mir nur zu gut im Gedächtnis. Unter dieser vorurteilsvollen und herablas- senden Herangehensweise traf die Regierung fast folge- richtig die Grundsatzentscheidung, die Bedarfe nicht au- tomatisch als Teil der regelmäßigen Geldleistungen abzudecken, sondern sie erstens beantragungspflichtig zu machen und zweitens in erster Linie als Sach- oder Dienstleistung zu gewähren. Die Folgen sind bekannt. Das Antragserfordernis und die hohen bürokratischen Hürden erschwerten die Inan- spruchnahme der Leistungen und verhinderten somit, dass Kindern das zugutekommt, was ihnen per Gesetz zusteht. Unterschiedliche Bedürfnisse von Kindern in ländlichen Räumen und Kindern, die in Ballungszentren aufwachsen, sind nicht berücksichtigt. Das hat nicht nur Auswirkungen auf die Unterstützungsleistungen, die Kinder für den schulischen Alltag benötigen, sondern Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27323 (A) (C) (D)(B) insbesondere für den Freizeitbereich. Darüber hinaus werden nur bestimmte Bildungs- und Teilhabeangebote finanziert. Ich stelle mir manchmal die Gesichter der Abgeordneten vor, die selbst minderjährige Kinder ha- ben. Was würden diese Kolleginnen und Kollegen wohl sagen, wenn ihnen der Bundestagspräsident etwa erklärt, welche Freizeitaktivitäten ihrer Kinder förderungswür- dig sind – etwa: Mitgliedschaft im Kampfsportverein – und welche nicht, etwa: eigenständige Lektüre. Die Linke – und nicht nur wir – hält dies für einen problema- tischen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der Eltern und Kinder. Die nun vorgeschlagene Neuregelung ändert genau daran nichts. Sie ändert auch nichts daran, dass Verwaltungsauf- wand und veranschlagte Leistungen in keinem Verhält- nis zueinander stehen. Noch immer betragen die durch das beibehaltene Antragsverfahren entstehenden Verwal- tungskosten ein Sechstel des Leistungsvolumens. Die Linke bleibt dabei: Verfügbare Mittel müssen den Leis- tungsberechtigten zugutekommen, statt sie dafür zu ver- wenden, Verwaltungen an den Tropf zu legen. Das Problem dieses Entwurfes ist, dass Sie die grund- sätzlichen Entscheidungen nicht infrage stellen. Statt- dessen versuchen Sie, ein im Grundsatz falsches System zu optimieren und den bürokratischen Irrsinn auf ein ge- ringeres Ausmaß zu reduzieren. Dies ist innerhalb der bestehenden Konzeption nicht einmal zu kritisieren, lenkt aber von der eigentlichen Aufgabe ab, der wir uns gemeinsam stellen sollten: Die Förderung der Bildung und Teilhabe von jungen Menschen ist grundlegend an- ders zu organisieren: durch höhere Regelbedarfe, durch einschlägige Mehrbedarfe – Schulbedarfe, Klassenfahr- ten und Ausflüge – und ein hochwertiges und unentgelt- liches Angebot an Dienstleistungen für möglichst alle Kinder und Jugendlichen wie Schulverpflegung, Schüle- rinnen- und Schülerbeförderung und Lernförderung. Wir werden auch in diese Debatte unsere Vorschläge zur Neugestaltung eines Regelsatzes, der die Leistungen des Bildungs- und Teilhabepaketes so weit wie möglich beinhaltet, einbringen. Und selbstverständlich werden unserer Kritik auch Vorschläge für die Neugestaltung der Dienst- und Sachleistungen, die dieses Paket enthält, folgen. Auch wenn sich mein Optimismus darüber in Grenzen hält, dass die Regierung diesen folgt, kann ich Ihnen versprechen, dass wir in unserem Fordern nicht nachlassen werden. Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wohl keine andere Sozialleistung in der Geschichte der Bun- desrepublik Deutschland ist so bürokratisch wie das Bil- dungs- und Teilhabepaket. Ein aufwendiges Antragsver- fahren mit einer Fülle von Arbeitshilfen, Anträgen, Zusatzfragebögen, Nachweisen, Verträgen und Beschei- den führt zu einem enormen Missverhältnis zwischen Aufwand und Ertrag. Aufgrund unbestimmter Rechtsbe- griffe belasten etliche Widersprüche und Verfahren au- ßerdem die Sozialgerichte und frustrieren Antragstelle- rinnen und Antragsteller sowie Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Schulen, Vereinen sowie Behörden glei- chermaßen. Auch der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge stellt in seinen Zweiten Empfehlungen zur Um- setzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe vom 25. September 2012 fest, dass Leistungsträger und -er- bringer trotz eines Jahres Umsetzungserfahrung den ho- hen Verwaltungsaufwand beklagen. So würden insbe- sondere die Erbringung von Sachleistungen sowie die gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen die Umsetzung administrativ aufwendig machen. Das Präsidium des Deutschen Landkreistages hat am 1./2. Oktober 2012 gesetzliche Änderungsvorschläge zur Reduzierung des Verwaltungsaufwands für das Bil- dungs- und Teilhabepaket verabschiedet. Darin werden insbesondere die komplexen Gesetzesformulierungen als Ursache für den unverhältnismäßig hohen bürokrati- schen Aufwand angesehen. Der nun vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates bezieht sich in Teilen auf die genannten Änderungsvor- schläge zur Vereinfachung des Antrags- und Verwal- tungsverfahrens. Auch wenn uns die Vorschläge nicht weit genug gehen – siehe auch Antrag der Grünenbun- destagsfraktion „Das Bildungs- und Teilhabepaket – Leistungen für Kinder und Jugendliche unbürokratisch, zielgenau und bedarfsgerecht erbringen“, Drucksache 17/8149 –, können wir den hier vorgeschlagenen Ände- rungen nur zustimmen. Einzig bei der Eigenbeteiligung bei der Schülerbeförderung vertreten wir eine andere Position. Insgesamt offenbaren die immer wieder genannten Änderungsvorschläge, mit welchen Schwierigkeiten die Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets durch Sachleistungen behaftet ist. Nicht umsonst kommen nun die Forderungen von verschiedensten Seiten, Teile der Leistungen auch als Geldleistung gewähren zu können. Zu den einzelnen Aspekten. Der Gesetzentwurf sieht vor, dass der Eigenbetrag bei der Schülerbeförderung, der aus dem Regelbedarf gezahlt werden muss, auf re- gelmäßig 5 Euro festgeschrieben werden soll, und zwar für alle Altersklassen. Der Deutsche Landkreistag hinge- gen stellt fest, dass die anzurechnenden Anteile aus dem Kinderregelbedarf bei der Schülerbeförderung Bagatell- beträge sind, die bei der Leistungserbringung und -ab- rechnung zusätzlichen Aufwand auslösen, der in keinem angemessenen Verhältnis zum Ertrag steht. Daher sollte die Anrechnung des Regelsatzanteils für Verkehr bei der Schülerbeförderung in allen Rechtskreisen – SGB II, SGB XII und BKGG – entfallen. Diese Position des Deutschen Landkreistages teilen wir. Forderungen zur Umwidmung der Teilhabepauschale auch für andere Verwendungszwecke werden von uns ebenso begrüßt wie Forderungen, Ausflüge und Klassen- fahrten auch als Geldleistung zu ermöglichen. Es ist sinnvoll, das Gesamtteilhabebudget rückwirkend zu er- bringen sowie bei Rückerstattungen Geldleistungen zu ermöglichen. Es wäre schön, wenn sich Union und FDP anders als in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage ernsthaft mit diesen Vorschlägen auseinandersetzen wür- den. 27324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Anlage 14 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Antrags: Überlebenshilfe in der Drogenpolitik – Situation der Substitution von Opiatabhängigen verbessern – Substitu- tionsbehandlung im Strafvollzug gewährleisten (Zusatztagesordnungspunkt 9) Karin Maag (CDU/CSU): 2009 hat der Deutsche Bundestag rechtliche Voraussetzungen für die diamor- phingestützte Behandlung Opiatabhängiger geschaffen und diese Therapieoption in die Regelversorgung über- führt. Seitdem ist viel geschehen: Es gibt zum Beispiel ein erstes diamorphinhaltiges Fertigarzneimittel, die Bun- desärztekammer hat ihre Substitutionsrichtlinien ebenso überarbeitet wie der GBA die Richtlinie Methoden ver- tragsärztlicher Versorgung, und es gibt GKV-relevante Abrechnungspositionen für die diamorphingestützte Be- handlung Schwerstopiatabhängiger. Das Ergebnis dieser vielfältigen Bemühungen ist, dass sich diese Therapie- option für Opiatabhängige mittlerweile fest im Angebot der Regelversorgung etabliert hat. Weil Behandlungsqualität wichtig ist, hat das BMG in Absprache mit den Bundesländern 2008 mit der PRE- MOS-Studie die langfristige Situation evaluiert. Die Stu- die stellt fest, dass die Substitutionstherapie in Deutsch- land effektiv ist und die allgemeinen primären Ziele überwiegend erreicht. Auch die IMPROVE-Studie be- legt, dass Suchtmediziner, Patienten und Opiatkonsu- menten die opiatgestützte Substitution als wertvoll und wirksam ansehen. Der Antrag der SPD weist nun zu Recht darauf hin, dass für die Ausgestaltung der Substitutionsbehandlung Opiatabhängiger insbesondere mit Bezug auf die betäu- bungsmittelrechtlichen Rahmenbedingungen ein grund- sätzlicher Zielkonflikt bedeutsam ist. Einerseits soll die substitutionsmedizinische Versorgung der Opiatabhängi- gen so unbürokratisch wie möglich und auf hohem Qua- litätsniveau angeboten und aufrechterhalten werden. An- dererseits soll den berechtigten Sicherheitsinteressen, insbesondere hinsichtlich der Verhinderung von Abzwei- gung und Missbrauch der Betäubungsmittel, Rechnung getragen werden. Vor diesem Hintergrund fordern Sie, vor allem vom Ziel der Abstinenz Abstand zu nehmen und generell die Strafbarkeit in diesem Zusammenhang zu überprüfen. Wie überhaupt der Komplex Konsiliar-, Mitgabe- und Take-Home-Regelungen einer Prüfung un- terzogen, die Anzahl der substituierenden Ärzte erhöht und die wissenschaftliche Forschung intensiviert werden soll. Hinsichtlich der Substitutionsbehandlung in Freiheit haben wir bereits im Koalitionsvertrag festgehalten, dass eine verantwortungsvolle Drogenpolitik Prävention, Therapie, Hilfe zum Ausstieg und damit auch den An- satz der Schadensminderung und die Bekämpfung der Drogenkriminalität in den Mittelpunkt stellt. Das heißt aber nicht, dass § 5 Abs. 1 Nr. 1 Betäubungsmittelver- schreibungsverordnung und § 29 Abs. 1 Nr. 1 Betäu- bungsmittelgesetz jetzt revidiert werden müssten. Das Ziel der Substitution ist in § 5 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Betäu- bungsmittelverschreibungsverordnung, BtMVV, fest- gelegt. Danach ist Substitution die Behandlung der Opiatabhängigkeit mit dem Ziel der schrittweisen Wie- derherstellung der Betäubungsmittelabstinenz, einschließ- lich der Besserung und Stabilisierung des Gesundheits- zustandes. Daneben kann auch Ziel die Unterstützung der Behandlung einer neben der Opiatabhängigkeit be- stehenden schweren Erkrankung oder die Verringerung der Risiken einer Opiatabhängigkeit während einer Schwangerschaft und nach der Geburt sein. Die Autoren der PREMOS-Studie weisen zum Bei- spiel auch darauf hin, dass eine hohe Abstinenzorientie- rung in den Substitutionspraxen einen zweigeteilten Ein- fluss auf den Substitutionsverlauf hat. Neben den in der Frage genannten Effekten sind in Einrichtungen mit ho- her Abstinenzorientierung mehr Patienten mit hohem Schweregrad abstinent, der konkomitante Drogenge- brauch ist geringer und der Wert der mit dem Drogen- konsum einhergehenden Probleme – Addiction Severity Index, ASI – ist besser als in Einrichtungen mit einer niedrigen Abstinenzorientierung. Der Behandlungsplan sollte deshalb in erster Linie auf die schrittweise Herstel- lung der Betäubungsmittelabstinenz ausgerichtet sein, auch wenn in der Praxis eine dauerhafte Abstinenz nur bei einer geringen Zahl von Patienten, derzeit circa 8 Prozent, erreicht werden kann. Daneben gibt es zahl- reiche Zwischen- und Nebenziele, die ebenfalls mit der Substitution angestrebt werden können. Vor diesem Hin- tergrund sehe ich aktuell noch keinen weiteren Reform- bedarf. Konsiliar-, Mitgabe und Take-Home-Regelungen sind vor allem, worauf der Antrag zu Recht hinweist, im Kontext der Sicherheit der Allgemeinheit zu bewerten. Substitutionsmedikamente haben einen eigenen Markt und sind gefährlich für Dritte. Die aktuellen gesetzlichen Vorgaben sind geeignet, den oben genannten Ausgleich herbeizuführen. Mit der 23. Betäubungsmittelrechts-Änderungsver- ordnung wurde im § 5 Abs. 8 Satz 1 bis 3 BtMVV die sogenannte Zwei-Tages-Verschreibung verankert. Der behandelnde Arzt darf Patienten, denen ansonsten ein Substitutionsmittel zur unmittelbaren Verabreichung über- lassen wird, in Fällen, in denen die Kontinuität der Subs- titutionsbehandlung nicht anderweitig gewährleistet werden kann, ein Substitutionsmittel in der bis zu zwei Tagen benötigten Menge verschreiben und ihnen dessen eigenverantwortliche Einnahme erlauben, sobald der Verlauf der Behandlung dies zulässt, Risiken der Selbst- und Fremdgefährdung soweit wie möglich ausgeschlos- sen sind sowie die Sicherheit und Kontrolle des Betäu- bungsmittelverkehrs nicht beeinträchtigt werden. Mit dieser Regelung wurde bereits dem besonderen ärztli- chen Anliegen, Versorgungsmöglichkeit insbesondere an Wochenenden zu schaffen, entsprochen. Diese neue Verschreibungsmöglichkeit wurde in das Take-Home eingebettet, das die Voraussetzungen für die bis zu sieben Tage mögliche Take-Home-Verschreibung sowie für die sogenannte Auslandsverschreibung, das heißt für den Substitutionsmittelbedarf von bis zu 30 Ta- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27325 (A) (C) (D)(B) gen, beschreibt. Nach den Bestimmungen der BtMVV ist darüber hinaus die ärztliche Mitgabe eines Substituti- onsmedikamentes bisher bis auf eine Ausnahmeregelung nicht gestattet. Diese Ausnahmebestimmung ist den pharmakologischen Besonderheiten der Stoffe Codein und Dihydrocodein geschuldet. Eine Abgabe über diese Ausnahmeregelung hinaus würde einen Verstoß gegen § 43 des Arzneimittelgesetzes darstellen, wonach die Abgabe von Arzneimitteln – in diesem Fall: den Substi- tutionsmitteln – der Apotheke vorbehalten ist. Ich selbst habe mich um einen Ausgleich der Interessen von Apo- theken und behandelnden Ärzten bemüht. Generell das Dispensierverbot zu lockern, halte ich für nicht ange- zeigt. Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich nach der IMPROVE-Befragung tatsächlich 47 Prozent der befrag- ten, aktiv substituierenden Ärzte ein weniger restriktives Vorgehen sowie juristische Unterstützung statt Sanktio- nen wünschen. Die Studie belegt aber auch, dass die Ärzte erhebliche Bedenken in Bezug auf Missbrauch und unerlaubte Weitergabe der Substitutionsmedika- mente durch die Patienten haben; 49 Prozent der Ärzte bezeichnen dies als erhebliches Problem, weitere 17 Pro- zent als besonders schwerwiegendes Problem. Ähnliches gilt für den Missbrauch der Substitutions- mittel durch die Patienten. Die IMPROVE-Studie weist explizit darauf hin, dass die Aussagen der Patienten, von denen 23 Prozent angaben, das Substitut schon einmal verkauft oder weitergegeben zu haben, diese Befürch- tungen der Ärzte begründet erscheinen lassen. Diese Fakten machen deutlich, dass die für die Substitutions- therapie relevanten betäubungsmittelrechtlichen Vor- schriften einzuhalten sind: So sind zum Beispiel Doku- mentationsvorschriften notwendig, um die Kontrolle und Sicherheit des BtM-Verkehrs wahren zu können und dies für die Aufsichtsbehörden auch nachvollziehbar zu ma- chen. Meine Gespräche mit den Staatsanwaltschaften haben auch ergeben, dass diese in der Regel ein praxis- orientiertes Miteinander mit den ihnen bekannten substi- tuierenden Ärzten pflegen, sodass Fehlverhalten mit Fin- gerspitzengefühl angegangen wird. Hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten in länd- lichen Räumen gilt, dass die Arbeitsgemeinschaft der obersten Landesgesundheitsbehörden im November 2011 die AG Suchthilfe der AOLG gebeten hat, die Er- gebnisse der PREMOS-Studie auszuwerten, gegebenen- falls fachspezifischen Handlungs- und Forschungsbedarf für die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen der Substitutionsbehandlung in den Ländern zu benennen und hierüber im November 2012 zu berichten. Welche Schlüsse nun gezogen werden, entzieht sich meiner Kenntnis. Darüber hinaus gibt es ja auch Positives zu berichten. Ich kann aber berichten: In meiner Heimatstadt Stuttgart wird nach langer Standortsuche Mitte 2014 ein suchtme- dizinisches Schwerpunktzentrum eröffnen, das unter an- derem die Substitution mit Diarmorphin anbietet. Am Standort wird auch die Drogenberatungsstelle „release“ ihr Angebot offerieren – übrigens nach langer Suche für einen geeigneten Standort und gegen die Stimmen der Grünen im Gemeinderat. Soweit der Antrag auf Mängel im Strafvollzug ein- geht, gilt, dass seit der Föderalismusreform 2006 die Zuständigkeit bei den Ländern liegt. Schon aus verfas- sungsrechtlichen Gründen ist uns damit jede Einfluss- nahme versagt. Ich schlage vor, dass Sie als Vertreter der Opposition Ihre Änderungswünsche im Bundesrat an die Länder herantragen. Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Sucht ist eine Krankheit, und es gibt leider viele Menschen, die unter dieser Krankheit leiden. Sie sind aus eigenem Willen oft nicht in der Lage, diese Krankheit zu überwinden. Man- cher leidet unter ihr ein Leben lang und kann sie nicht besiegen. Ein Junkie hatte früher kein langes Leben. Seit den 1990er-Jahren wird in Deutschland im Um- gang mit Opiatabhängigen vermehrt der Ansatz der Schadensreduzierung und Überlebenshilfe durch Substi- tution verfolgt. Dies hat sich erfreulicherweise – auch dank rot-grüner Regierungspolitik – zu einer eigenstän- digen Säule der Drogenpolitik entwickelt. Dabei folgt die Politik der Erkenntnis, dass Strafverfolgung und Strafe nicht zur Heilung der Sucht oder zu einer Stabili- sierung der Süchtigen führen. Opiatabhängigen, die schon mehrere Entzugsversu- che gemacht haben und trotz intensiver eigener Bemü- hungen nicht von der Droge weggekommen sind, wird durch die Substitution ein Weg gezeigt, um aus der Sucht herauszukommen oder notfalls mit der Sucht zu leben. Die Effektivität der Maßnahme im Hinblick auf die Reduktion von Kriminalität und Sterberaten sowie Belastungen für die Allgemeinheit und eine bessere the- rapeutische Haltequote ist in der Wissenschaft unstreitig – das wurde erst vor einiger Zeit bekräftigt durch die Er- gebnisse der von der Bundesregierung in Auftrag gege- benen PREMOS-Studie. Wir haben diese Studie auch im Gesundheitsausschuss diskutiert. Gerade weil wir mit der Substitutionsbehandlung ei- nen guten Beitrag für die Überlebenshilfe, aber auch für den Abbau der Beschaffungskriminalität leisten, sehe ich mit großer Sorge die Entwicklung der letzten Jahre. So beobachten wir – auch das belegt die PREMOS-Studie – verstärkt starke regionale Unterschiede bei der Praxis der Überlebenshilfe und auch erhebliche Schnittstellen- problematiken zwischen den zahlreichen Akteuren im Bereich der Substitutionsbehandlung. Suchtmediziner schildern die Mauern, an die sie immer wieder stoßen: Manche davon sind ideologisch begründet, wobei die Argumente nicht neu sind. Wir haben sie schon ganz frü- her bei der Einführung der Methadonsubstitution gehört. In den letzten Monaten wurde deutlich, dass im Bereich der Diamorphinversorgung die Regelungen häufig so ausgelegt werden, dass lediglich die Modellprojekte ver- stetigt und kaum eine Verbesserung der Versorgung er- reicht werden konnten. Ich hoffe sehr, dass die neuen Regelungen des G-BA zu unbürokratischeren Lösungen führen werden. Vielleicht können dann auch die Teile der Union, für die Substitution Teufelszeug ist, ihren ideologischen Widerstand beenden. 27326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Denn man muss feststellen: Die Bundesregierung tut nichts, um die Situation zu verbessern. Dies macht mir vor allem auch wegen der abnehmenden Zahl von Subs- titutionsärzten große Sorgen. Sie ist neben der man- gelnden Attraktivität der Fachrichtung innerhalb der Ärzteschaft durch die besondere Altersstruktur der subs- tituierenden Fach- und Hausärzte zu erklären. Ich fürchte, der anstehende Generationswechsel wird hier große Versorgungsprobleme mit sich bringen. Dies ist ein generelles Problem in Deutschland, dem wir uns stel- len müssen. Daneben beunruhigen mich noch einige weitere Pro- bleme. So haben wir bezüglich der Quantität von Substi- tutionsbehandlungsangeboten in Deutschland ein Nord- Süd- und ein West-Ost-Gefälle. Gerade in ländlichen Regionen bestehen erhebliche Versorgungsdefizite. Oft sind die Entfernungen groß, Arzt und Patient trennen zig Kilometer. Die nächste Substitutionspraxis ist oft 50 Ki- lometer weit entfernt. Wir müssen feststellen, dass Ärz- tinnen und Ärzte mit weiten Wegen insbesondere in ländlichen Regionen, zum Beispiel in Schwaben oder Niederbayern, wegen der Mitgabe- und Take-home-Re- gelungen gerichtlichen Verfahren ausgesetzt sind, die nicht selten in einer Verurteilung und dem Entzug der Approbation enden. Vermeidbare juristische Unklarhei- ten erschweren die Versorgung von opiatabhängigen Pa- tienten, die Ärzte bewegen sich in einer Grauzone. Die Folge: Immer mehr Substitutionsärzte schmeißen hin. Damit verschärft sich jedoch das Problem für den Süch- tigen einerseits und die substituierenden Kollegen im weiten Umfeld andererseits. Denn zu denen sind die Wege dann noch weiter, und die Erhöhung der Anzahl der Patienten führt zu einer Überlastung der Praxis. Die sozialtherapeutische Begleitung, die so notwendig wäre, kann nicht mehr in der gewünschten Qualität geleistet werden. Ein Teufelskreis! Dazu soll nun auch noch eine neue EBM-Struktur kommen, die substituierenden Hausärzten Pauschalen streichen oder kürzen will. Ich erwarte auch von der Bundesregierung, dass sie hier die besondere Situation der substituierenden Allgemeinmediziner erkennt und ihren Einfluss entsprechend geltend macht. Aus den genannten Gründen wollen wir mit unserem Antrag anregen, die rechtlichen Rahmenbedingungen der Substitutionsbehandlung von Opiatabhängigen zu re- formieren. Denn sie stehen seit 2010 in Konflikt mit dem Stand medizinischer Wissenschaft und der Richtlinie zur Substitutionsbehandlung der Bundesärztekammer aus 2010 und verursachen immer häufiger eine unnötige Kri- minalisierung von substituierenden Ärztinnen und Ärz- ten. Sowohl das sogenannte Abstinenzparadigma in der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung als auch die stets im Hintergrund schwebenden Strafandrohungen in § 29 Abs. 1 Nr. 1 Betäubungsmittelgesetz müssen dringend überprüft werden. Sie sorgen immer wieder für unklare rechtliche Situationen und eine uneinheitliche Rechtsprechung in Deutschland. Dadurch schrecken sie junge Ärztinnen und Ärzte ab, eine entsprechende sucht- medizinische Fortbildung zu machen oder als Suchtme- diziner Substitutionsbehandlungen durchzuführen. Wir brauchen diese Suchtmediziner aber, wenn wir ange- sichts der wachsenden Anzahl von Süchtigen die Bera- tungsstrukturen insgesamt verbessern wollen. Ein weiteres Problem, das die PREMOS-Studie aus- gemacht hat, möchte ich hier auch noch anführen: Die Situation in Haftanstalten. Ich habe selbst verschiedene Justizvollzugsanstalten besucht, sowohl in Berlin als auch in Bayern. Obwohl die Richtlinien der Bundesärzte- kammer zur Durchführung der substitutionsgestützten Behandlung Opiatabhängiger die Sicherstellung der Be- handlung ausdrücklich auch bei einer Inhaftierung ver- langen, ist insbesondere im Maßregel- und Strafvollzug die Möglichkeit zur Substitutionsbehandlung oftmals nicht gewährleistet. „Lediglich etwa 500 bis 700 der ge- schätzten 10 000 bis 15 000 infrage kommenden Gefan- genen befinden sich in einer dauerhaften Substitutions- behandlung“, so der Drogenbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2009. Die Anzahl der Infizierten mit HIV und Hepatitis bei Strafgefangenen ist fast um den Faktor 100 höher als außerhalb von Gefängnissen. Und es gibt kein Gefängnis, in dem nicht auch Drogen gehandelt werden. Die Gefahr einer Infektion für Opiatabhängige ist deshalb groß. Auch in diesem Bereich gibt es bei den Bundesländern höchst unterschiedliche Vorschriften und Bedingungen. Dadurch kann die Substitutionsbehand- lung von Opiatabhängigen in Haft nicht überall gewähr- leistet sein. Deshalb ist es aus meiner Sicht wichtig, dass die Bundesregierung im Sinne der Forderungen der Ärzte- kammer auf die Länder zugeht und sie auffordert, die Versorgung von opiatabhängigen Inhaftierten zu verbes- sern. Die amtierende Bundesregierung hat diese Studie in Auftrag gegeben, die uns auf diese Missstände hinweist. Daher wäre es nur konsequent, wenn Sie als die diese Bundesregierung tragenden Parteien den Antrag ernst- haft prüfen und ihn im weiteren parlamentarischen Ver- fahren unterstützen würden. Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Der von der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag thematisiert ein wichtiges Anliegen. Grundsätzlich halte ich das Konzept des Ineinandergreifens von Prävention, Beratung und Therapie, Überlebenshilfen und Repression für den rich- tigen Ansatz moderner Drogenpolitik. Dieses Säulenmo- dell spiegelt die Vielfalt der Anforderungen an Staat und Gesellschaft im Umgang mit Drogen wider. Im Kontext der Überlebenshilfe spielt die Substitu- tion von Opiatabhängigen eine zentrale Rolle. Die Subs- titutionstherapie hat sich bewährt als wirksames Instru- ment, den Abhängigen in überschaubarer Zeit in einen Zustand dauerhafter Abstinenz zu bringen oder im Rah- men einer Dauersubstitution zumindest eine spürbare Schadensminimierung einzuleiten. Mit einer Substitu- tionstherapie kann man den Gesundheitszustand und die soziale Situation der Patienten deutlich verbessern. Die PREMOS-Studie gibt einen sehr guten Überblick darüber, wie die Situation von Substitutionspatienten insgesamt ist. Und liefert wichtige Erkenntnisse hin- sichtlich Mortalität, Morbidität, Lebensqualität, Delin- quenz, stabiler Substitution und Beikonsum. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27327 (A) (C) (D)(B) Insgesamt muss man festhalten, dass die Substitution von Opiatabhängigen in Deutschland im internationalen Vergleich recht gut funktioniert: Insbesondere was Mor- talität angeht, steht Deutschland nicht schlecht da. Die PREMOS-Studie spricht von einem „überaus niedrigen durchschnittlichen jährlichen standardisierten Mortali- tätsrisiko von 1,15 Prozent“. Der Anteil der Patienten, die im Rahmen einer regelhaft beendeten Therapie als abstinent galten oder sich in abstinenzorientierter Thera- pie befanden, ist positiv zu bewerten, auch wenn natür- lich weitere Verbesserungen erstrebenswert sind. Erreicht werden muss ein möglichst stabiler Substitu- tionsverlauf ohne Unterbrechungen und ohne Abbrüche. Das ist die Grundlage dafür, einem suchtkranken Men- schen die Möglichkeit zu eröffnen, wieder gesund zu werden und in ein geregeltes, nicht von Sucht und Dro- genbeschaffung bestimmtes Leben zurückzukehren. Der vorliegende Antrag thematisiert einen Bereich, in dem es ohne Zweifel Optimierungsbedarf gibt: Grund- sätzlich teile ich das Anliegen, Substitutionsbehandlun- gen auch für opiatabhängige Strafgefangene und für Opiatabhängige im Maßregelvollzug sicherzustellen. Denn auch Strafgefangenen muss man die Möglichkeit eröffnen, gesund zu werden und in ein geregeltes, nicht von Sucht und Drogenbeschaffung bestimmtes Leben zurückzukehren. Während bei Opiatabhängigen in Frei- heit zwar der Umgang mit Mitgabe- und Take-home-Re- gelungen ein Dauerthema ist, die Substitution an sich aber vollzogen wird, scheitert eine Substitution opiat- abhängiger Strafgefangener und Opiatabhängiger im Maßregelvollzug jedoch oft einfach daran, dass es vor Ort keine geeigneten Ärztinnen und Ärzte gibt. Insgesamt, das skizziert der Antrag, gibt es einen fa- cettenreichen Handlungsbedarf, um die Substitution im Allgemeinen wie im Besonderen zu verbessern. Doch ob der SPD-Antrag zu einer Verbesserung der Situation füh- ren würde, bleibt fraglich, zumal wesentlicher Hand- lungsbedarf im Bereich der Länder liegt und nicht beim Bund. Die christlich-liberale Koalition hat das Thema Substitution auf der Tagesordnung, wird sich intensiv damit befassen und die notwendigen Optimierungen ein- leiten. Frank Tempel (DIE LINKE): Die gegenwärtige Sub- stitutionslage in Deutschland ist nicht zufriedenstellend. Dabei ist die Substitutionstherapie, also die Versorgung von Opiatabhängigen mit einem Ersatzstoff, nachweis- lich die wirksamste Methode, den Betroffenen eine Rückkehr ins gesellschaftliche Leben zu ermöglichen und sie, wenn möglich, von ihrer Suchterkrankung zu heilen. Sie wirkt der drogenassoziierten Kriminalität entgegen, und eine gesundheitsökonomische Studie hat ergeben, dass die volkswirtschaftlichen Einsparungen pro Patient im Jahr bei 7 800 Euro liegen. Die Infrastruktur zur Substitutionstherapie muss wei- ter ausgebaut werden. Wie im Antrag der SPD richtig benannt wurde, ist besonders die Versorgung von Substi- tuierenden im ländlichen Raum äußerst prekär. Die Anzahl der Substituierenden liegt in Deutschland bei 76 200 Personen – Stand 2011. Dem gegenüber standen im selben Jahr 2 703 substituierende Ärztinnen und Ärzte sowie 8 122 Ärztinnen und Ärzte mit suchtthera- peutischer Qualifikation. So wird es den Patientinnen und Patienten und den Ärztinnen und Ärzten sehr schwer gemacht, die Substi- tutionsbehandlung erfolgreich durchzuführen. Zudem werden immer wieder Fälle bekannt, bei denen sich Sub- stitutionsärzte vor Gericht für die mehrtätige Mitgabe des Substitutionsmittels, beispielsweise Methadon, an ihre Patientinnen und Patienten verantworten müssen. Beim Landgericht Lüneburg wurden bereits zwei Ärzte zu Haftstrafen verurteilt. Und auch in Niedersachsen gab es 2008 mehrere Verfahren gegen Substitutionsärzte. Grund dafür ist der strenge Rechtsrahmen der Substituti- onsbehandlung, dessen Grundzüge aus den 80er- und 90er-Jahren stammen. Die Take-home-Regelung von sieben Tagen sollte daher ausgeweitet werden. Ein weiteres Problem ist die sogenannte Einnahme unter Sicht. Sie sorgt dafür, dass Patientinnen und Patienten gezwungen werden, teilweise in der Öffent- lichkeit, beispielsweise in der Apotheke, das Substitu- tionsmittel einzunehmen. Diese Praxis hat für Patientin- nen und Patienten oftmals einen demütigenden Charakter. Die Einnahme des Substitutionsmittels „unter Sicht“ sollte daher nicht die Regel, sondern die Aus- nahme darstellen. Auch die sachlichen und personellen Mindestvoraus- setzungen für Substitutionseinrichtungen sind zu hoch angesetzt. Die Richtlinien der Bundesärztekammer, BÄK, von 2010 müssen daher ihren Niederschlag in der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, BtMVV, finden. Des Weiteren muss endlich Rechtssicherheit für Substitutionsärzte bei der Auslegung der Rechtsvor- schriften zur Substitution hergestellt werden. Erfreulich ist, dass am 17. Januar dieses Jahres der Gemeinsame Bundesausschuss verschiedene Änderungen bei den Diamorphin-Richtlinien beschlossen hat. „Einrichtungen können über die Anzahl der notwendigen Arztstellen bedarfsorientierter entscheiden und Räumlichkeiten rea- litätsnah gestalten“, schrieb der Gemeinsame Bundes- ausschuss in der Presseerklärung vom selben Tag. Ebenso sollten die Vorschläge des 115. Deutschen Ärztetages zur Substitutionsbehandlung einbezogen werden. Diese fordern unter anderem, dass der Gesetz- geber die betäubungsmittelrechtlichen Vorgaben an den Stand der medizinischen Wissenschaft anpasst. In den EU-Ländern, in denen ebenso die Substitutionsbehand- lung ermöglicht wurde, ist diese pragmatischer geregelt worden und hatte nicht zu einer unkontrollierten Behandlungsszenerie geführt. Außerdem muss der rechtliche Rahmen dafür geschaffen werden, dass es nicht den Bundesländern ob- liegt, eine bestehende Substitution bei einem Haftantritt zu beenden. In einem offenen Brief der Deutschen AIDS-Hilfe, DAH, an die bayrische Justizministerin vom April 2012 wurde sehr deutlich formuliert, dass Bayern gegen die Richtlinien der Bundesärztekammer sowie gegen das Bayerische Strafvollzugsgesetz, nach dem Gefangene die gleiche Gesundheitsversorgung er- halten müssen wie in Freiheit, verstößt. Hintergrund des 27328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) offenen Briefes waren zwei aktuelle Beschlüsse des Landgerichts Augsburg, mit denen zwei Anträge auf Substitutionsbehandlung in der JVA Kaisheim abgelehnt wurden. Wie die DAH betonte, wiesen die Beschlüsse zahlreiche fachliche Fehler auf. Die Deutsche Gesell- schaft für Suchtmedizin, DGS, erklärt zu den beiden Ur- teilen: „Die Urteilsbegründung entspricht nicht dem Stand des medizinischen Wissens und verletzt das Recht des Patienten auf eine angemessene Behandlung.“ Der erzwungene Abbruch einer Substitution bei Haftantritt erhöht die „Gesundheits- und Lebensgefahren des Patienten erheblich“, so die DGS. Erforderlich sind rechtliche Rahmenbedingungen, die Substitutionsärzte nicht abschrecken, Opiatabhängigen eine flächendeckende Versorgung mit freier Arztwahl er- möglichen, einer normalen Lebensführung nicht von vorneherein im Wege stehen sowie den fließenden Über- gang der Substitution auch in der Haft ermöglichen. Wir unterstützen daher das Anliegen der SPD-Frak- tion, die Versorgungsqualität bei der Substitutions- behandlung zu verbessern, und hoffen, dass es spätestens zu Beginn der neuen Legislaturperiode zu grundlegen- den Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen zur Substitutionspraxis kommt. Nur dadurch können wir die Anzahl der praktizierenden Substitutionsärzte erhö- hen und den Abhängigen ausreichend helfen. Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Vor genau zwei Wochen haben wir hier an dieser Stelle schon einmal über die Drogenpolitik gestritten. Ich habe seinerzeit darauf hingewiesen, dass das realitätsblinde „Weiter so“ angesichts der erheblichen negativen Aus- wirkungen der jetzigen Drogenpolitik ein Ende haben muss. Das in dem Antrag der SPD thematisierte Problem in der Substitutionsbehandlung ist ein Beleg dafür, dass die herrschende Drogenpolitik erhebliches menschliches Leiden in Kauf nimmt. Denn was ist die Ursache dafür, dass die Versorgung von Opiatabhängigen nicht überall im notwendigen Umfang und ausreichender Qualität ge- währleistet ist? Was ist die Ursache dafür, dass Ärzte, die eine Substi- tutionsbehandlung anbieten, zumindest gefühlt mit ei- nem Bein im Gefängnis stehen? Und was ist die Ursache dafür, dass in vielen deutschen Haftanstalten keine Sub- stitutionsbehandlung angeboten wird? Es sind die geltenden rechtlichen Regelungen in der Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung und die ideologisch begründete repressive Haltung mancher vor allem süddeutscher Haftanstalten und Landesregierun- gen. Ein kurzer Blick in die Betäubungsmittel-Verschrei- bungsverordnung zeigt doch, welcher Geist da domi- niert. Da geht es nicht vorrangig darum, eine gute Versorgungsqualität für die betroffenen Patientinnen und Patienten sicherzustellen, sondern da manifestiert sich ganz klar eine repressiv ausgerichtete Drogenideologie. In dieser Verordnung wird den Ärztinnen und Ärzten die Indikation und Kontraindikation der Behandlung vorgegeben. Es werden ihnen die Art der Medikation, die Dosierung sowie die Applikation des Arzneimittels vorgeschrieben. Es werden die Behandlungs- und Verschreibungsfre- quenz, die Art der Begleitbehandlung, der Behandlungs- abbruch bei Non-Compliance detailliert vom Staat be- stimmt. Und sogar das Behandlungsziel, die Abstinenz, schreibt die Betäubungsmittel-Verschreibungsverord- nung den Ärztinnen und Ärzten vor. Kennen Sie irgendeine andere chronische Erkran- kung, bei der der Staat derart massiv in die ärztliche Therapiefreiheit eingreift und Patienten die Heilung quasi staatlich vorschreibt? Dass es die herrschende Drogenpolitik zu ihrer Legi- timation nicht eben so genau mit den Fakten nimmt, sieht man auch beim Thema Substitutionsbehandlung. So steht beispielsweise wörtlich in einem nur wenige Monate alten Bürgerschaftsantrag der Hamburger CDU: „Mit dem Ziel der Ausstiegsorientierung ist eine zeitlich unbegrenzte Behandlungsdauer nicht vereinbar. Es kann weder im Sinne der Substituierten noch im Interesse der sozialen Sicherungssysteme sein, die Behandlung man- cher Opiatabhängiger jahrzehntelang vorzunehmen.“ Abgesehen davon, dass diese Formulierung ein gehö- riges Ausmaß an Unmenschlichkeit offenbart, ist die Formulierung auch schlicht falsch. Die PREMOS-Studie zur Substitutionsbehandlung hat deutlich gezeigt, dass auf längere Sicht nur ein ganz kleiner Teil der Patientin- nen und Patienten jemals die Abstinenz erreicht. Um es genau zu sagen: Nach sechs Jahren Behandlung waren gerade einmal 8 Prozent der Patientinnen und Patienten abstinent oder zumindest in einer abstinenzorientierten Therapie ohne Substitution. Die übrigen befanden sich noch in einer Substitutionsbehandlung, hatten die Be- handlung abgebrochen oder waren verstorben. Die Autoren der Studie schreiben ferner: „Die Risiken einer sehr langfristigen bzw. lebenslangen Substitution sind geringer als ständige Rückfälle mit dem Risiko ei- ner weiteren Progression des Krankheitsbildes.“ Diese Fakten sprechen übrigens nicht gegen die Sub- stitutionsbehandlung. Aber sie sprechen dafür, an die Stelle ideologischer Vorgaben zur Abstinenz, zur Mitgabe des Substitutionsmittels oder der Verschreibung sowie al- ler anderen detaillierten staatlichen Vorgaben zur Be- handlung dieser schweren chronischen Erkrankung end- lich den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft treten zu lassen. Dafür sind die Behandlungsleitlinien und Richtlinien der Bundesärztekammer völlig ausreichend. Der § 5 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverord- nung ist daher aus unserer Sicht verzichtbar. Noch schlimmere Auswirkungen als in der Freiheit hat die herrschende Politik übrigens im Strafvollzug. Etwa 20 bis 30 Prozent der in Deutschland inhaftierten Menschen sind intravenöse Drogenkonsumenten. Den- noch – auf diesen Umstand weist auch der SPD-Antrag hin – bekommen nur 500 bis 700 der bis zu 15 000 in- frage kommenden Inhaftierten eine entsprechende Be- handlung. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27329 (A) (C) (D)(B) Im von CSU und FDP regierten Bayern ist die Situa- tion besonders dramatisch. Hier ist die Behandlung nur in einer einzigen Haftanstalt möglich und in der Regel auch nur für Inhaftierte, die eine Freiheitsstrafe von we- niger als drei Monaten verbüßen. Dort herrscht mit Billi- gung des Justizministeriums in vielen Haftanstalten die mittelalterliche Vorstellung, Opiatabhängigkeit sei keine Krankheit und Substitution nur eine überflüssige Beloh- nung für Drogenkonsum. Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den vorliegen- den Antrag der SPD. Wir müssen endlich wegkommen von der repressiv orientierten Drogenpolitik. Ziel muss es sein, den opiatabhängigen Patientinnen und Patienten eine optimale gesundheitliche Versorgung zukommen zu lassen und ihnen so die Chance auf Linderung ihrer Ab- hängigkeitserkrankung zu eröffnen. Dabei helfen uns keine weltfremden Abstinenzideologien, sondern nur kooperative und patientenorientierte Versorgungsstruk- turen. Anlage 15 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen: EU-weite Regelungen zur Durchführung von klini- schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen; hier: Stellungnahme des Deut- schen Bundestages nach Art. 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenhei- ten der Europäischen Union – Antrag der Fraktion Die Linke: EU-weite Regelungen zur Durchführung von klini- schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen; hier: Stellungnahme des Deut- schen Bundestages nach Art. 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung und Deutschem Bundestag in Angelegenhei- ten der Europäischen Union (Zusatztagesordnungspunkte 10 a und b) Rudolf Henke (CDU/CSU): Die klinische Prüfung von Arzneimitteln am Menschen ist eine notwendige Voraussetzung für die Erforschung, Entwicklung und Zulassung neuer Medikamente. Erkenntnisse, die in kli- nischen Studien gewonnen werden, sind für die Weiter- entwicklung moderner Arzneimitteltherapie von überra- gender Bedeutung. Im Vordergrund muss bei Arzneimittelstudien jedoch die Patientensicherheit stehen. Ein hohes Schutzniveau an Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ist für die Probanden und Patienten unverzichtbar. Unsere strengen rechtlichen Regelungen für die For- schung am Menschen leiten sich aus der grundgesetzlich geschützten Würde des Menschen ab. So muss eine kli- nische Studie freiwillig sein. Nicht notwendige oder willkürliche Maßnahmen sind strengstens zu unterlas- sen; im Vorfeld hat eine gründliche Aufklärung stattzu- finden. Erstmals festgelegt im Nürnberger Kodex von 1947, sind diese Anforderungen für eine ethisch verantwort- bare Forschung am Menschen Teil der Deklaration von Helsinki des Weltärztebundes. Diese ethischen Grund- sätze für die medizinische Forschung haben nach ihrer Veröffentlichung Eingang in die deutsche Gesetzgebung und das Berufsrecht gefunden. Sie stellen die Konse- quenz aus dem Unrecht medizinischer Experimente dar, welche zur Zeit des Nationalsozialismus an den Opfern von Konzentrationslagern durchgeführt wurden. Der deutsche Gesetzgeber hat die stete Pflicht, Ände- rungen in den rechtlichen Grundlagen zu humanmedizi- nischer Forschung kritisch zu hinterfragen – gerade vor dem Hintergrund der historischen Erfahrung in unserem Land. Deshalb müssen wir bei jeder gesetzlichen Ände- rung darauf achten, dass das hohe Schutzniveau für Teil- nehmer an klinischen Studien erhalten bleibt. Wir beraten heute einen fraktionsübergreifenden An- trag über EU-weite Regelungen zur Durchführung von klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln. Grund- lage des Antrages ist der Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parlaments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG, Ratsdokument 1275/12, wel- chen die EU-Kommission am 17. Juli 2012 vorgelegt hat. Die bislang geltende Richtlinie 2001/20/EG ist in Deutschland im Jahre 2004 mit der 12. AMG-Novelle sowie der Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Men- schen, GCP-Verordnung, in deutsches Recht umgesetzt worden. Unsere gesetzlichen Vorgaben haben sich in der Pra- xis bewährt. Dies gilt für das eingangs erwähnte hohe Schutzniveau von Probanden und Patienten, die Beteili- gung der Ethikkommissionen am Genehmigungsverfah- ren, aber auch für die Möglichkeiten der Initiatoren und Sponsoren klinischer Arzneimittelforschung. Diese gute Praxis ist uns vonseiten der Ärzteschaft, vom Arbeits- kreis Medizinischer Ethik-Kommissionen, aber auch vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller viel- fach bestätigt worden. Mit der Vorlage des EU-Verordnungsvorschlages soll die bislang geltende Richtlinie modernisiert werden. Ziel ist ein in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich geltender Rechtsrahmen für die Anforderungen an klinische Prü- fungen mit Humanarzneimitteln. Dieses Ziel einer weiteren Vereinheitlichung der kli- nischen Prüfungen in der EU erkennt der Antrag in seinem Wortlaut durchaus an. Damit darf aber keine Minderung der Rolle und des Stellenwerts der Ethik- 27330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) kommissionen verbunden sein. Ich komme darauf zu- rück. Tatsächlich betrachten wir wichtige Punkte des Ver- ordnungsvorschlags mit großer Sorge. Lassen Sie mich dies an drei ausgewählten Punkten unseres Antrages deutlich machen: Erstens die Regelungen zum Schutz von Prüfungsteil- nehmern. Die Deklaration von Helsinki fordert in Art. 6, dass „in der medizinischen Forschung am Menschen … das Wohlergehen der einzelnen Versuchsperson Vorrang vor allen anderen Interessen haben“ muss. Und weiter: „Einige Forschungspopulationen sind be- sonders vulnerabel und benötigen besonderen Schutz. Dazu gehören Personen, die nicht in der Lage sind, selbst ihre Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern oder für die Ausübung von Zwang oder eine unzulässige Beeinflussung anfällig sein können.“ Im Widerspruch dazu wird im Verordnungsentwurf – Art. 31, Art. 32 – der Schutz vor fremdnütziger For- schung insbesondere bei Minderjährigen und Notfallpa- tienten gegenüber den bisherigen Regelungen der EU- Richtlinie und des Arzneimittelgesetzes jedoch verrin- gert. So muss der Widerspruch von widerspruchsfähigen Minderjährigen und erwachsenen Nichteinwilligungsfä- higen gegen die Teilnahme oder Fortsetzung einer Arz- neimittelprüfung nicht beachtet werden. Eine Öffnungs- klausel, um die Schutzvorkehrungen für besonders vulnerable Personengruppen an die unterschiedlichen mitgliedstaatlichen Anforderungen anzupassen, ist eben- falls nicht vorgesehen. Unser heute zu beschließender Antrag stellt darüber hinaus klar, dass eine Instrumentalisierung von Patien- tinnen und Patienten nicht mit den Grundrechten der Eu- ropäischen Menschenrechtskonvention sowie der Charta der Grundrechte der EU vereinbar wäre. Zweitens die fehlende Berücksichtigung von Ethik- kommissionen bei der Bewertung von Anträgen auf Ge- nehmigung klinischer Prüfungen und wesentlicher Än- derungen. Bei der Forschung am Menschen sind Ethikkommissionen international anerkannter Schutz- standard. Die Deklaration von Helsinki sieht dazu in Art. 15 vor, dass „das Studienprotokoll … vor Studien- beginn zur Beratung, Stellungnahme, Orientierung und Zustimmung einer Forschungsethik-Kommission vorzu- legen“ ist. Und weiter heißt es: „Diese Ethik-Kommis- sion muss von dem Forscher und dem Sponsor unabhän- gig und von jeder anderen unzulässigen Beeinflussung unabhängig sein. Sie muss den Gesetzen und Rechtsvor- schriften des Landes oder der Länder, in dem oder denen die Forschung durchgeführt werden soll, sowie den maßgeblichen internationalen Normen und Standards Rechnung tragen, die jedoch den in dieser Deklaration niedergelegten Schutz von Versuchspersonen nicht ab- schwächen oder aufheben dürfen. Die Ethik-Kommis- sion muss das Recht haben, laufende Studien zu beauf- sichtigen. Der Forscher muss der Ethik-Kommission begleitende Informationen vorlegen, insbesondere Infor- mationen über jede Art schwerer unerwünschter Ereig- nisse.“ Zitat Ende. Vor dem Hintergrund dieser wichtigen Funktionen so- wie einer Bewertung der Studie unter einem individuel- len Nutzen-Risiko-Verhältnis ist es mithin nicht nach- vollziehbar, weshalb der Verordnungsvorschlag nicht länger das zustimmende Votum einer unabhängigen, in- terdisziplinär besetzten Ethikkommission verpflichtend vorsieht. Eine Ablehnung durch die beauftragte Ethik- Kommission muss auch in Zukunft zu einer Versagung der Genehmigung einer Studie führen. Während noch in der aktuell gültigen EU-Richtlinie klar vorgegeben ist, dass „der Sponsor … mit der klini- schen Prüfung erst beginnen [kann], wenn die Ethik- Kommission eine befürwortende Stellungnahme abgege- ben hat“, Art. 9 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 der Richtlinie 2001/20/EG, taucht diese Formulierung im Verordnungs- entwurf nicht mehr auf. Hier muss im laufenden Gesetz- gebungsverfahren dringend eine Änderung erreicht wer- den. Drittens. Ebenfalls stark kritikwürdig ist das vorgese- hene Verfahren zur Auswahl des berichterstattenden Mitgliedstaates und zur Zusammenarbeit der betroffenen Mitgliedstaaten. So obliegt es zukünftig allein dem Sponsor, den berichterstattenden Mitgliedstaat zu benen- nen. Die betroffenen Mitgliedstaaten können zukünftig bei der Bewertung von Anträgen nur noch Anmerkungen übermitteln. Hier wollen wir erreichen, dass der berichterstattende Mitgliedstaat nach objektiven Kriterien festgelegt und effektiv an der Nutzen-Risiko-Bewertung beteiligt wird. Dazu gehört eine ausreichende Konsultationsfrist, vor deren Ablauf der berichterstattende Mitgliedstaat nicht entscheiden darf, ebenso wie eine Pflicht des berichter- stattenden Mitgliedstaates, eingegangene Anmerkungen zu dokumentieren und gegebenenfalls zu begründen, warum er von den Hinweisen eines betroffenen Mit- gliedstaates abweicht. Des Weiteren sollte die künftige Verordnung Opt-out-Klauseln zugunsten eines in der na- tionalen Umsetzung höheren als im europäischen Rechtsrahmen vorgesehenen Schutzniveaus enthalten. Trotz unserer strengen Regelungen mit einem hohen Schutzniveau für Studienteilnehmer ist Deutschland bei der Anzahl klinischer Studienprojekte führend in Eu- ropa. Die in Deutschland seit 2004 geltende Rechtslage bewerten die Arzneimittelhersteller positiv, wie der Ver- band Forschender Arzneimittelhersteller in einer Stel- lungnahme hervorhebt. Keineswegs haben unsere bewährten deutschen Rege- lungen zu einem Rückgang klinischer Arzneimittelprü- fungen in Deutschland geführt; diese sind vielmehr seit 2009 in der Summe stabil. Das in Deutschland bestehende und grundrechtlich gebotene Niveau zum Schutz der Prüfungsteilnehmer ist kein Hindernis für erfolgreiche Forschungsvorhaben; es ist eine Grundvoraussetzung. Die international aner- kannten ethischen Grundsätze für die Forschung am Menschen dürfen deshalb auch in Zukunft nicht infrage gestellt werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27331 (A) (C) (D)(B) Stephan Stracke (CDU/CSU): Aus Sicht der Patien- ten in Deutschland sind zwei Dinge wichtig: Erstens. Sie wollen, dass ihnen ein bezahlbares Ge- sundheitssystem auf hohem Niveau zur Verfügung steht. In diesem Punkt hat die christlich-liberale Koalition in dieser Legislaturperiode große Fortschritte erzielt. So re- den wir in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht mehr über Defizite, sondern von Überschüssen, die auch in den nächsten Jahren noch tragen. Zweitens. Die Patienten wollen an Innovationen teil- haben. Dazu gehört auch, dass neue wirksame und si- chere Arzneimittel möglichst frühzeitig bei uns zugelas- sen werden. Als Mittel dazu bedarf es auch klinischer Prüfungen. Klinische Prüfungen erfolgen in nicht unerheblicher Zahl als multinationale Prüfungen in mehreren Staaten. Damit diese Prüfungen sicher durchgeführt werden können, braucht es einen verlässlichen Rahmen für die pharmazeutischen Unternehmen, aber auch einen ver- lässlichen Rahmen für die Prüfungsteilnehmer. Diesen Rahmen stellt in Deutschland das Arzneimittelgesetz dar. Dieses beruht auf einer europäischen Richtlinie zur Durchführung klinischer Prüfungen, die aber den Mit- gliedstaaten Spielraum bei der Umsetzung lässt. Eine weitere Vereinheitlichung der gesetzlichen Regelungen zur Schaffung eines noch verlässlicheren Rahmens ist deshalb anerkannt. Diese Vereinheitlichung darf aber nicht zulasten der Prüfungsteilnehmer gehen. Für Prüfungsteilnehmer be- stehen bei klinischen Prüfungen immer zwei Interessen. Das Schutzinteresse und das Chanceninteresse. Diese müssen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden. Das Schutzinteresse besteht, weil bei Neu- oder Wei- terentwicklungen von Arzneimitteln immer auch ein Stück weit Neuland betreten wird. Dementsprechend sind sie trotz aller Anstrengungen zur Verminderung von Risiken mit gewissen Unsicherheiten für die Prüfungs- teilnehmer verbunden. Dem gegenüber steht aber die Chance, erstmals Zugang zu einem neuen, womöglich wirksamen Medikament zu erhalten. Außerdem leisten die Prüfungsteilnehmer auch einen ganz wichtigen Bei- trag für die Gesellschaft. Denn mit ihrer Teilnahme tra- gen sie dazu bei, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit vorhergesagt werden kann, für welche Patienten ein neues Arzneimittel geeignet ist und welchen Nutzen es hat. Die Entscheidung über eine Teilnahme ist also nicht einfach, und wir können sie keinem Menschen abneh- men. Aber wir können die Menschen in ihrer Entschei- dung bestmöglich unterstützen. Deshalb bestehen in Deutschland weitreichende gesetzliche Bestimmungen, die dem Schutzinteresse Rechnung tragen. Denn nur mit dem Wissen um diese Regelungen kann eine wirklich freie Entscheidung über die Teilnahme an einer klini- schen Prüfung getroffen werden. So bestimmt das Arzneimittelgesetz unter anderem, dass klinische Prüfungen grundsätzlich nur an volljähri- gen, einwilligungsfähigen Prüfungsteilnehmern zulässig sind. Für Minderjährige und nichteinwilligungsfähige Erwachsene gelten dagegen enge Grenzen. So dürfen zum Beispiel bei Minderjährigen nur minimale Risiken und Belastungen mit der Forschung verbunden sein. In Deutschland ist Einhaltung dieser Regelungen unabding- bare Voraussetzung; denn die Fürsorge für die Prüfungs- teilnehmer hat für uns oberste Priorität. Aus diesem Grund regelt das Arzneimittelgesetz auch, dass eine klinische Prüfung nur begonnen werden darf, wenn die zuständige Ethikkommission diese zu- stimmend bewertet hat. Den Ethikkommissionen kom- men somit ganz wichtige und entscheidende Aufgaben zu: Sie prüfen die wissenschaftliche Qualität, die recht- liche Zulässigkeit und die Vertretbarkeit des Vorhabens. Auf diese Weise wahren sie die Rechte, das Wohlerge- hen und die Sicherheit der Prüfungsteilnehmer. Im Juli letzten Jahres hat die Europäische Kommis- sion den Vorschlag für eine Verordnung über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln vorgelegt, die die bestehende Richtlinie ablösen soll. Mit dem Vorschlag verfolgt die Kommission zwei grundsätzliche Anliegen: Erstens, die Voraussetzungen klinischer Prüfungen mit Arzneimitteln am Menschen weiterzuentwickeln, und zweitens, das Verfahren der Genehmigung einer klini- schen Prüfung in den Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Beides seien wichtige Faktoren für die Attraktivität der Europäischen Union als Standort für klinische For- schung. Gerade für Deutschland als größtem Forschungs- standort in Europa mit circa 30 Prozent Anteil an den durchgeführten klinischen Prüfungen ist dies immens wichtig. Daher begrüßen wir diese Anliegen ausdrück- lich. Allerdings weicht der Verordnungsvorschlag in we- sentlichen Punkten von dem Schutzniveau des Arznei- mittelgesetzes für die Prüfungsteilnehmer ab. Dies kann aus deutscher Sicht keinesfalls akzeptiert werden. Es ist wichtig, dass das bestehende Schutzniveau insbesondere hinsichtlich der Minderjährigen und nicht Einwilli- gungsfähigen weiter Bestand hat. Probleme bereitet der Verordnungsvorschlag auch hinsichtlich der Einbeziehung von Ethikkommissionen bei der Bewertung von Anträgen auf Durchführung von klinischen Prüfungen. Die bestehende EU-Richtlinie enthält die ausdrückliche Regelung, dass der Sponsor mit der klinischen Prüfung erst beginnen kann, wenn die Ethikkommission eine befürwortende Stellungnahme abgegeben hat. Diese Regelung sieht der Verordnungs- vorschlag nun jedoch nicht mehr vor. Ethikkommissio- nen leisten tagtäglich mit ihrer Arbeit einen Beitrag zur Qualitätssicherung und zur Rechtssicherheit bei klini- schen Prüfungen. Es ist daher befremdlich und realitäts- fern, dass die Ethikkommissionen im Verordnungsvor- schlag mit keinem Wort mehr erwähnt werden. Durch die Nichtaufnahme der Ethikkommissionen schadet der Verordnungsvorschlag dem Ansehen der medizinischen Forschung. Denn das Vertrauen der Öffentlichkeit in kli- nische Prüfungen gründet sich in höchstem Maße auf die durch die unabhängigen Ethikkommissionen abgesi- cherte ethische und rechtliche Vertretbarkeit. Mit unserer parteiübergreifenden Stellungnahme wei- sen wir als Deutscher Bundestag auf diese Unzulänglich- 27332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) keiten hin. Schon im Titel des Antrages machen wir un- missverständlich deutlich, worum es uns geht: den Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der Durchführung von klinischen Prüfungen sicherzustellen. So fordern wir, dass das in Deutschland bestehende grundrechtlich gebotene Schutzniveau für Prüfungsteil- nehmer in den Verordnungsvorschlag aufgenommen werden muss. Das Schutzniveau muss in allen Mitglied- staaten gleich gestaltet sein. Ein mögliches Opt-out, nach dem der betroffene Staat entscheiden könnte, nicht an der klinischen Prüfung teilzunehmen, ist nicht ausrei- chend. Wir wollen unser hohes Schutzniveau verankert sehen und uns nicht auf ein Absenken auf ein niedrigeres Niveau einlassen. Das zustimmende Votum einer Ethik- kommission muss weiterhin Voraussetzung für den Be- ginn einer klinischen Prüfung sein. Aus unserer Sicht ist nur so der Schutz der Prüfungsteilnehmer, insbesondere auch der besonders vulnerablen Personengruppen, um- fassend zu gewährleisten. Zum Schluss möchte ich noch deutlich machen, dass die besten Regelungen nichts nützen, wenn das dahinter- stehende Verfahren untauglich ist. So brauchen wir auch praktikable Regelungen für die Genehmigung der Prüfung. Hierzu gehört, dass die betroffenen Mitglied- staaten ausreichend in das Genehmigungsverfahren ein- bezogen werden. Das derzeit geltende freiwillige Har- monisierungsverfahren bietet dafür eine gute Grundlage. Zudem sind die derzeit im Verordnungsentwurf vorgese- henen Fristen zur Entscheidung über die Genehmigung zu kurz. Sie lassen eine angemessene Bewertung kom- plexer klinischer Prüfungen und der mit ihnen verbunde- nen Risiken nicht mehr zu. Daher fordern wir, prakti- kable Fristen in der Verordnung zu verankern. Ich wünsche der Bundesregierung bei ihren Verhand- lungen auf EU-Ebene die nötige Durchsetzungskraft, um diese und die weiteren Forderungen unserer Stellung- nahme durchsetzen zu können. Dr. Marlies Volkmer (SPD): Es freut mich außeror- dentlich, dass wir heute einen fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag beraten, der sich deutlich für den Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an klini- schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln einsetzt. Als die EU-Kommission im Juli letzten Jahres ihren Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parla- ments und des Rates über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie 2001/20/EG vorlegte, erklang ein lauter Protest vonsei- ten der Medizin, der Wissenschaft und von den Patien- tenschützern – zu Recht, wie ich meine. Das erklärte Ziel der neuen Verordnung war es, einen in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich geltenden Rechtsrahmen für die Genehmigung klinischer Prüfun- gen zu schaffen. Die Mitgliedstaaten hatten die bislang geltende Richtlinie 2001/20/EG sehr unterschiedlich umgesetzt, was die Durchführung einer klinischen Prü- fung in mehr als einem Mitgliedstaat erschwert. Das neue Verfahren soll das Genehmigungsverfahren schnel- ler, einfacher und kostengünstiger machen und so die Attraktivität der Europäischen Union als Standort für klinische Forschung steigern. Diese Absicht ist durchaus zu begrüßen. Klinische Forschung zur Entwicklung neuer Arzneimittel und zur weiteren Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten von Krankheiten ist richtig und notwendig. Jedoch drohen die geplanten Änderungen das in Deutschland bestehende Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an klinischen Prüfungen herabzusetzen und verletzen grundlegende ethische Prinzipien. Bei der Umsetzung der heute geltenden Richtlinie mit der zwölften Arzneimittelgesetznovelle im Jahr 2004 und der GCP-Verordnung hat die SPD-geführte Bundes- regierung von ihrem Umsetzungsspielraum Gebrauch gemacht. Wir haben zum Schutz von besonders vulnera- blen Patientengruppen wie Minderjährigen oder einwilli- gungsunfähigen Erwachsenen deutliche Grenzen einge- zogen. Diese strengen deutschen Regelungen haben dabei keineswegs zu einem Rückgang klinischer Arznei- mittelprüfungen bei uns geführt. Im Gegenteil, Deutsch- land ist einer derjenigen Mitgliedstaaten mit den meisten Anträgen auf Genehmigung einer klinischen Prüfung. Der vorgelegte Verordnungsentwurf senkt jedoch das Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer an klinischen Prüfungen. So sieht er vor, dass nicht ein- willigungsfähige Erwachsene ohne vorherige Informa- tion und ohne potenziellen Eigen- oder Gruppennutzen in eine klinische Prüfung einbezogen werden können. Auch der Widerspruch von Minderjährigen zur Teil- nahme oder Fortsetzung einer Arzneimittelprüfung muss nicht mehr beachtet werden. Eine Öffnungsklausel, damit Staaten Schutzvorkehrungen für besonders vulne- rable Personengruppen einfügen können, ist in der Verordnung nicht vorgesehen. Diese Änderungen bedeu- ten eine Instrumentalisierung von Patientinnen und Patienten, die nicht mit den Grundrechten gemäß der Eu- ropäischen Menschenrechtskonvention sowie der Charta der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar ist. Weiterhin sieht der Verordnungsentwurf nicht länger das Votum einer unabhängigen, interdisziplinär besetz- ten Ethikkommission vor. Heute müssen geplante For- schungsvorhaben vor Studienbeginn einer mit Experten und Laien besetzten Ethikkommission zur Beratung, Stellungnahme, Orientierung und Zustimmung vorgelegt werden. Dieses Verfahren ist für den Schutz der Teilneh- merinnen und Teilnehmer an Studien unabdingbar. Auch die Bewertungs- und Genehmigungsfristen sol- len deutlich verkürzt werden, sodass eine angemessene Bewertung der Risiken und Belastungen für die Studien- teilnehmer sowie des wissenschaftlichen Nutzens der klinischen Prüfung fast unmöglich werden. Hinzu kommt, dass erlaubt werden soll, bestimmte schwerwie- gende unerwartete Ereignisse aus der Meldepflicht herauszunehmen. Dadurch verzerrt sich jedoch das Risi- koprofil der klinischen Prüfung, und es kann zu gefährli- chen Fehleinschätzungen über Risiken kommen. Zuletzt ist vorgesehen, dass allein der Sponsor einer klinischen Prüfung den Mitgliedstaat bestimmen darf, in welchem die Bewertung von Anträgen zur Genehmi- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27333 (A) (C) (D)(B) gung stattfindet. Auch falls größere Teile der Untersu- chung in anderen EU-Staaten stattfinden, haben diese fast keine Einflussmöglichkeiten und Mitspracherechte. Daher ist es richtig, dass sich Ärzte, Forscher und Pati- entenverbände vehement gegen diese Änderungen aus- gesprochen haben. Die Fraktionen des Deutschen Bundestages setzen sich mit diesem Antrag dafür ein, dass das in Deutsch- land bestehende und grundrechtlich gebotene Schutzni- veau für Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in den Verordnungsvorschlag aufgenommen wird. Dabei sind insbesondere Minderjährige sowie nicht einwilli- gungsfähige Erwachsene besonders zu berücksichtigen. Es darf keine Verschiebung bei der Nutzen-Risiko-Ab- wägung zwischen individuellem Nutzen und dem Nut- zen für die öffentliche Gesundheit zulasten der Prü- fungsteilnehmerinnen und Prüfungsteilnehmer geben. Wir fordern, dass die unabhängigen, interdisziplinär besetzten Ethikkommissionen weiterhin in das Geneh- migungsverfahren einbezogen werden. Es bleibt dabei, dass eine Genehmigung für eine klinische Prüfung nur dann erteilt wird, wenn die Ethikkommission die Anfor- derungen zum Schutz der Prüfungsteilnehmerinnen und Prüfungsteilnehmer und die ärztliche Vertretbarkeit zustimmend bewertet hat. Dazu wird ihr auch weiterhin eine praktikable Frist eingeräumt. Schwerwiegende unerwünschte Ereignisse, die während der klinischen Prüfung auftreten, müssen zudem auch zukünftig aus- nahmslos gemeldet werden. Wir wollen, dass der berichterstattende Mitgliedstaat nicht der Wahl des Sponsors überlassen wird; stattdessen wird der Berichterstatter nach einem festgelegten, nach- vollziehbaren und transparenten Verfahren bestimmt, das bei klinischen Prüfungen in mehreren Ländern auch die übrigen betroffenen Mitgliedstaaten ausreichend ein- bezieht. Mit unserem einheitlichen Votum für diesen Ent- schließungsantrag setzen wir ein deutliches Zeichen. Die Bundesregierung kann mit einem klaren Auftrag in die weiteren Verhandlungen gehen. Der Deutsche Bundestag spricht sich mit einer Stimme für den Schutz der Teilnehmerinnen und Teil- nehmer an klinischen Prüfungen aus. Dadurch honorie- ren wir den wichtigen Beitrag, den diese Menschen zur Entwicklung neuer Arzneimittel und zur Verbesserung bestehender Therapien leisten. Jens Ackermann (FDP): Für die Bürgerinnen und Bürger ist die Qualität der klinischen Prüfungen von ho- her Wichtigkeit, da sie von einer optimalen medizini- schen Versorgung profitieren sollen. Die Rahmenbedin- gungen hierfür muss die Politik vorgeben. Am 17. Juli 2012 veröffentlichte die Kommission ei- nen Verordnungsvorschlag über klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln. Ziel der Verordnung ist die Schaf- fung eines einheitlichen Rechtsrahmens, um damit eine durchgängige Harmonisierung der Anforderungen an kli- nische Prüfungen mit Humanarzneimitteln zu erzielen. Nach der Evaluierung der Richtlinie von 2001 stellte die Kommission fest, dass die Umsetzung in den einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ist; insbesondere bei der Durchführung multinationaler klinischer Prüfun- gen gibt es Probleme. Klinische Prüfungen mit Patien- tinnen und Patienten und Probandinnen und Probanden sind notwendig, um die Wirksamkeit und Sicherheit von Medikamenten und medizinischen Interventionen zu überprüfen. Die von der Kommission benannten Probleme im Verordnungsentwurf treffen auf Deutschland nicht zu; darin sind sich alle Beteiligten einig. Der Gesetzgeber hat die Richtlinie 2004 mit dem Zwölften Gesetz zur Än- derung des Arzneimittelgesetzes und der Verordnung über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arznei- mitteln zur Anwendung am Menschen, der sogenannten GCP-Verordnung, umgesetzt. Dabei hat die damalige Regierung von der Möglichkeit des Umsetzungspiel- raums Gebrauch gemacht, um die Probandinnen und Probanden stärker als auf europäischer Ebene vorgesehen zu schützen. Dies ist besonders bei vulnerablen Personen- gruppen wie Minderjährigen oder nicht einwilligungs- fähigen Erwachsenen erkennbar. Hier hat der Gesetzge- ber richtigerweise damals Grenzen gezogen. Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass sowohl die Auf- klärung als auch die Behandlung nur ein Arzt durchfüh- ren darf. Die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger muss oberste Priorität haben. In Deutschland besteht also seit der Umsetzung der Richtlinie im Jahr 2004 ein bewährter Rechtsrahmen so- wohl für die Probanden als auch für die Sponsoren, die man in dieser Debatte auch nicht außer Acht lassen darf. Der Sponsor, der auch für den organisatorischen Ablauf zuständig ist, trägt die volle Verantwortung sowie das unternehmerische Risiko. Es ist also bei den hohen An- forderungen geboten, hier passende Bürokratiehürden anzubieten. Der von der Kommission ausgeführte Reformbedarf der Richtlinie ist auf Deutschland nicht übertragbar. Wir haben keinen Rückgang an klinischen Prüfungen nach der Umsetzung der Richtlinie verzeichnen können. Im Gegenteil: In Deutschland wurden seit der Umsetzung 2004 vergleichsweise sehr viele Anträge auf Genehmi- gung einer klinischen Prüfung gestellt. Wir haben fraktionsübergreifend innerhalb des Gre- miums große Bedenken zum Verordnungsentwurf der Kommission geäußert. Diese spiegeln sich im heute zu beratenden Antrag wieder. Die Wünsche aus Europa sind ja schön und gut. Je- doch haben wir an dieser Stelle weitergehende Regelun- gen, die wir nicht aufgeben dürfen. Vielmehr muss es in unserem Interesse sein, die vorliegende Verordnung zu verbessern. Ich freue mich sehr, dass wir als Regierungsfraktio- nen zusammen mit der Opposition und in guter Zusam- menarbeit mit dem Bundesministerium für Gesundheit Vorschläge zur Verbesserung der Richtlinie vorlegen konnten, die unsere Bedenken zum Verordnungsentwurf aufzeigten. Es kommt schließlich auf das Ergebnis an: 27334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Der Schutz der Probandinnen und Probanden ist und bleibt oberstes Gebot. Die Regelungen in Deutschland haben sich bewährt, einerseits für die Probandinnen und Probanden mit ho- hen Sicherheitsforderungen, andererseits auch für die Sponsoren, die in Deutschland sehr gute Bedingungen für klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln vorfin- den. Hier benötigen wir auch praktikable Fristen für die Genehmigungen. Der Vorschlag der Kommission hat aus unserer Sicht entscheidende Mängel: Die Regelungen bieten den Pro- bandinnen und Probanden keinen ausreichenden Schutz; besonders gilt dies für Minderjährige. Hier fordern wir Nachbesserungen insbesondere für Minderjährige und nicht einwillungsfähige Erwachsene. Diese sollen, wenn sie dazu in der Lage sind, mit angehört werden. Das heißt: Man benötigt dann neben der Entscheidung des gesetzli- chen Vertreters auch die Zustimmung des Probanden. Gegenüber klinischen Prüfungen an Kindern brauchen wir gesonderte Regelungen. Prüfungen mit kranken Kin- dern müssen an besondere Bedingungen geknüpft sein. Das heißt: minimale Risiken, minimale Belastungen. Generell müssen die Aufklärung sowie die Behand- lung von einem Arzt durchgeführt werden. Die klini- schen Prüfungen dürfen auch nur beginnen, wenn die vorhersehbaren Risiken und Belastungen von Ärzten als vertretbar eingeschätzt werden. Genauso muss die Ethik- kommission unabhängig und interdisziplinär besetzt werden, da dieses Gremium über die Genehmigung kli- nischer Prüfungen entscheidet. Stark zu kritisieren ist auch die Tatsache, dass nun al- lein der Sponsor das Berichtsland des Mitgliedstaates bestimmen sollte. Hier fordern wir, dass der berichtende Mitgliedstaat in einem transparenten Verfahren bestimmt wird. Zudem muss der Sponsor einen gesetzlichen Ver- treter in einem Mitgliedsland der EU haben: ein sehr wichtiger Schritt, um Rechtssicherheit gewährleisten zu können. Deshalb sollte für eine lückenlose Dokumenta- tion der Antrag auch möglichst in englischer Sprache eingereicht werden. Die Mitgliedstaaten sind im Kommissionsvorschlag zur Einrichtung eines Entschädigungsmechnismus ver- pflichtet. Hier fordern wir, dass den Mitgliedstaaten ein gewisser Spielraum für die Absicherung der Probandin- nen und Probanden eingeräumt wird. Es ist also, wie Sie sehen, noch viel Änderungsbedarf vorhanden. Diesem Bedarf wird der vorliegende Antrag gerecht. Ich fasse für Sie noch einmal die Kernforderungen des interfraktionellen Antrages zusammen. Wir fordern: verbesserte Schutzregeln besonders für Minderjährige und nicht einwillungsfähige Erwachsene und eine unab- hängig und interdisziplinär besetzte Ethikkommission, die über die Genehmigungen klinischer Prüfungen ent- scheidet. Die Wahl für das berichterstattende Land muss in einem festgelegten, nachvollziehbaren und transpa- renten Verfahren erfolgen und nicht durch den Sponsor. Wir fordern weiter, dass der Prüfplan und die Prüf- informationen für eine EU-weit einheitliche Fassung möglichst in englischer Sprache einzureichen sind und praktikable Fristen über die Genehmigung klinischer Prüfungen. Der wichtigste Punkt: Es darf keine Risiko- verschiebung zulasten der Probanden geben. Ich hoffe im Interesse der Patientinnen und Patienten sowie der Probandinnen und Probanden sehr, dass die Bundesregierung sich mit unseren Forderungen in den weiteren Verhandlungen zur Verordnung durchsetzen wird. Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der Verordnungsvorschlag der EU-Kommission, die Rege- lungen für klinische Arzneimittelprüfungen zu verein- heitlichen, hat erhebliche Mängel. Diese müssen in den Verhandlungen der Mitgliedstaaten und vom Europäi- schen Parlament im Gesetzgebungsverfahren behoben werden. Ohne Änderungen könnte es beispielsweise sein, dass nicht einwilligungsfähige Patientinnen und Patienten nicht nur minimale, sondern größere Risiken zu tragen hätten, ohne dass ein Nutzen für sie zu erwar- ten ist. Das ist aus meiner Sicht nicht mit der Europäi- schen Menschenrechtskonvention sowie der Charta der Grundrechte der EU vereinbar. Wir sind uns in Bundestag und Bundesrat einig, dass wir uns am geltenden deutschen Arzneimittelrecht orien- tieren sollten. Dieses legt deutlich höhere Schutzstan- dards, insbesondere für Kinder und nicht einwilligungs- fähige Erwachsene, fest, als von der EU-Kommission geplant. Ebenso unverzichtbar ist, dass eine Zustimmung einer unabhängigen interdisziplinären Ethikkommission Voraussetzung für die Durchführung solcher Studien ist. Die bestehende Richtlinie 2001/20/EG wurde in Deutschland 2004 unter Rot-Grün in nationales Recht umgesetzt. Dabei haben wir bestehende Umsetzungs- spielräume genutzt. Für eine der Regelungen wurden wir damals deutlich kritisiert: dass wir unter der Vorausset- zung, dass nur minimale Risiken und minimale Belas- tungen zu erwarten sind, bei Minderjährigen klinische Prüfungen auch dann erlaubt haben, wenn kein eigener Nutzen, sondern nur ein Gruppennutzen zu erwarten ist. Heute wären manche – die damals ein absolutes Verbot forderten – froh, wenn eine solche Regelung in allen Forschungsbereichen gelten würde. Union und FDP haben die 12. AMG-Novelle damals abgelehnt. So falsch konnte das, was damals beschlossen wurde, aber doch nicht sein, wenn wir alle heute so posi- tiv auf die dortigen Regelungen Bezug nehmen. Es ist uns damals gelungen, Regelungen zu verabschieden, die sich sowohl hinsichtlich des Schutzes von Teilnehmerin- nen und Teilnehmern an klinischen Prüfungen als auch aus der Sicht der Sponsoren klinischer Arzneimittel- forschung bewährt haben. Dies lässt sich auch daran ab- lesen, dass es in Deutschland – im Gegensatz zur EU- weiten Entwicklung – nicht zu einem Rückgang von Arzneimittelstudien gekommen ist. Wie bereits gesagt, es gibt keine inhaltlichen Diffe- renzen; alle im Bundestag vertretenen Fraktionen sind sich einig. Dennoch liegen uns nun zwei wortidentische Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27335 (A) (C) (D)(B) Anträge vor. Dass die Union keine Anträge gemeinsam mit der Linken stellt, ist ihre Entscheidung. Schwer nachvollziehen kann ich jedoch, dass dies auch für bio- ethische Fragestellungen gilt. Bei strittigen Bioethik- themen kooperieren wir quer durch alle Fraktionen. Aber wenn wir uns einig sind, darf dies nicht sein. Da fehlt mir das Verständnis. Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme, dass auch die damals von uns Grünen eingebrachte Vorgabe der angemessenen Einbeziehung von Frauen in klinische Arzneimittelstudien in die EU-Verordnung aufgenom- men werden solle. Das kann ich nur unterstützen. Aber dies reicht nicht aus. Bereits unter Rot-Grün wollten wir mehr. Wir Grünen setzen uns dafür ein, dass in die EU- Verordnung Regelungen aufgenommen werden, die ge- schlechtsspezifische Auswertungen nicht nur möglich machen, sondern auch sicherstellen, dass diese tatsäch- lich durchgeführt werden. Erst dann kann in Zukunft ge- währleistet werden, dass Frauen die richtige Arzneimit- teltherapie erhalten. Wir halten aus gutem Grund die Einbeziehung der Ethikkommissionen hoch; aber wir hören auch, dass es vor Ort große Unterschiede bei der Professionalität gibt. Hier wünsche ich mir, dass die Bundesländer, bei denen die Regelungskompetenzen größtenteils liegen, gemein- sam an einer Optimierung arbeiten. 219. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 7 Bundeswehreinsatz in Afghanistan (ISAF) TOP 4 Rüstungsexportpolitik TOP 40 Überweisungen im vereinfachten Verfahren TOP 41, ZP 2, 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache ZP 4 Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses ZP 5 Aktuelle Stunde zur Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen TOP 3 Private Altersvorsorge TOP 6, ZP 6 Soziale und ökologische Unternehmensverantwortung TOP 5, ZP 7, 8 Justizkostenrecht TOP 16 Sahel-Region TOP 9 Krebsregister TOP 10 Sport in der Auswärtigen Kulturpolitik TOP 11 Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern TOP 12 Soziale Sicherung in der Entwicklungspolitik TOP 13 Außenwirtschaftsrecht TOP 14 Sozialer Tourismus TOP 15 Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen TOP 25 Behindertenrecht im Wahlrecht TOP 17 Innerstaatliche Umsetzung des Fiskalvertrags TOP 18 Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften TOP 19 Nutzung von Konfliktmineralien TOP 20 Telekommunikationsrecht TOP 21 Ökologischer Landbau TOP 24 Versicherungsrechtliche Vorschriften TOP 23 Uranmunition TOP 26 Schutz des Erbrechts nichtehelicher Kinder TOP 27 Bergrecht TOP 28 Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters ZP 9 Drogenpolitik TOP 29 Urheberrecht TOP 30 Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege TOP 31 SGB II (Bildungs- und Teilhabepaket) TOP 32 Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben ZP 10 Klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721900000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.


(Zurufe von der LINKEN: Guten Morgen, Herr Präsident!)


Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie herzlich zu unserer 219. Sitzung.

Es gibt eine interfraktionelle Vereinbarung, die
Tagesordnung um die in der Zusatzpunkteliste aufge-
führten Punkte zu erweitern:

ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Aktuelle Situation in Mali


(siehe 218. Sitzung)


ZP 2 Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/11820 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (5. Ausschuss)


– Drucksache 17/12174 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Dr. Eva Högl
Joachim Spatz
Andrej Hunko
Jerzy Montag

ZP 3 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Johannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD 
sowie der Abgeordneten Ute Koczy, Dr. Frithjof
Schmidt, Kerstin Müller (Köln), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN

Eine kohärente Gesamtstrategie für Pakistan –
Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stär-
kung der demokratischen Kräfte und eine ver-
lässliche Entwicklungszusammenarbeit

– Drucksachen 17/11033, 17/11451 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Johannes Pflug
Bijan Djir-Sarai
Jan van Aken
Dr. Frithjof Schmidt

ZP 4 Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

der Internationalen Gesundheitsvorschriften

(2005) und zur Änderung weiterer Gesetze


– Drucksachen 17/7576, 17/8615, 17/8871,
17/12170 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb

ZP 5 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion DIE
LINKE:

Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten
Drohnen

ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Kerstin Andreae,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengeset-
zes

– Drucksache 17/11686 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


ZP 7 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Er-
folgsbezugs im Gerichtsvollzieherkostenrecht

– Drucksache 17/5313 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Josef Philip Winkler, Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kostenrechtsmodernisierung bei Vertretung in
Asylverfahren und Übersetzungsleistungen
nachbessern

– Drucksache 17/12173 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

ZP 9 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf (Rosenheim), Dr. Edgar Franke,
Dr. Carola Reimann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Überlebenshilfe in der Drogenpolitik – Situa-
tion der Substitution von Opiatabhängigen
verbessern und Substitutionsbehandlung im
Strafvollzug gewährleisten

– Drucksache 17/12181 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss

ZP 10 a)Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimit-
teln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer sicherstellen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/12183 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimit-
teln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer sicherstellen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/12184 (neu)

Dabei soll von der Frist für den Beginn der Beratun-
gen, soweit erforderlich, abgewichen werden.

Des Weiteren werden die Tagesordnungspunkte 8, 22,
33 und 40 g abgesetzt.

Darüber hinaus kommt es zu den in der Zusatzpunkte-
liste dargestellten weiteren Änderungen des Ablaufs.
Hier geht es um die Reihenfolge der Behandlung der
vorgesehenen Tagesordnungspunkte.

Ich frage Sie, ob Sie mit den vorgeschlagenen Verän-
derungen einverstanden sind? – Das ist der Fall. Dann ist
das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 7 auf:

– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)


Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-
scher Streitkräfte an dem Einsatz der Interna-
tionalen Sicherheitsunterstützungstruppe in

(International Security Assistance Force, ISAF)

auf Grundlage der Resolution 1386 (2001) und
folgender Resolutionen, zuletzt Resolution
2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des Sicher-
heitsrates der Vereinten Nationen

– Drucksachen 17/11685, 17/12096 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Karl-Georg Wellmann
Johannes Pflug
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Dr. Frithjof Schmidt

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/12097 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Herbert Frankenhauser
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Sven-Christian Kindler

Hierzu liegt je ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen vor.
Über die Beschlussempfehlung zum Antrag der Bundes-
regierung werden wir später namentlich abstimmen.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Dazu
höre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort zu-
nächst der Kollegin Elke Hoff für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1721900100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Wir beschließen heute erneut über die Fortsetzung
eines der längsten und anspruchsvollsten Einsätze der
Bundeswehr. Ich möchte diese Gelegenheit nicht nur
dazu nutzen, den Soldatinnen und Soldaten zu danken,
die in einer hervorragenden Art und Weise diesen Ein-
satz gemeistert haben, sondern ich möchte an dieser
Stelle ausdrücklich auch der militärischen Führung der
Bundeswehr dafür danken, dass sie unsere Soldatinnen
und Soldaten in schwierigen Zeiten durch die Klippen
und Herausforderungen eines schwierigen Einsatzes ma-
növriert hat. Wir sollten diesen Tag ebenfalls zum An-
lass nehmen, derjenigen zu gedenken, die in diesem Ein-
satz gefallen sind. In diesem Einsatz hat die Bundeswehr
zum ersten Mal seit langem wieder tote Soldaten zu tra-
gen. Es gibt viele verwundete Soldatinnen und Soldaten.
An dieser Stelle sollten wir alle in diesem Parlament der
Soldaten, die verwundet sind, insbesondere auch der Fa-
milienangehörigen, gedenken.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir werden mit diesem Mandat unsere Soldatinnen
und Soldaten in einen der schwierigsten Einsätze dieser
Jahre senden. Wir müssen zum einen die Rückverlegung
unserer eigenen Truppen vorbereiten, um diese heil und
gesund zurückzubringen, zum anderen sind wir als Füh-
rungsnation im Norden des Landes Anlehnungspartner
für andere Nationen. Unsere Soldatinnen und Soldaten
müssen in diesem schwierigen Jahr, in dem die Vorberei-
tungen für ein wichtiges politisches Ereignis in Afgha-
nistan, nämlich die Präsidentschaftswahlen im Jahr
2014, anstehen, also einerseits ihren Auftrag im Rahmen
von ISAF erfüllen, aber andererseits auch dafür sorgen,
dass eine möglichst gefahrlose Rückverlegung stattfin-
det.

Es ist aber nicht alleine Aufgabe der Bundeswehr, in
Afghanistan dafür zu sorgen, dass eine stabile Nation
hinterlassen wird. Wir werden in den nächsten Monaten
gemeinsam mit unseren Partnern gefordert sein, eine
politische Lösung für dieses Land zu finden, die trägt,
die die unterschiedlichen Ethnien mit einbezieht und die
dieses Land vor allen Dingen in die Lage versetzt, end-
lich seine Souveränität zu erlangen. Es wird also in ho-
hem Maße auch darauf ankommen, die Nachbarstaaten
Afghanistans, die bereits heute in Erwartung, aber auch
mit Besorgnis auf die Lage nach 2014 schauen, so weit
einzubinden, dass die afghanischen Menschen – das war
auch einer der wesentlichen Gründe, warum wir uns mi-
litärisch, außenpolitisch und mit den Mitteln der Ent-
wicklungszusammenarbeit in diesem Land eingesetzt
haben – ihr Leben in Frieden und in Sicherheit leben
können. Das muss für uns alle weiterhin ein Ansporn
sein, das Richtige zu tun und den Männern und Frauen,
die dieser Aufgabe verpflichtet sind, die notwendige
politische Rückendeckung zu verschaffen.

Ich möchte an dieser Stelle einen letzten Satz sagen.
Für unser Land besteht an keiner Stelle auch nur der ge-
ringste Anlass, sich gegenüber anderen Nationen als ein

Land zu fühlen, das nicht genug tut. Wir haben in Afgha-
nistan mit Tausenden von Soldaten – da gab es Opfer
und Verwundete –, mit viel Geld und viel Herzblut dafür
gesorgt, dass wir unserer Aufgabe in der Weltpolitik ge-
recht werden. Wann immer jemand der Meinung ist, die-
ses Land würde zu wenig tun: Treten Sie dem entgegen!
Denn das ist falsch.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721900200

Nächster Redner ist der Kollege Stefan Rebmann für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Stefan Rebmann (SPD):
Rede ID: ID1721900300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Seit wir vor über einem Jahrzehnt die schwie-
rige Entscheidung getroffen haben, uns am ISAF-Einsatz
in Afghanistan zu beteiligen, tragen wir eine besondere
Verantwortung – eine besondere Verantwortung gegen-
über den Soldatinnen und Soldaten, die in Afghanistan
im Einsatz sind, gegenüber den internationalen Helferin-
nen und Helfern und besonders gegenüber den Men-
schen in Afghanistan.

Angesichts der Situation in Afghanistan müssen wir
unser Engagement vor Ort kritisch betrachten und be-
werten. In den vergangenen zehn, elf Jahren gab es zahl-
reiche Rückschläge, es gab aber auch Fortschritte. Wir
haben Fortschritte bei der Energie- und Wasserversor-
gung und bei der wirtschaftlichen Entwicklung. Und für
rund 3,5 Millionen Menschen wurde der Zugang zur
Gesundheitsversorgung verbessert. Ein afghanisches
Sprichwort sagt: Ein Mensch ohne Bildung ist wie ein
Baum ohne Frucht – ein kluges Sprichwort, wie ich
meine; denn Bildung und der Zugang zu Bildung sind
enorm wichtig für die Entwicklung einer Gesellschaft.
Deshalb ist es gut, dass heute mehr als 7 Millionen
Kinder zur Schule gehen, 2,7 Millionen davon sind
Mädchen. Seit 2009 sind mit deutscher Hilfe über
93 000 Lehrkräfte aus- und fortgebildet worden. Das
sind alles Fortschritte, die erzielt wurden, und die sollten
wir nicht kleinreden.

Aber wir dürfen auch nicht verkennen, dass es nach
wie vor gravierende Defizite gibt, dass sich die Gesund-
heitsversorgung und der Bildungsbereich insgesamt,
auch von der Qualität her, auf einem sehr niedrigen Ni-
veau bewegen, dass nach wie vor viele Mädchen vom
Schulbesuch ausgeschlossen werden, dass es Kinder
gibt, die die Schule verlassen, ohne lesen und schreiben
zu können, und es in ganzen Regionen keine Schule und
keine Krankenstation gibt. Deshalb müssen wir die ver-
bleibenden zwei Jahre gemeinsam mit den Afghanen
nutzen, um die Weichen für eine bessere Zukunft in
Afghanistan zu stellen.


(Beifall bei der SPD)


Es gibt vieles, sehr vieles, was noch unerreicht ist:
Die Regierung und die Verwaltung müssen ihre Kapazi-





Stefan Rebmann


(A) (C)



(D)(B)


täten ausbauen. Wir brauchen gute Regierungsführung.
Wir brauchen die Bekämpfung der Korruption. Wir
brauchen den Aufbau einer Rechtsstaatlichkeit, die die-
sen Namen auch verdient. Wir brauchen die Achtung der
Menschenrechte und den Aufbau funktionierender, legi-
timer staatlicher Institutionen. Die wirtschaftliche und
die soziale Infrastruktur, die medizinische Versorgung
und der Zugang zu Wasser und Energie müssen weiter
ausgebaut werden. Und: Die Präsidentschafts- und Par-
lamentswahlen 2014 und 2015, die nach demokratischen
Standards verlaufen sollen, sind eine Herausforderung,
die erst noch bewältigt werden muss.

Das alles sind Schlüsselbereiche, die für die weitere
Entwicklung des Landes und für das Vertrauen der Men-
schen in die eigene Regierung von enormer Bedeutung
sind. Dabei braucht Afghanistan unsere Unterstützung
und die klare Zusage und Botschaft: Wir ziehen uns
nicht aus der Verantwortung zurück. Wir lassen Afgha-
nistan und die Menschen nicht allein. Menschenrechte,
Kinderrechte und vor allen Dingen auch Frauenrechte
sind für uns nicht verhandelbar.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im vergangenen Jahr sind zwei Leiterinnen einer ört-
lichen Frauenbehörde bei gezielten Anschlägen ums Le-
ben gekommen. Dieses und viele weitere Beispiele
zeigen: Frauen und deren Rechte, auch wenn sie mittler-
weile in der Verfassung stehen, sind noch lange nicht
ausreichend geschützt. Tief in der Gesellschaft veran-
kerte Wertvorstellungen, aber auch der pure Unwille in
so mancher Behörde begünstigen und lassen Gewalt ge-
gen Frauen zu. Das können und werden wir niemals ak-
zeptieren.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Sorge ist groß, dass mit dem Abzug der Truppen
auch viele soziale Errungenschaften zunichte gemacht
werden. Die wachsende Unsicherheit und Nervosität der
afghanischen Zivilgesellschaft, der internationalen Hel-
fer und der afghanischen Partner machen deutlich: Ein
weiteres verlässliches Engagement von deutscher und
internationaler Seite über 2014 hinaus ist absolut not-
wendig. Uns Entwicklungspolitikern liegt sehr an einem
gemeinsam erarbeiteten Konzept für die Unterstützung
einer nachhaltigen, sozialen, wirtschaftlichen und fried-
lichen Entwicklung Afghanistans. Deshalb ist es absolut
notwendig, dass die Entwicklungspolitik, die Entwick-
lungszusammenarbeit in den Vordergrund rückt und die
verschiedenen Ressorts – Außen- und Verteidigungspoli-
tik, Inneres, Entwicklungspolitik und Menschenrechts-
politik – zusammenarbeiten, um eine umfassende und
kohärente Strategie für Afghanistan zu entwickeln.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721900400

Andreas Schockenhoff ist der nächste Redner für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1721900500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach dem Strategiewechsel vor bald drei Jahren können
wir nun den konkreten Abzug unserer ISAF-Soldaten ins
Auge fassen. Das Mandat sieht eine Absenkung der
Obergrenze um 500 Soldatinnen und Soldaten auf 4 400
vor. Ab Mitte 2013 sollen afghanische Kräfte die Haupt-
verantwortung für die Sicherheit im Land übernehmen.
Das müssen wir abwarten. Unter der Voraussetzung,
dass sich die Sicherheitslage weiter positiv entwickelt
und keine Gefahr für unsere Soldaten entsteht, werden
Anfang 2014 weitere 1 100 Soldatinnen und Soldaten
nach Hause kommen.

Für die CDU/CSU gebietet es der Respekt vor der
Leistung unserer Soldatinnen und Soldaten, dass ihr
Dienst in Afghanistan die Wertschätzung erfährt, die der
Einsatz von Leib und Leben für die Sicherheit Deutsch-
lands verdient, auch und gerade über das Ende des
ISAF-Einsatzes hinaus. Ihre Anerkennung als Veteranen
ist deshalb so bedeutsam. Wir danken Verteidigungsmi-
nister de Maizière, dass er hier Klarheit geschaffen hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Selbstverständlich richtet sich unser Dank auch an die
zivilen Helferinnen und Helfer in Afghanistan. Wir kön-
nen die weitere Reduzierung unseres ISAF-Kontingents
verantworten, weil selbsttragende afghanische Sicher-
heitsstrukturen Gestalt annehmen. Der Transformations-
prozess verläuft planmäßig. Schon jetzt tragen in 76 Pro-
zent der Fläche Afghanistans afghanische Kräfte die
Hauptverantwortung für die Sicherheitslage, in unserem
Einsatzgebiet in vier von fünf Distrikten.

Die von Deutschland mit Nachdruck betriebene Aus-
bildung afghanischer Sicherheitskräfte hat die schritt-
weise Übernahme der Sicherheitsverantwortung durch
afghanische Kräfte entscheidend mit ermöglicht. Die af-
ghanischen Kräfte werden aber auch über 2014 hinaus
Ausbildung, Beratung und Unterstützung brauchen. Wir
werden uns nach dem Aufwuchs der afghanischen
Kräfte insbesondere um ihr Fähigkeitsprofil kümmern
müssen. Zu diesem Zweck plant die NATO eine Folge-
mission auf Grundlage eines neuen UN-Mandates. Die
schwer erarbeitete Sicherheit des Landes und die Selbst-
ständigkeit der afghanischen Kräfte müssen konsolidiert
werden. Die CDU/CSU unterstützt deshalb die Planun-
gen für eine neue Ausbildungs-, Beratungs- und Unter-
stützungsmission nach 2014.

Die Reduzierung unseres Bundeswehrkontingents
birgt aber auch Herausforderungen. Der ISAF-Auftrag,
also Stabilisierung und Ausbildung, muss fortgeführt
werden. Gleichzeitig läuft die Rückverlegung von Mate-
rial und Personal. Zudem muss die internationale Nach-
folgemission zur kontinuierlichen Ausbildung und Befä-
higung der afghanischen Sicherheitskräfte vorbereitet





Dr. Andreas Schockenhoff


(A) (C)



(D)(B)


werden. Aufgrund dieses breiten Aufgabenspektrums bis
zum Ende der Mission muss die militärische Handlungs-
fähigkeit bis Ende 2014 gewährleistet bleiben, um den
Schutz unserer Soldaten nicht zu gefährden. Das ist für
die CDU/CSU zentral, und das ist im Mandat sicherge-
stellt.

Auch nach dem Ende des ISAF-Einsatzes bleiben wir
den Menschen in Afghanistan verpflichtet. Die Transfor-
mation eines der ärmsten und am wenigsten entwickel-
ten Länder der Welt ist eine Generationenaufgabe. Unser
Engagement wird sich qualitativ verändern, aber es ist
und bleibt langfristig und wird sich in der Transformati-
onsdekade von 2014 bis 2024 noch mehr auf die zivile
Hilfe konzentrieren. Ohne weitere Entwicklung wird es
keine dauerhafte selbsttragende Sicherheit in Afghanis-
tan geben.

Verpflichtet fühlen wir uns auch den afghanischen
Ortskräften, die viele Jahre einen guten Dienst für unser
Engagement geleistet haben. Es ist richtig, dass die Bun-
desregierung gewissenhaft prüft, ob sie nach dem Ende
ihrer Arbeit für die internationale Gemeinschaft unver-
tretbar bedroht sind und deshalb zu ihrem Schutz nach
Deutschland kommen können.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weshalb bedroht? Ich denke, es ist alles sicher!)


Die Bundeswehr setzt seit einiger Zeit in Afghanistan
von Israel geleaste Drohnen zur Aufklärung ein. Der
Vertrag mit Israel läuft 2014 aus. Lieber Herr Kollege
Arnold, Sie haben völlig recht, wenn Sie wörtlich sagen:
Die Zukunft gehört der Drohnentechnologie. – Deshalb
halte ich die Anschaffung eines eigenen Systems von
Drohnen für die Bundeswehr, das beispielsweise mit
Frankreich und anderen europäischen Partnern entwi-
ckelt wird, für richtig und notwendig,


(Zuruf von der LINKEN: Unglaublich!)


und zwar nicht nur Aufklärungs-, sondern auch bewaff-
nete Drohnen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Schwätzer! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Ja, klar! – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Auch Killerdrohnen? – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Killerdrohnen! – Dr. Rolf Mützenich [SPD]: Das ist aber leichtfertig!)


Aber ich sage auch: Die technologische Möglichkeit
des Einsatzes von Drohnen wird erhebliche Veränderun-
gen für unsere Sicherheitspolitik bedeuten. Ich will nur
drei Beispiele nennen:

Erstens. Wenn wir in einer spezifischen Situation ab-
schrecken wollen, allerdings keine Kampftruppen oder
Kampfflugzeuge einsetzen, aber dennoch auch aus eige-
nem Sicherheitsinteresse unsere Partner mit eigenen mi-
litärischen Beiträgen unterstützen wollen, wären bewaff-
nete Drogen,


(Vereinzelt Lachen)


wären bewaffnete Drohnen eine neue Option.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Bewaffnete Drogen wollen wir gar nicht! – Gegenruf des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Seit wann?)


– Das Thema ist zu ernst, Herr Kollege Trittin, als dass
Sie es in der Ihnen bekannten Art hier abtun sollten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist wohl wahr!)


Zweitens. Wenn der Kollege Arnold sagt, am liebsten
wäre es ihm, wenn es eine gemeinsam verfügbare euro-
päische Fähigkeit bei Drohnen gäbe, dann stellt sich für
unsere Partner sehr schnell die Frage nach der Verfüg-
barkeit und der politischen Verlässlichkeit und damit
auch die Frage nach den Auswirkungen auf die Beteili-
gung des Deutschen Bundestages.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die Drohnen sind später dran!)


Drittens. Ich nehme die moralischen Bedenken, die
insbesondere von kirchlichen Vertretern geäußert wer-
den, sehr ernst;


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ehrlich?)


auch sie gehören in eine Sicherheitsdiskussion, die wir
führen müssen. Aber nicht akzeptabel ist, dass zu neuen
militärischen Optionen, die es im Übrigen künftig in al-
len großen Armeen geben wird, gleich grundsätzlich
Nein gesagt wird, ohne dass eine sicherheitspolitische
Diskussion geführt wird.


(Jürgen Trittin [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sagen erst mal Ja!)


Denn das Argument von Verteidigungsminister de
Maizière wiegt schwer. Er sagt:

Unbemannte, bewaffnete Luftfahrzeuge unterschei-
den sich in der Wirkung nicht von bemannten. Im-
mer entscheidet ein Mensch …


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach ja? Sagen Sie das den Getöteten!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, dieses Beispiel in
der Diskussion über Drohnen zeigt erneut: Wir brauchen
eine regelmäßige Generaldebatte zur sicherheitspoliti-
schen Lage Deutschlands.


(Stefan Rebmann [SPD]: Na, dann mal los!)


Eine solche Debatte kann und soll unsere Debatten über
die jeweiligen Mandate nicht ersetzen.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wollen Sie in Afghanistan Drohnen einsetzen, oder um was geht es jetzt hier?)


Aber sie gäbe uns die Möglichkeit, über Mandatsfragen
hinausgehende sicherheitspolitische Aspekte grundsätz-
lich zu debattieren. Hier besteht großer Bedarf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Frank-Walter Steinmeier Dr. Andreas Schockenhoff [SPD]: Da hat Ihnen wohl einer die falsche Rede mitgegeben! – Stefan Rebmann [SPD]: Thema verfehlt!)





(A) (C)


(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721900600

Das Wort erhält der Kollege Paul Schäfer, Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Jetzt kommt mal ein guter Redner!)



Paul Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721900700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke

lehnt die Fortsetzung des Militäreinsatzes in Afghanistan
ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Diese Regierung redet inzwischen gern vom Abzug,
handelt aber nicht konsequent in diesem Sinne. Sie zö-
gert und zaudert; der vorliegende Antrag bestätigt das.
Gerade einmal 25 Prozent des jetzigen Kontingents sol-
len das Land am Hindukusch bis Anfang 2014 verlassen
haben, und das nur, wenn die Bedingungen es zulassen.
Zugleich werden mal eben neue Kampfhubschrauber
nach Afghanistan verlegt. Ein wirklicher Truppenabzug
sieht anders aus.


(Beifall bei der LINKEN)


Nötig wäre es, die Bundeswehr vollständig, so rasch
wie möglich, ohne Vorbedingungen und ohne eine Hin-
tertür zur Fortsetzung des Krieges zurückzuholen. Das
müsste gemacht werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, noch schlimmer als der
zögerliche Abzug ist, dass die Vorbereitungen und Pla-
nungen für das Folgemandat nach 2014 längst im Gange
sind. Man darf eigentlich nicht „Folgemandat“ sagen; es
soll ja etwas ganz Neues werden. Beschwichtigend heißt
es in diesem Zusammenhang: Keine Kampfoperationen
mehr. – Ist ernsthaft damit zu rechnen,


(Dr. Rainer Stinner [FDP]: Ja!)


dass jegliche militärisch-operative, logistische Unter-
stützung zur sogenannten Aufstandsbekämpfung einge-
stellt werden wird?

Bestenfalls im Kleingedruckten findet sich der Hin-
weis, dass die Operationen der US-Spezialkräfte gegen
die Terroristen weitergehen werden, also genau die
Kampfeinsätze an der afghanisch-pakistanischen Grenze
– Drohneneinsatz inklusive –, die das Völkerrecht unter-
laufen, die neuen Hass erzeugen und die für das bishe-
rige militärische Versagen stehen. Dieser Ansatz ist ge-
scheitert und damit auch die NATO, die diese Politik
getragen hat. Warum also soll man in dieser Weise wei-
termachen?


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, es ist Zeit für eine klare
Zäsur, für einen zivil geprägten Aufbauplan, den die Af-
ghaninnen und Afghanen verantworten und bei dem die

Vereinten Nationen endlich an die erste Stelle gerückt
werden. Ja, Selbstbestimmung der Afghaninnen und Af-
ghanen statt Fremdbestimmung, das ist ein zentraler
Punkt.

Nun kann man einwenden, gerade die Linke kritisiere
doch besonders scharf die inneren Verhältnisse in Afgha-
nistan. Wie passt das zusammen? Richtig: Der jüngste
UNAMA-Bericht zeichnet ein düsteres Bild von der
Lage der Gefangenen in Afghanistan. Viele werden
misshandelt, ja gefoltert. Vorsichtig verallgemeinert: Es
steht in Afghanistan nicht allzu gut um die Menschen-
rechte, auch nicht um die Frauenrechte.

Oder lesen Sie die jüngsten Berichte des UNO-Büros
für die Koordination humanitärer Angelegenheiten oder
auch des Feinstein International Center. Beiden Quellen
zufolge hat sich die humanitäre Lage in Afghanistan in
den letzten Jahren verschlechtert. Nur eine Zahl: Die
Anzahl der Menschen, die unter akuter Unterernährung
leiden, ist zwischen 2008 und 2011 noch einmal gestie-
gen. In den am meisten leidenden Regionen betraf das
31 Prozent der Bevölkerung. Auch die Zahl der Binnen-
flüchtlinge ist in diesem Zeitraum noch einmal gestie-
gen.

Last, not least: Korruption und Günstlingswirtschaft
prägen nach wie vor die politischen Institutionen und das
öffentliche Leben. Es ist der bis heute wirkende Fluch
der bösen Tat, dass man vor allem mit denjenigen pak-
tiert hat, denen es um Machterhalt geht. Genau damit hat
man die Ursachen von Not und Rückständigkeit perpe-
tuiert.

Trotz alledem setzen wir unsere Hoffnungen auf die
Afghaninnen und Afghanen; denn nur von innen heraus
wird eine nachhaltig-demokratische Entwicklung mög-
lich sein.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann und muss von außen helfen – aber bitte mit
den richtigen Konzepten. Gerade deshalb ist es so wich-
tig, scharf zu analysieren und zu kritisieren, was alles
falsch gelaufen ist. Aber ich füge auch eines hinzu: Die
Ausgangslage heute – es gibt erste Verhandlungsansätze,
Wahlen stehen bevor, und der Truppenabzug ist zumin-
dest eingeleitet worden – bietet durchaus Chancen, die
Dinge zum Besseren zu wenden.

Was die Bundesregierung jetzt tun könnte, tun
müsste, ist erstens energisch mithelfen, dass noch vor
den Wahlen 2014/2015 eine Verhandlungslösung er-
reicht wird. Ein konsequenter Truppenabzug der NATO
ist dabei ebenso eine Conditio sine qua non wie eine Be-
endigung der Militäraktionen unter Enduring Freedom.

Zweitens muss sich die Bundesregierung dafür einset-
zen, dass die Federführung der auswärtigen Hilfe beim
Friedens- und Aufbauprozess nicht nur formal, sondern
auch materiell unter das Dach der UNO gebracht wird.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Vergangenheit hat gezeigt: Zu viele Köche verder-
ben den Brei.





Paul Schäfer (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Drittens sollte die Bundesregierung ratgebend und
nicht bevormundend auf die Karzai-Regierung einwir-
ken, damit diese versucht, alle gesellschaftlichen und
politischen Kräfte des Landes an einen Tisch zu bringen.
Ein alle einschließender Friedensplan wird nur gelingen,
wenn ein demokratischeres Wahlrecht und eine Verfas-
sungsreform, die den Menschen auf lokaler Ebene mehr
Mitwirkungsrechte gibt, vereinbart werden. Das könnte
die Basis dafür sein, den bewaffneten Konflikt in einen
politischen zu transformieren. Und dieser politische Pro-
zess ist entscheidend – nicht das Militär – bei der Frage,
ob Afghanistan wieder im Chaos versinkt oder ob es mit
dem Land vorwärtsgeht.

Danke für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Sehr gute Rede!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721900800

Frithjof Schmidt ist der nächste Redner für die Frak-

tion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
internationale Gemeinschaft hat sich seit der Londoner
Konferenz Anfang 2010 mehrfach dazu bekannt, den
ISAF-Einsatz in Afghanistan bis Dezember 2014 zu be-
enden und die Kampftruppen abzuziehen.

Meine Fraktion hat diese Linie unterstützt. Es war
und ist richtig, den Abzug im Geleitzug mit unseren
Partnern schrittweise umzusetzen. Deshalb haben wir
uns deutlich gegen alle Forderungen nach einem schnel-
leren Abzug gewandt. Da gab es einen Konsens mit den
Regierungsfraktionen und der SPD, für den wir öffent-
lich gemeinsam geworben haben. Das war gut so, gerade
auch im Interesse der Soldatinnen und Soldaten im Ein-
satz, denen unser Dank gebührt.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN, der CDU/CSU, der SPD und der FDP)


Das Mandat, das Sie uns jetzt vorlegen, ist das erste
Mandat, das die Abzugsphase einleitet und – gegebenen-
falls – auch den Übergang zu einer Nachfolgemission
vorbereitet. Das ist eine neue Qualität, eine neue Aufga-
benstellung, und daran muss dieses Mandat gemessen
werden. Herr de Maizière, Sie haben vor über einem Jahr
hier im Plenum angekündigt, dass Sie 2012 eine Planung
für den Abzug der Bundeswehr vorlegen werden.

Sie haben gesagt – ich darf zitieren –:

Deswegen werden wir im Laufe des nächsten Jah-
res darüber diskutieren und die Pläne transparent
vorlegen.

Das, was Sie uns heute präsentieren, erfüllt dieses
Versprechen nicht einmal annähernd, im Gegenteil.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der SPD)


Sie möchten die Obergrenze der Stationierung bis zum
1. März 2014 lediglich auf 4 400 Soldatinnen und Solda-
ten reduzieren. Nur in der Begründung kündigen Sie den
Wunsch an, die Truppengröße möglichst auf 3 300 abzu-
senken, wenn die Umstände es erlauben. Das bedeutet,
dass am 1. März 2014 noch mindestens 3 300 Bundes-
wehrangehörige in Afghanistan stehen werden; es kön-
nen auch noch mehr sein. Diese Zahlen sind doch viel zu
hoch. Dann verbleiben gerade noch neun Monate bis
zum Ende von ISAF.

Natürlich könnte man technisch in knapp neun Mona-
ten dort auch über 3 000 Soldaten abziehen. Wenn man
viel Material einfach stehen lässt, eine überstürzte Optik
– um nicht zu sagen: eine fluchtartige Anmutung – nicht
scheut, dann geht das vielleicht. Der politische Effekt
wäre verheerend und destabilisierend, und deswegen ha-
ben Sie das offensichtlich auch nicht vor.

Die hohen Zahlen im Mandat sind objektiv darauf
ausgelegt, dass die Bundeswehr auch 2015 mit einer
deutlich vierstelligen Zahl in Afghanistan im Einsatz
bleiben soll. Das verfestigt den Eindruck, dass Sie sich
vom Ziel eines vollständigen Abzuges der Kampftrup-
pen schon unausgesprochen verabschiedet haben. Wenn
Sie so etwas anstreben, dann sollten Sie das hier und
heute auch klar aussprechen. Das gehört nämlich zur
Mandatswahrheit und -klarheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Frage ist doch: In welcher Größenordnung strebt
die Bundesregierung eine Beteiligung an einer geplanten
Ausbildungsmission nach 2014 an? Dass Sie hohe Zah-
len anstreben, zeigt Ihre Reaktion auf die Überlegungen
in der Obama-Administration hinsichtlich verschiedener
Optionen für einen substanziellen Abzug der amerikani-
schen Truppen 2014. Da gab es scharfe Kritik durch
Sprecher der Bundesregierung an den USA, das sei reali-
tätsfern. Das war kein Versehen.

Sie präjudizieren mit diesem Mandat, dass auch 2015
eine deutlich vierstellige Zahl von Bundeswehrtruppen
in Afghanistan bleibt. Das Mandat schafft politische und
militärische Sachzwänge, und das heißt de facto auch
vollendete Tatsachen für die Zeit nach 2014. Aber Sie
tun gegenüber der Öffentlichkeit so, als wäre da gar
nichts.

Diese Verwirrspiele mit Zahlen und Absichten er-
schüttern das Vertrauen der Bevölkerung in die Wahrhaf-
tigkeit der Mandate, die wir hier beschließen.

Aus all diesen Gründen wird die große Mehrheit mei-
ner Fraktion diesem Mandat heute nicht zustimmen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721900900

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Djir-Sarai

das Wort. Bitte schön.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Bijan Djir-Sarai (FDP):
Rede ID: ID1721901000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir befin-

den uns aus unserer Sicht am Anfang vom Ende eines
langen, schwierigen, aber erfolgreichen Weges in Afgha-
nistan. Wir befinden uns im Abschlusskapitel eines lan-
gen Einsatzes in diesem Land. Viele unserer Maßnah-
men und Initiativen waren erfolgreich, andere wiederum
bitter und lehrreich.

Herr Kollege Schmidt, ich schätze Sie sehr; das wis-
sen Sie auch aus Gremienarbeit und Ausschusssitzun-
gen. Aber es ist an der Stelle wichtig, zu sagen: Die deut-
sche Bundesregierung hat immer dafür plädiert, eine
verantwortungsvolle Übergabe der Sicherheitsverant-
wortung an die afghanischen Sicherheitskräfte zu entwi-
ckeln. Diese scheint nun bis Ende 2014 vollzogen wer-
den zu können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Unsere erfolgreiche Operation erlaubt nun eine wei-
tere Reduzierung der Soldatinnen und Soldaten vor Ort.
Deswegen wird in dem Antrag die Personalobergrenze
von ursprünglich knapp 5 000 Mann auf 4 400 gesenkt.
Außerdem wird angestrebt – das haben die Vorredner
schon gesagt –, in den nächsten Monaten nochmals
1 100 Soldaten abzuziehen, sofern es die Umstände er-
lauben.


(Paul Schäfer [Köln] [DIE LINKE]: Und wenn nicht?)


Die Zahl der Streitkräfte umfasst schon Personal für
Rückbau und Logistik. Wir sind daher auf dem richtigen
Weg.

Die zweite wichtige Änderung in diesem Antrag be-
trifft die Mandatsdauer. Die Laufzeit des Mandats soll
13 Monate betragen. Dieser zusätzliche Monat gibt den
Soldaten Planungssicherheit. Dadurch kann man näm-
lich nach der Bundestagswahl in Ruhe und mit Sorgfalt
ein neues Mandat erarbeiten, ohne dass sich dies mit der
Organisation eines neu gewählten Parlaments über-
schneidet.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Übergabe der Ver-
antwortung an die Afghanen ist weder einem populisti-
schen „Raus aus Afghanistan“ noch Desinteresse geschul-
det, sondern sie ist das Ergebnis einer effektiven deutschen
Afghanistan-Politik. Wir machen in Afghanistan weiter,
aber das ist kein Weiter-so.

Die deutsche Afghanistan-Strategie basiert auf zwei
Säulen: zum einen auf der Garantie der Sicherheit der af-
ghanischen Bevölkerung durch unsere Soldatinnen und
Soldaten, zum anderen auf der deutschen Entwicklungs-
zusammenarbeit, die den Menschen das Leben erleichtert.

Wenn wir uns die erste Säule anschauen, so stellen wir
fest: Die Sicherheitslage verbessert sich allgemein von
Jahr zu Jahr. Die afghanischen Streitkräfte sind kontinu-
ierlich besser geworden. Unsere Ausbildung fruchtet. Im
Norden des Landes agieren bereits heute afghanische Si-

cherheitskräfte selbstständig, und die ISAF-Kräfte müs-
sen diese nur noch punktuell unterstützen. Ein sicheres
Afghanistan stärkt zusätzlich die Sicherheit in der ganzen
Region.

Leider muss man immer wieder Rückschläge ertra-
gen, wie die jüngsten Vorwürfe von Folter in afghani-
schen Polizeidienststellen offenbaren. Jegliche Art von
Folter ist aufs Schärfste zu verurteilen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Allerdings zeigt die Anordnung Präsident Karzais, diese
Schreckenstaten unverzüglich zu untersuchen, den Men-
talitätswandel, der vor zehn Jahren in Afghanistan noch
undenkbar gewesen wäre. Folter ist unentschuldbar und
wird nicht geduldet, sondern bekämpft – auch in Afgha-
nistan.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Freunde, die zweite Säule, die deutsche Ent-
wicklungszusammenarbeit, gibt den Afghanen Hoffnung
und hilft ihnen in ihrem alltäglichen Leben. Durch das
Ineinandergreifen von Schutz und Fürsorge zeigen wir
den Einwohnern, dass sie uns vertrauen können, dass wir
für sie da sind. Dies spiegelt sich nicht zuletzt in den
rund 180 Millionen Euro wider, die wir im nächsten
Haushalt für Afghanistan bereitstellen. So sind Hilfsleis-
tungen auch in der Zukunft gesichert.

Wir werden unsere Soldatinnen und Soldaten Ende
2014 aus dem Land abziehen, aber wir werden dieses
Land nicht fallen lassen. Deutschland ist einer der wich-
tigsten Partner in Afghanistan, und wir werden es auch
bleiben – auch nach 2014. Wir werden dieses Land nie
mehr alleine lassen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, die deutschen Streitkräfte
haben zusammen mit unseren Verbündeten für ein demo-
kratisches Afghanistan gekämpft, für die Gleichberechti-
gung von Mann und Frau in Afghanistan, für ein freies
und sicheres Land. Dafür möchte ich mich im Namen
der FDP-Bundestagsfraktion an dieser Stelle auch bei
den Soldatinnen und Soldaten ganz herzlich bedanken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721901100

Das war ein sehr guter Schlusssatz, Herr Kollege.


Bijan Djir-Sarai (FDP):
Rede ID: ID1721901200

Ein letzter Satz, Herr Präsident. – Mit der hier zu be-

schließenden Mandatsverlängerung geben wir unseren
Soldaten und der afghanischen Bevölkerung Sicherheit,
Stabilität und Selbstbestimmung. Daher bitte ich die Kol-
leginnen und Kollegen, für diesen Antrag zu stimmen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721901300

Zu einer Kurzintervention erhält der Kollege Ströbele

das Wort.


(Jürgen Hardt [CDU/CSU]: Zwischenrede! – Gegenruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben es doch erwartet!)



(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Ich habe festgestellt, dass der zustän-
dige Minister heute hier offenbar nicht zu diesem Thema
reden wird. Es ist Krieg in Afghanistan; Deutschland
führt Krieg in Afghanistan. Gegen den Willen der deut-
schen Bevölkerung führt Deutschland Krieg in Afgha-
nistan, und der zuständige Minister leistet keinen Beitrag
dazu, die Kriegslage in Afghanistan hier mit einem Be-
richt darzulegen.

Wie viele Tote gab es seit der letzten Befassung des
Deutschen Bundestages im deutschen Bereich in Afgha-
nistan? Wie häufig wurden die Kampfdrohnen einge-
setzt, die im deutschen Gebiet seither stationiert worden
sind? Wie geht es weiter? Welche Drohnen werden in
Zukunft eingesetzt?

Sie, Herr Minister, können es offenbar kaum erwar-
ten, dass Deutschland über Kampfdrohnen verfügt und
Sie sie auch in Afghanistan einsetzen können. Ich er-
warte, dass Sie dazu Stellung nehmen und auch dazu,
warum Sie noch vor einem Jahr erklärt haben, dass in
Afghanistan auf Verhandlungen gesetzt wird, aber jetzt
niemand mehr von Verhandlungen redet. Sie reden nicht
von Verhandlungen, niemand redet von Verhandlungen.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das stimmt doch gar nicht!)


Ohne Verhandlungen werden wir alle Ende des Jahres
2014 da stehen, wo wir heute stehen, wo wir vor zwei
oder fünf Jahren gestanden haben.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist unwahr!)


Es gibt dann zwei Möglichkeiten, die beide schreck-
lich sind, die beide schlimmer sind als die jetzige Situa-
tion: Entweder es gibt wieder einen fürchterlichen Bür-
gerkrieg in Afghanistan, oder der Krieg wird verlängert,
der NATO-Krieg dauert an. Ich erwarte, Herr Minister,
dass Sie zu all diesen Fragen hier im Parlament Stellung
nehmen. Ich und die deutsche Bevölkerung erwarten das
von Ihnen.


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: „Ich und die deutsche Bevölkerung“! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721901400

Das Selbstbewusstsein ist in diesem Hause im Allge-

meinen relativ breit entwickelt. – Nun hat zu einer weite-
ren Kurzintervention der Kollege Schockenhoff das
Wort.


Dr. Andreas Schockenhoff (CDU):
Rede ID: ID1721901500

Herr Kollege Ströbele, in der ersten Lesung zu dieser

Mandatsverlängerung haben sowohl der Außenminister
als auch der Verteidigungsminister ausführlich Stellung
genommen. In den Ausschüssen wird regelmäßig unter-
richtet. Auch in unserer Fraktion wird regelmäßig über
dieses Thema gesprochen. Ich gehe davon aus, dass das
auch in Ihrer Fraktion der Fall ist.

Weil das Parlament unsere Soldaten entsendet, hat
sich die CDU/CSU-Fraktion entschlossen, bei der zwei-
ten Lesung die Redezeit unter den Kolleginnen und Kol-
legen aus den betroffenen Fachausschüssen zu verteilen.
Wenn Sie von Ihrer Fraktion aus gegebenem Anlass
keine Redezeit bekommen, bitte ich Sie, das dort zu klä-
ren und uns damit nicht hier im Plenum zu belästigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber dann hätten Sie Ihren Beitrag ja auch streichen müssen, Herr Schockenhoff! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Das ist ja nur noch peinlich: „Ich und die deutsche Bevölkerung“!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721901600

Nächster Redner ist der Kollege Lars Klingbeil für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lars Klingbeil (SPD):
Rede ID: ID1721901700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Und wie ich gerade gelernt habe: Liebe
Freunde! Große Teile der SPD-Fraktion werden diesem
Mandat zustimmen. Dieses Mandat ist ein Meilenstein.
Das Mandat steht für den Übergang von einer Kampf-
handlung hin zu einem Mandat der Ausbildung. Es steht
für die Übergabe der Verantwortung. Dieses Mandat
markiert deutlich den beginnenden Abzug deutscher Sol-
datinnen und Soldaten aus Afghanistan.

Ich sage aber auch: Dieses Mandat muss uns alle er-
mahnen, dass wir unsere Verantwortung, die wir für und
in Afghanistan übernommen haben, nicht vergessen, und
uns daran erinnern, dass diese Verantwortung noch lange
nicht vorbei ist.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es ist richtig, dass wir hier im Parlament einen breiten
Konsens suchen, wenn es um die Verlängerung von Bun-
deswehrmandaten geht. Herr Schockenhoff, als ich Ihre
Rede gehört habe und Sie von Drohnen gesprochen ha-
ben, da dachte ich erst, ich hätte mich auf das falsche
Mandat vorbereitet. Ich habe dann noch einmal nachge-
schaut und habe gesehen: Sie haben sich auf die falsche
Debatte vorbereitet. Über die Drohnen wird an anderer
Stelle diskutiert.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das war kein hilfreicher Beitrag, um hier im Parlament
eine breite Mehrheit für ein solches Mandat zu erzielen.





Lars Klingbeil


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir als Deutscher Bundestag Mehrheiten im
Parlament suchen, dann hat das etwas mit Tradition und
auch mit der Verantwortung zu tun, die wir gegenüber
Soldatinnen und Soldaten, die wir ins Ausland schicken,
wahrzunehmen haben. Ich will auch im Namen meiner
Fraktion an dieser Stelle all denen danken, die sich in
Afghanistan engagiert haben und dies bis 2014 und da-
rüber hinaus noch tun werden. Ihr Einsatz verdient größ-
ten Respekt von uns allen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn wir heute ein Mandat auf den Weg bringen, das
für 13 Monate gilt, dann hat auch dies unsere Unterstüt-
zung. Der nächste Bundestag, der veränderte Mehrheiten
haben wird, hat dadurch Zeit, sich in eine schwierige
Problematik, in ein komplexes Thema einzuarbeiten und
dann weise Entscheidungen zu fällen.

Eine solche Mandatsentscheidung dokumentiert aber
auch hier im Parlament immer wieder unsere Verantwor-
tung. Wir alle müssen uns heute, wenn wir abstimmen,
fragen, ob wir bis zu diesem Zeitpunkt alles unternom-
men haben, um die Soldatinnen und Soldaten und Zivil-
beschäftigten, die wir ins Ausland schicken, im Hinblick
auf die Ausbildung, die Ausrüstung und das Umfeld
ausreichend vorzubereiten. Dann ist es auch egal, ob wir
4 400 Soldatinnen und Soldaten nach Afghanistan
schicken oder ob am Ende dieses Mandates nur noch
3 300 Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan sein
werden. Ich sage Ihnen: Solange auch nur ein deutscher
Soldat in Afghanistan ist, haben wir als Parlament un-
sere Verantwortung umfassend wahrzunehmen.

Wenn wir nach Afghanistan blicken, müssen wir ein-
gestehen, dass es bei weitem nicht nur Erfolgsmeldun-
gen sind, die uns erreichen. Wir alle mussten, glaube ich,
in den letzten Jahren lernen, dass es viel schwieriger ist,
ein Land aufzubauen, als Terroristen zu vertreiben, dass
es schwieriger ist, ein Land aufzubauen, als ein Regime
zu stürzen, das Terroristen unterstützt. Diese Lektion
mussten wir als Parlament gemeinsam lernen. Wir wis-
sen heute, wie langatmig, wie anstrengend, aber auch
wie schmerzlich eine solche Mission sein kann, wenn es
um den Wiederaufbau eines Landes geht. In Afghanistan
mussten wir diesen Schmerz viel zu häufig ertragen.

Die Übergabe in Verantwortung, die wir heute auf den
Weg bringen, ist ein Meilenstein. Die Präsidentschafts-
wahl 2014 wird ein markanter Punkt auf diesem Weg
sein. Dann wird sich zeigen, wie stabil Afghanistan ist
und wie die inneren Zustände sind. Wir alle hoffen, dass
diese Wahl fair verläuft und dass alle Menschen in
Afghanistan beteiligt werden. Aber wir müssen auch
wachsam sein, weil gerade die Präsidentschaftswahl ein
Zeitpunkt sein kann, an dem die Stimmung in Afgha-
nistan kippt.

Es war richtig, dass wir einen Korridor für den Abzug
definiert haben. Ich will an dieser Stelle erwähnen, dass
es die SPD-Bundestagsfraktion war, die mit großen Kon-

gressen und einer Taskforce Afghanistan/Pakistan, die
über zweieinhalb Jahre getagt hat, genau diese Forde-
rung früh erhoben hat. Unser damaliger Außenminister
Frank-Walter Steinmeier hat die Definition eines solchen
Korridors auf den Weg gebracht. Wir haben den Afgha-
nen das Signal gegeben: Liebe Freunde, wir helfen euch,
aber strengt euch an, dass ihr bald die Verantwortung
selbst übernehmen könnt.

Die Konferenz in London – sie ist bereits genannt
worden – und der Gipfel in Chicago waren wichtig, weil
wir dort mit unseren Partnern einen gemeinsamen Weg
vereinbart haben. Jetzt sehen wir aber, dass der amerika-
nische Präsident von diesem Weg ein Stück weit abrückt.
Ich hätte mir gewünscht, dass der Verteidigungsminister
und der Außenminister heute hier im Parlament erklärt
hätten, was es eigentlich bedeutet, wenn die Amerikaner
frühzeitig auf Ausbildung, Beratung und Unterstützung
der afghanischen Kräfte umsteigen wollen. Was bedeutet
das für das Mandat, das wir heute auf den Weg bringen,
und welche Folgen ergeben sich für das deutsche Enga-
gement? Wir wissen, dass wir auch nach 2014 in Afgha-
nistan aktiv sein werden. Die Soldatinnen und Soldaten
werden dann in einer völlig neuen Mission unterwegs
sein. Ich hätte mir auch hierzu einige Worte des Minis-
ters gewünscht.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es bleiben Fragen
offen, die wir hier im Parlament klären müssen. Ich wün-
sche mir, dass die Opposition dabei eingebunden wird,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wir lassen uns nicht einbinden!)


damit ein parlamentarischer Konsens erhalten bleibt.
Wir alle wissen: In Afghanistan ist noch eine lange Stre-
cke zu gehen. Wir haben als Deutscher Bundestag 2001
Verantwortung in Afghanistan übernommen, die weiter-
besteht, auch wenn keine Soldatinnen und Soldaten
mehr im Land sind. Wenn weniger Militär da ist, rückt
das Zivile in den Vordergrund. Ich ermahne uns alle,
dass das nicht dazu führen darf, dass wir im Bereich der
zivilen Mittel kürzen.

Die letzten Wochen haben gezeigt, dass unsere Auf-
merksamkeit hoch bleiben sollte, wenn es um Auslands-
einsätze geht. Wir reden inzwischen auch über Mali. Das
hätten wir vor wenigen Monaten nicht gedacht. Deswe-
gen finde ich den mehrfach in der Diskussion angespro-
chenen Punkt wichtig, dass wir als Parlament die sicher-
heitspolitische Diskussion befördern müssen, dass wir
dafür sorgen müssen, dass hier in der Kernzeit über
Mandate diskutiert wird. Ich wünsche mir, dass sich
mehr Kolleginnen und Kollegen an dieser sicherheits-
politischen Diskussion beteiligen. Das sind wir denen
schuldig, die wir ins Ausland schicken.

Vielen Dank fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721901800

Das Wort erhält nun der Kollege Roderich

Kiesewetter für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1721901900

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion unterstützt in voller Überzeu-
gung die Fortsetzung des ISAF-Mandats. Wir möchten
hier in aller Klarheit sagen: Dieses Mandat beinhaltet
eine ganze Reihe von Chancen.

Worin bestehen die Chancen? Zunächst einmal darin,
dass wir deutlich machen: Zum Ende des Jahres 2014
werden unsere Truppen dort keinen Kampfauftrag mehr
haben.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ganz sicher?)


Die Übergabe in Verantwortung beinhaltet die Übergabe
von Vertrauen und auch, zuzulassen, dass die Afghanen
ihr Schicksal selbst in die Hand nehmen. Das heißt für
uns, uns schrittweise zurückzunehmen. Wir erleben seit
2011, dass die Afghanen schrittweise die Verantwortung
in einzelnen Regionen übernommen haben, mittlerweile
in 75 Prozent des Landes. Deshalb, lieber Herr Kollege
Schmidt von den Grünen, weise ich Ihren Vorwurf der
versteckten Überhöhung und der versteckten Fortset-
zung des Kampfauftrags eindeutig zurück. Wir haben in
unserer Fraktion darum gerungen – zuletzt im Novem-
ber, als wir einen großen Fraktionskongress zu diesem
Thema durchgeführt haben –, ob wir zwei Mandate ein-
holen, eines zum Rückbau und eines zur Fortsetzung des
jeweiligen Auftrags. Wir sind vollkommen überzeugt
davon, dass man die Verantwortung nicht teilen kann. Es
ist wichtig, dass wir mit einer großen Anzahl fähiger
Soldatinnen und Soldaten in Afghanistan sind, weil wir
nämlich Leitnation im Norden sind. Das wird immer
wieder vergessen. Wir sind Leitnation und damit verant-
wortlich für den Rückzug und den Rückbau von 18 Part-
nerstaaten, die uns im Einsatz unterstützen. Auch das ge-
hört zu unserer Verantwortung und zur deutschen
Sicherheitspolitik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich möchte deshalb noch einmal dringend bei Ihnen da-
rum werben: Geben Sie sich einen Ruck! Enthaltung ist
kein Bekenntnis.

Ich möchte in der verbleibenden Zeit noch ein Zwi-
schenfazit ziehen: Was hat uns dieser Afghanistan-Ein-
satz nach über zehn Jahren zu sagen? Was bleibt zurück,
außer dass wir wissen, dass unser Engagement weiter-
geht, wenn es auch verstärkt zivilen Charakter haben
wird? Ich möchte vier Punkte ansprechen, die mir am
Herzen liegen.

Erstens. Wenn wir die Situation von vor zehn Jahren
mit der heutigen vergleichen, dann sehen wir, wie eng
die Entwicklungszusammenarbeit, die Arbeit der Nicht-
regierungsorganisationen, die Arbeit der GIZ und der
Kreditanstalt für Wiederaufbau, mit der Rolle der Bun-
deswehr im Rahmen der vernetzten Sicherheit, der Absi-
cherung durch das Militär verwoben ist. Der vernetzte
Ansatz ist das, was wir aus den vergangenen zehn Jahren
mitnehmen.

Zweitens. Wir haben gelernt, einen Einsatz vom Ende
her zu denken. Vom Ende her zu denken, heißt, politi-
sche Ziele zu setzen.


(Unruhe)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721902000

Einen Augenblick, Herr Kollege. – Darf ich die Kol-

leginnen und Kollegen bitten, sich noch einen Augen-
blick zu setzen und den beiden letzten Rednern zu fol-
gen. Es hat noch einen Augenblick Zeit, bis wir zur
namentlichen Abstimmung kommen.


Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1721902100

Vielen Dank, Herr Präsident. – Der Punkt ist, dass wir

eine sicherheitspolitische Strategie brauchen, die ver-
netzt ist, die Entwicklungsaspekte genauso berücksich-
tigt wie die Konflikttransformation und die Absicherung
durch das Militär, wo es geboten ist. Wir denken also
Einsätze vom Ende her. Das zeigt auch die aktuelle De-
batte über Mali, wo wir gemeinsam mit unseren franzö-
sischen Partnern aus dem Einsatz eine europäische Mis-
sion machen sollten.

Drittens. Der regionale Bezug ist ganz entscheidend,
weil wir Afghanistan nicht isoliert betrachten können,
also ohne Pakistan, Iran oder die Staaten im Norden
Afghanistans. Regionaler Bezug bedeutet, dass wir in
der Lage sind, die Gesamtzusammenhänge zu analysie-
ren. Wir müssen mithelfen, dass zum Beispiel Pakistan,
das zunehmend mit Instabilität zu kämpfen hat, ein Part-
ner wird. Das heißt, dass wir immer die Nachbarstaaten
im Blick haben müssen. Das zeigt sich auch bei der ak-
tuellen Debatte über Mali.

Viertens. Wir haben eine neue Tradition in den Streit-
kräften, die der Minister vor zwei Wochen in Bad Rei-
chenhall angesprochen hat. Es waren bisher rund
300 000 Soldaten in Afghanistan. Einige von ihnen sind
mit einer Posttraumatischen Belastungsstörung nach
Hause gekommen. Diese und die allermeisten sind in
dem Bewusstsein wiedergekommen, etwas für den Wie-
deraufbau Afghanistans geleistet zu haben. Es geht um
die Anerkennung derjenigen, die die Bundeswehr verlas-
sen haben und im Auslandseinsatz für unser Land Ver-
antwortung übernommen haben. Ich bin sehr dankbar,
dass wir Bundeswehrveteranen als Anerkennung für de-
ren Leistung unterstützen und damit eine neue Tradition
etablieren. Ich bitte, dass wir uns auch im Parlament ein-
mal darüber unterhalten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wichtig ist auch die Diskussion über die Beschaffung
von bewaffneten Drohnen. Ich kann Herrn Kollegen
Schockenhoff in dieser Hinsicht nur ausdrücklich unter-
stützen. Aber auch Diskussionen über Mali und die Si-
cherheitspolitik insgesamt müssen geführt werden. Wir
müssen davon wegkommen, ausschließlich über ein-
zelne, isolierte Mandate zu diskutieren; vielmehr müssen
wir eine übergreifende Sicherheitspolitik, die sich auf
alle Einsatzgebiete erstreckt, entwickeln. Wir müssen
dieses Thema transparent und in der Öffentlichkeit de-
battieren; da gehört es hin. Wir dürfen dabei nicht die





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)


Anerkennung für diejenigen vergessen, die die Einsätze
durchführen. Hier im Parlament brauchen wir diese si-
cherheitspolitische Gesamtdebatte.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721902200

Letzter Redner ist der Kollege Reinhard Brandl für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1721902300

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Wir diskutieren im Moment fast an jedem Sitzungstag
über Einsätze der Bundeswehr – gestern Mali, heute
Afghanistan.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Schlimm genug!)


So unterschiedlich die Situationen in diesen beiden Län-
dern auch sein mögen, lässt sich doch an den beiden De-
batten unsere Linie einer verlässlichen, berechenbaren
Sicherheitspolitik aufzeigen:


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist wahr!)


Erstens. Wir sind bereit, Verantwortung für die Si-
cherheit in der Welt zu übernehmen, und leisten dazu
auch unseren Beitrag. Zweitens. Wir schreien nicht so-
fort Hurra bei jedem möglichen Einsatz, sondern prüfen
sorgfältig, in welcher Form wir uns beteiligen und was
wir sinnvoll leisten können. Drittens. Wenn die Ent-
scheidung einmal gefallen ist, dass wir uns beteiligen,
dann stehen wir auch dazu. Wir leisten unseren Beitrag
auch über einen längeren Zeitraum verlässlich gegen-
über unseren Bündnispartnern und gegenüber dem Land
sowie den Menschen, für die wir Verantwortung über-
nehmen. Das ist im Kosovo so, und das gilt für das Man-
dat in Afghanistan, über das wir heute entscheiden.

Das bedeutet aber nicht, dass wir zum Beispiel in
Afghanistan auf ewig Hilfe auf dem aktuellen Niveau
leisten können; das will auch niemand. Wir haben des-
wegen schon in 2010 berechenbar und verlässlich mit
den Afghanen vereinbart, dass sie die Sicherheitsverant-
wortung bis 2014 schrittweise in ihrem Land überneh-
men und wir den ISAF-Einsatz beenden. Dies war der
Wunsch der Afghanen. Auf dieser berechenbaren Linie
liegt dieses Mandat. Damit verbunden ist auch die
schrittweise Reduzierung der Kräfte, die wir heute be-
schließen.

Meine Damen und Herren, in der Diskussion über
Afghanistan werden oft Probleme, die in dem Land ein-
treten, mit einem Scheitern des Einsatzes in Verbindung
gebracht. Das ist nicht fair. Ausländisches Militär kann
die Probleme in Afghanistan nicht lösen. Es kann nur
Rahmenbedingungen schaffen. Es kann vielleicht auch
Zeit kaufen, damit die politischen, diplomatischen, öko-
nomischen und sozialen Maßnahmen greifen können.

Der Beitrag, den die Bundeswehr gemeinsam mit an-
deren ISAF-Nationen dazu leisten kann und auch leistet,
ist sehr erfolgreich: Der zahlenmäßige, quantitative Auf-
bau der afghanischen Sicherheitskräfte ist im Prinzip ab-
geschlossen. Immer mehr Gebiete werden an die Afgha-
nen übergeben. ISAF-Kräfte können dort abgelöst
werden und sich im Rahmen ihres Auftrags auf die Ver-
besserung der Qualität, die Ausbildung und die Beratung
der afghanischen Kräfte konzentrieren. Diesen Erfolg
der Bundeswehr und des ISAF-Einsatzes sollten wir
nicht kleinreden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ob das internationale Engagement in und für Afgha-
nistan insgesamt und nachhaltig erfolgreich sein wird,
wird erst in Jahren oder Jahrzehnten abschließend zu be-
urteilen sein. Die Afghanen bekommen aber durch uns
eine echte, eine realistische Chance, ihr Land in eine
bessere Zukunft zu führen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte mich
zum Schluss meiner Ausführungen bei all denjenigen
bedanken, die das Mandat, das wir gleich beschließen
werden, für uns ausführen. Dies sind die Soldaten, zahl-
reiche Polizisten – der Bundesinnenminister ist gerade
anwesend – und auch sehr viele zivile Mitarbeiter, sei es
aus den Reihen des Auswärtigen Amts oder anderer Or-
ganisationen.

Selbst wenn sich die Sicherheitslage in Afghanistan
in den letzten Jahren wieder verbessert hat und wir 2012
keinen gefallenen Soldaten zu beklagen hatten, sind der
Weg in einen solchen Einsatz und der Einsatz selbst
nicht leicht. Es wird auch immer ein gefährlicher Einsatz
bleiben.

Ich selbst habe in meiner Heimatstadt Ingolstadt vor
wenigen Wochen, vor Weihachten, Soldaten in den Ein-
satz verabschiedet und zahlreiche Gespräche mit ihnen
und ihren Angehörigen geführt. Ich wünsche ihnen und
allen, die dort unten für uns ihren Dienst leisten, viel Er-
folg, Gesundheit an Körper und Seele, das notwendige
Glück und vor allem Gottes Segen.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721902400

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf der
Drucksache 17/12096 zum Antrag der Bundesregierung
zur Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen Sicher-
heitsunterstützungstruppe in Afghanistan unter Führung
der NATO. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung, den Antrag auf der Drucksache 17/11685
anzunehmen.

Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Ich darf deshalb die Schriftführerinnen und
Schriftführer bitten, die vorgesehenen Plätze einzuneh-
men. – Ich höre gerade, dass noch Schriftführer an den





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Urnen fehlen. Wenn sich die Geschäftsführer darum
kümmern könnten! – Jetzt sind die Urnen ordentlich be-
setzt. Ich eröffne die Abstimmung.

Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme gleichwohl nicht abgegeben hat? – Hat jemand
jemanden gesehen, der seine Stimme noch nicht abgege-
ben hat?


(Zuruf des Abg. Alexander Ulrich [DIE LINKE])


– Auch der Kollege Ulrich kennt niemanden, der seine
Stimme nicht abgegeben hat. – Dann schließe ich hier-
mit die Abstimmung und bitte die Schriftführerinnen
und Schriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.

Ich weise darauf hin, dass es eine Reihe von Erklärun-
gen nach § 31 unserer Geschäftsordnung gibt, die wir
wie immer dem Protokoll beifügen.1)

Das Ergebnis der namentlichen Abstimmung wird Ih-
nen später bekannt gegeben.2)

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Ent-
schließungsanträge, zunächst zum Entschließungsantrag
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/12186.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Entschlie-
ßungsantrag ist mehrheitlich abgelehnt.

Wir kommen zum Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf der Drucksache 17/12187.
Wer stimmt diesem Entschließungsantrag zu? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Auch dieser Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt, wobei es eigentlich
ganz schön wäre, wenn diejenigen, die anwesend sind,
sich auch an den Abstimmungen beteiligen würden.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es würde die Übersichtlichkeit über die Mehrheitsver-
hältnisse enorm befördern.

Ich rufe nun die Tagesordnungspunkte 4 a bis 4 c auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jan van
Aken, Wolfgang Gehrcke, Christine Buchholz,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Keine Rüstungsexporte als Instrument der
Außenpolitik – Exportverbot jetzt durchsetzen

– Drucksache 17/10842 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung 
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union 
Federführung strittig

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Bericht der Bundesregierung über ihre Ex-
portpolitik für konventionelle Rüstungsgüter
im Jahr 2011

(Rüstungsexportbericht 2011)


– Drucksache 17/11785 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss 
Verteidigungsausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus
Barthel, Heidemarie Wieczorek-Zeul, Edelgard
Bulmahn, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD

Frühzeitige Veröffentlichung der Rüstungs-
exportberichte sicherstellen – Parlaments-
rechte über Rüstungsexporte einführen

– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja Keul,
Volker Beck (Köln), Marieluise Beck (Bre-
men), weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Rüstungsexporte kontrollieren – Frieden
sichern und Menschenrechte wahren

– Drucksachen 17/9188, 17/9412, 17/12098 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Erich G. Fritz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind für
die Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Widerspruch
dazu höre ich nicht. Also können wir so verfahren.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort dem
Kollegen Dr. Gregor Gysi für die Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721902500

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Frage

des Waffenexports aus Deutschland ist in Anbetracht un-
serer Geschichte meines Erachtens eine herausragende
Frage. Wir hätten eigentlich nach dem Zweiten Welt-
krieg den Schluss ziehen müssen, nie wieder an Kriegen
verdienen zu wollen.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn wir diesen Schluss gezogen hätten, hätten wir
Waffenexporte aus Deutschland gänzlich und für alle
Zeiten verboten. Das hätten auch alle Nachbarn verstan-
den.

Interessant ist, was in Deutschland gar nicht diskutiert
wird: dass Japan – bekanntlich auch ein Aggressor im

1) Anlagen 3 bis 6
2) Ergebnis Seite 27085 C





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Zweiten Weltkrieg – exakt diesen Schluss gezogen hat
und bis heute keine Waffenexporte durchführt.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Argumente, dass man dann politisch und ökono-
misch kein Gewicht habe, sind doch durch Japan wider-
legt. Japan hat großes Gewicht, ohne Waffenexporteur
zu sein.

In Art. 26 unseres Grundgesetzes ist festgehalten, wie
sehr wir Angriffskriege verurteilen. Jedes Jahr sterben
weltweit 500 000 Menschen durch Waffengewalt – das ist
jede Minute ein Mensch. Auch deutsche Waffen werden
dabei benutzt. 2011 hat die Bundesregierung – ich bitte
Sie, das weiß kaum jemand in der Öffentlichkeit – Waf-
fenexporte in 125 Länder im Gesamtwert von 10,8 Mil-
liarden Euro genehmigt. Seit 2006 gibt es Exportgeneh-
migungen von durchschnittlich 8 Milliarden Euro pro
Jahr.

Bei der Frage von Rüstungsexporten gibt es eine
Große Koalition; ich muss das so sagen. Ob Union, SPD,
FDP oder Grüne: Sie alle haben immer gemeinsam diese
Exporte genehmigt und fortgeführt. Deutschland nimmt
auf der Liste der größten Waffenexporteure der Erde den
dritten Platz ein. Das heißt, es gibt zwei Länder, die
mehr Waffen exportieren als Deutschland. Das sind die
USA und Russland. Alle anderen Länder – beispiels-
weise China, Großbritannien, Frankreich – verkaufen
weniger Waffen als Deutschland. Ich sage: Fast jede
deutsche Waffe darf in fast jedes Land der Welt verkauft
werden.

Jetzt nenne ich Ihnen eine Zahl, die die meisten in der
Öffentlichkeit überhaupt nicht kennen. Im Jahre 2011
gab es bei dem berühmten Bundessicherheitsrat, der ja
zu entscheiden hat, ob ein Rüstungsexport genehmigt
wird, 17 586 Anträge auf Genehmigung des Exports von
Waffen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Von Rüstungsgütern!)


Wissen Sie, wie viele abgelehnt worden sind? Von
17 586 Anträgen wurden 105 abgelehnt. Das sind gut
0,5 Prozent. Und da wird immer behauptet, Sie behan-
delten das restriktiv. Sie genehmigen ja fast jeden An-
trag.


(Beifall bei der LINKEN)


Da muss man schon ein riesiges Glück haben, wenn man
mal einen Antrag nicht genehmigt bekommt.

Interessant ist auch: Was sind eigentlich die 20 Top-
länder, die die meisten Rüstungsgüter im Jahre 2011 be-
kommen haben? Ich sage Ihnen: Darunter sind die Verei-
nigten Arabischen Emirate, sie sind auf Platz drei – eine
tolle Demokratie. Irak: Platz sechs – eine tolle Demokra-
tie. Algerien: Platz acht – ein Beispiel für Demokratie.
Saudi-Arabien: Platz zwölf. Ein Land der Menschen-
rechte? Top, kann ich nur sagen. Ägypten, wo wir jetzt
all das erleben: Platz 18. Sie liefern überall Waffen hin.
Damit macht man doch die eigene Politik völlig un-
glaubwürdig.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie vermischen alles!)


Ich will Ihnen ein Beispiel nennen. Wir unterstützen
doch die Kräfte des – so nennen wir es – arabischen
Frühlings, also die Rebellen in den arabischen Ländern.
Mit unseren Waffen marschiert Saudi-Arabien in Bah-
rain ein und schießt die Demonstranten zusammen. Dazu
hört man keinen Ton; auch in der Öffentlichkeit wird das
fast totgeschwiegen. Ich finde, das ist ein einzigartiger
Skandal.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Heidemarie Wieczorek-Zeul [SPD])


Mal so und mal so: Damit wird die gesamte Militärpoli-
tik unglaubwürdig.

Im Übrigen haben wir erlebt, dass im Konflikt in Li-
byen beide Seiten deutsche Waffen hatten. Dann hat die
Bundesregierung gesagt: Die libysche Regierung hätte
die Waffen gar nicht haben dürfen. Daran sieht man aber
Folgendes: Wenn man Waffen exportiert, weiß man nie,
wo sie letztlich landen.


(Beifall bei der LINKEN)


Irgendwann wird damit getötet und geschossen, und da-
rüber müssen wir nachdenken.

Viele Menschen bei uns glauben, dass es eine Vor-
schrift gäbe, dass keine Waffen in Krisengebiete und
Kriegsgebiete verkauft werden dürfen. Es gibt diesbe-
züglich gar kein Gesetz. Es gibt nur eine Verabredung,
die aber nicht eingehalten wird. Wenn Sie uns schon
nicht folgen und Waffenexporte nicht vollständig verbie-
ten, könnte man nicht einmal erste Schritte gehen, we-
nigstens erste Schritte? Dazu würde zum Beispiel gehö-
ren, dass man die Waffenlieferungen in den Nahen Osten
komplett einstellt und sagt: Da gehen keine deutschen
Waffen mehr hin.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Bijan Djir-Sarai [FDP])


Das wäre doch mal ein Signal; das wäre ein Politikwech-
sel.

Es gibt noch etwas: Sturmgewehre und Maschinenpis-
tolen. Ich wusste es gar nicht, aber diese Waffen sind die
eigentlichen Massenvernichtungswaffen des 21. Jahr-
hunderts: Mit ihnen werden mehr Menschen getötet als
mit allen anderen Waffen zusammen. Wäre es nicht we-
nigstens ein erster Schritt, zu sagen: „Wir verbieten den
Verkauf von Sturmgewehren und Maschinenpistolen“?


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will nicht, dass mit deutschen Waffen weltweit getö-
tet wird.

Ich habe schon vor kurzem etwas zur Bereitstellung
von Patriot-Raketen gesagt; ich halte das wirklich für
eine ganz groteske Fehlentscheidung. Sie müssen sich
überlegen: Wenn eine Rakete abgeschossen wird, sind
wir Konfliktpartei bzw. Kriegspartei im Nahen Osten.
Das können wir uns bei unserer Geschichte überhaupt
nicht leisten.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Ich sage Ihnen auch, was mich bei den Kampfdrohnen
stört. Wissen Sie, Kampfdrohnen, die Herr de Maizière
einführen, herstellen lassen und kaufen will, haben etwas
sehr Übles: Sie können keine Gefangenen nehmen.
Kampfdrohnen können nur töten. Aber derjenige, der tö-
tet, ist ja nicht einmal vor Ort; er gefährdet sich gar
nicht.


(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Warum soll er sich denn gefährden?)


Er sitzt irgendwo in Berlin oder Bonn, drückt auf einen
Knopf und tötet gezielt Menschen. Ich sage Ihnen: Wenn
Sie das völkerrechtlich ungeregelt zulassen, werden ei-
nes Tages auch Terroristen solche Kampfdrohnen haben.
Wir verschärfen alles nur,


(Beifall bei der LINKEN)


wenn wir uns immer neue Wege der Rüstung überlegen,
statt den umgekehrten Weg zu gehen.

Ich gehe zum Schluss darauf ein, dass dieser komi-
sche Bundessicherheitsrat im Geheimen tagt; der Bun-
destag wird nicht einbezogen. Das alles verläuft ohne
Transparenz. In den USA verläuft es übrigens mit Trans-
parenz. Damit ist bewiesen, dass es auch mit Transpa-
renz geht.

Aber Transparenz allein reicht uns natürlich nicht aus;
wir wollen endlich eine Abkehr. Ich möchte gerne, dass
Deutschland diesbezüglich eines Tages ein Waffen-
dienstverweigerer ist. Ich würde mich sehr freuen, wenn
Deutschland bei den Exporten von Waffen den letzten
Platz auf der Erde einnähme, weg von Platz drei. Kehren
Sie die Politik um, und sorgen Sie dafür, dass Deutsch-
land nicht länger an Kriegen in dieser Welt verdient.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721902600

Nächster Redner ist der Kollege Joachim Pfeiffer für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Joachim Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1721902700

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Der Rüs-
tungsexport ist ja immer wieder ein Thema in diesem
Hause. Ich will zunächst ein paar Zahlen und Fakten
nennen. Denn nachdem man die Ausführungen des Kol-
legen Gysi gehört hat, könnte man in der Tat der Mei-
nung sein, Deutschland würde zuvorderst in der ganzen
Welt mit Kriegswaffen hantieren und diese exportieren.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das ist ja auch so! An dritter Stelle!)


Das Gegenteil ist natürlich der Fall.

Wir hatten in dem Jahr, auf das sich der Rüstungs-
exportbericht bezieht, einen steigenden Gesamtwert aller
Ausfuhrgenehmigungen zu verzeichnen; es waren
660 Millionen Euro mehr. Wir hatten aber in dem Be-

reich, von dem Sie gesprochen haben, nämlich bei den
Kriegswaffen, keinen Anstieg, sondern einen deutlichen
Rückgang zu verzeichnen, nämlich um mehr als
834 Millionen Euro auf rund 1,2 Milliarden Euro in dem
entsprechenden Jahr.

Ich komme nun auf die Gesamtausfuhren der Rüs-
tungsgüter zu sprechen. Was darunter zu verstehen ist,
darauf komme ich nachher zurück.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Er hat alles durcheinandergebracht!)


Sie reden immer von Kriegswaffen, von Panzern, von
Gewehren und werfen dabei Äpfel, Birnen, Eier und
Kartoffeln in einen Sack und rühren dies alles freudig
um.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ist alles zum Töten da!)


Das Gegenteil ist natürlich richtig. 58 Prozent der Ge-
samtexporte, vor allem eben Kriegswaffen, gehen in EU-
Staaten und in NATO-Länder: 21 Prozent in die NATO-
Länder, 37 Prozent in EU-Staaten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das macht es doch nicht besser!)


Nur 9 Prozent gehen in Entwicklungsländer, in 2011 ins-
besondere in zwei Länder: in den Irak, wohin Hub-
schrauber exportiert wurden, und nach Indien, wo es um
Sicherheitsausrüstungen ging.

2011 wurden Kriegswaffen in einem Wert von gerade
einmal 3,1 Millionen Euro in die ärmsten Länder expor-
tiert. Das sind 0,06 Prozent des gesamten Genehmi-
gungswertes. Im Übrigen sind das 6 448 Prozent weni-
ger, als Rot-Grün im Jahr 2004 in diese Länder
exportiert hat. Sie werden sicherlich gleich darauf einge-
hen, was Sie da alles Tolles veranstalten wollen.

Das heißt also, wir sind bei weitem nicht vorne dabei,
ganz im Gegenteil. Der Platz drei, den Sie genannt ha-
ben, beruht auf den SIPRI-Zahlen, die mehr als fragwür-
dig sind, weil dort nicht mit den tatsächlichen Genehmi-
gungswerten, sondern mit fiktiven Werten gerechnet
wird. Es gibt ganz andere Aufstellungen.

Sie haben es erwähnt: In den USA gibt es die wohl
transparenteste Aufstellung. Es handelt sich um die Auf-
stellung des US-amerikanischen Congressional Research
Service, CRS. Das neueste Material, das ich in diesem
Zusammenhang gefunden habe, stammt von August
2012. Dort wird klargemacht, dass die USA im Zeitraum
von 2008 bis 2011 – um nicht nur ein Jahr zu nennen –
mit 145 Milliarden US-Dollar an der Spitze lagen, ge-
folgt von Russland mit 33,5 Milliarden US-Dollar,
Frankreich mit 19,6 Milliarden US-Dollar und Deutsch-
land mit 9 Milliarden US-Dollar. Im Jahr 2011 waren es
in Deutschland gar nur 1,6 Milliarden US-Dollar,
während die USA Rüstungsgüter für 16,1 Milliarden
US-Dollar exportiert haben, gefolgt von Russland, Groß-
britannien, Israel, Frankreich und Italien. Insofern sind
die Zahlen, die Sie vorgetragen haben, von vornherein
zu hinterfragen.





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


Ich sage aber auch in aller Deutlichkeit: Sie versu-
chen hier die Verteidigungs- und die Sicherheitspolitik,
zum Teil auch die Rüstungsproduktion, in ein schiefes
Licht zu rücken. Ich muss hierzu sagen: Ich halte dies al-
les überhaupt nicht für verwerflich. Ganz im Gegenteil:
Ich bin stolz auf das, was die 80 000 hochqualifizierten
Arbeitskräfte, die in der Verteidigungs- und Sicherheits-
industrie in Deutschland unmittelbar beschäftigt sind,
zustande bringen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So spricht die Rüstungslobby!)


Hinzu kommen mehrere Hunderttausend Beschäftigte in
Zulieferbetrieben. Diese leisten zuvorderst einen Beitrag
zur Sicherheit in Deutschland. In diesem Zusammen-
hang kann ich nur den neuen Chef des SIPRI zitieren,
der unlängst sinngemäß gesagt hat: Wenn es mal ein Jahr
nicht brennt, dann schafft man auch nicht gleich die Feu-
erwehr ab.

Genau das ist der Hintergrund unserer Verteidigungs-
und Sicherheitsindustrie in Deutschland. Sie produziert
Sicherheit in und für Deutschland und für unsere Ver-
bündeten,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Waffen produziert sie!)


und sie ermöglicht uns Unabhängigkeit bei Technolo-
gien, sodass wir diese nicht importieren müssen.

Ich sage ganz klar – denn auch hierzu gibt es Anträge
und Aussagen –: Selbstverständlich sind Rüstungs-
exporte auch ein Instrument der Außen- und Sicherheits-
politik


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja? – Klaus Barthel [SPD]: Also doch!)


– selbstverständlich sind sie dies –, und zwar nach
strengsten Regeln und äußerst restriktiv gehandhabt.
Diese Rüstungsexporte tragen nämlich auch zur Frie-
denssicherung und zum Schutz der Menschenrechte auf
dieser Welt bei.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: SaudiArabien besonders!)


Durch Rüstungsexporte kommen wir beispielsweise
unseren Bündnispflichten nach. Es gab 38 Ausfuhrge-
nehmigungen für die kanadischen Streitkräfte, die mit
uns in Afghanistan im Einsatz sind. Das Mandat dazu
haben wir gerade mit großer Mehrheit – das vermute ich
mal; die Auszählung ist noch nicht abgeschlossen – wie-
der verlängert. Es gab ebenfalls zahlreiche Ausfuhrge-
nehmigungen für die Vereinten Nationen im Zusammen-
hang mit UN-Einsätzen, egal ob im Sudan, Südsudan,
Kongo oder Angola. Es werden also Menschenrechte ge-
schützt und der Frieden erhalten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: SaudiArabien! Katar!)


Über welche Rüstungsgüter reden wir eigentlich? Wir
reden nicht über Panzer und Kriegswaffen. Ich nenne ei-
nige Beispiele: Es geht um gepanzerte, geländegängige

Personenkraftwagen. Diese dienen dem Personenschutz
unseres diplomatischen Personals in der EU, bei Bot-
schaften oder der UNO.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Mit Panzern?)


Selbstverständlich werden beispielsweise Minensuchge-
räte nicht nach Luxemburg exportiert, sondern dorthin
geliefert, wo Minen verlegt sind und Menschen gefähr-
den, verstümmeln und umbringen. Sie werden geliefert,
um diese Minen zu beseitigen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Insofern dienen sie dort auch dem Schutz der Menschen-
rechte.


(Jörg van Essen [FDP]: Insbesondere Kinder schützen sie!)


Ein großer Anteil der Rüstungsgüter sind auch Feld-
krankenhäuser in geschützten Containern. Hier sind wir
führend. Darauf bin ich stolz. Auch das dient dem Men-
schenrechtsschutz.

Hierzu gehört auch die Dekontaminierungsausrüstung
für den Zivilschutz. Es gehören dazu auch Boote für den
Küstenschutz, die einerseits im Bereich der Piraterie im
Einsatz sind und andererseits Fischressourcen schützen.

Ich will hier nicht spekulieren, aber ich bin der Mei-
nung, dass wir und unsere Verbündeten in den Ländern,
in denen Menschen aus der EU im Einsatz sind – ich
denke an Algerien –, den besten Objektschutz und die
beste Grenzsicherung haben, die wir uns vorstellen kön-
nen. Ich weiß nicht, ob es vielleicht möglich gewesen
wäre, bei dem letzten Anschlag in Algerien noch mehr
Menschen zu schützen, wenn wir noch besseres Material
gehabt hätten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist ja unglaublich, was Sie da sagen!)


Deshalb bin ich der Meinung, dass wir diese Exporte
selbstverständlich als Instrument einsetzen sollten, wenn
es um Objektschutz und den Schutz von Grenzen geht.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Abschließend einige Sätze zur Diskussion über das
Thema Export, die Beteiligung des Parlaments und
Transparenz. Wir haben nun einmal die Trennung zwi-
schen Legislative und Exekutive; ich glaube, damit sind
wir gut gefahren. Das möchte ich, ehrlich gesagt, auch
nicht ändern und verwischen. Wir haben unzweifelhaft
die strengsten Rüstungsexportrichtlinien dieser Welt.
Diese wurden 2000 von Rot-Grün verabschiedet. Die
Exekutive füllt sie aus. Nach besten Überlegungen und
strengsten Gewissensentscheidungen werden diese auch
entsprechend umgesetzt.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Dann zeigen Sie es doch!)


Nebenbei, weil mein Vorredner betont hat, wie gering
die Zahl der abgelehnten Rüstungsexportanträge ist:





Dr. Joachim Pfeiffer


(A) (C)



(D)(B)


Viele Anträge zur Erteilung von Exportgenehmigungen
werden erst gar nicht gestellt, weil klar ist, dass wir
Exporte in bestimmte Krisengebiete nicht genehmigen.
Insofern geht auch dieser Vorwurf ins Leere.

Man kann sich aber überlegen, wie man die Situation
bezüglich der Beteiligung des Parlaments verbessern
könnte. Ich halte nichts davon, dass wir als Parlament
das Geschäft der Regierung machen. Wir haben Richtli-
nien, und die Regierung füllt und führt sie aus.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber wir kontrollieren sie!)


Das halte ich für richtig.

Jetzt stellt sich die Frage: Wann werden wir infor-
miert? Im Zeitalter der Social Media, in dem alles sofort
präsent ist, ist es vielleicht sinnvoll, die Berichtszeit zu
verkürzen. Man sollte nicht einmal im Jahr, sondern
vielleicht einmal im Quartal Bericht erstatten, damit man
die Situation besser nachvollziehen kann. Aber an der
grundsätzlichen Aufteilung würde ich nichts ändern.

Ein letzter Gedanke; ich komme zum Ende, Herr Prä-
sident. Wir sind nicht allein auf der Welt. Das sehen wir
beispielsweise in Mali. Im Bereich der Rüstungsexporte
und der Außen- und Sicherheitspolitik müssen wir uns
für eine vertiefendere europäische Integration entschei-
den und uns dann überlegen, wie wir uns in Europa ins-
gesamt aufstellen, und sollten nicht unsere nationale
Suppe kochen.

Deshalb kann ich sagen: Es ist unsere vornehmste
Aufgabe, neben den finanz-, haushalts- und wirtschafts-
politischen Fragen zu einer gemeinsamen Außen- und
Sicherheitspolitik, aber auch zu einheitlichen Rüstungs-
exportrichtlinien in der Europäischen Union zu kom-
men, so wie das bei Dual-Use-Gütern, anderen Rüs-
tungsexportgütern und Kriegswaffen bereits der Fall ist.
Das halte ich für das richtige Ziel. Wir brauchen keinen
Populismus mit falschen Zahlen, womit versucht wird,
etwas ins falsche Licht zu rücken bzw. die Menschen
hinters Licht zu führen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Was ist denn das richtige Licht?)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721902800

Bevor ich dem Kollegen Klaus Barthel als nächstem

Redner das Wort erteile, gebe ich Ihnen das von den
Schriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-
nis der namentlichen Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zum Antrag
der Bundesregierung zur Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz der In-
ternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afgha-
nistan bekannt: abgegebene Stimmen 585. Mit Ja haben
gestimmt 435, mit Nein haben gestimmt 111, und enthal-
ten haben sich 39 Kolleginnen und Kollegen. Damit ist
die Beschlussempfehlung angenommen.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 585;
davon

ja: 435
nein: 111
enthalten: 39

Ja

CDU/CSU

Ilse Aigner
Peter Altmaier
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck


(Reutlingen)

Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann

Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Dr. Hans-Peter Friedrich


(Hof)

Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens

Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte

Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Dr. Peter Ramsauer
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble

Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

SPD

Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Sabine Bätzing-Lichtenthäler
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann

Klaus Brandner
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Karin Evers-Meyer
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Gustav Herzog
Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Fritz Rudolf Körper
Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)

Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Andrea Nahles
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Holger Ortel
Aydan Özoğuz

Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Stefan Rebmann
Dr. Carola Reimann
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Michael Roth (Heringen)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Ulla Schmidt (Aachen)

Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Wolfgang Tiefensee
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Uta Zapf
Brigitte Zypries

FDP

Jens Ackermann
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Marieluise Beck (Bremen)

Cornelia Behm

Hans-Josef Fell
Priska Hinz (Herborn)

Tom Koenigs
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Omid Nouripour
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Markus Tressel
Daniela Wagner

Nein

CDU/CSU

Dr. Peter Gauweiler

fraktionsloser
Abgeordneter

Wolfgang Nešković
CDU/CSU

Norbert Schindler

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Marco Bülow
Dr. Peter Danckert
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Daniela Kolbe (Leipzig)

Hilde Mattheis
Dr. Wilhelm Priesmeier
Gerold Reichenbach
Werner Schieder (Weiden)

Kerstin Tack
Rüdiger Veit
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)


FDP

Dr. h. c. Jürgen Koppelin

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm

Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Inge Höger
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Paul Schäfer (Köln)

Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Agnes Brugger
Katja Dörner
Bettina Herlitzius
Dr. Anton Hofreiter
Uwe Kekeritz
Susanne Kieckbusch
Memet Kilic
Sylvia Kotting-Uhl

Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Monika Lazar
Beate Müller-Gemmeke
Lisa Paus
Dr. Gerhard Schick
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)


Enthalten

SPD

Burkhard Lischka
Sönke Rix
Marlene Rupprecht


(Tuchenbach)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Sonja Steffen

FDP

Joachim Günther (Plauen)


BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Harald Ebner
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Katja Keul
Ute Koczy
Oliver Krischer
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Dr. Tobias Lindner
Kerstin Müller (Köln)

Dr. Konstantin von Notz
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth (Augsburg)

Dr. Frithjof Schmidt
Jürgen Trittin
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Der Kollege Barthel hat nun das Wort für die SPD-
Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Klaus Barthel (SPD):
Rede ID: ID1721902900

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Das ist nicht die erste Debatte zu diesem Thema. Es
gab zahllose Anfragen an die Bundesregierung, Aus-
schussberatungen, Anhörungen zum Rüstungsexportbe-
richt usw. Lassen Sie uns das zum Anlass nehmen,
Bilanz zu ziehen.

Die Rüstungsexportpolitik dieser Bundesregierung ist
eines von vielen Symbolen für deren unaufrichtige, wi-
dersprüchliche und im Ergebnis schädliche Politik.


(Beifall des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Es wird versucht, die Leute für dumm zu verkaufen.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Da kennen Sie sich aus!)


Es wird von Lohnuntergrenzen geredet, aber es soll kei-
nen gesetzlichen Mindestlohn geben. Im Ergebnis geht
das Ausufern des Niedriglohnsektors weiter.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja!)


Es soll gegen Altersarmut gekämpft werden, aber man
blockiert sich in der Rentenpolitik. Gleichzeitig wird die
Rentenkasse geplündert.


(Lena Strothmann [CDU/CSU]: Hat denn das etwas mit dem Thema zu tun?)


Gebetsmühlenartig – das haben wir eben wieder ge-
hört – wird an der Formulierung einer sogenannten re-
striktiven Rüstungsexportpolitik festgehalten. In Wirk-
lichkeit haben wir es mit einem galoppierenden Prozess
der Enttabuisierung von Exporten von Großwaffen in
Krisenregionen und mit einer ständigen volumenmäßi-
gen Ausweitung von Waffenexportgenehmigungen zu
tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr richtig! – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: So ein Quatsch!)


Die Bundesregierung versucht mühsam, das alles
sprachlich zu verschleiern. Aber schon im Koalitions-
vertrag gelingt es nicht ganz, weil dort die Rüstungs-
exporte immer im Zusammenhang mit Außenwirt-
schaftspolitik und Beschaffungspolitik der Bundeswehr
genannt werden. Allerdings haben sie da gar nichts zu
suchen. Im Ergebnis stellen wir heute fest: Das ganze
Gerede kann man vergessen.

Schauen wir uns die Fakten an. Ja, Sie haben recht:
Auch bei früheren Regierungen gab es Rüstungsexporte,
die eine oder andere umstrittene Genehmigung, und es
gab auch Steigerungen. Aber Fakt ist, dass wir überall
neuen Rekorden entgegenstreben: bei den Einzel- und
Sammelausfuhrgenehmigungen, den tatsächlichen Rüs-

tungsexporten, dem Anteil der Exporte in Drittstaaten
und dem Export in Entwicklungsländer und menschen-
rechtlich problematische Staaten. Sie müssen nur die
Zahlen Jahr für Jahr vergleichen, dann werden Sie eine
ganz klare Tendenz feststellen und erkennen, was tat-
sächlich passiert.

Weltweit wurden 2010 für 1,6 Billionen US-Dollar
Waffen gekauft, 50 Prozent mehr als zehn Jahre zuvor.
Ein Zehntel davon floss an deutsche Firmen. Wir liegen
damit in der Tat auf dem dritten Platz. Es gab in den letz-
ten zehn Jahren, vor allen Dingen in den letzten Jahren,
eine überdurchschnittliche Steigerung. Das ist eine der
Haupttriebfedern von Staatsverschuldung, eine Mitursa-
che für die Krise und die Arbeitslosigkeit; denn das, was
für Rüstungsimporte ausgegeben wird, kann nicht mehr
für andere Ausgaben verwendet werden. Das ist eines
der Haupteinfallstore für Korruption. Es wird geschätzt,
dass jährlich rund 20 Milliarden Dollar an Korruptions-
geldern fließen.

Ja, es ist richtig: Andere Länder exportieren auch.
Diesen Hinweis, meine Herren und Damen von der Ko-
alition, können Sie sich aber sparen; sonst hätte man ja
mal etwas von Anstrengungen oder Initiativen der Bun-
desregierung hören müssen, auf internationaler oder we-
nigstens europäischer Ebene Waffenexporte gemeinsam
zu regeln und einzuschränken. Aber nichts davon ist pas-
siert. Stattdessen müssen die europäischen Regeln und
die Lücken darin herhalten, wenn es darum geht, die Er-
höhung der deutschen Exporte zu rechtfertigen. In Sonn-
tagsreden wird die europäische Gemeinsamkeit bei der
Rüstungsbeschaffung und -produktion beschworen.
Doch dann erklären Vertreter der Bundesregierung mit
Blick auf Europa, man wolle nicht abhängig werden von
ausländischen Firmen, auch nicht in Europa. So sagte es
Staatssekretär Wolf. In Wirklichkeit unterstützt die Bun-
desregierung also auf vielen Wegen die deutschen Unter-
nehmen beim Wettlauf um maximale Verkäufe, und das
bei minimaler Bedeutung für den deutschen Gesamtex-
port – 0,2 Prozent – und maximalem Schaden für den
Rest der deutschen Exportwirtschaft und die deutschen
Außen- und Sicherheitsinteressen. SIPRI kommt zu dem
Schluss – ich zitiere –:

Wir beobachten in Deutschland eine immer intensi-
vere Unterstützung der Politik, die wegbrechenden
Militärausgaben mit mehr Rüstungsexporten zu
kompensieren.

Die Listen sind lang. Panzer für Saudi-Arabien waren
der letzte Schlager. Das ist nur eines von vielen Ländern
in der Krisenregion Nahost und Nordafrika, wo ein gro-
ßer Teil unserer Exporte hingeht. Das ist die Hauptab-
nehmerregion. Jetzt ist Nordafrika eine Zone gefährli-
cher Instabilität, permanenter Unruhe und bewaffneter
Auseinandersetzungen.

In der Tat haben auch frühere deutsche Regierungen
Waffen dorthin geliefert. Das muss man kritisch sehen.
Zu Saudi-Arabien muss man aber auch sagen: Die mi-
schen in vielen Staaten in der Region mit, in Syrien, in
Libyen, in Bahrein oder im Libanon. Und dann faselt die
Bundesregierung, Saudi-Arabien sei – Zitat – ein „kon-





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)


struktiver Spieler, den wir natürlich einbeziehen müs-
sen“, so ein Sprecher des Auswärtigen Amtes.


(Holger Krestel [FDP]: Recht hat er damit!)


Die Doppelbödigkeit dieser Politik der Bundesregierung
ist kaum noch zu überbieten.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Da wird die Kontinuität beschworen und die Behauptung
aufgestellt – Zitat; Herr Dr. Pfeiffer, hören Sie zu –:

Die deutsche Rüstungsexportpolitik war und ist im
Unterschied zu einer Reihe anderer Staaten kein In-
strument außenpolitischer Einflussnahme.

So sagte es ein Vertreter der Bundesregierung im Aus-
wärtigen Ausschuss. Gleichzeitig sagt die Merkel-Dok-
trin – wir haben es gerade von Herrn Dr. Pfeiffer gehört –:

Es liegt in unserem Interesse …, wenn wir Partner
dazu befähigen, sich für die Bewahrung oder Wie-
derherstellung von Sicherheit und Frieden in ihren
Regionen wirksam einzusetzen.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: So ist es! – Jörg van Essen [FDP]: So ist es auch! Völlig richtig!)


Gemeint war damit der Rüstungsexport. Also kein In-
strument von Außenpolitik? Herr Pfeiffer hat das gerade
selbst zugegeben. Es gibt Widersprüche, wohin man
schaut.

Ein aktuelles Beispiel ist Mali. Hier kämpfen verbün-
dete Soldaten, in diesem Fall die Franzosen, nicht nur
gegen die Fehler und Versäumnisse ihrer eigenen kolo-
nialen Vergangenheit, sondern mit hoher Wahrschein-
lichkeit auch gegen Waffen aus europäischer Produktion.
Zitat Bundesregierung, Auswärtiger Ausschuss:

Entsprechend den Regelungen des Gemeinsamen
Standpunktes der EU werden Genehmigungen für
die Ausfuhr von Rüstungsgütern nur erteilt, wenn
zuvor der Endverbleib dieser Güter im Empfänger-
land sichergestellt ist.

Deswegen habe ich mir erlaubt, die Bundesregierung
zu fragen, woher die Waffen der malischen Aufständi-
schen kommen und ob vielleicht welche aus europäi-
scher und deutscher Produktion dabei sind. Antwort der
Bundesregierung: Dazu liegen keine Erkenntnisse vor.
Meine vorbeugende Nachfrage, ob man denn dieser
Frage im Sinne der eigenen Beteuerungen nachgehen
wolle und gegebenenfalls Untersuchungen einleiten
wolle, wurde mit dem Hinweis beantwortet, dass diese
Frage ausreichend beantwortet sei. Das heißt, es ist aus-
reichend, nichts zu wissen, und man will auch nichts
wissen. So viel zum Thema Endverbleibsklausel.

Über all dieses Durcheinander und die Widersprüche
in den Parlamentsdebatten der letzten Monate könnten
wir jetzt noch stundenlang reden. Man konnte aus den
Koalitionsfraktionen nahezu jede Position hören; das
wird auch heute so sein. Die einen argumentieren, dass

es gut ist, dass die Regierung unsere Rüstungsindustrie
unterstützt, zum Beispiel wegen der Technologie.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ja!)


Die CSU ist besonders engagiert. Ich zitiere aus dem
Bayern-Kurier den Leiter der Bayerischen Staatskanzlei,
Thomas Kreuzer: „Die Bundesregierung müsse ‚die
Wirtschaft auf den Exportmärkten nach Kräften unter-
stützen‘“. Der Parlamentarische Staatssekretär Christian
Schmidt sagte dazu bei dem gleichen Treffen: „Die In-
dustrie kann darauf rechnen, dass wir sie anderen Kun-
den empfehlen.“


(Jörg van Essen [FDP]: Sehr richtig!)


Die Politik, besonders die bayerische, will wehr-
technische Exporte gerne unterstützen, versicherte
Florian Hahn, Mitglied des Verteidigungsausschus-
ses im Bundestag.

Man solle am Wahltag noch einmal daran erinnern.

Eines der Highlights in dieser Debatte hat der schon
zitierte Staatssekretär Christian Schmidt geliefert. In der
Stuttgarter Zeitung vergleicht er den Deutschen Bundes-
tag in seiner sicherheitspolitischen Verantwortung mit
dem Finanzamt:

Der Bundestag entscheidet auch nicht über Steuer-
bescheide – wieso soll er dann über Rüstungs-
exporte entscheiden?


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Unsinn! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: So denken die auch!)


Also, die einen verharmlosen und wollen ausweiten,
die anderen sagen das genaue Gegenteil: Es soll sich
nichts ändern, und es hat sich nichts geändert. Interes-
sant an dem Ganzen war bisher eines – das ist auch heute
so –: Mitglieder der Bundesregierung werden zwar stän-
dig in den Medien zitiert oder lassen sich zitieren, auch
die Kanzlerin, aber bei keiner der Debatten hier im Par-
lament zum Thema Rüstungsexporte gab es einen Auf-
tritt eines Mitglieds der Bundesregierung. Ich würde hier
vom zuständigen Ressortminister gern etwas über den
Vergleich mit dem Steuerbescheid oder auch zu den Er-
kenntnissen über die Waffen in Mali hören. Aber dieser
Regierung fehlt der Mut, hier dazu Stellung zu nehmen.

Es gibt ein Riesendurcheinander. Niemand will sich
hier hinstellen und sagen, was Sache ist. Wir sagen: Das
ist nicht nur eine Missachtung des Parlaments, sondern
auch eine Missachtung der interessierten Öffentlichkeit.
Die Menschen sind bei dieser Frage zu Recht sensibel.
Sie haben recht, wenn sie sagen, dass Rüstungsexporte
keine Steuererklärung sind. Mit dieser Mischung aus
Geheimnistuerei, Widersprüchen und Nebelkerzenwer-
fen kommen Sie auf Dauer nicht mehr durch.

Wir haben sehr wohl mit Genugtuung wahrgenom-
men, dass es eine Reihe von Koalitionspolitikern gibt,
die unsere Vorschläge ernst nehmen und aufgreifen. Wir
haben dazu Herrn Polenz und Herrn Stinner sowie den
Kollegen Fritz gehört. Der Kollege Kiesewetter fordert
sogar ein Vetorecht des Parlaments.





Klaus Barthel


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD] und Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Frau Hoff von der FDP plädiert für ein parlamentari-
sches Gremium zur Kontrolle von Waffenexporten. Das
alles sind erfreuliche Töne. Bestimmt habe ich jetzt viele
vergessen, die sich auch in diese Richtung geäußert ha-
ben; aber Sie können sich ja heute noch outen.


(Beifall der Abg. Uta Zapf [SPD])


Das heißt, Grüne und SPD sind mit ihrer Überzeu-
gungsarbeit gut vorangekommen. Unsere Forderungen
finden sich auch in unseren Anträgen, über die hier heute
abschließend beraten wird. Zurück zu einer restriktiven
Rüstungsexportpolitik, alle Kriterien einschließlich der
Menschenrechte ernst nehmen, laufende parlamentari-
sche Kontrolle, zeitnahe Information der Öffentlichkeit
und Offenlegung von Firmenspenden aus diesem Be-
reich – das sind einige unserer Forderungen.

1971, 1982 und 2000 – in diesen Jahren wurden je-
weils die Richtlinien für Rüstungsexporte überhaupt ge-
schaffen bzw. weiterentwickelt, immer unter sozialde-
mokratisch geführten Regierungen. Also spätestens nach
einem Regierungswechsel 2013


(Lachen bei Abgeordneten der FDP)


werden wir vor dem Hintergrund der Erfahrungen und
Debatten, die wir jetzt machen und erleben, die Rüs-
tungsexportpolitik erneut reformieren. Wir danken allen,
die uns bis heute dabei unterstützt haben und uns Argu-
mente geliefert haben.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Der Dank ist nicht notwendig!)


Die Zustimmung zu den heute vorliegenden Anträgen
von Grünen und SPD könnte ein gutes Signal für eine
neue Rüstungsexportpolitik sein, und zwar in dem Sinne,
wie wir es hier dargestellt haben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721903000

Das Wort erhält der Kollege Martin Lindner für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Jetzt wird es unterirdisch!)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1721903100

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Be-

vor ich ein paar grundsätzliche Bemerkungen zur Rüs-
tungsexportpolitik mache und zum Schluss auf die An-
träge, das Parlament mehr zu beteiligen, zu sprechen
komme, möchte ich gerne ein paar Fakten klarstellen,
vor allen Dingen in Richtung des Fraktionsvorsitzenden
der Linken. Lieber Kollege Gysi, Sie haben alles mitei-
nander vermischt, als Sie die 17 000 Genehmigungsan-
träge erwähnt haben. Sie vermischen zum Beispiel

Kriegswaffen mit allgemeinen Rüstungsgütern und
Dual-Use-Gütern. Das geht bei Ihnen alles durcheinan-
der.

Sie schauen sich die Fakten und Zahlen an und wei-
sen darauf hin, dass Deutschland bei Kriegswaffenex-
porten weltweit an Nummer drei steht.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist aber eine Tatsache!)


Das ist natürlich eine Tatsache, genauso wie es eine Tat-
sache ist, dass Deutschland bei allgemeinen Exporten an
Nummer zwei steht. Davon kann man ableiten, dass der
Anteil unserer Exporte von Rüstungsgütern und Kriegs-
waffen im Vergleich zum Anteil der allgemeinen Ex-
porte unterproportional ist.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das macht es nicht besser!)


Deutschland ist nun einmal ein starkes Exportland und
wird es auch bleiben, weil es keinen Regierungswechsel
geben wird und wir weiter dafür sorgen werden, dass wir
einen starken Export in Deutschland haben.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das ist ein tolles Argument! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Unfassbar!)


– Wissen Sie: Wenn der Maßstab der politischen Debatte
wäre, was Sie fassen können, dann bräuchten wir gar
nicht weiter zu diskutieren. Das ist jedenfalls nicht unser
Maßstab.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sie können ja aufhören! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wo kommt denn Ihre Arroganz her? – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Pure Arroganz, aber keine Argumente!)


Wir konzentrieren uns auf die Zahlen und Fakten.
Wenn Sie – das gilt natürlich auch für den Kollegen
Barthel – immer wieder darauf hinweisen, dass die
Exporte von Kriegswaffen, die Kriegswaffenausfuhren,
unter Schwarz-Gelb angeblich dramatisch gestiegen
seien, dann möchte ich Sie, zumindest diejenigen, die
noch einigermaßen offenen Ohres sind, auch hier auf die
entsprechenden Zahlen hinweisen. 1998 lag der Anteil
der exportierten Kriegswaffen am Gesamtexport bei
0,14 Prozent. Nach dem letzten Exportbericht, dem für
2009, betrug dieser Anteil 0,17 Prozent. Der Anteil der
Kriegswaffenexporte am Gesamtexport hat sich also so
gut wie nicht verändert.

Es gab ein einziges Ausreißerjahr, in dem der Anteil
deutlich größer war; das war das Jahr 2005. Damals lag
der Anteil der Kriegswaffenexporte am Gesamtexport
bei 0,26 Prozent. Jetzt frage ich Sie, Kollege Barthel:
Als Sie gerade sagten, wir müssten zur restriktiven
Exportpolitik von Rot-Grün zurück, meinten Sie damit
das Jahr 2005, als ein signifikanter Anstieg zu verzeich-
nen war?


(Klaus Barthel [SPD]: Nein! – Edelgard Bulmahn [SPD]: Der Gesamtexport war eingebrochen!)






Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


Das kann man nämlich eindeutig festmachen: Aus-
schlaggebend dafür waren nicht Entscheidungen, die
noch unter Schwarz-Gelb getroffen worden sind, son-
dern Entscheidungen, die im Bundessicherheitsrat unter
Mitwirkung Ihrer Parteimitglieder – von Frau
Wieczorek-Zeul und anderen – getroffen worden sind.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das ist ein erhebliches Stück Heuchelei und Verlogen-
heit, das Sie uns in Ihren Reden zum Thema Rüstungs-
exporte immer wieder offenbaren.


(Holger Krestel [FDP]: Der Barthel will mehr Waffen verkaufen!)


Wir halten also fest: An der restriktiven Exportpolitik
der Bundesregierung hat sich nichts geändert, auch unter
Schwarz-Gelb nicht. Daran wird sich auch nichts ändern.


(Klaus Barthel [SPD]: Das wissen aber nicht alle in der Koalition!)


Der nächste Punkt, Kollege Gysi. Es war schon aben-
teuerlich, was Sie zu den Drohnen ausführten. Machen
Sie sich einmal kundig, was Drohnen ersetzen. Sie sind
doch kein Ersatz für Infanterie oder für Waffen, die am
Boden eingesetzt werden.


(Klaus Barthel [SPD]: Machen wir dazu doch eine Aktuelle Stunde!)


Sie sind ein Ersatz für die Fliegerei, in der fernen Zu-
kunft eventuell auch für die Kampffliegerei. Sie schonen
und sichern unsere eigenen Soldaten.


(Beifall der Abg. Rita Pawelski [CDU/CSU])


Ich glaube, das Ziel von Rüstungspolitik muss sein, in
allererster Linie unsere eigenen Leute zu schützen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wenn Sie den Einsatz von Eurofightern mit dem Ein-
satz von Drohnen vergleichen, muss man sagen: Mit ei-
ner Drohne kommt man wesentlich näher an Ziele heran.
Dann kann man wesentlich besser entscheiden, ob bei-
spielsweise Menschen gefährdet sind, die nicht im
Kriegseinsatz sind, als man es unter Verwendung von
Kampfflugzeugen tun könnte, mit denen man die Ziele
aus wesentlich größerer Distanz angreift. Auch hier ver-
mischen Sie die Dinge. Sie machen den Leuten etwas
vor. Bei Ihnen gerät alles irgendwie durcheinander. Sie
verfolgen ein einziges Ziel: Sie wollen uns schaden,
wenn es darum geht, wie wir uns außen- und sicherheits-
politisch positionieren.

Ich sage Ihnen: An dieser Stelle wird sich nichts än-
dern. Diese Regierung wird weiterhin einen restriktiven
Kurs fahren. Priorität haben die außen- und sicherheits-
politischen Belange. Aber wir werden uns natürlich im-
mer wieder auch dafür einsetzen, dass die Menschen-
rechtssituation betrachtet wird.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721903200

Herr Kollege Lindner, darf der Kollege Liebich Ihnen

eine Zwischenfrage stellen?


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1721903300

Gerne.


Stefan Liebich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721903400

Herr Kollege Lindner, meine Kollegen mögen es im-

mer nicht, wenn ich Ihnen Zwischenfragen stelle, weil
Sie dann noch länger reden können; aber ich konnte jetzt
wirklich nicht an mich halten. Die These, die Sie hier
vertreten – dass der Einsatz von Drohnen deshalb gut
sei, weil unsere eigenen Soldaten geschützt werden; das
sei ja auch der Zweck von Drohnen –, fordert eine Nach-
frage heraus.

Wir haben im Auswärtigen Ausschuss gestern über
die Volksrepublik China diskutiert. Mitglieder der
Koalitionsfraktionen haben mit Sorge davon gesprochen,
dass nun auch in China darüber nachgedacht wird, Droh-
nen anzuschaffen. Ich frage Sie, ob Sie nicht der Logik
folgen würden, dass man mit der Entwicklung einer
völlig neuen Waffengattung, die nicht nur von uns und
unseren Verbündeten genutzt wird, sondern auch von der
anderen Seite – wie es bei Cyberwar schon passiert ist –,
einen verhängnisvollen Weg einschlägt und es besser
wäre, solche neuen Waffengattungen einfach zu ächten.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1721903500

Herr Kollege Liebich, wenn Sie die Entwicklung der

Drohnentechnologie weltweit betrachten, dann werden
Sie zu dem Ergebnis kommen, dass diese Technologie
vorhanden ist und weiter erforscht wird.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Diese Technologie wird schon genutzt: für die gezielte Tötung von Menschen!)


Diese Technologie wird in erheblichen Teilen die Zu-
kunft nicht nur der militärischen Fliegerei, sondern auch
der Frachtfliegerei bestimmen. Das ist übrigens einer der
Gründe, warum auch das Bundeswirtschaftsministerium
die Entwicklung von Drohnentechnologie unterstützt.
Der Einsatz von Drohnen wird sich nicht auf Aufklärung
beschränken, sondern in der längeren Perspektive auch
Kampfbomber und andere Waffensysteme ersetzen.
Diese Technologie wird darüber hinaus auch in der zivi-
len Fliegerei eine große Rolle spielen.

Da können Sie – genau das ist das Problem, Herr
Liebich – doch nicht so tun, als könnten wir hier im
Deutschen Bundestag oder könnte die Bundesregierung
allein entscheiden, welchen Weg die Entwicklung welt-
weit nimmt. Die Frage ist lediglich, ob man die Entwick-
lung mitbestimmt und mitgestaltet. Das ist der große
Unterschied zwischen uns – ob es um Rohstoffe geht
oder ob es um Rüstungsexporte geht –: Sie tun so, als
könnten Sie hier die Welt richten.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Bisher können wir es ja!)


Das Problem dabei ist, dass Sie sich selber vom Spiel-
feld nehmen. Aber wer nicht auf dem Spielfeld ist, der
bestimmt auch die Regeln nicht mit – dazu muss man





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


auf dem Spielfeld bleiben. Deswegen ist es richtig, dass
wir die Entwicklung dieser Technologie verantwortungs-
voll unterstützen und mitgestalten, um dann auch die in-
ternationalen Regeln für den Einsatz dieser Waffen mit-
bestimmen zu können.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Zurufe von der LINKEN)


Das ist Verantwortung. Was Sie betreiben, ist Populis-
mus oder – im besten Falle – eine sehr einseitige und
naive Betrachtung der Dinge.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: EADS lässt grüßen!)


Meine Damen und Herren, das führt mich direkt zur
Frage der Menschenrechte, zu der der Kollege Pfeiffer
wirklich Bemerkenswertes gesagt hat. Auch hier können
Sie sagen: Ohne mich! Wir stellen uns daneben und
machen uns nicht schmutzig. – Aber Sie werden dann
auch nicht mitgestalten. Der Kollege Gysi hat das
Beispiel Saudi-Arabien angesprochen. Das ist ein gutes
Beispiel: Dort wird, auch mithilfe deutscher Wehrtech-
nologie, eine Grenzsicherung aufgebaut.


(Zuruf des Abg. Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das bietet im Rahmen der Partnerschaft zusammen mit
dem Innenministerium die Gelegenheit, durch Schulun-
gen Einfluss zu nehmen auf die Gestaltung der inneren
Führung in einem Land wie Saudi-Arabien.


(Omid Nouripour [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geht es jetzt darum, die Grenze von Saudi-Arabien zu sichern? – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Da haben Sie ja viel erreicht!)


Das ist tausendmal besser, als sich an den Rand zu stel-
len und allen anderen Staaten das Spielfeld zu überlas-
sen. Auch hier haben wir wieder den Unterschied
zwischen Ihnen und uns, zwischen Verantwortung und
Populismus,


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


zwischen konstruktiven Sicherheitspartnerschaften und
einer „Ohne mich!“-Position. Mit Ihrer Position können
Sie vielleicht in dem einen oder anderen Zirkel, in dem
Sie zu Hause sind, glänzen – mit Verantwortung hat das
aber nichts zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Die FDP führt die Saudis! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Das können Sie natürlich nicht!)


Ich sage Ihnen auch klar: Wir bekennen uns zur
Rüstungsindustrie in Deutschland. Was wäre denn die
Alternative? Dass wir darauf angewiesen wären, ent-
sprechendes Gerät für die Bundeswehr ausschließlich
aus dem Ausland zu beschaffen. Dann bestimmen wir
gar nichts mehr, dann bestimmen die die Preise und die
Technologie, und wir sind draußen.


(Zuruf von der LINKEN: Das wäre super, wenn wir draußen wären!)


Mit Verantwortung hat das nichts zu tun. Deswegen wer-
den wir die Fragen der Technologie und der Arbeits-
plätze mit berücksichtigen. Auch hierzu bekennen wir
uns ganz klar.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Sätze zur
Frage der Parlamentsbeteiligung sagen. Auch hier be-
steht – da beziehe ich mich ebenfalls auf den Kollegen
Pfeiffer – ein Unterschied zwischen entscheiden und
kontrollieren. Die Frage der Parlamentsbeteiligung im
Sinne einer effektiveren Kontrolle werden wir uns vor-
nehmen. Wir appellieren an die Bundesregierung, das
gemeinsam mit uns zu tun. Ich glaube, da können wir
etwas verbessern, wir könnten schneller und detaillierter
informiert werden – aber informiert werden im Sinne
einer Kontrolle, also nachdem das Geschäft getätigt ist.
Was ich aber ablehne, ist eine Vermischung von Befug-
nissen der Exekutive und Befugnissen der Legislative.
Eine solche Vermischung gibt es auch in keinem anderen
europäischen Land. Das sind sehr komplexe Verfahren,
wo sehr viele Interessen und sehr viele Auswertungen
mit zu berücksichtigen sind. Da werden wir versuchen,
die Kontrolle zu stärken. Damit werden wir auch bei die-
sem System einen Schritt weiterkommen im Sinne einer
vernünftigen, restriktiven, aber auch verantwortungsbe-
wussten Exportpolitik.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das war die Rüstungslobby!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721903600

Das Wort hat die Kollegin Katja Keul, Bündnis 90/

Die Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721903700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrter Herr Kollege Pfeiffer! Im Jahr
2011 hat Deutschland mehr als doppelt so viele Kriegs-
waffen an Drittstaaten ausgeliefert wie an EU- und
NATO-Staaten. Dabei sollte das Regel-Ausnahme-
Verhältnis genau umgekehrt sein. Zu den Hauptabneh-
mern gehören vor allem die zahlungskräftigen Monar-
chien der arabischen Halbinsel. Gleichzeitig debattieren
wir hier seit Wochen, wie wir Mali im Kampf gegen die
islamistischen Terroristen unterstützen sollen. Ich
möchte Ihnen hierzu einmal aus der Neuen Zürcher Zei-
tung vom 23. Januar vorlesen:

Es gibt kaum einen Politologen, der nicht vermu-
tete, dass alle mit der Kaida verbündeten Islamisten
der Sahelzone zu einem beträchtlichen, wenn nicht
entscheidenden Teil von Saudiarabien und den
Golfemiraten finanziert werden. Deutschland aber
hat Saudiarabien letztes Jahr Waffen im Wert von
30 Millionen Euro geliefert, Riad ist an Kampfpan-
zern der Typen Boxer und Leopard interessiert, Ver-





Katja Keul


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(D)(B)


handlungen über die Lieferung von ABC-Spürpan-
zern des Typs Dingo sind im Gang. Ist das nicht
etwas seltsam?


(Jörg van Essen [FDP]: „Boxer“ ist überhaupt kein Kampfpanzer!)


Diese Frage ist meines Erachtens mehr als berechtigt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So sieht die schwarz-gelbe Verantwortung aus!)


Ob in Syrien oder in Mali: Nur wenn wir ganz fest die
Augen verschließen, können wir übersehen, dass isla-
mistische Kämpfer in bewaffneten Konflikten von ihrer
Hausmacht auf der arabischen Halbinsel finanziert wer-
den. Dennoch bezeichnet die Kanzlerin die Golfstaaten
als strategische Partner, die wir mit deutschen Waffen er-
tüchtigen wollen. Gleichzeitig schicken wir deutsche
Soldaten in die Wüste, um die Scherben der Politik die-
ser strategischen Partner wieder einzusammeln.

Bei dieser Gelegenheit gibt es dann noch ein Wieder-
sehen der Bundeswehr mit den Waffen, die in früheren
Jahren einem anderen strategischen Partner in Libyen
geliefert wurden. Was an diesem ganzen Schlamassel
strategisch sein soll, verstehen doch nicht einmal mehr
die Abgeordneten der Koalitionsfraktionen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])


Die Kanzlerin ist der Meinung, die Abgeordneten
müssten das auch gar nicht verstehen. Es sei besser,
wenn wir uns gar nicht mit diesen strategischen
Entscheidungen beschäftigen, denn das sei alles Kern-
bereich der Exekutive und damit streng geheim. So ein-
fach lässt sich parlamentarische Kontrolle aber nicht
aushebeln, Frau Merkel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Da haben Sie Art. 26 Grundgesetz gründlich falsch
verstanden. Dort steht zwar, dass Kriegswaffen nur mit
Genehmigung der Bundesregierung exportiert werden
dürfen. Die Grundlage für diese Genehmigung regelt
allerdings ein Gesetz, und der Gesetzgeber sind immer
noch wir.

Man kann zu Recht behaupten, dass der Deutsche
Bundestag der Exekutive bislang mit dem Außenwirt-
schaftsgesetz und dem Kriegswaffenkontrollgesetz zu
viel Spielraum gelassen hat. Die freiwillige Selbst-
verpflichtung, die unter Rot-Grün in Form der Rüstungs-
exportrichtlinie verabschiedet wurde, hat sich als zu
schwach erwiesen, sonst wäre Deutschland nicht dritt-
größter Waffenexporteur geworden. Deshalb wollen wir
Grüne mit dem vorliegenden Antrag die in der Richtlinie
genannten Kriterien, wie Menschenrechtslage, Gefahr
innerer Repression und bewaffnete Konflikte, endlich als
Gesetz verabschieden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Uta Zapf [SPD])


Wir wollen diese Kriterien verbindlich und am Ende
auch justiziabel machen. Denn die Exekutive ist an
Recht und Gesetz gebunden, und wenn sie dagegen ver-
stößt, ist es Aufgabe der Gerichte, den jeweiligen Einzel-
fall zu prüfen.

Da ein einzelner Bürger nicht klagebefugt ist, wenn es
um die Menschenrechtslage in einem anderen Land geht,
brauchen wir dazu die Möglichkeit einer Verbandsklage.
Bislang funktioniert die Rüstungsexportkontrolle nach
dem Motto „Wo kein Kläger, da kein Richter“. Im
Umweltbereich hat sich gezeigt, wie die Wahrnehmung
berechtigter Interessen durch Klagerechte von Verbän-
den funktionieren kann. Warum soll das nicht auch im
Bereich der Rüstungsexportkontrolle funktionieren?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Damit legen Sie das ganze Land lahm!)


Solange wir keine gerichtliche Kontrolle haben, ist
die parlamentarische umso wichtiger. Wie in jedem an-
deren Politikbereich auch, hat die Bundesregierung dem
Bundestag Rede und Antwort zu stehen und ihre Ent-
scheidungen zu begründen. Wir Parlamentarier können
aber nur dann die richtigen Fragen stellen, wenn wir
zunächst einmal informiert werden. Darauf haben wir
einen in Art. 38 Grundgesetz verankerten Anspruch.

Der Rüstungsexportbericht ist aufgrund seiner zeitli-
chen Verzögerung längst nicht mehr geeignet, die parla-
mentarische Kontrolle zu ermöglichen. Wir wollen daher
regelmäßige Unterrichtungen über sensible Exporte, ins-
besondere in Staaten außerhalb von NATO und EU. Und
wir wollen diese Unterrichtung auch vor der abschlie-
ßenden Genehmigung, damit wir zumindest in die Lage
versetzt werden, eine Stellungnahme abzugeben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD])


Selbstverständlich muss dabei nicht jede Information
gegenüber dem Plenum erteilt werden. Das ständig
wiederholte Gegenargument, wir würden mit unseren
Vorschlägen das Parlament überfordern, ist geradezu
absurd. So, wie der Bundestag sonst auch arbeitsteilig
vorgeht, brauchen wir für die Rüstungsexportkontrolle
ein parlamentarisches Gremium ähnlich dem bereits
existierenden Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungs-
kontrolle und Nichtverbreitung“.


(Beifall der Abg. Edelgard Bulmahn [SPD])


Auch das Letztentscheidungsrecht der Exekutive
stellt deswegen noch keiner infrage. Es kann aber nicht
sein, dass die Exekutive alles, was mit Rüstungsexporten
zu tun hat, pauschal als streng geheimen Kernbereich
einstuft. Nur im begründeten Ausnahme- bzw. Einzel-
fall, wenn unternehmerische Interessen gegenüber dem
öffentlichen Interesse überwiegen, ist eine solche Einstu-
fung gerechtfertigt. Dass Rüstungsexporte in der Bevöl-
kerung unpopulär sind, reicht als Geheimhaltungsgrund
nicht aus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)






Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)


Auch die Lage in den Empfängerländern ist in der
Regel öffentlich nachzulesen, am besten gleich im
Menschenrechtsbericht der Bundesregierung. Die Mög-
lichkeit diplomatischer Verwicklungen ist daher auch
kein Geheimhaltungsgrund. Das unternehmerische Inte-
resse dürfte sich überwiegend auf die Geheimhaltung
von Kostenkalkulationen und technischen Daten bezie-
hen. Die können dann gerne geheim bleiben.

Wir wollen die außen- und sicherheitspolitische Be-
deutung solcher Entscheidungen diskutieren, und zwar
am liebsten mit den Kolleginnen und Kollegen, die dafür
zuständig sind. Das federführende Wirtschaftsministe-
rium hat so gut wie nie Einwendungen gegen beantragte
Exportgenehmigungen. Warum auch? Für die Krisen-
herde dieser Welt sind schließlich andere federführend
zuständig.

Wir fordern daher mit unserem Antrag, die Zustän-
digkeit auf das Auswärtige Amt zu übertragen; denn
letztlich kann dieses am besten beurteilen, ob im
Empfängerland innere Repressionen drohen oder
Menschenrechte verletzt werden. Die Zuständigkeit ist
letztlich keine reine Formsache; sie offenbart die politi-
sche Gewichtung der unterschiedlichen Interessen und
Kriterien.

Im Antrag der Linken finde ich zu all diesen konkre-
ten Vorschlägen leider nichts. Sie beschränken sich
darauf, sämtliche Exporte von Rüstungsgütern aus-
zuschließen, also auch die an EU- und NATO-Staaten.
Das hieße in der Konsequenz, dass sich alle europäi-
schen Länder eine autonome nationale Rüstungsindust-
rie für die Ausstattung ihrer Armeen mit den entspre-
chend hohen staatlichen Subventionen leisten müssten.
Das kann doch nicht ihr Ernst sein!


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Im Gegenteil! – Nicole Gohlke [DIE LINKE]: Abrüstung nennt man das!)


Oder wollen Sie doch die Bundeswehr abschaffen und
aus der NATO austreten? Das wäre dann wenigstens
konsequent.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ja, das ist eine Idee!)


Auch das Beispiel Japan ist leider überholt. Dort hat
sich die Regierung nämlich gerade zu einer Kehrtwende
entschlossen,


(Edelgard Bulmahn [SPD]: Das stimmt!)


weil sich das Land schon lange keine autarke Rüstungs-
industrie mehr leisten kann.

Ich glaube vielmehr, dass Abrüstung in Europa nur
durch mehr Zusammenarbeit erfolgen kann. Dazu gehört
zwingend auch eine Konsolidierung des europäischen
Rüstungsmarktes. Nicht jedes europäische Land braucht
sämtliche militärischen Fähigkeiten, und nicht jedes eu-
ropäische Land braucht seinen eigenen Hersteller für
Jagdflugzeuge und Panzer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Klar ist aber auch: Wenn wir den Export von
Rüstungsgütern und Kriegswaffen innerhalb von NATO
und EU zulassen, muss die Exportkontrolle an Europas
Außengrenzen umso besser funktionieren. Deswegen
wollen wir auch den Gemeinsamen Standpunkt der EU
zu Rüstungsexporten stärken und in nationales Recht
umsetzen. Noch heute Abend werden die Kollegen von
der Koalition die Chance dazu ungenutzt verstreichen
lassen und das Außenwirtschaftsgesetz ohne Umsetzung
dieses Vorschlages beschließen. Schade eigentlich!

Die SPD fordert in ihrem Antrag mehr Transparenz
und parlamentarische Beteiligung in der Rüstungs-
exportkontrolle. Das ist zweifelsfrei unerlässlich, sodass
wir diesem Antrag zustimmen werden.

Transparenz ist allerdings kein Selbstzweck, sondern
ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einer restriktiveren
Genehmigungspraxis. Genauso wichtig ist es deswegen,
den Endverbleib der Waffen tatsächlich zu überprüfen
und sich nicht mit einer schriftlichen Endverbleibserklä-
rung zu begnügen. Die Bundesrepublik hat hier gegen-
über den staatlichen Empfängern durchaus diplomati-
sche und gegebenenfalls auch rechtliche Möglichkeiten,
ihre Entscheidungen durchzusetzen, wenn sie es nur
will.

Sehr geehrte Damen und Herren, das Versteckspiel
der Bundesregierung bei der Waffenausfuhr ist einer
Demokratie unwürdig: unwürdig für die Regierung
selbst, da sie sich offensichtlich nicht in der Lage sieht,
ihre Entscheidung gegenüber einer kritischen Bevölke-
rung darzulegen und zu begründen, unwürdig vor allem
für uns Parlamentarier, die wir allesamt, egal auf wel-
cher Seite des Parlamentes, von der Regierung in Unwis-
senheit gelassen werden.

Lassen Sie uns diesen unwürdigen Zustand beenden
und sowohl das Verfahren als auch die gesetzlichen
Vorgaben beschließen, nach denen die Regierung ihre
Entscheidungen auszurichten hat.


(Beifall der Abg. Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Stimmen Sie deswegen für ein Rüstungsexportkontroll-
gesetz! Stimmen Sie unserem grünen Antrag zu!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721903800

Nächster Redner ist der Kollege Andreas Lämmel für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1721903900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Im letzten Jahr, im Jahr 2012, haben wir hier in
diesem Hause alle acht Wochen über das Thema
„Rüstungskontrolle, Rüstungsexporte“ gesprochen.


(Klaus Barthel [SPD]: Gut!)






Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Der Verlauf der heutigen Debatte ist im Prinzip genauso
wie bei den sechs Debatten im letzten Jahr. Es gibt nicht
ein einziges neues Argument in der Debatte. Die Oppo-
sition arbeitet mit unterschwelligen Behauptungen.


(Klaus Barthel [SPD]: Da Sie unbelehrbar sind!)


– Herr Barthel, zu Ihnen komme ich noch. – Sie täu-
schen uns über die Tatsachen in Ihrer eigenen Regie-
rungszeit hinweg. Dabei haben Sie heute zumindest er-
wähnt, dass es auch in der Zeit der rot-grünen Regierung
durchaus Diskussionen und Probleme mit dem Thema
Rüstungsexport gegeben hat. Es werden hier immer un-
terschwellig Unterstellungen eingestreut. Nirgendwo ha-
ben Sie einen einzigen Beleg für das gebracht, was Sie
behauptet haben, Herr Barthel.

Aber den Vogel hat natürlich der Kollege Gysi abge-
schossen; das muss man einmal klar sagen.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wie immer! Dafür ist er ja bekannt!)


Mir stellen sich schon alle Nackenhaare auf, wenn ich
Ihnen zuhöre, Herr Kollege Gysi. Sie erinnern sich doch
noch an die drei Buchstaben SED. Die kennen Sie doch
noch. Da haben Sie doch schon damals Verantwortung
getragen, Sie waren Mitglied in dieser Partei.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ich?)


– Nein, der Kollege Gysi. – Diese Partei hat die Katego-
risierung der Welt vorangetrieben.


(Zuruf der Abg. Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE])


Es gab gerechte Kriege, und es gab ungerechte Kriege.
Wenn dann die SED einen Krieg als „gerechten Krieg“
gekennzeichnet hat,


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Wahrscheinlich hat das der Gysi formuliert!)


dann hat die SED mit ihren Verbündeten Waffen in un-
geahnter Zahl über die Welt verstreut, Herr Gysi: ohne
Transparenz, ohne Rüstungsexportbericht, ohne dass
überhaupt jemand wusste, wohin diese Waffen gingen,
wer diese Waffen hatte und wer diese Waffen weiterver-
kauft hat.


(Zurufe von der LINKEN)


Der Gipfel von all dem war – daran können Sie sich
erinnern – im Dezember 1989: In der Nähe von Rostock
wurden von der Bürgerbewegung mehrere Lagerhallen
mit versandfertigen Waffen aufgefunden. Jetzt stellen
Sie sich mit Ihrer Vergangenheit hier hin und sagen kei-
nen einzigen Ton dazu, was Sie damals als Mitglied der
SED getan haben, und sind jetzt sozusagen der Friedens-
engel des Deutschen Bundestages.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Beifall bei der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Blockflöte!)


Wissen Sie, das ist schon ein starkes Stück.

Mit Blick auf den Rüstungsexportbericht muss ich na-
türlich sagen:


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Er ist sehr originell!)


Auch mir gefällt es nicht, dass wir im Jahre 2013 über
den Rüstungsexportbericht des Jahres 2011 diskutieren.


(Klaus Barthel [SPD]: Ja, eben!)


Wie meine Vorredner bin ich der Auffassung: Hier brau-
chen wir dringend eine Änderung. Es muss dem Parla-
ment und der Öffentlichkeit zügiger berichtet werden.
Darin sind wir uns einig. Daran werden wir weiter arbei-
ten. Da werden wir gemeinsam mit der Bundesregierung
zu Lösungen kommen.

Nun muss man sich einmal die Zahlen in dem Rüs-
tungsexportbericht genauer ansehen. Da fällt erstens auf
– Herr Barthel, das haben Sie nicht erwähnt –: Die abso-
luten Summen, die ausgewiesen sind, sagen noch nichts
über die Quantität aus; denn die Preissteigerungsraten
der letzten Jahre bei den Rüstungssystemen sind sehr
hoch. Das spiegelt sich natürlich in der wertmäßigen
Summe im Rüstungsexportbericht wider. Hier muss man
die Inflationsrate bei Rüstungssystemen einrechnen.

Zweitens haben Sie ganz verschwiegen – der Kollege
Lindner hat allerdings darauf hingewiesen –, dass der
Höchststand bei den Rüstungsexporten 2005 war. Die
rot-grüne Bundesregierung hat damals hierfür die Ge-
nehmigungen erteilt. Nun will ich Ihnen diese Zahl gar
nicht an den Kopf werfen, aber da Sie uns immer unter-
stellen, die Bundesregierung würde ihre Grundsätze ver-
lassen, die Bundesregierung hätte eine neue Doktrin auf-
gestellt,


(Klaus Barthel [SPD]: Das haben wir uns doch nicht ausgedacht!)


sage ich Ihnen: Diese Vorwürfe sind nicht zu belegen.
Der Höchststand der Rüstungsexporte war 2005 unter
der rot-grünen Regierung. Das müssen Sie doch endlich
einmal zur Kenntnis nehmen!

Dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Als Kronzeu-
gen für Ihre Behauptungen führen Sie immer das SIPRI
an. Das SIPRI – der Kollege Lindner hat schon auf die
Problematik bei der Ermittlung der Zahlen des SIPRI
hingewiesen – weist aus, Herr Barthel, dass der deutsche
Marktanteil an den internationalen Rüstungsexporten
von 11 auf 9 Prozent rückläufig ist; das können Sie dort
nachlesen.

Zum Verständnis der Zahlen muss man noch Folgen-
des wissen – in der Anhörung im Wirtschaftsausschuss,
Herr Kollege Barthel, wurde das noch einmal deutlich
dargestellt –: Bei großen Waffensystemen wird die wert-
mäßige Summe dem Land zugerechnet, in dem die End-
kontrolle stattfindet. Ich erkläre das: Ein großes System
besteht aus vielen Komponenten, die aus verschiedenen
Ländern geliefert werden. Letztendlich wird der Ge-
samtwert dem Land zugeschrieben, in dem das entspre-
chende System endmontiert wird. Da die deutsche Wehr-
industrie für sehr viele Endmontagen zuständig ist, ist





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


aufgrund dessen der wertmäßige Umsatz in Deutschland
hoch.

Die IG Metall zum Beispiel bescheinigt der wehrtech-
nischen Industrie in Deutschland, dass sie ein wichtiger
Technologiemotor der deutschen Wirtschaft ist. Es gibt
also verschiedene Sichtweisen. Insofern sollte man nicht
wie Sie dieses Thema so polemisch behandeln und mit
Unterstellungen und Halbwahrheiten arbeiten. Man
muss sich die Lage genau anschauen. Dann stellt man
fest: Deutschland ist kein gewissenloser Waffenhändler,
wie vor allen Dingen Sie, Herr Kollege Gysi, das versu-
chen darzustellen. Sie verkünden Zahlen als Weltneuhei-
ten, die in jedem Bericht nachzulesen sind. Sie sagen im-
mer, dass das, was Sie sagen, eine Sensation sei; dabei
ist alles nachzulesen. Das ist eben Teil Ihrer PDS-Show.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundesregierung hält sich genau an die Grund-
sätze, die unter Rot-Grün aufgestellt wurden. Sie müssen
doch zur Kenntnis nehmen, dass wir, die christlich-libe-
rale Koalition und die Bundesregierung, uns genau an
das halten, was Sie aufgestellt haben. Davon müssten Sie
doch eigentlich begeistert sein und müssten sagen: Es ist
sehr gut, dass sich Deutschland solche Regelungen gege-
ben hat. – Deutschland liefert nicht leichtfertig Waffen in
die ganze Welt. Hier gibt es ganz klare Regularien, an
die wir uns halten.

Schauen wir uns die vorliegenden Anträge an. Zu
dem Antrag der Linken hat die Kollegin von den Grünen
schon alles gesagt. Mehr ist dazu nicht zu sagen. Er ist
das Papier nicht wert, auf dem er geschrieben steht. Das
hat bloß Ihren ökologischen Fußabdruck wieder etwas
verschlechtert, Herr Kollege Gysi. Sie haben wieder Pa-
pier verbraucht. Der Antrag der SPD enthält wieder ei-
nige Behauptungen, die so nicht haltbar sind. Das passt
aber genau zu dem Bild, das der Kollege Barthel hier ge-
malt hat.


(Klaus Barthel [SPD]: Welche denn? Sagen Sie doch mal, welche!)


Klar ist: Wir werden hier im Parlament immer wieder
über Rüstungskontrolle und Rüstungsausfuhren diskutie-
ren. Sie können sicher sein, dass wir uns diesem Thema
mit großer Verantwortung stellen. Dafür brauchen wir
Ihre Belehrungen nicht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721904000

Das Wort hat jetzt die Kollegin Edelgard Bulmahn

von der SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1721904100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Bundesregierung stellt sich gerne als ent-
schiedene Kämpferin für die Menschenrechte dar, deren
Einhaltung sie ohne Rücksicht auf wirtschaftliche oder

sonstige Interessen anmahnt und einfordert. Eine Politik,
die auch meine Fraktion uneingeschränkt unterstützt. Ich
muss aber ein „Aber“ oder ein „Wenn“ einfügen. Wir
würden diese Politik uneingeschränkt unterstützen,
wenn nicht die Bundesregierung immer dann, wenn es
um die Interessen der deutschen Waffenlobby geht, of-
fenkundig andere Prioritäten setzen würde.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


Deutschland hat sich unter dieser Bundesregierung zur
führenden Exportnation bei Kriegswaffen entwickelt.
Nur die USA und Russland exportieren noch mehr
Kriegsgerät. Man mag das für einen Ausweis deutscher
Wettbewerbsfähigkeit halten, die wir – jedenfalls gilt das
für meine Fraktion – sicherlich für sehr wichtig halten.
Aber, Kollege Lindner, Waffen sind keine x-beliebigen
Wirtschaftsgüter.

Ganz heimlich hat sich die Bundesregierung von den
im Jahr 2000 unter Rot-Grün verankerten politischen
Grundsätzen für den Export von Kriegswaffen und sons-
tigen Rüstungsgütern verabschiedet. Nach diesen Richt-
linien sollten Ausfuhrgenehmigungen für den Export in
Staaten außerhalb der NATO und der EU restriktiv und
nur im Einzelfall erteilt werden. Das besagen die Richtli-
nien.

Es gibt drei wesentliche Kriterien für die Gewährung
bzw. die Versagung einer Exportgenehmigung.

Das erste Kriterium ist die strikte Beachtung der
Menschenrechte. Jetzt frage ich Sie, Kollegen von der
Koalition: Ist die strikte Beachtung von Menschenrech-
ten vereinbar mit Waffenexporten nach Saudi-Arabien
oder nach Pakistan?

Das zweite Kriterium ist die Beurteilung, ob ein
Export im Empfängerland eine nachhaltige Entwicklung
be- oder verhindert. Wenn eine nachhaltige Entwicklung
be- oder verhindert wird, dann sollte keine Exportgeneh-
migung erteilt werden. Ist diesem Kriterium eigentlich
bei der Prüfung Genüge getan, wenn wir jetzt beispiels-
weise Waffen nach Ägypten liefern oder wenn wir sie
nach Algerien liefern werden?

Das dritte Kriterium lautet: Der Export sollte zum
Friedenserhalt und zur Konfliktvermeidung beitragen.

Das sind die Kriterien, die angelegt und geprüft wer-
den müssen. Die Bundesregierung betont zwar immer
wieder, dass sie an diesen politischen Grundsätzen fest-
halten würde – das ist auch eben wieder geschehen –,
aber wenn es um den Export von möglicherweise mehre-
ren Hundert Panzern nach Saudi-Arabien geht, wird
doch schon einmal ein Auge zugedrückt.


(Klaus Barthel [SPD]: Mehrere! – Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Es wird kein Auge zugedrückt, das ist sinnvoll!)


Die Bundeskanzlerin hat inzwischen auch öffentlich
von einer restriktiven Rüstungsexportpolitik Abstand ge-
nommen. In einer denkwürdigen Rede auf der Tagung
des zivilen und militärischen Spitzenpersonals der Bun-





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


deswehr am 2. Oktober 2012 in Strausberg sprach sie
sich, wie die Nachrichtenagentur AFP zu melden wusste,
für Rüstungsexporte zur Friedenssicherung aus.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: Das ist richtig!)


Man höre: Rüstungsexporte zur Friedenssicherung. Und
das in die Länder, die ich eben genannt habe. Rüstungs-
exporte nach Saudi-Arabien. Ich finde, man muss schon
zwischen einer aufgeklärten Politik und einer kaum noch
hinnehmbaren Naivität unterscheiden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die sogenannten Schwellenländer, so die Bundes-
kanzlerin weiter, müssten vor dem Hintergrund ihrer ge-
wachsenen wirtschaftspolitischen Bedeutung mehr si-
cherheitspolitische Verantwortung übernehmen, wozu
wir, NATO und EU, also auch Deutschland, sie durch
den Export von Rüstungsgütern und Ausbildungshilfe
ertüchtigen müssten. Ausbildungshilfe ja, wirtschaftli-
che Entwicklung ja, aber Rüstungsexporte nein. Das ist
jedenfalls unsere Position.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Solange ihr in der Opposition seid!)


Das, so finde ich, ist das eigentlich Gravierende: Mit
dieser Position der Bundeskanzlerin kündigt diese Bun-
desregierung einen Grundkonsens der gesamten Nach-
kriegszeit auf, einen Grundkonsens, der von den 50er-
Jahren bis heute gegolten hat. Dieser Grundkonsens be-
stand darin, dass Waffenexporte nur mit äußerster Zu-
rückhaltung zugelassen werden sollten.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Das ist auch falsch, was Sie sagen!)


Das ist eine Weichenstellung, die meines Erachtens nicht
akzeptabel ist.

Die Bundeskanzlerin behauptet zwar, die Beachtung
der Menschenrechte bleibe das entscheidende Kriterium
und die Waffenexporte sollten nur an vertrauenswürdige
Partner gehen. Aber was waren und sind denn vertrau-
enswürdige Partner? War das Schahregime zum Beispiel
ein solcher Partner? Wurde nicht auch der Irak einst vom
Westen als Bollwerk gegen die iranischen Ajatollahs
hochgerüstet? Gegen welche Feinde sollen denn eigent-
lich die Panzer in Saudi-Arabien eingesetzt werden?
Doch wohl kaum gegen den Iran in den Fluten des Persi-
schen Golfs.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das ist auch naiv!)


Ein Blick in die Nachkriegsgeschichte zeigt in aller
Deutlichkeit: Die Lieferung von Waffen in Konfliktregi-
onen, an autokratische Herrscher oder auch in instabile
Staaten hat sich sicherheitspolitisch nie ausgezahlt, weil
nur allzu oft die Freunde von gestern zu den Gegnern
von heute geworden sind und weil nur allzu oft die Waf-
fen nicht zur eigenen Verteidigung, sondern zur Unter-
drückung der eigenen Bevölkerung eingesetzt wurden.
Aber ungetrübt von all diesen Erfahrungen fördert die

Bundesregierung den Rüstungsexport – inzwischen so-
gar aktiv – in diese Länder. Sie fördert ihn nicht nur
durch die Vorführung der Möglichkeiten des Leopard 2
in Saudi-Arabien; als die Kanzlerin in Angola weilte,
vergaß sie nicht, darauf hinzuweisen, dass man ange-
sichts der zahlreichen unzureichend geschützten Ölplatt-
formen gerne bei der Ertüchtigung der Marine, etwa
durch die Lieferung von Patrouillenbooten, helfen wolle.


(Klaus Barthel [SPD]: Hört! Hört!)


Das ist meines Erachtens eine falsche Politik. Wer
Waffen liefert, fördert regionales Wettrüsten und riskiert
letztendlich, dass sie, über einen längeren Zeitraum be-
trachtet, dem Falschen in die Hände fallen. Wir tun des-
halb gut daran, Waffenexporte in Staaten, die nicht Mit-
glied der NATO oder der EU sind, äußerst restriktiv zu
behandeln. Der jetzt von der Bundesregierung einge-
schlagene Weg hat mit Friedenssicherung nichts, aber
auch gar nichts zu tun. Im Gegenteil: Er ist risikoreich,
konfliktschürend und friedensgefährdend. Deshalb soll-
ten wir dem Einhalt gebieten und mit der heutigen Be-
schlussfassung Sorge dafür tragen, dass die Bundesre-
gierung zu einer restriktiven Genehmigungspraxis
zurückkehrt. Das gilt insbesondere für die Rüstungs-
exportpolitik gegenüber Drittstaaten.

Lassen Sie mich noch einen Hinweis geben. Sie ha-
ben vorhin das Jahr 2005 genannt. Wenn Sie sich das
einmal ein bisschen genauer angucken – ich gehe davon
aus, dass Sie das getan haben –, dann werden Sie fest-
stellen, dass die Lieferungen in Drittstaaten im Jahre
2006 einen Anteil von 27,5 Prozent an den gesamten
Rüstungsexporten hatten, im Jahre 2011 von 42 Prozent.
Das ist genau das Problem. Rüstungsexporte in NATO-
Mitgliedstaaten und in die EU sind jedenfalls unserer
Auffassung nach nicht das Problem. Das Problem sind
die Rüstungsexporte in Drittstaaten, die eben nicht poli-
tisch stabil sind, sondern in denen wir genau von den
Gefahren ausgehen müssen, die ich gerade beschrieben
habe.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das können Sie nicht ignorieren und wegleugnen. Das
steht in Ihren eigenen Berichten. Lesen Sie es nach!


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das waren Schießanlagen und Maschinengewehre nach Saudi-Arabien!)


Umso wichtiger ist es, dass wir als Parlament uns der
Frage der Rüstungsexporte und der Kontrolle der Rüs-
tungsexporte stärker annehmen, als dies bisher der Fall
gewesen ist, und zwar gerade deshalb, damit so etwas
nicht immer unter dem Tisch geschieht, nicht geheim
bleibt, sondern damit wir als Parlament unsere Verant-
wortung auch tatsächlich wahrnehmen können.

Im Augenblick erhält das Parlament die Rüstungs-
exportberichte immer erst mit monatelangen Verspätun-
gen, manchmal sogar erst nach Jahren. Darüber haben
wir hier schon mehrfach diskutiert. Drei Monate nach
Jahresende – so unsere Auffassung – müssen die Rüs-
tungsexportberichte der Bundesregierung dem Parla-





Edelgard Bulmahn


(A) (C)



(D)(B)


ment vorliegen. Das sollte ein Muss sein und keine
Frage von Güte oder Ähnlichem.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir haben noch einen zweiten Vorschlag gemacht,
der mir sehr wichtig ist und der sicherlich zu einer Ver-
besserung der Politik führen wird, nämlich dass wir ein
parlamentarisches Gremium damit beauftragen, die Ver-
antwortung des Parlaments auch tatsächlich wahrzuneh-
men. Sicherlich – das haben einige meiner Vorredner ge-
sagt; das zeigt schon ein Blick in das Grundgesetz – ist
eine Genehmigung oder Versagung eines Rüstungs-
exportvorhabens eine Sache der Exekutive. Das kann
aber nicht heißen, dass das Parlament in die Entschei-
dungsfindung nicht mit einbezogen wird oder werden
könnte und über den Vorgang noch nicht einmal infor-
miert wird, sondern diese Informationen der Presse ent-
nehmen muss. Waffenexporte sind von grundlegender
außen- und sicherheitspolitischer Bedeutung. Deshalb
kann sich auch im Parlament niemand von seiner Verant-
wortung freisprechen.

Ich kann überhaupt keinen Grund für eine übertrie-
bene Geheimhaltung sehen. Glaubt denn wirklich je-
mand allen Ernstes, dass Panzerlieferungen nach Saudi-
Arabien in den Zeiten, in denen wir heute leben, im Ver-
borgenen stattfinden können? Warum kann denn eine
Bundesregierung nicht Farbe bekennen und ihre Ent-
scheidungen auch begründet darlegen? Ist es nicht Sache
des Parlaments, Entscheidungen der Regierung zu über-
prüfen und zu kontrollieren und gegebenenfalls auch in-
frage zu stellen?


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721904200

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Dr. h.c. Edelgard Bulmahn (SPD):
Rede ID: ID1721904300

Genau das fordern wir. Deshalb sage ich ganz offen:

Ich habe kein Verständnis für die Entscheidung der
Mehrheit im Wirtschaftsausschuss, sich genau vor dieser
Verantwortung zu drücken. Deshalb appelliere ich an die
Kolleginnen und Kollegen, unserem Antrag zuzustim-
men.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721904400

Für die FDP-Fraktion spricht jetzt der Kollege

Dr. Rainer Stinner.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])



Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1721904500

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Zum wiederholten Mal sprechen wir heute dieses Thema
an. Die Opposition macht eine saubere Oppositionsar-

beit: Sie recycelt ihre alten Anträge und ihre alten Argu-
mente. Die Opposition ist aber leider nicht lernfähig.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU] – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Antrag ist brandneu!)


Deshalb werden Sie sich heute von unserer Seite ähnliche
Argumente anhören müssen wie beim letzten Mal.

Frau Keul, ich erinnere mich daran, dass Sie beim
letzten Mal bei einigen meiner Argumente richtig heftig
genickt haben. Deshalb möchte ich dies einführend noch
einmal sagen: Wenn wir über das Thema Rüstungs-
exporte sprechen, dann sprechen wir über die Frage: Ist
die deutsche wehrtechnische Industrie sinnvoll, und wel-
che Bedeutung hat sie? Deswegen, sehr verehrte liebe
Frau Keul, wiederhole ich mein Argument, bei dem Sie
das letzte Mal so begeistert genickt haben: Ich stehe da-
für, dass wir in Deutschland nach wie vor eine Bundes-
wehr haben. Nicht alle wollen das; aber wir stehen dafür.
Wenn das so ist, dann stehe ich dafür, dass wir die Bun-
deswehr nicht nur mit Waffen aus Tschechien, Schwe-
den, Amerika und Großbritannien ausrüsten, sondern
dass wir sie auch mit deutschen Waffen ausrüsten wollen
und müssen.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Ernst Hinsken [CDU/CSU])


Wenn das richtig ist, dann müssen wir zur Kenntnis neh-
men, dass niemand von uns in der Lage und bereit ist,
den deutschen Wehretat so weit aufzublasen, dass wir
dadurch eine veritable leistungsfähige deutsche wehr-
technische Industrie erhalten können.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Exakt!)


Wenn auch dieser Satz richtig ist, dann heißt das: Rüs-
tungsexport, Export von wehrtechnischen Produkten
kommt natürlich in Betracht.

Auch jetzt wiederhole ich mich zum wiederholten
Male: Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken,
wir erwarten nicht, dass bei Ihnen die Argumente ver-
fangen.


(Zurufe von der LINKEN)


Aber wir lassen Ihnen auch nicht durchgehen, dass Sie
hier dauernd alles durcheinanderbringen – das ist ja wie
Kraut und Rüben – und alles miteinander vermischen.
Der Kollege Pfeiffer hat völlig zu Recht gesagt, dass in
den Zahlen, über die wir sprechen, zum Beispiel die
Ausrüstung der Krankenhäuser und die Ausrüstung für
die Minensuche enthalten sind. Das sind humanitäre
Aspekte, die in die Kategorisierung fallen. Damit tun wir
doch etwas Gutes für die Welt. Von daher denken wir gar
nicht daran, das so undifferenziert stehen zu lassen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich erwarte auch nicht, dass wir Sie überzeugen. Aber
wir sprechen hier im Deutschen Bundestag als Podium
für das Volk, für die vielen Journalisten, die hier oben
links sitzen, für die vielen Bürgerinnen und Bürger, auch
für jene aus Beilstein, die uns heute zuhören, und für die





Dr. Rainer Stinner


(A) (C)



(D)(B)


vielen Millionen an den Rundfunkgeräten zu Hause.
Deshalb müssen Sie sich die Argumente hier noch ein-
mal anhören.

Ich sage also zum wiederholten Male: Es gibt hier im
Raum eine Person, die als Ministerin Teil des Bundes-
kabinetts war,


(Elke Hoff [FDP]: Jawohl!)


das Kriegswaffen, das Waffen nach Saudi-Arabien gelie-
fert hat,


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


und zwar solche Waffen, die in erster Linie zur Unter-
drückung von Aufständischen eingesetzt werden, näm-
lich Handfeuerwaffen und Maschinenpistolen. Sehr ver-
ehrte Frau Bulmahn, da waren Sie im Bundeskabinett!
Sie tun jetzt so, als gäbe es eine neue Politik gegenüber
Saudi-Arabien. Sie tun so, als entdeckten Sie erst heute,
dass Saudi-Arabien kein Rechtsstaat wie Dänemark,
Deutschland und Belgien ist; dazu sage ich: Das ist trau-
rig und spricht nicht für Ihre außenpolitische Kompe-
tenz. Medizinisch könnte man sagen: Sie leiden unter re-
trograder Amnesie, das heißt, Sie haben vergessen, was
Sie damals selber gemacht haben. Das müssen wir sehr
deutlich sagen.


(Beifall bei der FDP – Edelgard Bulmahn [SPD]: Ich ziehe Konsequenzen aus den Entwicklungen! Genau das tun Sie nicht! Sie ziehen keine Konsequenzen aus Entwicklungen!)


Meine Damen und Herren, zum Abschluss zu der ers-
ten Frage, die uns jetzt bewegt: Wie gehen wir mit der
Situation um, was das Informatorische und den Ent-
scheidungsrhythmus angeht? Es ist schon gesagt worden
– da sind wir einer Meinung; ich bin auch zitiert worden;
es ist ja richtig, was ich gesagt habe –, dass wir mit der
gegenwärtigen Situation natürlich nicht zufrieden sein
können. Den Informationsrhythmus haben aber nicht wir
eingeführt, den hat nicht diese böse Bundesregierung
eingeführt. Wir haben nur das fortgesetzt, was frühere
Bundesregierungen getan haben, vor allen Dingen die-
jenigen, unter denen viele Waffen nach Saudi-Arabien
geliefert worden sind.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr wahr!)


Den Rhythmus haben wir beibehalten.

Wir sehen jetzt alle gemeinsam, dass es sinnvoll ist,
den Rhythmus zu ändern. Deshalb schlagen wir vor, dass
wir tatsächlich in einen anderen Rhythmus kommen; das
kann zum Beispiel quartalsmäßig sein.

Die weitere Frage ist: Wann kann der Bericht veröf-
fentlicht werden? Ich persönlich nehme der Bundesre-
gierung nicht ab – das Argument hat sie bisher immer
gebracht –, es sei so schwierig, die Daten zusammenzu-
stellen. Nein, liebe Leute in der Regierung, da müsst ihr
euch ein bisschen anstrengen! Das klappt schon! Ich
halte die Bundesregierung für fähig, innerhalb von drei
Monaten die Zahlen zusammenzustellen. Dann hätten
wir einen neuen Rhythmus.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Klaus Barthel [SPD]: Bis wann kriegen wir Ihren Antrag?)


Ich gehe davon aus – ich gehöre der Regierung nicht an –,
dass wir Initiativen ergreifen werden mit dem Ziel, noch
in dieser Legislaturperiode eine Änderung hinzubekom-
men. Das ist jedenfalls mein Ziel. Ich hoffe, es zu errei-
chen. Wenn ich es nicht erreiche, bedaure ich es, und
dann können Sie mich auch gern kritisieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Abg. Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721904600

Herr Stinner, erlauben Sie eine Zwischenfrage?


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1721904700

Ich habe nur noch 40 Sekunden Redezeit.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721904800

Das wird nicht angerechnet.


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1721904900

Ich möchte das aber jetzt im Zusammenhang darle-

gen. – Ich möchte jetzt zu der nächsten Frage kommen,
nämlich zu der Frage: Ist es sinnvoll, ein Gremium zu
schaffen, das sich mit Rüstungsexporten beschäftigt?
Darüber kann man durchaus nachdenken. Es gibt Pros
und Cons. In einigen anderen Ländern – wir haben uns
das angeguckt – ist das Parlament tatsächlich beteiligt.
Darüber muss man nachdenken, und das werden wir
sicherlich auch gern tun. Die Frage, die wir uns selber
stellen müssen, Frau Bulmahn, ist nur: Hilft es dem ein-
zelnen Abgeordneten, wenn es ein Gremium gibt, das
mit solchen Fragen befasst ist, aber im Geheimen tagt?
Wenn ich als Abgeordneter dem Gremium nicht ange-
höre, werde ich in der Öffentlichkeit trotzdem für solche
Themen in Anspruch genommen, kann mich aber nicht
wehren, kann auch nichts sagen. Von daher ist die Frage,
wie das Ganze gestaltet werden soll, noch offen. Es ist,
glaube ich, zu früh, darüber zu entscheiden. Ich persön-
lich gehe nicht davon aus – auch das mögen Sie kritisie-
ren –, dass wir das noch in dieser Legislaturperiode
schaffen werden. Ich halte das nicht für realistisch. Aber
es wird dann ja weitergehen. Wir müssen uns genau
überlegen, was wir dort machen. Aber an der exekutiven
Aufgabe werden wir nicht rütteln wollen und können.
Letztendlich ist die Entscheidung eine Entscheidung der
Bundesregierung, der Exekutive. Das wird auch in Zu-
kunft nach meinem Dafürhalten so sein und so sein müs-
sen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721905000

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt der Kollege Jan

van Aken das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Jan van Aken (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721905100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es geht

hier heute darum, dass Deutschland Panzer, Gewehre
und tausend Arten von Waffen ziemlich hemmungslos in
alle Welt exportiert.


(Dr. Joachim Pfeiffer [CDU/CSU]: „Hemmungslos“!)


Es geht hier darum, dass Deutschland drittgrößter Waf-
fenexporteur der Welt ist. Das schreibt die Bundesregie-
rung selbst in ihrem Rüstungsexportbericht. Was heißt
das eigentlich? Ganz praktisch heißt das, dass da drau-
ßen Menschen sterben, weil Sie sich weigern, Waffen-
exporte zu verbieten. So einfach ist das, und so brutal ist
das.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: So einfach ist die Welt von Herrn van Aken!)


Jetzt habe ich hier verschiedene Argumente gehört,
mit denen Sie Waffenexporte begründen wollen. Das
letzte Argument war „humanitär“, weil unter Rüstungs-
exporte auch Minenräumgeräte fallen. Das ist wirklich
das lächerlichste Argument, Herr Stinner, das ich je ge-
hört habe. Im Jahre 2011 hat diese Bundesregierung
Rüstungsexporte im Wert von 10,8 Milliarden Euro
genehmigt. Wenn ich Minenräumgeräte und Kranken-
häuser herausrechne, sind es mit Sicherheit immer noch
10,7 Milliarden Euro. Das sind 10,7 Milliarden Euro zu
viel, Herr Stinner; das wissen Sie auch.


(Beifall bei der LINKEN)


Das zweite Argument – und da läuft es mir wirklich
kalt den Rücken herunter – ist, dass ein massiver Ver-
kauf von Waffen für Sicherheit in der Welt sorgt. Wissen
Sie, woran mich das erinnert? An diese widerliche Waf-
fenlobby in den USA. Jedes Mal, wenn es dort einen
Amoklauf gibt, wenn wieder tote Kinder im Klassen-
raum liegen, sagen ihre Vertreter: Wir müssen noch mehr
Waffen verkaufen, um damit noch mehr Sicherheit zu
schaffen. – Wir wissen doch alle, wie absurd das ist, dass
damit nur noch mehr Amokläufe befördert werden, dass
es noch mehr Tote gibt. Mit Waffenexporten fördern Sie
keine Sicherheit, sondern Unsicherheit und Destabilisie-
rung; das wissen Sie.


(Beifall bei der LINKEN)


Machen Sie sich keine Illusionen. Jede einzelne die-
ser Waffen, die Sie jetzt verkaufen wollen, wird irgend-
wann auch eingesetzt, ganz blutig und ganz brutal. Ich
finde, Sie ganz persönlich tragen daran eine Mitschuld.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Erzählen Sie jetzt kein dummes Zeug! Das ist unmöglich, was Sie hier verzapfen!)


Das dritte Argument, das ich heute von CDU und
FDP gehört habe, ist wirklich der Hammer: dass mit
Waffenexporten Menschenrechte geschützt werden.
Wissen Sie, in welches Land im Jahre 2012 die meisten
Rüstungsexporte – im Wert von über 1,3 Milliarden
Euro – genehmigt wurden? Nach Saudi-Arabien. Was
glauben Sie denn, wie Sie mit Leopard-Panzern in

Saudi-Arabien Menschenrechte schützen? Herr Lindner,
Sie wissen ganz genau, dass das Blödsinn ist.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie erzählen dummes Zeug! Sie wissen genau, dass kein einziger Panzer dabei war! Sie sind ein Schwätzer vor dem Herrn!)


Dann höre ich hier das Argument, dass die deutsche
Polizei in Saudi-Arabien einen Job im Dienst der Men-
schenrechte betreibt, weil sie dort die Grenzpolizisten
ausbildet und dafür sorgt, dass die Menschen dann men-
schenrechtskonform festgenommen werden. Glauben
Sie denn ganz im Ernst, Herr Lindner, dass der arme
Mensch, der heute in Riad im Folterkeller sitzt, der ge-
martert wird, dankbar dafür ist, mit deutscher Hilfe men-
schenrechtskonform festgenommen worden zu sein?
Dessen Blut klebt auch an Ihren Fingern, Herr Lindner.
Ich finde das widerlich, was Sie hier verbreiten.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn das Ganze nicht so brutal wäre, dann hätte ich
mich eigentlich bei der heutigen Debatte das ein oder an-
dere Mal auch amüsiert zurücklehnen und beobachten
können, wie Sie sich hier gegenseitig vorwerfen, dass
Sie doch alle hemmungslos Waffen in alle Welt verkauft
haben. Das stimmt ja auch. Sie alle – SPD, Grüne, CDU,
CSU, FDP – haben über viele Jahre und Jahrzehnte hem-
mungslos Waffen in alle Welt verkauft und werfen sich
jetzt gegenseitig Heuchelei vor. Auch das stimmt.

Frau Bulmahn, ich finde es wirklich verlogen, dass
Sie für die SPD hier Waffenexporte nach Saudi-Arabien
kritisieren, aber gleichzeitig keinen einzigen Ton dazu
sagen, dass Sie Ministerin waren und die SPD mitregiert
hat, als eine ganze Waffenfabrik für Saudi-Arabien ge-
nehmigt wurde. Heute sind die Saudis in der Lage, das
hochmoderne deutsche G36-Gewehr selbst zu bauen.
Die bewerben das schon international zum Verkauf. Ich
möchte mir gar nicht vorstellen, wie viel Blut in den
nächsten Jahrzehnten damit vergossen wird. Und wer hat
es gemacht? Sie von der SPD haben es gemacht. Das ist
leider so.

Sie sagen jetzt hier, Sie hätten gelernt; aber das
stimmt nicht. Ich habe mir die Anträge genau durchgele-
sen. Wenn man alles von dem, was die SPD hier im Mo-
ment fordert, umsetzen würde, dann würde sich gar
nichts ändern. Keine einzige Ihrer Forderungen würde
bei einer Umsetzung auch nur einen einzigen Waffenex-
port verhindern. Wenn man Ihren Antrag genau durch-
liest, dann erkennt man: Sie fordern explizit, dass weiter-
hin Waffen nach Saudi-Arabien, an Diktaturen verkauft
werden können.


(Klaus Barthel [SPD]: Unsinn! Das ist jetzt politischer Analphabetismus! – Edelgard Bulmahn [SPD]: Das ist doch völlig falsch!)


Sie fordern, dass weiterhin Kleinwaffen in alle Welt ver-
kauft werden können. Ich frage mich: Warum eigentlich?
Warum sind Sie von der SPD und von den Grünen ei-
gentlich nicht bereit, zu sagen: „Wir müssen wenigstens





Jan van Aken


(A) (C)



(D)(B)


ein generelles Verbot von Kleinwaffenexporten endlich
durchsetzen“?


(Beifall bei der LINKEN)


Sie wissen genau, dass das die Massenvernichtungswaf-
fen unserer Zeit sind. Sie wissen genau, wie viele Men-
schenleben wir retten könnten, wenn wir die Kleinwaf-
fenexporte endlich verböten; aber Sie trauen sich nicht.

Sie reden über Transparenz; das finde ich gut. Ich
möchte auch mehr wissen; ich möchte schneller wissen,
welche Waffenexporte die Regierung genehmigt. Aber
Sie wissen auch, dass Transparenz allein nicht einen ein-
zigen Waffenverkauf verhindert. Sie haben Ihre eigenen
Erfahrungen gesammelt: Die rot-grüne Regierung hat
1999 für mehr Transparenz gesorgt und den Rüstungs-
exportbericht eingeführt. Aber Sie haben damit keinen
einzigen Waffenexport verhindert. Das Volumen der
Waffenexporte ist auch in Ihrer Regierungszeit gestiegen
und gestiegen und gestiegen,


(Klaus Barthel [SPD]: Das stimmt aber nicht! Das ist objektiv falsch!)


und das tun sie bis heute.

Wenn man Waffenexporte einschränken will, dann
helfen nur klare Verbote ohne jede Ausnahme. Dafür
steht die Linke, und zwar nur die Linke.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: In alter Tradition!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721905200

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege

Philipp Mißfelder das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1721905300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kollegen! Herr van Aken, ich muss schon
ein paar Dinge richtigstellen, die Sie hier aus meiner
Sicht falsch dargestellt haben. Sie haben sich wieder auf
diese Zahlenspielerei eingelassen – es gibt große Diffe-
renzierungen bei der Zählweise: In manchen Statistiken
sind wir nicht auf Platz drei, sondern auf Platz sechs –
und dabei unter den Tisch fallen lassen, dass das, was die
Regierung im Rahmen des Rüstungsexportberichts prä-
sentiert, ein Höchstmaß an Transparenz herstellt. Wir
schaffen Transparenz, weil wir in der Tat alles, was im
weitesten Sinne mit Rüstung zu tun hat – hier geht es
nicht zwangsläufig um Waffen –, in den Bericht aufneh-
men.


(Klaus Barthel [SPD]: Das haben Sie aber nicht freiwillig gemacht, sondern das ist Rechtslage seit 2000! Da bleibt Ihnen gar nichts anderes übrig!)


Das machen nicht alle Länder auf der Welt; aber die
Bundesregierung hat es gemacht. Insofern zeugt die Sta-
tistik von einem Höchstmaß an Transparenz.


(Klaus Barthel [SPD]: Die haben wir eingeführt!)


– Ich lobe gleich noch die SPD.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Aber nicht zu viel!)


Beruhigen Sie sich doch! Ich lobe Sie doch gleich dafür,
dass Sie von der SPD zu Zeiten, in denen Sie regiert ha-
ben, wenig Probleme damit hatten, in genau dieselben
Länder, über die wir in den vergangenen Monaten disku-
tiert haben, Rüstungsgüter zu exportieren. Es war auch
außenpolitisch richtig, es so zu machen. Ich verstehe
dann allerdings nicht, dass Ihr Kanzlerkandidat vollmun-
dig ankündigt, den Hebel umzulegen und bei der Rüs-
tungsexportpolitik eine andere Richtung einzuschlagen.
Was soll denn das für eine Richtung sein? Soll es die
Richtung von Schröder und Fischer sein: noch mehr
Exporte? Oder will man das mit Augenmaß angehen, so
wie wir es machen, in der Kontinuität dessen, was wir in
der Großen Koalition gemeinsam getan haben? Viele
Rüstungsgeschäfte, die sich erst jetzt in der Statistik ab-
bilden, haben wir in der Großen Koalition eingeleitet. Da
saßen Sie mit uns zusammen in der Regierung. Deshalb
ist das, was die SPD hier heute aufführt, einfach nur ge-
spieltes Theater. Denn die Empörung, die Sie hier nach
außen tragen, können Sie nicht wirklich ernst meinen.

Helmut Schmidt hat zu Beginn der 80er-Jahre, zwi-
schen 1978 und 1981, in groben Zügen genau die Ge-
heimhaltungsregeln auf den Weg gebracht – er konnte
sich am Ende mit den Vorschlägen nicht durchsetzen –,
die wir heute haben. Sein damaliger Mitarbeiter im Bun-
deskanzleramt, Peer Steinbrück – er war zwar nicht un-
mittelbar daran beteiligt, aber er eifert Helmut Schmidt
Zug um Zug nach –, sollte wissen, was der große Mentor
und Übervater der SPD zur damaligen Zeit von sich ge-
geben hat.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Es wurde im Übrigen auch über Saudi-Arabien geredet.
Man hatte damals keine Bedenken, mit Saudi-Arabien
Gespräche zu führen –


(Klaus Barthel [SPD]: Das wurde ja 1982 gestoppt! Deswegen gab es ja die Richtlinien! Das ist Geschichtsklitterung! Wir haben das 1982 schon geändert!)


auch wenn es nachher nicht zu dem Geschäft gekommen
ist. Die Empörungskompetenz, die Sie hier heute bewei-
sen, hatten Sie damals nicht; sie erlahmt erstaunlicher-
weise immer dann, wenn Sie regieren. Insofern ist das,
was Sie machen, absolut verantwortungslos. Wir sollten
nicht sensibelste Punkte der deutschen Außenpolitik
zum Gegenstand parteipolitischer Auseinandersetzung
machen. Diesen Konsens lösen Sie zunehmend auf;


(Klaus Barthel [SPD]: Ach!)


das gilt sowohl für die Grünen als auch für die SPD,
meine Damen und Herren. Ich werbe dafür, dass man
mit der außenpolitischen Rationalität, mit dem realpoliti-
schen Ansatz, für den wir in der Rüstungsexportpolitik
stehen, auch in Zukunft verantwortungsbewusst umgeht.





Philipp Mißfelder


(A) (C)



(D)(B)


Es macht sich wirklich niemand an dieser Stelle das
Leben leicht. Wir haben es gestern bei der Mali-Debatte
erlebt; wir haben es bei der Afghanistan-Debatte erlebt.
Hier redet doch niemand aus unserer Fraktion oder aus
der FDP-Fraktion in Schwarz-Weiß-Bildern.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schwarz-Gelb ist viel schlimmer!)


Wir wissen, dass wir es oft mit sehr schwierigen Partnern
zu tun haben. Trotzdem hat Deutschland als Industrie-
nation, als Exportnation auch Interessen. Zu den deut-
schen Interessen gehört zum Beispiel, dass wir im Mitt-
leren Osten Stabilität brauchen.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Dazu gehört auch, dass wir in Afrika Partner, auf die wir
setzen, stark machen wollen, damit sie sich selbst helfen
können.


(Klaus Barthel [SPD]: Libyen! Saudi-Arabien! – Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gaddafi!)


Dazu gehört die Ausbildung; dazu gehört aber auch die
Bereitstellung von militärischer Unterstützung. Das ist
bei Rüstungsgütern nun einmal der Fall. Wenn Sie sich
vorstellen, dass in Mali nicht die Franzosen eingreifen
müssten, sondern wir es in Mali mit starken ECOWAS-
Verbänden zu tun hätten, die vernünftig ausgebildet und
auf die Herausforderung vorbereitet gewesen wären, wä-
ren die Möglichkeiten größer, dass sich die Europäer und
an dieser Stelle die Franzosen zurückhalten könnten. Die
Ertüchtigung unserer Partner und Verbündeten nach ei-
nem realpolitischen Abwägungsprozess – wir wägen
auch nach moralischen und ethischen Kriterien ab – wol-
len wir vorantreiben.


(Klaus Barthel [SPD]: Modell Libyen!)


– Zu Libyen hat Ihnen doch gestern schon der Außen-
minister gesagt: Wer hat denn im Zelt von Gaddafi ge-
sessen? Wer hat denn Herrn Gaddafi den Teppich ausge-
rollt und es ermöglicht, dass er sein Zelt im Tiergarten
aufschlägt? Das war doch nicht die CDU/CSU; das war
ein Bundeskanzler, den Sie getragen haben. Dagegen ha-
ben Sie nichts gesagt, überhaupt nichts.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb hören Sie doch mit solchen Zwischenrufen auf!

Ich sage Ihnen: Es gibt in diesem Zusammenhang
keine Entscheidung der Bundesregierung, die mit Jubel
oder mit großer Euphorie getragen wird. Vielmehr ist es
eine realpolitische nüchterne Abwägung, bei der unsere
Interessen und unsere Wertmaßstäbe immer miteinander
kollidieren. Das ist bei fast allen Auslandseinsätzen der
Bundeswehr so; das ist bei vielen bilateralen Abkommen
von der Rohstoffpolitik bis hin zu Verträgen bei anderen
wirtschaftlichen Themen, die wir mit schwierigen Part-
nern beraten, der Fall. Es ist eben nicht alles schwarz
und weiß. In der Außenpolitik gibt es vielmehr sehr viele
Graubereiche. Da muss man nüchtern und realpolitisch
antworten.

Ich komme zurück zu Helmut Schmidt. Ich finde, das,
was er in seinen Büchern dazu schreibt, was er als Bun-
deskanzler gesagt und getan hat, sollte Sie ermahnen.
Daran sollten Sie sich wirklich mehr orientieren. Demo-
kratie lebt ja vom Wechsel. Nicht dieses Jahr, aber ir-
gendwann wird auch wieder Verantwortung auf Sie zu-
kommen. Ich hoffe, dass Sie dann auch so viel Vernunft
aufbringen, dass Sie eine solche außenpolitische Kom-
petenz zurückgewinnen.

Das, was Sie in den letzten Wochen und Monaten von
sich gegeben haben, reicht schon jetzt für eine Samm-
lung, die man an dem Tag einer SPD-Regierungsbeteili-
gung vortragen kann, an dem Sie sämtlichen Rüstungs-
exporten wieder zustimmen werden, so wie Sie es auch
in der Vergangenheit getan haben. Das ist es, was ich Ih-
nen vorwerfe: dass Sie überhaupt nicht konsequent sind
in Ihrem vergangenen Regierungshandeln und in dem
Oppositionsgerede, das Sie heute von sich geben.

Ein letzter Punkt zur Rüstungsindustrie in Deutsch-
land insgesamt: Es hängen viele Arbeitsplätze daran.
Deshalb kann man diesen wichtigen Wirtschaftszweig
auch nicht leichtfertig aburteilen. Wir beteiligen uns zum
Beispiel an der Global-Zero-Initiative. Außenminister
Westerwelle ist dort seit Jahren aktiv. Wir sind bei vielen
Abrüstungsinitiativen weltweit engagiert. Aber wir glau-
ben trotzdem, dass auch Waffen, verbunden mit dem
rechtsstaatlichen Gewaltmonopol, zur außenpolitischen
Konzeption gehören. Für eine waffenfreie Welt kann
man gern sein; man kann sich dafür gern einsetzen. Aber
es ist in erster Linie Träumerei. Deshalb sind wir nach
der klaren Maßgabe unserer Richtlinien, nach einer
strengen Rückkopplung auch hier und einer permanen-
ten öffentlichen Überprüfung der Diskussion – nichts an-
deres machen wir hier seit anderthalb Jahren; wir disku-
tieren häufig über die Frage der Rüstungsexporte – der
Meinung, dass die Unterstützung des Gewaltmonopols
einzelner Staaten auch durch Rüstungsexporte stattfin-
den kann.

Eines noch zu den Arbeitsplätzen: Ich bin der festen
Überzeugung, dass die deutsche Rüstungsindustrie wei-
terhin eine gute Zukunft braucht, nicht nur für die Ar-
beitsplätze, sondern auch als Technologieträger für ganz
andere technologische Entwicklungen. Die Vergangen-
heit hat doch gezeigt, dass die Rüstungsfirmen in
Deutschland zum technologischen Fortschritt beigetra-
gen haben. Hören Sie deshalb mit diesen Diffamierungs-
kampagnen auf!

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721905400

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

der Kollege Erich Fritz von der CDU/CSU-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1721905500

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Wir führen diese Debatte heute zum x-ten





Erich G. Fritz


(A) (C)



(D)(B)


Male. Ich kann keine wesentlichen neuen Argumente er-
kennen.


(Klaus Barthel [SPD]: Vielleicht erzählen Sie uns neue!)


Bei dem Beitrag von Herrn Gysi hat sich allerdings
zum ersten Mal meine Bewunderung für seine sprachli-
chen Fähigkeiten


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Da fangen Sie aber spät an!)


in Mitleid gewandelt. Die Art und Weise, wie Sie sich
selbst politikunfähig machen,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ach Gott!)


ist schon erstaunlich. Eigentlich mag ich mir das nicht
mehr zumuten. Wir sind ungefähr gleich alt. Als Sie den
einzigen Überfall eines europäischen Landes in ein
Nachbarland noch politisch getragen haben, haben alle
Fraktionen, die hier sitzen, schon lange an einer europäi-
schen Friedensordnung gearbeitet, die nie ihresgleichen
hatte und die einen Erfolg gezeitigt hat, von dem auch
Sie heute profitieren. Dass Sie auf diese Art und Weise
verantwortungslos mit den Themen umgehen und durch
Weglassen ganz wichtiger Aspekte


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Welche?)


dazu beitragen, dass es keine verantwortbare Debatte
gibt, nehme ich Ihnen wirklich übel; denn Sie wissen es
ja besser.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das war aber auch kein Argument!)


– Nein, das war kein Argument. Das war ein Gefühl.
Aber das muss auch einmal gesagt werden.

Herr Barthel, den ich im Übrigen als freundlichen
Herrn Barthel anspreche, hat dann versucht, den kleinen
Gysi zu machen, und dadurch nachgewiesen, dass die
SPD Opposition am besten kann. Deshalb hat die Erwar-
tung von Philipp Mißfelder, irgendwann könne die SPD
wieder in die Regierungsverantwortung kommen, eine
sehr lange Perspektive. Er ist aber noch ein sehr junger
Abgeordneter.

Lieber Herr Barthel, auch Ihnen war das Thema nicht
wichtig genug, weil Sie es zumindest teilweise für den
bayerischen Landtagswahlkampf genutzt haben.


(Klaus Barthel [SPD]: Ich doch nicht!)


Warum eigentlich? Warum führen Sie die Debatte im
Augenblick so, als wäre das eine Hauptauseinanderset-
zung zwischen Opposition und Regierung? Das ist doch
gar nicht wahr. Sie merken doch ganz genau an den Bei-
trägen, die sich – das gebe ich zu – in den letzten Jahren
gewandelt haben, dass es dem ganzen Haus darum geht,
auf einige entscheidende Fragen Antworten zu finden.


(Klaus Barthel [SPD]: Schön wär’s!)


Diese Fragen müssen vor dem Hintergrund von si-
cherheits- und außenpolitischen Debatten beantwortet
werden.


(Klaus Barthel [SPD]: Hab ich ja gesagt!)


Ich freue mich, dass Herr Schockenhoff und Herr
Kiesewetter heute Morgen in der Afghanistan-Debatte
erneut eingefordert haben, dass wir eine solche Debatte
brauchen. In diesem Zusammenhang müssen wir über
die Zukunft der Bundeswehr, die eine irrsinnige Verän-
derung vor sich hat, reden und darüber, was das für de-
ren Ausstattung bedeutet. Wir müssen auch über die Ver-
änderung der NATO reden, die ebenfalls Konsequenzen
zu erwarten hat.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das muss man dringend überlegen!)


Sie aber erfinden und polemisieren den Begriff „Merkel-
Doktrin“. Das ist einfach unfair.


(Klaus Barthel [SPD]: Habe ich nicht erfunden!)


– Nein, aber Sie benutzen ihn als politischen Kampfbe-
griff. – Was hat sie denn gesagt? Sie hat gesagt, dass Si-
cherheit nicht nur auf militärische Weise betrachtet wer-
den muss, nicht nur als Konflikt zwischen Staaten,
sondern dass die Sicherheit heute bedroht ist durch Dro-
genwege, durch Menschenhandel,


(Klaus Barthel [SPD]: Die Kernbotschaft war, Waffen statt Soldaten hinzuschicken!)


durch Schwächen in der Grenzsicherung. Herr
Kiesewetter und ich waren vor Weihnachten in Libyen
und haben mitbekommen, welche Probleme es gibt, die
Grenze, die eigentlich nicht zu sichern ist, vor Drogen,
Menschenschmuggel, Waffenschmuggel und Einsickern
von Kräften, die man nicht gebrauchen kann, zu schüt-
zen.


(Klaus Barthel [SPD]: Du musst mal über Geldwäsche reden!)


Das sind riesige Probleme. Darüber zu diskutieren, hat
doch vordergründig nicht mit Waffenexporten zu tun,
sondern mit einer internationalen Gemeinschaft, in der
jeder in der Lage ist, am Frieden mitzubauen. Man muss
die Debatte so führen, dass die richtigen Wege gefunden
werden. Wir müssen sie auf europäischer Ebene finden;
aber Deutschland kann einen wesentlichen Beitrag dazu
leisten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nicht immer liegt es an Deutschland, wenn etwas
nicht funktioniert. Wir reden seit vielen Jahren darüber,
dass wir uns um eine verstärkte europäische Kooperation
bemühen müssen. Warum konkurrieren auf der Welt un-
terschiedliche Jagdflugzeuge miteinander? Liegt das an
Deutschland?


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unter anderem! – Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Ist das das Problem?)






Erich G. Fritz


(A) (C)



(D)(B)


– Nein, das ist nicht das Problem. Aber das behindert
den Fortschritt, wenn es um die Reduzierung und Kon-
zentration auf die Ausstattung der Bündnisstreitkräfte
und der europäischen Streitkräfte geht.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Deshalb ist das ein wichtiger Aspekt, den man nicht
vergessen darf.

Ich kann nicht alle Aspekte ansprechen, weil die Zeit
so schnell vorbeigeht. Ich möchte mich aber noch an die
Kollegin Katja Keul wenden. Sie haben über die Not-
wendigkeit der europäischen Kooperation gesprochen
und haben das, was wir erreicht haben, ein wenig klein-
geredet. Nun sind Sie noch nicht so lange im Deutschen
Bundestag. Ich dagegen bin schon sehr lange im Bun-
destag und kann mich deshalb an eine Zeit erinnern, in
der es in Europa keine Dual-Use-Verordnung gab, die in
Deutschland inzwischen unmittelbares Recht ist. Es gab
keinen Gemeinsamen Standpunkt; vielmehr war der
Weg zu einem unverbindlichen Kodex noch sehr weit.
Es gab keine Europäische Rüstungsagentur, über deren
Wirksamkeit und Sinn man im gegenwärtigen Zustand
durchaus diskutieren kann. All das zeigt: Wir waren
noch ganz am Anfang.

Der geltende Rechtsrahmen ist vielleicht nicht ideal.
Ich würde auch sagen, dass er wesentliche Anforderun-
gen, zum Beispiel die Endverbleibskontrolle, nach wie
vor nicht regelt. Wir können aber nicht so tun, als könn-
ten wir völlig unabhängig ein Konzept entwickeln; denn
wenn wir eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspoli-
tik Europas wollen, dann muss die Entwicklung in dieser
Hinsicht parallel verlaufen. Der geltende Rechtsrahmen
verlangt von einigen Partnerstaaten, noch viel höhere
Hürden zu überspringen, als sie es bisher bereit waren.
Allein das Vorgehen der Franzosen, das letzte Woche
einmütig für positiv befunden wurde, macht deutlich,
dass es unterschiedliche Ansätze, unterschiedliche
Kulturen in der Sicherheitspolitik gibt. Dem folgt die
Ausstattungs- und die Rüstungswirtschaftspolitik, die
ein Zusammenkommen nicht so einfach macht. Die an-
deren werden nicht bereit sein, zu sagen: Nach dem
deutschen Wesen soll die europäische Sicherheits- und
Verteidigungspolitik genesen.

Ich schließe mich dem Kollegen Stinner voll an, auch
was die Erwartungen, die wir an die Bundesregierung
haben, angeht. Ich hoffe, dass wir einen Schritt weiter-
kommen und dass dieser Schritt dazu beiträgt, dass man
das, was man verwirklichen kann, sinnvollerweise ge-
meinsam tut. Ansonsten befürchte ich, dass aufgrund des
üblichen Spiels, das hier betrieben wird, aus grundsätzli-
chen Erwägungen, die nichts mit der Sache zu tun haben,
ein Scheitern in Kauf genommen wird.

Ich ermuntere Sie, die Debatte fortzuführen, und zwar
in einer Art und Weise, dass man einander zuhört, aufei-
nander zugeht und die grundsätzlichen Erfordernisse,
mit denen wir als großes Land in der Mitte Europas, als
wichtiger Bündnispartner und als eine führende Nation
in der Europäischen Union konfrontiert sind, nicht aus
den Augen verliert.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721905600

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10842 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung ist
jedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und der
FDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirt-
schaft und Technologie. Die Fraktion Die Linke wünscht
Federführung beim Auswärtigen Ausschuss.

Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführung
beim Auswärtigen Ausschuss. Wer stimmt für diesen
Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Der Überweisungsvorschlag ist abgelehnt
mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Zustimmung der Linken und der Grünen.

Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-
schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP,
Federführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Techno-
logie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Überweisungs-
vorschlag ist mit umgekehrtem Stimmenverhältnis ange-
nommen.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage 17/11785
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Beschlussemp-
fehlung des Ausschusses für Wirtschaft und Technologie
auf Drucksache 17/12098. Der Ausschuss empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung
des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9188
mit dem Titel „Frühzeitige Veröffentlichung der Rüs-
tungsexportberichte sicherstellen – Parlamentsrechte über
Rüstungsexporte einführen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die
Linke bei Gegenstimmen der SPD und der Grünen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ableh-
nung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
auf Drucksache 17/9412 mit dem Titel „Rüstungsexporte
kontrollieren – Frieden sichern und Menschenrechte wah-
ren“. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 40 a bis 40 f und
40 h auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Struk-
turreform des Gebührenrechts des Bundes

– Drucksache 17/10422 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Haushaltsausschuss





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über kon-
junkturstatistische Erhebungen in bestimmten

(Dienstleistungskonjunkturstatistikgesetz – DLKonjStatG)

– Drucksache 17/12014 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Innenausschuss

c) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Valerie Wilms, Dr. Anton Hofreiter, Bettina
Herlitzius, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Neustart für ein europäisches Zugsicherungs-
system
– Drucksache 17/10844 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Mechthild Rawert, Bärbel Bas, Elke Ferner, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Rezeptfreiheit von Notfallkontrazeptiva – Pille
danach – gewährleisten
– Drucksache 17/11039 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

e) Beratung des Antrags der Abgeordneten Agnes
Krumwiede, Birgitt Bender, Tabea Rößner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Zeitnahes Krankengeld für unständig und
kurzfristig Beschäftigte sowie Selbstständige
– Drucksache 17/12067 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Kultur und Medien

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Dr. Martina Bunge, Cornelia Möhring,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Die Pille danach rezeptfrei machen
– Drucksache 17/12102 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

h) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sevim
Dağdelen, Diana Golze, Jan Korte, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE
Für gleiche Rechte – Einbürgerungen erleichtern
– Drucksache 17/12185 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu
überweisen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a bis 41 q sowie
die Zusatzpunkte 2 und 3 auf. Es handelt sich um die
Beschlussfassung zu Vorlagen, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist.

Tagesordnungspunkt 41 a:

Zweite Beratung und Schlussabstimmung des
von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zu dem Protokoll vom 16. Mai
2012 zu den Anliegen der irischen Bevölke-
rung bezüglich des Vertrags von Lissabon

– Drucksache 17/11367 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für die Angelegenheiten der Europäischen
Union (21. Ausschuss)


– Drucksache 17/12169 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Dr. Eva Högl
Joachim Spatz
Andrej Hunko
Jerzy Montag

Der Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäi-
schen Union empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12169, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/11367 anzunehmen.

Zweite Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist angenommen mit den Stimmen aller übrigen Fraktio-
nen bei Gegenstimmen der Fraktion Die Linke.

Tagesordnungspunkt 41 b:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung des Elektro- und Elektronik-
gerätegesetzes

– Drucksache 17/11368 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/12216 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Der Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-
sicherheit empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12216, den Gesetzent-
wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11368
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist
angenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD-Fraktion bei Gegenstimmen der Linken
und Enthaltung der Grünen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit dem gleichen Stimmenverhältnis angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 c:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz
und Reaktorsicherheit (16. Ausschuss) zu der
Verordnung der Bundesregierung

Verordnung zur Beschränkung der Verwen-
dung gefährlicher Stoffe in Elektro- und Elekt-

(Elektround ElektronikgeräteStoff-Verordnung – ElektroStoffV)


– Drucksachen 17/11836, 17/11907 Nr. 2, 17/12216 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Michael Brand
Gerd Bollmann
Horst Meierhofer
Ralph Lenkert
Dorothea Steiner

Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/12216, der Verord-
nung der Bundesregierung auf Drucksache 17/11836 zuzu-
stimmen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Gegenstim-
men der Linken und Enthaltung der Grünen.

Tagesordnungspunkt 41 d:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

von Cramon-Taubadel, Volker Beck (Köln), Ute
Koczy, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine glaubwürdige Außenpolitik gegen-
über Usbekistan

– Drucksachen 17/6498, 17/7712 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Manfred Grund
Franz Thönnes
Dr. Rainer Stinner
Stefan Liebich
Viola von Cramon-Taubadel

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/7712, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6498 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die
Linke und der Grünen bei Enthaltung der SPD-Fraktion.

Tagesordnungspunkte 41 e bis 41 q. Wir kommen zu
den Beschlussempfehlungen des Petitionsausschusses.

Tagesordnungspunkt 41 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 513 zu Petitionen

– Drucksache 17/12073 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 513 ist einstimmig angenom-
men.

Tagesordnungspunkt 41 f:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 514 zu Petitionen

– Drucksache 17/12074 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 514 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der Grü-
nen.

Tagesordnungspunkt 41 g:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 515 zu Petitionen

– Drucksache 17/12075 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 515 ist angenommen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke.

Tagesordnungspunkt 41 h:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 516 zu Petitionen

– Drucksache 17/12076 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 516 ist angenommen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Enthaltung der
Linken.





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Tagesordnungspunkt 41 i:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 517 zu Petitionen
– Drucksache 17/12077 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 517 ist ebenfalls angenommen
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Enthal-
tung der Linken.

Tagesordnungspunkt 41 j:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 518 zu Petitionen
– Drucksache 17/12078 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 518 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion
bei Gegenstimmen der Linken und Enthaltung der
Grünen.

Tagesordnungspunkt 41 k:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 519 zu Petitionen
– Drucksache 17/12079 –

Wer stimmt dafür? – Sammelübersicht 519 ist ein-
stimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 41 l:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 520 zu Petitionen
– Drucksache 17/12080 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 520 ist angenommen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke.

Tagesordnungspunkt 41 m:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 521 zu Petitionen
– Drucksache 17/12081 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 521 ist angenommen mit den
Stimmen aller übrigen Fraktionen bei Gegenstimmen der
SPD-Fraktion.

Tagesordnungspunkt 41 n:
Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)

Sammelübersicht 522 zu Petitionen
– Drucksache 17/12082 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 522 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der SPD-
Fraktion bei Gegenstimmen der Linken und der Grünen.

Tagesordnungspunkt 41 o:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 523 zu Petitionen

– Drucksache 17/12083 –

Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Sammelübersicht 523 ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion
Die Linke bei Gegenstimmen von SPD und Grünen.

Tagesordnungspunkt 41 p:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 524 zu Petitionen

– Drucksache 17/12084 –

Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Sammelübersicht 524 ist angenommen mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen und der Fraktion der
Grünen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der
Linken.

Tagesordnungspunkt 41 q:

Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-
ausschusses (2. Ausschuss)


Sammelübersicht 525 zu Petitionen

– Drucksache 17/12085 –

Wer stimmt dafür? – Dagegen? – Enthaltungen? – Die
Sammelübersicht 525 ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-
tionen angenommen.

Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 2:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen CDU/CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Einundzwanzigsten Gesetzes zur
Änderung des Bundeswahlgesetzes

– Drucksache 17/11820 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (5. Ausschuss)


– Drucksache 17/12174 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Alois Karl
Dr. Eva Högl
Joachim Spatz
Andrej Hunko
Jerzy Montag

Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12174, den Gesetzent-
wurf auf Drucksache 17/11820 in der Ausschussfassung





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, um ihr
Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-
nommen.

Zusatzpunkt 3:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Johannes Pflug, Dr. Rolf Mützenich, Dr. Hans-
Peter Bartels, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Ute
Koczy, Dr. Frithjof Schmidt, Kerstin Müller

(Köln), weiterer Abgeordneter und der Fraktion

BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Eine kohärente Gesamtstrategie für Pakistan –
Für eine aktive Einbindungsdiplomatie, Stär-
kung der demokratischen Kräfte und eine ver-
lässliche Entwicklungszusammenarbeit

– Drucksachen 17/11033, 17/11451 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Johannes Pflug
Bijan Djir-Sarai
Jan van Aken
Dr. Frithjof Schmidt

Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-
lung auf Drucksache 17/11451, den Antrag der Fraktio-
nen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/11033 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen der SPD
und Grünen bei Enthaltung der Fraktion Die Linke ange-
nommen.

Jetzt kommen wir zu Zusatzpunkt 4:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes

(Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur

Durchführung der Internationalen Gesund-
heitsvorschriften (2005) und zur Änderung
weiterer Gesetze

– Drucksachen 17/7576, 17/8615, 17/8871,
17/12170 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Heinrich L. Kolb

Das Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-
schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäfts-
ordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestag

über die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Wer
stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermittlungs-
ausschusses auf Drucksache 17/12170? – Gegenstim-
men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist
mit den Stimmen aller Fraktionen bei Gegenstimmen der
Fraktion Die Linke angenommen.

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE

Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten
Drohnen

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner für die antragstellende Fraktion das Wort dem Kolle-
gen Andrej Hunko.


(Beifall bei der LINKEN)



Andrej Hunko (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721905700

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Letztes

Jahr habe ich in meinem Wahlkreis in Aachen die Fami-
lie von Samir H. besucht. Der deutsche Staatsangehörige
und Aachener Bürger war am 9. März 2012 von einer
US-Drohne in Pakistan getötet worden. Der Mutter ver-
sprach ich, mich um die Aufklärung zu bemühen. Ich
habe mehrere Anfragen an die Bundesregierung gestellt,
aber es gab keine akzeptable Aufklärung. Das ist völlig
inakzeptabel.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Fall zeigt dreierlei: Erstens. Die Schwellen zum
Einsatz von Kampfdrohnen sind derart gesunken, dass
oftmals andere Mittel gar nicht mehr ins Auge gefasst
werden. Zweitens. Parlamentarische Kontrolle ist hier
kaum möglich. Wie etwa deutsche Geheimdienste dem
Drohnenpiloten geholfen haben, den Aufenthaltsort von
Samir H. in Pakistan zu ermitteln, hält das Bundesinnen-
ministerium unter Verschluss. Drittens. Die Beschaffung
und der Einsatz von Kampfdrohnen sind längst zur glo-
balen Realität geworden. Zu den Grundpfeilern der deut-
schen Außenpolitik sollte allerdings die Abrüstung ge-
hören.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Samir H. ist einer von inzwischen 3 000 bis 4 500
Menschen, die seit 2011 durch den Einsatz von Kampf-
drohnen in Pakistan, im Jemen und in Somalia ums Le-
ben gekommen sind, davon etwa 200 Kinder. Das sind
die Zahlen einer Studie der britischen Sektion der
IPPNW, der renommierten internationalen Ärzteorgani-
sation. In dieser Studie wird auch intensiv auf die psy-
chologischen Folgen des Drohneneinsatzes eingegan-
gen: Das dauerhafte Gefühl, durch Drohnen überwacht
und gegebenenfalls auch beschossen werden zu können,
hält die überwachte Bevölkerung in einem dauerhaften
Zustand der Angst, einem Gefühl, zu keinem Zeitpunkt
mehr sicher sein zu können. – Auch das muss diskutiert
werden, wenn wir über eine Drohnenstrategie reden.





Andrej Hunko


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte darauf hinweisen, dass in der durch unsere
Kleine Anfrage angestoßenen Debatte ein wichtiges De-
tail verloren gegangen ist: Die Bundesregierung sagt
nicht nur, dass sie Kampfdrohnen für die Bundeswehr
anschaffen will. Vielmehr sollen auch sogenannte militä-
rische Aufklärungsdrohnen so bestückt werden, dass
später Kampfdrohnen daraus gemacht werden können. –
Das lehnen wir als Linke entschieden ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich halte allerdings auch eine Nutzung rein militäri-
scher Spionagedrohnen für problematisch. Anfang der
Woche führte das Verteidigungsministerium der USA
eine Kamera mit einer Auflösung von 1,8 Gigapixeln
vor, die aus 6 000 Meter Höhe beeindruckend scharfe
Aufnahmen zum Beispiel eines Parkplatzes liefern kann.
Solche Systeme können im Rahmen von Amtshilfe je-
derzeit auch im Innern eingesetzt werden.

Die neuen, riesigen Euro-Hawk-Drohnen der Bundes-
wehr etwa auch zur Grenzsicherung oder bei Großeinsät-
zen zu nutzen, wird ausgerechnet vom Drohnenausrüster
EADS empfohlen. Ein anderer führender Drohnenher-
steller hat mir kürzlich erklärt, dass seine Drohnen die
mexikanisch-amerikanische Grenze überwachen. – Wir
möchten nicht, dass künftig auch die europäischen Gren-
zen mit Drohnen überwacht werden, vielleicht zunächst
unbewaffnet und dann in einem zweiten Schritt bewaff-
net. Wir möchten auch nicht, dass Großereignisse wie
der Gipfel in Heiligendamm künftig von Drohnen über-
wacht werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Drohnenstrategie der Bundesregierung ist für die
europäische Rüstungsindustrie ein Milliardengeschäft.
Dies wird von der EU-Kommission ausdrücklich betont,
wenn sie dafür wirbt, große Drohnen ab 2016 in den all-
gemeinen zivilen Luftraum zu integrieren. Im einem Do-
kument der EU-Kommission vom September 2012 ist
ausschließlich von der Notwendigkeit einer Konkurrenz-
fähigkeit der europäischen Drohnenindustrie die Rede,
die den Anschluss an Israel und an die USA halten
müsse. Am Ende der Einleitung heißt es: Es ist „impera-
tiv“ für Europa, „jetzt zu handeln“, sprich: drohnenmä-
ßig aufzurüsten. – Auch das lehnen wir deutlich ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Kampfdrohnen sind Killerwaffen. Darüber ethisch zu
diskutieren, wie man es jetzt aus der SPD hört, macht
keinen Sinn. Die Entwicklung und Beschaffung von
Kampfdrohnen wird selbst innerhalb des Militärs kriti-
siert. Ich fordere die Bundesregierung deshalb mit allem
Nachdruck auf, sich international für die Ächtung von
Kampfdrohnen einzusetzen.

Aber auch die Polizeien des Bundes und der Länder,
denen ihre gegenwärtigen fliegenden Kameras zu klein
sind, untersuchen auf mehreren Ebenen den Einsatz grö-
ßerer Drohnen mit hochauflösenden Kameras. Auch das
ist hochproblematisch. Größte Zurückhaltung muss des-
halb nicht nur bei der Beschaffung militärischer, sondern
auch polizeilicher Drohnen walten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Ende. Killerdrohnen sind internatio-
nal zu ächten. Sie senken die Hemmschwelle zur Ent-
grenzung des Krieges und zum Töten per Knopfdruck.
Ich fordere die Bundesregierung zudem auf, sich für eine
internationale Konvention zu einer streng zivilen Nut-
zung von Drohnen, etwa im Umweltschutz oder bei der
Katastrophenhilfe, einzusetzen. Maßstab hierfür muss
der mögliche gesellschaftliche Nutzen und nicht die In-
teressen der Drohnenindustrie sein.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721905800

Das Wort hat jetzt der Bundesminister der Verteidi-

gung, Dr. Thomas de Maizière.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Thomas de Maizière, Bundesminister der Ver-
teidigung:

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin der Fraktion der Linken dankbar für die Aufsetzung
dieses Themas; das gibt uns Gelegenheit, im Deutschen
Bundestag über das Thema Drohnen zu diskutieren. Ich
habe die Diskussion ja letzten Sommer selber eröffnet.

Ich will versuchen, in der knappen Zeit in sieben
Punkten Gründe vorzutragen, die für die Anschaffung
von Drohnen sprechen, und mich mit den Gegenargu-
menten auseinandersetzen.

Zum ersten Punkt. Drohnen bieten technologisch in
einer Weise eine kontinuierliche Aufklärung mit einer
langen Stehzeit – viel länger, als jeder Pilot wach bleiben
kann – und Übertragungsergebnisse, die in Echtzeit, also
live, übertragen werden können, wie sie kein Flugzeug
leisten kann. Deswegen sind sie technologisch sinnvoll.
Sie sind auch nicht so teuer wie Flugzeuge; denn ganz
wesentliche Ausgaben für Flugzeuge haben damit zu
tun, den Piloten zu schützen, zu Recht; das entfällt bei
Drohnen.

Zweitens. Die Zukunft der Luftfahrt insgesamt wird
ganz wesentlich in den nächsten 20, 30, 40 Jahren von
dem Thema „unbemannte Luftfahrzeuge jeder Art“ ge-
prägt sein. Das gilt jedenfalls unterhalb der Ebene der
Satelliten, das gilt für das Thema Klimabeobachtung,
das gilt für das Thema Verkehrsbeobachtung, das gilt für
das Thema Logistik, das gilt für das Thema Luftfracht.
Deswegen haben wir auch komplizierte Zulassungsthe-
men, die wir nur im europäischen Verbund erörtern dür-
fen. Bei dieser Zukunftstechnologie muss Deutschland
dabei sein. Wir können nicht sagen, wir bleiben bei der
Postkutsche, während alle anderen die Eisenbahn ent-
wickeln. Das geht nicht.

Drittens. Die Einführung von Drohnen ist auch tak-
tisch und sicherheitspolitisch sinnvoll. Ich kann dazu
viele Beispiele nennen, ich nenne hier nur mal eines.
Nehmen wir an, wir schicken eine Patrouille in eine ge-
fährliche Gefechtssituation, oder nehmen wir an, wir ha-





Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


ben einen KSK-Einsatz zur Verhaftung von Terroristen
oder zur Rettung von Geiseln. Kein anderes Mittel ist so
gut geeignet wie eine Drohne, diese Patrouille zu beglei-
ten, aus der Luft zu beobachten, was passiert, und dann,
wenn unsere eigenen Soldaten in Gefahr geraten, auch
zu kämpfen und den Gegner zu bekämpfen und nicht erst
Close Air Support anzufordern, der 10, 15 Minuten spä-
ter kommt, gar nicht die Präzision hat und das Leben un-
serer Soldaten gefährdet. Das wollen wir nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Nun zu den kritischen Gegenargumenten:

Viertens. Es wird gesagt, Drohnen seien völkerrecht-
lich problematisch, und das Grundgesetz lasse solche
Waffen nicht zu. Ich will dazu sagen: Drohnen und der
Einsatz von Drohnen unterscheiden sich zunächst einmal
rechtlich in überhaupt keiner Weise von anderen fliegen-
den Plattformen oder vergleichbaren Waffensystemen.


(Beifall bei der SPD – Dr. Hans-Peter Bartels [SPD]: In Pakistan schon!)


– Ich komme auf diesen Punkt. – Ob Sie einen Torpedo
aus einem U-Boot abschießen, ob Sie eine Lenkrakete
vom Boden abfeuern, ob Sie eine Rakete von einem
Flugzeug auf den Boden abfeuern oder ob Sie eine
Drohne mit Bewaffnung einsetzen und auslösen, es sind
immer die gleichen Regeln, auch die gleichen rechtli-
chen Regeln.

Das heißt für Deutschland: Grundlage für jeden mili-
tärischen Einsatz einer Drohne, insbesondere wenn sie
bewaffnet ist, ist immer unser Grundgesetz, das heißt die
verfassungsrechtliche Grundlage zum Einsatz von mili-
tärischer Gewalt überhaupt, also Art. 87 a und Art. 24
mit Beschluss der Regierung und Parlamentszustim-
mung.

Ich weiß, dass andere Staaten anders handeln. Ich
sage Ihnen aber: Sie können nicht von der Einsatzart und
der Einsatzmethode anderer Staaten auf das Einsatzmit-
tel selbst schließen. Für uns gilt unser Recht und unser
Grundgesetz, und das würde auch gelten bei dem Einsatz
von Drohnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Fünftens. Es wird gesagt, mit Drohnen entsteht eine
Art Computerkrieg, es entsteht eine emotionale Distanz
zum Kampfgeschehen. Das ist durchaus ein gewichtiges
Argument, weil es in der Debatte in der Tat schon den ei-
nen oder anderen gibt, der sagt: „Wir haben klinisch
reine Kriege. Das machen wir mit dem Skalpell, das ist
alles sauber.“ Ich teile diese Auffassung nicht. Es gibt
keinen sauberen Krieg; es ist immer bitterernst. Insbe-
sondere der Einsatz von Waffen ist keine Operation me-
dizinischer Art. Es ist das Schwerste, was es zu entschei-
den gibt, egal welche Waffe eingesetzt wird.

Gemeint ist hier aber, dass dadurch, dass jemand an
einem Monitor sitzt, eine neue Qualität entsteht. Meine
Damen und Herren, das ist überhaupt nicht der Fall.
Auch heute schon wird nahezu bei jeder indirekten
Waffe auf einen Monitor geguckt. Der U-Boot-Schütze,
der einen Torpedo abschießt, guckt auf einen Monitor.

Wer eine Rakete abschießt, eine Cruise-Missile, eine In-
terkontinentalrakete, eine Patriot-Rakete, guckt natürlich
auf einen Monitor. Ich sage Ihnen, dass – ich habe das
natürlich auch selbst gesehen – der Blick eines Drohnen-
piloten auf einen Monitor sogar viel konkreter ist als die
Zielerfassung durch einen Cockpitpiloten in einem Flug-
zeug. Von daher hat jede Distanzwaffe, jede indirekte
Waffe eine technische Überbrückungsmöglichkeit für den-
jenigen, der sie auslöst. In der Ausbildung muss man na-
türlich durch viele Dinge dafür sorgen, dass keine emo-
tionale Distanz entsteht, aber mit Drohnen hat das nichts
zu tun.

Sechstens. Sie haben auch gesagt, die Hemmschwelle
von Gewalt würde bei Drohnen herabgesetzt. Das ist
auch ein gewichtiges Argument, das ich oft höre. Ich
habe das in einem Interview schon einmal gesagt: Egal
ob man ein Flugzeug oder eine Drohne hat: Immer ent-
scheidet ein Mensch über den Einsatz dieser Waffen. Im-
mer! – Das ist aber, glaube ich, nicht das Hauptgegen-
argument. Ihr Argument, hier würde die Hemmschwelle
von Gewalt gesenkt, zu Ende gedacht, hieße doch im
Umkehrschluss – ich bitte Sie wirklich einmal, das klug
zu überlegen –, dass nur der, der das Leben eigener Sol-
daten besonders intensiv aufs Spiel setzt, sorgsam mit
militärischer Gewalt umgeht. Ich sage Ihnen: Das ist zy-
nisch und unerhört. Ich finde dieses Argument unerhört.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Das ist eine böse Unterstellung!)


Es ist seit jeher die Aufgabe militärischer und politi-
scher Führung, die eigenen Soldaten zu schützen und
nicht dadurch in Gefahr zu bringen, dass man sie sozu-
sagen der Tötung durch andere aussetzt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Wir wollen keinen Einsatz!)


– Ich respektiere, dass Sie keinen Einsatz wollen, aber zu
sagen, dass dadurch, dass wir ein unbewaffnetes Flug-
zeug gegenüber einem bewaffneten Flugzeug haben, die
Hemmschwelle gesenkt würde, heißt umgekehrt, dass
Sie lieber das Leben eines Piloten gefährden und auf den
Einsatz dieser Waffe verzichten wollen. Das finde ich
auch ethisch nicht in Ordnung, und das entspricht auch
nicht meiner Fürsorgepflicht gegenüber meinen Solda-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Siebtens und letztens. Es wird gesagt – das ist auch

ein gewichtiges Argument –, mit Drohnen werde gezielt
getötet. Ich sage Ihnen jetzt einmal eines: Jeder Polizist
und jeder Soldat lernt in seiner Grundausbildung, gezielt
zu treffen. Der Sinn des Zielens ist, dass man das trifft,
was man treffen will, und nicht das, was man nicht treffen
will. Wir Deutschen wissen, was Flächenbombarde-
ments sind. Wer Kollateralschäden in der Zivilbevölke-
rung vermeiden will, wer nicht will, dass wir Unbetei-
ligte gefährden, der muss Waffensysteme entwickeln
und einsetzen, die nicht flächig, sondern gezielt wirken.
Ich halte das ethisch eher für einen Fortschritt als für ei-
nen Nachteil.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Ach Gott!)






Bundesminister Dr. Thomas de Maizière


(A) (C)



(D)(B)


Aus dem Punkt, hier werde gezielt getroffen, einen
ethischen oder rechtlichen Vorwurf zu machen, halte ich
angesichts der Kriege und der Folgen – auch für die Zi-
vilbevölkerung –, die wir erlebt haben, geradezu für
ganz falsch.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jede Statistik sagt etwas anderes!)


Ja, wir verlangen von unseren Soldaten, dass sie unter
Beachtung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit ge-
zielt wirken und nicht einfach durch die Gegend ballern,
und die Drohne wirkt gezielt.

Sie haben gesagt, es gebe Opfer von Drohnenein-
sätzen.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Unschuldige!)


– Auch unschuldige Opfer von Drohneneinsätzen. – Das
ist wahr, aber auch das hat nichts mit dem Einsatz der
Drohne zu tun. Es gibt Millionen von unschuldigen Op-
fern von Kriegen. Dass man vorbeizielen und etwas an-
deres treffen kann, ist klar, aber das hat nichts damit zu
tun, dass wir uns bemühen, in modernen Kriegen gezielt
und nicht ungezielt Wirkung zu erzielen und zu treffen.
Aus der Vermeidung von Flächenwirkung einen ethi-
schen Vorwurf zu machen, halte ich für absurd.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Damen und Herren, aus Zeitgründen will ich
jetzt gar nicht auf eine Übergangslösung oder eine
deutsch-französische Lösung eingehen. Ich glaube, das
können wir an anderer Stelle und in den Ausschüssen
noch einmal diskutieren.

Ich will zusammenfassend sagen: Ich halte den Ein-
satz von Drohnen unter Einhaltung unserer bestehenden
rechtlichen Regelungen für ethisch in Ordnung, und ich
halte die Beschaffung von Drohnen auch für die Bundes-
wehr für sicherheitspolitisch, bündnispolitisch und tech-
nologisch sinnvoll.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721905900

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege

Dr. Rolf Mützenich.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Dr. Rolf Mützenich (SPD):
Rede ID: ID1721906000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist in der Tat ungewöhnlich, dass wir in einer Aktuellen
Stunde von Ihnen, Herr Minister, hören, dass Sie der
Fraktion Die Linke dankbar dafür sind, dass Sie endlich
einmal hier im Deutschen Bundestag über dieses Thema
reden können. Das fällt auf Sie zurück.

Wir hätten es begrüßt, Sie hätten in den letzten Mona-
ten eine Regierungserklärung angekündigt und auch ab-
gegeben,


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


anstatt als Antwort auf die Frage 25 in der Kleinen An-
frage die Öffentlichkeit und den Deutschen Bundestag
darüber zu informieren, dass Sie bereit sind, der Bundes-
wehr Kampfdrohnen zur Verfügung zu stellen und letzt-
lich auch ihren Einsatz zu gewährleisten. Ich halte das
für eine grundsätzliche Debatte, die mehr als nur eine
Aktuelle Stunde im Bundestag erfordert hätte. Es fällt
auf Sie zurück, dass Sie im letzten Sommer gesagt ha-
ben: „Ich führe diese Debatte“, aber sich dieser Debatte
bisher entzogen haben.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Interessant war natürlich auch, dass Sie am Anfang
sieben Punkte aufgezählt haben, wovon sich aber vier
Punkte auf Drohnen zur Aufklärung bezogen haben. In
der Tat muss man natürlich über die Frage der Aufklä-
rung diskutieren. Aber was zurzeit in Deutschland die
Öffentlichkeit beschäftigt, ist die Frage: Ist es völker-
rechtlich, ist es ethisch, ist es rüstungskontrollpolitisch,
ist es sicherheitspolitisch verantwortbar, in dieser Situa-
tion und nach den wenigen Jahren der Erfahrung anderer
Bündnispartner Kampfdrohnen anzuschaffen, ohne eine
sicherheitspolitische und völkerrechtliche Diskussion zu
führen? Dieser Diskussion werden Sie sich auch in den
nächsten Wochen und Monaten nicht entziehen können.

Sie haben wissentlich, glaube ich, die kritischen Posi-
tionen hierzu in dieser Aktuellen Stunde hier im Deut-
schen Bundestag nicht aufgegriffen. Dabei geht es ins-
besondere darum, dass die Rüstungstechnologie der
Drohnen mittlerweile so weit entwickelt ist, dass wir lei-
der von einer Verselbstständigung dieses Systems ausge-
hen müssen, weil die Informationen – das wissen Sie
doch sogar besser als wir hier im Deutschen Bundestag –
so vielfältig und so immens sind, dass Entwickler und
teilweise auch Militärs zu der Überzeugung kommen:
Das können einzelne Soldatinnen und Soldaten gar nicht
mehr verarbeiten. Bestimmte Bewegungsabläufe deuten
darauf hin, dass Maschinen den Soldaten die Empfeh-
lung geben, einzugreifen.

Über diese wirklich grundsätzlichen Erwägungen
müssen wir diskutieren und uns fragen, ob dies ethisch
überhaupt angemessen ist. Das fragen Sie auch die Kir-
chen. Ich bin der festen Überzeugung: Die gesamte Bun-
desregierung muss sich an dieser Frage beteiligen.

Ein anderer Aspekt. Die völkerrechtlichen Fragen
sind nicht so einfach zu beantworten, wie Sie das hier
getan haben. Es gibt unterschiedliche Auffassungen zum
humanitären Völkerrecht, zur Genfer Konvention und
auch zu anderen Dingen. Sie müssen den Bürgerinnen
und Bürgern in Deutschland sagen, vor welcher Konse-
quenz wir stehen. Die Völkerrechtler kommen zum Bei-
spiel zu der Auffassung, dass die Kommandozentralen,
von denen aus möglicherweise Kampfdrohnen einge-
setzt werden, in einem Konflikt legitime Ziele sein wer-
den. Es ist die Aufgabe der Bundesregierung, das den
Bundesbürgern zu sagen und auf diese Frage eine ehr-
liche Antwort zu geben. Ich finde, darüber gehen Sie
leichtfertig hinweg.





Dr. Rolf Mützenich


(A) (C)



(D)(B)


Das, was Sie noch nicht angesprochen haben, ist die
Frage der Verhältnismäßigkeit. Die Drohnen können
eben nur, selbst wenn sie von einer Person gelenkt wer-
den, Ja oder Nein sagen; sie können nicht abwägen. Ins-
besondere die Frage der Informationsbeschaffung, die
Sie eben ganz bewusst übergangen haben, ist eine
schwere ethische, aber letztlich auch sicherheitspoliti-
sche Herausforderung.

Ein weiterer Aspekt, von dem ich mir wünsche, dass
ihn die Bundesregierung im Zusammenhang mit der in-
ternationalen Debatte aufgreifen sollte: Deutschland hat
bei Rüstungskontrolle und Abrüstung immer ein Gesicht
gehabt und dies in die internationale Diskussion einge-
bracht. Warum wäre es von Deutschland so abwegig,
wenn es so viele Kritikpunkte und so viel Zurückhaltung
gibt, mit Partnern darüber zu diskutieren und zu sagen:
Wir wollen keine unbemannten Flugobjekte bewaffnen;
denn das ist möglicherweise eine Grauzone.

Das wäre doch eine wichtige rüstungskontrollpoliti-
sche Debatte, die hier im Deutschen Bundestag von der
Bundesregierung geführt werden könnte. Ich finde, die-
sen Dingen entziehen Sie sich ganz einfach dadurch,
dass Sie sagen: Das Ganze ist nur ein Instrument. – Es ist
eben nicht nur ein Instrument, sondern es wirft vielfäl-
tige Fragen auf, die unterschiedliche Themenbereiche in
dieser Bundesregierung betreffen.

Zum Schluss. Ich habe Ihnen am Anfang gesagt, Sie
hätten eine Regierungserklärung zu diesem Thema abge-
ben können. Wissen Sie, wen ich aus dem Bundeskabi-
nett vermisse, der Verantwortung für Sicherheitspolitik,
Völkerrecht, Rüstungskontrolle und, wie er selbst be-
hauptet, ethische Fragen hat? Den Außenminister. Er
könnte bei der Beantwortung der hier in Rede stehenden
Fragen auch fachverantwortlich eine entscheidende
Rolle spielen. Ich mache ihm nicht zum Vorwurf, dass er
heute nicht da ist, wohl aber, dass er sich in den letzten
Monaten dieser Diskussion entzogen hat. Das lassen wir
ihm nicht durchgehen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721906100

Für die FDP-Fraktion hat jetzt das Wort die Kollegin

Elke Hoff.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Elke Hoff (FDP):
Rede ID: ID1721906200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Die Wort-
beiträge, die wir bisher gehört haben – ich gehe davon
aus, dass wir nachher aus den Fraktionen durchaus un-
terschiedliche Wortbeiträge hören werden –, zeigen, wie
wichtig es ist, dass wir hier im Plenum darüber diskutie-
ren, und dass wir erst am Anfang dieser Debatte stehen.
Ich möchte auf den Anlass verweisen, warum wir heute
überhaupt über dieses Thema diskutieren. Die Bundesre-
gierung steht vor den Entscheidung, ob sie die Verträge
für die geleasten Systeme, die Aufklärungsdrohnen vom

Typ Heron, die in Afghanistan hervorragende, wichtige
Arbeit für den Schutz unserer Soldatinnen und Soldaten
geleistet haben, verlängern, diese Systeme ersetzen oder
kaufen soll und ob diese Drohnen bewaffnet werden sol-
len oder nicht.

Für mich war es im Vorfeld dieser Debatte wichtig
– wir haben uns in der Öffentlichkeit schon an der einen
oder anderen Stelle dazu geäußert –, eine klare sicher-
heitspolitische Begründung des Kaufes und des Ein-
satzes von bewaffneten unbemannten Flugkörpern zu
geben. Warum? Weil die Diskussion aufgrund des Ein-
satzes solcher Flugkörper durch verbündete Nationen
vorbelastet ist. Das sieht man an den teilweise abenteuer-
lichen Argumenten, die wir seitens der Linksfraktion ge-
hört haben. Sie haben alles vollkommen vermischt. Sie
haben alles in einen Topf geworfen – unsere Einsätze
und die Einsätze der Amerikaner, insbesondere die der
CIA –, umgerührt und dann gefragt, warum die Bundes-
regierung keine Erklärung dafür abgibt, dass unsere Ver-
bündeten schlimmerweise nicht nur denjenigen, den sie
treffen wollten, sondern auch dessen Familie gleich mit
umgebracht haben. Das alles ist ein Wust, der in der Öf-
fentlichkeit den Eindruck erwecken muss, dass wir trotz
völlig unklarer Bedingungen und ohne befriedigende Er-
klärung auf dieses Waffensystem setzen.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Das ist es doch!)


– Einen Moment, langsam! Ich bin noch nicht fertig.

Vor diesem Hintergrund, Herr Minister, ist es wichtig,
zu sagen, was die Bundeswehr mit diesem Waffensystem
tun soll und was nicht.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, dass wir an dieser Stelle klare Äußerungen
treffen können. Herr Minister, Sie haben deutlich ge-
macht – ich fand Ihre Rede sehr klar strukturiert –, dass
eine Bewaffnung von unbemannten Flugkörpern in ers-
ter Linie dem Schutz der Soldatinnen und Soldaten
Rechnung tragen soll. Häufig wird in der Debatte ver-
schwiegen, dass unsere amerikanischen Freunde bereits
heutzutage mit unbewaffneten Flugkörpern ihre Solda-
ten schützen. Es geht also nicht nur um gezieltes Töten
im Kampf gegen den Terrorismus. Es gibt sehr viele Si-
tuationen – das kann man nachvollziehen –, in denen
solche Systeme zum Schutz von Soldatinnen und Sol-
daten eingesetzt werden. Wenn wir das wollen, sollten
wir das auch sagen. Das haben Sie heute auch getan,
Herr Minister. Ich habe Ihrer Rede keine anderen Szena-
rien für die Bundeswehr entnehmen können. Sie hätten
sicherlich auch andere darlegen können, wenn Sie ge-
wollt hätten.

Kollege Mützenich, natürlich ist es wichtig, die völker-
rechtlichen Rahmenbedingungen festzulegen. Ich habe
mich immer dafür ausgesprochen, dass auf internationa-
ler Ebene ein Rahmenwerk für den Einsatz unbemannter
Flugkörper in kriegerischen Auseinandersetzungen erar-
beitet wird. Warum? Weil es wichtig ist, klare Regeln
zur Unterscheidung zwischen Kombattanten und Nicht-





Elke Hoff


(A) (C)



(D)(B)


kombattanten zu finden. Nur so können wir verhindern,
dass wir nolens volens – ich hasse dieses Wort – „Kolla-
teralschäden“ in Kauf nehmen. Wir müssen ganz klar de-
finieren, welches die Rahmenbedingungen sind, unter
denen wir international operieren können. Wenn wir in
diese Technologie einsteigen, werden wir als Exportna-
tion mit der Beantwortung entsprechender Fragen kon-
frontiert sein, spätestens dann, wenn es um den Export
von Drohnentechnologie zum Zwecke militärischer Ein-
sätze geht. Wir alle sind gut beraten, sehr sorgsam, sehr
verantwortungsvoll und sehr klar mit diesem Thema um-
zugehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie, sehr geehrter Herr Minister, haben ein Stichwort
geliefert, zu dem die Bundesregierung eine klare Hal-
tung entwickeln muss, die sie dann auch auf europäi-
scher Ebene umsetzen muss. Wenn wir in die Entwick-
lung dieser Technologie einsteigen, müssen wir natürlich
die Regeln in Europa so gestalten, dass wir diese Tech-
nologie hier zur Anwendung bringen können. Noch ist
der europäische Luftraum in toto für den Einsatz von un-
bemannten Flugkörpern gesperrt. Europa ist, glaube ich,
gut beraten, die entsprechenden Rahmenbedingungen zu
klären, bevor man in diese Technologie einsteigt; an-
sonsten sprechen wir uns zwar für eine Technologie aus,
können sie aber in Europa im Prinzip nicht zur Anwen-
dung bringen. Ich denke auch an die zivile Nutzung, bei-
spielsweise die Überwachung kritischer Infrastruktur
wie Pipelines, die Aufdeckung von Umweltschäden usw.
usf.

Wir haben in diesem Bereich also noch eine Menge
zu tun. Ich möchte deshalb an dieser Stelle festhalten:
Wir möchten gerne eine umfassende, klare, sicherheits-
politische Begründung haben. Dann kann man auch den
Weg für die Entwicklung einer notwendigen Technologie
freimachen, der sich – da sind wir alle einer Meinung –
Deutschland nicht verschließen kann.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721906300

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt die Kollegin

Agnes Brugger das Wort.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721906400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Bun-

desregierung ist entschlossen: Sie will so bald wie mög-
lich waffenfähige Drohnen für die Bundeswehr. Für den
Verteidigungsminister scheint es zwingend zu sein, bei
jeder militärtechnologischen Entwicklung mithalten zu
müssen, um bloß nicht den Anschluss zu verpassen.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: So ist es!)


Aber es ist keine Zwangsläufigkeit, dass Deutschland
bei der Entwicklung und beim Einsatz von jedem neuen
Waffensystem dabei sein muss.

Herr Minister, Sie wollten hier den Eindruck erwe-
cken, Sie arbeiteten abgeklärt und präzise die ganzen Ar-

gumente derjenigen ab, die große Vorbehalte haben, was
Drohnen angeht. Ich finde, Sie haben ein ganz entschei-
dendes Argument offensichtlich nicht verstanden, näm-
lich dass der Einsatz bewaffneter Drohnen massive
Auswirkungen auf die Kriegsführung hat. Die Hemm-
schwelle zur Anwendung militärischer Gewalt kann
dadurch drastisch sinken, und die berechtigte Zurückhal-
tung bei den politischen Entscheidungen über Militärein-
sätze wird beeinträchtigt. Davor können Sie nicht ein-
fach die Augen verschließen, auch wenn Sie selbst
beteuern, dieser Dynamik der Gewalt widerstehen zu
wollen; denn politisches und militärisches Handeln wird
nicht nur von Absichten und Interessen, sondern auch
von den zur Verfügung stehenden Fähigkeiten bestimmt.
Daher ist immer größte Skepsis geboten, wenn es um
Aufrüstung geht, und – ja – auch und gerade Skepsis ge-
genüber sich selbst.

Wie schnell so ein Meinungsumschwung vonstatten
geht, sieht man sehr gut in den USA. Als Israel im Jahr
2000 während der zweiten Intifada zum ersten Mal
durch den Einsatz bewaffneter Drohnen Personen gezielt
tötete, hat das die damalige US-Regierung als illegitim
verurteilt. Heute dagegen sind gezielte Tötungen durch
Drohnenangriffe das Mittel der Wahl für den Friedens-
nobelpreisträger Obama – im Antiterrorkampf in Pakis-
tan, im Jemen und in Somalia. Die Zahl dieser völker-
rechtswidrigen Angriffe, die auch viele zivile Opfer
fordern, ist während seiner Präsidentschaft massiv nach
oben geschnellt.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: So ist es!)


Schnell ist so die kritische Haltung der amerikanischen
Politik und der amerikanischen Gesellschaft verraucht.
Sehr schnell ist man der Versuchung erlegen, seine Geg-
ner lieber bequem, einfach und anonym auszuschalten –
Völkerrecht hin oder her.

Die entscheidende Frage lautet doch: Wofür braucht
denn die Bundeswehr, die bereits über Aufklärungsdroh-
nen verfügt, angeblich so dringend bewaffnete Systeme?


(Zuruf von der LINKEN: Will mitspielen!)

In ihrer Antwort auf unsere Kleine Anfrage liefert
Schwarz-Gelb darauf eine haarsträubende Antwort. „Zur
Abschreckung“, heißt es da ganz allgemein und offiziell.
Diese Begründung aus der rhetorischen Mottenkiste des
Kalten Krieges ist doch wirklich abstrus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Warum?)


– Das erkläre ich Ihnen gerne. – In Wirklichkeit schre-
cken Drohnenangriffe nicht ab, sondern tragen im Ge-
genteil massiv zur Eskalation und Radikalisierung in
Konflikten bei.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Ursache und Wirkung umgedreht!)


Es gibt Studien renommierter Universitäten, die zeigen,
dass durch die von den USA in Afghanistan und Pakis-
tan durchgeführten Drohnenangriffe der Extremismus





Agnes Brugger


(A) (C)



(D)(B)


befeuert und die Rekrutierung neuer Kämpfer stark be-
fördert wird.


(Zuruf von der CDU/CSU: Kaffeesatzleserei! – Gegenruf des Abg. Dr. Frithjof Schmidt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Studienleserei! Das kennen Sie nicht!)


– Dann lesen Sie einmal die Studien!

Ein weiterer Grund, der für die Beschaffung bewaff-
neter Drohnen aufgeführt wird, ist der Schutz der Bun-
deswehrangehörigen durch Luft-Boden-Unterstützung.
Ich möchte, Herr Minister, an dieser Stelle eines klarstel-
len: Als Abgeordnete haben wir eine besondere Verant-
wortung für den größtmöglichen Schutz der Soldatinnen
und Soldaten, die wir als Parlament in den Einsatz schi-
cken.


(Henning Otte [CDU/CSU]: Genau deswegen!)


Ich finde es unredlich, dass Sie uns das in Abrede stel-
len.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stefan Liebich [DIE LINKE] – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Tun wir nicht!)


Ich bin aber überhaupt nicht davon überzeugt, dass die
Beschaffung bewaffneter Drohnen diesem Zweck dient.

Auf unsere Frage, wie oft deutsche Truppen im Aus-
landseinsatz Unterstützung durch bewaffnete Drohnen
von Verbündeten erhielten, nannte die Bundesregierung
genau zwei Fälle in Afghanistan. In beiden Fällen wäre
auch der Einsatz der bemannten Luftunterstützung mög-
lich gewesen. Da waren auch keine Leben von deutschen
Soldaten gefährdet. Bevor die Koalition Gelder für teure
militärische Fähigkeiten freigibt, sollten, nein, müssen
Sie zuerst die Frage beantworten, an welchen Einsätzen
sich die Bundeswehr in Zukunft beteiligen soll. Darauf
hat und gibt diese Bundesregierung keine Antwort.

Dabei ist es mit Blick auf die gravierenden und uns
allen bekannten Auswirkungen auf die Kriegsführung
umso wichtiger, eine grundlegende gesellschaftliche und
friedenspolitische Debatte über den Einsatz dieser auto-
matischen Waffensysteme zu führen, und zwar vor und
nicht nach der Entscheidung über die Beschaffung be-
waffneter Drohnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Genau diese Debatte haben wir Grüne in einem eigenen
Antrag eingefordert. Sie, meine Damen und Herren von
der Koalition, haben das abgelehnt, und das unter höchst
widersprüchlichen Aussagen und ohne eine wirkliche
Begründung.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört! Hört!)


Heute in der Afghanistan-Debatte habe ich aufge-
horcht, als Abgeordnete der CDU/CSU, genauso wie
Frau Hoff gerade, dann doch wieder eine Diskussion in
Bezug auf die Drohnen gefordert haben. Meine Damen

und Herren der Koalition, ich nehme Sie jetzt einmal
beim Wort.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Wir stehen am Anfang!)


Wenn Sie das ernst meinen, dann dürfen Sie jetzt die Be-
schaffung eines zu Recht hochumstrittenen Waffensys-
tems, das zahlreiche ethische, völkerrechtliche und
rüstungskontrollpolitische Fragen aufwirft, nicht einfach
abnicken. Dann müssen Sie auch vom Kurs dieser
schwarz-gelben Regierung Abstand nehmen, die sich of-
fensichtlich schon entschieden hat; denn sie blendet die
Risiken und Gefahren dieses neuen Waffensystems aus
und hechelt dieser technologischen Entwicklung kopflos
hinterher.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Nein, nein, nein! Alles an den Haaren herbeigezogen!)


Diese verantwortungslose Politik machen jedenfalls wir
Grüne nicht mit und erteilen daher Ihren Plänen, waffen-
fähige Drohnen zu beschaffen, eine klare Absage.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Dr. Rolf Mützenich [SPD])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721906500

Jetzt hat das Wort der Kollege Bernd Siebert von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Bernd Siebert (CDU):
Rede ID: ID1721906600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Einmal mehr wollen die Linken sinnvollen technologi-
schen Fortschritt ausbremsen.


(Lachen bei der LINKEN)


Die Erfahrung zeigt jedoch, dass solche Versuche zum
Scheitern verurteilt sind. Es werden unnötig Ängste ge-
schürt, und losgelöst von Fakten wird Stimmung ge-
macht. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist das Ge-
genteil von verantwortungsvoller Politik.

Ich plädiere für einen anderen Weg: Lassen Sie uns
die Rahmenbedingungen mitgestalten, die zum Einsatz
von bewaffneten Drohnen dazugehören! Lassen Sie uns
Deutungshoheit über dieses wichtige Thema gewinnen!
Denn nur wer sich konstruktiv beteiligt, nimmt Einfluss
auf die Entwicklung. Deswegen ist der Ansatz der Kriti-
ker, laut „Nein!“ zu rufen und den Kopf in den Sand zu
stecken, nichts anderes als kontraproduktiv.

Es muss darüber diskutiert werden, welche Rahmen-
bedingungen wir uns selbst bei dieser Technologie aufer-
legen. Daher bin ich Verteidigungsminister de Maizière
auch außerordentlich dankbar, dass er heute hier das
Wort ergriffen und diese Position am Anfang dieser Dis-
kussion deutlich gemacht hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Stefan Liebich [DIE LINKE]: Wegen unseres Antrages!)






Bernd Siebert


(A) (C)



(D)(B)


Im Namen meiner Fraktion lade ich Sie alle dazu ein,
diese Diskussion gemeinsam zu führen. Ich bin mir si-
cher: Dann finden wir auch eine Lösung.

Am 30. Juli 2012 hat unser Kollege Rainer Arnold er-
klärt – ich darf zitieren –:

Das ist ein Waffensystem, dem die Zukunft ge-
hört … Auf längere Sicht wird an der Anschaffung
von bewaffneten Drohnen kein Weg vorbeigehen.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Hört! Hört!)


Recht hat er.

Bevor wir allerdings über die Zukunft sprechen, lohnt
ein Blick auf die Gegenwart. Dabei offenbart sich Er-
staunliches; denn weder das Thema Drohnen ist neu,
noch ist das Nachdenken über die Bewaffnungsoptionen
neu. Drohnen sind seit vielen Jahren in der Bundeswehr
eingeführt, kleine und inzwischen auch große; es gibt sie
übrigens auch bei der Polizei.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Aber ohne Waffen!)


Auch eine mögliche Bewaffnung hat Verteidigungs-
minister de Maizière bereits vor Monaten angesprochen.
Schon zu Zeiten der Großen Koalition haben wir über
diese Fragen diskutiert. Die neuerliche Empörungswelle,
die Sie jetzt anstoßen wollen, ist daher arg konstruiert
und hängt sicherlich mit einem Datum im Laufe dieses
Jahres zusammen.

Derzeit wird die israelische Aufklärungsdrohne
Heron 1 durch die Bundeswehr eingesetzt.


(Zuruf von der LINKEN: Schlimm genug!)


Sie leistet in Afghanistan wertvolle Dienste und wird
dies auch bis zum Abschluss der ISAF-Mission Ende
2014 tun. Dennoch müssen wir über die Zeit nach 2014
nachdenken. Genau das wird getan, und zwar nicht erst
seit gestern. Aus beobachtbaren Trends werden Schluss-
folgerungen gezogen. Eine davon ist, dass die unbe-
mannte Luftfahrt eine immer größere Rolle spielt und
die Bundeswehr als moderne Armee diesen Trend nicht
verschlafen sollte.

Der technologische Fortschritt in diesem Sektor ist in
der Tat enorm. Es wäre also geradezu widersinnig und
auch unwirtschaftlich, bei der Entwicklung oder Be-
schaffung eines Nachfolgemodells für Heron 1 techni-
sche Möglichkeiten bewusst auszuklammern. Wenn wir
jetzt ein System entwickeln oder beschaffen, das nicht
bewaffnet ist, zu einem späteren Zeitpunkt diese Fähig-
keit jedoch benötigt wird, dann wird dies – das ist heute
schon klar – deutlich teurer, als wenn wir frühzeitig über
diese Option nachdenken.

Die Bewaffnungsoption – das Wort drückt es bereits
aus – sagt auch nichts darüber aus, ob und, wenn ja, wie
diese Waffen eingesetzt werden. Hier unterscheiden sich
Drohnen im Übrigen nicht von anderen Waffensyste-
men. Ob und, wenn ja, wann eine Waffe eingesetzt wird,
diese Entscheidung trifft ausschließlich ein Mensch
– nicht irgendein Computer –, und dieser Mensch trägt
die Verantwortung für seine Entscheidung. So ist es in

allen Armeen der Welt üblich. Bewaffnete Drohnen än-
dern daran überhaupt nichts.

Das Argument, dass Drohnen militärische Gewalt er-
leichtern würden, ist ebenfalls falsch. Eine Entschei-
dung, die ohne eigene Gefährdung getroffen wird, ist ob-
jektiver und durchdachter als eine Entscheidung unter
persönlicher Bedrohung. Das ist gerade der Vorteil des
unbemannten Flugzeugs.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Am besten, man schafft den Menschen ab!)


Der Pilot kann ohne diesen Stress eine objektive Ent-
scheidung anhand von Aufklärungsergebnissen treffen.
Im Prinzip müssten also gerade die Kritiker die größten
Befürworter bewaffneter Drohnen sein; denn unter
Stress passieren die meisten Fehler. Wer bedroht wird,
schießt auch schneller. Und ist es nicht auch vernünftiger
und verantwortungsvoller, eine Maschine statt eines
Menschen in eine gefährliche Situation zu bringen? Die
Sicherheit unserer Piloten muss bei dieser Debatte jeden-
falls für uns auch einen wichtigen Stellenwert haben.

Ich komme zum Ende; meine letzte Bemerkung. In
Abwägung aller Argumente unterstütze ich deshalb die
Überlegungen des Verteidigungsministeriums.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wer hätte das gedacht?)


Langfristig ist die unbemannte Luftfahrt ein Zukunfts-
thema, an dem kein Weg vorbeiführt. Deutschland als
Hochtechnologieland ist deshalb gut beraten, an vorders-
ter Stelle präsent zu sein.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Noch mehr Kriege! Noch mehr Waffen!)


Dies lässt sich nur über selbstentwickelte Kompetenzen
im europäischen Verbund erreichen. Deshalb ist mein
dringendes Petitum, dass eine wie auch immer geartete
Nachfolgelösung für Heron 1 eine europäische Eigen-
entwicklung weder verhindern noch verzögern darf.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Ich danke Ihnen nicht!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721906700

Für die SPD-Fraktion hat jetzt das Wort der Kollege

Rainer Arnold.


(Beifall bei der SPD)



Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1721906800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Es

ist immer nett, wenn man zitiert wird, Kollege Siebert,
aber es gehört noch ein zweiter Teil zu dem Zitat. Ich
habe nämlich dazugesagt: Es sind eine Reihe wichtiger
Fragen zu diskutieren und zu klären. – Damit das noch
einmal festgehalten wird: Die Bundesregierung hat von
sich aus überhaupt nichts zur Klärung dieser Fragen bei-





Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)


getragen, sondern das geschah aufgrund der Anträge des
Parlaments.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ach was, Herr Arnold! Das zum Thema Eigenlob!)


Meine Fraktion hat schon vor längerer Zeit eine Große
Anfrage gestellt. Sobald die Antwort vorliegt, wird es
eine breite Gelegenheit geben, zu diskutieren.

Heute Morgen hat Ihr Kollege Schockenhoff mit ei-
nem völlig falschen Argument die Beschaffung von
Kampfdrohnen gefordert, nämlich mit Bezug auf Afgha-
nistan. Das ist falsch. In Afghanistan wird der Kampf-
auftrag nämlich auf Sicht enden. Um es klar zu sagen:
Die Bundeswehr hat keine aktuelle Fähigkeitslücke.
Deshalb fragen wir uns schon: Warum diese Eile? Wa-
rum sollen noch vor der Bundestagswahl Fakten ge-
schaffen werden? Haben da irgendwelche Leute Sorgen,
dass eine neue Regierung vielleicht sorgfältiger an die-
ses Thema herangeht?


(Lachen bei der CDU/CSU – Burkhardt Müller-Sönksen [FDP]: Die neue wird die alte sein!)


Da kann ich Ihnen nur sagen: Diese Befürchtung, falls
sie da ist, ist begründet. Je schneller Sie beschaffen wol-
len, desto genauer werden wir hinschauen müssen.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ist bei Ihnen schon Wahlkampf?)


Lassen Sie mich nun zu den Fragen kommen, die of-
fen sind, Herr Minister. Es war kein guter Aufschlag, zu
sagen: Waffen sind per se neutral.


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Das hat er ja relativiert, Herr Arnold!)


Man kann über bewaffnete Drohnen nicht diskutieren,
ohne den Hintergrund der derzeitigen Einsatzrealität ein-
zublenden. Es ist nicht wahr, dass Drohnen in Afghanis-
tan zum Schutz der Soldaten eingesetzt werden. Es ist
einfach Fakt, dass bewaffnete Drohnen derzeit, ob von
Israel oder von den Vereinigten Staaten, zum gezielten
Töten eingesetzt werden.


(Elke Hoff [FDP]: Sie werden auch zum Schutz eingesetzt!)


Natürlich ist es auch richtig, dass das völkerrechtswidrig
ist. Das muss man auch sagen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU)


Genauso ist es richtig, dass ein deutscher Kommandeur,
sollte er so einen Befehl geben, strafrechtlich belangt
würde und dass jeder deutsche Soldat so einen Befehl
nicht nur verweigern dürfte, sondern verweigern müsste.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Verweigern muss!)


Dies muss geklärt und gesagt sein.

Das Zweite ist – da greife ich auf, dass von der Kolle-
gin Hoff gesagt wurde, es müsse erst operativ Klarheit
geschaffen werden –: Sie tun so, als ob eine Drohne ein-
fach ein Flieger ohne Pilot wäre. Aber natürlich verän-
dert sich durch den Einsatz von Drohnen etwas. Es liegt
bis zum heutigen Tag keine Konzeption der Luftwaffe
vor, in welchen Szenarien Drohnen notwendig sind und
mit welchen operativen Fähigkeiten sie eingesetzt wer-
den sollen.


(Zurufe von der FDP)


Dabei ist zu bedenken. Es ist doch so, dass gerade in
asymmetrischen Szenarien die Verhaftung von Aufstän-
dischen und Terroristen Vorrang vor dem Töten hat. Be-
steht dann nicht ein Risiko, dass dieser Vorrang ein
Stück weit verschoben wird, wenn bewaffnete Drohnen
zur Verfügung stehen? Ist das nicht latent, auch so wie
Sie heute diese Frage diskutiert haben? Darüber müssen
wir doch reden. Wir wollen dies nicht, und deshalb muss
man diese Szenarien präzisieren.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Sind Sie jetzt dafür oder dagegen?)


Dritter Punkt. Warum reflektiert diese Koalition über-
haupt nicht, dass Drohnen so billig sind? Das ist nicht
schön. Dass Drohnen so billig sind, ist ein Problem; das
kann, wenn wir uns nicht um Rüstungskontrolle in die-
sem Bereich kümmern, dazu führen, dass es zu einer
massenhaften Verbreitung von Drohnen in der ganzen
Welt kommt. Das macht unser Leben nicht sicherer, son-
dern gefährlicher. Darum müssen wir etwas tun, und das
muss man mit diskutieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Vierter Punkt: Thema Einsatzschwelle. Natürlich hat
es der Deutsche Bundestag in der Hand; aber dass es
eine ernste Diskussion ist, dass sich Einsatzschwellen
verändern, sehen wir ganz aktuell am Beispiel von Mali.
Die Vereinigten Staaten wollen keine Soldaten dorthin
schicken. Aber was schicken Sie in die Region? Kampf-
drohnen. Da verändert sich also etwas. Amerika ist nicht
irgendjemand; das ist unser Bündnispartner. Insofern
sind hier doch Fragen zu klären.

Der letzte Punkt ist Ihr Versuch, Herr Minister, Droh-
nen zu verniedlichen, indem Sie sagten, sie seien wie
Flugzeuge.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Stimmt aber! – Weiterer Zuruf von der CDU/CSU: Fliegt aber!)


– Sie tun es gerade auch, Herr Kollege; finde ich eigent-
lich schade. Man darf doch nicht außer Acht lassen, dass
diese Technik zunehmend eine Informationsfülle liefert,
die aufzunehmen und zu verarbeiten Menschen gar nicht
mehr in der Lage sind.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Aber eher bei der Drohne als bei einem Flugzeug!)






Rainer Arnold


(A) (C)



(D)(B)


Dies heißt, dass zuvor Rechenoperationen durchgeführt
werden, bei denen Computer entscheiden und selektie-
ren, und der Mensch am Ende dasitzt.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Das ist bei einem Computer immer so!)


Ganz am Ende dieser technischen Entwicklung werden
völlig autonome Systeme stehen, die nur noch program-
miert werden. Wollen wir das bei den Debatten ausblen-
den? Um es klar zu sagen: Zu dieser Debatte gehört eine
klare völkerrechtliche Ächtung von automatisierten Sys-
temen. Aus diesem Grund müssen wir diese Diskussion
führen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wenn wir all diese Diskussionen geführt haben, dürfen
und müssen wir am Ende auch über Industriepolitik re-
den, ja.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Aber erst nach der Wahl, wahrscheinlich!)


Ich glaube schon, dass unbemannte Flugzeuge – zivil
und militärisch – in der Zukunft eine bestimmte Bedeu-
tung haben werden und ihre Bedeutung steigen wird.
Deshalb haben wir ein industriepolitisches Interesse, und
deshalb, Herr Minister, wäre es richtig, auch wenn es
schwierig ist, geduldig und ohne Eile mit unseren euro-
päischen Partnern zu verhandeln. Dabei muss man res-
pektieren, dass in Frankreich erst ein Weißbuch, eine Re-
form der Streitkräfte diskutiert werden wird. Am Ende
dieser Diskussion wird es vielleicht dazu kommen, dass
Europa sich gemeinsam diesem Thema zuwendet, nicht
nur in der Entwicklung, sondern vielleicht auch im Sinne
der vertieften europäischen Zusammenarbeit, auch im
Betrieb.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Das ist rüstungspolitisch aber Quatsch! So funktioniert das nicht!)


Solange dies nicht geschehen ist, Herr Minister, wäre
es falsch, schnell einmal ein amerikanisches System zu
kaufen, das möglicherweise auch die Vision der europäi-
schen Sicherheitspolitik ein Stück weit in die falsche
Richtung vorprägt. Nehmen Sie sich deshalb in diesem
Bereich die entsprechende Zeit!


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721906900

Herr Kollege, kommen Sie bitte zum Schluss.


Rainer Arnold (SPD):
Rede ID: ID1721907000

Ich bin gleich fertig. – Damit wollte ich sagen: Wenn

Sie die Einwände nicht wegwischen, sondern der Dialog,
der heute begonnen hat, weitergeht, dann kann am Ende
eine verantwortungsvolle Entscheidung stehen, die viel-
leicht eine breite parlamentarische Zustimmung findet.
Das geht aber nicht innerhalb weniger Wochen, sondern
diese Anstrengung verdient wirklich Sorgfalt vor Eile.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: So wie wir das machen: Sorgfalt vor Eile!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721907100

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Christoph

Schnurr das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1721907200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

diskutieren heute über eine doch recht neue militärische
Fähigkeit. Die Kollegin Brugger hat am Anfang ihrer
Rede einige offene Fragen angesprochen, die wir uns,
glaube ich, alle stellen. Dabei ging es um wichtige As-
pekte. Aber dann sagte sie, sie habe das Gefühl, dass
CDU/CSU und FDP hier ausschließlich das abnicken
wollen, was die Regierung vorhat. Das weise ich mit
Entschiedenheit zurück. Denn wir stehen am Anfang der
Debatte, von mir aus auch in der Mitte, aber ganz sicher
nicht an ihrem Ende.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Herr Arnold, Sie haben gerade ausgeführt, dass die
Koalitionsfraktionen momentan keine sorgfältige De-
batte führten. Wir treffen aber doch heute überhaupt
keine Entscheidung. Dass es heute diesen Tagesord-
nungspunkt gibt, ist den Linken zu verdanken. Wir be-
finden uns jedenfalls in der Debatte, und das ist doch
mehr als begrüßenswert.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Michael Brand [CDU/CSU])


Zunächst einmal müssen wir insgesamt festhalten,
dass die Bundeswehr bereits über Drohnen verfügt, die
auch in den Auslandseinsätzen zum Einsatz kommen. Es
ist bereits angesprochen worden: Heron 1 wird in Afgha-
nistan eingesetzt und verfügt über keinerlei Bewaffnung,
sondern dient vielmehr als reines Aufklärungsmittel. Ge-
nauso werden KZO und LUNA in Afghanistan und auch
im Kosovo als reine Aufklärungsmittel eingesetzt.


(Rainer Arnold [SPD]: Dagegen spricht doch gar nichts!)


Wie Sie alle wissen, ist Heron 1 geleast; der Vertrag
läuft demnächst aus. Es geht also um die Neubeschaf-
fung einer Drohne und um die Frage, ob diese bewaffnet
sein wird. Die bisherigen Erfahrungen mit dem Einsatz
unbewaffneter Drohnen haben gezeigt, dass die Nutzung
dieser militärischen Fähigkeit unter anderem in Afgha-
nistan einen erheblichen Mehrwert für die Truppe dar-
stellt,


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Wieso das denn? – Weitere Zurufe von der LINKEN: Gerade nicht! – Gezieltes Töten!)


angefangen bei den Echtzeitübertragungen, die damit
möglich sind. Ich glaube, dass wir in diesem Zusammen-





Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)


hang alle einer Meinung sind und den Mehrwert der bis-
her vorhandenen Drohnen für die Truppe nicht wirklich
als streitig ansehen können.


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Das weise ich zurück!)


Doch wie verhält es sich mit dem Einsatz derselben
Technologie, mit Drohnen, wenn sie bewaffnet sind? Es
gibt eine Reihe von offenen Fragen und Sorgen. Eine
dieser Sorgen ist – sie wurde angesprochen –, dass mit
dieser neuen Waffentechnologie die Hemmschwelle für
einen Einsatz gesenkt wird, sprich die Hemmschwelle
für einen Krieg gesenkt wird. Diese Sorge müssen wir
ernst nehmen; darüber müssen wir ganz offen debattie-
ren und diskutieren. Ich jedenfalls bin davon überzeugt,
dass die Hemmschwelle für einen Einsatz durch bewaff-
nete Drohnen nicht gesenkt wird. Denn über die Teil-
nahme an militärischen Auseinandersetzungen, über die
Auslandseinsätze entscheiden immer noch wir hier im
Deutschen Bundestag.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: So ist es!)


Es liegt also an uns allen: Es liegt in unserer Verantwor-
tung, dass die Hemmschwelle für einen Einsatz, für eine
militärische Auseinandersetzung, möglichst hoch bleibt,
auch wenn wir über die militärische Fähigkeit bewaffne-
ter Drohnen verfügen sollten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine weitere Sorge ist, dass bewaffnete Drohnen für
gezielte Tötungen eingesetzt werden könnten. Hier ist
eine Parallele zu den USA gezogen worden. Auch das
halte ich für abwegig. Gezielte Tötungen gehören nicht
zu unserer Rechtsordnung. Wir müssen diese Diskussion
zwar aufnehmen, aber eines steht doch fest: Wir haben
bereits militärische Fähigkeiten für gezielte Tötungen,
setzten diese aber nicht ein, weil wir gezielte Tötungen
für grundsätzlich falsch halten.

Herr Arnold, Sie haben davon gesprochen, dass die
USA die entsprechenden Systeme zum großen Teil für
gezielte Tötungen verwenden und sie nicht zwangsläufig
für den Schutz der eigenen Truppe eingesetzt werden,
beispielsweise in Afghanistan. Das ist nicht richtig; das
ist nicht korrekt.


(Rainer Arnold [SPD]: Doch! Waren Sie mal dort?)


Die unbemannten Drohnen, ob mit oder ohne Bewaff-
nung, dienen im Wesentlichen dem Schutz der eigenen
Soldatinnen und Soldaten, auch bei den amerikanischen
Verbündeten. Insofern stellt sich in diesem Zusammen-
hang die Frage, ob wir uns dieser Technologie wirklich
verwehren.

Ich glaube, dass eine Reihe von Fragen nach wie vor
offen ist. Natürlich müssen wir uns mit diesen Fragen
beschäftigen, bevor wir diese Technologie anschaffen.
Der Minister hat eine breite öffentliche Diskussion hie-
rüber eingefordert. Ja, wir brauchen eine solche Dis-
kussion über bewaffnete Drohnen, und diese sollte er-
gebnisoffen, sachlich und konstruktiv geführt werden.

Zu dieser Diskussion gehört es meiner Meinung nach
auch, dass die Bundesregierung uns Parlamentarier und
die Öffentlichkeit über ihre Vorstellungen von mögli-
chen Einsatzszenarien informiert und dass sie uns eine
sicherheitspolitische Begründung für die Notwendigkeit
einer solchen Beschaffung klar darlegt, nicht zuletzt aus
dem Grund, dass die Systeme nicht besonders günstig
sind. Im Zusammenhang mit den Sparzwängen müssen
wir auch hier über die Finanzierbarkeit sprechen.

Meine Damen und Herren, es gibt offene Fragen. Die
Diskussion muss geführt werden. Die technologischen,
finanziellen, sicherheitspolitischen und ethischen, aber
natürlich auch die rechtlichen Aspekte müssen wir offen
diskutieren. Wir befinden uns mitten in dieser Diskus-
sion und nicht am Ende. Ich glaube, dass die Diskussion
noch ein bisschen Zeit braucht. Nehmen wir uns diese!

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721907300

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin Inge

Höger das Wort.


(Beifall bei der LINKEN – Ingo Gädechens [CDU/ CSU]: Und das auf leeren Magen!)



Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721907400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Bewaff-

nete Drohnen werden gebaut, um Menschen zu töten. Da
beißt die Maus keinen Faden ab.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Ja, ist eben eine Waffe!)


Diese schrecklichen Mordwaffen will nun auch die Bun-
desregierung anschaffen. Das lehnt die Linke entschie-
den ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Bei angeblichen Antiterroreinsätzen in Afghanistan
und Pakistan, im Jemen, in Somalia und in den Palästi-
nensergebieten führen Israel und die USA immer wieder
„gezielte Tötungen“ gegen vermeintliche Terroristen
durch. Gezielte Tötungen sind völkerrechtswidrig. Das
wurde hier von verschiedenen Rednern bestätigt. Bei
diesen Aktionen kommen regelmäßig Zivilistinnen und
Zivilisten ums Leben. Ganze Hochzeitsgesellschaften
wurden schon durch diese unbemannten Flugzeuge an-
gegriffen und viele Menschen getötet. Später heißt es
dann lakonisch, das seien Kollateralschäden.

Herr de Maizière, Sie haben sich gerade für gezielte
Tötungen ausgesprochen. Das finde ich zynisch.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Er hat das erklärt! Und Sie machen eine Polemik hier, mein Gott im Himmel!)


– Er hat angesprochen, dass er das für sinnvoll hält.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Sie sind auf einem Auge blind!)






Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)


Daran, dass nach Angaben der britischen Initiative
„Bureau of Investigative Journalism“ allein in Pakistan
zwischen 475 und 890 Zivilistinnen und Zivilisten durch
US-Drohnen getötet wurden,


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Sie sind Teilnehmer asymmetrischer Kriegsführung, Frau Höger! – Gegenruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Vielleicht ist sie ja auch eine Drohne!)


sieht man genau, was das Ergebnis dieser Kriegsführung
ist in einem Land, das nicht am Krieg beteiligt ist. Nun
plant die Bundesregierung die Anschaffung solcher Kil-
lerwaffen. Das wird die Linke nicht akzeptieren.


(Beifall bei der LINKEN – Zuruf von der FDP: Es ist alles so schlicht!)


Die Regierung behauptet, der Einsatz von Kampf-
drohnen würde die Kriegsführung optimieren. Es würde
eine neue Dimension der militärischen Auseinanderset-
zung geschaffen. Davor kann jeder vernünftige Mensch
nur warnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr de Maizière, Sie behaupten, Kampfdrohnen
seien ethisch neutral oder sogar ethisch von Vorteil, weil
kein Soldat drin sitzt, der beim Einsatz umkommen
könnte.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie haben die Hälfte von dem vergessen, was er dazu gesagt hat!)


Das ist skandalös.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Ihre Gleichgültigkeit gegenüber den Soldaten ist skandalös!)


Die Zeit titelte kürzlich:

Der Präsident hakt das Ziel ab, der Pilot am Bild-
schirm drückt auf den Knopf. Nun will auch die
Bundeswehr Kampfdrohnen einsetzen.

Hier wird die Illusion von einem sauberen Krieg ge-
schaffen, bei dem die Soldatin oder der Soldat zu Hause
vom Home Office aus mal eben ein paar Ziele bombar-
diert.


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: „Mal eben bombardiert“ – das ist eine Unverschämtheit, so etwas zu sagen!)


Zwischendurch wird vielleicht ein Computerspiel ge-
spielt oder das Baby gewickelt.


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Was malen Sie denn für ein Bild von unseren Soldatinnen und Soldaten? Am „Home Office“? Frau Höger, schämen Sie sich!)


Zynischer geht es kaum, ganz genau. Krieg ist immer
schmutzig. Hinter den Angriffszielen befinden sich im-
mer auch Menschen, die getötet werden können.

In einer Studie der Hessischen Stiftung Friedens- und
Konfliktforschung heißt es: Der Drohneneinsatz

provoziert … asymmetrische Reaktionen… Je stär-
ker sich aber die Soldaten der überlegenen Seite
dem Schlachtfeld entziehen und Maschinen ihren
Platz einnehmen lassen, umso mehr wächst für die
unterlegene Seite der Anreiz, den Konflikt in das
Herkunftsland der Truppen zu tragen. Terrorexper-
ten sehen deshalb die Gefahr, dass die Anzahl der
Angriffe auf zivile Ziele in westlichen Staaten stei-
gen wird, je mehr die Automatisierung des Krieges
voranschreitet.


(Ernst-Reinhard Beck [Reutlingen] [CDU/ CSU]: Frau Höger, das ist alles Unsinn! – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Da sind Sie ja selber Expertin! Sie kennen sich ja aus mit Terror, Terror gegen Israel!)


Die Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung
hat das gesagt.

Die Drohnenpläne der Bundesregierung erhöhen also
die Terrorgefahr bei uns in Deutschland. Das ist unver-
antwortlich.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke und die Friedensbewegung fürchten, dass
die Hemmschwelle für den Einsatz militärischer Gewalt
sinken wird,


(Michael Brand [CDU/CSU]: Hören Sie auf, unsere Soldaten zu diffamieren!)


wenn dabei keine eigenen Soldatinnen und Soldaten ge-
tötet werden können. Ich sage: Das beste Mittel gegen
tote Soldatinnen und Soldaten ist, gar nicht erst Krieg zu
führen.


(Beifall bei der LINKEN – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Danke für den Hinweis! Ganz toll!)


Aus den USA sind inzwischen die ersten Fälle von
Soldatinnen und Soldaten bekannt, die an ihrem Compu-
terabschussplatz für scharfe Waffen an Posttraumati-
scher Belastungsstörung erkrankten. Offenbar ist das,
was sie per Mausklick am anderen Ende der Welt anrich-
ten, doch nicht so ethisch unbedenklich, wie hier be-
hauptet wird.

Die Linke fordert deshalb: Kein Einsatz und keine
Beschaffung von Drohnen! Wir wollen einen völker-
rechtlich verbindlichen Vertrag, der Drohnen umfassend
ächtet, der die Produktion, den Erwerb und den Einsatz
von Drohnen wirksam verbietet.


(Beifall bei der LINKEN)


Nein zu Kampfdrohnen! Kein Krieg, nirgendwo!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721907500

Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt das Wort der

Kollege Florian Hahn.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Florian Hahn (CSU):
Rede ID: ID1721907600

Herr Präsident! Kolleginnen und Kollegen! Manche

Wortmeldungen hier im Parlament machen einen fast
sprachlos. – So viel zu meiner Vorrednerin. Ich komme
noch einmal darauf zurück.

Unbemannte, autonome Hightechsysteme sind zivil
und militärisch Zukunftstechnologien.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Es geht um den Einsatz bewaffneter Drohnen!)


Die Bundeswehr benutzt bereits diese Technologien, und
zwar sehr erfolgreich. Deshalb ist es richtig, uns zu über-
legen, mit welcher Technik wir zukünftig die unbemann-
ten Kampfmittel unserer Streitkräfte ausrüsten wollen.
Das löst auch eine Diskussion über die Frage aus, ob wir
diese bewaffnen wollen oder nicht. Für unsere Soldaten
ist die Antwort darauf klar; denn Kampfdrohnen redu-
zieren die Gefahr im Einsatz deutlich. Der Vorsitzende
des Deutschen BundeswehrVerbandes sagt dazu:

Jede Soldatin, jeder Soldat, der nicht unmittelbar im
Gefecht stehen muss, ist natürlich wünschenswert.

Lassen Sie mich auf einige Kritikpunkte eingehen, die
von der Opposition genannt wurden. Es geht beispiels-
weise darum, ob durch bewaffnete Drohnen die Hemm-
schwelle zum Töten sinkt. Indirekt bedeutet diese Kritik:
Man ist nicht einverstanden damit, dass es für unsere
Soldaten einen risikoarmen Einsatz gibt. Es ist sozusa-
gen nicht fair, dass unsere Soldaten nicht der gleichen
Gefahr ausgesetzt sind wie ihre Gegner. Das ist zynisch,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Einsätze belasten unsere Soldaten enorm. Es ist
doch nicht nachteilig, wenn sie weniger in direkte
Kampfhandlungen verwickelt werden.

Ich möchte außerdem darauf hinweisen, dass unsere
Gegner Terroristen sind, deren Hemmschwelle ohnehin
ungemein niedriger ist als die unserer Soldaten.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist denn das für eine Argumentation?)


Diese Terroristen machen mit ihrer hinterhältigen, unbe-
rechenbaren Guerillataktik den Einsatz der Drohnen erst
sinnvoll.

Das zweite Argument, das immer wieder genannt
wird, ist: Beim Einsatz von unbemannten Drohnen sei
die Zurechenbarkeit zu einem verantwortlichen Akteur
nicht mehr möglich. – Auch was herkömmliche Flug-
zeuge angeht, ist es so: Es entscheidet nicht der Pilot,
sondern der Einsatzführer. Der Pilot liefert lediglich die
Waffenwirkung, die meist von den Bodentruppen ange-
fordert wird. In Afghanistan muss sogar jeder Schießbe-
fehl vom Hauptquartier freigegeben werden. So unter-
scheiden sich unbemannte, bewaffnete Luftfahrzeuge in
ihrer Wirkung nicht von bemannten. Am Schluss der Be-
fehlskette entscheidet ein Mensch, eine Rakete abzu-
schießen. In beiden Fällen ist es nicht der Pilot.

Ein drittes Argument, das schon der Kollege Schnurr
dankenswerterweise richtiggestellt hat, bezieht sich auf
den Vorwurf: Durch die neue Fähigkeit wird es mehr
Auslandseinsätze geben. – Ob dies der Fall sein wird, ist
nicht allein von einer Fähigkeit abhängig, sondern da-
von, welche Gefahren uns in Zukunft drohen. Die Ent-
scheidung wird außerdem weiterhin hier in diesem Par-
lament getroffen. Es kommt also auf uns an und nicht
auf eine Fähigkeit. Der Bundeswehr, Frau Höger, zu un-
terstellen, sie würde durch eine neue technische Fähig-
keit Gefahr laufen, moralisch und ethisch zu verkom-
men, ist eine Unverschämtheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bundeswehr hat gerade in den vergangenen und den
aktuellen Einsätzen immer wieder bewiesen, dass wir
uns besonders an Regeln halten.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: So wie in Kunduz!)


Das ist im Übrigen auch der Grund, warum wir ein ho-
hes Ansehen bei unseren Bündnispartnern und in den
Einsätzen genießen.

Manche Einlassungen – im Vorfeld der heutigen De-
batte, aber auch jetzt während der Debatte – verwirren
mich ein bisschen,


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Das merkt man!)


vor allem die vonseiten der SPD. Heute im Morgen-
magazin sagte der Kollege Arnold von der SPD: Keine
Beschaffung bewaffneter Drohnen vor der Wahl.


(Zuruf von der CDU/CSU: Aber hinterher!)


Man habe große ethische Bedenken. Man brauche noch
lange Diskussionen, aber nach der Wahl sei eine Be-
schaffung in Deutschland selbstverständlich denkbar. –
Was ist denn nun?


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Genau!)


Ich fürchte, Sie wollen dieses Thema lediglich im Wahl-
kampf nutzen und ausschlachten. Das geht aber zulasten
unserer Soldatinnen und Soldaten. Das lassen wir Ihnen
so nicht durchgehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Meine Meinung zu diesem Thema ist: Ja, langfristig
sollte die Bundeswehr über bewaffnete unbemannte Sys-
teme verfügen. Ja, die Bundeswehr wird auch mit dieser
Fähigkeit angemessen umgehen und sich an dieselben
Regeln halten wie bisher. Und ja, wir sollten in Deutsch-
land und Europa die technische Fähigkeit zum Bau sol-
cher Systeme schaffen, um nicht von anderen abhängig
zu sein. Damit sichern wir im Übrigen auch mehrere
Hundert Arbeitsplätze.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Mehrere Hundert?)


Ich habe heute in einem Blog, verlinkt mit Welt.de,
folgenden Kommentar gelesen:





Florian Hahn


(A) (C)



(D)(B)


Welche Alternativen gäbe es denn? … Mediatoren
einzusetzen gegen Al Kaida, wie es die Partei der
Linken fordert? Etwa der Verzicht auf die Panze-
rung bei Panzern, weil sie den Krieger schützt und
damit den Krieg „leichter“ machen könnte?


(Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE]: Verzicht auf den Krieg!)


Darüber sollten Sie sich Gedanken machen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721907700

Der Kollege Dr. Hans-Peter Bartels hat das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Dafür und dagegen, in einer Person!)



Dr. Hans-Peter Bartels (SPD):
Rede ID: ID1721907800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Warum

kommt plötzlich so eine Hektik in die Debatte über die
Anschaffung neuer Drohnen für die Bundeswehr? Wa-
rum soll vor der Bundestagswahl noch eine Kaufent-
scheidung über drei – drei! – bewaffnungsfähige UAVs
getroffen werden?


(Michael Brand [CDU/CSU]: Was spricht dagegen?)


Glaubt die Koalition ernsthaft, dass das Thema „Kampf-
drohnen – ja oder nein?“ ein gutes Mobilisierungsthema
ist,


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie wollen es nutzen im Wahlkampf! – Michael Brand [CDU/ CSU]: Was spricht denn dagegen?)


nach dem Motto: „Hier die Hardlinerparteien, dort die
Wattebauschparteien“? Viel Vergnügen mit dieser Papp-
kameradeninszenierung, Kollege Hahn!

Ich fordere Sie auf: Nehmen Sie das Tempo raus, und
klären Sie erst einmal die Fragen, von denen Sie gestern
noch selbst der Meinung waren, dass sie geklärt werden
müssen, Herr Minister!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wie ist die Haltung der Bundesregierung zur amerikani-
schen Kampfdrohnenpraxis in Pakistan und anderswo?


(Elke Hoff [FDP]: Was hat das mit der Beschaffung zu tun? Herrgott!)


Was sagen Sie den Amerikanern? Ist das Einzige, was
Sie ihnen sagen: „Wir wollen auch solche Maschinen ha-
ben, aber wir wollen sie natürlich ganz anders einsetzen
als ihr“? Klären Sie Ihre Position, liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es geht nicht um Banalitäten. Selbst wenn
diese Automaten in erklärten, bewaffneten Konflikten,
vielleicht sogar unter UNO-Mandat, eingesetzt werden,
ist doch längst nicht alles business as usual.

Uns liegt ein Bericht des Bundestagsbüros für Tech-
nikfolgenabschätzung vor. Dort heißt es:

Mit den Trends zur Depersonalisierung und Auto-
matisierung des Schlachtfelds sind auch dringliche
ethische Fragen bezüglich technischer Systeme als
„moralisch Handelnde“ aufgeworfen.

Es geht um die Frage – ich zitiere weiter –,

ob und inwiefern menschliche Entscheidungsträger
im Zusammenspiel mit technischen, zunehmend
auch autonomen Systemen ihrer Verantwortung ge-
recht werden können …

Ihre Aussage, die Drohnentechnik sei ethisch neutral,
wollen Sie bitte nicht ernst gemeint haben, Herr Minis-
ter. Das amerikanische Beispiel der gezielten Tötungen
von Verdächtigen aus der Luft ist kein Vorbild für uns.
Aber auch das Szenario, das dem deutschen Verteidi-
gungsminister vorschwebt, gewissermaßen Close Air
Support im Gefecht einzelner Heerespatrouillen, ist
nicht banal. Feuern wir zum Beispiel – nehmen wir das
Szenario Afghanistan; es wird nicht so kommen, weil
die Drohnen gar nicht vorhanden sind; aber wenn es so
wäre – auf erkannte Kämpfer, wenn sie sich aus dem Ge-
fecht lösen und fliehen? Sollen sie dann aus der Luft ver-
nichtet werden? Auf wessen Befehl: des Zugführers vor
Ort oder des Drohnenführers, der irgendwo in einem
Container sitzt?

Die NATO verfolgt in Afghanistan spätestens seit
2009 nicht das Ziel, möglichst viele gegnerische Kämp-
fer zur Strecke zu bringen. Erinnern wir uns an den Kun-
duz-Vorfall und an den Untersuchungsausschuss. Ich zi-
tiere aus einem Tagesbefehl des damaligen COMISAF
General McChrystal: In der üblichen Wahrnehmung
bleiben, wenn aus einer Gruppe von zehn Aufständi-
schen zwei getötet werden, acht übrig; zehn minus zwei
gleich acht. Vom Standpunkt der Aufständischen sind
die beiden Getöteten aber wahrscheinlich verwandt mit
vielen anderen, die Rache üben werden. Wenn es zivile
Opfer gibt, wird diese Zahl noch größer sein. Der Tod
von Zweien bringt deshalb etliche zusätzliche Rekruten
hervor: 10 minus 2 gleich 20. – Das ist ein Teil der Be-
gründung dafür, dass, so McChrystal damals, acht Jahre
im Einzelfall erfolgreicher Waffeneinsätze am Ende zu
mehr Gewalt geführt haben.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sind die Amerikaner jetzt die Guten oder die Bösen?)


Das sagt der NATO-Oberbefehlshaber in Afghanistan
nach dem von uns gewollten Strategiewechsel in Afgha-
nistan. Diese Einschätzung teilen wir.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Und jetzt zurück zur Drohne!)


Kampfdrohnen sind nicht die Lösung. Sie sind nicht
die richtige, angepasste Militärtechnik für Counter-In-
surgency, falls man das im Kopf haben sollte. Zu den
drei bewaffnungsfähigen Drohnen, die ab 2016 in Jagel
stationiert werden könnten: Was ist deren militärischer
Beitrag zur Lösung welcher Konflikte? Was kann die
Bundeswehr dann besser als heute? Was kann sie dann,





Dr. Hans-Peter Bartels


(A) (C)



(D)(B)


was sie jetzt nicht kann? Ich empfehle uns: Lassen Sie
uns die Zeit nehmen, um eine vernünftige, abgewogene
Diskussion zu führen! Dabei kann die Option der Be-
waffnungsfähigkeit eine Rolle spielen. Wir brauchen
aber keine ideologische und keine auf den Wahlkampf
ausgerichtete Diskussion.


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Sie machen doch Wahlkampf!)


Ich glaube übrigens nicht, dass die Zeit der bewaffne-
ten Kampfflugzeuge und Kampfhubschrauber vorbei ist.
Wir sind uns einig, was die Anschaffung von großen
UAVs zur Aufklärung angeht. Aber dann machen Sie
mal Druck, Herr Minister, damit die Probleme des Euro-
Hawk in Manching gelöst werden. Davon brauchen wir
insgesamt fünf für die SIGINT-Aufklärung – die alten
Bréguet Atlantique sind längst außer Dienst gestellt –,
plus fünf Euro-Hawk in der IMINT-Version: Optik,
Infrarot, Radar. Oder haben Sie das Projekt schon aufge-
geben?


(Ingo Gädechens [CDU/CSU]: Nee, nee!)


Unsere künftige mittlere Drohne, von der Sie langfris-
tig weniger als 20 Stück einplanen, sollte ein deutsch-
französisches Projekt sein, vielleicht unter Beteiligung
anderer Nationen. Ob sie auch bewaffnungsfähig sein
soll, müssen wir dann klären. Es sollte jetzt aber keine
Vorfestlegungen geben.

Wenn Sie ein Projekt suchen, bei dem Sie jetzt schnell
entscheiden sollten, am besten noch vor der Bundes-
wahl: Das ist die Beschaffung eines neuen Marinehub-
schraubers. Diese Entscheidung ist seit sieben Jahren
überfällig.

Schönen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721907900

Die Kollegin Karin Strenz hat jetzt das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Karin Strenz (CDU):
Rede ID: ID1721908000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn man zu den letzten Rednern in einer Debatte ge-
hört, fragt man sich im Verlauf natürlich, ob nicht schon
alles gesagt worden ist. Da ich heute die Chance habe, zu
reden, möchte ich darüber sprechen, was mir am Herzen
liegt.

Es ist völlig richtig, dass wir intensiv debattieren und
nach der besten Lösung suchen. Es ist grundsätzlich in
Ordnung, wenn man Bedenken äußert, Nachfragen und
Zweifel hat. Wenn am Ende die richtigen Antworten ge-
funden werden – nur dann stehen Entscheidungen auf ei-
nem stabilen parlamentarischen Fundament. Seit ich
dem Verteidigungsausschuss des Deutschen Bundesta-
ges angehöre, beeindruckt mich genau das sehr: Nie-
mand hat sich eine Entscheidung je leicht gemacht. Das
ist genau das, was die Truppe an uns schätzt, die breite
Basis bei sachlichen Entscheidungen; denn sie hat als

Parlamentsarmee am Ende die Entscheidungen umzuset-
zen.

Wir befassen uns heute mit einer Fähigkeitserweite-
rung, die ich persönlich für sinnvoll halte. Ich bin der
Meinung, im Gegensatz zum Kollegen Arnold, dass es
eine Fähigkeitslücke gibt, die es zu schließen gilt. Aus-
einandersetzungen wie in Afghanistan, asymmetrische
Kriegsführung, Hinterhalte, Heckenschützen, Terroris-
ten, organisierte Schwerstkriminelle, die nicht nach Re-
geln kämpfen und möglicherweise künftige Einsätze –
all das erfordert doch förmlich ein Instrument, welches
per se abschreckt, exzellent aufklärt und gegebenenfalls
präzise wirken kann oder gar muss, gerade um Kollate-
ralschäden zu minimieren und bestenfalls auszuschlie-
ßen.

Die Kollegen der Sozialdemokraten waren zur Zeit
der Großen Koalition hinsichtlich ihrer Meinungsbil-
dung offener und fortschrittlicher. Deshalb ist es nicht
fair, Herr Kollege Arnold, heute einfach so zu tun, als
müsse man das Thema neu erfinden und leidenschaftlich
in eine andere Richtung diskutieren. Sie fordern – das
finde ich beachtlich –: Wenn überhaupt, dann soll es eine
europäische Lösung sein. An dieser Stelle haben Sie alle
gemeinsam meine Sympathie; denn wenn wir mehr Ver-
antwortung übernehmen wollen und auch müssen, kann
es natürlich nicht schaden, aus den Kinderschuhen der
europäischen Verteidigungspolitik herauszuwachsen, ge-
rade im internationalen Kontext, und sich zu emanzipie-
ren.

Die Grünen warnen – das haben wir heute wieder er-
lebt – mantraartig vor dem drastischen Sinken der
Hemmschwelle.


(Andrej Hunko [DIE LINKE]: Zu Recht!)


Wie kann man nur? Da sinkt sie glatt bei mir: Welche
Charaktere und Reflexe unterstellen Sie eigentlich unse-
ren Soldatinnen und Soldaten,


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe von den politischen Entscheidungsträgern geredet! Vielleicht hätten Sie mal zuhören sollen!)


die aus tiefster Überzeugung, mit Idealen und nach her-
vorragender Ausbildung Deutschland dienen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie erwecken hier ja indirekt und stellenweise sogar
direkt den Eindruck, als säßen 13-jährige Kids in Fleck-
tarn vor einem Computerspiel, an der Steuerungstechnik
einer Drohne, aus Spaß am Spiel, aus spontaner Eigen-
initiative reagierend und operierend und bei gescheiter-
ter Mission beliebig oft auf den Wiederholen-Button
drückend.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Meine Güte, sind Sie weltfremd!)


Mein Gott, wo sind wir hier?


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das frage ich mich auch!)






Karin Strenz


(A) (C)



(D)(B)


Da Truppe nicht klagt, weil Truppe nämlich nicht klagt,
klage ich stellvertretend: Ich verwehre mich dagegen,
dass Sie so etwas unterstellen.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Habe ich auch gar nicht gemacht!)


Wie muss sich die Truppe fühlen? Wir reden über
Mütter, Familienväter, Töchter, Söhne, Schwestern und
Brüder, Bürger in Uniform, die verantwortungsvoll ihren
Dienst tun.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die entscheiden doch gar nicht darüber!)


Es sind im Übrigen genau dieselben, denen Sie hier im-
mer vollmundig – in der Hoffnung auf Applaus – für ih-
ren Dienst danken. Diesen Soldaten unterstellt man hin
und wieder – ganz besonders von links – unkontrolliertes
und nervenschwaches Verhalten bei der Ausübung der
Arbeit.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist populistisch!)


Allein das Abschreckungspotenzial einer bewaffneten
Drohne überzeugt mich. Denken wir doch einmal an die
quälende Debatte, als die Panzerhaubitze 2000 nach
Afghanistan sollte: zu schwer, zu groß, zu sperrig, alles
sinnlos. Als sie da war, hat sie gewirkt. Heute beklagt
sich niemand mehr über Angriffe oder Beschuss in
Kunduz. Ich denke, das sollte man erwähnen.

Ich sehe dieses zu entwickelnde moderne System als
zusätzliche Schutzkomponente für unsere Soldaten im
Einsatz. Die Fachleute zur Bedienung der Systeme sind
schon da. Wichtiger noch ist, dass sie natürlich von den
Werten der Inneren Führung geleitet sind. Sie halten sich
an Einsatzregeln, können die Lage einschätzen, beherr-
schen Befehlsketten und sind mit militärischen Vorgän-
gen vertraut. Wer das ignoriert oder ihnen gar abspricht,
verhält sich zynisch, nur der.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Nun zu den Linken. Wenn mir bei Ihren Ansichten
zur internationalen Sicherheitspolitik auch das Blut in
den Adern stockt: Sie bleiben sich doch wenigstens treu.
Sie wollen keine Bundeswehr und demzufolge auch kei-
nen Schutz für die Soldaten. Aber wie fatal! Welche Ver-
antwortungslosigkeit und welche Schuld laden Sie da
auf sich?


(Zuruf des Abg. Wolfgang Gehrcke [DIE LINKE])


Ich möchte mit Ihnen nicht tauschen. Ein bisschen tun
Sie mir auch leid. Denn am Ende des Tages bleibt Ihnen
nicht einmal das Beten.

Ganz besonders leid tut mir – das kann ich an dieser
Stelle sagen – ein Kollege von Ihnen. Sie werden sich
wundern: Es gibt einen Kollegen in Ihrer Fraktion, den
ich sehr schätze. Das ist der Kollege Schäfer. Ich glaube,
dass er es besser weiß und nur aus Parteizwängen
schweigt.


(Elke Hoff [FDP]: Genau! – Andrej Hunko [DIE LINKE]: Er hat mit mir zusammen die Anfragen gemacht!)


Herr Kollege, wie stark muss Ihr körperlicher Schmerz
gewesen sein, als Genosse Gysi bei anderer Gelegenheit
mit Blick auf die Anfrage des NATO-Partners Türkei
zwecks Hilfe durch Patriot-Raketen vom Einmarsch der
Bundeswehr in den Nahen Osten sprach?


(Philipp Mißfelder [CDU/CSU]: Skandal!)


Mit Verlaub, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, es nährt sich der Verdacht, dass diese Sprüche
das Licht der Welt in illegitimen Cannabis-Klubs erbli-
cken.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU – Rainer Arnold [SPD]: Sie tun dem Anliegen Ihres Ministers keinen Gefallen! – Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist geschmacklos! Aber so was von! Das ist eine ernste Frage!)


Reden Sie nicht nur darüber, sondern lassen Sie zu,
dass unsere Parlamentsarmee in Zukunft über die best-
mögliche Ausstattung verfügen wird, über ein System,
das wirkungsvoll, innovativ und unabhängig ist. Lassen
Sie uns selbstverständlich an anderer Stelle auch über
Ethik, sittliche Normen und Verantwortung debattieren,
aber, bitte schön, glaubwürdig und tiefschürfend und
nicht nur für eine Schlagzeile mit einem Haltbarkeits-
wert von 24 Stunden.

Ich danke dem Minister für seine klaren Worte, und
ich danke auch – das tun Sie sonst immer; heute haben
Sie das ausgelassen – dem Wehrbeauftragten, der im Üb-
rigen für den Schutz der Soldaten bewaffnete Drohnen
gefordert hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich komme zum Ende. – Herr Mützenich, Sie haben
gefragt, was die deutsche Bevölkerung wirklich interes-
siert. Ich glaube, es zu wissen: Sie will eine Antwort ha-
ben auf eine Frage. Diese Frage stelle ich nun Ihnen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721908100

Frau Kollegin.


Karin Strenz (CDU):
Rede ID: ID1721908200

Was sind Ihnen die Gesundheit und das Leben unserer

Soldaten wert?

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Rainer Arnold [SPD]: So blöd sind die Soldaten nicht, wie Sie glauben!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721908300

Das Wort hat der Kollege Philipp Mißfelder für die

CDU/CSU-Fraktion.






(A) (C)



(D)(B)



Philipp Mißfelder (CDU):
Rede ID: ID1721908400

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Ich möchte mich dem, was meine Kolle-
gin Strenz gesagt hat, vollkommen anschließen. Frau
Kollegin Strenz hatte ja vor allem die Linkspartei und
die SPD kritisiert. Frau Brugger, ich möchte jetzt Sie di-
rekt ansprechen, weil Sie ja grundsätzlich etwas über die
modernen Waffensysteme gesagt haben. Ich bin der Mei-
nung, dass die Bundeswehr und die Soldatinnen und Sol-
daten die bestmöglichen technischen Möglichkeiten zur
Verfügung haben sollten. Hier geht es auch um den
Schutz. Es geht ferner darum, wie ernst zu nehmend und
wie attraktiv der Einsatz bei der Bundeswehr überhaupt
sein soll.


(Agnes Brugger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, es geht um die Frage, welche Einsätze wir führen!)


Der Minister hat davon gesprochen, dass Sie den Ein-
druck erwecken, als wollten Sie weiter mit der Postkut-
sche fahren, statt einen technologischen Sprung zu voll-
ziehen und die Eisenbahn zu nutzen.

Es ist ja die Frage gestellt worden: Warum zum jetzi-
gen Zeitpunkt? Die Antwort ist offensichtlich: weil die
technologische Entwicklung schneller ist als unsere
Wahlzyklen. Deshalb gibt es auch keinen Grund, bis zur
Bundestagswahl zu warten. Wenn es die technischen
Möglichkeiten gibt, wenn die Regierung in Deutschland
sich veranlasst fühlt, Maßnahmen in dieser Richtung zu
prüfen und diese politisch von uns gedeckt werden, dann
gibt es sehr wohl einen guten Grund, diese Diskussion
offensiv zu führen.

Hier im Hause wird diese Diskussion übrigens sehr,
sehr unehrlich geführt. Das Einzige, was man der Links-
partei im Zweifel zugutehalten kann, ist, dass sie wirk-
lich alles, was mit der Bundeswehr, mit der Sicherheit,
mit der Verteidigung unseres Landes zu tun hat, ablehnt.
Wie konsequent das am Ende ist, möchte ich dahinge-
stellt sein lassen. Aber Sie sind sich Ihrer Linie zumin-
dest treu geblieben.


(Inge Höger [DIE LINKE]: Genau!)


Von Herrn Arnold kann man das nicht sagen. Herr
Arnold, in der Frankfurter Rundschau – sie ist ja ein der
SPD nahestehendes Blatt –


(Florian Hahn [CDU/CSU]: Ach so! Deswegen ist die Zeitung bankrott!)


werden Sie wie folgt zitiert: „Das ist ein Waffensystem,
dem die Zukunft gehört.“


(Rainer Arnold [SPD]: Ja, ja! Das wurde heute schon dreimal zitiert! Das geht aber weiter!)


Ich frage Sie: Was haben Sie denn gerade für eine Rede
gehalten? Hat man Sie in Ihrer Fraktion dazu verdonnert,
hier den Sprechzettel der Fraktion vorzulesen, oder war
das Ihre Meinung?


(Rainer Arnold [SPD]: Lesen Sie das doch mal ganz vor!)


Denn das, was Sie der Zeitung gesagt haben, entspricht
überhaupt nicht dem, was Sie gerade in Ihrer Rede ge-
sagt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wenn die Fraktionsdisziplin bei Ihnen so weit geht, dass
Sie hier nicht Ihre eigene Meinung sagen, dann hätten
Sie Ihre Redezeit besser an jemand anderen abgetreten.


(Zuruf des Abg. Hans-Joachim Hacker [SPD])


– Was haben Sie gesagt? Haben Sie „Kaderpartei“ ge-
sagt? Das ist relativ weitreichend. Ich würde die SPD
nicht als Kaderpartei bezeichnen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Vielleicht habe ich den Zwischenruf auch falsch verstan-
den. Auf jeden Fall fiel dieses Wort.


(Rainer Arnold [SPD]: Jetzt lesen Sie den nächsten Satz doch auch mal vor!)


Meine Damen und Herren, Kriege und Kriegsführung
insgesamt verändern sich. Mittlerweile gibt es nicht
mehr nur Konflikte zwischen Staaten, sondern auch zwi-
schen Staaten und organisierten kriminellen Gruppierun-
gen, die armeegleich agieren. Zwei Dinge sind wichtig,
um ihnen entgegenzutreten: Aufklärung und moderne
Waffensysteme.

Im Bereich der Aufklärung leisten unsere Dienste
wirklich hervorragende Arbeit, gerade in Zusammenar-
beit mit den Diensten befreundeter Länder. Vor diesem
Hintergrund ist es aber auch wichtig, dass wir uns an der
technologischen Entwicklung neuer Waffensysteme be-
teiligen. Wenn neue Technologien aufkommen, dürfen
wir in Deutschland nicht sagen: „Wir warten erst einmal
ab, bis alle anderen diese Technologien entwickelt und
angeschafft haben; wenn sie sinnvoll sind, beteiligen wir
uns vielleicht später daran“, sondern wir müssen an
solch wichtigen Projekten teilhaben. Wir müssen uns
engagieren.

Ich finde, dass diese Debatte zum genau richtigen
Zeitpunkt geführt wird. Ich glaube, dass wir mit diesem
Waffensystem letztendlich dafür sorgen können, dass die
Soldatinnen und Soldaten besser ausgerüstet und auf die
neuen Konfliktszenarien in den Einsätzen besser vorbe-
reitet sein werden, sodass sie – besser geschützt und gut
ausgebildet – verantwortungsbewusst mit den Heraus-
forderungen, die sich ihnen stellen, werden umgehen
können. Insofern unterstützt meine Fraktion diese Dis-
kussion, und wir werden sie öffentlich und transparent
führen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721908500

Ich schließe die Aussprache. Die Aktuelle Stunde ist

beendet.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 3 a und b auf:

a) – Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Verbesserung der





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


steuerlichen Förderung der privaten Alters-

(Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz – AltvVerbG)

– Drucksache 17/10818 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-
schusses (7. Ausschuss)


– Drucksache 17/12219 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Middelberg
Petra Hinz (Essen)
Frank Schäffler
Dr. Barbara Höll 
Dr. Gerhard Schick

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/12220 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Petra Merkel (Berlin)
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses (7. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Matthias W.
Birkwald, Klaus Ernst, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Risiken der Riester-Rente offenlegen – Alters-
vorsorge von Finanzmärkten entkoppeln
– Drucksachen 17/9194, 17/12219 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Mathias Middelberg
Petra Hinz (Essen)
Frank Schäffler
Dr. Barbara Höll 
Dr. Gerhard Schick

Verabredet ist, hierzu eineinhalb Stunden zu debattie-
ren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann
ist das so beschlossen.

Der Kollege Dr. Mathias Middelberg hat jetzt das
Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Mathias Middelberg (CDU):
Rede ID: ID1721908600

Ganz herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine Da-

men und Herren! Liebe Kollegen! Viele Menschen ha-
ben Sorge, ob sie im Alter ausreichend versorgt sind.
Deswegen ist das Thema, das wir heute debattieren, das
Thema Altersvorsorge, ein wichtiges und ernstes Thema.

Ich möchte vorweg, weil er mit debattiert wird, auf
den Antrag der Linken eingehen. Die Linken treten hier
mit der sehr naiven Vorstellung an, man könne die Al-
tersvorsorge bzw. die Rentenversicherung so organisie-
ren, dass sie von den Märkten entkoppelt wäre. Mit sol-

chen Vorstellungen anzutreten, ist ziemlich dümmlich;
denn man kann keine Altersvorsorge organisieren, die
vom wirtschaftlichen Geschehen völlig abgekoppelt
wäre.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Aber von den Finanzmärkten!)


– Auch nicht von den Finanzmärkten;


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Doch!)


denn die Finanzmärkte bilden letzten Endes auch das re-
ale wirtschaftliche Geschehen ab. Da gibt es immer die
eine oder andere Fehlentwicklung; aber zum Schluss ist
jede Altersvorsorge nur so stark wie die Volkswirtschaft,
die hinter ihr steht.

Entscheidend ist – ich zitiere einen erfahrenen Politi-
ker –: Wenn man sich die Rentenversicherungssystema-
tik insgesamt ansieht, weiß man: Das Wichtigste, was
man tun kann, ist, für Arbeit zu sorgen. Die spätere Ent-
wicklung hängt vor allem davon ab, wie die Arbeitslo-
sigkeit sich entwickelt. – Das ist eine Aussage Ihres frü-
heren Arbeits- und Sozialministers Franz Müntefering,
und diese Aussage ist absolut richtig.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Franz Müntefering hat diese Aussage im Jahr 2006 ge-
troffen, als in Deutschland noch 5 Millionen Menschen
arbeitslos waren. Heute sind es 2,7 Millionen. Wir sind
genau der Vorgabe von Franz Müntefering gefolgt und
haben das Wichtigste getan, was man tun kann, um die
Altersvorsorge zu stabilisieren, nämlich mehr Menschen
in Arbeit gebracht. Das ist die Leistung dieser Bundes-
regierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


2006 waren in Deutschland 26 Millionen Menschen so-
zialversicherungspflichtig beschäftigt. Heute sind es
29 Millionen. 3 Millionen Menschen mehr, die in das
Rentenversicherungssystem und in die übrigen Sozial-
versicherungssysteme einzahlen, das ist der beste und
vernünftigste Beitrag, den man leisten kann für eine sta-
bile Altersvorsorge.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Gleichwohl – davor dürfen wir die Augen nicht ver-
schließen – wird die Problematik der Altersvorsorge na-
türlich schwieriger. Das liegt einfach an der demografi-
schen Entwicklung: Es wird in der Zukunft mehr
Rentner geben und weniger Einzahler, ihr Verhältnis zu-
einander wird sich dramatisch verändern.

Deswegen werden die zusätzlichen Säulen der Alters-
vorsorge – die betriebliche Altersvorsorge und die pri-
vate Zusatzvorsorge – wichtiger werden. Die private
Zusatzvorsorge ist das, worüber wir heute sprechen.
Riester-Rente und Rürup-Rente – von SPD und Grünen
installiert – sind grundsätzlich die richtigen Konzepte.
Ich will an dieser Stelle ganz besonders betonen: Trotz
aller Studien, die dieses und jenes – zum Teil zu Recht –





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)


kritisieren, ist das Riester-Sparen immer noch eine her-
vorragende Möglichkeit – gerade für Geringverdiener –,
fürs Alter vorzusorgen. Eine Familie – Mann, Frau, zwei
Kinder –, die ein relativ geringes Jahreseinkommen von
etwa 25 000 Euro hat, bekommt, wenn sie im Jahr
267 Euro in eine Riester-Rente einzahlt, staatliche Zula-
gen von insgesamt 793 Euro. Das ist eine Förderquote
von 75 Prozent – besser kann es eigentlich nicht gehen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Und was kommt hinten raus?)


Das zeigt auch, dass die Riester-Rente ein ganz beson-
ders sozial gerechtes und sozial stabilisierendes System
der Altersvorsorge ist, von dem gerade Geringverdiener
profitieren.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


– Vielen Dank für den Applaus auch vonseiten der So-
zialdemokratie.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das haben Sie aber damals alles ganz anders gesehen!)


Allerdings – das ist auch zu Recht festgestellt worden –
könnten die Renditen vernünftiger ausfallen, und es ver-
sickert viel zu viel Geld im System der Vermittler und
bei Provisionen. Deswegen sind wir darangegangen, die
Dinge jetzt effizienter und transparenter zu gestalten, die
Preise vergleichbarer zu machen und die Verbraucher-
rechte zu stärken. Ganz konkret erhöhen wir den förder-
fähigen Sparbeitrag bei der Rürup-Rente, und, was ganz
wichtig ist, wir installieren ein Produktinformationsblatt.
Diese Produktinformationsblätter – ich zeige Ihnen hier
einmal eines – sind, wie ich finde, absolut überschaubar,
übersichtlich,


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Kann jeder sehen!)


sodass sich die Kunden sehr schön orientieren können.
Das Wichtigste ist oben das Feld mit den drei Kennwer-
ten „Effektivkosten“, „Risikoklasse“ und „Mittlere
Rendite-Erwartung“. Da ist für jeden Kunden über alle
Produktgruppen und über alle Produkttypen hinweg klar
erkennbar, wie effizient die Produkte sind. Er kann sich
auf dieser Grundlage ein klares Bild machen und klar
entscheiden, welches für ihn das günstigste und effizien-
teste Produkt ist. Ich glaube, das ist in diesem Gesetzent-
wurf der wichtigste Beitrag zu mehr Verbraucherschutz,
mehr Transparenz und geringeren Kosten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dazu haben wir das Ganze mit einem zweijährigen
Rücktrittsrecht ausgestattet. Das heißt, wenn ein Anbie-
ter, eine Versicherung, ein Fondsanbieter oder wer auch
immer, in diesem Produktinformationsblatt fehlerhafte
Angaben macht, hat der Kunde demnächst die Möglich-
keit, innerhalb von zwei Jahren vom Vertrag zurück-
zutreten. Das ist ein ganz scharfes Schwert für den Ver-
braucher. Wenn irgendetwas falsch gelaufen ist, hat er in
diesem Zeitraum die Möglichkeit, den gesamten Vertrag
rückabzuwickeln, ohne dass er dabei irgendeinen Scha-
den nimmt.

Wir haben die Kosten bei einem Anbieterwechsel
– auch das ist vielfach angesprochen worden – reduziert.
Der bisherige Anbieter kann bei einem Wechsel höchs-
tens noch 150 Euro berechnen, der neue Anbieter kann
für seine Provision maximal 50 Prozent des Kapitals zu-
grunde legen.

Wir verbessern den Erwerbsminderungs- und Berufs-
unfähigkeitsschutz, und wir machen vor allem den
„Wohn-Riester“ flexibler. Dazu werden nachher die
Kollegen noch präzisere Ausführungen machen.

Wir sehen schon jetzt, dass auch die unabhängigen
Organisationen diesen Gesetzentwurf ausdrücklich
loben. Die Verbraucherzentrale lobt vor allen Dingen das
Produktinformationsblatt. Dadurch wird die Sache künf-
tig einfacher, klarer und besser. Die Zeitschrift Finanz-
test, die sich intensiv mit dem Thema auseinandersetzt,
lobt ebenfalls vor allem das Produktinformationsblatt.
Sie lobt auch die Flexibilisierung beim „Wohn-Riester“,
und sie nennt beispielsweise die Möglichkeit, in Zukunft
Riester-Kapital für einen altersgerechten Umbau der
eigenen Wohnung zu entnehmen, was den Wünschen
vieler Menschen entspricht. Das nennt sie ausdrücklich
eine sehr vernünftige Idee.

Mit solchen Urteilen über diesen Gesetzentwurf kön-
nen wir sehr gut leben. Angesichts dessen bin ich – das
sage ich ganz deutlich – ziemlich enttäuscht über die
Ablehnung durch die Opposition, die wir gestern im
Finanzausschuss erleben durften. Ich kann das nicht ver-
stehen. Man kann bei dem einen oder anderen Punkt sa-
gen, man wolle zusätzlich diese oder jene Regelung.
Auch wir arbeiten ja an dem Thema einer generellen
Kostengrenze. Aber wie man angesichts dieser Regelun-
gen, die eine glasklare Verbesserung in Bezug auf mehr
Markttransparenz, mehr Verbraucherrechte und Kosten-
senkungen darstellen, noch Nein sagen kann, ist für mich
unverständlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich will Ihnen abschließend sagen: Wenn wir Ihre
steuerpolitischen Vorstellungen umsetzen – Sie verkau-
fen sie immer mit dem Argument, Sie wollten mehr
Gerechtigkeit schaffen –, dann wird das letzten Endes so
laufen: Der Spitzensteuersatz wird erhöht; die Abgel-
tungsteuer trifft jeden Sparer; mit der Vermögensteuer
werden Sie die mittelständischen Betriebe treffen. Sie
machen letztendlich die Konjunktur kaputt, Sie machen
die Wirtschaft kaputt, Sie gefährden dadurch Arbeits-
plätze. Vor allem aber nehmen Sie den Leuten das Geld,
das sie benötigen, um Eigenvorsorge zu leisten. Dieses
Geld brauchen sie, um in Riester und Rürup einzuzahlen.
Das halte ich für absolut inkorrekt. So funktioniert es
nicht: erst den Leuten über Steuern das Geld aus der
Tasche ziehen, um es nachher großzügig als Riester-
Zuschuss oder als Zuschuss zur betrieblichen Altersvor-
sorge zurückzugeben. Dann sollten Sie den Menschen
konsequenterweise gleich das Geld lassen, damit sie
selbst Eigenvorsorge leisten können.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Vor diesem Hintergrund halte ich es vor allem für
kritikwürdig, dass Sie die Anpassungen bei der Steuer-





Dr. Mathias Middelberg


(A) (C)



(D)(B)


progression im Bundesrat blockiert haben und weiterhin
blockieren werden; denn damit schädigen Sie gerade die
Gering- und Kleinverdiener, denen dann die Mittel feh-
len werden, diese private Eigenvorsorge für das Alter zu
leisten. Das ist eine Sache, die man nur aufs Schärfste
kritisieren kann.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt doch gar nicht!)


Wir möchten den Menschen die Chance und auch die
Mittel geben, selbst für ihr Alter vorzusorgen, und damit
einen anderen Weg beschreiten, als Sie das tun. Wir
haben hierzu – ich habe es eben gesagt – konkrete
Vorschläge vorgelegt: für mehr Markttransparenz, für
wesentlich bessere Verbraucherrechte und für eine kon-
sequente Senkung zum Beispiel der Kosten und Vermitt-
lerprovisionen bei Riester, damit wir Riester wirklich
effizienter und renditestärker für die einzelnen Kunden
machen.

Vor diesem Hintergrund kann ich nur schärfstens an
Sie appellieren, diesem Gesetzentwurf zuzustimmen und
den Kunden nicht weiter die Verbesserungen vorzuent-
halten, die wir bei Riester und Rürup dringend installie-
ren müssen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721908700

Petra Hinz hat jetzt das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1721908800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Es war sehr gut, lieber Kollege,


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Fand ich auch!)


dass Sie Ihre Rede mit einem Zitat des ehemaligen Ar-
beitsministers Franz Müntefering begonnen haben.
Franz Müntefering hat recht mit dem, was er gesagt hat.

Da wir heute anscheinend in der Phase der Aufarbei-
tung sind – einige Geschichten werden wir heute sicher-
lich auch noch von anderen Kollegen hören –, möchte
ich gerne einmal darstellen, wo wir 1998 standen. 3 Mil-
lionen Arbeitslose und 2 Millionen Sozialhilfeempfän-
ger sind zusammengeführt worden. Das sind additiv
unter dem Strich – hier gebe ich Ihnen recht – 5 Millio-
nen. Ich frage Sie jetzt: Wer war denn vor 1998 16 Jahre
lang an der Regierung? Rot? Nein! Schwarz-Gelb!


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Die sind doch erst unter Rot-Grün entstanden!)


Wir haben in unserer Regierungszeit eine ganze
Menge aufgearbeitet. Wenn Sie meinen, Sie könnten
heute durch die Lande gehen und sagen, es gebe jetzt nur
noch 3 Millionen Arbeitslose und das sei Ihr Verdienst,
dann kann ich nur sagen: Nichts haben Sie in dieser Zeit
getan. Sie haben nicht dazu beigetragen, dass die Men-
schen faire Löhne bekommen. Schauen Sie sich doch an,

mit welchen Tarifverträgen und Löhnen diejenigen, die
in Arbeit gekommen sind, letzten Endes auskommen
müssen. Nicht umsonst verweigern Sie gemeinsam mit
Ihrem Koalitionspartner permanent das Thema Mindest-
löhne.

Da nützt es auch nichts, wenn Sie auf Ihren Parteita-
gen nur mit Überschriften wie „Mindesteinkünfte“ arbei-
ten. Verdummen Sie die Menschen doch nicht! Die wis-
sen doch ganz genau, dass Sie das Thema Mindestlöhne
in Ihrer Regierungszeit nicht angehen werden.

Ich gebe Ihnen insofern völlig recht: Nur wer einen
fairen, gerechten und auskömmlichen Lohn erhält, kann
auch für sein Alter vorsorgen.


(Beifall bei der SPD)


Sie haben auch recht, mein lieber Kollege, wenn Sie
darüber reden, dass die private Altersvorsorge wichtig
ist.

Wir haben uns 1989, 2000 und 2001 mit dem Thema
Alterseinkünftegesetz beschäftigt, weil Sie sich seit
1980 nicht um dieses Thema gekümmert haben.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721908900

Herr Grund würde Ihnen gerne eine Zwischenfrage

stellen. Möchten Sie das?


Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1721909000

Nein, vielen Dank, ich möchte ganz gerne in meiner

Rede fortfahren.


(Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)


– Ihr Bedauern trifft mich sehr.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Aber immer bei der Wahrheit bleiben!)


– Ich hoffe, Sie wissen, was die Wahrheit ist.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Auch beim Mindestlohn!)


Weiter zum Alterseinkünftegesetz: 1980 hat uns das
Bundesverfassungsgericht aufgegeben, die Besteuerung
der Beamtenpensionen und der Renten auf den Weg zu
bringen. Sie haben in Ihrer Regierungsphase nichts
gemacht. Wir sind das Thema angegangen, und dies
mündete unter anderem in die Riester- und die Rürup-
Rente.

Meine lieben Kolleginnen und Kollegen, bleiben Sie
also bei der tatsächlichen Chronologie und bei dem, was
Sie in 16 Jahren schwarz-gelber Regierung einfach
ausgesessen und versäumt haben. Andere Regierungen,
unsere rot-grüne und nachher auch – ich gestehe – die
Große Koalition, haben hier einiges auf den Weg ge-
bracht.

Allein der Titel „Altersvorsorge-Verbesserungsge-
setz“ verspricht viel. Was hält er? Ich sage: Sehr wenig.

Schauen wir einmal ins Kleingedruckte. In der Öf-
fentlichkeit behaupten Sie gerade, Riester werde einfa-
cher. Sie haben eben auch gesagt, Riester sei eigentlich
ein sehr gutes Produkt. Darauf kommen wir gleich noch.





Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)


Sie sagen, das Produktinformationsblatt für Verbrau-
cher führe zu mehr Transparenz. Da gebe ich Ihnen aller-
dings recht. Das Produktinformationsblatt ist ein wichti-
ger und richtiger Schritt in die richtige Richtung.
Allerdings haben Sie – auch im Zuge der Änderungs-
anträge – den richtigen Weg wieder verlassen. Auch
darauf komme ich gleich noch.

Zur FDP. Ich denke, wir werden hier gleich die ste-
reotype FDP-Rhetorik hören, nämlich: mehr Flexibilität,
mehr Wahlfreiheit.


(Beifall der Abg. Dr. Birgit Reinemund [FDP])


Was für den Einzelnen dahintersteckt, ist eine ganz an-
dere Frage. Dazu kommen wir gleich aber auch noch.

Ich komme zum Thema „Mehr Transparenz in Pro-
duktinformationsblättern“. Ja, ich gebe Ihnen recht: Da
gab es ein großes Defizit; mehr Klarheit und mehr
Transparenz müssen unbedingt eingeführt werden. Wir
haben es in der Finanz- und Wirtschaftskrise gesehen.
Viele Menschen haben gerade in dieser Zeit versucht,
das, was sie für ihr Alter angespart haben, besonders
günstig, spekulativ anzulegen, und haben gar nicht ver-
standen, welche Produkte sie letztendlich gekauft haben.
Aber bei Riester und Rürup ist ganz klar: Es geht hier
nicht um Spekulation, sondern es geht um eine konser-
vative Anlage. Insofern ist die Einführung dieses Pro-
duktinformationsblattes sehr wichtig. Es ist ein richtiger
Schritt, aber er geht nicht weit genug.

Hier wurde vorhin die Zeitschrift Finanztest zitiert.
Auch ich war in der Anhörung und habe mitbekommen,
was der Vertreter von Finanztest dort gesagt hat. Sie
haben nicht vollständig zitiert. Ich will hier jetzt auch
andere zitieren. Der Sachverständige Niels Nauhauser
von der Verbraucherzentrale Baden-Württemberg sagt:
Ja, das Produktinformationsblatt hilft und ist ein richti-
ger Schritt; aber es hilft nur denjenigen Verbrauchern,
die dieses Informationsblatt tatsächlich verstehen. Alle
anderen, die es nicht verstehen, laufen Gefahr, eine
falsche Entscheidung zu treffen.

Dr. Christian Pfarr von der Universität Bayreuth hat
ganz deutlich gesagt: Dieses Informationsblatt ist ein
erster und richtiger Schritt; aber dieser Schritt ist noch
nicht ausreichend, da ein Produktinformationsblatt nur
die Produktdarstellung betrifft, nicht aber an der Fähig-
keit der Menschen ansetzt, diese Information tatsächlich
zu verstehen.

Ich komme zu einem anderen Punkt. Sie und auch wir
haben in der letzten Zeit mit Vertretern der Versiche-
rungswirtschaft gesprochen. Sie haben aber nicht mit
den Verbraucherschützern gesprochen. Das kreiden wir
Ihnen an und sagen: All das, was Sie, auch gestern im
Finanzausschuss, an Änderungsanträgen eingebracht ha-
ben, hat nur zu einer Verbesserung für die Finanzwirt-
schaft geführt, aber nicht für die Kunden, nicht für die
Versicherungsnehmer. Insofern: Ja, es ist ein richtiger
Schritt, aber er geht nicht weit genug.

Ich denke, auf die Frage der Kostentransparenz wer-
den der Kollege von den Grünen und meine Kollegin
von der SPD eingehen.

Auch zu den Vergleichszahlen konnten Sie sich ges-
tern nicht abschließend äußern. Das Gutachten, das dazu
auf den Weg gebracht werden soll, wird uns irgendwann,
möglicherweise nach dem Oktober 2013, vorliegen. Das
ist viel zu spät.

Kommen wir zu einem anderen Punkt, dem Thema
„Wohn-Riester“. Von Ihnen wird es immer so darge-
stellt: Alle Menschen, die Eigentum kaufen, sorgen da-
mit für ihr Alter vor. – Diejenigen, die es sich leisten
können – da gebe ich Ihnen recht –, haben damit tatsäch-
lich Vorsorge für ihr Alter getroffen. Sie suggerieren
aber auch den vielen anderen, mit einem Eigenheim
würden sie eine Altersvorsorge schaffen. Das schaffen
sie eben nicht;


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Kommen Sie mal zu mir in den Wahlkreis!)


denn die nachgelagerten Kosten, die dafür entstehen, die
Rücklagen, die gebildet werden müssen, die Instandhal-
tungskosten, die zu zahlenden Steuern und anderes, all
das sind Dinge, die die Menschen, die Eigentum erwor-
ben haben, ebenfalls finanzieren müssen. Insofern sage
ich Ihnen: In Bezug auf diejenigen, auf die dieses Pro-
dukt passt, ist das, was Sie gesagt haben, richtig. Allen
anderen streuen Sie Sand in die Augen und führen sie in
die Irre.

Nun kommen wir zum Thema Basisrente im Alter. In
diesem Bereich fördern Sie einseitig diejenigen, die
Rürup-Verträge abschließen. Ich sage Ihnen: Es ist gut
– hier soll kein falscher Eindruck entstehen – für die
Selbstständigen und für diejenigen, die ihr Geld in
Rürup anlegen wollen, dass Sie das Abzugsvolumen von
20 000 auf 24 000 Euro erhöhen wollen. Das geschieht
zwar ohne Not, aber gut. Ich weiß, dass es hier um Bei-
tragsbemessungsgrundlagen geht. Herr Schäffler, bevor
Sie mir nachher eine kleine Belehrung hierzu geben,
sage ich Ihnen, dass ich diese Grundlagen kenne und
weiß, wie sie sich zusammensetzen.

Aber wenn die Riester-Rente so gut und so toll ist,
dann frage ich Sie: Warum haben Sie nicht auch hier die
Fördergrenze hochgesetzt? Reden wir doch einmal
darüber, wie viele die einzelnen Produkte nutzen. Wir
reden über 10 000 Menschen, die von dieser Anhebung
bei Rürup profitieren können, und wir reden über
16 Millionen Menschen, die Riester in Anspruch neh-
men. Bei Riester belassen Sie den Höchstbetrag zur För-
derung bei 2 100 Euro, obwohl die Gutachter im Rah-
men der Anhörung deutlich gemacht haben, dass gerade
diese Grenze angehoben werden muss.

Ich frage Sie: Für wen machen Sie dieses Gesetz?
Machen Sie es für die 16 Millionen Menschen mit
Riester-Verträgen, oder machen Sie es für einen kleinen
Teil, für die Versicherungswirtschaft und für die weni-
gen, die davon profitieren können?

Ich komme zum Schluss und fasse zusammen, was
ich gesagt habe. Es ist festzuhalten, dass das Gesetz
keine Lenkungswirkung entfaltet. Das Gesetz bietet
keine zielgerichteten Instrumente für Geringverdiener.
Das aber war der Ursprung von Riester.


(Beifall bei der SPD)






Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)


Das Gesetz führt nicht zu mehr Akzeptanz, im Gegen-
teil. Die Bundesregierung zeigt keinerlei Ansätze, den
hier bestehenden Reformbedarf anzugehen. Wir von der
SPD sehen natürlich ebenfalls Handlungsbedarf. Aber
die Lösung besteht nicht in dem, was Sie uns hier vorge-
legt haben. Sie sind gar nicht daran interessiert, den ein-
zelnen Riester-Vertragsnehmer in den Genuss bestimm-
ter Vergünstigungen kommen zu lassen. Ich habe im
Dezember danach gefragt, wie hoch die Steuerminder-
einnahmen wären, wenn die Grenze für die in einen
Riester-Vertrag maximal einzuzahlenden Beträge von
2 100 auf 2 500 bzw. 2 600 Euro angehoben würde, wie
es die Sachverständigen vorschlagen.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721909100

Frau Kollegin.


Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1721909200

Ich habe einmal gefragt. Ich habe zweimal gefragt.

Ich habe noch gestern im Ausschuss nachgefragt. Sie ha-
ben noch nicht einmal entsprechende Berechnungen vor-
genommen. Verkaufen Sie also die Menschen nicht für
dumm! Ihr Geschenk enthält nur heiße Luft, auch wenn
es von außen schön aussieht. Ich kann allen nur raten,
gut zuzuhören, wenn Sie von Wahlfreiheit reden.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721909300

Zu einer Kurzintervention gebe ich das Wort dem

Kollegen Manfred Grund.


Manfred Grund (CDU):
Rede ID: ID1721909400

Vielen Dank. – Frau Kollegin Hinz hat zu Beginn ih-

rer Rede in Richtung FDP und CDU/CSU gesagt: Sie
haben in all Ihren Regierungsjahren nichts für die Ein-
führung von Mindestlöhnen getan. – Zurzeit gelten bun-
desweit in zwölf Tarifbranchen Mindestlöhne, die durch
den Gesetzgeber als allgemeinverbindlich erklärt wur-
den. Diese Mindestlöhne schützen mehr als 4 Millionen
Arbeitnehmer. Alle diese zwölf gesetzlichen Mindest-
löhne sind nicht gegen FDP und CDU/CSU, sondern
durch FDP und CDU/CSU in Kraft gesetzt worden. In
den sieben Jahren, in denen Sie von Rot-Grün regiert ha-
ben, ist nicht ein Mindestlohn für allgemeinverbindlich
erklärt worden.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Das Zweite ist: 1998, bei der Regierungsübernahme,
konnten Sie eine ziemlich gut geordnete Rentenkasse
und ein Gesetz über einen demografischen Faktor in der
Rentenversicherung übernehmen. Sie haben gegen die-
sen demografischen Faktor Wahlkampf geführt und ihn
dann nach der Wahl als Erstes außer Kraft gesetzt, ohne
mit Blick auf die demografische Entwicklung für einen
entsprechenden Ausgleich zu sorgen. Dann ist die Ren-
tensituation derart aus dem Ruder gelaufen, dass ganz
schnell Notmaßnahmen getroffen werden mussten.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Denken Sie mal an die kommunale Lage damals!)


Der einzige Ausweg, den Sie gefunden haben, bestand in
der Absenkung des Rentenniveaus auf weit unter 50 Pro-
zent und in Riester-Verträgen. Das alles nutzte der priva-
ten Versicherungswirtschaft durchaus mehr als den Ver-
sicherten.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Diese Ein-Parameter-Betrachtungen sind wirklich sehr armselig!)


– Sie können ja Ihren Teil zur Wahrheit beitragen.

Sie haben also den demografischen Faktor außer
Kraft gesetzt und das Rentenniveau auf weit unter
50 Prozent gesenkt. Diejenigen, die dann Verantwortung
übernommen haben, haben mit dem Reparaturkoffer hin-
terherlaufen müssen, um das wieder in Ordnung zu brin-
gen, was Sie hinterlassen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bernd Scheelen [SPD]: So ein Unsinn!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721909500

Frau Hinz, bitte, zur Erwiderung.


Petra Hinz (SPD):
Rede ID: ID1721909600

Vielen Dank, dass Sie mir zusätzliche Redezeit ge-

ben, Herr Grund. Gerne greife ich das auf, was Sie zu
den Mindestlöhnen ausgeführt haben. – Hier geht es um
die Umsetzung von Tarifverträgen. Das hat nichts mit
gesetzlichen Mindestlöhnen zu tun.


(Manfred Grund [CDU/CSU]: Natürlich! Das sind zwölf gesetzliche Mindestlöhne!)


Alles, was in diesem Zusammenhang eingeführt wurde,
ist in unserer Regierungszeit auf den Weg gebracht wor-
den. Ich kann Ihnen sagen, was wir 1998 vorgefunden
haben: Die Kassen waren leer, und es gab 3 Millionen
Arbeitslose und 2 Millionen Sozialhilfeempfänger. Das
können Sie nicht bestreiten; denn es können nicht über
Nacht 5 Millionen Menschen vom Himmel gefallen sein.
Das mögen Sie nicht hören, aber die Politik, die Sie
16 Jahre betrieben haben, hat dazu geführt, dass die Kas-
sen, die über Jahrzehnte gut gefüllt waren, geleert wur-
den und dass das System nicht mehr gut funktionierte.

Die Tatsache, dass wir Mindestlöhne in zwölf Bran-
chen haben, wirft für mich die Frage auf: Warum können
wir nicht generell einen Mindestlohn einführen? Warum
sträuben Sie sich dagegen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Darum geht es. Wenn das so gut ist, was Sie auf den
Weg gebracht haben, dann machen Sie es doch noch bes-
ser. Führen Sie doch generell einen Mindestlohn ein. Sie
können mir doch nicht erklären, dass Mindestlöhne kei-
nen Sinn machen, wenn wir auf der anderen Seite bereit
sind, 12 Milliarden Euro für Aufstocker auszugeben. Ich
würde lieber mehr Geld in den Bereich Mindestlöhne in-
vestieren, damit wir weniger in die Aufstocker investie-
ren müssen. Was könnten wir mit 4 Milliarden Euro
mehr alles auf den Weg bringen!





Petra Hinz (Essen)



(A) (C)



(D)(B)


Ihre Vorschläge waren konzeptionslos. Sie haben in
die Irre geführt. Sie haben alles ausgesessen während Ih-
rer Regierungszeit. Sie haben nichts auf den Weg ge-
bracht, und darum sind Sie 1998 auch abgewählt wor-
den.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721909700

Das Wort hat der Kollege Frank Schäffler für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1721909800

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Frau Hinz, das, was Sie gerade für Ihre Fraktion
darzustellen versucht haben,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie können für Ihre Fraktion ja nichts darstellen! Das ist klar!)


hätten Sie aus meiner Sicht etwas positiver machen sol-
len. Sie sollten eigentlich stolz auf das sein, was Sie in
der Vergangenheit mit der Riester-Rente und der Rürup-
Rente geschaffen haben.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Deswegen stimmen wir auch nicht zu: Wir wollen das nicht kaputtmachen!)


16 Millionen Riester-Verträge, 1,6 Millionen Rürup-Ver-
träge – das ist doch eine stolze Bilanz, zu der auch Sie
beigetragen haben.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)


Wir verbessern dieses Gesetz jetzt, weil es Schwächen
hat; im Verlauf der Jahre hat sich gezeigt, dass es an der
einen oder anderen Stelle sinnvoll nachjustiert werden
muss. Insofern: Zeigen Sie ein bisschen mehr Selbstbe-
wusstsein!

Ich würde mir wünschen, Sie würden sich einen Ruck
geben und dazu beitragen, dass Ihre Vorstellungen in
dieses Gesetzgebungsverfahren einfließen. Aber die Än-
derungsanträge, die Sie im Finanzausschuss gestellt ha-
ben, waren ehrlich gesagt relativ substanzlos. Zu sagen,
dass das Wohnförderkonto auf dem Niveau von 2 Pro-
zent weiter verzinst werden muss, ist schon ziemlich ma-
ger. Wenn das der einzige Vorschlag der Sozialdemokra-
tie ist, der ihr in diesem Gesetzgebungsverfahren
einfällt, dann ist das wirklich lächerlich; schließlich ha-
ben Sie das ganze Gesetzespaket ursprünglich auf den
Weg gebracht.

Eines müssen wir sehen: Der Immobilienmarkt boomt
natürlich in einigen Regionen, in Düsseldorf, Berlin,
München, Frankfurt und Stuttgart. Es gibt aber weite Re-
gionen in Deutschland, in denen die Wohnimmobilien-
preise sinken. Deshalb ist es nicht richtig, die Wohn-
immobilien mit 2 Prozent hoch zu verzinsen; denn damit
steigt die Steuerlast für den Anleger später entsprechend.
Vielmehr ist es sinnvoll, den Zinssatz auf 1 Prozent zu

reduzieren und nicht das hohe Niveau beizubehalten.
Das ist ein vernünftiger und auch pragmatischer Vor-
schlag, den wir gemacht haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist auch sinnvoll, dass wir innerhalb der Riester-
Rente und der Basisrente, also der Rürup-Rente, die Ele-
mente der Berufsunfähigkeitsversicherung stärken. Es
waren ja Sie, die 2001 die Berufsunfähigkeitsversiche-
rung innerhalb der gesetzlichen Rentenversicherung ab-
geschafft haben. Das hat dazu geführt, dass viele Men-
schen in diesem Land keinen Berufsunfähigkeitsschutz
mehr haben bzw. sich diesen nicht leisten können.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Befolgen Sie den Rat Ihres Kollegen: Bleiben Sie bei der Wahrheit!)


Deshalb ist es doch schlau, Anreize dafür zu schaffen,
dass Menschen selbst vorsorgen und dieses existenzielle
Risiko für sich absichern. Das ist doch notwendig, wenn
Sie den Berufsunfähigkeitsschutz in der gesetzlichen
Rentenversicherung abschaffen. Es muss Anreize geben,
damit private Vorsorge stattfindet.

Was in der gesetzlichen Rentenversicherung übrig ge-
blieben ist, ist der Erwerbsminderungsschutz. Dieser be-
trägt bei denjenigen, die Erwerbsminderungsrenten be-
kommen, im Durchschnitt für Frauen 570 Euro und für
Männer 620 Euro. Das ist nicht allzu viel. Wer das privat
aufstocken kann, der sorgt rechtzeitig vor und schützt
damit auch die Solidargemeinschaft und die Sozialkas-
sen. Es ist also durchaus sinnvoll, wenn es uns gelingt,
mehr Menschen dazu zu bringen, vorzusorgen und das
existenzielle Risiko der Berufsunfähigkeit durch Krank-
heit und durch Unfall abzusichern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es hilft vor allem den Berufsgruppen, die besonders
durch Berufsunfähigkeit gefährdet sind.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein, denen gerade nicht!)


Das sind im Wesentlichen die Handwerks- und die Ar-
beiterberufe.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Was ist mit den chronisch Kranken, die gar nicht versichert werden?)


Inzwischen bestehen die Rentenzahlungen beispiels-
weise der Gerüstbauer zu 52 Prozent aus Erwerbsunfä-
higkeitsrenten. Daran sieht man das erhöhte Risiko. Bei
den Dachdeckern sind es 51 Prozent und bei den Berg-
leuten 50 Prozent.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Das muss in der gesetzlichen Rentenversicherung abgesichert werden!)


Bei den Pflasterern sind es 41 Prozent. Und so weiter.
Das ist ein existenzielles Risiko.





Frank Schäffler


(A) (C)



(D)(B)


Wenn man in der geförderten Altersvorsorge bei der
Basisrente den Berufsunfähigkeitsschutz tatsächlich ab-
sichern kann – wir machen dies so –, dann ist das doch
eine hervorragende Sache.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein!)


Dann sollten Sie das mit Blick auf die beruflichen Hin-
tergründe Ihres Klientels in Ihrem eigenen Interesse ent-
sprechend berücksichtigen. Sie tun das ja auch. Sie tun
das auch in den Papieren, die Sie veröffentlichen. Die
SPD hat ein Rentenkonzept mit dem Titel „Die SPD-
Rentenpolitik: Arbeit muss sich lohnen!“ veröffentlicht.
Darin stehen viele tolle Sachen:


(Annette Sawade [SPD]: Ja, stimmt!)


Vor allem schwere körperliche Arbeit und Schicht-
arbeit zwingen schon heute Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer dazu, vor dem 65. Lebensjahr auszu-
scheiden und entsprechende Abschläge bei der
Rente hinzunehmen.

Ja, das ist so. Das ist Faktum. Das ist die demografische
Entwicklung.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Was wollen Sie jetzt damit sagen?)


Das ist die arbeitsteilige Wirtschaft, die wir in der Indus-
trie zurzeit erleben. Aber die Folge ist dann doch, dass
man die Menschen in die Lage versetzt, vorzusorgen,
und zwar, wie sie persönlich es wollen, und nicht, wie
Sie es vorschreiben wollen. Das ist das Entscheidende.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Ihre Wahlfreiheit ist für manche keine Wahlfreiheit!)


Sie haben auch hineingeschrieben, dass die Erwerbs-
minderungsrente für Sie ein wichtiges Thema ist. Das
können Sie jetzt in diesem Gesetzgebungsverfahren um-
setzen.

Aber die Maßnahmen, die Sie in der Vergangenheit
ergriffen haben, haben teilweise das Gegenteil erreicht.
Das, was Sie bei der betrieblichen Altersvorsorge in der
Vergangenheit, beispielsweise 2004, gemacht haben, hat
nämlich dazu geführt, dass die Menschen heutzutage
weniger in der Tasche haben. Sie haben die betriebliche
Altersvorsorge im Alter zusätzlich krankenversiche-
rungspflichtig gemacht. Wir Abgeordnete bekommen
noch heute Briefe von vielen Anlegern, die sagen: Es ist
letztendlich eine Vergackeierung unserer Lebensleis-
tung, dass das Erwerbseinkommen und die Rentenleis-
tung faktisch zweimal verbeitragt werden. Sie müssten
eigentlich das größte Interesse daran haben, dass wir an
der Stelle jetzt mehr Spielraum schaffen.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Sie wissen gar nicht, worüber Sie reden!)


Sie müssten vor allem ein großes Interesse daran ha-
ben, dass Sie am Ende auch gegenüber Ihren Wählern so
auftreten können, dass Sie gut dastehen. Sie haben jetzt
Verantwortung im Bundesrat. Das hat der Wähler so ent-
schieden.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Im September entscheidet er noch mal!)


Aber mit dieser Verantwortung dürfen Sie nicht wie Ihr
ehemaliger Parteivorsitzender Oskar Lafontaine umge-
hen, sondern Sie müssen verantwortungsvoll damit um-
gehen. Hier geht es nämlich um Einkünfte und um das,
was Menschen tatsächlich bewegt.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das weiß die FDP, was die Menschen bewegt!)


Deshalb fordere ich Sie auf, Ihre Blockadehaltung auch
im Bundesrat aufzugeben und dafür zu sorgen, dass wir
noch in dieser Legislaturperiode ein Gesetz bekommen,
das den Menschen tatsächlich hilft und nicht am Ende
Ihrer kleinkarierten parteipolitischen Art dient.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Petra Hinz [Essen] [SPD]: „Kleinkariert“! Und das aus dem Mund der FDP! Ich glaube es ja nicht! Wie Sie mit Ihrem Vorsitzenden umgehen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721909900

Matthias Birkwald hat das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721910000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die Rede des Kollegen Schäffler hat deutlich
gemacht, dass die FDP das Problem gar nicht erkannt
hat. Aber immerhin: Teile der Bundesregierung haben
ein großes Problem erkannt. Unsere Bundesministerin
für Arbeit und Soziales hat nämlich gesagt, dass eine gi-
gantische Welle neuer Altersarmut lauttosend auf uns
zurase. Leider hat sie da recht. Aber was tun CDU/CSU
und die FDP dagegen? Sie spielen Dick und Doof in
wechselnder Besetzung: Stan piekst Olli. Olli haut Stan.
Aber beide zusammen bekommen bei der Rente und bei
der Bekämpfung der Altersarmut nichts, aber auch gar
nichts auf die Reihe. Ich sage: Das ist nicht unterhalt-
sam, das ist auch nicht langweilig, das ist einfach nur
bitter.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Heute tagt Ihr Koalitionsausschuss. Hören Sie endlich
auf mit Ihrer missratenen rentenpolitischen Comedy!
Dazu ist das Thema viel zu ernst!


(Beifall bei der LINKEN)


Ihre verhuschten Renten-Slapsticks gehen nämlich auf
Kosten der Armen in dieser Gesellschaft. Wie wir wis-
sen, gibt es schon heute über 1 Million arme Menschen
im Rentenalter, und das ist überhaupt nicht lustig.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, als die Bundesre-
gierung aus SPD und Grünen die Riester-Rente vor mehr
als zehn Jahren einführte, sollte diese eine Vorsorgelücke
schließen. Heute wissen wir längst: Das wird nicht funk-





Matthias W. Birkwald


(A) (C)



(D)(B)


tionieren. Allerorten finden sich Belege dafür. Doch im
Rentenversicherungsbericht 2012 behauptet die Bundes-
regierung abermals, dass das Gesamtversorgungsniveau
langfristig aufrechterhalten bzw. sogar leicht gesteigert
werde. Ich sage hier klar und deutlich: Herr Staatssekre-
tär Brauksiepe, Sie wissen es besser. Sie sagen es nicht.
Deswegen sage ich Ihnen: Hören Sie endlich damit auf,
die Leute hinter die Riester-Fichte zu führen!


(Beifall bei der LINKEN)


Die private Riester-Vorsorge ist top für die Versiche-
rungsunternehmen, aber sie ist ein Flop für die Versi-
cherten. Den Versicherungsunternehmen bringt sie einen
wahren Geldsegen – Milliarden! – und den Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmern nur mickrige Erträge. Da-
von, was hinten herauskommt, Herr Schäffler und Herr
Dr. Middelberg, haben Sie eben überhaupt nicht gespro-
chen. Gegen Altersarmut hilft Riester nicht!


(Beifall bei der LINKEN)


Heute ist klar: Ob mit oder ohne Riester, die Renten-
lücke lässt sich so nicht schließen; denn viele Menschen
mit geringem Haushaltseinkommen können sich die pri-
vate Vorsorge einfach nicht leisten, auch wenn Sie sich
das nicht vorstellen können. Vielen anderen, die einen
Riester-Vertrag abgeschlossen haben, nützt Riester
nichts; denn die Erträge sind viel zu gering, um die Vor-
sorgelücke schließen zu können.

Deswegen fordere ich Sie auf, Herr Dr. Middelberg
und Herr Schäffler: Sagen Sie bitte einmal, was hinten
herauskommt! Der Kollege Jens Spahn behauptet ja
auch immer wieder: Mit 5 Euro sind Sie dabei, und dann
kommen die ganzen tollen Zulagen. – Ja, super! Und
was kommt hinten heraus? Die Leute können doch rech-
nen! Wenn man 5 Euro einzahlt und die Zulagen be-
kommt, dann hat man im Jahr Beiträge von etwas über
200 Euro. Das sind keine 20 Euro im Monat. Gucken Sie
doch einmal, was hinterher dabei herauskommt! Das ist
in jedem Fall weniger als das, was es braucht, um die
Lücke zu schließen, die durch die Absenkung des Ren-
tenniveaus – das wurde ja vorher gekürzt – entstanden
ist, und das ist unerträglich.


(Beifall bei der LINKEN)


Riester funktioniert nicht. Das liegt an der Unsicher-
heit der Finanzmärkte, und das liegt übrigens auch an
dem Geschäftsgebaren der Versicherungswirtschaft. Des-
wegen sagen wir: Die Risiken der privaten Vorsorge
müssen endlich klar und deutlich offengelegt werden.
Denn Riester floppt, und die Vorsorgelücke bleibt, und
daran ändert auch das von CDU/CSU und FDP vorge-
legte Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz mit den nun
beschlossenen etlichen Änderungen leider nichts.
Riester ein bisschen aufhübschen reicht nicht. Es kann
und muss wirklich etwas getan werden. Deswegen sagt
die Linke: Riester muss abgebaut werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Meine Damen und Herren, wer heute schon einen
Riester-Vertrag hat, soll die bisher angesparten Gelder
auf sein persönliches Rentenkonto bei der Deutschen
Rentenversicherung einzahlen können, aber nur freiwil-

lig und zu geringen Kosten. Das ist unser Vorschlag. Die
dafür notwendigen Änderungen im Renten- und Steuer-
recht sind überschaubar. Also ist das auch machbar.

Die Milliarden an Steuermitteln, mit denen die
Riester-Verträge bisher subventioniert worden sind,
müssen ebenfalls in die Rentenkasse fließen. Damit
könnten dann dringend notwendige Verbesserungen für
Erwerbsgeminderte, Herr Schäffler, für Langzeiter-
werbslose oder für Mütter, deren Kinder vor 1992 gebo-
ren worden sind, zumindest zum Teil finanziert werden.
Um es klar zu sagen: Die Linke will echte Vorsorge statt
Roulettespiel. Wir wollen Erwartungssicherheit statt Zit-
terpartien. Kurzum: Wir wollen Sicherheit statt Riester.


(Beifall bei der LINKEN)


Aber, meine Damen und Herren, ohne ein deutlich
höheres Rentenniveau wird das kaum gehen, und deswe-
gen sagen wir Linken: Die Vorsorgelücke soll genau dort
geschlossen werden, wo sie gerissen worden war, näm-
lich in der gesetzlichen Rentenversicherung. Die gesetz-
liche Rente soll wieder den einmal erreichten Lebens-
standard sichern. Wer dann immer noch privat vorsorgen
will und kann, möge das tun; aber niemand soll weiter-
hin darauf angewiesen sein, um seinen Lebensstandard
sichern zu können und vor Altersarmut geschützt zu
sein. Private und betriebliche Vorsorge wären dann wirk-
lich zusätzlich, aber sie wären nicht mehr zwingend not-
wendig, und darum geht es.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721910100

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat das Wort für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
„Das Kind mit dem Bade ausschütten“ ist genau die Re-
dewendung, die zur Position der Linkspartei passt.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Genau!)


Es ist ja richtig, dass es im Bereich der privaten Alters-
vorsorge Probleme und Fehler gibt. Wir können sie auch
genau diagnostizieren. Wir können genau sehen, wo die
Rendite bleibt, nämlich bei Kostenkategorien, die man
auch absenken kann. Aber die Tatsache, dass sich Men-
schen an der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit für ihre
Altersvorsorge beteiligen, ist im Grunde nicht falsch.
Deswegen wäre es falsch, wegen der Fehler, die wir bei
Riester sehen, gleich das ganze Konzept der privaten, er-
gänzenden Altersvorsorge abzuschaffen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU])


Es gibt hier in der Debatte sachliche Beiträge; Herr
Middelberg ist ja eigentlich ein sehr sachlicher Redner.
Aber irgendwann, Herr Middelberg, hat dann doch die





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


Abteilung Agitation durchgeschlagen, als Sie meinten,
sagen zu müssen, dass Sie ja eigentlich wollten, dass die
Geringverdiener hier in Deutschland entlastet werden
und wir das blockieren würden. Das ist doch genau
falsch herum.


(Björn Sänger [FDP]: Das ist richtig!)


Bei der Anhebung des Grundfreibetrags, der wichtig für
die geringverdienenden Menschen ist, sind wir dabei.
Bei einer Entlastung der Menschen mit höherem Ein-
kommen sind wir nicht dabei, weil wir diese Schieflage
nicht wollen. Das sollten Sie bitte auch ehrlich sagen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Sagen Sie bitte auch einmal ehrlich, was Ihr Gesetz
vorsieht: Für 1 Prozent der Menschen, nämlich für die
Höchstverdienenden, soll die Förderung angehoben wer-
den und für 99 Prozent nicht.


(Zuruf des Abg. Dr. Daniel Volk [FDP])


Ich finde, auch dazu sollten Sie stehen und die soziale
Schieflage auch in diesem Gesetz deutlich ansprechen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich will aber im Kern begründen, wie wir zu unserem
Votum kommen. Es ist ja so: Bei der privaten Altersvor-
sorge versuchen Menschen, etwas für ihr Alter zur Seite
zu legen. Das ist sinnvoll, und wir legen als Staat noch
einmal etwas drauf. Was wir aber beobachten können,
ist, dass es mit dem Versuch, etwas zur Seite zu legen, so
ähnlich ist wie mit dem Versuch, mit einem löcherigen
Eimer Wasser zu transportieren: Es rinnt unten raus. Und
wo kommt es an? Im Vertrieb von Finanzprodukten.
Deswegen ist das Entscheidende, das Loch im Eimer zu
stopfen.

Wir haben uns jetzt die Frage gestellt: Gelingt Ihnen
das, oder gelingt es Ihnen nicht? Dazu muss man sagen:
Es gibt ein paar einzelne Verbesserungen. Die will ich
auch gerne nennen. Man soll das, was richtig ist, auch
als richtig bezeichnen. Aber im Kern gelingt es Ihnen
nicht, den Fehler zu korrigieren, dass ein Großteil der
Rendite dadurch verloren geht, dass Kosten des Finanz-
vertriebs, den wir mit Geldern der Steuerzahler nicht
pampern sollten, zulasten der Kunden abgerechnet wer-
den.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Konkret: Die Einführung des Produktinformations-
blattes ist sinnvoll. Es ist auch sinnvoll, dass in der Stu-
die, die Sie in diesem Zusammenhang in Auftrag gege-
ben haben, aufgegriffen wurde, dass in anderen Ländern
konkrete Vorgaben gemacht werden, damit die Anbieter
dieses Produktinformationsblatt nicht nach ihrem Gusto
gestalten können, sodass das Angebot leichter vergleich-
bar ist.

Das Problem ist aber, dass eine Kostenangabe nun
wieder nicht vorgeschrieben ist: die der Abschluss-, Ver-
triebs- und Verwaltungskosten. Damit wird keine volle

Kostentransparenz erreicht, und wir müssen befürchten,
dass für die Kunden nur eine Pseudotransparenz besteht
und sie eine bestimmte Kostenkategorie wieder nicht er-
kennen können. Wir müssen befürchten, dass genau da
wieder die größten Punkte abgezogen werden.

Wir haben im Ausschuss auch klar angesprochen,
dass die Gefahr besteht, dass der Versuch des Vergleichs
schiefgeht und die Kunden in eine falsche Richtung ge-
lenkt werden. Ich habe es im Ausschuss schon gesagt
und will es auch hier noch einmal deutlich machen: Es
besteht die Gefahr, dass der Kunde beim Vergleich
zweier Angebote, die von der Laufzeit ein bisschen un-
terschiedlich sind, bei einem Produkt eine günstigere
Kennziffer – „Reduction in Yield“ in der Fachsprache –
sieht, obwohl das Produkt Mehrkosten beinhaltet. Das
darf nicht sein. Sie wollten unseren Änderungsvorschlag
nicht aufgreifen. Wir wollen aber, dass eine wirkliche
Vergleichbarkeit sichergestellt ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Des Weiteren muss man sehen, dass es beim Vertrags-
wechsel immer noch nicht gelingt, die Wechselkosten
wirklich zu dämpfen. Man sollte nicht nur die Kosten
begrenzen, die bei dem Unternehmen anfallen, das man
verlässt; beim Abschluss eines neuen Vertrags kann im-
mer noch die Hälfte des gesamten angesparten Kapitals
für die Abschlusskostenberechnung herangezogen wer-
den. Da geht viel zu viel Geld verloren. Unsere Vorstel-
lung ist, dass die Abschluss- und Vertriebskosten inklu-
sive der Provisionen über die gesamte Laufzeit verteilt
werden, damit die Problematik, dass anfangs zu viel
Geld im Vertrieb hängen bleibt, ein für alle mal über-
wunden wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Zudem stellt sich die Frage: Warum führen wir ei-
gentlich keinen Kostendeckel ein? Wir haben im Aus-
schuss darüber diskutiert, und es wäre wirklich richtig,
ihn einzuführen. Nun stelle ich fest, dass es da eine ge-
wisse Bewegung gab: Sie haben jetzt gesagt, dass Sie ein
entsprechendes Gutachten in Auftrag geben wollen.
Dazu muss man aber sagen: Wenn man fast vier Jahre an
der Regierung ist, dann kommt jetzt ein Gutachten viel-
leicht ein wenig spät. Man muss sich dann fragen, ob Sie
das nur in die nächste Legislaturperiode verschieben
wollen.

Vor allem aber hätte man einen solchen Kostendeckel
zügig erarbeiten können. Wir haben gesagt: Wir sind da-
bei, wenn er noch in dieser Legislaturperiode eingeführt
wird. Was aber nicht geht, ist, jetzt so zu tun, als gäbe es
einen Kostendeckel, obwohl es nichts anderes als eine
vage Ankündigung gibt. Wir meinen, man hätte schon in
dieser Legislaturperiode eine klare Kostendeckelung
vornehmen können, damit von dem, was die Menschen
zur Seite legen, im Alter wirklich viel ankommt und
nicht so viel im Vertrieb hängen bleibt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Schließlich ist die Frage: Wie reagieren wir denn da-
rauf, dass zehn Jahre nach Einführung der Riester-Rente
zwar 15,4 Millionen Verträge geschlossen wurden, aber





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


die Menschen bei weitem nicht in der Breite erreicht
wurden? Das konnte man am Anfang nicht wissen; man
muss sich nach ein paar Jahren anschauen, wie es sich
entwickelt. Unsere Reaktion ist, zu sagen: Es wäre ei-
gentlich richtig, den Menschen von staatlicher Seite ein
einfaches, kostengünstiges, transparentes Produkt bereit-
zustellen; in Schweden wird das erfolgreich gemacht.
Denn sie finden es einfach schwierig, sich mit diesem
Thema zu beschäftigen, und haben Bedenken, sich damit
auseinanderzusetzen – das zeigen viele Umfragen und
die Gespräche, die wir mit Bürgerinnen und Bürgern
oder mit Freunden und Nachbarn führen –, weil sie das
Gefühl haben, sie könnten über den Tisch gezogen wer-
den. Warum machen wir so ein einfaches Produkt nicht
in Deutschland, damit wir die Menschen in der Breite er-
reichen und sie nicht in einen Vertrieb jagen, der hohe
Kosten verursacht? Dann kann sich immer noch jeder in
voller Wahlfreiheit für andere Varianten entscheiden; so
ist das auch in Schweden. Ich glaube, es ist unsere Auf-
gabe, die Altersvorsorge für die Menschen von staat-
licher Seite so einfach wie möglich zu machen, damit sie
im Alter wirklich versorgt sind. Wir sollten sie nicht
weiter mit sehr komplexen Produkten und intransparen-
ten Kostenstrukturen alleinlassen.

Insofern ist unsere Bewertung: Ja, es gibt einzelne
Punkte, bei denen Sie auf dem richtigen Weg sind; aber
insgesamt werden die Fehler, die erkennbar sind, im
Kern nicht überwunden. Deswegen lehnen wir dieses
Gesetz ab.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721910200

Das Wort hat jetzt der Kollege Klaus-Peter Flosbach

für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1721910300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Man ist ja nie vor Überraschungen geschützt; aber was
hier gerade Herr Schick und Kollegin Hinz vorgelegt ha-
ben, war Folgendes: Sie haben ihr eigenes Riester-Ge-
setz zerlegt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben dargelegt, welch einen Mist sie vor zehn Jah-
ren gemacht haben, als sie die Riester-Rente eingeführt
haben. Wer die Entwicklung in diesen Jahren einigerma-
ßen aufmerksam begleitet hat, der erinnert sich noch,
dass dieses Produkt in den Jahren 2001, 2002 und 2003,
als es auf den Markt kam, überhaupt nicht funktioniert
hat, dass es vom Markt überhaupt nicht angenommen
wurde, weil es so kompliziert war.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das damals alles schon gewusst, oder was?)


Wir haben hier immer gesagt: Warum machen Sie ein
Produkt, das so kompliziert ist?

Herr Schick sprach gerade von Vertriebskosten. Das
Produkt hat am Markt erst funktioniert, nachdem die
Vertriebskosten unter Rot-Grün erhöht wurden, als der
Zeitraum, in dem diese Kosten erhoben werden können,
von zehn Jahren auf fünf Jahre verkürzt wurde. Und
heute werfen Sie uns vor, dass wir dieses Gesetz verbes-
sern, weil wir glauben: Private Altersvorsorge ist zwin-
gend notwendig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Schick, Sie haben hier so schön von einem lö-
cherigen Eimer gesprochen. Meine Damen und Herren,
Sie können ja Kritik an Ihrem eigenen Gesetz äußern
– das ist in Ordnung –, aber Sie müssen aufpassen, dass
Sie nicht Angst vor der betrieblichen oder privaten Al-
tersvorsorge schüren. Sie entmutigen die Menschen, et-
was für die Altersvorsorge zu tun. Das hat eine fatale
Auswirkung auf die Bereitschaft, für das Alter zu sparen.
Wenn man nichts tut, dann schließt man die Rentenlücke
nicht. Wir haben heute 20,5 Millionen Rentner und wis-
sen ganz genau, dass in der nächsten Zeit jedes Jahr im
Durchschnitt 500 000 Rentner hinzukommen werden,
dass wir im Jahre 2030 wahrscheinlich die 30-Millionen-
Grenze überschreiten. Das wird nicht allein mit der ge-
setzlichen Rentenversicherung gehen. Wir brauchen die
bewährten drei Säulen: die gesetzliche Rentenversiche-
rung, die betriebliche Altersvorsorge und die private
Vorsorge. Nur so können wir die Probleme bei der Al-
tersversorgung bewältigen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind doch froh, dass insgesamt 17 Millionen
Bürger auch eine betriebliche Altersvorsorge haben. Wir
haben die Riester-Rente immer kritisiert. Aber wir hal-
ten es für richtig, an dem Produkt festzuhalten, und sind
froh, dass es fast 16 Millionen Bürger sind, die inzwi-
schen eine Riester-Rente abgeschlossen haben.

Der Kollege Middelberg hat eben ein schönes
Beispiel gebracht; es geht ja auch um die geringeren
Einkünfte. Auch die Verbraucherzentralen werben, wenn
sie für Riester werben, mit dem Beispiel eines Alleinste-
henden oder einer Alleinstehenden mit zwei kleinen
Kindern. Sie oder er zahlt beispielsweise 5 Euro monat-
lich ein und bekommt im Jahr 754 Euro Zulagen; das
sind 62 Euro im Monat.

Hier zu sagen, es gäbe keine systematische Förderung
von Beziehern kleiner Einkommen, ist doch falsch. Wir
haben gerade über die Tarifentlastung gesprochen. Wir
hätten noch viel mehr für die Bezieher kleiner und mitt-
lerer Einkommen tun können, wenn nicht das diesbezüg-
liche Gesetz von Ihnen im Bundesrat blockiert worden
wäre.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Für die Bezieher hoher Einkommen sorgen Sie!)


Wir haben die Riester-Gesetzgebung in der Großen
Koalition verbessert. Wir in der Union halten sehr viel
davon, und wir wissen, dass Entsprechendes in der Be-
völkerung zu 80 Prozent gewünscht wird. Da gibt es den





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)


Wunsch nach einer eigenen Wohnung, nach einem eige-
nen Haus. In meiner Heimatregion im Oberbergischen
Kreis gibt es eine Wohneigentumsquote von weit über
50 Prozent. Die Menschen wohnen in kleinen Häusern,
nicht in riesigen Palästen. Das stabilisiert die Altersvor-
sorge. Im Zusammenhang mit einer gesetzlichen Rente
und einer betrieblichen Altersversorgung ist das genau
der richtige Weg, der den Menschen ein sorgenfreies
Alter beschert, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Förderung gerade bei geringen Einkommen ist in
der Großen Koalition von uns vorgeschlagen worden, in-
dem wir für Kinder, die nach 2008 geboren wurden, ei-
nen höheren Fördersatz, eine Förderung von 300 Euro,
gewähren. Das ist genau der richtige Weg.

Die Zeitschrift Finanztest wurde angesprochen. Die
Stiftung Warentest hat gerade eine Sonderausgabe
herausgegeben und erläutert auf sage und schreibe
114 Seiten, was man alles tun kann. Das zeigt, wie kom-
pliziert die Materie ist. In der Tat gibt es vier verschie-
dene Wege und Hunderte von Anbietern.

Aber Altersvorsorge ist kein Gegenstand einer kurz-
fristigen Betrachtung. Altersvorsorge ist immer eine
langfristige Sache. Man kann natürlich kritisieren, dass
die Renditen, die in diesem Bereich derzeit erzielt wer-
den, schlecht sind. Aber auch der Zinssatz bei langfristi-
gen Anleihen liegt heutzutage teilweise bei 1,5 Prozent.
Vor 10 Jahren lag er bei 4 Prozent, vor 20 Jahren waren
es 6 Prozent. Einige wissen vielleicht, dass es vor
30 Jahren sogar einen Anlagezins von durchschnittlich
8 Prozent gab. Das waren ganz andere Zeiten.

Wenn Sie die Erhöhung der Lebenserwartung allein in
den letzten 20 Jahren betrachten, wenn Sie die Garantien
berücksichtigen, die in einem Produkt angelegt sein
müssen – es muss immer das Kapital erhalten bleiben;
das kostet ja Geld –, und natürlich die Kosten, dann darf
man sich nicht wundern, dass die Renditen in diesen Ta-
gen nicht so hoch sind, wenn wir den heutigen Zinssatz
unterstellen. Aber genau da setzen wir an.

Ich glaube, es hat keinen Sinn, ein Verbot für solche
Produkte auszusprechen; vielmehr müssen wir die
Fehler angehen, die in diesen Produkten stecken. Das
machen wir mit dem Altersvorsorge-Verbesserungsge-
setz. Auch bei denen, die das Gesetz zunächst ein Stück
weit kritisieren, ist das, was wir vorgeschlagen haben,
nur auf positive Resonanz gestoßen. Alle haben gesagt:
Das ist genau der richtige Weg, nämlich den Rahmen zu
verbessern, den Schutz der Verbraucher zu erhöhen und
vor allem die Kosten zu begrenzen.

Ein Punkt ist – Herr Middelberg hat das vorgestellt –
das Produktinformationsblatt. Das ist sicherlich kein
Beipackzettel, wie wir ihn von Medikamenten kennen.
Es ist aber ein überschaubarer Beipackzettel, der wesent-
liche Daten enthält, weil wir wissen, dass kaum jemand
diese 114 Seiten in der Zeitschrift Finanztest lesen wird,
geschweige denn die ganzen Unterlagen, die zu einem
Vertrag gehören. Ich denke nur an das Versicherungs-

vermittlergesetz. Danach muss man heute aus rechtli-
chen Gründen 100 Seiten oder eine CD zur Verfügung
stellen, damit ein Produkt rechtlich einwandfrei ist.

Nein, ich glaube, das ist der richtige Weg. Die wich-
tigsten Daten müssen in einem Produktinformationsblatt
enthalten sein. Es muss standardisiert sein. Es müssen
gewisse Vergleichszahlen enthalten sein. Uns geht es da-
rum, dass damit Vergleichbarkeit hergestellt wird, damit
der Einzelne auch ohne tiefsten Sachverstand an dieses
Thema herangehen kann und auf der Basis dieses Pro-
duktinformationsblattes verschiedene Angebote einho-
len kann. Nur dadurch sieht er, welche unterschiedlichen
Produkte es gibt.

Unser Ziel ist: Wir wollen den Wettbewerb erhöhen.
Nur über Wettbewerb schaffen wir es, dass die Spreu
vom Weizen getrennt wird, dass die schlechten Anbieter
herausfallen; denn es gibt schlechte Anbieter. Es gibt
aber auch Untersuchungen, wie viele gute Anbieter es
auch in der heutigen Zeit der schlechten Renditen gibt.
Ich meine, es ist der richtige Weg, den Wettbewerb hier
zu verbessern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Kosten spielen eine große Rolle. Das wird in der der-
zeitigen Situation niedriger Zinsen besonders bemerk-
bar. Ich glaube, es ist der richtige Weg, einen Kostende-
ckel einzuziehen. Heute gibt es eine ganze Reihe
unzufriedener Riester-Sparer. Es muss die Chance gege-
ben sein, zu einem anderen Produkt zu wechseln und
nicht abgeworben zu werden. Es dürfen auch keine
Stornokosten in besonderer Höhe entstehen. Wir haben
vorgesehen, dass eine Höhe von maximal 150 Euro an-
gesetzt werden kann. Das ist der richtige Weg.

Die Wohnförderung spielt heute eine sehr große
Rolle. Wir haben festgestellt, dass es nicht richtig ist,
dass man Kapital aus einem Wohnförderkonto nur zu
Beginn der Altersrente entnehmen darf. Wir halten es für
richtig, dass man, wenn man Geld angespart hat, jeder-
zeit in der Lage ist, die Zinszahlungen für sein Haus zu
senken, indem man auf das Konto zugreifen kann. Es
gibt viele, die im Alter, dann, wenn sie in Rente gehen,
wenig angespart haben und möglicherweise nur dieses
Wohnförderkonto haben. Es kann doch nicht sein, dass
ich dieses Geld nicht für einen Umbau zur Herstellung
von Barrierefreiheit verwenden kann. Deshalb haben wir
gesagt: Wenn das Geld für die selbstgenutzte Immobilie
verwendet wird, muss dies nach wie vor möglich sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich muss leider zum Ende kommen; die Redezeit ist
für mich abgelaufen. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten,
die Altersvorsorge und vor allen Dingen auch die Be-
rufsunfähigkeitsabsicherung zu verstärken. Nachdem die
Berufsunfähigkeitsrente in der klassischen Form verän-
dert wurde – es gab nur noch die Erwerbsminderungs-
rente, die zu einem ganz geringen Einkommen führte –,
gibt es über diese Neuerungen jetzt die Möglichkeit, die
persönliche Berufsunfähigkeit abzusichern. Das ist der
richtige Weg.






(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721910400

Herr Kollege.


Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1721910500

Wir in der Koalition stehen für stabile Einkommen.

Wir wollen den zukünftigen Rentnern vor allen Dingen
ein stabiles Einkommen gewährleisten. Dazu brauchen
wir die gesetzliche, die betriebliche und die private
Rentenversicherung.

Vielen Dank, Frau Präsidentin, dass ich so lange re-
den durfte.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721910600

Ich wollte Sie nur an Ihre eigenen Worte erinnern.

Annette Sawade hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.


(Beifall bei der SPD)



Annette Sawade (SPD):
Rede ID: ID1721910700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Liebe Gäste auf den Tribünen! Ein richtiger
Ansatz macht noch lange kein gutes Gesetz; denn leider
hat sich trotz Beratung und einer Anhörung Ende ver-
gangenen Jahres nichts Entscheidendes an dem Entwurf
eines Altersvorsorge-Verbesserungsgesetzes verbessert.


(Beifall der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD])


Die Hoffnung, dass aus der richtigen Richtung auch
ein konsequentes, substanziell verbessertes Gesetz wird,
ist verflogen. Wir sind enttäuscht und wieder einmal er-
nüchtert. Aber wir haben ja gerade gehört: Die Zeit ist
bald abgelaufen. Dann können wir alle Chancen der Welt
nutzen, um das Gesetz richtig zu machen.


(Beifall bei der SPD)


Ich zitiere aus den Reihen der Koalitionsfraktionen,
wohlgemerkt aus der ersten Lesung zu diesem Gesetz:

Es ist vielleicht kein ganz großer Wurf; aber es sind
technisch ganz wichtige Punkte, an denen wir an-
setzen …

Ist das ein engagierter, verantwortungsvoller Umgang
mit gesetzgeberischer Kompetenz? Es geht nicht darum,
ein Konzeptpapier an einem Runden Tisch zu diskutie-
ren. Nein, es geht um verbindliches Recht, um ein ver-
bindliches Recht, das, soweit man der Überschrift glau-
ben schenken mag, eine Verbesserung für die
Bürgerinnen und Bürger des Landes bringen soll. Ich be-
zweifle, werte Kolleginnen und Kollegen, dass sich die
Betroffenen wirklich ernst genommen fühlen, wenn ih-
nen im Klartext vermittelt wird: Okay, zugegeben, es ist
kein großer Wurf; aber immerhin haben wir etwas auf
den Weg gebracht.


(Beifall bei der SPD)


Altersvorsorge ist eines der Themen, das uns allen un-
ter den Nägeln brennt, begründet zum einen durch die
demografische Entwicklung und zum anderen durch die

enorme Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse. Diese
Fakten erfordern, das Thema Alter und Rente wahrlich
anders anzupacken als nur mit gesetzestechnischen
Verbesserungen. Denn es gibt keine flächendeckende
Verbreitung der staatlich geförderten Altersversorgung.
Knapp 70 Prozent der sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigen im Alter zwischen 25 und 65 Jahren haben ei-
nen Anspruch darauf. Gerade Geringverdiener haben oft
nicht die Möglichkeit, die Absenkung des Renten-
niveaus entsprechend auszugleichen.

In Zahlen ausgedrückt heißt das: Von den Beschäftig-
ten mit Bruttolöhnen unter 1 500 Euro im Monat sind
42 Prozent ohne zusätzliche Altersvorsorge. Von den
derzeit 15,6 Millionen Riester-Verträgen sind 20 Prozent
– das sind circa 3 Millionen – ruhend, werden also nicht
bespart. Die Gründe sind uns bekannt. Sie liegen an den
zunehmend prekären Beschäftigungsverhältnissen.
Diese Leute haben überhaupt kein Geld mehr, in die pri-
vate Vorsorge einzuzahlen.

Deshalb begrüßen wir es, wenn der Verbraucher-
schutz in Form eines verbindlichen Produktinforma-
tionsblattes gestärkt wird. So wird es hoffentlich mehr
Transparenz und mehr Vertrauen in die Riester-Rente
geben, sodass mehr Beschäftigte zusätzlich vorsorgen,
wenn sie es denn können.

Aber wie aus den Beratungen hervorgeht, ist noch
vieles zu klären, was Inhalt und Bewertung der in den
Informationsblättern enthaltenen Kennzahlen betrifft.
Vor allen Dingen – es wurde bereits gesagt – ist das alles
immer noch viel zu kompliziert.

Machen wir uns nichts vor: Wir wissen alle, dass die
strukturellen Probleme durch diese Vorlage nicht gelöst
werden, und wir haben ein strukturelles Problem bei der
Altersvorsorge in Deutschland. Das Drei-Säulen-Modell
der Altersvorsorge wackelt nämlich, und jeder einiger-
maßen technisch Begabte weiß, dass ein Bau wackelt,
wenn die Säulen nicht gleichmäßig stark sind.


(Beifall bei der SPD – Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU]: Das ist doch auch Ihr Modell!)


Im Klartext heißt das, dass es nicht allein um die För-
derung der privaten Vorsorge gehen darf. Die tragende
Säule bleibt die der gesetzlichen Rente, und die folgt ei-
ner ganz simplen Regel: Nur aus guten Löhnen werden
gute Renten.


(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das haben wir geschafft!)


– Das ist die Frage. – Wir als Politikerinnen und Politi-
ker in diesem Land können es nicht verantworten, über
das Alter zu reden, zu beraten und zu entscheiden, ohne
gesamtheitlich zu denken und vor allem zu handeln.
Wenn wir hier über die Altersvorsorge debattieren, dann
auch, weil wir die Gefahr der zunehmenden Altersarmut
sehen. Altersarmut kommt aber nicht einfach so. Er-
werbsarmut, das heißt schlecht bezahlte Arbeit, führt zu
Altersarmut. Hier müssen wir ansetzen.


(Beifall bei der SPD)






Annette Sawade


(A) (C)



(D)(B)


Wir als SPD fordern immer wieder – ich wiederhole
es erneut; meine Kollegin hat es vorhin schon gesagt –:
Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn von
8,50 Euro. Wir brauchen gleichen Lohn für gleiche
Arbeit, das gilt ganz besonders für unsere Frauen. Wir
wollen, dass jeder Mensch, der in Vollzeit arbeitet, von
dieser Arbeit leben und sein Alter in Würde verbringen
kann.


(Beifall bei der SPD)


Einige Zahlen zur sozialen Kluft in Deutschland habe
ich bereits genannt. Verschiedene Sachverständige ha-
ben es in ihren Stellungnahmen zu dem vorliegenden
Gesetzentwurf unterstrichen: Verlierer dieser Debatte
sind leider wie so oft die Geringqualifizierten und die
Geringverdiener. In einem Gutachten des Sozialbeirates
zum Alterssicherungsbericht 2012 heißt es: Armuts-
bekämpfung ist eine Aufgabe der Allgemeinheit. – Da-
mit sind die Arbeitgeber – das sage ich sehr deutlich –
aber nicht aus der Verantwortung, gerecht zu entlohnen.
In einer Analyse des Instituts für Arbeitsmarkt- und
Berufsforschung aus dem September 2012 heißt es – ich
zitiere –:

Unsere Ergebnisse zeigen, dass die wirtschaftliche
Leistungsfähigkeit große Bedeutung für den Auf-
bau von privatem Vorsorgekapital hat. Daher ist zu
konstatieren, dass die kapitalgedeckte private Al-
tersvorsorge derzeit insgesamt nur sehr begrenztes
Potenzial bietet, die Risiken künftiger Altersarmut
zu verringern – trotz Riester-Förderung.

Liebe Kolleginnen und Kollegen der Regierungsfrak-
tionen, vor diesen Tatsachen sollten Sie Ihre Augen nicht
verschließen. Sie können jetzt nicht verkünden, Sie wür-
den mit diesem Gesetz die Altersvorsorge substanziell
verbessern, wenn wiederum nur ein Teil der Betroffenen
tangiert wird. Dies gilt umso mehr, wenn man auch noch
die steuerliche Förderung von Immobilieneigentum mit
einbezieht; denn Eigentum haben laut IAB-Angaben nur
9 Prozent der ALG-II-Empfänger, 43 Prozent der Nied-
rigeinkommensbezieher außerhalb der Grundsicherung,
aber 82 Prozent der Personen, deren Einkommen im
oberen Einkommensfünftel liegt.


(Beifall bei der SPD)


Wir als SPD wollen uns nicht aus der Solidargemein-
schaft verabschieden. Eines müssen wir um jeden Preis
verhindern: dass Altern in Würde und Wohlstand künftig
zum Privileg bestimmter gesellschaftlicher Gruppen
wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ja, einer trage des anderen Last; aber die Last dieses Ge-
setzentwurfes tragen wir nicht mit.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721910800

Björn Sänger hat jetzt das Wort für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1721910900

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Das Gesetz trägt zu Recht den Namen Alters-
vorsorge-Verbesserungsgesetz; denn es enthält entschei-
dende Verbesserungen in der dritten Säule der Altersvor-
sorge, der privaten Altersvorsorge. Es ist richtig und
wichtig, dass diese Verbesserungen durchgeführt wer-
den, weil die dritte und auch die zweite Säule zuneh-
mend wichtiger werden.

Frau Kollegin Sawade, es ist völlig richtig, dass die
erste Säule eine sehr starke Säule ist. Es ist auch völlig
richtig, dass aus guten Löhnen gute Beiträge erwachsen;
aufgrund der guten konjunkturellen Lage erleben wir das
gerade. Allerdings muss es auch eine ausreichende Zahl
von Köpfen geben, die in das System entsprechend ein-
zahlen. Wenn ich mir die demografische Entwicklung
anschaue, dann kann ich nur sagen: Die Arbeitnehmer,
die heute noch nicht geboren sind, können in dieses Sys-
tem schlichtweg nicht einzahlen. Insofern ist es geradezu
geboten, die private Vorsorge zu stärken.

Daher ist es richtig, mehr Flexibilität zu schaffen.
Diesbezüglich hat die Kollegin Hinz völlig recht. Sie ha-
ben vorausgesehen, dass ich hier heute über die Flexibi-
lität sprechen werde.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Ich kenne Ihre Rituale!)


Die Menschen sind unterschiedlich. Weil wir erkannt ha-
ben, dass die Menschen unterschiedlich sind – das steckt
uns sozusagen im Blut –, wissen wir auch, dass wir indi-
viduelle Regelungen brauchen. Wir möchten, dass die
Menschen entscheiden, was für sie gut ist. Wir wollen
nicht für die Menschen entscheiden, was für sie gut ist.
Diese Kompetenz möchte ich mir gar nicht anmaßen. Ich
halte sie für menschenverachtend.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Dann ziehen Sie Ihr Gesetz zurück!)


Die Riester-Produkte stehen in der Diskussion. Es ist
richtig, dass auch wir in der Vergangenheit nicht immer
die größten Freunde davon waren.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Sie haben dagegen gestimmt!)


Aber, wie der Kollege Flosbach schon sagte, jetzt ist das
System nun einmal da. Jetzt müssen wir damit leben und
schauen, wie wir damit hinsichtlich Rendite, Kosten und
Provisionen am besten umgehen.

Wir haben die einheitlichen Produktinformationsblät-
ter geschaffen, die es den Verbrauchern ermöglichen, die
Produkte zu vergleichen. Wir haben einheitliche Kosten-
regelungen für den Fall geschaffen, dass man den Anbie-
ter wechseln möchte.

Aus unserer Sicht ganz entscheidend sind die Flexi-
bilisierungen beim Wohn-Riester.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das ist Ihr Steckenpferd!)






Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


Es ist in der Tat so – sofern Sie nicht mit der Vermögen-
steuer dazwischenkommen –, dass derjenige, der im ei-
genen Heim wohnt, schlichtweg keine Miete zahlt.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Aber der hat viel höhere Nebenkosten! Alles Illusion!)


Er muss sich nicht mit steigenden Mieten herumschla-
gen. Diesbezüglich sind – das muss ich sagen – gute An-
reize gesetzt worden:

Ein Anreiz ist die Möglichkeit, jederzeit das Vermö-
gen zu entnehmen – das hat der Kollege Flosbach schon
gesagt –, um zum Beispiel die Entschuldung voranzu-
treiben. Wir haben die Flexibilisierung des Entnahmebe-
trags – zwischen 75 und 100 Prozent – herbeigeführt.

Der Geförderte kann jetzt frei entscheiden, wann er
die Einmalbesteuerung des Wohnförderkontos vorneh-
men möchte.

Wir haben den altersgerechten Umbau einbezogen.
Auch das ist etwas, was mit den individuellen Lebens-
situationen von Menschen zu tun hat, die man bei Ab-
schluss des Vertrages möglicherweise noch gar nicht ab-
sehen kann. Daher haben wir den behindertengerechten
bzw. altersgerechten Umbau einbezogen. Wir haben in
diesem Zusammenhang eine weitere Flexibilisierung
vorgenommen: Der Handwerker kann beratend tätig
werden, und es muss nicht ein entsprechender Gutachter
herangezogen werden.

Wir haben eine Flexibilisierung beim Reinvestitions-
zeitraum vorgenommen: von zwei auf fünf Jahre. Wenn
man eine einmal geförderte Immobilie verkaufen
möchte, weil man sich vielleicht verkleinern möchte,
weil man sich zum Beispiel in eine andere Wohnform
einkaufen möchte, dann kann man sich dafür Zeit neh-
men.

Was unglaublich wichtig ist – das sage ich als Vertre-
ter des ländlichen Raums –, ist die Absenkung der jährli-
chen Erhöhung der in das Wohnförderkonto eingestell-
ten Beträge von 2 auf 1 Prozent; denn die Masse der
Menschen, die sich Eigentum gekauft hat, lebt eben
nicht in Frankfurt, München oder Berlin-Mitte, wo mög-
licherweise mit steigenden Immobilienpreisen zu rech-
nen ist


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber auch!)


– aber auch –, sondern auch und gerade auf dem flachen
Land, wo man möglicherweise mit einer negativen Ver-
zinsung rechnen muss.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Max Straubinger [CDU/CSU])


Unterm Strich haben wir eine Fülle von Maßnahmen,
die das Angebot verbessern.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Haben Sie „verbessern“ oder „verwässern“ gesagt?)


Ich finde es unglaublich beschämend, dass Sie diesem
Gesetzentwurf nicht zustimmen. Er ist schlichtweg sinn-
voll und gut.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sinnvoll und gut wäre es, die gesetzlichen Renten zu stärken!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721911000

Jetzt hat Dr. Barbara Höll das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721911100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Herr Sänger, manchmal kommt es einem wirklich so vor,
als ob Sie in einem Paralleluniversum leben.


(Björn Sänger [FDP]: Nee! Sie! Sie wohnen dort!)


Zunächst möchte ich klipp und klar sagen: Alle Men-
schen, die Monat für Monat ihren Beitrag in die gesetzli-
che Rentenversicherung zahlen, sind zwar dazu ver-
pflichtet, aber sie sorgen dadurch privat vor. Schon Ihre
Wortwahl ist irreführend. Sie tun so, als ob die private
Vorsorge etwas ganz anderes wäre, als ob die, die nur in
die gesetzliche Rentenversicherung zahlen, nicht privat
vorsorgen würden. Das ist einfach Blödsinn.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Unterschied ist,


(Björn Sänger [FDP]: Erklären Sie den mal!)


dass die gesetzliche Rentenversicherung ein umlagefi-
nanziertes System ist, dass also de facto das, was heute
eingezahlt wird, morgen ausgezahlt wird. Das andere
System ist kapitalgedeckt. Das heißt, das Geld, das heute
eingezahlt wird, wird irgendwo in den Kapitalmärkten
angelegt. Was in 10, 15, 20 oder 30 Jahren dabei heraus-
kommt, das wissen wir nicht. Das ist das große Risiko
dabei.


(Beifall bei der LINKEN – Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Genau das ist das Problem!)


Die Fragen, vor denen wir stehen, sind: Wie ist der
demografische Wandel tatsächlich zu bewältigen? Wel-
ches System ist besser geeignet, die Risiken im Alter ab-
zudecken? Um diese Fragen zu beantworten, muss man
das kapitalgedeckte und das umlagefinanzierte System
vergleichen. Wenn man diese Systeme einmal sachlich
vergleicht, zeigt sich, dass das umlagefinanzierte System
wesentlich besser ist.


(Beifall bei der LINKEN – Björn Sänger [FDP]: In welcher Parallelwelt leben Sie denn? – Max Straubinger [CDU/CSU]: Stimmt nicht!)


– Doch, das stimmt. – In beiden Systemen muss es na-
türlich einen Produktivitätszuwachs geben. In beide Sys-
teme muss erst einmal etwas eingezahlt werden. Das ist
die Voraussetzung. Wenn diese Voraussetzung erfüllt ist,
wenn eingezahlt wurde, ist die Frage: In welchem Sys-
tem kann man ein stabiles Rentenniveau gewährleisten?





Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


Dies kann ich nur in der gesetzlichen Rentenversiche-
rung gewährleisten.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Das ist doch Augenwischerei!)


Sie sagen: Private Vorsorge – ich meine das in Anfüh-
rungszeichen –, also das kapitalgedeckte System, würde
höhere Renditen erwirtschaften.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Der Witz ist gut!)


Hallo? Wo sind denn die höheren Renditen? Sie gehen
bei Ihrer Vorhersage von 4 Prozent aus. Das wird doch
real schon jetzt nicht mehr erreicht. Wir haben schon
jetzt einen Rückgang der Rendite bei der Riester-Rente
auf ein Drittel, von 3,75 auf 1,75 Prozent. 4 Prozent wa-
ren nie erreicht. Also stimmt auch dieses Argument
nicht. Das ist unrealistisch.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist doch Quatsch! Sie schimpfen doch immer über die Kapitalanleger, die würden zu viel verdienen!)


Schauen wir uns einmal an, was geschehen ist. Das
Niveau der gesetzlichen Rentenversicherung ist um etwa
4 Prozent gesenkt worden. Dazu kommt die Deckelung
des Rentenversicherungsbeitrags: bis 2020 maximal
20 Prozent, bis 2030 maximal 22 Prozent. Sie sagen:
Wenn da eine Lücke entsteht – sie ist da –, dann solle je-
der für sich vorsorgen, indem er mit seiner privaten Al-
tersvorsorge an die Kapitalmärkte geht.

Wer bleibt bei Ihrem System auf der Strecke? Sie
pumpen Milliarden in das System. Die konkreten Anga-
ben dazu haben Sie uns noch nicht geliefert; auch das
muss man sagen. Deswegen haben wir dazu einen An-
trag eingebracht. Zwischen 36 und 45 Milliarden Euro
sind bisher schon in das System der kapitalgedeckten Al-
tersvorsorge gepumpt worden. Aber wer hat denn etwas
davon? Die, die jetzt einzahlen, die zukünftigen Rentne-
rinnen und Rentner, bleiben auf der Strecke; denn der
Großteil dieses Geldes ist bei den Versicherungsunter-
nehmen gelandet.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zuruf von der SPD: Blödsinn!)


Das muss man sich einmal überlegen. Diese Versiche-
rungsunternehmen haben Bürokratie- bzw. Verwaltungs-
kosten von bis zu 20 Prozent. In der gesetzlichen Ren-
tenversicherung sind es 1,4 Prozent. Auch das ist ein
gravierender Unterschied. Die ganze Richtung ist also
grundverkehrt.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn Sie jetzt versuchen, ein bisschen nachzubessern
und das System verbraucherfreundlicher zu machen,
klingt das zwar wunderbar, aber in Wirklichkeit bringt es
nichts. Vorhin wurde das Produktinformationsblatt hoch-
gehalten. Na klasse! Wer von Ihnen kann überhaupt noch
all die Finanzprodukte, die es auf der Welt gibt, bewer-
ten? Das können Sie auch nicht auf einem Produktinfor-
mationsblatt darstellen.

Zudem soll die geplante Produktinformationsstelle
eine private Stelle sein. Wie soll diese transparent arbei-
ten? Auch da gibt es keine Transparenz. Es wird wieder
so sein, dass damit letztendlich die Versicherungswirt-
schaft noch mehr Einfluss gewinnt. Da wird doch das
Leben ganz irdisch. Es gibt relativ wenige Versiche-
rungsmathematiker. Sie werden bestimmt versuchen,
viele von diesen für die Arbeit in der Produktinforma-
tionsstelle zu gewinnen. Sie sollen dann auf einmal gegen
die Versicherungsunternehmen, bei denen sie vorher wa-
ren, arbeiten? Sie öffnen also dem Einfluss der Versiche-
rungsunternehmen hier weiter Tür und Tor. Diese kön-
nen dann auch auf die Methodik, wie etwas erfasst wird,
Einfluss nehmen. Das lässt sich nachweisen, unter ande-
rem an der Verarbeitung der Sterbetafeln bzw. daran, wie
die Biometriekosten berechnet werden. Das kann man
hier und jetzt allerdings nicht erklären; das würde dann
nämlich wirklich keiner mehr verstehen. Aber prinzipiell
wird der Entwicklung, dass die Versicherungsunterneh-
men weiteren Einfluss bekommen, Tür und Tor geöffnet.

Sie sagen, Sie würden mit Ihrem Gesetz die Höhe der
Wechselkosten, die anfallen, wenn man von einem An-
bieter zu einem anderen wechselt, wirksam begrenzen.
Das ist doch pure Augenwischerei. Sie haben die Neuab-
schlusskosten auf maximal die Hälfte des bis dahin an-
gesparten Kapitals begrenzt. Das heißt, im Prinzip gibt
es keine Deckelung.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ist es!)


Jetzt zum Wohn-Riester. Der Wohn-Riester ist wirk-
lich völlig absurd. Erstens ist er so ausgestaltet, dass
kaum jemand diese Möglichkeit nutzen wird; das ist
auch in den Beratungen im Ausschuss ganz klar heraus-
gekommen. Zweitens ist es doch eine Mär, dass der Er-
werb von Wohneigentum eine sichere Form der Alters-
vorsorge ist. Eine Form der Vorsorge ist dies natürlich.
Wenn man tatsächlich zu einem Pflegefall wird und in
ein gutes Altenpflegeheim möchte, hat man zur Not die
Möglichkeit, sein Wohneigentum zu verkaufen und von
diesem Geld zu leben. Um keine Miete zahlen zu müs-
sen bzw. kostenfrei wohnen zu können, muss man das
Wohneigentum aber erst einmal abbezahlt haben. Außer-
dem hat derjenige, der Wohneigentum besitzt, meistens
wesentlich höhere Nebenkosten und muss da und dort
Reparaturen durchführen. Es ist doch nicht per se so,
dass man, wenn man über Wohneigentum verfügt, im
Alter kostenfrei wohnt. Das ist eine Mär. Über dieses
Thema muss man anders nachdenken und auch anders
reden.

Wenn Sie in diesem Bereich etwas hätten machen
wollen, dann hätten Sie die verschiedenen Formen des
Wohneigentums – ich denke auch an genossenschaftli-
ches Eigentum – zielgerichtet fördern können. Es gab ja
einmal eine Eigenheimzulage, die zumindest relativ ver-
nünftig ausgestaltet war. Etwas Ähnliches könnte man
wieder auf den Weg bringen. Ein Wohn-Riester in dieser
Form löst die Probleme aber nicht.


(Beifall bei der LINKEN)






Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


Zu der jetzt eröffneten Möglichkeit, sich gegen Risi-
ken der Erwerbsminderung abzusichern, sage ich Ihnen
klipp und klar: Das ist eine Aufgabe, die die gesetzliche
Rentenversicherung erfüllen muss.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721911200

Frau Höll?


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721911300

Das ist – mein letzter Satz – gesetzlich zugegebener-

maßen schlecht geregelt. Diejenigen, die es sich leisten
können, können sich besser absichern.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721911400

Frau Höll!


Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721911500

Diejenigen, die es sich nicht leisten können, haben

Pech gehabt. Wir lehnen diesen Gesetzentwurf ab.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721911600

Für Bündnis 90/Die Grünen spricht jetzt der Kollege

Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn.


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir finden den Risikomix aus Umlageverfahren als
grundlegender Basisversorgung plus Kapitaldeckung
richtig.


(Beifall der Abg. Dr. Birgit Reinemund [FDP])


Der Schritt, den wir vor zehn Jahren gemacht haben, war
ein richtiger Schritt. Aber jetzt, zehn Jahre später, wissen
wir, dass es viele Riester-Produkte gibt, die sich nur des-
wegen rechnen, weil wir sie staatlich subventionieren.
An dieser Stelle müssen wir ansetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Abschaffung der Riester-Rente ist keine Lösung.
Vielmehr brauchen wir eine grundlegende Reform, da-
mit das Drei-Säulen-Modell tatsächlich trägt. Das fängt
bei der gesetzlichen Rente an. Die kapitalgedeckte Säule
darf nicht auf Sand gebaut werden, sondern sie braucht
ein stabiles Fundament. Wenn wir auf eine Rente unter-
halb des Grundsicherungsniveaus noch eine kapitalge-
deckte Säule bauen, dann nützt das nichts. Wir brauchen
eine Garantierente, die ein Mindestniveau absichert. Da
kann dann die kapitalgedeckte Säule obendrauf, damit
sich die Eigenvorsorge tatsächlich lohnt und sie nicht
komplett bei der Grundsicherung angerechnet wird.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Ingrid Arndt-Brauer [SPD])


Ein weiterer Punkt, an dem wir nach zehn Jahren fest-
stellen, dass es da eine Lücke gibt, betrifft insbesondere
die Menschen mit geringem Einkommen, die nicht in
dem Ausmaß riestern, wie es eigentlich sinnvoll wäre.

Auch an dieser Stelle müssen wir ansetzen. Das heißt
nicht unbedingt, mehr Geld in das System zu pumpen;
da haben Sie völlig recht. Es ist ja relativ großzügig aus-
gestaltet, auch was den unteren Einkommensbereich be-
trifft. Es ist wichtig, die Strukturen zu verändern und
Barrieren abzubauen, damit Menschen leichter an ein
Riester-Produkt herankommen. Wir brauchen ein einfa-
ches, kostengünstiges und transparentes Produkt. Über
die Idee, als Standard ein Basisprodukt zu entwickeln,
sollten wir unbedingt diskutieren und diese Idee gründ-
lich prüfen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir müssen schauen, dass die Fördermittel insbeson-
dere im unteren Einkommensbereich zielgenau ankom-
men. An dieser Stelle ist der vorliegende Gesetzentwurf
kontraproduktiv und geht in die völlig falsche Richtung.
Das fängt an mit der Anhebung der Förderhöchstgrenze
von 20 000 Euro auf 24 000 Euro. Liebe Kolleginnen und
Kollegen von FDP und CDU/CSU, es gibt viele Men-
schen in diesem Land, die verdienen im Jahr nicht einmal
so viel. Wenn Sie die Förderhöchstgrenze anheben, ist
das wieder eine Subventionierung Ihrer Klientel; denn
davon profitiert insbesondere die Klientel der FDP: die
Besserverdienenden und Bestverdienenden. Besonders
fördern müsste man eigentlich die Geringverdienenden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721911700

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Schäffler zulassen?


(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ja, gerne.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721911800

Bitte schön.


Frank Schäffler (FDP):
Rede ID: ID1721911900

Herr Kollege, Sie haben uns gerade vorgeworfen, wir

würden jetzt die Förderhöchstgrenzen für die Basisrente
anheben. Nehmen Sie bitte zur Kenntnis, dass Sie diese
Grenze von 20 000 Euro eingeführt haben. Wenn Sie
jetzt behaupten, wir würden diese Grenze im Verhältnis
zur Riester-Rente überproportional anheben, dann müs-
sen Sie aber auch eingestehen, dass Rot-Grün diese För-
derhöchstgrenze von 20 000 Euro – bzw. 40 000 für Ver-
heiratete – eingeführt hat.


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist falsch argumentiert! Es geht um die Anhebung!)



(BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das geht völlig am Thema vorbei.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)






Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn


(A) (C)



(D)(B)


Die Förderhöchstgrenze von 24 000 Euro gilt insgesamt
für die Riester-Förderung.


(Frank Schäffler [FDP]: Entschuldigung, das ist nicht die Riester-Rente, das ist die RürupRente! Sie haben gar keine Ahnung vom Thema!)


Wenn man die Förderhöchstgrenze anhebt, profitieren
davon die Besserverdienenden und nicht die Gering-
verdienenden. Das ist der zentrale Punkt.


(Frank Schäffler [FDP]: Es geht nicht um die Riester-Rente, es geht um die Rürup-Rente!)


Das Gleiche gilt für den Wohn-Riester: Auch davon
profitieren die Besserverdienenden, auch das ist eine
Subventionierung Ihrer Klientel.


(Frank Schäffler [FDP]: Sie haben diese Förderhöchstgrenze eingeführt!)


Das Gleiche passiert bei der Erwerbsminderungsrente,
die so ausgestaltet ist, dass auch sie sich für die Gering-
verdienenden gar nicht lohnt, weil die Prämien viel zu
hoch sind und gerade Menschen mit hohem Risiko die
entsprechenden Prämien überhaupt nicht bezahlen kön-
nen.


(Frank Schäffler [FDP]: Sie haben die doch eingeführt!)


All das sind Maßnahmen, die nur Ihrer Klientel dienen –
damit versuchen Sie sich über die 5-Prozent-Hürde zu
retten.


(Lachen bei der FDP)


Wir haben ganz andere Vorstellungen davon, wie das ge-
staltet werden sollte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Frank Schäffler [FDP]: Es gibt einen Unterschied zwischen Riester-Rente und Rürup-Rente!)


Der dritte Punkt, an dem man ansetzen muss – der
Kollege Schick hat es ausführlich dargestellt –: Wir müs-
sen dafür sorgen, dass die Renditen und das Geld, das
wir in die Riester-Rente stecken, tatsächlich bei den
Bürgerinnen und Bürgern ankommt und nicht aus einem
löchrigen Eimer herausläuft und zu den Anbietern fließt.

Unser Fazit ist: Schwarz-Gelb hat einen Gesetzent-
wurf vorgelegt, der, auch wenn er in Teilen durchaus in
die richtige Richtung geht, in großen Teilen Klientel-
politik ist und am Kernproblem definitiv vorbeigeht.
Deswegen gilt auch an dieser Stelle: Die Alternative ist
grün.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721912000

Das Wort hat der Kollege Karl Holmeier für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Karl Holmeier (CSU):
Rede ID: ID1721912100

Sehr verehrte Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!
Über 15 Millionen Riester-Verträge und davon fast
1 Million Wohn-Riester-Verträge – oder, besser gesagt,
Eigenheimrentenverträge –, ich glaube, die bisherige
Bilanz der staatlichen Vorsorgeförderung kann sich se-
hen lassen.

Als Baupolitiker und Vertreter des ländlichen Raums
freut es mich vor allem, dass sich die Eigenheimrente so
positiv entwickelt hat. Auch wenn manche das ein biss-
chen anders sehen, hat Wohneigentum für viele Men-
schen einen hohen Stellenwert: in ökonomischer, in ge-
sellschaftlicher, vor allem aber in familienpolitischer
Hinsicht. Gerade in wirtschaftlich unsicheren Zeiten ist
Wohneigentum für viele eine sichere Geldanlage. Wer
ein eigenes Haus oder eine eigene Wohnung hat, ist au-
ßerdem unabhängig vom Mietwohnungsmarkt. Damit ist
er auch vor steigenden Zinsen geschützt.


(Beifall des Abg. Dr. Mathias Middelberg [CDU/CSU])


Der Verband der Privaten Bausparkassen hat in die-
sem Zusammenhang erst jüngst darauf hingewiesen,
dass die eigenen vier Wände der beste Schutz vor Miet-
erhöhungen sind.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Und die anderen Kosten?)


Zudem wird durch jedes neue Eigenheim eine Mietwoh-
nung frei – was zur Entlastung der angespannten Lage
auf dem Mietwohnungsmarkt beiträgt.

Wohneigentum, meine sehr verehrten Damen und
Herren, hat aber auch eine hohe familienpolitische Be-
deutung. Wo wachsen denn Kinder glücklicher und be-
hüteter auf als in einem Einfamilienhaus mit eigenem
Garten?


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Was ist denn das für ein Stigma?)


Letztlich ist die Schaffung von Wohneigentum von ho-
her Bedeutung für die private Altersvorsorge.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Eigenheim und Betreuungsgeld, das ist das Riester der CSU!)


Die christlich-liberale Koalition hat daher im Koalitions-
vertrag vereinbart, die staatliche Förderung in diesem
Bereich zu verbessern und das Modell der Eigenheim-
rente, das noch unter Rot-Grün eingeführt wurde, zu ver-
einfachen. Genau das tun wir mit dem heute zur Debatte
stehenden Gesetzentwurf.

Der Name ist übrigens Programm: Altersvorsorge-
Verbesserungsgesetz.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Wie Betreuungsgeld!)






Karl Holmeier


(A) (C)



(D)(B)


Die Schwachpunkte des Eigenheimrentengesetzes von
2008 werden korrigiert, und das Modell wird dadurch
noch attraktiver, auch wenn Sie es nicht glauben wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Ich weiß das!)


Dass wir in der Koalition mit dieser Meinung nicht al-
leine dastehen, hat die Anhörung im November letzten
Jahres eindrucksvoll bestätigt.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Wo waren Sie denn da?)


Den einen oder anderen Kritikpunkt haben wir im parla-
mentarischen Verfahren noch aufgegriffen und können
nun zu Recht behaupten, heute ein Gesetz zu beschlie-
ßen, das seinen Namen auch verdient.

Mit diesem Gesetzentwurf ist es uns gelungen, die
Möglichkeiten der privaten Altersvorsorge so flexibel
auszugestalten, dass für jeden Sparer etwas dabei ist.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das stimmt nicht!)


Für junge Leute und Familien bietet ein Eigenheimren-
tenvertrag die attraktive Möglichkeit, mithilfe staatlicher
Förderung ein Darlehen für den Bau oder für den Kauf
des eigenen Hauses oder der eigenen Wohnung aufzu-
nehmen und dieses Darlehen dann sehr flexibel zu bedie-
nen. Nachdem es kein Baukindergeld und auch keine
Eigenheimzulage mehr gibt, kann die Eigenheimrente
die entstandene Lücke im staatlichen Fördersystem
wieder etwas schließen.

Davon profitieren aber nicht nur junge Leute, sondern
wir kommen auch noch dem Wunsch nach, die Eigen-
heimrente – auch dies wurde bereits angesprochen – für
den barrierefreien Umbau im Alter und natürlich auch
für den behindertengerechten Umbau verwenden zu kön-
nen.

Die Baupolitiker der Koalition haben dafür gesorgt,
dass diese Förderung auch eine sehr attraktive Ergän-
zung zu den bereits bestehenden Programmen darstellen
wird. Es ist gelungen, das Mindestinvestitionsvolumen
von ursprünglich vorgesehenen 30 000 Euro auf jetzt
20 000 Euro zu reduzieren. Außerdem haben wir dafür
gesorgt, dass die Kontrolle darüber, ob die Voraussetzun-
gen für die Förderung vorliegen, nicht zu bürokratisch
ist. Es war geplant, dass nur ein Architekt die Verwen-
dungskontrolle durchführen darf. Wir haben erreicht,
dass dies künftig auch ein Handwerker machen kann.

Abschließend, meine sehr verehrten Damen und
Herren, möchte ich noch auf ein immer wieder vorgetra-
genes Vorurteil hinweisen. Auch das wurde bereits von
unseren Kollegen angesprochen. Angeblich ist Riester-
Sparen nichts für Menschen mit einem geringen
Einkommen. Das ist, mit Verlaub, meine Damen und
Herren, Blödsinn.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Sie haben immer noch nicht gesagt, was hinten rauskommt! – Weiterer Zuruf von der LINKEN: Sie haben es immer noch nicht begriffen!)


Alle, die das behaupten, sollten einfach mal bei der Stif-
tung Warentest nachschauen und sich dort informieren.
Die Stiftung Warentest, bekanntlich eine Art Bibel für
den deutschen Verbraucher, lobt unseren Gesetzentwurf
– hören Sie: lobt unseren Gesetzentwurf – in den höchs-
ten Tönen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das stimmt doch gar nicht! In der Anhörung hat es sich anders angehört!)


Sie hat auch Berechnungen darüber angestellt, wie at-
traktiv die Riester-Rente, die Riester-Produkte gerade
für Menschen mit geringerem Einkommen sind.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Für die tun Sie gerade nichts!)


Es wurde „12 mal 5 Euro“ angesprochen. Ich sage: ein-
mal 60 Euro im Jahr. Eine Familie mit zwei Kindern und
einem Jahreseinkommen von 20 000 Euro zahlt lediglich
60 Euro im Jahr, um die volle Riester-Förderung und
damit Zulagen in Höhe von 754 Euro zu erhalten.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber sie machen es nicht! Und man muss darüber nachdenken, warum sie das nicht machen, woran das liegt!)


– Kapieren Sie das endlich einmal!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie müssen kapieren, dass das nichts nützt!)


Das zeigt: Auch für Geringverdiener lohnt sich die
private Altersvorsorge. Es lohnt sich mit dem heute zu
beschließenden Gesetz noch viel mehr, meine sehr ver-
ehrten Damen und Herren.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Für Rürup, aber nicht für Riester!)


Das beweisen die zahlreichen positiven Stellungnahmen
zu diesem Gesetzentwurf. Nicht nur die Stiftung Waren-
test ist voll des Lobes, sondern auch viele andere Ver-
bände sind es.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Sie waren doch gar nicht in der Anhörung!)


Besonders begrüßt wird die Einbeziehung des altersge-
rechten und des behindertengerechten Umbaus.

Die gute Bilanz wird sich also in Zukunft weiter ver-
bessern. Der Name ist eben Programm. Ich wiederhole
es: Altersvorsorge-Verbesserungsgesetz.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Eine Mogelpackung ist das!)


Ich bitte daher auch Sie, diesem Gesetzentwurf zuzu-
stimmen. Wir halten an Riester fest. Aufseiten der Oppo-
sition, die damals Riester eingeführt hat, sehe ich so
manchen Zweifel.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721912200

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Arndt-Brauer für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Ingrid Arndt-Brauer (SPD):
Rede ID: ID1721912300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen! 90 Minu-
ten Debatte über den Entwurf eines Altersvorsorge-
Verbesserungsgesetzes! Informierte Bürger, die heute ir-
gendwann einmal Nachrichten gehört haben, könnten
jetzt denken: Warum brauchen die heute Nachmittag
eine Sitzung des Koalitionsausschusses unter anderem
zum Thema Rente, wenn sie das jetzt abhandeln? Genau
umgekehrt wird aber ein Schuh daraus: Weil wir heute
die Probleme in der Rentenversicherung nicht lösen,
brauchen wir nicht nur den Koalitionsausschuss, sondern
werden wir auch eine andere Regierung brauchen. Des-
wegen wird uns das alles wieder auf die Füße fallen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich habe mir einmal den Koalitionsvertrag zum
Thema Rente angeguckt, weil ich wissen wollte, ob wir
hier heute Nachmittag irgendein Problem lösen.

Im Koalitionsvertrag steht als Ziel eine Verbesserung
bei der Anrechnung von Kindererziehungszeiten. Das
hat Schäuble beerdigt. Das ist tot; das kommt nicht.

Der nächste Punkt, der im Koalitionsvertrag steht, ist
der Kampf gegen Altersarmut. Die sogenannte von der
Leyen’sche Zuschussrente kommt auch nicht. Sie ist
ebenfalls tot und beerdigt.

Der nächste Punkt ist die Rentenangleichung Ost/
West. Sie wurde vor der Geburt beerdigt und kommt
auch nicht.

Damit bleibt noch eine Sache, nämlich die Stärkung
der kapitalgedeckten Altersvorsorge. Das liegt heute auf
unserem Tisch und wird nach unserer Debatte und der
Verabschiedung ins Koma geraten. Ich werde noch er-
klären, warum.


(Beifall bei der SPD)


Die erste Lesung hierzu hatten wir vor einigen
Wochen. Damals habe ich den Gesetzentwurf, einein-
halb Seiten mit fünf Zielen, einmal hochgehalten. Ich
habe gehofft und meiner Hoffnung auch Ausdruck ver-
liehen, dass nach dem Struck’schen Gesetz, dass nichts
so aus dem Parlament herauskommt, wie es hineinge-
gangen ist, Verbesserungen erzielt werden.

Zwischendurch war ich guter Hoffnung. Es gab elf
Änderungsanträge, und ich habe gedacht: Die machen
noch etwas daraus. Die elf Änderungsanträge waren aber
wirklich Makulatur, und es ist nicht besser geworden.
Das Oberziel, die Förderung zu verbessern, ist nicht er-
reicht worden.

Ich gehe noch einmal zurück auf Anfang:

Wir haben ein Drei-Säulen-Modell, aber nicht des-
halb, weil wir nichts anderes erschaffen wollten, sondern

weil die gesetzliche Rente nicht mehr ausreicht. Deswe-
gen brauchen wir zusätzliche Säulen.


(Zuruf von der LINKEN: Warum reicht sie denn nicht?)


– Warum sie nicht ausreicht, haben wir Ihnen schon hun-
dertmal erklärt. Es reicht halt nicht mehr.

Es gibt die betriebliche Säule, aber leider nicht für
alle. Einige Vorredner, auch der Koalition, haben es
schon gesagt: 17 Millionen Menschen habe eine
Betriebsrente, 12 Millionen leider nicht. Auch um sie
müssen wir uns kümmern. Deswegen brauchen wir zu-
sätzlich auch eine private Vorsorge; das ist völlig unstrit-
tig.

Wir haben allerdings das Problem, dass 4,2 Millionen
Beschäftigte weniger als 1 500 Euro Einkommen haben.
Diese haben leider keine private Vorsorge. Für sie
brauchen wir eine Lösung; die haben Sie heute nicht
geliefert. Diese Beschäftigten werden von Altersarmut
bedroht, die mit diesem Gesetzentwurf nicht beseitigt
wird; das habe ich vorhin schon erzählt.

Wir haben damals bei der Einführung der Riester-
Rente einen Fehler gemacht, indem wir sie nicht ver-
bindlich gemacht haben. Das müssen wir uns vorwerfen.
Deswegen gibt es nur 16 Millionen Verträge. Wir
bräuchten aber eine viel größere Anzahl. Das war ein
Fehler. Wir hätten es verbindlich machen und bei der
BfA ansiedeln sollen.


(Bernd Scheelen [SPD]: Das haben CDU und CSU ja verhindert!)


80 000 Selbstständige konnten sich nur mit einer Peti-
tion an Frau von der Leyen helfen und haben gesagt: Die
Rürup-Rente muss eine Pflichtversicherung sein. Leider
haben Sie die Stimmen nicht erhört, sondern Sie sagen:
Wir erhöhen die Förderhöchstgrenze bei der Rürup-
Rente von 20 000 auf 24 000 Euro, dann ist das Problem
erledigt. – Das Problem ist damit überhaupt nicht erle-
digt; das wissen Sie selber.


(Beifall bei der SPD)


Ich komme jetzt noch einmal zu den fünf mickrigen
Zielen des Gesetzentwurfes:

Das erste Ziel, die Stärkung der kapitalgedeckten
Altersvorsorge, ist nicht erreicht worden; das habe ich
schon gesagt.

Das zweite Ziel ist die Vereinfachung der Eigenheim-
rente. Wohn-Riester ist ja eben hochgejubelt worden,
aber Sie dürfen doch nicht den Eindruck erwecken, dass
jemand, der in einem Haus wohnt, keine Kosten hat. Das
ist doch Blödsinn. Nicht alle können sich Häuser leisten,
und nicht alle wohnen in ihrem Haus völlig entgeltfrei.
Von daher ist das nicht für alle eine Lösung.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: In der Wohnung haben Sie auch Nebenkosten! Als Mieter müssen Sie die Kaltmiete bezahlen!)


Für die paar, für die das eine Lösung ist, ist das okay,
aber das ist nicht die Revolution, als die das hier darge-
stellt worden ist.





Ingrid Arndt-Brauer


(A) (C)



(D)(B)


Das dritte Ziel ist die Verbesserung des Erwerbs-
minderungsschutzes. Hier versprechen Sie mehr, als der
Inhalt hält.

Das vierte Ziel ist die Stärkung der Verbraucher im
Markt, also der Verbraucherschutz. Ein Produktinforma-
tionsblatt ist hier nicht das Allheilmittel. Wollen Sie bei
100 Anbietern 100 Produktinformationsblätter neben-
einander legen? Das kann es auch nicht sein.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das ist ja Blödsinn!)


Das fünfte Ziel ist die Verbesserung des Anleger-
schutzes. Diese angebliche Verbesserung ist gar keine,
wenn Sie, wie vorgesehen, die Fristen für den Einspruch
von drei Jahren auf zwei Jahre senken. Auch das ist nicht
sinnvoll.

Nach der ersten Lesung war ich für Enthaltung bei der
Abstimmung. Jetzt hat mich meine Fraktion überzeugt,
dass wir solche Luftnummern nicht noch durch eine Ent-
haltung aufwerten können. Deswegen sage ich jetzt: Sol-
che Luftnummern können wir leider nicht mitmachen.
Wir stimmen deswegen gegen diesen Gesetzentwurf.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das versteht kein Mensch!)


Es ist schade, dass wir nach der Wahl im September
auch dieses Problem lösen müssen. Ich weiß gar nicht,
womit wir anfangen sollen. Aber ich bin guter Dinge,
dass wir es besser können als Sie.

Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721912400

Peter Weiß hat das Wort für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Dr. Wolfgang StrengmannKuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Jetzt einmal eine Lanze für die umlagefinanzierte Rente brechen!)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1721912500

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Sicherheit im Alter: Das ist etwas, was sich jeder
und jede wünscht. Selbstverständlich ist die gesetzliche
Rentenversicherung heute, aber auch in Zukunft die we-
sentliche Säule einer verlässlichen Alterssicherung in
Deutschland. Aber schon immer haben die Arbeitneh-
merinnen und Arbeitnehmer in Deutschland gewusst,
dass es sinnvoll ist, zusätzlich zur gesetzlichen Rente für
eine private Altersvorsorge zu sparen. Viele haben das
auch gemacht.

Im Jahr 2001 hat die damalige rot-grüne Koalition be-
schlossen: Wir wollen diese zusätzliche Altersvorsorge
staatlich unterstützen, indem wir jedem, der einen soge-
nannten Riester-Vertrag abschließt, einen Zuschuss von
154 Euro geben. Wenn er Kinder hat, bekommt er für je-
des Kind eine Kinderzulage. In der Großen Koalition ha-
ben CDU/CSU und SPD gemeinsam beschlossen, pro
Kind pro Jahr 300 Euro dazuzugeben. Mittlerweile spa-

ren knapp 16 Millionen Mitbürgerinnen und Mitbürger
einen solchen Vertrag an.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Nein, es gibt so viele Verträge, es sind nicht so viele Bürger!)


Sie haben inzwischen rund 37 Milliarden Euro auf ihren
Altersvorsorgekonten liegen.

Ich hätte erwartet, dass sich in dieser Debatte die Red-
nerinnen und Redner von der SPD und den Grünen, die
dieses Gesetz damals initiiert haben, wenigstens einmal
bei diesen Sparerinnen und Sparern in Deutschland be-
danken und sagen: Jawohl, ihr habt es richtig gemacht!
Zusätzliche Altersvorsorge ist vernünftig!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Sie fördern doch nur Rürup!)


In den letzten Jahren ist uns immer mehr bewusst ge-
worden, dass diese Riester-Regelung einige Macken, ei-
nige Fehler hat. Nachdem über elf Jahre lang Sozialde-
mokraten das Bundesfinanzministerium geleitet haben
und über elf Jahre lang Sozialdemokraten das Bundesar-
beitsministerium geleitet haben, also für das Thema Al-
tersvorsorge zuständig waren, macht sich jetzt die Koali-
tion aus CDU/CSU und FDP daran, einige dieser Fehler
zu korrigieren.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


In dieser Situation finde ich es äußerst schäbig, dass
sich diejenigen, die das Gesetz mit seinen Fehlern einst
initiiert haben, aus dem Staub machen und hier nicht zu-
stimmen wollen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra Hinz [Essen] [SPD]: Die Verschlechterung machen wir nicht mit! – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gespieltes Theater!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wer sich so aus der
Verantwortung stiehlt, der taugt nicht zum Regieren!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Petra Ernstberger [SPD]: Das entscheidet der Wähler!)


Wir schaffen Wesentliches. Das Erste ist: Viele Bür-
gerinnen und Bürger sagen: Ich blicke nicht durch. Was
soll ich machen? – Deshalb wäre es übrigens schon 2001
richtig gewesen, ein allgemeines Informationsblatt ein-
zuführen, in dem mit einem Blick die wesentlichen Da-
ten der angebotenen Verträge überblickt werden können.
Wir schaffen jetzt dieses Produktinformationsblatt. Des-
wegen könnte man ein Ja zu diesem Produktinforma-
tionsblatt auch von SPD und Grünen erwarten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Das Zweite ist: Kostenbegrenzung. Wir sind die Ers-
ten, die Elemente der Kostenbegrenzung ins Gesetz auf-
nehmen. Auch dazu hätte man ein Ja von SPD und Grü-
nen erwarten können.

Drittens. Wir sorgen für mehr Flexibilität.





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)


Ich habe vor allen Dingen die hier vorgetragene Pole-
mik gegen Wohn-Riester nicht verstanden. Über 80 Pro-
zent der Mitbürgerinnen und Mitbürger erklären in Um-
fragen, dass für sie Wohneigentum – ein eigenes Haus
oder eine Eigentumswohnung – ein wichtiges Element
im Hinblick auf die Alterssicherung ist.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nicht im Emsland!)


Wir sollten diese Bereitschaft und Einsicht unserer Bür-
gerinnen und Bürger politisch unterstützen und nicht
Politik gegen die Bürgerinnen und Bürger machen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zu Recht ist darauf hingewiesen worden, dass eine
Gruppe von Altersarmut besonders bedroht ist. Das sind
die Bezieher von Erwerbsminderungsrenten, also Men-
schen, die leider wegen Krankheit oder eines Unfalls
vorzeitig aus dem Erwerbsleben ausscheiden mussten
und Erwerbsminderungsrente beantragt haben. Knapp
10 Prozent dieser Personengruppe sind schon heute auf
staatliche Unterstützung in Form der Grundsicherung
angewiesen. Wir von der Koalition sind entschlossen, zu
handeln, und wollen


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Eine abschlagsfreie Erwerbsminderungsrente!)


die Leistungen für Erwerbsminderungsrentner in der ge-
setzlichen Rentenversicherung verbessern, und zwar
ohne Wenn und Aber. Wenn aber die damalige Begrün-
dung von Rot-Grün zum Gesetz zur Einführung der
Riester-Rente stimmt, dass neben die gesetzliche Rente
ergänzend die betriebliche Altersvorsorge und die pri-
vate, kapitalgedeckte Altersvorsorge treten müssen,
dann frage ich mich: Warum soll im Erwerbsminde-
rungsfall, also dann, wenn die Betreffenden es besonders
nötig haben, finanziell unterstützt zu werden, nur die ge-
setzliche Rentenversicherung etwas leisten, nicht aber
die betriebliche und die private, kapitalgedeckte?


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man es richtig machen und nicht so wie Sie! Das wissen Sie doch auch!)


Es ist vor diesem Hintergrund richtig, dass wir auch in
der privaten, kapitalgedeckten Altersvorsorge, also in
der Riester-Rente, die Bedingungen verbessern und den
Erwerbsminderungsschutz mit absichern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Gerade die Geringverdiener werden dadurch nicht erreicht!)


Zu den Geringverdienern. Es ist richtig, dass Gering-
verdiener es besonders schwer haben, zusätzliche Alters-
vorsorge zu betreiben. Allerdings werden die Statistiken
ständig verfälscht dargestellt. Den höchsten Anteil an
Riester-Sparerinnen und -Sparern weisen die Einkom-
mensgruppen unter 1 500 Euro pro Monat auf.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Das war ja auch der Sinn!)


Dass in anderen Einkommensgruppen die zusätzliche
Altersvorsorge höher ist, liegt daran, dass Gutverdiener
oft eine sehr gute zusätzliche Betriebsrente haben; das
liegt aber nicht an Riester.


(Petra Hinz [Essen] [SPD]: Eine Verdrehung der Tatsachen!)


Gerade weil Niedrigverdiener oft in Bereichen arbeiten,
in denen es gar keine Betriebsrente gibt, ist für sie eine
zusätzliche Altersvorsorge umso wichtiger, um im Alter
nicht von Armut betroffen zu sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Zusammenfassend kann man sagen: Heute ist ein gu-
ter Tag für die Altersvorsorge in Deutschland.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD)


Wir machen mit dem Altersvorsorge-Verbesserungs-
gesetz einen wesentlichen Schritt und sorgen dafür, dass
die private Altersvorsorge transparenter und kalkulierba-
rer wird. Wir sorgen so dafür, dass die Bürgerinnen und
Bürger Vertrauen haben, das Richtige zu tun, wenn sie
neben der gesetzlichen Rente zusätzlich privat vorsor-
gen. Dazu sollten wir sie nachdrücklich ermuntern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721912600

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Verbesserung der steuerlichen
Förderung der privaten Altersvorsorge. Der Finanzaus-
schuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12219, den Gesetzent-
wurf der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/10818 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der
Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der Oppositionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion und der
FDP-Fraktion gegen die Stimmen der SPD-Fraktion, der
Fraktion Die Linke und der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 3 b. Beschlussempfehlung des
Finanzausschusses zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Risiken der Riester-Rente offen le-
gen – Altersvorsorge von Finanzmärkten entkoppeln“.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/12219, den An-
trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9194 ab-





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der Fraktion Die Linke
bei Enthaltung der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 6 sowie den Zusatz-
punkt 6 auf:

6 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Gabriele Hiller-Ohm, Karin Roth (Esslingen),
Elvira Drobinski-Weiß, weiterer Abgeordneter
und Fraktion der SPD

Transparenz für soziale und ökologische Un-
ternehmensverantwortung herstellen – Unter-
nehmerische Pflichten zur Offenlegung von
Arbeits- und Umweltbedingungen auf euro-
päischer Ebene einführen

– Drucksachen 17/11319, 17/12110 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Johann Wadephul

ZP 6 Erste Beratung des von den Abgeordneten Volker
Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, Kerstin Andreae,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Änderung des Aktiengeset-
zes

– Drucksache 17/11686 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Dr. Johann Wadephul für die Unionsfraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Johann Wadephul (CDU):
Rede ID: ID1721912700

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Schon aus stimmlichen Gründen kann ich an die
Rede des Kollegen Weiß nicht ganz anknüpfen.


(Peter Weiß [Emmendingen] [CDU/CSU]: Entschuldigung! – Anette Kramme [SPD]: Das kann, glaube ich, niemand!)


Wer jetzt enttäuscht ist, den muss ich bitten, sich in Ge-
duld zu üben; denn die Unionsfraktion hat den Kollegen
Weiß erneut als Redner in dieser Debatte aufzubieten.
Insofern werden Sie sein rhetorisches Feuerwerk hier
gleich noch einmal erleben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben schon im Ausschuss über diesen Punkt
miteinander diskutiert. Es geht um ökologische und so-
ziale Verantwortung von Unternehmen. Die sozialdemo-
kratische Fraktion fordert insbesondere umfängliche Ini-
tiativen der Bundesregierung auf europäischer und
internationaler Ebene und, wie wir das oftmals von Ihrer
Fraktion erleben, hier und da auch wieder gesetzliche
Normierungen. Sie knüpfen an die Leitprinzipien für
Menschenrechte und Wirtschaft der Vereinten Nationen
an, die OECD-Leitsätze für multinationale Unternehmen
und die ILO-Kernarbeitsnormen, also die Kernarbeits-
normen der Internationalen Arbeitsorganisation in Genf.

Das sind international anerkannte Instrumente der
Corporate Social Responsibility, wie man das interna-
tional nennt und wie das in den Anträgen aufgeführt
wird, also kurz CSR. Sie werden in Ihrem Antrag, Frau
Hiller-Ohm, lediglich aufgezählt – das muss ich bemän-
geln – und zum Teil auch unsystematisch und falsch ein-
geordnet; denn die UN-Leitprinzipien – dies nur am
Rande bemerkt – fordern, anders als Sie es in Ihrem An-
trag darlegen, beispielsweise gar keine obligatorische
gesetzliche Nachhaltigkeitsberichterstattung. Auch in
den OECD-Leitsätzen steht lediglich – ich zitiere wört-
lich – „gegebenenfalls einschließlich Umwelt- und So-
zialinformationen“.

Nun wollen wir die Fragestellung an sich, die dahinter
steht, nämlich die der ökologischen und insbesondere
der sozialen Verantwortung von Unternehmern und Un-
ternehmen, überhaupt nicht geringschätzen; vielmehr
können wir dabei in Deutschland schon auf eine lange
Tradition zurückblicken. Es hat über die Jahrhunderte
hinweg, seit dem Mittelalter, seit dem Zeitalter des Hu-
manismus, immer Unternehmerinnen und Unternehmer
gegeben, die sich engagiert haben, auch in ihrer Heimat-
stadt. Frau Hiller-Ohm, denken Sie nur an heute tätige
Stiftungen international tätiger Unternehmen wie die
Possehl-Stiftung oder die Dräger-Stiftung, die sich ohne
irgendeine gesetzliche Regelung dem Sozialen, aber
auch der Nachhaltigkeit und dem Umweltschutz ver-
pflichtet fühlen.

Damit hier nicht der Eindruck entsteht, Deutschland
stünde in dieser Frage schlecht da, möchte ich an dieser
Stelle einfach einmal allen Unternehmern und Unterneh-
men sehr herzlich danken, die sich diesen Grundsätzen
verpflichtet fühlen, ohne dass es derartige gesetzliche
Regelungen gibt, wie die Sozialdemokraten sie hier for-
dern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich nenne beispielhaft nur die Volkswagen AG, die
uns erst in den letzten Tagen wieder informiert hat und
die zahlreiche Projekte und Initiativen, beispielsweise in
Südafrika – dies ist auch einer größeren Öffentlichkeit in
Deutschland bekannt –, in den Bereichen Bildung, Be-
schäftigung, Gesundheit und Sport befördert. Hier geht
es insbesondere um das Ziel, die Chancengleichheit zu
fördern und sozial schwache Kommunen einzubinden.





Dr. Johann Wadephul


(A) (C)



(D)(B)


Ich denke an die Deutsche Post AG, die 2005 nicht
ganz zu Unrecht als das sozialste Unternehmen Deutsch-
lands eingruppiert wurde, bei der die Integration von Be-
hinderten und die Weiterbildung für Ältere eine vorbild-
lich große Rolle spielen, die sich aber auch international,
beispielsweise über ihre Tochter, nämlich die DHL, in
Shanghai sogar mit einer eigenen Firmenuniversität en-
gagiert, an der auch sozial Schwache eine Chance haben.

Ich nenne die BASF AG, die ihre sechs Grundwerte
Sicherheit, Gesundheit, Umweltschutz, gegenseitiger
Respekt, offener Dialog und Integrität jeden Tag in ih-
rem Unternehmen vorlebt, die insbesondere ausländi-
sche Führungskräfte und Frauen durch die Schaffung
besserer Bedingungen für die Vereinbarkeit von Familie
und Beruf in das Unternehmen integriert, die hohe Um-
weltziele verfolgt und ein großes humanitäres Engage-
ment, beispielsweise in Südostasien, aber auch in Afrika,
zur Malariabekämpfung und zu vielem anderen zeigt.

All das, meine sehr verehrten Damen und Herren, fin-
det tagtäglich in Deutschland unter Nutzung der Ge-
winne statt, die die Unternehmen erwirtschaftet haben
und die ihnen durch gesetzliche Vorschriften oder die
Abschöpfung, die der Staat vornimmt, indem er etwa
Steuern erhebt, nicht genommen werden.

Nachdem ich mich mit Ihrem Antrag auseinanderge-
setzt habe, muss ich sagen: Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen der sozialdemokratischen Fraktion, bemängeln
selbst, dass es eine handelsgesetzliche Vorschrift gibt,
die nach Ihrer Meinung bislang ohne Bedeutung geblie-
ben ist. Ich frage Sie: Warum soll dann eine gesetzliche
Offenlegungspflicht, die Sie jetzt für alle Unternehmen
schaffen wollen, also nicht nur für diejenigen, die schon
bisher davon betroffen sind, eigentlich eine Verbesse-
rung des Status quo bringen? Das müssten Sie einmal er-
läutern. Weder in den Ausschussberatungen noch in dem
Antrag selbst gab bzw. gibt es hierzu irgendeinen Satz
der Begründung.

Die gesetzliche Verpflichtung zur Offenlegung und
Einhaltung sozialer und ökologischer Standards wäre im
Übrigen – das wissen wir alle – nur auf der Grundlage
von internationalen Übereinkommen möglich. Sie müs-
sen wissen: Das bedeutet langwierige Verfahren, und zu-
sätzlich ist die Umsetzung internationaler Abkommen in
jeweils nationales Recht erforderlich. All das würde viel
Zeit in Anspruch nehmen, die wir gar nicht haben – dies
würde auch niemandem helfen –, und wichtige Kräfte
insgesamt binden.

Insgesamt muss man sagen: Wir haben wieder einmal
ein Beispiel dafür, dass Sie den Menschen nicht trauen,
dass Sie den Unternehmern nicht trauen, die Verantwor-
tung tragen, dass Sie den Gewerkschaften nicht trauen,
die durch die Mitbestimmung sowohl tarifvertraglich als
auch im Rahmen der Betriebsverfassung beteiligt sind,
dass sie von sich aus allein die richtigen sozialen, ökolo-
gischen und nachhaltigen Entscheidungen für ihr Unter-
nehmen, aber auch darüber hinaus treffen. Nein, Sie
meinen wieder einmal: Es bedarf der staatlichen Auf-
sicht. Es bedarf einer staatlichen Regulierung.


(Max Straubinger [CDU/CSU]: Staatliche Gängelung!)


Für jede staatliche Regulierung wollen Sie noch einen
extra Aufpasser einsetzen. Das ist ein hoher bürokrati-
scher Aufwand und verursacht unnötige Kosten.

Ein gutes Ziel, eine gute Intention und wichtige Un-
ternehmensziele, die hier in Deutschland schon glaub-
würdig von den Unternehmen vorgelebt werden, machen
Sie mit der Intention Ihres Antrags eher kaputt. Deswe-
gen lehnen wir ihn ab. Wir vertrauen den Unternehmern
und darauf, dass sie von allein richtig entscheiden.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721912800

Das Wort hat die Kollegin Hiller-Ohm für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1721912900

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Kommen Unternehmen ihrer sozialen Verant-
wortung nach? Kümmern sie sich ausreichend um Ar-
beitsbedingungen, Arbeitsschutz und soziale Standards
auch in ihren Zulieferbetrieben? Wir sagen im Gegen-
satz zu Ihnen, Herr Kollege Wadephul, und Ihrer Union:
Nein. Würden sie es nämlich tun, dann gäbe es nicht im-
mer wieder diese schrecklichen Nachrichten von Kata-
strophen, Arbeitsunfällen sowie Ausbeutung von Kin-
dern und Arbeitern. Das wollen wir ändern, und deshalb
haben wir unseren Antrag vorgelegt.


(Beifall bei der SPD)


Als wir Anfang November den Antrag eingebracht
haben, beklagten wir die 250 Opfer der verheerenden
Brandkatastrophe in einer Textilfabrik in Pakistan:
250 vor allem junge Näherinnen, die auch für den deut-
schen Textildiscounter KiK gearbeitet haben. Sie muss-
ten ihr Leben lassen, weil es keine Arbeitsschutzmaß-
nahmen, keine Notausgänge, sondern nur vergitterte
Fenster und versperrte Fluchtwege gab. Eine unglaubli-
che Tragödie! Kurz danach folgte die nächste Katastro-
phe, dieses Mal in einer Fabrik in Bangladesch, in der
auch Pullover für C&A produziert wurden. Über
100 junge Arbeiterinnen kamen ums Leben.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sehen auf er-
schütternde Weise: Die Bedingungen, unter denen auch
deutsche Firmen weltweit produzieren lassen, sind oft
katastrophal. Solche Missstände müssen verhindert wer-
den.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Die Bundesregierung könnte dies ändern und Unterneh-
men gesetzlich verpflichten, offenzulegen, ob ihre Pro-
dukte unter menschenwürdigen Arbeitsbedingungen und
ökologisch vertretbar hergestellt werden. Dies muss na-
türlich auch die Lieferketten mit einbeziehen.





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


Lieber Herr Kollege Wadephul, die Bundesregierung
hätte jetzt eine gute Gelegenheit, sich auf europäischer
Ebene in diesem Sinne zu engagieren. EU-Kommissar
Michel Barnier will in Kürze einen Vorschlag zur
Reform der Modernisierungsrichtlinie vorlegen. Der
– übrigens konservative – Binnenmarktkommissar will
verbindliche Transparenzregeln bei der Unternehmens-
verantwortung. Wir begrüßen das. Damit gäbe es gleiche
Regeln für alle europäischen Unternehmen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Josef Philip Winkler [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Und was macht die Bundesregierung? Schwarz-Gelb
gibt in Brüssel den größten Bremsklotz für diese fort-
schrittliche Initiative!


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Kein Wunder! In Sachen Transparenz ist Deutschland im
EU-Vergleich eher ein Entwicklungsland.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Wohl wahr!)


Deutsche Konzerne müssen ihren Aktionären zwar um-
fassend über ihre Finanzlage Bericht erstatten, wie sich
die Geschäftstätigkeit auf Arbeitsbedingungen und Um-
welt auswirkt, fällt dagegen – aufgrund lascher Berichts-
pflichten – weitgehend unter den Tisch.


(Dr. Johann Wadephul [CDU/CSU]: Meinen Sie, dass das etwa in England besser ist?)


Pakistan, Bangladesch – was muss noch passieren, damit
die Bundesregierung endlich handelt?

Wir wollen die Bundesregierung antreiben, den
Schleier zu lüften, unter dem schlimme Arbeitsbedin-
gungen weltweit unentdeckt bleiben. Der Schleier muss
endlich verschwinden.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen die
Wirtschaft in die Pflicht nehmen, ihrer Verantwortung
für humane Arbeitsbedingungen und den Schutz der
Umwelt nachzukommen. Die Basis dafür ist, Transpa-
renz darüber zu schaffen, unter welchen Bedingungen
Firmen weltweit ihre Waren produzieren. Die SPD will
Unternehmen deshalb verpflichten, auch nichtfinanzielle
Informationen offenzulegen, und zwar nach einheitli-
chen Standards, wahrheitsgemäß und vollständig. Es
muss öffentlich werden, ob Hungerlöhne gezahlt wer-
den, Arbeitsunfälle an der Tagesordnung sind, Betriebs-
räte behindert oder sogar verhindert werden, Kinderar-
beit stattfindet oder die Umwelt ruiniert wird. Der Druck
von Gewerkschaften, Hilfsorganisationen, Verbrauche-
rinnen und Verbrauchern, Medien, aber auch Wettbewer-
bern und Investoren wird dann Wirkung zeigen. Klar ist:
Verantwortungsvolle Unternehmen profitieren davon,
wenn die Konkurrenz sie nicht durch Lohndumping und
schlechte Arbeitsbedingungen vom Markt drängen kann.
Wir sorgen also mit mehr Transparenz für fairen Wettbe-
werb. Den brauchen wir dringend.


(Beifall bei der SPD)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSU,
ich lese in der Beschlussempfehlung zu unserem SPD-
Antrag, dass Sie „mit den Zielen des Antrags“ überein-
stimmen und Ihnen das Thema wichtig ist. Meine Da-
men und Herren von der Union, daher frage ich mich,
warum Sie unseren Antrag ablehnen wollen. Beweisen
Sie doch einmal Rückgrat, und schließen Sie sich unse-
rer Initiative an. Sie würden damit etwas wirklich Gutes
tun.


(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721913000

Für die FDP-Fraktion hat nun der Kollege Pascal

Kober das Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1721913100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Frage, unter welchen Bedingungen die Waren, die
wir täglich kaufen, hergestellt werden, gewinnt immer
mehr an Bedeutung und spielt glücklicherweise auch bei
den Kaufentscheidungen der Menschen eine immer grö-
ßere Rolle, weshalb Unternehmen zunehmend auf die
Produktionsbedingungen achten.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dazu muss es aber transparent sein!)


So, wie viele Menschen bereits darauf achten, ob die
Nahrungsmittel, die sie kaufen, bio sind, also gewissen
ökologischen Standards entsprechen, steigt auch die
Zahl der Menschen, die beispielsweise ganz bewusst fair
gehandelte Kleidung kaufen und auch darauf achten,
dass die Arbeitsbedingungen in den Fertigungsstätten in
Ordnung sind. Die Öffentlichkeit achtet vermehrt darauf,
wie die Arbeitsbedingungen bei der Produktion im Aus-
land sind, Medien berichten zunehmend, und die Nicht-
regierungsorganisationen sind aktiver denn je. So wurde
von deutschen Medien auch – Frau Hiller-Ohm hat es
angesprochen – über die schreckliche Brandkatastrophe
in einer Textilwerkstatt in Bangladesch im Dezember
letzten Jahres berichtet. Es wurde auch berichtet, welche
deutschen Unternehmen dort produzieren lassen. Dies ist
für die jeweiligen Unternehmen mit einem erheblichen
Imageschaden verbunden, sodass es schon aus diesem
Grund zu Veränderungen kommt und auch zunehmend
kommen wird.

Wir dürfen aber bei dieser ganzen Debatte nicht ver-
gessen und übersehen, dass Auslandsinvestitionen deut-
scher und multinationaler Unternehmen einen wichtigen
Beitrag zum wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen
Fortschritt in den entsprechenden Zielländern leisten.
Diese positiven Effekte wollen wir, und diese positiven
Effekte sollten wir fördern und zu stärken versuchen.

Ich fürchte aber, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der SPD, dass die in Ihrem Antrag geforderte Einfüh-
rung einer gesetzlichen Berichterstattungspflicht über
nichtfinanzielle Unternehmensdaten und die Überprü-
fung der Informationen durch unabhängige Prüfgesell-





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


schaften der falsche Weg ist. Denn bevor wir als Gesetz-
geber solche Forderungen erheben, müssen wir prüfen,
ob die Forderungen, die wir den Unternehmen stellen,
überhaupt von diesen erfüllbar sind.

In der vergangenen Sitzungswoche hatte ich zu die-
sem Thema ein Gespräch mit Vertretern eines großen,
namhaften deutschen Unternehmens. Das Unternehmen
hat weltweit eine fünfstellige Zahl an Zulieferern. In
dieser Zahl sind die Zulieferer der Zulieferer noch nicht
mit eingerechnet. Eine hundertprozentige Kontrolle der
kompletten Zulieferkette ist für das Unternehmen
schlicht unmöglich.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist aber nicht unser Diskussionsthema!)


Ein weiterer Punkt, den es zu berücksichtigen gilt, ist
die Beinahemonopolstellung mancher Zulieferer. So gibt
es Bereiche, in denen es nur sehr wenige Zulieferer gibt.
Hier sind selbst Großunternehmen in einer schwierigen
Lage, menschenrechtliche Forderungen durchzusetzen,
da die Zulieferer eine überaus machtvolle Stellung am
Markt haben.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Was heißt das denn? Was ist das für eine politische Auffassung als Theologe?)


Darüber hinaus gibt es auch noch den umgekehrten
Fall. Vor allem mittelständische Unternehmer benötigen
in großen Wertschöpfungsketten regelmäßig nur sehr ge-
ringe Mengen von einem Produkt. Als Abnehmer gerin-
ger Liefermengen sind diese Unternehmen häufig auch
nicht in der Position, Forderungen an Zulieferbetriebe zu
stellen. Wir müssen uns fragen, ob die Forderungen, die
Sie in Ihrem Antrag erheben, wirklich von den Unter-
nehmen erfüllt werden können.


(Beifall bei der FDP)


Vor allem aber müssen wir uns auch fragen, ob der
bessere Weg nicht die Stärkung der Rechtsstaatlichkeit
in der Welt ist. Denn in Ihrem Antrag fordern Sie etwas,
was Sie sich in Deutschland verbitten würden: dass Ar-
beitnehmerrechte nicht auf einem staatlich garantierten
Rechtsanspruch gründen, sondern quasi privatisiert wer-
den. In der Frage der Verbreitung und Durchsetzung der
Rechtsstaatlichkeit, auch der Arbeitnehmerrechte welt-
weit, agiert die Bundesregierung, insbesondere Bundes-
minister Dirk Niebel, vorbildlich und so engagiert wie
nie zuvor.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Wie denn?)


In Zusammenarbeit mit der GIZ und den politischen Stif-
tungen – übrigens auch der Friedrich-Ebert-Stiftung –
engagiert sich Deutschland weltweit für den Zugang al-
ler Bürgerinnen und Bürger zum Recht. Insbesondere die
benachteiligten und marginalisierten Bevölkerungsgrup-
pen werden dabei berücksichtigt. Ein Schwerpunkt ist
dabei das jeweilige Arbeitsrecht in den verschiedenen
Ländern.


(Beifall bei der FDP)


Erstmalig, liebe Kolleginnen und Kollegen der SPD,
unterliegt die eigene Entwicklungszusammenarbeit ei-
nem ganzheitlichen Menschenrechtskonzept.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das ist auch gelogen; aber das macht ja nichts!)


Das war unter der SPD-Ministerin Wieczorek-Zeul elf
Jahre lang noch nicht so.


(Beifall bei der FDP)


Zudem hat die Bundesregierung den Aktionsplan CSR
beschlossen. Hierin sind Ziele benannt und Wege auf-
gezeigt, die zu mehr Corporate Social Responsibility
führen. So gibt es unter anderem ein CSR-Coachingpro-
gramm für kleinere und mittlere Unternehmen. Wir müs-
sen unsere Unternehmen begleiten, stärken und beraten;
wir dürfen sie nicht gängeln und hindern.

Auch ist diese Bundesregierung derzeit durchaus an
der Entwicklung einer europäischen CSR-Strategie be-
teiligt. Insofern kommen wir unserer Verantwortung
auch auf europäischer Ebene nach.

Der richtige Weg ist es, an mehreren Stellschrauben
zu drehen und Verbesserungen zu erreichen. Wir müssen
die Unternehmen mit einbeziehen, dürfen sie aber auch
nicht überfordern, indem wir etwas verlangen, was sie
gar nicht erfüllen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Anette Kramme [SPD]: Sie schämen sich nicht?)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721913200

Für die Fraktion Die Linke hat die Kollegin Jutta

Krellmann das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Jutta Krellmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721913300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen

und Herren! Wir reden heute über CSR. Das ist keine
technische Bezeichnung aus der Elektroindustrie. Es
geht um Leitlinien von Unternehmen zur sozialen und
ökologischen Verantwortung. In Deutschland ist die Ver-
öffentlichung solcher Leitlinien für Unternehmen frei-
willig. Viele Unternehmen haben sich schon für solche
Leitlinien entschieden. Dafür gibt es verschiedene
Gründe: Oft geht es um Imagepflege, damit sich die Pro-
dukte besser verkaufen lassen. Manchmal geht es darum,
Mitarbeiter für das eigene Unternehmen zu akquirieren.
Häufig geht es auch darum, öffentliche Kritik vom Un-
ternehmen fernzuhalten. Große Unternehmen nutzen
solche freiwilligen Selbstverpflichtungen auch und vor
allem als ein Mittel, um auf politische Diskussionen Ein-
fluss zu nehmen. Damit wird der Forderung nach gesetz-
lichen Regulierungen der Wind aus den Segeln genom-
men, nach dem Motto: Neue Gesetze zum Arbeits- oder
Umweltschutz sind überflüssig; denn wir kümmern uns
schon darum.

Die Bundesregierung fördert die Praxis der freiwilli-
gen Selbstverpflichtung von Unternehmen. Sie verleiht





Jutta Krellmann


(A) (C)



(D)(B)


Preise an Unternehmen, von denen sie glaubt, dass sie
sozial und ökologisch verantwortungsvoll handeln. Sie
betreibt unter dem Stichwort CSR vor allem eine Werbe-
und Wohlfühlkampagne für deutsche Unternehmen. Ir-
gendwelche bindenden Verpflichtungen für Unterneh-
men ergeben sich daraus nicht. Alles soll auf freiwilliger
Basis bleiben. Es geht hier vor allem um schöne Worte
und nicht um Taten.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich nenne ein aktuelles Beispiel, das Herr Wadephul
schon angeführt hat; aber ich betrachte es aus einem
anderen Blickwinkel. Es geht um die soziale Verant-
wortung der Deutschen Telekom. In der Broschüre
„CSR – Made in Germany“ der Bundesregierung wird
die Deutsche Telekom für faire Arbeitsstandards gelobt.
Die Telekom will nach eigenen Angaben „weltweit Vor-
reiter“ im Bereich der sozialen Unternehmensführung
werden. Sie nennt „Integrität und Wertschätzung“ der
Beschäftigten als eines der obersten Leitprinzipien. Aber
bei der Telekom folgen den Worten nicht die entspre-
chenden Taten.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Telekom-Tochter T-Mobile betreibt in den USA
ein Callcenter. Hier herrschen entwürdigende Bedingun-
gen für die Beschäftigten. Mitarbeiter mussten bei ihrer
Arbeit Eselskappen aufsetzen, wenn sie die geforderten
Leistungen nicht erbracht haben – wie im Kindergarten.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das lehnen wir auch im Kindergarten ab! – Otto Fricke [FDP]: Das ist auch im Kindergarten verboten! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann müsste hier die ganze Koalition Eselskappen tragen!)


Sie mussten Aufsätze zum Thema „Warum mich T-Mo-
bile weiter beschäftigen soll“ schreiben. Beschäftigte
wurden entlassen, weil sie sich für Tarifverträge einge-
setzt hatten. Gewerkschafter werden unter Druck gesetzt
und benachteiligt. T-Mobile verletzt in den USA syste-
matisch die Menschenwürde der Beschäftigten. Hier
zeigt sich, wie ernst es der Telekom tatsächlich mit der
sozialen Verantwortung ist, die landauf und landab, auch
von der Bundesregierung, gelobt wird. – Die Leitlinien
der Telekom zur Unternehmensverantwortung sind das
Papier nicht wert, auf dem sie stehen. Aber die Bundes-
regierung fährt fort, gerade für dieses Unternehmen Wer-
bung zu machen.

Dieser Form des Etikettenschwindels, wie er bei der
Telekom betrieben wird, will die SPD nun einen Riegel
vorschieben. Sie will Unternehmen verpflichten, ge-
nauer Auskunft über ihre internationalen Geschäftstätig-
keiten und deren soziale und ökologische Auswirkungen
zu geben.

Wir unterstützen die Forderung des SPD-Antrags
nach mehr Transparenz. Die Öffentlichkeit hat einen An-
spruch darauf, von solchen Vorgängen bei T-Mobile
USA zu erfahren; denn der Bund ist Anteilseigner der
Telekom, im Grunde ist es unser Unternehmen. Ich muss

gestehen: Ich möchte nicht, dass in einem Unternehmen,
das uns gemeinsam gehört, solche Dinge passieren.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir glauben aber, dass die SPD mit ihrem Antrag zu
kurz greift. Mehr Transparenz allein wird Unternehmen
nicht zu verantwortungsvollem Handeln bringen. Ethi-
sche Richtlinien zur verantwortungsvollen Unterneh-
mensführung bleiben wirkungslos, und Informations-
pflichten für sich allein genommen bleiben unwirksam.
Informationspflichten bedeuten nämlich nicht, dass die
kritisierten Praktiken nicht mehr erlaubt wären.

Der Grundgedanke der SPD ist, dass verantwortungs-
lose Unternehmensführung durch Transparenz am Markt
zurückgedrängt wird und dass dadurch der Handel und
Investitionen auf soziale und ökologische Ziele ausge-
richtet werden. Dieser Gedanke ist naiv, solange Handel
und Investitionen durch die privaten Interessen von Ka-
pitaleignern bestimmt werden. Sozial verantwortungslo-
ses Handeln von einzelnen Unternehmen ist heute vor al-
lem die Folge des gnadenlosen Marktwettbewerbs.
Dieser Wettbewerb zwingt jedes einzelne Unternehmen
ständig, Kosten zu senken. Wenn soziale und ökologi-
sche Verantwortung Geld kostet, dann gibt es immer be-
triebswirtschaftliche Gründe, darauf zu verzichten: Dann
werden in Bangladesch – um dieses Beispiel der SPD
aufzugreifen – Brandschutzmaßnahmen unterlassen,
weil es billiger ist. Dann werden in den USA Gewerk-
schaftsrechte behindert, weil es hilft, an den Löhnen zu
sparen. Dann werden ökologische Auflagen umgangen,
weil es Geld spart.

Diese Probleme kann man nur lösen, wenn man dem
Profitstreben der einzelnen Unternehmen durch Gesetze
Schranken setzt.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn die Geschäftspraxis einzelner Unternehmen grund-
legende gesellschaftliche Bedürfnisse verletzt, muss sie
gesetzlich verboten werden. Das gilt in Deutschland
genauso wie international. Dazu will die Linke den Be-
troffenen auch in anderen Ländern in erster Linie ein-
klagbare Rechte geben gegen verantwortungslose Unter-
nehmen und gesetzliche Mindeststandards verstärken.
Damit wäre mehr gewonnen als mit Dutzenden von Pa-
pieren über soziale Unternehmensführung, die oftmals
das Papier nicht wert sind, auf dem sie gedruckt sind.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721913400

Für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat nun der

Kollege Volker Beck das Wort.


(Dr. Heinrich L. Kolb [FDP]: Da klatscht gar keiner!)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721913500

Bei uns muss man sich den Applaus verdienen, Herr

Kolb.





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren! Wie wir wirtschaften, wie
wir handeln und wie wir konsumieren, beeinflusst die
Menschenrechtslage in vielen Ländern auf dieser Welt
stärker als das, was wir in der Außenpolitik versuchen
können zu unternehmen, um Menschenrechte durchzu-
setzen. Deshalb ist das Thema dieser Debatte für die
Durchsetzung von Menschenrechten von ganz zentraler
Bedeutung. Wir reden hier nicht über Kinkerlitzchen,
wie ich den Eindruck bei Ihren Reden hatte, nach dem
Motto „Schöner arbeiten“. Wir reden über Themen wie
Sklavenarbeit und mangelnden Arbeitsschutz, der in
Kauf nimmt, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
durch Brände oder durch Gifte, die freigesetzt werden,
ums Leben kommen. Wir reden auch über die Zerstörung
der Lebensgrundlagen ganzer Völker, wie es gestern in
den Niederlanden bei dem Thema „Shell und Niger-
delta“ zur Sprache kam.

Wir müssen uns diesen Fragen intensiver annehmen.
Das, was Sie gesagt haben, geht an der Realität der Un-
ternehmen vorbei. Wir müssen doch faire Wettbewerbs-
bedingungen für die Unternehmen schaffen, die sich die
Mühe machen, nicht billiger einzukaufen,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


weil die Hersteller und Lieferanten Menschenrechte und
ökologische Standards mit Füßen treten. Wir verzerren
den Wettbewerb, wenn wir nicht genau hinschauen. Es
ist richtig: Viele Verbraucherinnen und Verbraucher wä-
ren durchaus bereit, ein bisschen mehr zu zahlen – ob-
wohl das für manche aufgrund ihres niedrigen Einkom-
mens schwierig ist –, wenn sie wüssten, dass keine
Kinderarbeit, keine Sklavenarbeit, keine Vernichtung
von Lebensgrundlagen mit den Produkten verbunden
sind. Sie können es aber nicht wissen, weil die Freiwil-
ligkeit eben nicht zu Transparenz führt.

Das möchte ich Ihnen vorführen. Sie haben hier ge-
sagt, deutsche Unternehmen seien mustergültig, da gebe
es überhaupt keine Probleme, und den fürchterlichen
Brand in Dhaka, Bangladesch, angesprochen, bei dem
Arbeiterinnen und Arbeiter umgekommen sind, weil sie
ihren Arbeitsplatz bei Ausbruch des Brandes nicht ver-
lassen konnten. Nach Angaben von medico international
wurde dort für C&A und KiK für den deutschen und
österreichischen Markt produziert. Es gibt also ein Pro-
blem. Was ist Ihre Antwort darauf? Einfach Nichtstun.


(Pascal Kober [FDP]: Das ist falsch! Sie haben nicht zugehört!)


Ein anderes Thema. Es gab im Jahr 2012 im ZDF Be-
richte über die Herstellung von Textilien in Südindien
nach dem Sumangali-Prinzip. Sumangali ist indisch und
heißt Braut. Dieses Sumangali-Prinzip verpflichtet junge
Frauen, Mädchen, drei Jahre in einer Textilfirma zu ar-
beiten. Sie bekommen ein kleines Taschengeld und dür-
fen das Gelände des Unternehmens nicht verlassen. Den
Lohn ihrer dreijährigen Arbeit bekommen sie nur dann,
wenn sie bis zum letzten Tag dableiben. Die Zahl der To-
desfälle und Suizide aufgrund der Arbeitsbedingungen
ist dramatisch. Trotzdem lassen wir dort produzieren. –
Das ZDF hat uns die Lieferlisten gegeben. Darauf stehen

viele deutsche Firmen, Handelsketten, deren Filialen Sie
an der Friedrichstraße besuchen können. Ich habe die
Bundesregierung gefragt, ob sie aufgrund der vielen
schönen freiwilligen Regelungen weiß, welche deut-
schen Firmen diese Textilien importieren oder dort pro-
duzieren lassen. Sie antwortet: „Es besteht keine rechtli-
che Verpflichtung der deutschen Unternehmen, ihre
Bezugsquellen anzugeben.


(Anette Kramme [SPD]: Das ist doch wunderbar!)


Der Bundesregierung liegen daher keine diesbezüg-
lichen Informationen vor.“ Da liegt der Hund begraben.

Daran muss man etwas ändern,


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


notfalls auch durch eine nationale und nicht durch eine
europäische Gesetzgebung, liebe Kolleginnen und Kol-
legen von der SPD. Ich finde, wir tragen hier als wirt-
schaftlich größtes und stärkstes Land in Europa eine be-
sondere Verantwortung. Wir wollen diese Regelungen in
deutsches Recht umsetzen. Von daher unterstützen wir
natürlich Ihren Antrag, die Bundesregierung zu einer eu-
ropäischen Initiative aufzufordern.

Man kann also zusammenfassen: Die Bundesregie-
rung sieht nichts, hört nichts und weiß nichts. Sie weiß
noch nicht einmal das, was den Journalistinnen und
Journalisten in Deutschland bekannt ist, was sie recher-
chiert und publiziert haben. Das ist ein Offenbarungseid
ihrer Freiwilligkeitsstrategie.

Das Thema „Wirtschaft und Menschenrechte“ um-
fasst noch weitere Aspekte. Deshalb haben wir heute
einen Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Aktien-
gesetzes vorgelegt. Wir wollen die Unternehmensverant-
wortung neu definieren. Heute ist die Rechtssituation im
Prinzip so: Handelt ein Unternehmensvorstand men-
schenrechtskonform und schmälert damit den Gewinn
des Unternehmens, kann er theoretisch für diesen Scha-
den am Vermögen und Einkommen seiner Aktionäre von
den Aktionären in Anspruch genommen werden. Wir
wollen klarstellen, dass die Einhaltung von menschen-
rechtlichen und ökologischen Kriterien einem Unterneh-
mensvorstand nicht vorgeworfen werden kann. Wir hal-
ten es für seine Pflicht, sich beim Wirtschaften auch
dann an diese Standards zu halten, wenn der Konkurrent
sie ignoriert und der Unternehmer damit seine Position
am Markt womöglich vorübergehend schädigt. Mit die-
sem Gesetz wollen wir den Unternehmern signalisieren:
Es wird niemand pönalisiert. Wir stellen lediglich klar:
Wenn ihr euch an die Menschenrechte haltet, dann habt
ihr das Recht in Deutschland auf eurer Seite, und dazu
wollen wir euch ermutigen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das ist für uns nur ein erster Schritt. Die Entschei-
dung in Bezug auf Shell und die Ogoni zeigt, dass das
ein grundsätzliches Problem ist, das wir mit unserem
Vorhaben allein nicht lösen werden. Ich kündige daher
an, dass wir noch in dieser Legislaturperiode weitere Ini-
tiativen ergreifen wollen. Wir wollen dafür sorgen, dass





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


sich Opfer von Menschenrechtsverletzungen in Afrika,
Asien oder Südamerika durch Tochtergesellschaften
deutscher oder europäischer Unternehmen mit Aussicht
auf Erfolg an deutsche bzw. europäische Gerichte wen-
den und gegebenenfalls ihren Anspruch auf Schadenser-
satz und Schmerzensgeld durchzusetzen können. In der
Regel scheitert das schon an der Verjährungsfrist; denn
die betroffenen Menschen haben einfach keinen Zugang
zu unseren Gerichten, und sie wären gelackmeiert, wenn
sie das in ihren Heimatländern versuchen würden.

Wir müssen dafür sorgen – nach dem Gerichtsurteil
gestern haftet die Muttergesellschaft nicht –, dass Unter-
nehmensmütter für ihre Tochtergesellschaften haften
müssen. Ein beliebtes Prinzip ist nämlich, die lokale
Tochter pleitegehen zu lassen oder sie ganz schnell zu
verkaufen, wenn etwas schiefgegangen ist bei der Erdöl-
förderung oder dergleichen; denn dann ist man als Mut-
terkonzern fein raus, und die Opfer dieser Menschen-
rechtsverletzungen gucken in die Röhre. Die örtlichen
Gesellschaften und die Lokalherren, die das zugelassen
haben, haben aber daran verdient. Davor können wir die
Augen nicht verschließen. Wenn wir wirklich verant-
wortlich wirtschaften, handeln und konsumieren wollen,
dann brauchen wir eine stärkere Kodifizierung im Be-
reich „Wirtschaft und Menschenrechte“.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721913600

Kollege Beck.


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721913700

Das ist kein Vorwurf an die Mehrheit der verantwort-

lich handelnden deutschen Unternehmen. Wir wollen
jene stärken, die sich fair und ordentlich am Markt ver-
halten, und das ist die Mehrheit in Deutschland.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721913800

Für die Unionsfraktion hat der Kollege Ulrich Lange

das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1721913900

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Wir sind uns in diesem Hause sehr wohl einig, dass
es hier um ein wichtiges und wesentliches Thema geht.
Herr Kollege Beck, es geht definitiv nicht um Kinker-
litzchen. Unser Aktionsplan 2010 zeigt, dass wir etwas
unternommen und in die Wege geleitet haben und dies
nicht als Kinkerlitzchen, sondern als ernste Herausforde-
rung ansehen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Eigentlich halte ich Sie juristisch für durchaus ver-
siert. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie Ihre
Ausführungen ernst gemeint haben. Ich habe gerade eine
Sachbeschädigung begangen, indem ich aus dem Grund-
gesetz die erste Seite herausgerissen habe,


(Zuruf von der SPD: Was? – Weitere Zurufe von der SPD)


weil ich dem Kollegen Beck etwas vorlesen muss. Ich
bin nämlich überrascht, dass er das Aktienrecht und die
Menschenrechte in einen Topf wirft. – Lieber Kollege
Beck, Ihnen dürfte Art. 1 unseres Grundgesetzes – da-
rauf sind unsere Gesetzgebung und unsere Rechtspre-
chung aufgebaut – bekannt sein: „Die Würde des Men-
schen ist unantastbar“, und die Grundrechte sind
unverletzlich und unveräußerbar –


(Dr. Bärbel Kofler [SPD]: Das weiß man doch auswendig!)


auch im Zusammenhang mit dem Aktienrecht. Für den
Fall, dass Sie hier judikable Probleme sehen, verweise
ich auf den Ordre public; denn hier spiegeln sich die Ge-
danken wider, wenn es zu einer Rechtskollision zwi-
schen unserem Recht und dem Recht anderer kommt. –
Herr Kollege Beck, das war ganz schwach.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Fand ich gar nicht!)


– Doch.

Der von uns vorgelegte Aktionsplan und seine Ziele
zeigen schon heute erste Wirkung. Es wird anerkannt,
dass wir inzwischen deutlich mehr Transparenz haben.
Dies zahlt sich auch in der Wertschöpfungskette dauer-
haft aus. Ja, die Firmen, die sich an CSR halten, sind im
Vorteil; denn CSR ist ein Markenzeichen. Das wird ge-
rade jetzt deutlich. In dem Moment, in dem von diesen
Bränden und Arbeitsbedingungen berichtet wird, sehen
wir ganz genau, wie die Bevölkerung reagiert. Ich
glaube, die Reaktion der Bevölkerung ist die stärkste al-
ler möglichen Reaktionen. Das ist sicherlich besser und
sinnvoller, als schon wieder neue Gesetze auf den Weg
zu bringen.

Damit sind wir an dem Punkt, an dem deutlich wird,
dass wir uns von der SPD wesentlich unterscheiden: Wir
glauben nicht, dass neuerlicher gesetzlicher Zwang, neu-
erliche Bürokratie, neuerliche Überprüfungsstellen zur
Bewusstseinsbildung beitragen. Ich glaube, dass wir mit
Kampagnen und über das Verhalten der Verbraucherin-
nen und Verbraucher am meisten erreichen können. Wir
setzen weiterhin bei der Freiwilligkeit an. Wir glauben,
das ist der richtige Ansatz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Voraussetzung für einen guten und profitablen Um-
satz ist in Deutschland immer noch ein guter Ruf, ein ho-
hes Prestige. Jedes Unternehmen weiß, was auf dem
Spiel steht, wenn es durch einen Skandal mitgerissen
wird. Dabei spielt es keine Rolle, ob der Skandal in
Deutschland oder im Ausland festgestellt wird. Ich gebe
zu, dass die Presse in den letzten Monaten und Jahren
diesbezüglich eine durchaus positive Rolle gespielt hat.
Sie hat das eine oder andere aufgedeckt, was Sie, liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD, mit nationalen Ge-
setzen mit Sicherheit nicht in den Griff bekommen hät-
ten. Deutsche Unternehmen wissen also, dass sie verant-
wortlich sind, und sie wissen, dass die Verbraucherinnen





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


und Verbraucher sehr allergisch auf Verstöße reagieren.
Das ist in unseren Augen das Beste, was passieren kann.

Grundsätzlich begrüßen wir die Initiative der Euro-
päischen Kommission für eine neue europäische CSR-
Strategie aus dem Oktober 2011. Wir setzen auf das Pri-
mat der Freiwilligkeit. Wir unterstreichen die Bemühun-
gen des BMAS bei den Gesprächen mit der Europäi-
schen Kommission über die Umsetzung der CSR-
Strategie. Wir sind guter Dinge, dass wir, nachdem im
Dezember des vergangenen Jahres eine viel beachtete
Veranstaltung in Brüssel stattgefunden hat – es gab gute
und informative Beispiele –, einen konkreten Rege-
lungsentwurf der EU-Kommission bekommen werden.
Auf der Basis dieses Entwurfs für ganz Europa, den wir
gemeinsam abwarten sollten, sollten wir weiterarbeiten
und gemeinsam die richtigen Schlüsse ziehen, im Sinne
aller Beschäftigten weltweit.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721914000

Kollege Lange – das gilt natürlich für alle Kollegin-

nen und Kollegen –, vorsorglich weise ich darauf hin,
dass, sollten in den nächsten Reden weitere Zitate aus
dem Grundgesetz vorgetragen werden, das Präsidium
mit einem Exemplar des Grundgesetzes aushelfen
könnte. Sie müssen also keine weiteren Sachbeschädi-
gungen vornehmen und keine Seiten aus dem Grundge-
setz herausreißen.


(Beifall bei der LINKEN – Ulrich Lange [CDU/ CSU]: Ich lege die Seite wieder ein!)


– Gut.

Nun hat der Kollege Wolfgang Tiefensee für die SPD-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Wolfgang Tiefensee (SPD):
Rede ID: ID1721914100

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Lange, ich darf mich am Anfang meiner
Rede direkt an Sie wenden, ohne die erste Seite des
Grundgesetzes herauszureißen: „Die Würde des Men-
schen ist unantastbar.“


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Das weiß man auswendig!)


Die Kernfrage, die wir im Zusammenhang mit diesem
Thema diskutieren, ist die folgende, Herr Lange: Neh-
men wir in Deutschland, nehmen wir in Europa die Ver-
antwortung auch für diejenigen wahr, die außerhalb Eu-
ropas, in anderen Erdteilen, produzieren und unseren
Wohlstand ermöglichen? Fühlen wir uns verantwortlich
für eine Welt oder nur für Deutschland und Europa?

Die Sozialdemokratie wird im Mai dieses Jahres
150 Jahre alt sein. Sie ist wesentlich verwurzelt mit dem
Thema, Menschen zu bilden und dafür zu sorgen, dass
faire und soziale Arbeitsbedingungen in Deutschland
Einzug halten. So ist die SPD groß geworden. Wir stell-
ten uns im 20. Jahrhundert die Aufgabe, das in Deutsch-

land durchzusetzen und in Europa auf den Weg zu brin-
gen. Im 21. Jahrhundert ist die Frage, ob es uns gelingt,
diese Standards über Deutschland und Europa hinaus in-
ternational durchzusetzen. Dafür müssen wir arbeiten,
und zwar vehement.


(Beifall bei der SPD)


Sie sagen, Sie seien bei der Formulierung der Ziele
mit uns einig. Das ist gut. Aber Sie tun nichts dafür,
diese Ziele durchzusetzen, sondern Sie erweisen sich als
Bremser. Darf ich Ihnen als Beispiel die Arbeits- und
Sozialstandards für Deutschland nennen? Wenn diese
nicht gesetzlich verankert wären, dann wären wir nicht
so weit, auch nicht bei der Mitbestimmung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Darf ich Ihnen als Beispiel die Standards in der Ökologie
nennen? Was war denn mit den freiwilligen Standards in
der Fahrzeugindustrie bezüglich des CO2-Ausstoßes?
Erst die gesetzlichen Festlegungen haben dazu geführt,
dass einheitliche ökologische Standards auf europäischer
Ebene eingeführt worden sind. Genau diesen Weg wol-
len wir jetzt bei der Transparenz unternehmerischen
Handelns in Bezug auf ökologische und soziale Stan-
dards einschlagen.

Der Hauptunterschied zwischen Ihnen und uns ist: Sie
wollen keine gesetzlichen Regelungen. Wir hingegen
glauben, dass wir Standards, dass wir Zertifikate auf eu-
ropäischer und internationaler Ebene brauchen – dafür
setzen wir uns ein –, um auf der einen Seite die Arbeits-
bedingungen in den jeweiligen Zulieferländern zu ver-
bessern und auf der anderen Seite den Verbraucherinnen
und Verbrauchern die Möglichkeit zu geben, sich verant-
wortungsbewusst zu verhalten.

Meine Aufgabe als Wirtschaftspolitiker ist es, die Ba-
lance zwischen einerseits diesem Anspruch und anderer-
seits dem, was auf die Unternehmen zukommt, herzu-
stellen. Herr Wadephul, Herr Kober, Herr Lange, Sie
haben den Antrag nicht gründlich genug gelesen. Wir
wollen diese Balance herstellen, und zwar wie folgt:

Erstens. Wir wollen dafür sorgen, dass es einen fairen
Wettbewerb in Deutschland gibt. Das hat gar nichts mit
den Arbeitsbedingungen vor Ort zu tun.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen, dass die Unternehmen belohnt werden, die
sich richtig verhalten, und diejenigen unter Druck gera-
ten, die sich beispielsweise durch billige Zulieferer,
durch Kinderarbeit oder durch unmögliche Arbeitsbe-
dingungen einen Vorteil verschaffen. Das ist gut für die
Unternehmen.

Zweitens. Wir wollen, dass die Prüfergebnisse durch
eine neutrale Prüfinstanz evaluiert werden. Sie werden
so veröffentlicht, dass das Ergebnis und die relevanten
Informationen der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt
werden. Das heißt, wir haben uns auch über den Daten-
schutz Gedanken gemacht. Nicht jeder soll die Wert-
schöpfungskette eines jeden Wettbewerbers kennen.





Wolfgang Tiefensee


(A) (C)



(D)(B)


Drittens. Wir wollen zunächst die großen Unterneh-
men, die weltweit verflochten sind, in den Blick nehmen
und erst in einer zweiten Phase die kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen einbeziehen.

Viertens. Es geht darum, dass wir Regelungen, Stan-
dards und Zertifikate einführen, die auf der internationa-
len Ebene vergleichbar sind. Auch im europäischen
Maßstab können wir so bessere Wettbewerbsbedingun-
gen herstellen. Das machen wir vor folgendem Hinter-
grund: In Deutschland gibt es einige wenige schwarze
Schafe; viele verhalten sich vorbildlich. Damit wir die
schwarzen Schafe finden, damit wir die Wettbewerbsbe-
dingungen für diejenigen verbessern, die sich ordentlich
verhalten, damit wir den Verbraucherinnen und Verbrau-
chern die Möglichkeit geben, sich vernünftig zu infor-
mieren und zu entscheiden, und vor allen Dingen um da-
für zu sorgen, dass sich weltweit Schritt für Schritt
Standards durchsetzen, brauchen wir diese fest verein-
barten Regelungen. Die Leitsätze der OECD für multi-
nationale Unternehmen sind für uns Richtschnur; sie
sind das Geländer, an dem entlang wir uns bewegen.

Insbesondere mit Blick auf die weltweite Verantwor-
tung der Christlich Demokratischen Union und die An-
sprüche einer Fraktion, die sich angeblich um den fairen
Wettbewerb in Deutschland kümmert, fordere ich Sie
auf, unserem Antrag zuzustimmen.

Vielen Dank.

(Beifall bei der SPD)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721914200

Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Heinz

Golombeck das Wort.

(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Heinz Golombeck (FDP):
Rede ID: ID1721914300

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Wenn wir wesentliche Forderungen, die
dem vorliegenden Antrag zugrunde liegen, umsetzen
würden, könnte man wohl nicht mehr von einer freiwilli-
gen gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung
sprechen; denn eines der Kernelemente von CSR stellt
die Freiwilligkeit dar. CSR ist per Definition, so das ge-
meinsame Verständnis dieser Regierungskoalition und
des Nationalen CSR-Forums, freiwillig und geht über
gesetzliche Vorgaben hinaus.


(Beifall bei der FDP)

Unternehmen, die CSR praktizieren, gehen freiwillig

über ihre gesetzlichen Verpflichtungen hinaus, weil sie
der Auffassung sind, dass dies in ihrem langfristigen In-
teresse liegt. Die hier geforderten Gesetzesinitiativen für
eine verpflichtende nichtwirtschaftliche Berichterstat-
tung von Unternehmen sehen wir skeptisch. Das vielfäl-
tige gesellschaftliche Engagement der Unternehmen darf
nicht durch eine Verpflichtung zur Berichterstattung
durchkreuzt werden. Freiwillig Verantwortung für Ge-
sellschaft und Umwelt zu übernehmen, das sind die
Grundpfeiler von CSR.

Grundsätzlich stimmen wir allerdings mit den Zielen
des Antrags überein. Gesellschaftliche Verantwortung

von Unternehmen gewinnt national wie international zu-
nehmend an Bedeutung. Diese Regierungskoalition ist
dabei, einen breiten Dialog auf diesem Gebiet fortzufüh-
ren und die Bedeutung der gesellschaftlichen Verantwor-
tung von Unternehmen in Wirtschaft und Gesellschaft zu
verbreiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es ist wichtig, dass wir Rahmenbestimmungen vorge-
ben. Die Standards dann auch durchzusetzen, gelingt nur
durch das verantwortliche Handeln von Unternehmen.
Schon zu Beginn dieser Legislaturperiode, im Okto-
ber 2010, haben wir eine „Nationale Strategie zur gesell-
schaftlichen Verantwortung von Unternehmen“ – als Ak-
tionsplan CSR – beschlossen. Damit ist ein Meilenstein
unserer CSR-Politik erreicht.

Das ist aber nur ein Beispiel. Die Forderungen des
hier diskutierten Antrags lauten, einen breiten Dialog
durch die Stärkung des Nationalen CSR-Forums und die
Beteiligung der Zivilgesellschaft zu führen. Dies hat
längst stattgefunden. Laufende bundesweite CSR-Preis-
ausschreiben, -Studien und -Förderprogramme steigern
die öffentliche Anerkennung von CSR-Aktivitäten. So
wird die Kommunikation zwischen Menschen und Insti-
tutionen gefördert, Ideen werden weiterentwickelt. Vor
wenigen Wochen erst fand ein Expertendialog zur euro-
päischen CSR-Debatte gemeinsam mit dem Nationalen
CSR-Forum in Brüssel statt.

Viele Ziele und Maßnahmen unseres Aktionsplans
CSR spiegeln sich in den Aktionsplänen anderer Mit-
gliedstaaten und auch in der Mitteilung der Europäi-
schen Kommission wider. Wir begrüßen die Bemühun-
gen der Europäischen Kommission, ihre eigene CSR-
Strategie fortzuentwickeln.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Abzuwarten bleibt, wie die EU-Kommission den an-
gekündigten Entwurf zur Nachhaltigkeitsberichterstat-
tung von Unternehmen konkret regeln wird. Die Be-
kanntmachung und weitere Verbreitung internationaler
Standards sind wichtig, um freiwillige Selbstorganisa-
tionsprozesse von Unternehmen und Branchen zu för-
dern. Von besonderer Bedeutung sind für uns die OECD-
Leitsätze für multinationale Unternehmen und der UN
Global Compact. Diese können Unternehmen maßgebli-
che Orientierung geben, wo es an weltweit verbindlichen
Regelungen mangelt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Regierungskoalition ist auf einem guten Weg,
die Weiterentwicklung und Modernisierung von CSR in
Europa und den Mitgliedstaaten zu einer Zukunftsauf-
gabe zu machen. Nur im Zusammenspiel von Politik und
den Kräften der Gesellschaft kann diese Aufgabe bewäl-
tigt werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721914400

Das Wort hat die Kollegin Karin Roth für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1721914500

Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-

legen! Beim Thema „ökologische und soziale Unterneh-
mensverantwortung“ geht es um Unternehmen. Aber es
geht auch um Menschen, nicht nur um Menschen bei
uns, sondern in der ganzen Welt. Da wir die Eigenschaft
haben, weltweit einzukaufen – nicht wir, sondern die
Unternehmen –, haben wir auch die Verantwortung, da-
rauf zu achten, ob das, was in anderen Ländern mit Ar-
beitskräften passiert, den Menschenrechten entspricht.
Herr Kober erzählt so wunderbar, dass sein Minister
Niebel eine menschenrechtsbasierte Entwicklungspolitik
betreibt. Abgesehen davon – aber das ist erst einmal
nicht so wichtig –, dass weder bei der CDU/CSU noch
bei der FDP Entwicklungspolitiker anwesend sind, muss
daran erinnert werden, dass die menschenrechtsbasierte
Politik nicht von Ihnen erfunden worden ist. Eingeführt
hat sie Rot-Grün.


(Pascal Kober [FDP]: Es geht hier nicht um Menschenrechte! Was haben Sie eigentlich jahrelang gemacht?)


Das Schlimmste ist, dass Sie einfach nur ein Papier
machen und sich nicht fragen: Wirkt das? – Die Wirk-
samkeit ist doch entscheidend. Sie erklären uns, dass es
natürlich in Bangladesch und in anderen Ländern Ar-
beitsunfälle und andere Vorkommnisse gab. Aber was
schließen Sie daraus? Gar nichts. Sie schauen zu und sa-
gen: Wir warten auf die Europäische Union.


(Pascal Kober [FDP]: Das stimmt nicht! Wir haben eine eigene Strategie!)


Das kann so nicht weitergehen. Deshalb bin ich sehr
froh, dass die SPD-Fraktion hier deutlich sagt, was wir
wollen; denn Freiwilligkeit ist kein Rezept, weder natio-
nal noch international.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wie sähe es in Deutschland aus, wenn es in den Unter-
nehmen keine gesetzliche Mitbestimmung gäbe? Wie
sähe es in Deutschland aus, wenn es keine Tarifverträge
gäbe? Wie sähe es in Deutschland aus, wenn es keine so-
zialen Sicherungssysteme wie die Rentenversicherung
gäbe? Düster sähe es aus. Eine Freiwilligkeit kann also
nicht das zentrale Thema sein. Das Primat der Politik ist
heute gefragt, national wie international. Dazu gehört die
Verantwortung der Unternehmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Auf der Welt – nicht in Deutschland, aber in den Län-
dern, über die wir heute reden: Usbekistan, Indien, Ban-
gladesch und vielen anderen Ländern, auch China – ar-
beiten 215 Millionen Kinder in sklavenähnlichen
Verhältnissen. Das heißt doch, dass wir uns im Rahmen

unserer Verantwortung darum kümmern müssen, wie in
diesen Ländern produziert wird. Wir können nicht ein-
fach sagen: Wir wissen nichts; also haben wir damit
auch nichts zu tun. – Nein, die Verantwortung ist nicht
teilbar, sie ist wahrzunehmen von uns allen: von den
Verbraucherinnen und Verbrauchern, aber auch von den
Unternehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Textilindustrie ist doch nur die Spitze des Eis-
bergs. Es geht nicht nur um Billigprodukte, es geht auch
um Luxusprodukte. Eigentlich wissen wir das auch. Das
Schlimmste ist: Jetzt, wo die Europäische Kommission
bereit ist, verpflichtende Regelungen einzuführen, blo-
ckiert und bremst die Bundesregierung, obwohl bei die-
sem Thema in Europa schon ein Konsens hergestellt
war. Wie kommen Sie eigentlich dazu, das europäische
Sozialmodell nicht zu akzeptieren?


(Pascal Kober [FDP]: Weil es nicht gut ist!)


Wie kommen Sie eigentlich dazu, die Initiativen der Eu-
ropäischen Union nicht zu unterstützen? Bundesarbeits-
ministerin von der Leyen versteckt sich hinter Herrn
Rösler. Von Herrn Rösler erwarten wir nichts; das ist
klar.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber von Frau von der Leyen würden wir erwarten, dass
sie ihre Aufgabe wahrnimmt und im Rahmen der Ver-
handlungen des Ministerrats der Europäischen Union die
Position zumindest so formuliert, dass wir in die Lage
versetzt werden, unseren Aufgaben gerecht zu werden.

Ich sage Ihnen: Bei den OECD-Leitsätzen haben Sie
gebremst; sie kamen trotzdem. ILO-Kernarbeitsnormen
gibt es schon seit dreißig Jahren. Sie jetzt umzusetzen,
das ist unsere Verantwortung, und dafür kämpfen wir.


(Pascal Kober [FDP]: Dazu hatten Sie eine Menge Zeit, und zwar sieben Jahre! Kinderarbeit gab es schon zu Ihrer Regierungszeit!)


Unser Vorschlag lautet deshalb: Verbindlichkeit, Trans-
parenz und Vergleichbarkeit. Wenn Sie das alles nicht
wollen, ist es, glaube ich, an der Zeit, dass wir Sie ablö-
sen. Sonst wird es mit der Welt und dem, was wir brau-
chen, nichts.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wenn Europa sich auf den Weg macht, die Arbeitsbedin-
gungen – –


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721914600

Kollegin Roth, Sie haben im Eifer der Rede offen-

sichtlich das Signal übersehen; aber Sie müssten bitte
zum Schluss kommen.


(Zuruf von der FDP: Ich denke auch, das reicht! – Paul Lehrieder [CDU/CSU]: Es wird immer besser!)







(A) (C)



(D)(B)



Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1721914700

– Ich kann mir vorstellen, dass Sie das nicht hören

mögen.


Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721914800

Das müssen Sie jetzt wirklich an einem anderen Ort

weiter klären.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1721914900

Ich sage Ihnen: Das, was notwendig ist, wird kom-

men, auch ohne Sie.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721915000

Der Kollege Peter Weiß hat jetzt für die Unionsfrak-

tion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Peter Weiß (CDU):
Rede ID: ID1721915100

Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-

gen! Dass bis zum heutigen Tag in manchen Regionen
dieser Welt katastrophale Arbeitsverhältnisse herrschen,
grundlegende Arbeitnehmerrechte nicht geachtet wer-
den, Menschen in Schuldknechtschaft ausgebeutet wer-
den, Kinder nicht in die Schule können, sondern unter
unwürdigen Produktionsverhältnissen in Fabriken ge-
schickt werden, das ist ein Skandal, den wir als Deut-
scher Bundestag zu Recht anprangern.


(Beifall bei der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: Dann stimmen Sie unserem Antrag zu!)


Wer aber nach der Lösung fragt, der sollte die Verant-
wortungen klar und eindeutig benennen. Es gibt sicher
eine Verantwortung der Unternehmen. Nehmen wir zum
Beispiel die sogenannten Kernarbeitsnormen der Inter-
nationalen Arbeitsorganisation. Durch die Ratifizierung
dieser Konventionen werden diese unmittelbar geltendes
nationales Recht. Das gilt auch für Deutschland, das gilt
aber auch für jedes andere Land dieser Welt.

Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, es ist
zuallererst die Pflicht von Unternehmen in den jeweili-
gen Ländern, sich an Recht und Gesetz zu halten, und es
ist zuallererst die Zuständigkeit der dortigen nationalen
Regierungen, dafür zu sorgen, dass Recht und Gesetz in
ihren Ländern auch durchgesetzt werden. Da liegt die
erste Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aus dieser ersten Verantwortung können wir die Regie-
renden der Staaten dieser Welt nicht entlassen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das reicht aber nicht!)


Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, sind
gerade wir Deutsche mit unseren Instrumenten der inter-
nationalen Zusammenarbeit dabei, Regierungen, die
schwach sind, die diese Rechte und Gesetze nicht durch-

setzen können, zu unterstützen. Das geschieht durch
mehrere Programme der Regierungsberatung, zum Bei-
spiel durch den Aufbau funktionierender Umweltminis-
terien und Umweltverwaltungen. Das ist ein großes Pro-
jekt der deutschen Entwicklungszusammenarbeit.

Wir sind auch unterwegs zum Beispiel mit unseren
politischen Stiftungen. Hier darf ich namentlich die
Friedrich-Ebert-Stiftung nennen, die dabei ist, mit ihrem
Gewerkschaftsprogramm Gewerkschaftsbildung überall
in den Ländern dieser Welt zu unterstützen, weil funktio-
nierende Gewerkschaften ein wichtiger Beitrag zur Ver-
besserung sozialer Arbeitsbedingungen sind.


(Beifall bei der CDU/CSU – Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das kann doch nicht die Aufgabe der Unternehmen ersetzen!)


Also: Zuallererst – ich glaube, da kann man der deut-
schen internationalen Zusammenarbeit nichts vorwerfen;
da sind wir vorbildlich – kommt es darauf an, dass die
Länder dieser Welt selber dafür sorgen, dass soziale und
ökologische Standards, dass das geltende Recht in die-
sen Ländern – Indien hat eine moderne Arbeitsgesetzge-
bung; sie wird nur nicht eingehalten –, dass eine solche
moderne Gesetzgebung eingehalten, kontrolliert und
durchgesetzt wird. Das ist das Allererste, da liegt die
erste Verantwortung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Zweite ist: Zu Recht appellieren wir an die Ver-
antwortung auch der Unternehmen, übrigens auch der
Verbraucherinnen und Verbraucher. Ich glaube, auch da-
für können wir gute Beispiele nennen. Denken Sie an
das Thema Kinderarbeit beim Knüpfen von Teppichen.


(Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Niebel, wollten Sie sagen!)


– Langsam. – Wir waren es, die zum Beispiel mit deut-
scher Hilfe finanziell geholfen haben, ein Siegel wie
Rugmark einzuführen, damit Verbraucherinnen und Ver-
braucher sehen: Dieses ist okay und jenes ist nicht okay. –
So sind wir auch in vielen anderen Bereichen bereit und
in der Lage, mit deutscher Hilfe solche Siegel mit zu be-
gründen und mit zu unterstützen, die eine Unterschei-
dung möglich machen.

Sie sollten nicht verschweigen, dass wir in der letzten
Legislaturperiode des Deutschen Bundestages das Ver-
gaberecht verändert haben. Heute können bei öffentli-
chen Ausschreibungen ökologische und soziale Stan-
dards hineingeschrieben werden. Das ist eine große
Veränderung und eine wichtige Reform, die wir in der
letzten Legislaturperiode miteinander beschlossen ha-
ben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, bei der Stra-
tegie, verantwortungsbewusste Unternehmensführung
unter dem Kürzel CSR überall zu etablieren, geht es bei
uns in Deutschland und in Europa darum, dass Unter-
nehmen zusätzliches Engagement erbringen für die Ge-
sellschaft, für soziale Standards, für Ökologie. Dass sich
Unternehmen bei uns an Gesetze halten, ist für uns eine
Selbstverständlichkeit.





Peter Weiß (Emmendingen)



(A) (C)



(D)(B)



(Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Das stimmt aber nicht!)


Sie sollen mehr leisten. Deswegen ist die CSR-Strategie
sowohl national als auch europäisch darauf ausgerichtet,
dass Unternehmen freiwillig mehr tun und selbstver-
ständlich auch für sich und ihre Produkte werben kön-
nen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Keine Tarifverträge, keine Betriebsräte!)


Die Bundesregierung hat den CSR-Preis, der dem-
nächst in vier unterschiedlichen Kategorien verliehen
wird, ausgeschrieben, damit sich Unternehmen bewer-
ben und zeigen können: Jawohl, wir machen freiwillig
mehr. – Mit diesem Preis werden gute Beispiele heraus-
gestellt; denn nichts wirkt besser als gute Beispiele.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jutta Krellmann [DIE LINKE]: Deswegen machen es auch so viele nicht!)


Hier ist zu Recht die Verantwortung der großen inter-
national tätigen Unternehmen angesprochen worden. Es
geht aber natürlich genauso um die Unternehmen kleine-
rer Struktur. Deswegen ist es ein wichtiger Bestandteil
der CSR-Strategie in Deutschland, dass wir gerade mitt-
lere und kleinere Unternehmen durch Qualifizierungs-
maßnahmen unterstützen, damit auch sie Konzepte für
verantwortliche Unternehmensführung in ihren Betrie-
ben einführen können.

Es wird nun gefordert, wir sollten Berichtspflichten
im Hinblick auf soziale und ökologische Standards
durch europäische Gesetzgebung verbindlich vorschrei-
ben. Hier muss man sich allerdings die Frage stellen,
was unsere bisherige Erfahrung ist. Wenn wir ehrlich
sind, dann ist unsere bisherige Erfahrung mit internatio-
nalen und europäischen Vorschriften dieser Art, dass
letztlich Mindeststandards definiert werden. Ich sehe die
große Gefahr, dass das zusätzliche freiwillige Engage-
ment, dass wir jetzt schon ausgelöst haben, kaputtge-
macht wird, wenn sich alle nur noch an Mindeststan-
dards à la Europa oder internationalen Mindeststandards
ausrichten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Gabriele Hiller-Ohm [SPD]: Das ist doch lächerlich! – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Unsinn sondergleichen!)


Deswegen muss man sich ehrlich die Frage stellen, ob
das nicht ein Schuss in den Ofen wäre, wodurch das, was
wir durch die CSR-Strategie national in Gang gesetzt ha-
ben, zu einem guten Teil wieder ad acta gelegt werden
würde, weil man sich nur noch an die Berichtspflichten
hält, die in einer europäischen Richtlinie stehen, wäh-
rend der Rest vergessen wird.


(Gabriele Lösekrug-Möller [SPD]: Ich würde einmal die Kirche fragen! – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum sind Sie auch gegen den Mindestlohn! Das weiß ich schon!)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich bin deshalb
der Überzeugung, dass wir mit unserem Weg der natio-
nalen CSR-Strategie, auf dem wir verantwortungsbe-
wusste Unternehmensführung in Unternehmen bei uns in
Deutschland und international befördern, auf dem wir
kleinen und mittleren Unternehmen Qualifizierungsan-
gebote machen, damit sie ebenfalls an dieser Strategie
teilhaben und sie bei sich umsetzen können, und auf dem
wir gute Beispiele öffentlich belobigen und herausstel-
len, international wie national mehr Erfolg haben wer-
den als durch kleinkarierte Vorschriften, weil durch ver-
antwortungsbewusste Unternehmensführung mehr für
Ökologie, mehr für die Gesellschaft, mehr für die sozia-
len Verhältnisse und mehr für die soziale Lage der Ar-
beitnehmerinnen und Arbeitnehmer getan wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721915200

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Arbeit und Soziales zu dem Antrag der
Fraktion der SPD mit dem Titel „Transparenz für soziale
und ökologische Unternehmensverantwortung herstellen –
Unternehmerische Pflichten zur Offenlegung von Ar-
beits- und Umweltbedingungen auf europäischer Ebene
einführen“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner Be-
schlussempfehlung auf Drucksache 17/12110, den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/11319 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koalitions-
fraktionen gegen die Stimmen der SPD-Fraktion und der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen bei Enthaltung der
Fraktion Die Linke angenommen.

Zusatzpunkt 6. Interfraktionell wird die Überweisung
des Gesetzentwurfes auf Drucksache 17/11686 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. Gibt es dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist
nicht der Fall. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 5 a bis 5 e sowie
die Zusatzpunkte 7 und 8 auf:

5 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Zweiten Gesetzes zur

(2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz – 2. KostRMoG)


– Drucksache 17/11471 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Prozesskostenhilfe- und Beratungs-
hilferechts

– Drucksache 17/11472 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales





Vizepräsidentin Petra Pau


(A) (C)



(D)(B)


c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Einfüh-
rung von Kostenhilfe für Drittbetroffene in
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof

(EGMR-Kostenhilfegesetz – EGMRKHG)

– Drucksache 17/11211 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe

d) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Begrenzung der
Aufwendungen für die Prozesskostenhilfe

(Prozesskostenhilfebegrenzungsgesetz – PKHBegrenzG)

– Drucksache 17/1216 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Finanzausschuss 
Ausschuss für Arbeit und Soziales 
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

e) Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des Be-
ratungshilferechts
– Drucksache 17/2164 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

ZP 7 Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Stärkung des Er-
folgsbezugs im Gerichtsvollzieherkostenrecht
– Drucksache 17/5313 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

ZP 8 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingrid
Hönlinger, Josef Philip Winkler, Jerzy Montag,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Kostenrechtsmodernisierung bei Vertretung in
Asylverfahren und Übersetzungsleistungen
nachbessern
– Drucksache 17/12173 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Bundes-
ministerin der Justiz, Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger.


(Beifall bei der FDP)


Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Ein bezahlbarer Zugang zum Recht
für die Bürgerinnen und Bürger und eine gut funktionie-
rende Justiz sind wesentliche Standortvorteile für

Deutschland. Diese müssen wir auch in Zukunft erhal-
ten.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Detlef Seif [CDU/CSU])


Mit dem Ihnen heute zur Beratung vorliegenden Ge-
setzentwurf soll die in ihren Grundzügen noch aus dem
Jahr 1936 stammende Kostenordnung endlich durch ein
modernes Gerichts- und Notarkostengesetz ersetzt wer-
den. Ebenso werden die Vorschriften der Justizverwal-
tungskosten zeitgemäß neu geregelt und die alten Nor-
mierungen von 1940 abgelöst.

Das neue Gerichts- und Notarkostengesetz – es regelt
zum Beispiel die Gebühren in Grundbuch- und Nach-
lasssachen – wird moderner, einfacher, transparenter.
Die Regelungen werden an die veränderten europäischen
Anforderungen und die Entwicklung im Bereich der
elektronischen Datenverarbeitung angepasst. Also: Wir
schaffen auch mehr Rechtssicherheit.


(Beifall bei der FDP sowie des Abg. Detlef Seif [CDU/CSU])


Im Bereich der Gerichtskosten werden die derzeit
über die gesamte Kostenordnung verteilten Wertregelun-
gen zusammengeführt und systematisiert. Wir wollen
damit Schwierigkeiten bei der Streitwertbestimmung mi-
nimieren, und wir hoffen, dass sie entfallen. In gerichtli-
chen Streitsachen sollen die Gerichtsgebühren um
durchschnittlich 12 Prozent steigen, gleichmäßig über
die Instanzen. Berufungen werden nicht zusätzlich ver-
teuert.

Auch das neue Notarkostenrecht wird transparenter.
Zum Beispiel entsteht bei jedem Beurkundungsvorgang
künftig nur eine Verfahrensgebühr. Zur Modernisierung
des Kostenrechts gehört auch die Anpassung der Gebüh-
ren, Honorare und Entschädigungen in allen Justizkos-
tengesetzen. Dazu gehören auch die Anwaltsgebühren.
Seit über acht Jahren sind die Vergütungen für Anwälte
unverändert geblieben. Linear wurden sie zuletzt 1994
angehoben. Bei den Notaren liegt das inzwischen
25 Jahre zurück. Die Vergütungen werden nun der wirt-
schaftlichen Entwicklung angepasst.

Die Honorare der Sachverständigen und Dolmetscher
richten sich zukünftig nach den Marktpreisen. Auf der
Grundlage einer umfassenden Marktanalyse sollen in
diesen Bereichen die Honorare, orientiert an der aktuel-
len Marktsituation, neu festgesetzt werden. Das gilt auch
für die Übersetzer, für die sich Bündnis 90/Die Grünen
in ihrem Antrag verwenden und die wir nicht anders als
die übrigen Gruppen behandeln.

Die Erwartungshaltung ist, dass sich damit jährliche
Mehreinnahmen der Länder von geschätzten 177 Millio-
nen Euro netto ergeben werden.

Insgesamt geht es bei diesem nüchternen Thema, bei
dem wir uns mit vielen Zahlen befassen, darum, mehrere
berechtigte Anliegen zu einem vernünftigen Kompro-
miss zusammenzuführen, nämlich dem berechtigten An-
liegen der Bürgerinnen und Bürger, dass für sie Justiz
bezahlbar bleibt und sie den Zugang zum Recht haben.





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber genauso – wir haben darüber intensiv Gespräche
geführt – werden auch die Anliegen der Landesjustizver-
waltungen, der Länderjustizministerinnen und -minister
berücksichtigt, die immer auch die Kosten der Justiz im
Blick haben müssen, die zwar natürlich nicht ganz, aber
in einem gewissen Umfang durch die Gebühren gedeckt
werden. Wir müssen sehen, dass die, die wichtige Bera-
tungsaufgaben wahrnehmen, auch als Organ der Rechts-
pflege, in diesem Paket entsprechend berücksichtigt
werden.

Ich glaube, wir haben einen guten Vorschlag gemacht,
der hoffentlich mit Ihrer Unterstützung den Bundestag
passiert und dann natürlich in Abstimmung mit den Ver-
tretern der Länder auch im Bundesrat auf Zustimmung
stößt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Christoph Strässer [SPD]: So nicht!)


Meine sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen, wir
beraten heute in erster Lesung noch über einen zweiten
Gesetzentwurf, nämlich den Entwurf eines Gesetzes zur
Änderung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilfe-
rechts. Damit soll sichergestellt werden, dass die – hie-
rauf haben die Länder seit vielen Jahren immer wieder
hingewiesen – eher begrenzten staatlichen Mittel denje-
nigen zukommen, die sie wirklich benötigen. Um eine
Größenordnung zu nennen: Aktuell beläuft sich die Pro-
zesskostenhilfe auf ungefähr 500 Millionen Euro jähr-
lich. Die Prozesskostenhilfe ist eine wichtige soziale Er-
rungenschaft. Natürlich muss sie erhalten bleiben. Vor
diesem Hintergrund hat die Bundesregierung einen et-
was anderen Ansatz gewählt, als wir ihn im Bundesrats-
entwurf finden. Ich verstehe die Länder, dass sie ihren
Blick auf die Länderjustizhaushalte richten. Wir haben
einen etwas anderen Zugang gewählt. Wir sagen im Re-
gierungsentwurf ausdrücklich – eine missverständliche
und falsche Berichterstattung ist hier klar zu korrigieren –:
Für sozial Schwächere, also für Menschen, die Hartz IV
oder Sozialhilfe beziehen, wird es keine Änderungen ge-
ben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie werden auch künftig ratenfreie Prozesskostenhilfe
erhalten, wenn dafür die Voraussetzungen vorliegen. Der
Entwurf lässt den Freibetrag für den Antragsteller, der
10 Prozent über dem höchsten Sozialhilferegelsatz liegt,
völlig unangetastet.

Wer dagegen wirtschaftlich in der Lage ist, einen Bei-
trag zur Rückzahlung der gewährten Prozesskostenhilfe
zu leisten, soll dies künftig in einem etwas größeren Um-
fang tun als nach geltendem Recht; denn durch die Pro-
zesskostenhilfe soll derjenige, der es nötig hat, dem
Durchschnittsverdiener gleichgestellt, aber nicht besser-
gestellt werden. Das ist übrigens ständige Rechtspre-
chung des Bundesverfassungsgerichts. Wer zur Finan-
zierung eines Prozesses beitragen kann, der soll das
Prozessrisiko im Rahmen seiner Leistungsfähigkeit tra-
gen und nicht vollständig auf den Staat abwälzen kön-

nen. Unter diesem Gesichtspunkt enthält der Gesetzent-
wurf eine Reihe von Änderungen, die die Gerichte
besser als bisher in die Lage versetzen sollen, die wirt-
schaftlichen Verhältnisse eines Antragstellers zu über-
prüfen.

Außerdem soll der zusätzliche Freibetrag für Er-
werbstätige – darauf beziehen sich die Änderungen,
nicht auf die Antragsteller, die Hartz IV oder Sozialhilfe
beziehen – von 50 auf 25 Prozent des höchsten Regelsat-
zes nach SGB XII gesenkt werden. Die Absenkung des
Freibetrags – daran entzündet sich die Diskussion – führt
dazu, dass es ab einem bestimmten Einkommensniveau
häufiger dazu kommen kann, dass die gewährte Prozess-
kostenhilfe in Raten zurückzuzahlen ist, vielleicht auch
nur teilweise. Wir begrenzen – anders als im Bundesrats-
entwurf – die Ratenzahlungshöchstdauer auf insgesamt
72 Monate. Wir wollen nicht, dass ein Empfänger von
Prozesskostenhilfe lebenslang rückzahlungspflichtig
bleibt. Das ginge uns in diesem Zusammenhang zu weit.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir haben auch nicht die Regelung übernommen, wo-
nach ein Empfänger von Prozesskostenhilfe erstrittenen
Unterhalt, wenn er also Ansprüche durchgesetzt hat,
nicht zur Sicherung seines Existenzminimums, sondern
vorrangig zur Rückzahlung der Prozesskostenhilfe auf-
wenden müsste. Das sehen wir nicht vor, weil wir gerade
wollen, dass jemand, der eine Leistung zu Recht erstrit-
ten hat, diese für die Verbesserung seines Existenzmini-
mums verwenden kann.

Es gibt also einige Unterschiede im Vergleich zum
Bundesratsentwurf, aber auch viele Übereinstimmungen.
Es ist eben ein etwas anderes Herangehen, das wir von-
seiten der Bundesregierung gewählt haben. Ich halte das
für vertretbar und angemessen und freue mich auf eine
engagierte Debatte dieser beiden komplexen Gesetzge-
bungsvorhaben.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721915300

Das Wort hat die Ministerin für Justiz und Gleichstel-

lung des Landes Sachsen-Anhalt, Dr. Angela Kolb.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Heinrich L. Kolb (FDP):
Rede ID: ID1721915400

Frau Präsidentin! Frau Bundesministerin der Justiz!

Meine sehr geehrten Damen und Herren Abgeordnete!
Wir sind uns alle einig: Was wäre unsere Demokratie
ohne einen funktionierenden Rechtsstaat? – Was brau-
chen wir dafür? Eine gut ausgestattete, eine funktionsfä-
hige Justiz. Rechtsgewährleistungsanspruch heißt für die
Bürger natürlich Zugang zum Recht, bedeutet aber auch
kurze Verfahrensdauern. Was brauchen wir, um im Sinne
der Bürger möglichst kurze Verfahrensdauern zu ge-
währleisten? Wir brauchen eine angemessene Personal-
ausstattung. Wenn man sich den Personalkörper der Jus-





Ministerin Dr. Angela Kolb (Sachsen-Anhalt)



(A) (C)



(D)(B)


tiz in den einzelnen Bundesländern anschaut, stellt man
fest, dass eine angemessene Personalausstattung schon
heute nicht überall vorhanden ist.

Die Länder sind nicht untätig. Wir haben in den letz-
ten Jahren viel investiert, um den Bürgerinnen und Bür-
gern moderne Dienstleistungen auch im Bereich der Jus-
tiz anbieten zu können. Das Handelsregister funktioniert
nur noch elektronisch, wir haben ein elektronisches
Mahnverfahren, elektronische Postfächer, und wir haben
den Beschluss gefasst, bis zum Jahr 2020 einen umfas-
senden elektronischen Rechtsverkehr umzusetzen. Wie
wir das hinbekommen, wissen wir heute noch nicht;
denn woher das Geld dafür kommen soll, steht in den
Sternen. Angesichts der Situation der Länderhaushalte,
auch vor dem Hintergrund der beschlossenen Schulden-
bremse, steht Geld nun einmal nur beschränkt zur Verfü-
gung.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, es bedarf
also keiner großen Debatte darüber, ob eine Kosten-
rechtsmodernisierung notwendig ist. Sie ist dringend
notwendig. Leider bleibt der Entwurf der Bundesregie-
rung in einigen Punkten hinter den Erwartungen der
Länder zurück. Wir haben ernsthaft Sorge, ob uns auch
zukünftig die notwendigen Ressourcen zur Verfügung
stehen, um auch dann den Justizgewährleistungsan-
spruch in hoher Qualität erfüllen zu können.


(Beifall bei der SPD)


Das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz soll ja ei-
nen langen Prozess abschließen, der 2001 begonnen hat.
Ziel war die Vereinfachung und mehr Transparenz. Ich
glaube, dieses Ziel ist in großen Teilen auch erreicht
worden. In diesem letzten großen Komplex geht es jetzt
um sehr schwierige Fragen. Das hat die Bundesministe-
rin völlig zu Recht angeführt. Es geht im Wesentlichen
um die Erhöhung der Anwaltsgebühren und der Ge-
richtsgebühren. Es geht richtigerweise zunächst einmal
um die Frage, inwieweit ein Inflationsausgleich notwen-
dig ist.

Die Anwaltsgebühren sind seit 1994 nicht linear er-
höht worden. Wenn man sich demgegenüber die Kosten-
steigerungen bei Personal, Energie und Mieten anschaut,
ist aus unserer Sicht eine Erhöhung notwendig. Anwälte
sind ein essenzieller Bestandteil des Rechtsstaates. Sie
gewährleisten den Zugang des Bürgers zum Recht. Da-
her haben sich die Länder für eine Gebührenerhöhung
ausgesprochen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des Abg. Jens Petermann [DIE LINKE])


Im Hinblick auf den zweiten Teil, die Erhöhung der
Gerichtsgebühren, sehen wir die Entwicklung etwas an-
ders als die Bundesministerin der Justiz. Wir haben ver-
sucht, nachzuvollziehen, wie man auf die geschätzte Er-
höhung um 177 Millionen Euro auf der Einnahmeseite
kommt. Wir sehen das anders. Wir haben die Befürch-
tung, dass nach Inkrafttreten des 2. Kostenrechtsmoder-
nisierungsgesetzes, sofern es in dieser Form in Kraft tre-
ten sollte, die Ausgaben für die Justiz steigen. Das heißt,
dass sich der Kostendeckungsgrad der Justiz weiter ver-

schlechtern wird. Der Kostendeckungsgrad der Justiz hat
sich in den letzten Jahren von ursprünglich 48 Prozent
auf ungefähr 44 Prozent verschlechtert. Länder wie
Sachsen-Anhalt liegen schon bei 33 Prozent. Das zeigt,
dass uns immer weniger Geld für die Justiz zur Verfü-
gung steht.

Wir sind der Meinung, dass die Gebührenerhöhung,
die für die Anwälte zu Recht mit diesem Gesetzentwurf
umgesetzt werden soll, auch für die Gerichte gelten
muss. Wir sind nicht der Meinung, dass das dazu führt,
dass die Bürgerinnen und Bürger in Zukunft keinen Zu-
gang mehr zum Recht haben. Wenn man unterstellen
würde, dass das der Fall wäre, müsste man annehmen,
dass bereits vor 1994, also vor der letzten Änderung der
Wertgebühren, ein verfassungswidriger Zustand bestan-
den hätte, weil wir nur den Ausgleich im Hinblick auf
die Inflation, auf die tatsächlich erhöhten Kosten for-
dern. Insoweit appelliere ich an dieser Stelle nochmals,
dafür Sorge zu tragen, dass das, was zu Recht für die An-
wälte gelten soll, auch für die Justiz gilt.

Die Länder fordern eine Steigerung der Gerichtsge-
bühren im GKG und im FamGKG um 20 Prozent. Das
entspricht gerade einmal einem angemessenen Infla-
tionsausgleich, versetzt uns in die Lage, auch in Zukunft
qualitativ hochwertige Justizdienstleistungen anzubie-
ten, und bietet die Gewähr, dass sich die Personalausstat-
tung in den einzelnen Ländern in Zukunft nicht weiter
verschlechtert.

Ich möchte noch darauf hinweisen, dass sich die Jus-
tizministerinnen und Justizminister der Länder schon ei-
nige Jahre mit dem Thema „Kostendeckungsgrad der
Justiz“ beschäftigen. Wir haben im Rahmen der Justiz-
ministerkonferenz im Jahre 2010 einen Beschluss ge-
fasst, der die Sorge zum Ausdruck bringt, dass sich der
Kostendeckungsgrad immer weiter verschlechtert. Un-
sere Erwartungen, die aus unserer Sicht auch berechtigt
sind, werden mit diesem Gesetzentwurf deutlich ver-
fehlt.

Lassen Sie mich abschließend noch auf eine Beson-
derheit hinweisen, die zu einer zusätzlichen Verschlech-
terung der Situation in den strukturschwachen Ländern
führt. Die Gebührenerhöhungen, beispielsweise in wert-
trächtigen Grundbuch- und Nachlasssachen, schlagen
hier kaum zu Buche, weil die Gegenstandswerte weit un-
ter dem Bundesdurchschnitt liegen und auch die Anzahl
der entsprechenden Verfahren insgesamt tendenziell
rückläufig ist, sodass wir in diesem Bereich kaum wert-
trächtige Verfahren haben.

Mit Blick auf die Schuldenbremse in den Länderhaus-
halten dürfen die berechtigten Forderungen der Länder
nach einer deutlichen Verbesserung des Kosten-
deckungsgrades nicht ignoriert werden. Ich möchte des-
halb heute auch hier im Bundestag die Gelegenheit nut-
zen, diesen Appell zu erneuern. Dieses Thema hat nicht
an Aktualität verloren. Ich möchte Sie an dieser Stelle
ermutigen, im Sinne der Stellungnahme des Bundesrates
über Nachbesserungen zu dem Gesetzentwurf der Bun-
desregierung nachzudenken.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721915500

Das Wort hat der Kollege Detlef Seif für die Unions-

fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Detlef Seif (CDU):
Rede ID: ID1721915600

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Das

2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz verfolgt im We-
sentlichen drei Ziele: erstens Vereinfachung und Ver-
besserung des Kostenrechts; zweitens Anpassung der
Vorschriften, die sich mit Entschädigungen und Vergü-
tungen beschäftigen, insbesondere bei Rechtsanwälten,
Notaren, Sachverständigen, Dolmetschern und Überset-
zern; und drittens die Sicherstellung eines ausreichenden
Kostendeckungsgrades.

Im Einzelnen: Die neue Regelung soll die Gerichte
entlasten und eine einheitliche Rechtsanwendung sicher-
stellen. Dabei bilden die Modernisierung des Gerichts-
kostenrechts für die freiwillige Gerichtsbarkeit und die
Modernisierung des Notarkostenrechts den Schwer-
punkt. Die bisherige Kostenordnung – die Ministerin hat
es erwähnt – ist wirklich in die Jahre gekommen und
muss neu gestaltet werden. Die Gesetzesnovelle berück-
sichtigt die Anforderungen des zusammenwachsenden
Europas und der elektronischen Datenverarbeitung.

Die Kostenordnung wird durch das Gerichts- und
Notarkostengesetz abgelöst. Die Regelungen für Ge-
richte und Notare werden jetzt deutlich voneinander ge-
trennt; sie waren vorher total ineinander verwoben. Glei-
ches gilt für Gebühren- und Auslagentatbestände. Die
Gebührenstruktur hinsichtlich der Notarkosten wird ver-
einfacht. Zahlreiche neue Geschäftswertvorschriften, die
zum Teil aus der Kostenrechtsprechung resultieren, die
sehr umfangreich war und die Gerichte teilweise extrem
belastet hat, werden in dem Gesetz aufgeführt. Zugleich
werden Auffangtatbestände beseitigt und die Gebühren-
regelungen leistungsorientierter ausgestaltet.

Auch das Justizvergütungs- und -entschädigungsge-
setz wird angepasst. Insbesondere wird die Sachgebiets-
liste zur Eingruppierung der Sachverständigen eindeuti-
ger gefasst. In der gerichtlichen Praxis traten auch hier
bislang erhebliche Abgrenzungsprobleme auf.

Meine Damen und Herren, wer gute Arbeit leistet,
sollte zumindest im Regelfall auch eine angemessene
Vergütung dafür erhalten.


(Beifall des Abg. Stefan Rebmann [SPD] – Burkhard Lischka [SPD]: Das gilt in vielen Bereichen!)


– Bitte, Sie können gern applaudieren. – Deshalb ist na-
türlich nachvollziehbar, dass sich auch die betroffenen
Berufsgruppen sehr intensiv an unserem Gesetzgebungs-
prozess beteiligen.

Die vorgesehenen Änderungen im Rechtsanwaltsver-
gütungsgesetz wurden kritisch begleitet von der Anwalt-
schaft, insbesondere von der Bundesrechtsanwalts-
kammer und dem Deutschen Anwaltverein, die ihre
Kritikpunkte in einer gemeinsamen Stellungnahme sehr

ausführlich dargelegt haben. Beispielsweise führt die
Einführung weiterer Streitwertstufen zu niedrigeren Ge-
bühren als bisher, auch wenn wir eigentlich eine Erhö-
hung anstreben. Die zusätzliche Gebühr für umfangrei-
che Beweisaufnahmen dagegen spielt in der Praxis kaum
eine Rolle, weil sie erst ab dem dritten Termin gegeben
werden soll, Prozesse normalerweise allerdings kaum
mehr als zwei Termine haben.

Auch von Sachverständigen kommt Kritik. Dadurch,
dass die Sachgebietsliste klarer und enger gefasst wird,
kann es im Einzelfall dazu kommen, dass Sachverstän-
dige weniger Honorar einnehmen als vorher. Das liegt
aber nicht daran, dass der Gesetzentwurf falsch ist, son-
dern daran, dass bisher eine Eingruppierung in eine Ho-
norarstufe erfolgte, die nach den Marktpreisen eigentlich
nicht berechtigt war.

Fast alle Beteiligten sehen im Ergebnis das vorlie-
gende Gesamtpaket positiv und drängen auf eine
schnelle Verabschiedung. Die letzte echte Gebührener-
höhung – das haben wir schon gehört – war im Jahr
1994. Es folgte im Jahr 2004 eine strukturelle Verände-
rung des Gesetzes. Sie hat in den meisten Fällen, aber
nicht in allen Fällen zu höheren Gebühren geführt.

Der durchschnittliche Überschuss eines Einzelan-
walts pro Monat liegt zurzeit bei 3 300 Euro. Zieht man
die Beiträge für das Versorgungswerk, die Krankenversi-
cherungsbeiträge und die Steuern ab, landet man bei ei-
nem monatlichen Nettobetrag von ungefähr 1 700 Euro.
Die Zahl spricht für sich selbst. Nach neun Jahren ist es
an der Zeit, eine Erhöhung auf den Weg zu bringen, die
letztlich mehr als einen reinen Inflationsausgleich dar-
stellt.

Meine Damen und Herren, an dieser Stelle noch et-
was zum Stichwort „kalte Progression“. Der durch-
schnittliche Rechtsanwalt rutscht aufgrund des progres-
siven Steuertarifs in eine höhere Stufe, sodass ihm noch
nicht einmal der volle Inflationsausgleich verbleibt,
wenn wir den Gesetzentwurf so verabschieden wie jetzt
angedacht. Die Koalitionsfraktionen haben auch an der
Stelle kein Verständnis dafür, dass der Bundesrat das Ge-
setz zum Abbau dieser nachteiligen Folge, also der kal-
ten Progression, verhindert hat.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Burkhard Lischka [SPD]: Jetzt haben Sie das auch noch untergebracht!)


– Es kommt noch etwas anderes. – Betroffen sind nicht
nur Arbeiter und Angestellte, sondern auch, wie Sie hier
sehen, Selbstständige mit niedrigem und mittlerem Ein-
kommen.

Meine Damen und Herren, auch wenn der vorliegende
Gesetzentwurf im Wesentlichen in Ordnung ist und eine
gute Kompromisslösung darstellt, so ist mir doch eines
aufgefallen: Beim Honorar für die Übersetzer ist noch ein
deutliches Missverhältnis gegeben. Das erkennt man,
wenn man vergleicht, was am Markt erzielbar ist und was
wir vorsehen. Ich denke, bis zur zweiten Lesung sollten
wir hier noch an einer Stellschraube drehen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Detlef Seif


(A) (C)



(D)(B)


Das 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz wird zu
einer Erhöhung des Kostendeckungsgrades führen. Die-
ser ist in den vergangenen Jahren – das haben wir gehört;
das stimmt – unter 50 Prozent gerutscht. Jetzt hat die
Bundesregierung auf der Grundlage von Datenmaterial
gerechnet, das die Länder zur Verfügung gestellt haben,
und ist im Ergebnis zu einem Deckungsgrad von über
51 Prozent gekommen. Deshalb kann ich die Argumen-
tation Ihrer Rede, Frau Dr. Kolb, nicht nachvollziehen.

Höhere Gerichtskosten, wie vom Bundesrat gefordert,
in einem zusätzlichen Volumen von 230 Millionen Euro
erschweren nicht nur den Zugang zur Justiz und zum
Recht; sie würden auch die Belastung für Bürger und
Wirtschaft gegenüber dem, was der Regierungsentwurf
vorsieht, fast verdoppeln.

Man muss sich eines verdeutlichen: Wir leben in ei-
nem föderalen Staat. Es gibt Finanzierungsaufgaben und
Querfinanzierung. Es ist selbstverständlich, dass die
Länder, die für die Justiz zuständig sind, auch für die Fi-
nanzierung aufzukommen haben.


(Beifall der Abg. Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU])


Der volle Betrag ist nur durch einen Teilbetrag abge-
deckt, um den Zugang zum Recht nicht zu erschweren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wenn ich das Feilschen
einiger Bundesländer – ich habe die Signale ja schon
wieder verstanden – um eine weitere Anhebung der
Gerichtskosten sehe, kann ich mir am Schluss meiner
Rede nicht verkneifen, auch auf das vom Bundesrat ver-
hinderte Besteuerungsabkommen mit der Schweiz zu
verweisen. Das habe ich jetzt auch noch eingebunden.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Widerspruch bei der SPD und beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Herr Kollege, Sie machen Ihre Rede ganz kaputt! Das wollen wir nicht hören! – Burkhard Lischka [SPD]: Die Linke macht das immer mit Hartz IV!)


Zum Jahreswechsel, am 31. Dezember 2012, sind
Steuerforderungen des Staates in einer Größenordnung
von 1 Milliarde Euro verjährt.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir haben die Steuerkriminellen im Visier!)


Wir hätten durch das Besteuerungsabkommen 10 Mil-
liarden Euro generiert, die wir den Ländern zur Verfü-
gung gestellt hätten.


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: So ist es!)


Das hätte ausgereicht, um den Mehrbetrag von 230 Mil-
lionen Euro, den sie jetzt fordern, ohne Zins und Zinses-
zins für 43 Jahre – ich betone: 43 Jahre – abzudecken.


(Stefan Rebmann [SPD]: Sie machen einen Sonderrabatt für Steuerkriminelle!)


Mein dringender Appell an Sie, verehrte Kolleginnen
und Kollegen von der Opposition, und an die Mitglieder
des Bundesrates: Wir haben in diesem Jahr zwar
Bundestagswahl, aber die Kostenrechtsmodernisierung
ist zu wichtig. Sie darf keinem wahltaktischen Kalkül
zum Opfer fallen


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ich dachte, keinem Steuerkriminellen!)


wie bereits das Gesetz zur kalten Progression, die steuer-
liche Entlastung bei der energetischen Sanierung und das
Besteuerungsabkommen mit der Schweiz.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Da kann man nur laut lachen! – Burkhard Lischka [SPD]: Originelle Rede!)



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721915700

Das Wort hat der Kollege Jens Petermann für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1721915800

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Mit den heute zu beratenden Gesetzent-
würfen wird der justizpolitische Endspurt der Legislatur
eingeläutet. Neben einigen Verbesserungen planen Sie
aber auch Regelungen, die wieder einmal zu erheblichen
Nachteilen für Bürgerinnen und Bürger führen können.
Die Zeit ist knapp bemessen. Deswegen will ich mich
auf ein paar kritische Punkte beschränken.

Mit den geplanten Änderungen im Prozesskosten-
hilfe- und Beratungshilferecht wollen Sie eine angeblich
weitverbreitete, missbräuchliche Inanspruchnahme von
Prozesskostenhilfe verhindern.


(Marco Buschmann [FDP]: Das sagen auch die Länder, wenn sie beteiligt sind! – Stefan Rebmann [SPD]: Ein Fall von Steuerhinterziehung!)


Denken Sie bitte daran, dass Prozesskostenhilfe von
Menschen benötigt wird, die mit ihrem kärglichen
Einkommen kaum über die Runden kommen und sich
deshalb die Kosten eines Gerichtsverfahrens nur allzu
häufig nicht leisten können. Betroffen sind Menschen,
die gezwungen sind, für Hungerlöhne zu arbeiten, und
vor allem Bezieher von Leistungen nach dem SGB II.
Das sind Menschen, die unter der mangelhaften Hartz-IV-
Gesetzgebung schon genug zu leiden haben.

Frau Ministerin, Sie sagten, dass diese Menschen ge-
rade nicht betroffen sein sollen.


(Zuruf der Abg. Mechthild Dyckmans [FDP])


Daran habe ich erhebliche Zweifel. Wir haben aus den
Entwürfen etwas anderes herausgelesen. Ich denke, dass
wir an der Stelle noch einmal diskutieren müssen. Sie
verfolgen aus unserer Sicht eine andere Zielrichtung: Je
weniger Prozesskostenhilfe, umso weniger Klagen und





Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)


Verfahren, vor allem vor den überlasteten Sozialgerich-
ten, und desto weniger Personalbedarf bei den Gerich-
ten. Sie machen hier letzten Endes den Job der Landes-
finanzminister.

Kostenersparnis für die Landeshaushalte ist das Ziel.
So steht es jedenfalls schwarz auf weiß in Ihrem Gesetz-
entwurf. Sie begründen Ihren Entwurf mit den Initiati-
ven aus dem Bundesrat und gestiegenen Aufwendungen
für Prozesskostenhilfe in den Jahren 2003 bis 2005. Eine
Einschränkung der Leistungen, die sich schon am ver-
fassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß bewegen,
stößt jedenfalls auf unseren entschiedenen Widerspruch.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Die Linke tritt vielmehr dafür ein, den Sparkurs bei der
Justiz zu beenden. Prozesskostenhilfe und Beratungs-
hilfe müssen deshalb ausgebaut und dürfen nicht weiter
eingeschränkt werden.


(Beifall bei der LINKEN)

Wenn Sie sich endlich einmal um einen existenz-

sichernden Mindestlohn kümmern würden,

(Christoph Strässer [SPD]: Nicht nur für Anwälte!)

könnten viel mehr Menschen die Kosten eines Ver-
fahrens aufbringen, und die Staatskasse wäre deutlich
entlastet.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Es kann also nicht nur um ein Mindestgebühreneinkom-
men für Rechtsanwälte gehen. Es muss letzten Endes
auch um einen existenzsichernden Mindestlohn gehen.
Das muss man immer mitdenken.

Im Einzelnen sollen die Freibeträge abgesenkt, die
Ratenzahlungshöchstdauer verlängert und die Prozess-
kostenhilferaten neu berechnet werden, um die Hilfe-
suchenden stärker an der Finanzierung der Prozesskos-
ten zu beteiligen. Ich sehe hier die Gefahr, dass
Geringverdienern oder speziell auf Transferleistungen
angewiesenen Menschen der Weg zu einem gericht-
lichen Rechtsschutz deutlich erschwert wird. Der Zu-
gang zum Recht und zu den Gerichten ist grundgesetz-
lich garantiert und darf nicht an der Größe des
Geldbeutels scheitern.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das wäre der Weg in eine verfassungswidrige Zweiklas-
senjustiz.

Leider ist der Entwurf nicht nur unsozial, sondern
auch handwerklich mangelhaft. So fehlt es bei der Defi-
nition der Mutwilligkeit an klaren Kriterien, wann die
Inanspruchnahme als mutwillig anzusehen ist. Es bleibt
damit der durchaus schale Beigeschmack eines neolibe-
ralen Murksentwurfes, der übrigens selbst in Ihren eige-
nen Reihen umstritten ist. Das Beste für diesen Entwurf
wäre also eine stillschweigende Beerdigung.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum 2. Kostenrechtsmodernisierungsgesetz. Hier
planen Sie unter anderem die schon lange überfällige Er-
höhung der Vergütung von Rechtsanwälten. Dazu ist
bereits einiges gesagt worden; das ist so weit in Ord-
nung. Gleichzeitig wollen Sie den rechtsuchenden Bür-
gerinnen und Bürgern, auch denen, die auf Prozesskos-
tenhilfe angewiesen sind, aber auch in die Tasche
greifen. Der erhöhte Bearbeitungsaufwand bei der Prü-
fung von Anträgen auf Prozesskostenhilfe und die stei-
genden Anwaltsvergütungen machen die im Rahmen der
Prozesskostenhilfereform geplanten Einsparungen in
den Landesjustizhaushalten offensichtlich wieder zu-
nichte. Da passt einiges nicht zusammen. Ein schlüssiges
Gesamtkonzept sieht anders aus, verehrte Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Auf der Grundlage eines 588 Seiten umfassenden Ge-
setzentwurfs sollen die Kostenregelungen einfacher ge-
staltet und an die wirtschaftliche Entwicklung angepasst
werden. Dabei handelt es sich um einen Rundumschlag,
der nahezu alle Bereiche der Rechtspflege, gerichtlich
wie außergerichtlich, erfasst.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, uns alle erreich-
ten in unseren Büros seit der Veröffentlichung der Ent-
würfe viele Briefe betroffener Bürgerinnen und Bürger
sowie ablehnende Stellungnahmen von Sozialverbänden,
den Verbänden der Anwälte, der Vermessungsingeni-
eure, der Dolmetscher und aus der Richterschaft. Dort
wird viel Kritik geäußert, und nicht jeder sieht dieses
Gesetz als goldenen Wurf. So kritisieren zum Beispiel
die Dolmetscher und Übersetzer, dass ihr Honorar für
die Übersetzung schwerer Texte reduziert werden soll.
Das Honorar beträgt zum Teil nur noch ein Drittel der
Sätze von 1994, als es die letzte Änderung in diesem
Bereich gab; Sie haben es bereits angesprochen, Herr
Kollege. Rechtsanwälte sollen mehr bekommen, Über-
setzer indes weniger und sich am freien Markt orientie-
ren? Wo ist da die innere Logik? Auch hier passt einiges
nicht zusammen.

Selbst die Rechtsanwaltschaft sieht trotz finanzieller
Verbesserungen für ihren Stand noch Änderungsbedarf.
So kommt es durch eine Änderung bei der Staffelung der
Streitwerttabelle bei niedrigen Streitwerten in Einzel-
fällen zu geringeren Gebühren für den Anwalt. Die
neuen Regelungen vermögen es auch nicht, in den Berei-
chen Sozialrecht und Strafrecht eine ausreichende Kos-
tendeckelung zu erzielen, sodass auch hier Gebühren-
oder Vergütungsvereinbarungen notwendig sind.

Verbesserungen im Kostenhilferecht gibt es hinsicht-
lich Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für
Menschenrechte. Dass das eine positive Regelung ist,
möchte ich Ihnen, Frau Ministerin, an dieser Stelle aus-
drücklich attestieren.


(Beifall der Abg. Christoph Strässer [SPD] und Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich begrüße, dass es zukünftig eine Kostenhilfe für dritt-
betroffene Personen in Verfahren vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte geben soll. Wenn sich





Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)


eine betroffene Person an dem Prozess beteiligen will
und sich die Kosten der Rechtsvertretung nicht leisten
kann, muss sie einen Antrag beim Gerichtshof stellen.
Aufgrund der komplexen Anforderungen benötigt sie
aber bereits für die Antragstellung anwaltliche Unter-
stützung. Wozu dieses komplizierte Verfahren? Hier
muss noch deutlich nachgebessert werden.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Bundesregierung geht lediglich von einigen
Anträgen pro Jahr aus. Zwar haben Sie eine abstrakt-
generelle Regelung aufgeschrieben, sodass man hier
nicht von Einzelfallgesetzgebung sprechen kann. Aber
es ist schon etwas merkwürdig: Beim Europäischen Ge-
richtshof für Menschenrechte will die Bundesregierung
glänzen und für eine Handvoll Anträge ein neues Gesetz
einführen; aber 126 000 Geringverdienern will sie die
Beihilfe zu den Kosten des Rechtsstreits vor deutschen
Gerichten kürzen und damit den Zugang zum Recht ein-
schränken. Das ist weder schlüssig noch gerecht. Soziale
Gerechtigkeit darf jedenfalls nicht an der Gerichtspforte
enden.


(Beifall bei der LINKEN)


Darüber werden wir in den nachfolgenden Anhörungen
reden.

Gestatten Sie mir einen Satz zum Antrag von Bünd-
nis 90/Die Grünen. Der Vorschlag, die Vergütungen für
Anwälte in Asylverfahren mit den Vergütungen in aus-
länderrechtlichen Verwaltungsstreitverfahren in Ein-
klang zu bringen, ist ebenso zu begrüßen wie der Vor-
schlag zu den Honorarsätzen der Übersetzerinnen und
Übersetzer; das unterstützen wir, und hier können Sie
auf uns zählen.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit, Kolleginnen
und Kollegen.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dr. Edgar Franke [SPD] und Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Petra Pau (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721915900

Das Wort hat die Kollegin Ingrid Hönlinger für die

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721916000

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In diesem Hohen Hause besteht mit Sicherheit großer
Konsens darüber, dass der Zugang zum Recht zur demo-
kratischen Grundversorgung jeder Bürgerin und jedes
Bürgers gehört. Um den Zugang zum Recht zu gewähr-
leisten, muss es eine funktionsfähige Justiz geben. Diese
bereitzustellen, und zwar für alle Mitbürgerinnen und
Mitbürger, das ist Aufgabe des Staates.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir debattieren heute über sechs Gesetzentwürfe, bei
denen es, kurz gesagt, um Kosten und um Finanzierung
geht. Ihre Umsetzung soll dazu führen, dass die Länder
aufgrund der Neugestaltung der Gerichtskosten 177 Mil-
lionen Euro und aufgrund der Erhöhung der Gerichts-

vollziehergebühren weitere 53 Millionen Euro Mehrein-
nahmen erzielen. Diese Erhöhungen orientieren sich an
der Steigerung der allgemeinen Lebenshaltungskosten.
Das ist vernünftig. Deshalb kann ich hier mit meiner
Fraktion gern zustimmen.


(Beifall des Abg. Jerzy Montag [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Nun kommt aus dem Bundesrat zusätzlich der Vor-
schlag, dass eine neue Gebühr für Gerichtsvollzieher
eingeführt wird, eine sogenannte Erfolgsgebühr. Meine
Damen und Herren, Gerichtsvollzieherinnen und
Gerichtsvollzieher führen die staatliche Aufgabe der
Zwangsvollstreckung aus. Sie dürfen Wohnungen betre-
ten und unter Umständen sogar körperliche Gewalt an-
wenden. Zu dieser hoheitlichen Aufgabe passen Erfolgs-
gebühren nicht. Sie könnten den Eindruck vermitteln,
dass die Gerichtsvollziehergebühren im Vordergrund ste-
hen und nicht die Durchsetzung einer gerichtlich festge-
stellten Forderung. Mit diesem Vorschlag können wir
Grüne uns deshalb nicht einverstanden erklären.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Mit einem weiteren Gesetz, über das wir heute auch
debattieren, sollen die Gebühren der Rechtsanwältinnen
und -anwälte, der Notare und Notarinnen sowie die Ho-
norare der Sachverständigen und der Dolmetscher und
Übersetzerinnen an die wirtschaftliche Entwicklung an-
gepasst werden. Die Notargebühren wurden im Jahr
1986 zuletzt erhöht. Die Anwaltsgebühren wurden zu-
letzt im Jahr 2004 verändert. Es ist deshalb angemessen,
auch diese Gebühren neu zu regeln.

Einige Berufsgruppen werden aber in Ihrem Gesetz
nicht ausreichend berücksichtigt. Die Vergütung der
Übersetzerinnen und der Sachverständigen sollte noch
einmal überdacht werden. Auch sollten die Gebühren-
streitwerte im Asylverfahren den Werten im Ausländer-
recht angepasst werden. Bei beiden Verfahrensarten ist
der Arbeitsaufwand der gleiche. Es geht um den Aufent-
halt von Menschen mit ausländischer Staatsangehörig-
keit in Deutschland und damit um schwierige menschli-
che Schicksale. Es gibt keinen sachlichen oder
juristischen Grund, hier mit zweierlei Maß zu messen,
meine Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Jetzt komme ich zu den Gesetzentwürfen, die die
Änderungen im Prozesskostenhilfe- und Beratungshilfe-
recht betreffen. Frau Kollegin Voßhoff, das ist bestimmt
auch interessant für Ihre Fraktion. Denn eines ist klar:
Ein Gerichtsverfahren kostet Geld. Wer sich einen An-
walt oder ein Gerichtsverfahren finanziell nicht leisten
kann, muss staatliche Hilfe in Anspruch nehmen können.
Wir gewährleisten das mit der Beratungshilfe und mit
der Prozesskostenhilfe. Doch während die Lebens-
haltungskosten im Bundesgebiet steigen, wollen die
Bundesregierung und der Bundesrat die Prozesskosten-
hilfe und die Beratungshilfe einschränken. Durch Ihre
Vorschläge, meine Damen und Herren, wird der Zugang
zum Recht erheblich erschwert.





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


Ich nenne Ihnen hierfür drei ganz einfache, aber zen-
trale Gründe.

Erstens. Rechtsuchende, deren Einkommen über den
Sozialleistungen liegt, sollen mehr Geld für rechtlichen
Beistand bezahlen. Wen trifft diese Neuregelung? – Sie
betrifft vor allem alleinerziehende Frauen, prekär
Beschäftigte oder Erwerbslose. Das thematisieren die
Gewerkschaft Verdi und eine Petition an den Bundestag
zu Recht. Wer wenig Einkommen hat, wird sich dann
dreimal überlegen, ob er oder sie unter diesen Bedingun-
gen einen Prozess riskiert. Das, meine Damen und
Herren, schreckt Rechtsuchende davon ab, ihr Recht in
Anspruch zu nehmen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Zweitens. Das Gericht soll eine einmal bewilligte
Prozesskostenhilfe aufheben können, soweit ein Antrag
auf Beweiserhebung keine hinreichende Aussicht auf Er-
folg bietet. Das verstößt gegen den Grundsatz der nicht
vorwegzunehmenden Beweiswürdigung im Zivil-
prozess. Genau das ist nicht vorgesehen im Zivilprozess.
Auch dieser Vorschlag von Ihnen verschlechtert die Pro-
zesschancen der finanziell schlechtergestellten Partei.

Drittens. Prozesskostenhilfe wird vor allem in den
Bereichen Familienrecht, Arbeitsrecht und Sozialrecht
beantragt. Hier geht es um Unterhalt, die Arbeitsstelle
oder Sozialleistungen. Gerade für Menschen mit gerin-
gem Einkommen ist es wichtig, sich auch in diesen ele-
mentaren Bereichen verteidigen zu können. Die geplante
Einschränkung der Prozesskostenhilfe verschiebt aber
die Chancen der Rechtsverfolgung zugunsten des finan-
ziell Bessergestellten.

Mit diesem Gesetzesvorhaben erschweren Sie, meine
Damen und Herren von Bundesregierung und von Bun-
desrat, finanziell schwächeren Bürgerinnen und Bürgern
das Recht auf rechtliche Vertretung. Wir Grünen lehnen
das ab. Mit uns Grünen gibt es nur eine Rechts- und Jus-
tizpolitik mit sozialem Augenmaß.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Jens Petermann [DIE LINKE]: Da sind wir uns einig, Frau Kollegin!)


Um die Justizhaushalte wirklich zu entlasten, ist es
sinnvoller, die außergerichtliche Streitbeilegung zu stär-
ken. Mit den Stimmen aller Fraktionen hier im Bundes-
tag haben wir in dieser Legislaturperiode das Media-
tionsgesetz verabschiedet. Darin haben wir vorgesehen,
dass Bund und Länder erforschen können, wie die Län-
der mit Mediation die Gerichte auch finanziell entlasten
können. Deshalb sollten sich möglichst schnell mög-
lichst viele Bundesländer an den Forschungsvorhaben
beteiligen. Das wäre wirklich innovativ.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Rechte, meine Damen und Herren, sind nur dann wir-
kungsvoll, wenn die Bürgerinnen und Bürger sie auch
durchsetzen können. Dazu brauchen sie im Einzelfall an-
waltliche oder gerichtliche Hilfe. Mit dem Gesetz zur
Prozesskosten- und Beratungshilfe schaffen Sie eine

Zweiklassenjustiz. Wir Grünen können das nicht akzep-
tieren. Nach unserer Überzeugung muss der Zugang zum
Recht allen Menschen offenstehen, unabhängig von ih-
rem Einkommen.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721916100

Das Wort hat nun Ute Granold für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1721916200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Hönlinger, der Zugang zum Recht wird
auch mit diesem Gesetz jedem Bürger möglich sein, un-
abhängig von seinem Einkommen. Wir hätten uns sehr
gewünscht, dass die Debatte, die erforderlich und drin-
gend notwendig ist, etwas sachlicher geführt wird. Das
geht an Ihre Adresse, aber auch an die des Kollegen
Petermann. Ängste bei Menschen zu schüren, die auf
Prozesskosten- bzw. Beratungshilfe angewiesen sind, in-
dem Sie sagen, dass das nicht mehr bezahlt werden kann,
ist einfach ein Stück weit unseriös.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich beschränke mich auf die Prozesskostenhilfe, die
Verfahrenskostenhilfe und Beratungshilfe. Die anderen
Themen hat der Kollege Seif für die Union schon ausge-
führt. Wir haben in der ZPO eine Regelung für die Pro-
zesskostenhilfe, im FamFG eine Regelung für die Ver-
fahrenskostenhilfe. Ganz wesentlich belasten die Länder
Verfahren im Rahmen der familiengerichtlichen Aus-
einandersetzung. Im Beratungshilfegesetz wird eine
staatliche Sozialleistung für eine außergerichtliche Bera-
tung und eine Vertretung gewährt.

Verfassungsrechtlich geschützt ist der Zugang zum
Recht durch den Gleichheitsgrundsatz, das Rechtsstaats-
prinzip und den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz,
die im Grundgesetz niedergelegt sind. Dieser Maßstab
ist für uns unabdingbar und steht nicht zur Disposition.
Das wird auch nach wie vor gewährleistet. Alles andere
ist einfach nur Ängsteschüren.

Warum ist die Reform auf den Weg gebracht worden?
Warum debattieren wir das Thema heute? Der Bundesrat
hat sich bereits in der letzten Wahlperiode mit dem
Thema befasst – Sie haben das ausgeführt –, und auch in
dieser Wahlperiode befasst er sich damit. Wir haben die
Vorgaben des Bundesrates bewusst nicht aufgegriffen,
sondern die Regierung hat einen eigenen Gesetzentwurf
gemacht, von dem wir meinen, dass er besser ist und
weitaus weniger Einschnitte für die Menschen gerade im
Bereich der Verfahrenskosten- und Prozesskostenhilfe
bringt. Darauf werde ich gleich noch einmal eingehen.

Sie haben völlig zu Recht die Kostenlast der Länder
angesprochen. Ich darf die Kosten für die Prozesskosten-
hilfe nennen: bundesweit 2005 495 Millionen Euro; im





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


Jahr 2010 waren es bereits 509 Millionen Euro. Davon
sind die Rückflüsse an den Staat abzuziehen. Das sind
etwa 20 Prozent der Kosten, die verausgabt werden. Bei
der Beratungshilfe ist es weitaus mehr: Um die Jahrstau-
sendwende hatten wir Kosten unterhalb von 20 Millio-
nen Euro. Seit 2002 sind die Kosten kontinuierlich ange-
stiegen. Heute haben wir einen Betrag von 80 Millionen
Euro. Das belastet die Länderhaushalte. Weil diese Last
nicht mehr getragen werden kann, müssen wir über eine
Reform nachdenken. Deshalb debattieren wir heute die-
ses Thema. Das sollten wir mit Augenmaß und auch se-
riös machen.

Im Koalitionsvertrag haben wir festgeschrieben, dass
wir eine Reform auf den Weg bringen wollen. Dabei sol-
len die sozial Schwächeren bewusst außen vor gelassen
werden. Das heißt, für all die, die Hilfe nach dem SGB II
oder dem SGB XII erhalten, wird sich nichts am Freibe-
trag ändern. Sie erhalten, genauso wie früher, Verfahrens-
kosten-, Beratungs- und Prozesskostenhilfe ohne eine fi-
nanzielle Beteiligung. Wer anderes sagt, sagt bewusst
die Unwahrheit. Das ist das Unseriöse, das ich hier an-
spreche.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Freibeträge – die Ministerin hat es angesprochen –
liegen sogar um 10 Prozent über dem in der BRD höchs-
ten Satz des SGB XII. Unsere Aufgabe ist es nun auf der
einen Seite, einen Mittelweg zwischen einem Miss-
brauch der Prozesskosten-, Beratungs- und Verfahrens-
kostenhilfe zu finden – das wurde übrigens von den Län-
dern vorgetragen, um es klar und deutlich zu sagen, Herr
Kollege Petermann –, und auf der anderen Seite müssen
wir dafür Sorge tragen, dass jeder, der sein Recht vor
Gericht erstreiten möchte, auch die Möglichkeit dazu er-
hält.

Lassen Sie mich einige konkrete Beispiele anführen.
Herr Kollege Petermann, ich gebe Ihnen recht: Über den
Begriff der Mutwilligkeit sollten wir noch einmal nach-
denken. Das betrifft sowohl die Prozesskostenhilfe als
auch die Beratungshilfe. Was die Verschärfung des Be-
griffs der Mutwilligkeit und die Frage angeht, ob das
noch verfassungskonform ist, was jetzt in den Gesetzent-
wurf hineingeschrieben wurde, darüber besteht Bera-
tungsbedarf. Wir werden das in den anschließenden Be-
ratungen und auch in der Anhörung klären.

Man sollte darüber nachdenken, ob über die Frage, ob
die Voraussetzungen für die Gewährung von Verfahrens-
bzw. Prozesskostenhilfe vorliegen, in einer mündlichen
Verhandlung entschieden werden sollte; denn es geht
nicht darum, Bürokratie aufzubauen, weil das Mehrkos-
ten verursacht; vielmehr geht es darum, Bürokratie abzu-
bauen. Wir meinen: Wenn die Gerichte eine Erledi-
gungsfrist setzen, innerhalb derer Auskunft erteilt
werden soll, ob die Voraussetzungen für die Gewährung
von Verfahrens- oder Prozesskostenhilfe vorliegen,
sollte nach Ablauf dieser Frist eine Entscheidung herbei-
geführt werden. Das ist heute schon der Fall. Es besteht
also kein Grund, das zu ändern. Auch darüber wird zu
reden sein.

Es geht in diesem Zusammenhang auch darum, dass
Auskünfte bei Dritten eingeholt werden. Dem Antrag-
steller sollte die Möglichkeit gegeben werden, innerhalb
einer Frist zu belegen, dass er die Voraussetzung für die
Bewilligung von Prozesskostenhilfe erfüllt. Wenn aber
diese Frist abgelaufen ist, soll das Gericht entscheiden.
Wir haben Bedenken, dass bei Sozialversicherungsträ-
gern, bei Banken und Finanzämtern ohne Einwilligung
des Betroffenen Auskünfte eingeholt werden. Und um
zur Verfahrensoptimierung beizutragen: Wer einen Be-
scheid nach SGB II oder SGB XII vorlegt, hat per se ei-
nen Anspruch auf Verfahrens- und Prozesskostenhilfe.
In diesem Fall bedarf es keiner weiteren Prüfung.

Eine stärkere finanzielle Beteiligung derjenigen – die
Frau Ministerin hat es angesprochen –, die im Berufsle-
ben stehen, ist für uns selbstverständlich. Hier hat der
Bundesrat im Übrigen eine Entfristung in Bezug auf un-
beschränkte Rückforderungsmöglichkeiten vorgeschla-
gen. Wir haben uns für eine Deckelung auf 72 Monate
ausgesprochen. Das halten wir für ausgewogen. Deshalb
sind wir auch in diesem Punkt mit der Bundesratsinitia-
tive nicht einverstanden.

Mit der Absenkung der Freibeträge und der Neube-
rechnung der PK-Raten sind wir einverstanden. Ganz
wichtig ist uns das bei Familiensachen, einem Bereich,
in dem Verfahrenskostenhilfe in großem Umfang bean-
tragt und bewilligt wird. Zum staatlichen Rückgriff auf
erlangtes Vermögen: Unterhaltsnachzahlungen dürfen
nicht angetastet werden, weil sie zur Gewährleistung des
Lebensstandards und zur Finanzierung des Lebensunter-
halts beitragen. Teilweise wird das über Dritte finanziert.
Anders verhält es sich mit dem Vermögensausgleich
– darüber können wir uns unterhalten –, aber der Unter-
halt sollte unangetastet bleiben.

Auch die Anwaltsbeiordnung in Scheidungsverfahren
sollten wir noch einmal überdenken. Ich mache das seit
30 Jahren: Nach meinem Dafürhalten gibt es kein einfa-
ches Scheidungsverfahren. Wenn der Antragsteller die
Scheidung beantragt, besteht Anwaltszwang. Die andere
Partei sollte schon aus Gründen der Waffengleichheit
ebenfalls einen Anwalt haben können; denn es könnte
sein, dass der Antragsteller sagt: Ich ziehe den Schei-
dungsantrag zurück. – Damit erledigt sich die Schei-
dung, wenn kein eigener Scheidungsantrag gestellt
wurde, und der muss nun einmal über einen Anwalt ge-
stellt werden. Wir wissen, welche Folgen daran geknüpft
sind: Stichtage für den Versorgungsausgleich, die Be-
rechnung für das eheliche Güterrecht und vieles andere
mehr. Gerade was den Versorgungsausgleich angeht, der
sich nach der Reform in der letzten Wahlperiode in der
Praxis als sehr gut erwiesen hat, braucht man anwaltli-
che Hilfe. Die Anwaltsbeiordnung – hier geht es um das
Prinzip der Waffengleichheit – sollten wir auch im Hin-
blick auf die arbeitsgerichtlichen Verfahren noch einmal
überdenken.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Im Bereich der Beratungshilfe soll ein Erinnerungs-
recht für die Staatskasse eingeführt werden; das ist eine





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


gute Entscheidung. Aber auch hier sollten wir über den
Begriff der Mutwilligkeit – liegt Mutwilligkeit vor, ist
keine Voraussetzung für die Beratungshilfe gegeben –
nachdenken. Einen nachträglichen Antrag auf Beratungs-
hilfe auszuschließen – ein Wunsch des Bundesrates –, hal-
ten wir für nicht akzeptabel. Eine Prüfung im Vorfeld,
also vor der Antragstellung, halten wir auch nicht für ak-
zeptabel, weil Fristen oft laufen und sich erst durch eine
Beratung beim Anwalt herausstellt, dass hier eine
schwierige Materie zu bearbeiten ist. Deshalb meinen
wir, dass es möglich sein muss, jederzeit einen entspre-
chenden Antrag zu stellen.

Wir weiten sogar die Beratungshilfen entsprechend
der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auf
steuerliche Angelegenheiten aus. Das soll an dieser
Stelle auch einmal gesagt werden: Es handelt sich um
eine Ausweitung. Damit wird der Kreis derer, die neben
Rechtsanwälten, Steuerberatern, Wirtschaftsprüfern und
anderen Beratung leisten dürfen, ausgeweitet. Das ist ein
guter Ausblick.

Ein Satz noch zu Verfahren vor dem Europäischen
Gerichtshof für Menschenrechte; Sie haben das ange-
sprochen. Hier soll, um Waffengleichheit herzustellen,
Prozesskostenhilfe auch für Dritte möglich werden. Bis-
her ist das bei Verfahren vor dem Europäischen Ge-
richtshof nicht zugelassen. In Umgangsverfahren zum
Beispiel sind oft Dritte beteiligt. Der Vater strengt das
Verfahren an, die Mutter und das Kind sind beteiligt.
Demzufolge muss wegen des Prinzips der Waffengleich-
heit auch die Möglichkeit bestehen, dass die Drittbetei-
ligten Verfahrenskostenhilfe erhalten. Das geht im euro-
päischen Recht bisher nicht. Dafür ist auch kein Geld da.
Deshalb sagen wir: Das wollen wir im nationalen Recht
verankern. Wer im nationalen Recht die Voraussetzung
für die Gewährung von Prozesskostenhilfe und Verfah-
renskostenhilfe erfüllt, dem muss diese Hilfe auch in
Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof für Men-
schenrechte zuteilwerden. Es geht darum, dass Men-
schen einen Anspruch auf finanzielle Unterstützung ha-
ben, damit sie ihre Rechte vor Gericht wahrnehmen
können, wenn sie selbst dazu nicht in der Lage sind.

Ich hoffe sehr, dass wir in den Beratungen im Rechts-
ausschuss und bei der Anhörung das eine oder andere
nachjustieren können und zu einem Ergebnis kommen,
das für das ganze Haus tragbar ist und den Menschen
draußen hilft.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721916300

Das Wort hat nun Sonja Steffen für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1721916400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Wir beraten
heute über mehrere Gesetzentwürfe. Alle beschäftigen
sich mit den Kosten in Rechtsangelegenheiten.

Ich möchte in meiner Rede zunächst auf den Gesetz-
entwurf eingehen, der sich mit der Beratungshilfe und
der Prozesskostenhilfe beschäftigt. Über die Prozesskos-
tenhilfe kann einkommensschwachen Personen eine fi-
nanzielle Unterstützung zur Durchführung von Gerichts-
verfahren gewährt werden. Im Leben kann es immer
wieder zu Situationen kommen, in denen man einen Pro-
zess führen muss. Oft ist es so, dass bei einem solchen
Verfahren erhebliche Kosten entstehen. Nicht jeder ist in
der Lage, diese Kosten aus eigenen Mitteln zu tragen,
und nicht alle Bürgerinnen und Bürger haben eine ent-
sprechende Rechtsschutzversicherung. Die Prozesskos-
tenhilfe wurde daher für diejenigen entwickelt – früher
hieß sie übrigens Armenrecht –, die nicht in der Lage
sind, Prozesse aus eigenem Einkommen und Vermögen
zu finanzieren. Sinn der Prozesskostenhilfe ist also zum
einen, dem Gleichheitsgrundsatz gerecht zu werden.
Auch Bürger mit geringem Einkommen oder Vermögen
– das ist schon gesagt worden – sollen einen Rechtsstreit
führen können. Des Weiteren ermöglicht die Prozesskos-
tenhilfe eine gewisse Waffengleichheit. Wenn Juristen
von Waffengleichheit reden, dann meinen sie nicht Pis-
tolen oder Gewehre, sondern die Waffengleichheit vor
Gericht, das heißt, dass der Rechtsuchende sich einen
Anwalt nehmen darf, wenn die Gegenseite auch juristi-
schen Sachverstand zur Seite hat.

Hier setzt unsere erste Kritik an dem Entwurf an; sie
betrifft die Ehescheidungsangelegenheiten. Die Kollegin
von der CDU hat das schon gesagt. Ich hoffe, dass wir
diesbezüglich eine konsensuale Entscheidung finden
werden. Es ist vorgesehen, dass der Antragsgegner zu-
künftig nur noch dann eine Verfahrenskostenhilfe erhält,
wenn die Beiordnung eines Anwalts wegen der Schwie-
rigkeit der Sach- und Rechtslage erforderlich erscheint.
Für alle Nichtjuristen unter uns: Was heißt das im Klar-
text? Wenn sich Herr und Frau Müller scheiden lassen
wollen, dann ist, wenn beide einkommensschwach sind,
ganz entscheidend, wer den ersten Gang zum Anwalt un-
ternimmt; denn nur derjenige, der als Erstes zum Anwalt
geht, wird vom Richter oder der Richterin eine Verfah-
renskostenhilfe erhalten. Wenn dann der Ehepartner
ebenfalls einen Anwalt in Anspruch nehmen möchte,
dann kann der Richter sagen: „Wir haben einen einfach
gelagerten Fall“, und deshalb wird die Verfahrenskosten-
hilfe dem Antragsgegner verweigert. Wir haben vorhin
schon gehört, dass es eigentlich in jedem Eheschei-
dungsverfahren Probleme gibt, sei es, dass man sich um
das Kaffeeservice streitet, sei es, dass man sich um Un-
terhalt, Sorgerecht oder Umgangsrecht streitet. Insofern
sollten, denke ich, alle Beteiligten die Möglichkeit einer
anwaltlichen Beratung haben.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Ich hoffe, dass wir hier eine bessere Regelung finden
werden.

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft die Beratungshilfe,
also die staatliche Hilfe bei der rechtlichen außergericht-
lichen Beratung. Zukünftig soll ein Rechtspfleger über
diesen Antrag auf Beratungshilfe vorab entscheiden.





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


Diese Pflicht zur vorherigen Antragstellung erscheint
uns praxisfern; denn häufig ist ein sofortiges Tätigwer-
den des Rechtsanwalts notwendig, weil beispielsweise
Fristen abzulaufen drohen. Oft stellt sich auch erst im
Beratungsgespräch selbst heraus, dass der Mandant be-
ratungshilfeberechtigt ist. Der Anwalt muss darauf hin-
weisen; denn er kann von einem Mandanten, der ein-
kommens- und vermögenslos ist, nicht die Begleichung
einer Rechnung verlangen. Eine rechtzeitige und gute
Beratung führt übrigens oft genug dazu, dass ein auf-
wendiges und teures Gerichtsverfahren vermieden wird.

Es gibt ein weiteres Problem, das vor allem in Flä-
chenwahlkreisen besteht. Ich nehme ein Beispiel aus
meinem Wahlkreis: Wenn ein Rechtsuchender, der auf
der Insel Hiddensee wohnt, zukünftig einen Beratungs-
hilfeschein beantragen muss, bevor er den Anwalt aufsu-
chen kann, dann ist er erst einmal einen Tag lang unter-
wegs, um diesen Beratungshilfeschein beim zuständigen
Amtsgericht zu erwerben. Dann muss er sich am nächs-
ten Tag, wenn er ihn in der Hand hat, einen Anwalt su-
chen, der ihn in dieser Angelegenheit vertritt. Damit sind
erstens zwei Tage weg, und zweitens ist es gerade bei
einkommensschwachen Personen so, dass sie sich diese
Reisen gar nicht leisten können. Dann wird es so kom-
men – der Kollege Petermann hat das schon gesagt –,
dass viele einkommensschwache Rechtsuchende am
Ende möglicherweise den Anwalt gar nicht mehr in An-
spruch nehmen werden.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie des Abg. Jens Petermann [DIE LINKE])


Auch der vorgesehene Vorrang der Selbstvertretung
in Beratungshilfeangelegenheiten ist unserer Meinung
nach abzulehnen. Wenn zukünftig eine Beratungshilfe
nicht mehr erforderlich sein soll, weil der Fall nach An-
sicht des Rechtspflegers einfach gelagert oder unbedeu-
tend ist, dann ist das Gebot der Waffengleichheit damit
außer Kraft gesetzt. Denn es geht doch oft genug gerade
in diesen Beratungshilfefällen um Probleme mit dem
Nachbarn, um Probleme mit dem Arbeitgeber oder um
ungeklärte Internetrechnungen, also um Fälle, die finan-
ziell gut oder sehr gut situierte Menschen vielleicht als
Kleinigkeiten bezeichnen, die aber für die Betroffenen
oft von großer Bedeutung sind.

Ich will abschließend noch eine Anmerkung zur Kos-
tenrechtsmodernisierung machen. Uns ist aufgefallen,
dass im Sozialrecht die Terminsgebühr grundsätzlich
wegfallen soll, wenn durch Gerichtsbescheid verhandelt
wird. Das klingt vielleicht im ersten Moment plausibel;
jedoch befürchten wir, dass dadurch die Zahl der An-
wälte, die sozialrechtliche Verfahren vertreten, zukünftig
noch weiter zurückgehen wird, weil es einfach nicht luk-
rativ ist. Damit wäre wiederum eine Bevölkerungs-
schicht betroffen, der unser besonderer Schutz gilt, näm-
lich mehrheitlich die Empfänger von Leistungen nach
SGB II und SGB XII und die Erwerbsunfähigen.

Ich hoffe also, dass der Entwurf des Gesetzes zur Än-
derung des Prozesskostenhilfe- und Beratungshilferechts
im Laufe des Verfahrens noch gründlich überarbeitet

wird. Auch der Entwurf des Gesetzes zur Modernisie-
rung des Kostenrechts bedarf einiger Änderungen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721916500

Das Wort hat nun Thomas Silberhorn für die CDU/

CSU-Fraktion.


Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1721916600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Uns liegen außergewöhnlich umfangreiche Gesetzent-
würfe vor. Deswegen wollen wir uns ausreichend Zeit
nehmen, sie zu beraten und gegebenenfalls Änderungen
vorzunehmen. Insbesondere der Entwurf eines Zweiten
Gesetzes zur Modernisierung des Kostenrechts enthält
einige wesentliche Änderungen, beispielsweise die Ein-
führung eines neuen Gerichts- und Notarkostengesetzes
und eines neuen Justizverwaltungskostengesetzes. Er
enthält auch eine Fülle von kleineren Änderungen und
Anpassungen, die im Detail große Auswirkungen haben
können.

Diese große Bedeutung resultiert im Ergebnis daraus,
dass nahezu alle Berufsgruppen in der Justiz mittelbar
oder unmittelbar davon betroffen sein werden und dass
natürlich die vitalen Interessen der Länder berührt sind.
Es sind schließlich die Länder, die im Wesentlichen die
Verantwortung für die Bereitstellung einer funktionsfä-
higen Justiz tragen.

Der Gesetzentwurf enthält eine Reihe von Verbesse-
rungen für die Rechtsanwender, insbesondere deutlich
übersichtlichere Gesetzeswerke.

Natürlich sind auch eine Reihe von Erhöhungen vor-
gesehen: Dies betrifft die Gerichtsgebühren, die Justiz-
verwaltungsgebühren, die Gerichtsvollziehergebühren,
die Vergütungen für Rechtsanwälte und Notare und auch
die Vergütungssätze für Dolmetscher, Sachverständige
und Übersetzer. Diese im Gesetzentwurf vorgeschlage-
nen Veränderungen sollen im Wesentlichen einen Infla-
tionsausgleich ermöglichen. Aber – dies ist schon festge-
stellt worden – selbst das wird nicht überall erreicht,
sicherlich nicht bei allen Berufsgruppen und auch nicht
bei den Gerichtskosten.

Es darf durchaus darüber diskutiert werden, dass der
Gesetzentwurf hier deutlich hinter den zumindest rech-
nerisch möglichen Werten zurückbleibt, vor allem wenn
man berücksichtigt, wann zum letzten Mal ein Infla-
tionsausgleich bei den Gerichtskosten vorgenommen
worden ist: Das ist mittlerweile fast 20 Jahre her. Von
daher kann ich die Forderung der Länder durchaus nach-
vollziehen, die Gerichtsgebühren zusätzlich zu erhöhen.
Denn so, wie es bisher vorgesehen ist, würde sich der
Kostendeckungsgrad wohl nur minimal verbessern.

Wenn es unser Anspruch ist, eine funktionsfähige Jus-
tiz zu gewährleisten, dann setzt das natürlich voraus,
dass wir auch die nötigen Mittel bereitstellen. Allerdings
ist das nicht allein eine Sache von Gebührentatbestän-





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


den, und die Mittel können auch nicht allein aus dem all-
gemeinen Steueraufkommen bereitgestellt werden. Auch
in Zukunft müssen die Verursacher der Kosten in zumut-
barem Umfang dazu herangezogen werden, die Kosten
zu tragen. Dies steht den Gesichtspunkten der Sozialver-
träglichkeit und der Bezahlbarkeit zivilrechtlicher
Rechtsstreitigkeiten für Bürger und Unternehmen nicht
grundsätzlich entgegen.

Wir verfügen in Deutschland mit den Möglichkeiten
der Prozess- und Verfahrenskostenhilfe über Instru-
mente, die den Zugang zur Justiz sicherstellen. Es gilt
aber auch in Zukunft, einen Missbrauch dieser Instru-
mente zu verhindern. Daher hat aus meiner Sicht das Er-
fordernis, dass die Rechtsverfolgung nicht mutwillig er-
scheinen darf, schon seinen Sinn.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, in den vergangenen
Monaten haben uns zahlreiche Berufsgruppen, die von
diesen Gesetzentwürfen unmittelbar betroffen sind, an-
gesprochen und uns ihre Anliegen mit auf den Weg ge-
geben. Wir werden uns damit sehr ernsthaft auseinander-
setzen und sie im Detail beraten.

Die Übersetzer – darauf ist schon hingewiesen wor-
den – machen geltend, dass bei den vorgesehenen Vergü-
tungssätzen die bisherige hohe Qualität der Überset-
zungsleistungen künftig nicht mehr sichergestellt
werden könne; die Sachverständigen haben ähnliche
Sorgen vorgetragen. Damit werden wir uns, auch was
die Berechnungen angeht, noch im Detail beschäftigen
müssen.

Ein zweites konkretes Anliegen, das ich ansprechen
möchte, ist die vorgesehene Streichung des § 70 Ge-
richtskostengesetz. Danach haben die Rechtspfleger
künftig nicht mehr die Möglichkeit, als Rechnungsbe-
amte tätig zu werden – etwas, was nicht nur von den
Rechtspflegern selbst, sondern auch von den Bundeslän-
dern kritisiert wird. Ich würde mir wünschen, Frau Bun-
desministerin, dass wir auch darüber noch einmal nach-
denken; denn in der Praxis gibt es wohl ein Bedürfnis,
dass Rechtspfleger als Rechnungsbeamte tätig werden
können. Schließlich kommt diese Arbeit den Verfahrens-
beteiligten und damit den Bürgern zugute, sodass ich mir
schon vorstellen könnte, dass wir hier die nötige Flexibi-
lität für eine unterschiedliche Praxis in den Bundeslän-
dern einräumen sollten.

Schließlich haben Rechtsanwälte beispielsweise vor-
geschlagen, eine zusätzliche Terminsgebühr für die
Wahrnehmung von Beweisterminen einzuführen; auch
hier werden wir prüfen, inwieweit dies aufgrund eines
spezifischen Mehraufwands in einzelnen Rechtsgebieten
gerechtfertigt ist. Allerdings, meine Damen und Herren,
werden wir einen uns scherzhaft zugetragenen Vorschlag
nicht verwirklichen: Auch künftig werden wir die Vergü-
tung von Rechtsanwälten nicht nach dem Gewicht der
Schriftsätze in Gramm pro Kubikmeter bemessen kön-
nen.


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Vielzahl
der vorgetragenen Einzelanliegen verdeutlicht einerseits
die Komplexität der Materie, andererseits eben aber

auch die Notwendigkeit, genau hinzuschauen und inten-
siv zu prüfen, welche Auswirkungen die Regelungen auf
einzelne Berufsgruppen haben. Die Messlatte, auf die
wir uns gemeinsam verständigen sollten, muss sein, dass
wir eine funktionsfähige Justiz in unserem Land erhalten
wollen, die hohen Qualitätsstandards gerecht wird und
die für alle Bürgerinnen und Bürger den Zugang zum
Recht gewährleistet.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721916700

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/11471, 17/11472, 17/11211,
17/1216, 17/2164, 17/5313 und 17/12173 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist offensichtlich
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 16 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Menschenrechte und
Humanitäre Hilfe (17. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Katja Keul, Tom Koenigs,
Thilo Hoppe, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sahel-Region stabilisieren – Humanitäre Ka-
tastrophe eindämmen

– Drucksachen 17/10792, 17/11431 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Frank Heinrich
Christoph Strässer
Marina Schuster
Annette Groth
Tom Koenigs

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Marina
Schuster für die FDP-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)



Marina Schuster (FDP):
Rede ID: ID1721916800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Stabilisierung der Sahelzone ist ein wichtiges Thema.
Ich begrüße ausdrücklich, dass wir gestern hier im Ho-
hen Haus eine Aktuelle Stunde zur Situation in Mali
durchgeführt haben, aber auch, dass wir heute im Rah-
men dieser Debatte einen etwas weiteren Blick auf die
Region werfen können.

Ich möchte zunächst einmal feststellen, dass sich ver-
schiedene Ausschüsse des Deutschen Bundestages – der
Menschenrechtsausschuss, auch der Auswärtige Aus-
schuss – schon eingehend mit diesem Thema beschäftigt





Marina Schuster


(A) (C)



(D)(B)


haben. Ich kann von unserer Reise zum UN-Menschen-
rechtsrat in Genf berichten. Der Hohe Flüchtlingskom-
missar der Vereinten Nationen, António Guterres, hat
uns bereits im Frühjahr letzten Jahres auf die humanitäre
Situation in der Sahelregion hingewiesen und uns vor
der Gefahr einer weiteren Eskalation gewarnt. Damit
möchte ich dem Eindruck entgegenwirken, der hier ges-
tern in der Aktuellen Stunde bei einigen Reden entstan-
den ist: dass sich das Hohe Haus mit dieser Region zum
ersten Mal beschäftige. Das ist sicherlich falsch.

Die Grünen beschreiben in ihrem Antrag sehr richtig
die dramatische Situation der Bevölkerung: 18 Millio-
nen Menschen in neun Ländern sind von Ernährungsun-
sicherheiten bedroht. – Diese Zahlen und auch die Zah-
len zur humanitären Lage zeigen ganz deutlich die
Dimension der Probleme. Das UN-OCHA beziffert den
Bedarf an Mitteln für humanitäre Hilfe auf 1,6 Milliar-
den US-Dollar. Insofern greifen die Grünen mit ihrem
Antrag ein wichtiges Thema auf.

Sowohl im Feststellungsteil, noch mehr aber im For-
derungsteil kommt allerdings zu kurz, was die Bundesre-
gierung bisher schon geleistet hat. Das kann man natür-
lich so machen; aber ich finde, da fehlt es ein bisschen
an Fakten. Sie erwähnen zum Beispiel nicht, dass das
Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung ein Zehn-Punkte-Programm für ländli-
che Entwicklung und Ernährungssicherung aufgelegt
hat. Das war eine Forderung aus unserem Koalitionsver-
trag. Wir haben nämlich festgestellt, das gerade dieser
Bereich in den letzten Jahren vernachlässigt worden ist.
Ich denke, dem muss man, wenn man einen solchen An-
trag verfasst, Rechnung tragen.

Die Bundesregierung hat auf die Nahrungsmittelkrise
schnell reagiert: Seit Ende 2011 sind an humanitärer
Hilfe für die Region über 55 Millionen Euro bereitge-
stellt worden.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP sowie der Abg. Erika Steinbach [CDU/CSU])


Die Mittel gingen an das World Food Programme, an
UNHCR, an das Internationale Komitee vom Roten
Kreuz – das wir mit dem Menschenrechtsausschuss re-
gelmäßig in Genf besuchen –, an NGOs wie Help oder
Care. Ich danke den Hilfsorganisationen für ihren Dienst
ganz herzlich. Sie haben in einem schwierigen Umfeld
beachtliche Leistungen erbracht: Von der Nahrungsmit-
telkrise sind – das dürfen wir nicht vergessen – 1 Million
Kinder betroffen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP, der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich möchte – das ist ja auch ein Punkt in dem Antrag
der Grünen – noch ganz kurz die Situation in Mali er-
wähnen. Die Hohe Kommissarin der Vereinten Nationen
für Menschenrechte, Navi Pillay, hat von schwersten
Menschenrechtsverletzungen berichtet: von Hinrichtun-
gen, von Vergewaltigungen, von Folter – und auch von
der Rekrutierung von Kindersoldaten.

Ich glaube, Sie erlauben mir, wenn ich in diesem Zu-
sammenhang kurz von dem Antrag abweiche. Wir haben

heute mit der Kinderkommission zusammen den Red
Hand Day hier im Deutschen Bundestag begangen, um
ein Zeichen zu setzen gegen den Einsatz von Kindersol-
daten. Wir unterstützen diese Aktion sehr, würden uns
aber – ich glaube, da kann ich im Namen aller in diesem
Hohen Haus sprechen – noch mehr freuen, wenn dieser
Aktionstag nicht mehr notwendig wäre, weil keine Kin-
dersoldaten mehr rekrutiert würden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich wiederhole an dieser Stelle meine Forderung von
gestern: Straflosigkeit darf es nicht geben. Wir unterstüt-
zen da die Bemühungen der Vereinten Nationen und des
Internationalen Strafgerichtshofs.

Zum letzten Punkt, der mir auch ganz wichtig ist. Die
Grünen erwähnen in ihrem Antrag zu Recht die Kapazi-
täten der AU und der ECOWAS. Wir arbeiten seit vielen
Jahren daran, die afrikanischen Kapazitäten – von AU
und ECOWAS – für Ausbildung und Training zu stär-
ken. Die afrikanischen Kapazitäten zu stärken, ist, denke
ich, der richtige Weg; denn es liegt auf der Hand, dass
die Probleme in den Ländern vor Ort gelöst werden müs-
sen. Das wird nicht gelingen, ohne die Länder vor Ort
– gerade die Nachbarländer Algerien und Libyen – stär-
ker einzubinden. Insofern ist es wichtig, diese Länder
ganz besonders in den Blick zu nehmen. Entscheidend
ist auch der politische Prozess. Es gibt jetzt eine Road-
map; aber es wird, denke ich, notwendig bleiben, dass
man sie Schritt für Schritt umsetzt und auch eine regio-
nale Komponente vorsieht. Das eine ist die Situation in
Mali, das andere sind die Probleme, die mit den Nach-
barländern nach wie vor bestehen. Da werden wir die
Bundesregierung bei ihren Bemühungen weiter unter-
stützen; das ist der richtige Weg.

Im Feststellungsteil des Antrags der Grünen steht vie-
les, was richtig ist. Wir werden dem Antrag trotzdem
nicht zustimmen können.


(Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade eigentlich!)


Gleichwohl begrüße ich, dass wir diese Debatte hier
noch einmal führen, auch im Anschluss an die Aktuelle
Stunde von gestern.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721916900

Nun hat Christoph Strässer für die SPD-Fraktion das

Wort.


Christoph Strässer (SPD):
Rede ID: ID1721917000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Ich bin ebenso wie Frau Kol-
legin Schuster der Meinung, dass es ganz wichtig und er-
forderlich ist, dass wir uns heute bereits zum zweiten
Male in dieser Woche mit dem Thema Mali und Sahelre-
gion beschäftigen. Es ist gut, dass eine Region in den





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


Fokus der Öffentlichkeit gerät, die dort ansonsten nur
sehr wenig zu finden ist. Es ist gut, weil die Menschen,
die in dieser Region in einem ständigen Überlebens-
kampf stehen, unsere Aufmerksamkeit und unsere soli-
darische Unterstützung verdient haben. Deshalb finde
ich es gut, dass wir uns heute mit diesem Antrag aus-
einandersetzen.

Auf der anderen Seite aber ist dies auch, wie ich
finde, ein schlechtes, ein alarmierendes Signal; denn das
ist ein untrügliches Zeichen dafür, dass es um mehr geht
als um die alltäglichen Katastrophen, an die man sich ja
fast schon gewöhnt hat, so zynisch das gegenüber den
Menschen in dieser Region klingt. In der Tat: Die Situa-
tion ist dramatischer, als sie es gemeinhin schon ist; sie
hat sich auch verändert, nachdem der Antrag, über den
wir heute reden, auf den Weg gebracht worden ist.

Die militärische Konfrontation in Mali, ausgelöst
durch den Vormarsch islamistischer Milizen aus Nord-
Mali nach Süden, aktuell beantwortet durch französische
Interventionstruppen, sowie die Vorbereitung eines UN-
mandatierten Einsatzes von Truppen der westafrikani-
schen Staatengemeinschaft ECOWAS beherrschen die
Schlagzeilen und die politischen Debatten.

Deshalb ist es gut, dass wir uns heute mit einem An-
trag befassen können, der die Kernprobleme der genann-
ten Sahelzone anspricht, und das sind Probleme, die sich
allein durch eine militärische Intervention nicht nachhal-
tig werden lösen lassen können.

Damit ich nicht falsch verstanden werde: Angesichts
der sich dramatisch verschlechternden humanitären Be-
dingungen im Norden Malis, angesichts gravierender
Verletzungen des humanitären Völkerrechts durch be-
sonders brutale Exekution des Scharia-Rechts durch die
islamistischen Terroristen von AQMI und MUJAO war
eine solche Reaktion, wie es sie jetzt gab, wohl unaus-
weichlich. Wir werden diesen Prozess im Rahmen der
Mandatierung eines unterstützenden Bundeswehrman-
dats auch konstruktiv begleiten.

Aber damit darf es natürlich kein Bewenden haben.
Ich erinnere mich immer an einige Sätze von Willy
Brandt aus der Zeit, als er der Nord-Süd-Kommission
vorstand. Ich zitiere:

Not ist Konflikt. Wo Hunger herrscht, ist auf Dauer
kein Frieden. … Wir werden uns entschließen müs-
sen, mit ritualisierten Traditionen zu brechen: Wer
den Krieg ächten will, muss auch den Hunger äch-
ten.

Ich glaube, das ist eine nach wie vor richtige Bemer-
kung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich hoffe, dass dieser Konflikt, so bitter er im Mo-
ment auch ist, Chancen bietet, die eigentlichen Ursachen
des Konflikts in dieser Region zu erkennen und umfas-
sende politische, soziale, wirtschaftliche und ökologi-
sche Lösungsmöglichkeiten zu erarbeiten und umzu-
setzen. Ich finde, der Antrag der Grünen, über den wir

heute diskutieren, bietet eine Menge an richtigen Ansät-
zen.

Wichtig in diesem Zusammenhang ist die Erkenntnis,
dass eine nachhaltige Entwicklungsperspektive nur unter
Einbeziehung von Vertretern aller Bevölkerungsgruppen
erfolgversprechend ist. Weder die Forderungen der
MNLA nach Selbstbestimmung und einem eigenen Staat
noch die Einführung der Scharia finden bei großen Tei-
len der Bevölkerung Unterstützung.

Auch Ansar Dine wie deren Abspaltung MIA, die
dem Terror abgeschworen haben, werden überwiegend
mit Skepsis betrachtet. Deshalb ist die vielleicht wich-
tigste politische Forderung, den anstehenden politischen
Prozess keinesfalls exklusiv mit den aktuellen Kon-
fliktakteuren zu führen. Für eine tragfähige und nachhal-
tige politische Lösung ist die Einbeziehung von Vertre-
tern gemäßigter Tuareg sowie anderer Volksgruppen von
essenzieller Bedeutung, wie es auch im Antrag gefordert
wird.


(Beifall der Abg. Dr. Bärbel Kofler [SPD] und Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Von zentraler Bedeutung ist auch die entsprechende
Ausbildung des malischen Militärs, Aufklärung und Prä-
vention, im Idealfall zusammen mit den Truppen von
ECOWAS; denn das Schlimmste, was nach einer forma-
len Stabilisierung durch das malische Militär passieren
könnte, wäre, dass „alte Rechnungen beglichen“ werden
und rassistische Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung
zunehmen, wie wir das in den letzten Wochen und Mo-
naten leider schon haben feststellen müssen.

Hier könnte auch Deutschland eine verantwortungs-
volle Rolle übernehmen. Aber all dies wird nur dann er-
folgversprechend sein können, wenn vor Ort existie-
rende zivilgesellschaftliche Strukturen genutzt werden.
Es sollten, wie es auch im Antrag steht, malische Men-
schenrechtsgruppen gezielt gefördert und gestärkt wer-
den. Sie verfügen bereits jetzt über Elemente zur Durch-
führung eines Monitorings, dessen Ergebnisse national
wie international breit publiziert und diskutiert werden
müssen.

Der Zugang für humanitäre Hilfsorganisationen
– Frau Schuster hat es gesagt – gestaltet sich nicht erst
seit dem Eingreifen der Franzosen als sehr schwierig.
Vor den Kämpfen sind laut Aussage des UNHCR inzwi-
schen 400 000 Menschen geflohen, davon gut die Hälfte
ins Ausland nach Mauretanien, Niger, Algerien und Bur-
kina Faso.

UNHCR und das World Food Programme veranschla-
gen einen Bedarf von 153 bzw. 273 Millionen US-Dollar
bis Ende des Jahres allein für das sich täglich auswei-
tende Flüchtlingsproblem im Inland und in den Nachbar-
staaten. Der Bedarf ist aber erst, wie wir gehört haben,
zu 22,7 Prozent gedeckt. In dieser Lage ist es von zentra-
ler Bedeutung, dass Europa und Deutschland auch die
Mittel für humanitäre Hilfe verstetigen und im Zweifel
ausbauen.

Bei all den notwendigen Diskussionen über Truppen-
stellung, Ausrüstungsunterstützung und finanzielle Mit-





Christoph Strässer


(A) (C)



(D)(B)


tel für den Militäreinsatz kommt nach meiner Einschät-
zung der Blick auf die Ursachen für diese Eskalation zu
kurz. Die Sahelregion ist eines der ärmsten Gebiete der
Welt. In den Ländern dieser Region kommt es durch
Dürren und Misswirtschaft seit Jahren immer wieder zu
Lebensmittelkrisen. Ursache hierfür ist unter anderem
die verantwortungslose Spekulation auf die Verteuerung
von Lebensmitteln. Gerade auch, um hier nachhaltig zu
Lösungen zu kommen, werbe ich nachdrücklich für ein
international koordiniertes wirkungsvolles Verbot sol-
cher ethisch verwerflichen Geschäfte. Daran müssen wir
wirklich arbeiten.


(Beifall bei der SPD)


Von großer Bedeutung ist es auch, die Umsetzung der
umfassenden Sahelstrategie des Generalsekretärs der
Vereinten Nationen personell und finanziell zu unterstüt-
zen. Wir brauchen eine effiziente und bedarfsorientierte
humanitäre Nothilfe in enger Absprache mit internatio-
nalen Partnern und nationalen Regierungen.

An dieser Stelle muss ich – vielleicht etwas unerwar-
tet – das Auswärtige Amt einmal ausdrücklich für die
Vorlage der Neuausrichtung der Strategie zur humanitä-
ren Hilfe loben, die uns gestern im Ausschuss für Men-
schenrechte und Humanitäre Hilfe präsentiert worden
ist. Ich finde, das ist ein Gebot der Fairness.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Das ist anständig von Ihnen!)


Darin stehen gute Dinge, und ich hoffe, wir werden das
gemeinsam überprüfen und dafür sorgen, dass diese
Strategie auch umgesetzt werden kann.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich glaube, das ist in der Tat eine der Aufgaben, die vor
uns liegen.

Wir brauchen politische Aktivitäten, die daran orien-
tiert sind, die Lebensbedingungen überall dort langfristig
zu verbessern, wo Armut und Hunger dominieren und
wo es keinen Zugang zu sauberem Trinkwasser und zu
einer zumindest die Grundbedürfnisse befriedigenden
Gesundheitsversorgung gibt. Kurz: Wir brauchen die
Verstetigung der humanitären Hilfe mit einem präventi-
ven Ansatz. Wir brauchen verstärkte Anstrengungen,
auch gemeinsam mit den betroffenen Ländern, um
– jetzt kommt der kritische Teil – dafür zu sorgen, dass
Deutschland und die EU ihren Beitrag zur Erreichung
der Millennium Development Goals bis 2015 leisten.
Das ist eine wesentliche Voraussetzung für die Verhinde-
rung von solchen Krisen, wie wir sie jetzt beklagen.

Wir finden, dass der Antrag der Grünen ziemlich gut
ist. Wenn wir ihn geschrieben hätten, wäre er noch bes-
ser. Er ist aber gut genug, dass wir ihm zustimmen kön-
nen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721917100

Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSU-

Fraktion.


Frank Heinrich (CDU):
Rede ID: ID1721917200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Man hätte die Debatte über den Antrag mit
dem Titel „Sahel-Region stabilisieren – Humanitäre Ka-
tastrophe eindämmen“ zeitlich fast nicht besser einpla-
nen können und vielleicht auch nicht wollen. Deshalb
danke auch ich, wie Frau Schuster, den Antragstellern.
Wir hätten noch im September, als wir an dieser Stelle
das erste Mal darüber diskutiert haben, nicht zu fürchten
gewagt, was daraus wird.

Seit wir damals darüber debattiert haben, haben sich
die Ereignisse überschlagen. Das ist auch einer der
Gründe dafür, dass inzwischen auf eine Vielzahl der
20 Forderungen reagiert wurde. Vieles von dem, was Sie
gefordert haben, ist inzwischen in die Wege geleitet wor-
den, weil die Lage, insbesondere in Mali – das ist ja ein
Kernpunkt Ihres Antrages –, eskaliert ist. Mali ist so et-
was wie das Epizentrum des Erdbebens, das gerade in
der Sahelzone stattfindet. Es hätte auch an einer anderen
Stelle liegen können, aber jetzt ist es dort ausgebrochen.

Frankreich drängt die Islamisten inzwischen zurück.
Deutschland leistet humanitäre und logistische Hilfe.

Ich will kurz auf den Aufschrei einiger NGOs –
„Ärzte ohne Grenzen“ und „Ärzte der Welt“ – von ges-
tern eingehen, die sagten, dass Herr Westerwelle die hu-
manitären und militärischen Aufgaben miteinander ver-
mischen würde. Diese beiden Organisationen haben
natürlich wichtige Stimmen, die von uns gehört werden
müssen; denn nur Neutralität an dieser Stelle sichert die
Lage dieser Hilfsorganisationen. Dennoch ist das ein im-
mer wiederkehrendes Dilemma in Konflikten dieser Art.
Ein gutes Beispiel dafür wurde uns vorgestern von
UNICEF – einige Kollege waren anwesend – gegeben.
Dort wurde uns geschildert – wir haben heute Morgen ja
über die Verlängerung des Afghanistan-Mandats abge-
stimmt –, dass sich 84 Prozent der Frauen in Afghanistan
wünschen, dass das Militär nicht abzieht – natürlich wa-
ren die Aussagen differenzierter als nur Ja oder Nein –,
weil das ihre rechtliche und humanitäre Lage verschlim-
mern würde. Darum ist es wichtig, dass der Auswärtige
Ausschuss, der Verteidigungsausschuss und auch der
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen
Union den Antrag mit beraten und dass die Hilfe für
Mali in Euro- und Dollarbeträgen steigt.

Ich möchte Herrn Westerwelle, der an dieser Stelle
kritisiert wurde, aus seiner Rede von vorgestern zitieren:

Deutschland steht zu seiner Verantwortung. Wir
werden die Aktivitäten zur Befreiung Malis unter-
stützen: finanziell, logistisch, humanitär sowie mit
Ausrüstung und Know-how zur Ausbildung der
malischen Armee. Mit unserer Hilfe tragen wir
dazu bei, dass der Einsatz nun mehr und mehr ein
afrikanisches Gesicht bekommt. Damit legen wir
die Grundlage dafür, dass die islamistischen Extre-
misten in Mali besiegt werden können. Bei aller





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


Richtigkeit des militärischen Einsatzes müssen wir
aber auch weiter mit Nachdruck darauf hinarbeiten,
dass in Mali ein ernsthafter Verhandlungsprozess in
Gang kommt. Denn langfristig kann es nur eine
politische Lösung geben.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Katja Keul [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ich finde, darüber besteht Konsens in diesem Hause. Ich
weiß nicht, welche Stelle daraus zur Begründung der an-
geblichen Vermengung von Aufgaben herangezogen
werden kann. Es wird deutlich, wo die Priorität liegt.

Hilfe findet nie im luftleeren Raum statt. Deshalb ist dies
auch eine Debatte des Ausschusses für Menschenrechte
und Humanitäre Hilfe bzw. des Ausschusses für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung. Deutschland leis-
tet seit Dezember 2011 umfangreiche finanzielle und hu-
manitäre Hilfe an Mali; die Zahlen sind vorhin von der
Kollegin Schuster genannt worden. Die EU beteiligt sich
ebenfalls mit großen Summen.

Die Sahelzone – darauf zielt der Antrag allgemein ab –
ist weit mehr als Mali, doch möchte ich noch einen Mo-
ment bei Mali bleiben. In ungefähr der Hälfte der Be-
gründung geht es auch um Mali. Timbuktu ist – das be-
schäftigt mich persönlich umso mehr – schon seit 1976
die Partnerstadt meines Wahlkreises Chemnitz.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Wow! Sehr gut!)


Es ist eine Kulturhochburg wegen der Mausoleen der
Sufis und wegen der Schriften. Ich habe selber einige
dieser Schriften in den Händen gehalten – sie gehören
zum Weltkulturerbe –; denn durch die Partnerschaft
hatte die Stadtbibliothek in Chemnitz einige Malier zu
Gast, die diese Schriften mitgebracht haben.

Der Auslöser der Eskalation in Mali erinnert mich an
den ersten Auslöser damals in Afghanistan: Das Erste,
was wirklich geschmerzt hat, war, dass die Buddha-Sta-
tuen in Bamiyan, die ebenfalls zum Weltkulturerbe ge-
hören, im März 2001, also vor den Anschlägen und vor
den Begründungen für die Angriffe, zerstört wurden. Sie
waren in den Fels gehauen; eine war 53 Meter hoch.

Die Erkenntnis daraus ist: Humanitäre Hilfe muss
Minderheiten – in diesem Fall die Sufis – und Kultur als
Ausdruck von Humanität und Zivilisation besonders
schützen. Daher brauchen wir neben militärischer, logis-
tischer Unterstützung und humanitärer Hilfe Programme
zum Austausch und zur Zusammenarbeit. Das dürfen
keine Einzelprogramme sein, so gut sie auch seien, son-
dern diese Programme müssen zusammengefügt werden.

Jetzt zur Sahelregion. Bereits am 1. August letzten
Jahres schilderten Vertreter von „Save the children“ und
„World Vision“ – das war in der Süddeutschen Zeitung
zu lesen –, dass diesen Organisationen zufolge 1 Million
Menschen – wir haben das gerade gehört – akut vom
Hungertod bedroht und 18 Millionen Menschen von Un-
terernährung betroffen sind. Laut UNICEF waren und
sind wahrscheinlich 1 Million Kinder in der Sahelzone
in akuter Lebensgefahr.

Die Lage hat sich massiv verändert, und zwar durch
die politischen und kriegerischen Auseinandersetzungen

und Verwerfungen. Aber dazwischen gab es auch eine
bessere Ernte, als man erwartet hat. Das heißt, man kann
jetzt nicht einfach wieder die gleichen Argumente her-
vorholen. Man muss wirklich differenziert an diese Si-
tuation herangehen.

Wie sieht das Leben dieser Menschen konkret aus?
Der grüne Kollege Hoppe und ich waren nach der huma-
nitären Katastrophe am Horn von Afrika und haben dort
die Flüchtlingslager besucht. Wir haben die Situation vor
Ort unter die Lupe genommen, sowohl hinsichtlich der
Organisationen als auch hinsichtlich der Menschen in
den entsprechenden Ländern: die Politik, die Gesichter,
die Geschichten. Für mich ist der Begriff „humanitäre
Katastrophe“ nicht mehr ein Fachbegriff, den ich neutral
nutzen kann. Wir haben Essensausgaben in den Flücht-
lingslagern gesehen und Menschen, die nicht mehr wis-
sen, wohin sie gehören. Kenia und Äthiopien verfolgen
unterschiedliche Strategien, was die Resilienz gegen
Hunger angeht, von Somalia ganz zu schweigen.

Nun zu der großen Warnung, die Sie in Ihrem Antrag
aufgreifen. Es gab Early Warning, also eine frühe War-
nung. Aber Early Action hat nicht funktioniert. Die War-
nung für die Sahelzone gibt es schon lange. Auch hier ist
die Situation im Kontext von Politik und Kriegshandlun-
gen, was Somalia und die Grenze zu Äthiopien angeht,
zu sehen. Man erzählte uns in dem Zeltlager, in dem wir
übernachtet haben, dass nachts Panzer vorbeigefahren
sind. Es gab Wahlen, die bestimmte Dinge unmöglich
machten, und menschenrechtliche Dramen, die teilweise
das genaue Gegenteil der Resilienz darstellten. Äthio-
pien verfolgt eine gute Strategie, wenn es um Resilienz
geht. Aber gleichzeitig sind die menschenrechtlichen
Bedingungen – darüber möchte ich am liebsten nicht re-
den, weil mir sonst schlecht wird – furchtbar.

Was ist tatsächlich zu tun? Die Einzelpunkte dürfen
nicht wie bei einem Puzzle zusammengesetzt werden.
Eine bestmögliche Koordinierung der Hilfen ist erfor-
derlich. Dies geschieht auf der Ebene der Vereinten Na-
tionen durch das Amt für die Koordinierung humanitärer
Angelegenheiten der Vereinten Nationen, UN-OCHA – wir
haben uns davon Bericht erstatten lassen –, das VN-
Kinderhilfswerk, UNICEF, und das VN-Flüchtlings-
hilfswerk, UNHCR. Auf dieser Ebene ist dringend gebo-
ten, eine dauerhafte Konferenz zur humanitären Lage in
der Sahelzone zu installieren. Herr Strässer, Sie haben
bereits darauf hingewiesen: Man muss dauerhaft – nicht
nur, wenn unter politischen Gesichtspunkten etwas auf-
fällig ist – an diesem Thema dranbleiben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)

Inzwischen, seit es diesen Antrag gibt, ist eine Road-

map entstanden, die Ziele vorgibt und quasi Slalomstan-
gen setzt. Das kann nun angegangen werden. Neben der
aktuellen Abstimmung der Maßnahmen bedarf es der
Entwicklung eines Frühwarnsystems für Subsahara-
Afrika insgesamt. Zu begrüßen ist, dass auf EU-Ebene
bereits im Juni letzten Jahres eine neue Partnerschaft der
Geberländer, die Initiative mit dem Namen AGIR Sahel,
Alliance Globale pour l’Initiative Resilience, ins Leben
gerufen wurde und die Mittel für die humanitäre Hilfe
der EU um 40 Millionen auf 337 Millionen Euro aufge-
stockt wurden, und zwar zusätzlich zu den 208 Millio-
nen Euro für die Projekte der Ernährungssicherheit. Ver-





Frank Heinrich


(A) (C)



(D)(B)


treter der EU-Mitgliedstaaten, der USA, Norwegens,
Brasiliens, der Vereinten Nationen, der Weltbank, der
Afrikanischen Entwicklungsbank und anderer Organisa-
tionen sind zu AGIR eingeladen.

Der EU-Entwicklungskommissar Andris Piebalgs er-
klärte zu AGIR – ich zitiere –:

In der heutigen Zeit ist es schwierig, zu akzeptieren,
dass manche Menschen nicht genug zu essen ha-
ben. Dies kann verhindert werden, indem mit den
Sahelländern und internationalen Partnern zusam-
mengearbeitet wird, um tragfähige landwirtschaftli-
che Systeme aufzubauen und somit künftige Krisen
zu vermeiden. Allerdings kann eine solche Wider-
standsfähigkeit nicht über Nacht entwickelt werden.
Die Initiative AGIR Sahel wird alle wichtigen Ak-
teure auf diesem Gebiet zusammenbringen und den
Menschen in der Region auf lange Sicht Hoffnung
auf eine stabilere Zukunft geben. Die EU wird ihren
Teil leisten und in den kommenden Jahren die
Landwirtschaft und die Ernährungssicherheit in den
Mittelpunkt ihrer Unterstützung stellen. Damit wird
eine fundamentale Grundlage geschaffen, um auf
nachhaltiges und breitenwirksames Wachstum hin-
zuarbeiten.

Das ist genau das, worauf Sie vorhin hingewiesen haben.

Ich kann Herrn Piebalgs nur ausdrücklich zustimmen,
insbesondere nach den Erlebnissen und Begegnungen
am Horn von Afrika, von denen ich gerade erzählt habe.

Natürlich engagiert sich die Bundesregierung in der
Sahelregion. Sie ist drittgrößter bilateraler Geber des
Welternährungsprogramms. Das BMZ und das Auswär-
tige Amt stehen in ständigem Kontakt mit den Partnern
in Europa. Die Notwendigkeit einer Aufstockung der
Hilfe wird jederzeit im Blick behalten.

In welche Richtung muss die Hilfe nun weisen? Es ist
sicherlich ein ganzes Bündel von Maßnahmen nötig.
Von weitreichenden politischen Initiativen, zu denen
auch militärische Interventionen, wie wir sie jetzt erle-
ben, gehören können, bis hin zu schneller humanitärer
Hilfe muss das Portfolio der Instrumente reichen.

In dem Antrag werden deshalb 20 verschiedene For-
derungen an die Bundesregierung gestellt. Ich finde al-
lerdings, man verzettelt sich und schadet dem gutge-
meinten Anliegen. Wir sehen, wie schnell die Lage sich
verändert; auf der einen Seite haben wir die gute Ernte,
auf der anderen Seite die politische Instabilität. Deshalb
lehnen wir diesen Antrag ab. Das haben Sie wahrschein-
lich nicht anders erwartet.


(Zurufe vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Oh!)


Wir unterstützen aber insbesondere das Anliegen einer
koordinierten Gesamtstrategie. Ich bitte an dieser Stelle
um weitere konstruktive Zusammenarbeit, was Mali,
aber auch die Sahelregion insgesamt betrifft.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721917300

Das Wort hat nun Christine Buchholz für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Christine Buchholz (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721917400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! In dem

vorliegenden Antrag werden einzelne Forderungen erho-
ben, die wir durchaus unterstützen, etwa die Erhöhung
der Mittel für entwicklungspolitische Maßnahmen, die
auf eine nachhaltige Ernährungssicherung in der Sahel-
region abzielen. Ja, die Bekämpfung dieser humanitären
Katastrophe muss endlich im Zentrum der Arbeit der
Bundesregierung stehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Problem ist nur, dass die Grünen erneut die For-
derung nach entwicklungspolitischen Maßnahmen mit
der Forderung nach militärischen Maßnahmen verknüp-
fen. Da befinden sie sich in trauter Einigkeit mit der SPD
und der Bundesregierung. Dieser Ansatz der sogenann-
ten vernetzten Sicherheit ist schon in Afghanistan ge-
scheitert.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Jetzt muss ich aber die Grünen in Schutz nehmen!)


Das Schlimmste aber ist: Er behindert die humanitäre
Hilfe.

In einem offenen Brief haben die Hilfsorganisationen
„Ärzte ohne Grenzen“ und „Ärzte der Welt“ genau das
mit Bezug auf Mali kritisiert. Sie schreiben an Außen-
minister Westerwelle, er missbrauche – ich zitiere – „das
Ansehen der humanitären Hilfe, um eine militärische In-
tervention unter Beteiligung der Bundesregierung poli-
tisch annehmbarer zu machen“. Der Bundeswehreinsatz
trägt zur Eskalation der Gewalt bei, die zivile Helfer
zum Angriffsziel macht. Das ist ein Grund, warum wir
ihn ablehnen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Krieg in Mali löst keines der sozialen und politi-
schen Probleme, die zu der humanitären Katastrophe ge-
führt haben. Er löst keines der Probleme, die zur Abspal-
tung des Nordens geführt haben. Im Gegenteil: Der
Krieg hat schon jetzt zu einer erheblichen Steigerung der
ethnischen Spannungen geführt. Die französische Zei-
tung Le Monde zitiert einen Bewohner der Stadt Mopti
nach der Rückeroberung durch die malische Armee. Er
sagt: In Mopti wird Jagd auf Menschen gemacht. Die
Armee verfügt über eine Einheit, die Ermittlungen
durchführt. Bestimmte Leute werden verhaftet und er-
schossen. – Das war abzusehen.

Ein weiteres Thema ist das Anwachsen der Flücht-
lingsströme durch den Krieg. Der UNHCR warnt, dass
es in naher Zukunft 300 000 zusätzliche Vertriebene in-
nerhalb von Mali sowie mindestens 400 000 weitere
Flüchtlinge in den Nachbarländern geben könnte. Das
sind doppelt so viele, wie vor der französischen Inter-
vention auf der Flucht waren.





Christine Buchholz


(A) (C)



(D)(B)


Es ist nicht so, dass es in Mali niemanden gäbe, der
diese Entwicklung stoppen will. Bürgerrechtsgruppen
planen seit Wochen eine Bürgerkarawane für den Frie-
den zwischen den Städten Segou und Mopti. Ziel dieser
Karawane war es, für einen Dialog zwischen den Bevöl-
kerungsgruppen zu mobilisieren. Doch die französische
Armee hat die vorgesehene Straße nicht freigegeben.
Man sieht: Krieg behindert nicht nur die Arbeit der hu-
manitären Helfer, sondern auch die von zivilgesell-
schaftlichen Gruppen, die sich für zivile Lösungen der
Probleme einsetzen.

Frankreich hat in den vergangenen vier Jahrzehnten in
vielen afrikanischen Staaten militärisch eingegriffen.
Nie ging es wirklich um die humanitäre Situation; immer
ging es darum, die Interessen von Firmen wie dem Öl-
konzern Total oder dem Atomkonzern Areva zu schüt-
zen. Auch im Sand von Mali sucht Total nach Öl. Es
geht auch um die riesigen Vorkommen von Uran in Ni-
ger, die größten auf dem afrikanischen Kontinent. Vor
wenigen Tagen haben wir die Nachricht gelesen, dass
Frankreich nun auch die Uranminen im benachbarten
Niger militärisch schützen möchte.


(Michael Brand [CDU/CSU]: Geht es vielleicht auch um Terrorismus?)


In Afrika findet ein Wettlauf um Rohstoffe statt.
Deutschland will in diesem Spiel mitspielen. Das lehnen
wir ab.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir unterstützen jede humanitäre und zivile Maß-
nahme, die zur Verbesserung der Lebenssituation der
Menschen in der Sahelregion führt. Der Ansatz der Grü-
nen allerdings schafft nur ein dürftiges Deckmäntelchen
für die Unterstützung Deutschlands in dem Krieg.

Deswegen lehnen wir diesen Antrag genauso ab, wie
wir die Entsendung von Transall-Maschinen und die Un-
terstützung der Luftbetankung der französischen Kriegs-
maschinen ablehnen. Deshalb sagen wir Nein zu diesem
Antrag.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721917500

Als letzter Rednerin zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich Kollegin Katja Keul das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.


Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721917600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Spätestens Ende 2011 war absehbar, dass Mali
ein Kollateralschaden des Libyen-Einsatzes werden
würde. Mit dem heute vorliegenden Antrag wollten wir
bereits im Februar 2012 auf eine Konfliktprävention hin-
wirken. Doch während der Erarbeitung überschlugen
sich die Ereignisse. Als wir den Antrag schließlich ein-
brachten, erfuhr er immerhin eine deutliche Zustimmung
vonseiten der Entwicklungspolitikerinnen und -politiker.
Dennoch wurde er in den Ausschüssen von der Mehrheit
abgelehnt. Da hilft es auch nicht, dass Sie diese Woche
eine Aktuelle Stunde anmelden. Das Thema ist schon
lange aktuell.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


In Mali drohte 2011 wieder einmal eine Hunger-
katastrophe. Die Armee dieses zwar demokratischen,
aber bitterarmen Staates war angesichts der schwerbe-
waffneten Tuareg-Heimkehrer aus Libyen völlig über-
fordert.

Im Januar 2012 wurden 100 malische Soldaten im
Norden Malis brutal massakriert. Die Armee weigerte
sich letztlich, sich weiter verheizen zu lassen, und zog
schließlich am 21. März nach Bamako, wo sich die Re-
gierung ohne weiteren Widerstand zurückzog. Spätes-
tens jetzt hätte der deutsche Außenminister zivile
Krisenprävention betreiben können. Aber es kam wie
immer: Erst als die militärische Option auf dem Tisch
lag, haben Sie begonnen, sich mit der Situation ausein-
anderzusetzen. Dabei hätten frühzeitige international ko-
ordinierte Verhandlungen eine gute Aussicht auf Erfolg
gehabt, da die islamistischen Gruppen keinerlei Rück-
halt in der Bevölkerung haben. Selbst die Tuareg, die ur-
sprünglich mit ihrem Unabhängigkeitsbestreben eine Ur-
sache der Eskalation setzten, haben sich größtenteils von
den Islamisten distanziert und sind bereit, sich wieder in
den malischen Staat integrieren zu lassen. Die Situation
im Land ist daher in keiner Weise mit Afghanistan ver-
gleichbar, wo die fundamentale Glaubensausrichtung der
Taliban fest in der paschtunischen Bevölkerung veran-
kert ist.

Trotz dieser positiven Ausgangslage ist weitere Zeit
verloren worden, sodass der Vorstoß der Islamisten nach
Süden eine militärische Intervention notwendig machte.
Ja, ich sage in der Tat „notwendig“ und bezichtige die
Franzosen an dieser Stelle auch nicht der üblichen post-
kolonialen Interessenverfolgung. Nachdem Mali bereits
zwei Drittel seines Territoriums verloren hat, hätte der
weitere Durchmarsch der Islamisten nach Bamako das
Ende des malischen Staates bedeutet. Der von uns so
dringend geforderte politische Prozess hätte keinen An-
knüpfungspunkt mehr gehabt.

Auch der treffende Hinweis darauf, dass die Franzo-
sen schließlich auf das Uran aus der Region angewiesen
sind, um ihre Atomkraftwerke zu betreiben, reicht nicht
aus, um die Motivation der Regierung Hollande an die-
ser Stelle zu diskreditieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die neue französische Regierung hat glaubwürdig eine
Abkehr von der bisherigen Politik Sarkozys, von Franç-
afrique, eingeleitet.


(Christine Buchholz [DIE LINKE]: Offensichtlich nicht!)


Die Franzosen waren jedoch die Einzigen, die nach
wie vor in der Region militärisch präsent und einsatzbe-
reit waren, als sie das Hilfeersuchen der Malier erreichte.
Dadurch ist ihnen eine Rolle zugekommen, die sie ei-
gentlich nicht mehr spielen wollten. Das ist eine große
Herausforderung für die französische, aber auch für die
europäische Außenpolitik.

Wer den Zustand der Beziehungen zwischen Frank-
reich und Algerien kennt, weiß, was es bedeutet, wenn in





Katja Keul


(A) (C)



(D)(B)


der aktuellen Situation selbst die Algerier den Franzosen
Überflugrechte gewähren.

Wichtig ist in der jetzigen Lage vor allem, dass nicht
wieder der Blick auf den politischen Prozess durch die
einseitige Konzentration auf das Militärische verloren
geht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Nach der Vertreibung der Terroristen aus den Städten in
Nord-Mali können jetzt endlich die notwendigen Wahlen
so durchgeführt werden, dass alle Malier teilnehmen
können. Das muss jetzt größte Priorität haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Außerdem muss die eingefrorene Entwicklungszusam-
menarbeit wieder aufgenommen werden; denn ohne
finanzielle Mittel kann die Regierung weder Wahlen
durchführen noch staatliche Strukturen stabilisieren.

Das größte Risiko des Militäreinsatzes sehe ich der-
zeit darin, dass zivile Opfer und Racheakte am Ende
doch noch zu Allianzen und Solidarisierungen führen,
die Verhandlungen deutlich erschweren könnten. Darauf
zu achten, ist nicht nur die Verantwortung der Franzosen,
sondern der Europäischen Union insgesamt und damit
auch der Bundesregierung. Diese Verantwortung wahr-
zunehmen, ist letztlich entscheidender als die Bereitstel-
lung von Transall-Flugzeugen und die Unterstützung der
Luftbetankung. Werden Sie dieser Verantwortung end-
lich gerecht!

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721917700

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe zu
dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit
dem Titel „Sahel-Region stabilisieren – Humanitäre Ka-
tastrophe eindämmen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11431, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/10792 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen von CDU/CSU, FDP und Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 9 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Weiterentwicklung der Krebsfrüherken-
nung und zur Qualitätssicherung durch klini-

(Krebsfrüherkennungsund -registergesetz – KFRG)


– Drucksache 17/11267 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Gesundheit (14. Ausschuss)


– Drucksache 17/12221 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Jens Ackermann

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Christine Aschenberg-Dugnus für die FDP-Fraktion das
Wort.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1721917800

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Deutschland verfügt über ein hochent-
wickeltes Gesundheitssystem, um das uns viele andere
Nationen zu Recht beneiden. Wir haben in den letzten
Jahren und Jahrzehnten grundlegende Verbesserungen
und Fortschritte in der Krebsfrüherkennung und Krebs-
behandlung erzielen können. Dennoch – es ist eine trau-
rige Wahrheit –, Krebs ist immer noch die zweithäufigste
Todesursache in Deutschland.

Fest steht: Die Krebsfrüherkennung ist in der Krebs-
bekämpfung eine unserer wichtigsten Säulen. Gerade die
Früherkennungsangebote werden von den Bürgern aber
leider nur unzureichend genutzt. Deshalb müssen wir
hier besser werden.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Mit persönlichen Einladungen zur Krebsfrüherken-
nung werden wir die Menschen künftig besser erreichen.
Das gilt nicht nur, aber gerade auch für Menschen aus
bildungsferneren Schichten. Damit die Bürger diese Ein-
ladungen auch annehmen, werden wir die Informationen
über die Krebsfrüherkennung verbessern. Die Menschen
müssen ganz klar über Nutzen, aber auch Grenzen der
Krebsfrüherkennung informiert werden. Tatsache ist: Je
besser die Menschen informiert sind, meine Damen und
Herren, umso verantwortungsbewusster und auch umso
selbstbestimmter gehen sie mit dieser Einladung zur
Krebsfrüherkennung um.

Weiterhin führen wir eine konsequente Qualitäts-
sicherung und Erfolgskontrolle der Früherkennungspro-
gramme ein. Damit können wir nicht nur Nutzen und
Grenzen der Programme noch besser analysieren, son-
dern wir sind auch in der Lage, sie noch weiter zu ver-
bessern. Mit dieser Vorgehensweise steigern wir aber
nicht nur die Qualität; wir gewinnen auch das Vertrauen
der Menschen.

Dass Vertrauen an dieser Stelle wichtig ist, zeigen
auch entsprechende Studien, die uns das Ministerium
vorgelegt hat. Danach wollen 90 Prozent der Frauen, die





Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)


am Mammografie-Screening teilgenommen haben, einer
neuerlichen Einladung in jedem Fall nachkommen, weil
sie sich über Nutzen und Grenzen des Mammografie-
Screenings ausreichend informiert fühlten. Information
ist an dieser Stelle also ganz besonders wichtig. Daher
sind diese Studien für mich ein eindeutiger Beleg dafür,
dass wir mit unseren Maßnahmen zur Verbesserung der
Krebsfrüherkennung genau richtig liegen, meine Damen
und Herren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Diagnose Krebs ist für die Betroffenen immer
eine erschütternde Nachricht. Deshalb ist es wichtig,
dass sich die anschließende Behandlung auf einem sehr
hohen Niveau bewegt. Diese Qualität werden wir für die
erkrankten Menschen künftig noch besser gewährleisten
können. Mit der flächendeckenden Einführung von kli-
nischen Krebsregistern werden wir bald in der Lage sein,
die Qualität der onkologischen Versorgung sektoren-
übergreifend darzustellen, die Qualität zu bewerten und
sie schlussendlich auch zu verbessern.

Damit bin ich beim zweiten Schwerpunkt unseres Ge-
setzes. Für uns war es wichtig, dass wir ein gemeinsames
Konzept vorlegen können, das zwischen Bund, Ländern
und Deutscher Krebshilfe abgestimmt ist. Das ist uns mit
diesem Gesetz gelungen. Wir haben uns auf eine einheit-
liche Gestaltung der flächendeckenden onkologischen
Krebsregistrierung geeinigt. Die einheitlichen Maßstäbe
sorgen für eine Qualitätssicherung in der onkologischen
Versorgung mit einem konkreten Nutzen für die Patien-
ten. Wichtig ist aber auch, dass die Deutsche Krebshilfe
circa 90 Prozent der Kosten in Höhe von insgesamt
8 Millionen Euro für den Aufbau des Krebsregisters
übernimmt. Lediglich die restlichen 10 Prozent liegen in
der Verantwortung der Länder. Die Betriebskosten wer-
den überwiegend aus Mitteln der gesetzlichen Kranken-
versicherung finanziert.

Mit dem Krebsfrüherkennungs- und -registergesetz
verbessern wir spürbar die Krebsfrüherkennung und die
Qualität der onkologischen Versorgung. Die damit ein-
hergehenden Maßnahmen verbinde ich mit einer Bot-
schaft an die vielen Menschen, die jedes Jahr an Krebs
erkranken: Eine Krebserkrankung bedeutet nicht Hoff-
nungslosigkeit, sondern eine Herausforderung, der wir
gemeinsam erfolgreich begegnen können.

Meine Damen und Herren, abschließend möchte ich
noch auf zwei Themen zu sprechen kommen, die in den
letzten Wochen häufig und heftig debattiert wurden.

Erstens: Korruption und Bestechlichkeit bei Ärzten.
Das dürfen wir auf gar keinen Fall durchgehen lassen; da
sind wir uns alle einig. Das muss geahndet werden. Wir
wollen die Ärzteschaft aber auch nicht unter Generalver-
dacht stellen. Deshalb haben wir mit Augenmaß gehan-
delt. Die KVen sind jetzt befugt, den notwendigen Da-
tenabgleich mit den Kammern vorzunehmen. Das ist die
Voraussetzung dafür, im Rahmen des Berufsrechtes Kor-
ruption zu sanktionieren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zweitens: Chefarztboni. Ich freue mich, dass es uns
gelungen ist, mit dem vorliegenden Gesetzentwurf eine
weitere Regelung zur Verbesserung der Qualität der Ver-
sorgung auf den Weg zu bringen. Zukünftig wird es im
Einvernehmen mit der Bundesärztekammer Empfeh-
lungen der DKG geben, wie leistungsbezogene Zielver-
einbarungen auszusehen haben. Diese Empfehlungen
schließen Zielvereinbarungen aus, die auf finanzielle
Anreize bei einzelnen Leistungen abstellen. Damit soll
und wird die Unabhängigkeit medizinischer Leistungen
gesichert werden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Alle Krankenhäuser, die sich nicht an diese Empfeh-
lungen halten, müssen das künftig offenlegen. Damit
schaffen wir die notwendige Transparenz. Der Patient
kann schwarz auf weiß nachlesen, wie das in seinem
Krankenhaus vor Ort gehandhabt wird. Denn für die Pa-
tienten ist doch wirklich nur eines wichtig: die fachliche
Unabhängigkeit der medizinischen Entscheidung, auf
deren Grundlage der Patient gegebenenfalls operiert
wird. Dass dies gewährleistet ist, haben wir im Rahmen
des vorgelegten Gesetzentwurfs erreicht.

Ich danke Ihnen für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721917900

Das Wort hat nun Marlies Volkmer für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1721918000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Koalition hat zunächst einen Gesetzentwurf zur Umset-
zung der Empfehlungen des Nationalen Krebsplanes und
zur Einführung klinischer Krebsregister vorgelegt. Dann
hat sie zwei sachfremde Änderungsanträge angeschlos-
sen. Diese haben das Ziel, zu verhindern, dass wegen
Chefarztboni unnötige Operationen in Krankenhäusern
durchgeführt werden. Hier sah sich die Koalition in Zug-
zwang. Denn als wir das Patientenrechtegesetz beraten
haben, haben Sie, meine Damen und Herren von der
Koalition, dieses Thema ausgeklammert. Dabei ist es na-
türlich zweifellos so, dass es ein ganz wichtiges Patien-
tenrecht ist, dass sich Patienten darauf verlassen können
müssen, dass sie nur dann operiert werden, wenn es auch
nötig ist,


(Beifall bei der SPD)


und nicht, wenn vielleicht in einer Abteilung noch einige
Operationen fehlen, damit dann der Chefarztbonus ge-
zahlt werden kann.


(Sibylle Laurischk [FDP]: Das wollen wir ja alle nicht! – Heinz Lanfermann [FDP]: Das ist ein sehr gequälter Zusammenhang!)


Ich komme zunächst einmal zurück zum Gesetz mit
dem sperrigen Namen „Krebsfrüherkennungs- und -re-
gistergesetz“. Dieser Name führt auch dazu, dass sich





Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)


niemand außerhalb der Fachwelt für dieses Gesetz inte-
ressiert – eigentlich zu Unrecht, weil es ein wichtiges
Gesetz ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Dieses Gesetz fußt auf dem Nationalen Krebsplan,
der noch zur Regierungszeit der SPD aufgestellt worden
ist. Ganz wichtig ist, dass Krebs mithilfe von organisier-
ten, qualitätsgesicherten Früherkennungsuntersuchun-
gen frühzeitig erkannt werden soll. Vorbild für diese
Früherkennungsuntersuchungen ist das Mammografie-
Screening-Programm.

Die Länder werden zur Einrichtung klinischer Krebs-
register verpflichtet. Klinische Krebsregister erheben die
Daten aller krebskranken Patientinnen und Patienten ei-
ner Region, von der Diagnosestellung über die Behand-
lung bis zum gesamten Verlauf. Diese Daten werden mit
den vorliegenden Daten der epidemiologischen Krebsre-
gister verknüpft, die das Auftreten und das Vorkommen
von Krebserkrankungen in einer Region aufzeigen. Mit-
hilfe dieser beiden Register und ihrer Verknüpfung wer-
den wir zukünftig erstmalig in Deutschland erkennen,
welche Therapie unter welchen Bedingungen die besten
Ergebnisse liefert. Wir werden auch den Nutzen von
Früherkennungsuntersuchungen bewerten können, die
zum Beispiel im Rahmen des Mammografie-Screenings
oder des geplanten Darmkrebs-Screenings durchgeführt
werden. Auch für die Versorgungsforschung sind diese
Daten von großer Bedeutung. Insgesamt muss man sagen,
dass sich die Qualität der Behandlung von Patientinnen
und Patienten mit Krebs dadurch deutlich verbessern
wird.

Die Deutsche Krebshilfe übernimmt die Anschub-
finanzierung für den Aufbau der klinischen Krebsregis-
ter. Hierfür sei der Deutschen Krebshilfe ausdrücklich
gedankt.


(Beifall bei der SPD)


Das Engagement der Krebshilfe zeigt aber auch auf,
welch hohe Erwartungen sie hinsichtlich einer Verbesse-
rung der Versorgungsqualität durch die Krebsregister
hat.

Seit Wochen wird nun in der Öffentlichkeit darüber
diskutiert, ob in deutschen Krankenhäusern unnötige
Operationen durchgeführt werden, weil es leistungsbe-
zogene finanzielle Zuwendungen insbesondere für Chef-
ärzte gibt. Es ist richtig, dass der Gesetzgeber hier han-
deln muss. Aber was Sie uns hier vorgelegt haben, liebe
Kolleginnen und Kollegen von CDU/CSU und FDP,
wird der Problematik in keiner Form gerecht. Wie so oft
erwecken Sie hier den Eindruck des Tätigwerdens, wohl
wissend, dass alles so bleibt, wie es ist.

Sie sagen, Sie wollen keine Bonusverträge im Kran-
kenhausbereich zulassen, die Zielvereinbarungen im
Hinblick auf bestimmte Leistungen enthalten. Aber Sie
machen den Bock zum Gärtner; denn gerade die Deut-
sche Krankenhausgesellschaft soll sich bis zum 30. April
dieses Jahres mit der Ärztekammer auf Empfehlungen
einigen, wie denn Chefarztverträge aussehen sollen.


(Lars Lindemann [FDP]: Wer denn sonst?)


Sie wissen doch selbst, dass die Deutsche Krankenhaus-
gesellschaft mehrfach betont hat, dass sie gar keinen
Handlungsbedarf sehe,


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Die Ärzte schon!)


dass es solche detaillierten Verträge überhaupt nicht
gebe und alles viel subtiler sei.

Was ist denn nun eigentlich, wenn solche Empfehlun-
gen bis zum 30. April nicht zustande kommen? Dann
können Sie nur „Du, du, du!“ sagen; da werden sich die
Krankenhäuser aber fürchten. Sie haben keinerlei Ersatz-
vornahme vorgesehen. Einmal angenommen, es käme zu
solchen Empfehlungen und die Krankenhäuser hielten
sie nicht ein, was passiert denn dann, was sind die Kon-
sequenzen?


(Zuruf von der FDP: Das steht in der Zeitung!)


Es gibt keine Konsequenzen. Sie sagen nur, die Kran-
kenhäuser müssten dann in ihren Qualitätsberichten auf
Bonusverträge hinweisen.

Ich weiß nicht, wer von Ihnen sich schon einmal nä-
her mit Qualitätsberichten von Krankenhäusern beschäf-
tigt hat. Solch ein Qualitätsbericht ist ungefähr so um-
fangreich wie ein örtliches Telefonbuch.


(Lars Lindemann [FDP]: Wer lesen kann, ist klar im Vorteil!)


Der Qualitätsbericht der Charité hat ungefähr 1 000 Sei-
ten. Darin sind so viele Zahlen enthalten wie in den Gel-
ben Seiten für Berlin. Diese Berichte sind für Laien nicht
verständlich; sie schaffen keinerlei Transparenz für Pa-
tientinnen und Patienten.


(Christine Aschenberg-Dugnus [FDP]: Das sehen wir aber ganz anders!)


Gerade kam von Ihnen der Zuruf: „Das steht in der
Zeitung!“ Ja, ganz genau; Sie haben im Ausschuss ge-
sagt, was Sie wollen: Sie verlassen sich darauf, dass zum
Beispiel die Medien die Informationen aufbereiten und
in verständlicher Form allen Menschen zur Verfügung
stellen;


(Lars Lindemann [FDP]: Wir können davon ein Lied singen! – Heinz Lanfermann [FDP]: Trauen Sie denen denn gar nichts zu?)


die Patienten würden dann Kliniken ohne solche Ver-
träge den Vorzug geben.

Doch was machen denn zum Beispiel Patienten, die
wegen eines Notfalls aufgenommen werden, oder Pa-
tienten, die keine Wahlmöglichkeit haben? Die können
dann höchstens nachträglich zur Kenntnis nehmen, dass
ihr Krankenhaus solche Bonusverträge hat. Vielleicht
nehmen sie es auch zur Kenntnis, wenn sie noch im
Krankenhaus liegen, und sind dann verunsichert. Aber
sie können dann im Grunde genommen nichts tun.

Ich sage Ihnen eines: Ihre Regelung zur Bekämpfung
der Mengenausweitung von Leistungen aufgrund von
Bonusverträgen ist ein Papiertiger. Er jagt niemandem
Angst ein. Er wird in diesem Bereich nichts verändern.





Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)


Aufgrund dieser Regelung werden wir dem vorlie-
genden Gesetz nicht zustimmen. Wir werden uns der
Stimme enthalten, auch wenn wir dem Teil der Krebs-
registrierung und der Krebsfrüherkennung zustimmen
würden. Insgesamt enthalten wir uns bei diesem Gesetz
der Stimme.


(Beifall bei der SPD – Heinz Lanfermann [FDP]: Dabei hatten wir das im Ausschuss so ausführlich erklärt! – Gegenruf von der FDP: Da waren ja nicht alle da!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721918100

Das Wort hat nun Rudolf Henke für die CDU/CSU-

Fraktion.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1721918200

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen! Frau Volkmer, vielleicht darf
ich zunächst etwas zu der Funktion und der Bedeutung
der von Ihnen angesprochenen Qualitätssicherungsbe-
richte sagen. Ich glaube, Sie lassen völlig außer Acht,
welche Funktion diese Qualitätssicherungsberichte nicht
nur in dem von Ihnen genannten Punkt, sondern auch in
vielen anderen Punkten haben. Wann sind denn diese
Qualitätssicherungsberichte als Pflichtvorgabe für die
Krankenhäuser in dieser Form beschlossen worden? Das
ist 2005 gewesen, da ist die SPD mit in der Regierung
gewesen. Sie haben doch die Regelungen und damit die
Telefonbücher, wie Sie die Berichte jetzt genannt haben,
beschlossen. Diese Regelungen haben Sie ins Gesetz ge-
bracht.

Wenn wir diese Telefonbücher jetzt dazu nutzen, wei-
tere Telefonnummern beizufügen, dann bedeutet das,
dass man damit jemanden adressieren kann.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Aber doch nicht die Patientinnen und Patienten!)


Nun kann das natürlich nicht jeder, etwa wenn er kein
Telefon zur Verfügung hat oder nicht wählen kann. Aber
das ist kein Problem; denn diese Qualitätssicherungsbe-
richte werden überall dazu benutzt, Transparenz herzu-
stellen, zum Beispiel durch die gesetzlichen Kranken-
kassen, durch die ärztlichen Körperschaften und durch
die Öffentlichkeit.

Deswegen, verehrte Frau Kollegin Volkmer, hauen
Sie sich doch selbst ins Gesicht, wenn Sie die von Ihnen
beschlossenen Qualitätssicherungsberichte jetzt in dieser
Weise als einen Beitrag zur Intransparenz oder wie auch
immer werten. Da wäre ich für etwas mehr historische
Genauigkeit tief dankbar. Deswegen, finde ich, ist das
kein Einwand.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jetzt zu der zweiten Frage: Was ist denn das Ziel? Ja,
Sie haben natürlich recht: Das Thema Mengenentwick-
lung kann nicht allein über Boni für Chefärzte und deren
Vergütung im Zusammenhang mit einer Mengenanbin-
dung gelöst werden. Aber unsere Koalition hat schon be-
schlossen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft und
dem Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen

den Arbeitsauftrag zu erteilen, ein Gutachten in Auftrag
zu geben. Ich höre aus dem Spitzenverband, dass man
jetzt so weit sei, die Ausschreibung für dieses Gutachten
in Gang zu bringen. Daraus soll ja dann eine Gesamt-
konzeption werden.

Aber wenn wir das wollen, müssen wir an Stellen, wo
wir handeln können, auch handeln. Ich finde die Formu-
lierung, die wir gestern im Gesundheitsausschuss be-
schlossen haben, sogar noch ein Stück weit besser als
die, die wir beschlossen hätten, wenn wir uns zu dem
Zeitpunkt verständigt hätten, als über das Patientenrech-
tegesetz diskutiert wurde. Denn die Formulierung ist
jetzt klarer und eindeutiger. Sie beruht ja auch auf einem
Formulierungsvorschlag der Bundesärztekammer und
nicht der Deutschen Krankenhausgesellschaft.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deswegen meine ich, dass es nicht in Ordnung ist,
wenn Sie das hier als weiße Salbe apostrophieren.


(Heinz Lanfermann [FDP]: Auch Salbe kann helfen!)


Natürlich kann man nicht immer alles in einem einzigen
Gesetz regeln.

Ich glaube, dass wir drittens auch Klarheit darüber ha-
ben müssen, dass wir mit diesem Gesetz natürlich nicht
alle Aufgaben, die im Zusammenhang mit der Präven-
tion von Krebserkrankungen von Bedeutung sind, erfül-
len können. In meiner Wahrnehmung ist in den Industrie-
ländern die häufigste Ursache für Krebserkrankungen
der Konsum von Tabak. Das ist vermeidbar. Auf Zigaret-
ten zu verzichten und auf seine Gesundheit zu achten, er-
fordert aber Wissen und vor allem Eigenverantwortung.
Deswegen ist der Aufklärungsansatz in der Primärprä-
vention, immer wieder Handlungserfordernisse zu beto-
nen, richtig.

Gleichwohl ist es auch richtig, in diesem Gesetz die
Früherkennung zu regeln. Ich betone das deswegen, ver-
ehrte Kolleginnen und Kollegen aus der grünen Frak-
tion, weil ich an Ihrem Entschließungsantrag vieles aus
Sicht der Opposition verstehe.


(Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann stimmen Sie zu! Er ist gut!)


Eines verstehe ich aber überhaupt nicht, und das ist fol-
gender Satz, den Sie in Ihrem Entschließungsantrag
schreiben:

Appelle an die Eigenverantwortung und über Ärz-
tinnen/Ärzte zu vermittelnde Individualprävention
laufen ins Leere und gehören der präventionspoliti-
schen Steinzeit an.

Wenn das so wäre, dann müssen Sie aus einer Zeit
stammen, die vor der Steinzeit liegt; denn gegenüber Ih-
rer Kenntnislage wäre das ein Fortschritt. Insofern muss
ich sagen: Sie bringen bei der Prävention Etliches durch-
einander.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Abg. Birgitt Bender [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721918300

Gestatten Sie eine Frage?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1721918400

Ich gestatte.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721918500

Bitte schön.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721918600

Verehrter Kollege Henke, Sie haben sicherlich schon

davon gehört, dass Prävention im Setting stattfinden
muss, dass man gerade diejenigen erreichen muss, die
nicht hochgebildet und mit gutem Einkommen versehen
sind und wesentlich weniger Möglichkeiten haben, ihre
Verhaltensweisen zu ändern. Sie tun es sicher nicht des-
wegen, weil der Arzt sagt: Es wäre gut, mit dem Rau-
chen aufzuhören. – Damit erreicht man gebildete Leute,
die es ohnehin schon wissen. Man muss aber doch die
anderen erreichen. Ist Ihnen das wirklich nicht bekannt?


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1721918700

Selbstverständlich ist mir das bekannt. Es ist auch

richtig, das zu tun. Deswegen ist der Setting-Ansatz,
wenn Sie etwa an die betriebliche Gesundheitsförderung
oder die Gesundheitsförderung in Bildungseinrichtun-
gen, Schulen oder auch Altenheimen denken, eines der
Kernelemente der Bundesregierung für den zurzeit dis-
kutierten Referentenentwurf zum Thema Prävention. Ich
bin sehr neugierig, was Sie tun werden, wenn es um die-
sen Gesetzentwurf geht und er den Bundesrat passieren
soll.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Verfolgen Sie dann die Strategie von Frau Ferner, diesen
Gesetzentwurf der Diskontinuität anheimfallen zu las-
sen, weil Sie sagen: „Wir spielen ein Machtspiel; diese
Ansätze der Prävention wollen wir über den Bundesrat
verhindern“? Ich werde sehr genau darauf achten, ob die
einzige grüne Gesundheitsministerin dieses Spiel der
SPD, das Frau Ferner angekündigt hat, mitmachen wird.
Da können Sie Ihre Glaubwürdigkeit unter Beweis stel-
len. Ich wünsche Ihnen sehr, dass Sie dann aus der Zeit
vor der Steinzeit in die Moderne finden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der entscheidende Punkt, der mit diesem Gesetz ver-
bunden ist, ist, dass wir die Therapien transparenter be-
werten können. Ich glaube, dass wir mit den Krebsregis-
tern eine Möglichkeit schaffen, mehr Transparenz als
bisher darüber herzustellen, wie qualifiziert Behandlun-
gen ablaufen. Das ist ein angemessenes Instrument bei
einer Krankheit, die so sehr in das eigene Leben ein-
schneidet, wie es bei Krebs der Fall ist. Dort die zusätzli-
che Sicherheit zu schaffen, dass alle erreichbaren und
verfügbaren Daten miteinander verbunden werden und
zum Gegenstand von Versorgungsforschung und zum
Gegenstand der Weiterentwicklung von Therapiestrate-
gien werden, ist der gute Teil an diesen Krebsregistern.

Deswegen bin ich darüber froh, dass wir uns in der
Koalition aufgrund des Vortrags der Sachverständigen

aus dem Bereich der Krebsregister in der Anhörung dazu
entschieden haben, den Betrag für die Krebsregisterpau-
schale, der in dem ursprünglichen Entwurf vorgesehen
war, zu korrigieren. Wir haben erkannt, dass die Höhe
der Kosten, die Prognos ermittelt hatte, zu gering war;
denn die Register, die von Prognos geprüft wurden,
konnten den Aufgabenstand nicht komplett erfüllen, den
wir im Gesetz normieren. Deswegen ist die Entschei-
dung, die Pauschale von 94 Euro auf 119 Euro zu erhö-
hen, eine richtige Entscheidung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Gestern im Ausschuss war die wesentliche Kritik an
der Früherkennung die, dass der Gemeinsame Bundes-
ausschuss nicht genügend Flexibilität gegenüber den
Vorgaben aus Richtlinien hat, die von der Europäischen
Kommission publiziert werden. Dazu muss man einfach
einen Blick ins Gesetz werfen. Drei Jahre hat der Ge-
meinsame Bundesausschuss Zeit, um festzustellen, ob
eine Maßnahme überhaupt von der gesetzlichen Kran-
kenkasse zu bezahlen ist. Drei Jahre hat er Zeit, um fest-
zustellen, in welcher Form sie in Deutschland imple-
mentiert werden soll. Wenn dann sachliche Zweifel
bestehen, ist noch einmal ein Zeitraum von fünf Jahren
vorgesehen, in dem dafür gesorgt wird, dass zusätzliche
Erkenntnisse gewonnen werden, die dann auf die Gestal-
tung der Früherkennungsprogramme Einfluss nehmen.

Ich weiß, dass ein Teil der Beobachter der Meinung
ist, dass dieser Zeitraum eher zu lang ist. Es kann auch
keine Rede davon sein, dass der Gemeinsame Bundes-
ausschuss von den Entscheidungen ausgeschlossen wäre
und gewissermaßen eine Brüsseler Kommandomedizin
zu verfolgen hätte. Er behält alle Freiheiten, das Vorge-
hen in Deutschland den hier verfügbaren wissenschaftli-
chen Erkenntnissen anzupassen.

Ich will meine Rede wie gestern damit schließen, Sie
sehr zu bitten, keine parteipolitische Konfrontation auf-
zumachen, die nicht notwendig ist, und in Bezug auf die
Teile, die Sie kritisieren, anzuerkennen, dass auch aus
Ihrer Warte das Glas mindestens halb voll ist. Es ist doch
besser, ein halb volles Glas zu nutzen, als das Glas aus-
zuschütten und anschließend zu sagen: Jetzt ist gar
nichts mehr drin.

Ich bitte Sie herzlich, sich nicht nur, wie gestern im
Ausschuss, zu enthalten, sondern unserem Gesetzent-
wurf doch noch zuzustimmen. Ich halte das auch für ein
gutes Signal gegenüber dem Bundesrat.

Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721918800

Das Wort hat nun Martina Bunge für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Martina Bunge (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721918900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Für

die Linksfraktion möchte ich bekunden: Wir sind froh,
dass der Bundestag heute, fast auf den Tag genau am





Dr. Martina Bunge


(A) (C)



(D)(B)


60. Gründungstag des DDR-Krebsregisters, endlich ein
Gesetz für ein flächendeckendes Krebsregister in der ge-
samten Bundesrepublik beschließen will.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich bin froh, dass auch die Finanzierung dafür geregelt
ist und aufgrund von Einwänden sogar noch verbessert
wurde.

Ich kann mich noch allzu gut an die Klimmzüge erin-
nern, die wir Ende der 90er-Jahre in der Gesundheits-
ministerkonferenz gemacht haben, um das Gemeinsame
Krebsregister der ostdeutschen Länder als Fortführung
des DDR-Registers zu retten. Ich denke, es ist nicht
schlecht, dass wir das haben.

Nun zu dem heute vorliegenden Gesetzentwurf. Lei-
der sind Sie nicht konsequent genug gewesen. Das Ziel,
alle Tumorarten zu erfassen und die Qualität der Versor-
gung, aber auch die regionalen Differenzierungen zu er-
forschen, wird nicht hinreichend zu verwirklichen sein.
Davon sind wir überzeugt. Dass beispielsweise Privat-
versicherte nicht verpflichtend einbezogen werden,
schwächt die Datenbasis. Hinzu kommt, dass eine zen-
trale Stelle fehlt, die die Daten sammelt und auswertet,
um optimale Erkenntnisse und Ergebnisse zu erzielen.

Schade ist auch, dass Sie mit dem Gesetzentwurf
nicht der Forderung nach einer vollständigen Kopplung
der Daten der Früherkennung mit den Daten der Krebs-
erkrankungen nachgekommen sind. So werden Wissen-
schaftlerinnen und Wissenschaftler den Nutzen der
Früherkennung nicht voll ermitteln können.

Bei der Krebsfrüherkennung weiten Sie die organi-
sierten Programme aus, beispielsweise die Einladungen
in Zentren. Diese Methode – sie ist umstritten, weil der
Nutzen noch nicht erwiesen ist –, ohne Not gewachsene
Strukturen der Krebsfrüherkennung infrage zu stellen,
bedeutet, das Kind mit dem Bade auszuschütten. Warum
installieren Sie das Einladungssystem nicht vorerst er-
gänzend?


(Beifall bei der LINKEN)


Die wackligen Füße, auf denen das Gesetz in vielen Be-
reichen steht, machen es uns schwer, Kollege Henke,
ihm einfach zuzustimmen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nun haben Sie zum Gesetzentwurf noch Änderungs-
anträge gepackt, die auf aktuelle Probleme aufmerksam
machen und bei Missständen Abhilfe schaffen sollen.
Ich nenne als Beispiel die sogenannten Chefarztboni
oder korruptives Verhalten. Aber damit – ich möchte es
zusammenfassen – streuen Sie nur den Medien und der
Bevölkerung Sand in die Augen. Gelöst wird nichts.
Dem ernsthaften Problem, dass aufgrund von Bonuszah-
lungen für Chefärzte, Oberärztinnen und -ärzte nicht nur
mehr Operationen, sondern leider auch unnötige durch-
geführt werden, mit Empfehlungen und Qualitätsberich-
ten begegnen zu wollen, ist abstrus.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach unserer Meinung gehört jeder Anreiz, der Patien-
tenwohl gefährden könnte, abgeschafft.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Grundgesetz die
Gesundheit der Bevölkerung nicht besser schützt als die
Vertragsfreiheit der Ärztinnen und Ärzte. Hier käme es
auf die Nagelprobe an.


(Heinz Lanfermann [FDP]: So simpel kann man das doch nicht sehen!)


Ähnlich ist Ihr Vorgehen bei korruptivem Verhalten
von Ärztinnen und Ärzten. Diesem Interessenkonflikt
nur mit einer besseren Datenübermittlung innerhalb des
Selbstverwaltungssystems begegnen zu wollen, ist wie
eine Filmkulisse: vorne Pappe, hinten nichts.


(Beifall bei der LINKEN)


Schade, dass Sie mit den Änderungsanträgen den ins-
gesamt guten Ansatz des Gesetzentwurfs so vermurkst
haben; aber das sind wir ja mittlerweile von Ihnen ge-
wohnt. Weil das Ganze aber insgesamt ein gutes Anlie-
gen ist, werden wir uns enthalten.

Ich danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721919000

Das Wort hat nun Birgitt Bender für die Fraktion

Bündnis 90/Die Grünen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721919100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um eine

Formulierung von Ihnen, Herr Kollege Henke, aufzu-
nehmen: Das Glas ist bei diesem Gesetzentwurf nur zu
einem Viertel voll, und das reicht uns eben nicht.


(Dr. Marlies Volkmer [SPD]: Das stimmt!)


Ja, es gibt positive Punkte. Wir begrüßen die flächen-
deckende Einführung klinischer Krebsregister, die erhöh-
ten Qualitätsanforderungen für Krebsfrüherkennungspro-
gramme und auch die bessere Berücksichtigung neuer
medizinischer und epidemiologischer Erkenntnisse
durch Kompetenzübertragung auf den Gemeinsamen
Bundesausschuss. Was wir kritisieren – das ist wichtig,
Herr Kollege Henke –, ist die Fixierung in diesem Ge-
setzentwurf auf die Früherkennung als angeblich wirk-
same Maßnahme zur Bekämpfung von Krebserkrankun-
gen. Das leistet die Früherkennung nicht.

An dieser Stelle lohnt sich ein genauerer Blick. In
30 Jahren Mammografie-Screening in den USA kam es
zu insgesamt 1,5 Millionen zusätzlichen Brustkrebsdia-
gnosen in frühen Stadien. Das hört sich erst einmal gut
an. Andererseits ist die Anzahl der Diagnosen in Spätsta-
dien aber kaum gesunken. Der Harvard-Professor
Gilbert Welch hat daraus abgeleitet, dass es mehr als
1 Million Überdiagnosen gab. Anders formuliert: 1 Mil-
lion Frauen mit Brustkrebsdiagnose nach dem Screening
wären niemals krank geworden. Nach dem Screening al-
lerdings bekamen die meisten von ihnen eine Operation,
eine Chemotherapie oder eine Bestrahlung. Solche Er-





Birgitt Bender


(A) (C)



(D)(B)


gebnisse sind keinesfalls neu. Viele Studien in den USA
und in Europa haben gezeigt, dass das Mammografie-
Screening nur einen sehr begrenzten Einfluss auf die
Mortalität, also die Sterblichkeit, hat. Angesichts dieser
Erfahrungen müsste das Einladungswesen zur Früher-
kennungsuntersuchung eher auf den Prüfstand, als auf
weitere Krebsarten ausgeweitet zu werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Noch dazu soll mit diesem Gesetzentwurf das organi-
sierte Darmkrebs- und Gebärmutterkrebs-Screening
ohne vorherige Prüfung des Nutzen-Schaden-Verhältnis-
ses eingeführt werden. Ein evidenzbasiertes Vorgehen,
wie wir es in der Gesundheitspolitik eigentlich alle wol-
len, sieht anders aus.

Umso wichtiger ist es, dass die Menschen wahrheits-
gemäß informiert werden, dass der Nutzen deutlich ge-
ringer ist, als gemeinhin angenommen wird, und der
Schaden von Früherkennungsuntersuchungen deutlich
größer ist, als man bisher gedacht hat. Die aktuellen Ein-
ladungsschreiben zum Mammografie-Screening erwe-
cken aber einen ganz anderen Eindruck.

Fatal wäre es, wenn die Menschen für ihre informierte
Entscheidung gegen eine Teilnahme am Screening auch
noch bestraft würden, wie es im Jahr 2007 die Große
Koalition mit der Sanktionsregel des § 62 SGB V ge-
wollt und beschlossen hat. Die Abschaffung dieser
Sanktionsregel ist eine zu begrüßende Klarstellung. Im-
merhin hatte der Gemeinsame Bundesausschuss schon
dafür gesorgt, dass sie erheblich abgeschwächt wurde.

Wir begrüßen auch, dass Sie jetzt zu der Entschei-
dung gekommen sind, die Bestrafung von nichttherapie-
gerechtem Verhalten – auch dies wurde von der Großen
Koalition eingeführt – abzuschaffen. Dies hatte auch
keine Praxisrelevanz, weil alle Ärzte wussten, dass man
auf diese Weise ein Arzt-Patienten-Verhältnis beschä-
digt.

Ich kann jetzt an die Adresse der schwarz-gelben Ko-
alition nur sagen: Wenn Sie sich in dieser Legislatur-
periode noch einen Dienst erweisen wollen, dann sollten
Sie auch die übrigen Sanktionen in § 62 SGB V abschaf-
fen; denn alle Vorsorgeuntersuchungen haben Risiken
und können daher immer nur freiwillig sein, und deren
Nichtinanspruchnahme darf nicht mit Sanktionen belegt
werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Aufgrund dieser Schwächen und Inkonsequenzen
werden wir uns bei der Abstimmung über den Gesetzent-
wurf enthalten. Ich will dazu sagen, dass er durch die
Änderungsanträge zum Thema Krankenhaus nicht bes-
ser geworden ist. Hier wird nicht konsequent gegen die
Boni vorgegangen. Es hätte eine Lösung geben können,
Herr Henke, wie etwa bei den Boni für die Banker. Da
haben Sie sehr wohl in privatrechtliche Verträge einge-
griffen. Hier war das angeblich nicht möglich.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721919200

Frau Kollegin, wollen Sie Ihre Redezeit, die Sie

schon deutlich überschritten haben, durch eine Zwi-
schenfrage des Kollegen Henke verlängern?


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721919300

Ja, gerne.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1721919400

Ich bekomme hier gerade gesagt, dass mich das Sym-

pathiepunkte kostet. – Liebe Frau Kollegin Bender, Sie
haben ja ausgeführt, dass sich die Koalition dazu ent-
schieden hat, diese Sanktionen für die Nichtteilnahme an
Früherkennungsuntersuchungen zu beseitigen. Wir ha-
ben dies im Ausschuss gestern dadurch ergänzt, dass wir
eine ähnlich gerichtete Sanktion im Zusammenhang mit
allen anderen Früherkennungsuntersuchungen beseitigt
haben. Wenn Sie sagen, dass die Teilnahme an der Früh-
erkennungsuntersuchung freiwillig sein muss und aus
der Entscheidung der betreffenden Person resultieren
muss, es also im informierten Einverständnis erfolgt
– dies halte ich für richtig –, dann sind wir doch mit die-
sem Gesetzentwurf in seiner geänderten Fassung diesem
Ziel näher als vorher. Ich verstehe nicht, warum Sie dem
nicht die Zustimmung erteilen.


Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721919500

Es ist näher als vorher, das ist richtig, aber es ist eben

noch nicht weit genug. – Im Übrigen möchte ich Ihnen
unseren Entschließungsantrag ans Herz legen. Im Ent-
schließungsantrag steht nicht nur der Satz, der Ihnen nicht
gefällt, werter Herr Kollege – dieser Satz ist richtig –, son-
dern auch vieles, das aufzeigt, wo es bei der Krebsbe-
kämpfung tatsächlich hingehen müsste. Ich kann Sie nur
dazu einladen, dem zuzustimmen.

Danke.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721919600

Das Wort hat nun Lothar Riebsamen für die CDU/

CSU-Fraktion.


Lothar Riebsamen (CDU):
Rede ID: ID1721919700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit

diesem Gesetzentwurf, den wir heute verabschieden
wollen, machen wir einen großen Fortschritt in einer An-
gelegenheit, die für die Menschen in unserem Land sehr
wichtig ist. Es geht um die Bekämpfung einer bedrohli-
chen und sehr verbreiteten Volkskrankheit, nämlich
Krebs. Wir beseitigen einen Flickenteppich von Krebs-
registern, den wir bisher hatten, jedenfalls dort, wo es
überhaupt welche gab. Wir werden bei der Früherken-
nung von Krebserkrankungen eine bessere Organisation
haben. Wir werden durch die Einführung der flächende-
ckenden Krebsregister eine bessere Qualitätssicherung
haben. In diesen sollen Daten über das Auftreten der
Krankheit, die Behandlung und den Verlauf im ambulan-
ten und im stationären Bereich landesweit konsequent
erfasst werden. Wir werden durch diese Dokumentation
Rückschlüsse auf die Prozess- und Ergebnisqualität zie-
hen können. Das ist wichtig. Deswegen war dieses Ge-
setz überfällig.

Bei einem anderen Thema bewegen wir uns nicht auf
dieser Makroebene, sondern ganz konkret im betriebs-
wirtschaftlichen Bereich. Dies ist – so muss man es nen-





Lothar Riebsamen


(A) (C)



(D)(B)


nen – ein wunder Punkt. Es geht um die Fehlentwick-
lung bei der Gestaltung von Verträgen von Chefärzten
und leitenden Ärzten. In den letzten Monaten wurden di-
verse Studien veröffentlicht, die belegen, dass es Mehr-
mengen gibt, die nicht durch zusätzliche Morbidität be-
gründet werden können. Es gibt aber auch Studien, die
das genaue Gegenteil besagen.

Ich war im vergangenen Jahr an der Einstellung eines
leitenden Arztes beteiligt, der im Einstellungsgespräch
gesagt hat, er komme deswegen gerne zu uns, weil er es
leid ist, dass sein Einkommen von der Zahl der Knie-
OPs und Hüft-OPs, die er durchführt, abhängig ist; diese
Erfahrung habe ich als Aufsichtsrat gemacht. Insofern
bin ich überzeugt, dass es hier – völlig unabhängig von
den unterschiedlichen Studienergebnissen – ein ganz
konkretes Problem gibt, das wir mit diesem Gesetz be-
seitigen werden.

Dabei sage ich aber auch klar, dass ich dem Grunde
nach nichts gegen Zielvereinbarungen habe. Zielverein-
barungen sind ein zeitgemäßes Mittel der Unterneh-
mensführung und des kreativen Managements; das ist
auch im Krankenhaus wichtig – nicht nur das Schielen
auf die Erhöhung des Landesbasisfallwertes im nächsten
Jahr. Wir brauchen Zielvereinbarungen, um dafür zu sor-
gen, dass im Krankenhaus schonend mit Ressourcen um-
gegangen wird. Wir brauchen Zielvereinbarungen, um
Hygienestandards und die Qualität zu verbessern und um
sicherzustellen, dass das einzelne Krankenhaus seinen
Versorgungsauftrag erfüllen kann. Dies alles sind unsere
Anliegen.

Aber an einer wesentlichen Stelle unterscheidet sich
die Betriebsführung eines Krankenhauses von der eines
normalen Dienstleistungsbetriebes: Ein normaler Dienst-
leistungsbetrieb ist darauf ausgelegt, nicht nur Leistun-
gen nachzuahmen, sondern auch neue zu kreieren – ob
sie die Menschheit braucht oder nicht – und sie mit Un-
terstützung der Werbung zu verkaufen. Genau darum
geht es im Krankenhausbereich eben nicht. Hier geht es
um Eingriffe in die Unversehrtheit des Körpers und um
eine solidarische Finanzierung. Die Leistungen werden
nicht von den Einzelnen, sondern von der Solidarge-
meinschaft bezahlt.

Allerdings verstehe ich Verwaltungsleiter von Kran-
kenhäusern, dass sie sich – wenn sie in der Situation
sind, dass im Umkreis von 50 Kilometern 100 andere
Krankenhäuser sind, die die gleiche Leistung anbieten
können – etwas einfallen lassen müssen, um am Markt
zu bestehen. Ich verstehe diese Verwaltungsleiter auch
dann, wenn sie sagen: Ich brauche einen hohen Case
Mix, um höhere Entgelte zu erzielen. – Nur: Das ist
nicht die Aufgabe von Krankenhäusern und Verwal-
tungsleitern. Dafür zu sorgen, dass wir eine geordnete
Krankenhauslandschaft haben, ist Sache der Länder.
Deswegen appelliere ich entschieden an die Länder, ih-
rer Hauptaufgabe in diesem Bereich, nämlich der Kran-
kenhausbedarfsplanung, endlich wieder nachzukommen
und die Entscheidung, ob es zu viele oder zu wenige
Betten und Krankenhäuser an einem Standort gibt, nicht
dem Markt zu überlassen.

Die Koalition hat bereits an anderer Stelle Maßnah-
men getroffen – sie wurden erwähnt –: Von der Deut-
schen Krankenhausgesellschaft sind zusammen mit dem
GKV-Spitzenverband Studien in Auftrag zu geben, um
herauszufinden, wie die Mengenregelung in den Griff zu
bekommen ist. Ich bin davon überzeugt, dass die Maß-
nahmen, die wir mit diesem Gesetz treffen, ein richtiger
Weg sind. Die Krankenhäuser werden nämlich mehr
oder weniger dazu gezwungen, darzulegen, ob sie die
Vorgaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft und
der Ärztekammer einhalten oder nicht. Jedes Kranken-
haus wird sich hüten, als ein Haus, das diese Vorgaben
nicht einhält, identifiziert zu werden.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721919800

Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.


Lothar Riebsamen (CDU):
Rede ID: ID1721919900

Ich komme zum Schluss. – Dafür werden die Kassen,

wird die Presse und werden die Patienten sorgen. Inso-
fern führt dieses Gesetz an zwei Stellen zu einem deutli-
chen Fortschritt: bei der Bekämpfung der Volkskrankheit
Krebs in unserem Land und was die Fehlentwicklungen
bei Chefarztboni in Krankenhäusern angeht.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721920000

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Weiter-
entwicklung der Krebsfrüherkennung und zur Qualitäts-
sicherung durch klinische Krebsregister. Der Ausschuss
für Gesundheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12221, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/11267 in der Aus-
schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die
dem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist damit in zweiter Beratung mit den Stim-
men der Koalitionsfraktionen bei Stimmenthaltung der
drei Oppositionsfraktionen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen wie in
der zweiten Beratung angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12223. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Der Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der bei-
den Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stim-
men der Grünen bei Enthaltung der Linken abgelehnt.





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun den Ta-
gesordnungspunkt 10 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Sportausschusses (5. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Martin Gerster,
Dagmar Freitag, Sabine Bätzing-Lichtenthäler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Die Rolle des Sports in der Auswärtigen Kul-
tur- und Bildungspolitik

– Drucksachen 17/9731, 17/11580 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Klaus Riegert
Martin Gerster
Dr. Lutz Knopek
Katrin Kunert
Viola von Cramon-Taubadel

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt
dazu keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin
Mechthild Heil für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1721920100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die SPD stellt in ihrem Antrag fest, dass dem
Sport im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bil-
dungspolitik eine unverzichtbare Rolle zukommt, weil er
soziale, sprachliche und kulturelle Barrieren überwindet.


(Dagmar Freitag [SPD]: Ja! Die ist uns nicht neu, Frau Kollegin!)


Meine sehr geehrten Kollegen, vielen Dank für diese Er-
kenntnisse – nur wissen wir das schon seit einem halben
Jahrhundert.

Wir wissen es nicht nur, wir setzen dies auch in Poli-
tik um. Seit 1961 legt die Union in der Auswärtigen
Politik besonderes Augenmerk auf die Sportförderung.
Wir wollen vor allem langfristigen interkulturellen Dia-
log und Partnerschaften.

Dabei sind wir nicht allein: Wir haben starke Partner
an unserer Seite, darunter – um einige Beispiele zu nen-
nen – den Deutschen Olympischen Sportbund, den Deut-
schen Behindertensportverband, die Deutsche Sport-
hochschule Köln und die Universitäten Leipzig und
Mainz. Gemeinsam betreuen wir Projekte, bieten inter-
nationale Fortbildungen an und senden Experten in die
ganze Welt, die vor Ort Projekte begleiten und Netz-
werke aufbauen. Mehr als 1 400 Projekte haben wir in
den verschiedenen Sportarten durchgeführt.

Was sind diese Projekte? Von der Kooperation zwi-
schen Basketballvereinen aus Deutschland und Namibia
– bei der ganz nebenbei Sportstrukturen in namibischen
Schulen aufgebaut werden – über Wüstenläufe in Ägyp-
ten mit Teilnehmern aus aller Welt bis hin zu internatio-
nalen Fußballturnieren in Afrika ist alles dabei.

Mit Spaß und fast nebenbei fördern wir dadurch den
Dialog zwischen den verschiedenen Kulturen und ver-
mitteln den Zugang zur deutschen Sprache, zur deut-
schen Kultur und unserer Geschichte. Dadurch prägen
wir ein Bild von Deutschland als faires, ambitioniertes,
aber auch tolerantes Land, das sich für andere Länder
engagiert.

Der Sport steht für einen friedlichen Wettkampf, aber
auch für Kooperation und Teamgeist. Für diese Gefühle
müssen die Sportler nicht derselben Religionsgemein-
schaft angehören, sie müssen noch nicht einmal dieselbe
Sprache sprechen. Das Motto der Sportförderung des
Auswärtigen Amtes drückt dies wunderbar aus: „Men-
schen bewegen – Grenzen überwinden“.

Grenzen wurden zum Beispiel mit dem ARABIA Cup
2010 überwunden: Im Nahen Osten wurde ein Fußball-
turnier nur für junge Frauen ausgerichtet. Die Teilneh-
merinnen aus Nordafrika haben diesen Cup gewonnen.
Als Preis bekamen sie die Möglichkeit, nach Deutsch-
land zu reisen. Sie haben unter anderem den Bundestag
besucht, und sie hatten Gelegenheit, die FIFA-Referen-
tinnen und -Expertinnen zu treffen und sich mit ihnen
auszutauschen.

So werden über den Sport hinaus Themen wie das
Recht der Frauen auf Chancengleichheit und auf Selbst-
verwirklichung transportiert. Nebenbei lernen die Teilneh-
merinnen Deutschland als ein weltoffenes Land kennen.
Sie knüpfen Kontakte und nehmen diese Erfahrungen
mit nach Hause. Was noch viel wichtiger ist: Sie teilen
diese Erfahrungen dann mit ihren Familien und mit ihren
Freunden und Bekannten zu Hause. Dadurch multipli-
zieren sich die Erfolge dieser manchmal wirklich kleinen
Projekte um ein Vielfaches.

Also: Die Sportförderung ist ein wichtiger Bestandteil
unserer Kultur- und Bildungspolitik. Das ist uns auch et-
was wert. Wir geben jedes Jahr mehr für Kultur- und Bil-
dungspolitik aus.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sehr richtig! – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wer ist „wir“?)


Im Jahr 2004 waren es 560 000 Euro, und letztes Jahr
waren es 785 000 Euro, weil wir wissen, wie wichtig
der internationale Austausch zum Beispiel auch für die
Konfliktprävention und die Konfliktbewältigung ist,
schlicht: weil Menschen, die gute Erfahrungen im Be-
treiben von Sport gemacht haben, einander weniger be-
kämpfen.


(Zuruf der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


– Vielleicht sollten Sie auch mal Sport treiben, dann
würde vielleicht auch Ihr Aggressionspegel ein wenig
sinken.


(Lachen beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Sind Sie die Sprecherin des Auswärtigen Amtes, oder was?)






Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)


Der aktuelle Bericht der Bundesregierung belegt: Wir
fördern den Dialog zwischen den Ländern durch sport-
liche und kulturelle Begegnungen erfolgreich,


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Wir schlafen eigentlich gerade alle ein! Aber dagegen hilft Sport auch!)


und unsere Sportförderung wirkt. Wir engagieren uns
besonders in den Entwicklungsländern. Dabei gibt es
tolle Erfolge. Ein Beispiel ist die Geschichte von Pitso
Mosimane. Das ist eine wahre Erfolgsgeschichte. Pitso
Mosimane wuchs in Südafrika in ärmlichsten Verhältnis-
sen auf, ohne Zukunftsperspektive. Im Rahmen eines
Kurzzeitprojektes des Auswärtigen Amts konnte er einen
Trainerschein beim Deutschen Fußball-Bund machen.
Das Ergebnis? Heute ist er Cotrainer der südafrikani-
schen Fußballnationalmannschaft. Durch dieses Projekt
hat sich nicht nur das Leben von ihm total verändert.
Seine Geschichte zeigt vielmehr das Potenzial, das in
diesen Projekten steckt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es muss nun nicht jeder immer direkt in einem National-
kader landen oder dahin aufsteigen. Nein, darum geht es
uns bei weitem nicht. Aber alle Teilnehmer an diesen
Projekten wirken als Multiplikatoren. Sie tragen ihre Er-
fahrungen und ihr Wissen in ihre Heimatländer. Das,
liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ist nach-
haltige Auswärtige Kulturpolitik und sinnvolle Sportför-
derung. Wir helfen vor Ort. Unsere Kultur- und Bil-
dungspolitik ist erfolgreich. Die Projekte der CDU/CSU
und der FDP, die wir anstoßen, können sich international
sehen lassen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721920200

Liebe Frau Kollegin, ich muss da irgendwas verpasst

haben von wegen Aggressionspegel. Wir sind doch in
diesem Hause durchaus anderes gewöhnt.


(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Meine Kollegin war ziemlich aggressiv!)


Wenn es mal temperamentvolle Zwischenrufe gibt, dann
ist das noch nicht Aggression. Da gibt es einen feinen
Unterschied.


(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Sie hat ziemlich viel gesprochen!)


Ich erteile das Wort Kollegin Dagmar Freitag für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dagmar Freitag (SPD):
Rede ID: ID1721920300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Herr Präsident, ich danke Ihnen für den
Hinweis. Wir werden später statt „Aggression“ im Proto-
koll sicher den Vermerk „Heiterkeit bei der SPD“ vorfin-
den. Also, liebe Frau Kollegin Heil, von Aggression

kann hier keine Rede sein. Dazu müssen Sie wahrschein-
lich ein etwas schwereres Geschütz auffahren.

Sie haben hier mit wohlgesetzten Worten Ihre Ver-
dienste um die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik,
hier insbesondere im Bereich Sport, unter Beweis zu
stellen versucht. Wir debattieren heute allerdings nicht
nur, weil wir den Sport loben wollen, sondern weil wir
aufzeigen wollen, dass er unter Schwarz-Gelb massiv an
Bedeutung verloren hat. Das, Frau Kollegin, lassen wir
weder Ihnen noch der Regierung durchgehen.


(Beifall bei der SPD – Klaus Riegert [CDU/ CSU]: Das schlechteste Beispiel war Joschka! Joschka war am schlechtesten!)


Der Sport ist ein vergleichsweise kleiner Bestandteil in
der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Aus unse-
rer Sicht hat er aber eine besondere Bedeutung.

Sie haben völlig zu Recht darauf hingewiesen, dass
Deutschland seit vielen Jahren ausgesprochen erfolgrei-
che Projekte, Kurzzeit- wie Langzeitprojekte, in Ent-
wicklungsländern durchführt. An dieser Stelle möchte
ich einen ausdrücklichen Dank meiner Fraktion an un-
sere Experten im Ausland und an die Vertreterinnen und
Vertreter im Deutschen Olympischen Sportbund aus-
sprechen, die sich mit großer Hingabe und mit großem
Engagement diesen Projekten widmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Dass der Sport Brücken zwischen Menschen unter-
schiedlichster Herkunft und unterschiedlichster sozialer
Schichten baut, auch dass er Mittler zwischen Menschen
mit und ohne Behinderung sein kann: All das wissen wir.
Gerade im Bereich der Auswärtigen Kultur- und Bil-
dungspolitik ist das alles aber umso wichtiger.

Frau Kollegin Heil, ich muss Ihnen sagen: Bislang bin
ich davon ausgegangen, dass die Bedeutung des Sports
im Rahmen der Auswärtigen Kultur- und Bildungspoli-
tik über die Fraktionsgrenzen hinaus Konsens ist. Im
Laufe dieser Wahlperiode und gerade einmal mehr
mussten wir aber Folgendes erkennen: Bei Ihnen passen
Worte und Handeln eben nicht zusammen.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Frank Tempel [DIE LINKE] – Klaus Riegert [CDU/ CSU]: Bedeutend mehr als unter Rot-Grün!)


– Herr Kollege, wenn Sie eine Zwischenfrage haben,
dann können Sie sie gerne stellen. Ich würde Ihnen dann
etwas dazu sagen.


(Klaus Riegert [CDU/CSU]: Nein!)


– Er möchte nicht; das ist ja zu schade.

Ich verweise insbesondere auf das Positionspapier der
Bundesregierung zur Konzeption der Auswärtigen Kul-
tur- und Bildungspolitik vom September 2011 und
möchte noch einmal betonen: Eine solche Konzeption
legt die zukünftigen Leitlinien der Bundesregierung für
diesen Bereich fest. – Was mussten wir nach der Durch-
sicht feststellen? Der Sport kam nicht mit einem einzi-





Dagmar Freitag


(A) (C)



(D)(B)


gen Wort vor. Frau Kollegin, ich fürchte fast, Sie haben
diese Konzeption nie gelesen.


(Dieter Stier [CDU/CSU]: Das ist aber nur eine Vermutung!)


Erst nach heftigen Protesten nicht nur aus meiner
Fraktion, sondern ausdrücklich auch von den Sportver-
bänden, die die Partner für die Umsetzung der Projekte
sind, wurde nachgebessert. In dem 14-seitigen Bericht
wurde ein bemerkenswerter Halbsatz eingeführt – ich zi-
tiere –:

Kulturdialogprojekte, Hochschulpartnerschaften, Sti-
pendien, aber auch Kooperationsprojekte im Sport-
bereich können wichtige Impulse für Stabilisierung,
demokratische Entwicklung … setzen.

F
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1721920400
Das Auswärtige Amt hat dem Kapitel „Internatio-
nale Sportförderung“ damit fünf Wörter gewidmet –
mehr nicht. Das – das muss ich Ihnen auch sagen – wird
der Bedeutung der jahrzehntelangen Tradition der inter-
nationalen Sportförderung einfach nicht gerecht.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Aus unserer Sicht zeigt das eine nicht nachvollziehbare
Gleichgültigkeit gegenüber den Hilfsprojekten für die
Menschen in den Entwicklungsländern, aber auch eine
Geringschätzung unserer Kooperationspartner, den Ver-
antwortlichen im Deutschen Olympischen Sportbund
und den Sportverbänden.

Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, erkennen die er-
folgreiche Arbeit unserer Auslandsexperten ausdrück-
lich an und haben diesen Antrag aus diesem Grunde
eben auch ins Parlament eingebracht.

Es gibt aber noch andere Gründe dafür: Leider muss-
ten wir in Ihrer Regierungszeit Entwicklungen feststel-
len, die die Arbeit dieser Experten erschweren und dazu
führen, dass die bis zu Ihrem Regierungsantritt in der Tat
sehr erfolgreiche internationale Sportförderung aus dem
Tritt gebracht wird; denn die Mittel für die Sportförde-
rung wurden durch Schwarz-Gelb auch für das Jahr 2013
erneut gekürzt.

Bei dieser Gelegenheit darf ich Ihnen noch einmal in
Erinnerung rufen: Es war der damalige Außenminister
Frank-Walter Steinmeier, der der Auswärtigen Kultur-
und Bildungspolitik zu neuer Stärke und Bedeutung ver-
holfen hat und damit eine Trendwende einleitete.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


V
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1721920500
Ihr Haus hat die Bedeutung des Sports als
eine wesentliche Säule der Auswärtigen Kultur- und Bil-
dungspolitik offenbar nicht verstanden – und das, ob-
wohl allgemein bekannt ist, dass mit diesen vergleichs-
weise geringen Mitteln sehr viel Gutes für die Menschen
vor Ort erreicht werden kann.

Unsere Experten – ich könnte sie auch „vorbildliche
Botschafter“ nennen – erfreuen sich in den Ländern, in
denen sie unter verdammt schwierigen Bedingungen ar-

beiten, höchster Wertschätzung. Was für eine fantas-
tische Werbung für unser Land!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Viele derjenigen aus den Partnerländern, die durch
unsere Projekte ausgebildet wurden – sei es durch die
Trainerausbildung in Leipzig oder Mainz, sei es in den
Ländern selbst –, gehen einen beeindruckenden Weg.
Wir finden diese Menschen heute oftmals in sehr verant-
wortlichen Positionen in den Sportorganisationen oder
den Regierungen ihrer Länder. Gibt es bessere Belege
für die Sinnhaftigkeit dieser Projekte? Ich denke, nein.

Statt diesen Bereich aber finanziell angemessen zu
berücksichtigen, trickst Ihr Haus. Sie begründen in den
Haushaltsberatungen zum Einzelplan 05 die Kürzungen
Jahr für Jahr wie folgt: Die Verantwortlichen im Sport
schaffen es ja nicht, das Geld auszugeben. – So geht es
nicht, Frau Staatsministerin. Kein Wunder, wenn Ihr
Haus, um nur ein Beispiel aus dem Jahr 2012 zu nennen,
den Verantwortlichen im Sport am 20. November des
Jahres 2012 mitteilt, sie könnten noch 500 000 Euro ab-
rufen, aber nur bis zum 27. November. Ich bitte Sie: Was
ist das für eine Planung? Jeder weiß, dass es völlig un-
möglich ist, innerhalb einer Woche ein Projekt in einem
Entwicklungsland auf die Beine zu stellen.


(Beifall des Abg. Martin Gerster [SPD])


Wer mit einer solch ausgesprochen fadenscheinigen
Begründung für Mittelkürzungen argumentiert, handelt
auf zweierlei Art und Weise unverantwortlich: gegen-
über unseren Partnern im Sport, vor allem aber gegen-
über denjenigen, die dringend auf unsere Unterstützung
hoffen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sollten Sie, Frau Staatsministerin, aufgrund der berech-
tigten massiven Kritik beabsichtigen, zu einer verträgli-
chen Förderung zurückzukehren, würden Sie dafür un-
sere volle Unterstützung bekommen.

Unser Antrag enthält eine Fülle von Punkten, die ein-
zig dem Ziel dienen, dem Sport in der Kultur- und Bil-
dungspolitik seine frühere Bedeutung zurückzugeben.
Aus diesem Grund werbe ich noch einmal herzlich um
Ihre Unterstützung für unseren Antrag.

Ich bedanke mich.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721920600

Vielen Dank, Frau Kollegin Dagmar Freitag. –

Nächster Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kol-
lege Joachim Günther. Bitte schön, Kollege Joachim
Günther.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1721920700

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine lieben Kollegin-

nen und Kollegen! Da wird es einiges zu dem Statement
von Kollegin Freitag zu sagen geben.


(Dagmar Freitag [SPD]: Das hoffe ich doch!)


Es ist unumstritten, dass die bestehende Internationale
Sportförderung des Auswärtigen Amtes seit 50 Jahren
ein fester Bestandteil der Kultur- und Bildungspolitik
unseres Landes ist; darüber sind wir uns alle einig. Sie
ist insgesamt ein wichtiger Beitrag zur Friedenspolitik;
denn sie eignet sich dazu, Vorurteile abzubauen, Minder-
heiten zu integrieren; auch darüber sind wir uns einig.


(Dagmar Freitag [SPD]: Deshalb kürzen Sie?)


Das Ziel Ihres Antrags ist noch verständlich, aber
dann muss man einmal in die Details gehen. Ich kann
beim besten Willen nicht erkennen, wo Schwarz-Gelb
schlechter ist, als es Rot-Grün in diesem Zusammenhang
je gewesen ist. Deshalb möchte ich einige Punkte auf-
greifen.

Zahlreiche Projekte – man muss sie einmal beim Na-
men nennen, damit wir wissen, worüber wir insgesamt
diskutieren – der Internationalen Sportförderung werden
gemeinsam mit dem DOSB durchgeführt. In acht Lang-
zeitprogrammen mit einer Laufzeit von mehr als zwei
Jahren wurden zum Beispiel Sportexperten im Fußball
nach Honduras, Mosambik, Namibia und Südafrika ent-
sandt. In Paraguay und Uganda sind deutsche Experten
für den Bereich Leichtathletik tätig. Vier Langzeitpro-
jekte in Laos, Mali, Tansania und Vietnam wurden
erfolgreich zu Ende geführt. Insgesamt 40 wichtige
Kurzzeitprojekte, von Fußball bis Basketball und Roll-
stuhlbasketball, setzen wir im Ausland um.

Im Rahmen der Fortbildung und Qualifizierung von
Trainerinnen und Trainern wird an der Universität Leip-
zig – das wurde genannt –, an der Sportschule Hennef
und an der Auslandstrainerschule in Mainz ausgebildet.
Das betrifft sehr viele Sportarten, nicht bloß den Fußball,
der besonders hervorgehoben wird. Nein, es gibt den Be-
hindertensport, Tischtennis, Volleyball, Kunstturnen, um
nur einmal Sportarten zu nennen, die hier sonst über-
haupt nicht zur Diskussion stehen.

Die vom AA geförderten internationalen Trainerkurse
für Teilnehmer aus den Entwicklungsländern sind aus
meiner Sicht inzwischen zu einem Dauerbrenner gewor-
den. Die Internationale Sportförderung ist seit 35 Jahren
aktiv und sehr erfolgreich. Die Absolventen dieser För-
derung sind später häufig wichtige Entscheidungsträger
in ihren Ländern. Sie sind dadurch mit Deutschland
positiv verbunden und bringen unsere Beziehungen sehr
stark voran. Sie wirken als Multiplikatoren, und das ist
wichtig. Ergänzt werden diese Maßnahmen durch zahl-
reiche Sachmittelspenden wie Trikots, Sportgeräte, auch
für Behindertensportarten, für bedürftige Sportvereine,
für engagierte Gruppen in diesen Ländern.

Man muss auch sagen: Es wird nicht nur vom AA ge-
fördert; das wäre zu kurz gesprungen. Vom BMZ wird
zum Beispiel der Aufbau von Bolzplätzen in den Län-

dern Afrikas und in anderen Entwicklungsländern geför-
dert.

Als Fußballbegeisterter möchte ich ein Wort zu dieser
Sportart sagen. 2012 unterstützte das AA in Kooperation
mit dem DFB zum dritten Mal das Turnier „Vier Länder
für Frieden“ mit gemischten Mädchen- und Jungen-
mannschaften aus Uganda, Ruanda, Burundi und der De-
mokratischen Republik Kongo. Dieses Turnier in einem
komplizierten Gebiet in Afrika trägt dazu bei, dass
ehemals verfeindete Parteien im Prinzip spielerisch
Kontakte haben, sich besser kennenlernen oder sogar
Freundschaften schließen. Sie können also kulturelle
und politische Grenzen damit überschreiten. Das ist ein
wichtiger Beitrag unserer auswärtigen Politik zur Frie-
denspolitik unseres Landes. 2011 übernahm unser Bun-
desaußenminister die Schirmherrschaft für das Turnier.
Der uns allen bekannte Willi Lemke ist im Auftrag des
Auswärtigen Amtes ständig bei solchen Turnieren dabei.

Es gibt das Projekt „Kicken statt kämpfen – Bolzen
für Toleranz“, das das Auswärtige Amt in Zusammen-
arbeit mit der Freien Universität Berlin und anderen
Partnern realisiert. 16 palästinensische Trainerinnen und
Trainer wurden hier unter Berücksichtigung einer beson-
deren psychosozialen Komponente fortgebildet. In ei-
nem Gebiet, in dem viel Gewalt herrscht, ist es wichtig,
Kinder und Jugendliche davon abzuhalten, Frustrationen
sinnlos abzubauen, und den Gedanken von Fairplay vo-
ranzubringen. Einen weiteren Höhepunkt – darauf hat
die Kollegin Heil schon hingewiesen – stellt der Aufbau
landesweiter Strukturen im Basketballsport in Namibia
dar.

All das sind Projekte, die dazu beitragen, selbststän-
dige Sportsysteme in den jeweiligen Ländern auf die
Beine zu stellen.

Auch im Behindertensport werden wichtige Akzente
gesetzt. In Zusammenarbeit mit dem Deutschen Roll-
stuhl-Sportverband wurde mit einem Workshop in
Uganda der Grundstein für den Aufbau eines nationalen
Rollstuhlbasketballprogramms gelegt. Ich finde, das ist
ein guter Ansatz.

Noch zwei, drei Anmerkungen zu dem Antrag der
SPD. Sie fordern die Erhöhung der Mittel für die Inter-
nationale Sportförderung auf das Niveau von 2009; so
steht es wörtlich in Ihrem Antrag. Haben Sie einmal
nachgeschaut, wie das früher war? Die Mittel zu Zeiten
der Großen Koalition betrugen 2,6 Millionen Euro. Un-
ter Joschka Fischer war es noch weniger. In unserer Re-
gierungszeit wurden sie auf 4,5 Millionen Euro mit ge-
ringfügigen jährlichen Schwankungen heraufgefahren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nur 2012 erfolgte die eben gescholtene verspätete Aus-
zahlung der Mittel. War es eine verspätete Auszahlung
der Mittel? Vonseiten des DOSB waren bis zu diesem
Zeitpunkt keine Umsetzungsmöglichkeiten gemeldet.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721920800

Kollege Joachim Günther, gestatten Sie eine Zwi-

schenfrage unserer Kollegin Ulla Schmidt?






(A) (C)



(D)(B)



Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1721920900

Ja.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1721921000

Vielen Dank, Herr Kollege. – Sie erzählen begeistert,

dass geradezu ausufernde Mittelerhöhungen im Sportbe-
reich der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik auf
den Weg gebracht wurden. Ich habe eine Frage: Der
Haushalt 2012 ist im Unterausschuss „Auswärtige Kul-
tur- und Bildungspolitik“ fraktionsübergreifend abge-
lehnt worden, weil in bestimmten Bereichen gekürzt
wird. Man kann natürlich mit wenig Geld viel erreichen,
aber auch mit Kürzungen in Höhe von 100 000 Euro vie-
les beschränken. Der Haushalt 2013 hat im Unteraus-
schuss ebenfalls keine Mehrheit gefunden. Wir haben
darüber fraktionsübergreifend diskutiert und sind der
Auffassung – nicht nur die Opposition –, dass dieser
Haushalt dem, was zum Beispiel zu Zeiten der Großen
Koalition in der Auswärtigen Kultur- und Bildungspoli-
tik auf den Weg gebracht wurde, nicht gerecht wird und
dass Verbesserungen notwendig sind. Manchmal gibt es
Mittelsteigerungen, weil bestimmte Kosten steigen. Da-
durch lassen sich aber nicht mehr Projekte fördern und
lässt sich der Austausch nicht intensivieren. Wenn ir-
gendwo 100 000 Euro gekürzt werden, dann muss es bei
irgendwelchen Projekten Einschnitte geben. Kennen Sie
andere, vielleicht bessere Gründe als den der Kürzungen,
warum Ihre Kollegen diesen Haushalt nicht unterstützt
haben?


Joachim Günther (FDP):
Rede ID: ID1721921100

Nein, verehrte Kollegin, ich kenne keine anderen

Gründe. Ich kann Ihnen das auch nicht erläutern, weil
ich an der betreffenden Ausschusssitzung nicht teilge-
nommen habe.


(Dagmar Freitag [SPD]: Reden Sie nicht mit Ihren Kollegen?)


– Ich kann nicht jede Zahl des Haushalts auswendig ken-
nen.

Ich bin der festen Überzeugung, dass sich mit den Ge-
samtmitteln in Höhe von 4,5 Millionen Euro sehr viel im
Ausland bewegen lässt. Es geht nicht allein darum, ob
die Mittel für ein Programm um 100 000 Euro erhöht
oder gekürzt wurden. Insgesamt ist das Niveau dieser
Position in den letzten Jahren deutlich aufgewachsen.
Das ist die Grundvoraussetzung, um hier etwas zu errei-
chen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der zweite Punkt in diesem Zusammenhang ist, dass
der DOSB bereits jetzt ein Schreiben bekommen hat,
dass er seine Projekte für dieses Jahr schon auf den Weg
bringen kann. Es ist also nicht so, dass die Projekte erst
im Herbst stattfinden. Somit kann das Programm recht-
zeitig in diesem Jahr umgesetzt werden.

Wenn man diese Beispiele insgesamt sieht, muss man
zu dem Schluss kommen, dass sich Ihr Antrag im Prin-
zip erledigt hat. Wir sind heute schon besser, als Sie je-
mals waren. Das ist auch unser Ziel.

Danke schön.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dagmar Freitag [SPD]: Das ist eine sehr selektive Wahrnehmung!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721921200

Vielen Dank, Kollege Joachim Günther. – Nächster

Redner für die Fraktion Die Linke ist unser Kollege
Frank Tempel. Bitte schön, Kollege Frank Tempel.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721921300

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Vorurteile abbauen, Minderheiten integrie-
ren, Werte vermitteln – so beschrieb Bundesaußenminis-
ter Dr. Guido Westerwelle vor einiger Zeit die Ziele der
auswärtigen Sportförderung. Die Bedeutung dieser Ziele
wird, so denke ich, niemand hier infrage stellen. So
dürfte in dieser Debatte schon einmal eine gemeinsame
Ausgangslage vorhanden sein.

Die Frage aber, die wir klären müssen, ist: In wel-
chem Maß und mit welchem Volumen wollen wir für
dieses Ziel mit dem Mittel der auswärtigen Sportförde-
rung arbeiten? Wenn wir diese Frage beantworten wol-
len, dann geht es natürlich um Haushaltsmittel, dann
geht es auch um den Umgang mit den Menschen, die in
diesen Projekten arbeiten, und dann geht es auch um Pla-
nungssicherheit, um Qualität und um die Vielfalt dieser
geförderten Projekte.

Allgemein wird bei einem hohen Aufwand die Frage
nach dem Nutzen gestellt. Bei der auswärtigen Sportför-
derung reden wir von Präventionsarbeit. Als Kriminalist
kenne ich dieses Phänomen zum Beispiel aus der Ju-
gendkriminalität. Wenn ich mich um problematische
Kinder frühzeitig kümmere, kann mir niemand sagen,
welches von diesen eventuell später straffällig geworden
wäre. Ich weiß aber ganz genau, dass ich diese Gefahr
erheblich verringern kann. Ganz nebenbei bemerkt: Aus-
reichend ist auch das bei uns noch nicht gesichert.

Vorurteile, Ausgrenzung und Unwissenheit sind die
Basis von Leid, von schwersten Konflikten und von Kri-
sen, welche ganze Regionen für lange Zeit belasten. Das
Problem der Prävention ist, dass sich ein Erfolg zwar er-
kennen, aber nicht unmittelbar messen lässt. Das heißt,
keiner wird bei einem nachlassenden Engagement kurz-
fristig sagen können, wie viel weniger Vorurteile abge-
baut oder Werte vermittelt worden sind. Auf keinen Fall
darf das aber zu falscher Sparsamkeit führen. Prävention
wirkt langfristig und ist langfristig angelegt.


(Beifall bei der LINKEN)


Auswärtige Sportförderung ist aktive Friedenspolitik,
ist Kampf für Menschenrechte. Herr Günther, da sind
wir uns offensichtlich ganz einig. Es wird Menschen
frühzeitig geholfen, und die Gefahr von Konflikten wird
zumindest verringert. Wenn wir die Vielzahl und die
Vielfalt der heutigen Konflikte wie zum Beispiel aktuell
in Mali sehen, muss es doch ein Anliegen aller sein,
diese aufbauende Präventionsarbeit noch mehr zu forcie-





Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)


ren und nicht ein bisschen hier und ein bisschen da nach-
zulassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Auch hier im Hause wird schnell davon gesprochen,
dass es sehr solidarisch sei, wenn man bei internationa-
len Konflikten Waffen, Militär oder Polizei schickt. Die
Linke ist davon überzeugt, dass es solidarisch ist, zu hel-
fen, dass solche Konflikte gar nicht erst ausbrechen oder
gar eskalieren. Die Linke ist auch davon überzeugt, dass
die Förderung von Sportprojekten ein sehr geeignetes
Mittel in dieser Präventionsarbeit ist. Wenn Kinder
unterschiedlicher ethnischer Gruppen gemeinsam mit-
einander Fußball spielen, können sie auch lernen,
untereinander Freundschaften zu schließen. Wenn musli-
mische Mädchen über den Sport Selbstvertrauen und ge-
sellschaftliche Anerkennung finden, wird sich das in ih-
rem Umfeld auswirken.

Weil das so wichtig ist, unterstützt die Linke den An-
trag der SPD, die Mittel für die Internationale Sportför-
derung, Herr Günther, wieder zu erhöhen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Martin Gerster [SPD]: Genau darum geht es!)


Natürlich besteht dann auch die Verpflichtung, die Rah-
menbedingungen für diejenigen zu verbessern, die diese
Projekte vor Ort umsetzen. Da geht es um die Ausbil-
dung vor dem Einsatz in solchen Projekten, es geht um
die bessere Beratung während eines solchen Einsatzes,
wie zum Beispiel im Antrag benannt. So sind steuer-
rechtliche Fragen völlig richtig aufgeführt. Die Linke
hält es auch für erforderlich, den Helfern Perspektiven
für die Zeit nach dieser Art von Auslandseinsätzen zu
bieten.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Der Dank für das Engagement für solche Einsätze kann
am Ende nicht Hartz IV bedeuten. Das heißt, wir brau-
chen adäquate Hilfs- und Eingliederungsprogramme, um
die zeitweilige Arbeit in solchen internationalen Sport-
projekten nicht zu einem persönlichen Zukunftsrisiko zu
machen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Linke stimmt diesem SPD-Antrag – das soll nicht
zur Gewohnheit werden – voll und ganz zu. Sehr geehrte
Kollegen der Regierungskoalition, das können auch Sie.
Bitte bauen Sie die auswärtige Sportförderung wieder
aus, und suchen Sie nicht gerade dort Einsparungsmög-
lichkeiten; denn bei der Prävention zu sparen, kann
Menschen und Gesellschaft später wesentlich teurer
kommen.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN und der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Martin Gerster [SPD]: Gute Rede!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721921400

Vielen Dank, Kollege Frank Tempel. – Nächste Red-

nerin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere
Kollegin Frau Viola von Cramon-Taubadel. Bitte schön,
Frau Kollegin.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Gäste! Ich möchte jetzt nicht noch einmal auf die
ganze Geschichte der Auswärtigen Kultur- und Bil-
dungspolitik eingehen, die schon von verschiedenen Sei-
ten vorgetragen wurde.

Gegen den von der SPD vorgelegten Antrag ist aus
unserer Sicht nichts einzuwenden. Ich sage einmal: Er
schadet nicht. Im Gegenteil: Wir werden uns ihm an-
schließen. Herr Tempel hat dies gerade erwähnt.

Wir hatten vor knapp zwei Jahren die Möglichkeit,
uns gemeinsam mit einem Teil der deutschen Auslands-
trainerinnen und Auslandstrainer intensiver auszutau-
schen. Genau dieser Austausch hat gezeigt, dass es für
diese Gruppe viele ungeklärte Fragen gibt, dass vor al-
lem aber viel Unzufriedenheit bei Versicherung und Be-
zahlung herrscht. All das versucht die SPD in ihrem An-
trag zu beheben. Dabei können und wollen wir sie
unterstützen.

Allerdings sollten wir es dabei nicht bei der ober-
flächlichen und technischen Betrachtung für die Mittel-
vergabe belassen. Es lohnt sich aus meiner Sicht,
genauer hinzuschauen, ob und in welcher Form die Bun-
desregierung ihrem Anspruch gerecht wird, den Sport
als Instrument der Auswärtigen Kultur- und Bildungs-
politik sinnvoll und effektiv einzusetzen. Dabei hilft es
zum Beispiel, finde ich, wenn der NDR in einer Zapp-
Kolumne am 9. Februar 2011 von Frau Piepers Engage-
ment für den Frauenfußball berichtet; denn sage und
schreibe 91 558 Euro wurden aus dem Budget für die
Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik für ein Werbe-
filmchen für den Frauenfußball eingesetzt. Hier – und
nicht nur hier – kommt der Verdacht auf, dass das Enga-
gement für den Sport im Rahmen der Auswärtigen Kul-
tur- und Bildungspolitik vielleicht eher dazu dient, den
Sponsor oder die Sponsorin in Szene zu setzen oder auf
dem Trittbrett der Sportprojekte die eigene Reputation
zu erhöhen, anstatt tatkräftig langjährige Aufbauhilfe
vor Ort zu leisten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Günther hat es erwähnt. Dieses Instrument sollte
ein wichtiger Beitrag zur Friedenspolitik sein. Das sehen
wir ganz genauso, liebe Kolleginnen und Kollegen.

Auch wir wissen, dass sich mit einigen 100 000 Euro
keine Konfliktherde für immer befrieden lassen. Aller-
dings wäre es wünschenswert, eine langfristige und
nachhaltige Strategie für Krisenprävention, Krisennach-
bereitung oder möglicherweise sogar Demokratisierung
auch in der Sportförderung als Ziel anzulegen.

Im 16. Bericht der Bundesregierung zur Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik macht der Sport aber genau





Viola von Cramon-Taubadel


(A) (C)



(D)(B)


eine einzige Seite aus und beschränkt sich lediglich auf
die Auflistung einzelner Projekte, die teilweise doch
sehr willkürlich anmuten. Das heißt, es gibt keinen ech-
ten kohärenten Ansatz, wie man mit Projekten aus der
klassischen Entwicklungszusammenarbeit in der Sport-
förderung umgeht. Ebenso fehlt eine Strategie, wie man
die Sportförderung im Ausland tatsächlich für die Nach-
bereitung von sportlichen Großereignissen nutzen will.
Auch so etwas ist dem Bericht nicht zu entnehmen.

Einmal abgesehen davon – auch das hat die SPD er-
wähnt –, dass die Sportförderung des Auswärtigen
Amtes sehr fußballlastig ist, könnte diese Förderung we-
nigstens dazu dienen, einen Beitrag zur Verstetigung der
Impulse durch sportliche Megaevents zu leisten. Des-
halb wäre es umso wichtiger, auch im Nachgang von
Sportgroßveranstaltungen mit lokalen Initiativen und
Organisationen im Austragungsland intensiver zusam-
menzuarbeiten.

Am Beispiel Südafrika sieht man, dass die Hoffnun-
gen an die Fußball-WM 2010 absolut überhöht waren
und dass der Aspekt der Nachbereitung dieser Weltmeis-
terschaft von der Bundesregierung in ihrer Förderung
gar nicht aufgegriffen wurde. Unser Antrag mit der
Überschrift „Vergabekriterien für Sportgroßveranstal-
tungen fortentwickeln – Menschen- und Bürgerrechte
bei Sportgroßveranstaltungen stärker berücksichtigen“
widmet sich gerade diesem Punkt.

Noch immer täuscht der Glanz von Sportereignissen
häufig über die wahren Zustände hinweg. Die Arbeitslo-
sigkeit in Südafrika ist nach wie vor hoch. Der verspro-
chene langfristige Aufschwung hat nicht stattgefunden.
Im Schatten der überdimensionierten Fußballtempel be-
mühen sich allerdings oft ehrenamtliche Aktivistinnen
und Aktivisten, Netzwerke zu schaffen und durch den
Sport eine nachhaltige Struktur der Kultur- und Bil-
dungsarbeit zu entwickeln.

Ich befürchte, die Debatte um die Rolle des Sports in
der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik werden wir
wieder führen, wenn es darum geht, in Brasilien die Fol-
gen der Fußball-WM und der Olympischen Spiele 2016
zu bewältigen.

Wir haben mit verschiedenen Aktivisten aus Brasilien
gesprochen, um zu erfahren, wie es dort im Vorfeld der
WM-Vorbereitungen um Zwangsräumungen, Vertrei-
bungen und polizeiliche Gewaltübergriffe steht. Wenn
der jetzige Trend, Mittel zu kürzen, ohne ausgleichende
strukturelle Veränderungen vorzunehmen, sich fortsetzt,
wird es nicht nur dort zu massiven Engpässen in der Bil-
dungsarbeit kommen. Kulturpartnerschaften, wie sie
über das Thema Sport vergleichsweise leicht zustande
kommen könnten, wären damit nicht mehr möglich. Die
jetzt geplante Kürzung der Mittel kann damit aus meiner
Sicht, aus unserer Sicht kein ernsthafter Ansatz sein,
selbst unter der Prämisse der Haushaltskonsolidierung
nicht.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721921500

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner für

die Fraktion der CDU/CSU ist unser Kollege Eberhard
Gienger. Bitte schön, Kollege Eberhard Gienger.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eberhard Gienger (CDU):
Rede ID: ID1721921600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ein

wichtiger Baustein der Auswärtigen Kultur- und Bil-
dungspolitik der Bundesregierung ist der Sport. Wir ha-
ben heute in den Reden der Kolleginnen und Kollegen
schon mehrfach gehört, dass die internationale Sportför-
derung der Bundesregierung bereits seit 1961 – das sind
über 50 Jahre – ein fester Bestandteil unserer Politik ist,
nicht nur einzelner Parteien, sondern aller Parteien im
Deutschen Bundestag. Dabei werden Werte wie Fair-
ness, Toleranz und Weltoffenheit gelebt und vermittelt.
Damit wird von unserer Seite auch ein großer Beitrag
zur Völkerverständigung geleistet.

Wir haben es gehört: Über 1 400 Lang- und Kurzzeit-
projekte wurden in diesen über 50 Jahren im Sportbe-
reich bereits durchgeführt. Man kann ohne Übertreibung
sagen, dass dies von uns allen sehr erfolgreich betrieben
wurde.

Wir führen diese erfolgreichen und partnerschaftli-
chen Projekte zusammen mit vielen Partnern durch. Der
Deutsche Olympische Sportbund ist erwähnt worden.
Der Deutsche Behindertensportverband wurde erwähnt.
Ebenso zu nennen sind Universitäten wie Leipzig oder
auch Mainz. Die vielen Langzeitprojekte, die durchge-
führt wurden, sprechen ihre eigene Sprache. In den letz-
ten zwei Jahren wurden immerhin vier solcher Langzeit-
projekte abgeschlossen. 40 Kurzzeitprojekte kommen
hinzu.

Dieses Engagement der Bundesregierung drückt sich
seit 2008 in einer hohen bundespolitischen Förderung
aus. In dem uns vorliegenden Antrag der SPD können
wir lesen, dass die Mittel für die internationale Sportför-
derung gekürzt wurden, was den sportbezogenen Maß-
nahmen Schaden zugefügt hat.


(Martin Gerster [SPD]: Das stimmt ja auch!)


– Das stimmt eben nicht in dem Maße. Wir sollten an
dieser Stelle vielleicht einmal festhalten: Der Ansatz
beim Titel für die Auswärtige Kultur- und Bildungspoli-
tik im Bundeshaushalt wurde erhöht


(Dagmar Freitag [SPD]: Aber nicht für den Sport!)


– wir kommen zum Sport zurück –, nämlich von
714 Millionen Euro auf 787 Millionen Euro. Im Ver-
gleich zu 2013 war der Haushaltsansatz im Jahr 2009 um
41 Millionen Euro geringer.

Wenn wir nun auf den Sport schauen, dann kommen
wir zu der Überzeugung, dass unter Rot-Grün


(Martin Gerster [SPD]: Ach!)


die Mittel geringer waren. Das hat Joachim Günther sehr
deutlich gesagt; das ist sehr klar zur Sprache gekommen.
2005 waren es 2,66 Millionen Euro. Im Vergleich dazu





Eberhard Gienger


(A) (C)



(D)(B)


waren es im Jahr 2012 4,6 Millionen Euro. Das ist ein
gewaltiger Unterschied. Das ist keine Kürzung, sondern
eine erhebliche Erhöhung.


(Lachen des Abg. Martin Gerster [SPD])


Und Sie machen hier so einen Aufstand wegen
100 000 Euro! Ich kann mir sehr wohl vorstellen, dass
dies in einem nichtolympischen Jahr oder in einem Jahr,
in dem keine Fußballweltmeisterschaft durchgeführt
wird, nicht so ist.

Frau Kollegin Freitag, Sie haben davon gesprochen,
das Auswärtige Amt habe dem Kapitel „Internationale
Sportförderung“ nur fünf Worte gewidmet. Da kann man
doch sagen, dass pro Wort ungefähr 1 Million Euro
durchkommt. Das ist, finde ich, eine recht ordentliche
Summe.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Auswärtige Kultur- und Bildungspolitik hat bei
uns, bei der CDU/CSU, also einen hohen Stellenwert.
Das werden wir auch in Zukunft so sehen. Wir werden
der Rolle des Sports Unterstützung zuteilwerden lassen.

Lassen Sie mich noch auf einen weiteren Punkt in Ih-
rem Antrag zu sprechen kommen. Sie kritisieren, dass
das Auswärtige Amt bereits beschlossene Mittel bis kurz
vor dem jeweiligen Jahresende zurückhalten würde. Das
hört sich ja fast so an, als würde sich das Auswärtige
Amt befleißigen, die vom Bundestag zugesprochenen
Mittel zurückzuhalten und nicht ausgeben zu wollen.


(Dagmar Freitag [SPD]: So ist es! – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Die Auffassung aller Fraktionen!)


Die Wahrheit, liebe Kolleginnen und Kollegen, ist aber
eine andere.


(Dagmar Freitag [SPD]: Jetzt sind wir gespannt!)


Denn das Auswärtige Amt kann ja nicht nach Gutdünken
eigene Projekte beginnen und Gelder ausgeben. Erst
wenn die Höhe der für ein Jahr zur Verfügung stehenden
Mittel bekannt ist, können von den Zuwendungsempfän-
gern Anträge gestellt werden. Danach entscheidet das
Auswärtige Amt, welche Projekte gefördert werden.
Dieser Prozess bedarf einer sorgfältigen Auswahl, Pla-
nung und Durchführung. Ich halte die Praxis des Aus-
wärtigen Amtes hier für durchaus sinnvoll und die pau-
schale Kritik an diesem Vorgehen für falsch.

Wir haben gerade auch die pauschale Verurteilung ge-
hört, dass hier Fußballlastigkeit vorherrschen soll. Es ist
etwas ganz Normales, dass in bestimmten Ländern Fuß-
ball einfach zur sportlichen Kultur gehört. Ich war selber
in Südafrika dabei. Dort können Sie beim besten Willen
keine Skisprungschanze oder Turngeräte hinstellen, son-
dern da ist es relativ einfach, mit einem Ball, einem gu-
ten Trainer und einem Fußballexperten etwas zu tun.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Michael Brand [CDU/CSU]: Mit Fußball haben die Sozis es nicht so!)


Deswegen bin ich der Auffassung, dass die CDU/
CSU Ihrem Antrag nicht zustimmen kann und nicht zu-
stimmen wird. Denn die geforderten Maßnahmen sind
nicht so zielführend, wie Sie es für sich in Anspruch
nehmen. Wir sind der Meinung, dass die von der Bun-
desregierung ergriffenen Maßnahmen die richtigen sind,
und werden uns auch in Zukunft dafür einsetzen, dass
Sport einen wesentlichen Anteil an der Auswärtigen
Kultur- und Bildungspolitik hat.

Ich darf mich vielmals für Ihr Interesse bedanken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721921700

Wir danken Ihnen, Kollege Eberhard Gienger. Sie wa-

ren der letzte Redner in dieser Aussprache, die ich damit
nun schließe.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Sportaus-
schusses zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Die Rolle des Sports in der Auswärtigen Kultur-
und Bildungspolitik“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11580, den
Antrag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/9731 ab-
zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Frak-
tion der Sozialdemokraten, BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN und Linksfraktion. Enthaltungen? – Niemand. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich komme nun zu
den Tagesordnungspunkten 11 a und 11 b:

a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Reform der elterlichen Sorge nicht mit-
einander verheirateter Eltern

– Drucksache 17/11048 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/12198 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Rechtsausschusses (6. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Fraktion der SPD

Neuregelung der elterlichen Sorge bei nicht
verheirateten Eltern

– zu dem Antrag der Abgeordneten Jörn
Wunderlich, Dr. Diether Dehm, Heidrun
Dittrich, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Neuregelung des Sorgerechts für nicht mitei-
nander verheiratete Eltern





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Katja
Dörner, Ingrid Hönlinger, Monika Lazar, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Gemeinsames elterliches Sorgerecht für
nicht miteinander verheiratete Eltern

– Drucksachen 17/8601, 17/9402, 17/3219,
17/12198 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Burkhard Lischka
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger

Zu dem Gesetzentwurf der Bundesregierung liegt ein
Entschließungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sind alle da-
mit einverstanden? – Dann haben wir das so gemeinsam
beschlossen.

Ich eröffne nun die Aussprache. Erster Redner in un-
serer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kol-
lege Stephan Thomae. Bitte schön, Kollege Stephan
Thomae.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1721921800

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen, verehrte Kolle-

gen! Meine Damen und Herren! Ist es für ein Kind nicht
das Schönste, wenn beide Eltern in gemeinsamer Verant-
wortung die Sorge für es wahrnehmen? Kindeswohl,
Verantwortung, gemeinsam: Das sind die Stichworte, die
in dieser Beratung eine ganz zentrale Rolle gespielt ha-
ben – und das zu Recht. Die Wirklichkeit sieht häufig
leider anders aus. Es gibt nicht immer ein Happy End,
wenn Eltern sich streiten. Die Leidtragenden sind fast
immer die Kinder; sie zahlen den Preis. Nun können wir
als Gesetzgeber, auch wenn wir es gerne wollen, leider
nicht den Feenstab zücken und Glück und Harmonie her-
beizaubern, allen Zwist, allen Streit beiseiteräumen.

Ein Drittel aller Kinder in Deutschland wird bereits
nichtehelich geboren. Immerhin wird für ungefähr
50 Prozent dieser Kinder von den Eltern eine gemein-
same Sorgeerklärung abgegeben; sie können sich also
über das Sorgerecht einigen. Für alle anderen Fälle aber
muss der Gesetzgeber ein Verfahren finden. Zwei Ent-
scheidungen, eine des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte aus dem Jahr 2009 und eine des Bun-
desverfassungsgerichts aus dem Jahr 2010, haben uns
den Auftrag erteilt, die elterliche Sorge für nichtehelich
geborene Kinder neu zu regeln. Zugleich wurde eine
Übergangsregelung geschaffen, die uns die Möglichkeit
gegeben hat, ausgiebig und in aller Ruhe über dieses
sehr schwierige und wichtige Thema zu diskutieren.

Nun unkt die Opposition bisweilen, dass die Koalition
sehr lange gebraucht hat, hier eine gesetzliche Regelung
zu finden. Wenn es schneller gegangen wäre, hätte sie
uns vermutlich vorgehalten, wir hätten etwas durch das
Parlament gepeitscht. Wie man es auch macht, macht
man es falsch. Ich persönlich finde es in Ordnung, dass
wir uns Zeit gelassen haben, Erfahrungen gesammelt ha-
ben und diesen wichtigen Gesetzentwurf in aller Ruhe,
ohne allzu großen Druck, beraten haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


In den Beratungen ging es den einen um die Mütter-
rechte, den anderen um die Väterrechte, wieder anderen
um das richtige Familienbild. Man darf aber eines nicht
vergessen: Es geht hier darum, die beste Lösung für die
Kinder zu finden.


(Beifall bei der FDP sowie der Abg. Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU] – Burkhard Lischka [SPD]: Genau!)


Die einen sagen: Das Jugendamt muss immer einbezo-
gen werden, und das Gericht muss ein volles Verfahren
durchführen, um jede Kindeswohlgefährdung auszu-
schließen. Unser Ansatz ist, zu sagen: Zuerst einmal sind
doch die Eltern in der Verantwortung. Auch in der Ehe
schaffen sie es in aller Regel, die beste Lösung für ihre
Kinder zu finden.

Man muss sich vor Augen halten, dass es beim Sorge-
recht nicht um die tägliche Erziehung geht, nicht um das
Recht der Kinder auf Umgang mit dem Elternteil, bei
dem sie nicht leben, sondern um wenige, aber wichtige
Schlüsselentscheidungen im Leben eines Kindes, bei-
spielsweise um die Schulwahl oder um wichtige medizi-
nische Eingriffe. Da ist es doch gut, wenn sich der Vater
in der Verantwortung sieht, wenn er bei der Meinungs-
bildung und Entscheidungsfindung mitwirken will. Das
ist doch genau das, was wir eigentlich wollen sollten. Es
sollte normal sein, dass Väter mitentscheiden wollen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen hätte ich ganz gut ohne eine obligatorische
gerichtliche Beteiligung, ohne ein obligatorisches ge-
richtliches Antragsverfahren auskommen können. Das
hätte die Justiz entlastet. Aber man muss eben sehen,
dass es hier unterschiedliche Annäherungsweisen gibt.
Deswegen gab es eine intensive Diskussion über die
Rolle der Gerichte in diesem Verfahren.

Das Ergebnis, das wir heute beschließen werden, ist:
Wenn die Eltern nicht ohnehin eine gemeinsame elterli-
che Sorgeerklärung abgeben, kann der Vater bei Gericht
einen Antrag auf Erteilung der gemeinsamen elterlichen
Sorge stellen. Wenn die Mutter innerhalb einer Frist, die
frühestens sechs Wochen nach der Geburt des Kindes
endet, keine kindeswohlrelevanten Einwände gegen die
gemeinsame elterliche Sorge vorträgt, dann soll das Ge-
richt die gemeinsame elterliche Sorge in einem verein-
fachten und beschleunigten Verfahren erteilen. Wenn
aber das Gericht Hinweise darauf erhält, dass die ge-
meinsame elterliche Sorge dem Kindeswohl widerspre-
chen könnte, dann soll ein normales Verfahren durchge-





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


führt werden. Das halte ich für eine sachgerechte
Lösung.

Die Quintessenz ist, dass die Schwelle für die Väter
nicht allzu hoch sein soll, wenn es darum geht, zu einer
gemeinsamen elterlichen Sorge zu gelangen, anderer-
seits aber für die Mütter keine unnötig hohen Hürden er-
richtet werden sollen, wenn es darum geht, in ein norma-
les Gerichtsverfahren einzutreten. Das ist doch eine
ausbalancierte Lösung, die den berechtigten Anliegen
beider Seiten, der Mütter und der Väter, Rechnung trägt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, die Diskussion
um das Sorgerecht ist teilweise von ganz erbitterten Aus-
einandersetzungen geprägt. Beim Streit um das Kind
bleibt leider oft viel Verbitterung zurück. Jeder von uns
kennt tragische Fälle. Oft ist es schwierig, diese Gefühle
zu überwinden und auf eine sachliche Diskussionsebene
zu kommen. Das ist uns aber, wie ich meine, in den par-
lamentarischen Beratungen gelungen. Deswegen möchte
ich ausdrücklich allen Kolleginnen und Kollegen Mitbe-
richterstatterinnen und -erstattern, dem Haus sowie dem
Justizministerium, der Ministerin und dem Staatssekre-
tär, meinen Dank aussprechen. Wir haben ungefähr drei
Jahre lang sehr intensiv an diesem schwierigen, emotio-
nalen Thema gearbeitet. In unsere Lösung sind viele An-
regungen eingeflossen. Ich würde mir wünschen, dass
das Gesetz unaufgeregt angewandt wird und die Chance
zur Bewährung erhält, dass das Kindeswohl in den Mit-
telpunkt rückt und Befindlichkeiten der Eltern dahinter
zurückstehen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721921900

Vielen Dank, Kollege Stephan Thomae. – Nächster

Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Burkhard Lischka. Bitte schön, Kollege
Lischka.


(Beifall bei der SPD)



Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1721922000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fassen

wir einmal nach dieser dreijährigen Diskussion über das
Sorgerecht nicht verheirateter Eltern kurz zusammen,
was gut und was schlecht ist an dem vorliegenden Ge-
setzentwurf der Bundesregierung:


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Nur Gutes!)


Erstens. Gut ist, dass künftig nicht mehr ein Wink der
Mutter ausreicht, um den Vater des gemeinsamen Kindes
von Wickelkommode und Schulhof zu verbannen. Ein
bloßes Nein der Mutter wird nicht mehr ausreichen, um
ein gemeinsames Sorgerecht zu verhindern. Das ist gut,
das ist ein echter Fortschritt. Darüber sind wir uns alle
einig. Denn jedes Kind hat ein Recht auf Papa und
Mama, auch das nichteheliche. Aber dieser Fortschritt,
lieber Kollege Thomae, ist nicht unbedingt ein Verdienst
dieser Bundesregierung, sondern aktuelle Rechtspre-

chung des Bundesverfassungsgerichts und des Europäi-
schen Gerichtshofs für Menschenrechte. Deshalb sehen
Sie es mir nach, dass ich Ihnen dafür heute keine Lor-
beerkränze binde.


(Beifall bei der SPD)


Zweitens. Gut ist, dass zwei Drittel der nicht verheira-
teten Eltern dieses Gesetz gar nicht brauchen. Diese ge-
ben nämlich schon heute eine gemeinsame Sorgeerklä-
rung ab, häufig unmittelbar nach der Geburt. Diesen
Eltern möchte ich heute an dieser Stelle ganz einfach
Danke sagen; denn ihre Kinder brauchen beide Eltern-
teile – bei verlorenen Kuscheltieren ganz genauso wie
bei überstrengen Grundschullehrern oder beim ersten
Liebeskummer.

Damit komme ich drittens zu der Minderheit der nicht
verheirateten Eltern, die sich nicht dazu durchringen
können, eine gemeinsame Sorgeerklärung abzugeben
und ihre Verantwortung für das gemeinsame Kind zu tei-
len. Dafür gibt es ganz unterschiedliche Gründe, und je-
der Fall ist anders.

Aber eines haben alle diese Fälle gemeinsam: Es geht
um das Sorgerecht, und beim Sorgerecht geht es um das
Kindeswohl. Das Kindeswohl ist aber keine Nebensa-
che, über die man in einem Verfahren nach Aktenlage
entscheiden kann.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Das ist auch der Grund, warum die gerichtliche Praxis
diese Sorgerechtsreform ganz einhellig missbilligt – ich
sage, zu Recht. Denn über das Kindeswohl entscheidet
man nicht in einem Hopplahopp-Verfahren. Sie miss-
brauchen hier den Familienrichter als eine Art Verwal-
tungsbehörde. Er liest den schriftlichen Antrag des Va-
ters, er liest die schriftliche Antwort der Mutter, und
dann soll er den Daumen heben oder senken, ohne je-
mals mit den Betroffenen ein Wort gewechselt zu haben.
Wer so mit dem Kindeswohl in unserem Land umgeht,
der stellt hier falsche Weichen. Deshalb lehnen wir So-
zialdemokraten diesen Gesetzentwurf ab.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wichtig ist doch, wie es den betroffenen Kindern am
Ende des Verfahrens geht. In dieser Hinsicht löst dieses
beschleunigte Verfahren überhaupt nichts. Wenn sich die
Eltern beispielsweise in Feindschaft verbissen haben,
dann sollte man sie an einen Tisch holen, mit ihnen spre-
chen und mit ihnen überlegen, was die beste Lösung für
das gemeinsame Kind ist. Denn eines ist dem Kindes-
wohl ganz sicher nicht förderlich: sich streitende Eltern.

Aber diese gemeinsame Suche nach guten Lösungen
sieht Ihr Gesetzentwurf gerade nicht vor. Sie favorisie-
ren im Regelfall ein beschleunigtes Verfahren, in dem
über die Köpfe der betroffenen Eltern und Kinder hin-
weg entschieden wird.


(Stephan Thomae [FDP]: Wenn keine Einwände erhoben werden!)


Das ist praxisfern, das ist schlecht. Dieser Gesetzentwurf
ist ein lauer Kompromiss. Er ist vielleicht gut gedacht,
aber nicht gut gemacht. Insofern hat diese Bundesregie-





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)


rung auch im Bereich des Sorgerechts mal wieder eine
Chance vertan.

Recht herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721922100

Vielen Dank, Kollege Burkhard Lischka. – Nächste

Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kol-
legin Ute Granold. Bitte schön, Frau Kollegin.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1721922200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Heute ist ein wichtiger Tag. Wir entscheiden nach langer
Beratung über ein ganz wichtiges Thema: die gemein-
same Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern. Es
liegen einige Anträge der Fraktionen vor. Wir haben die-
ses Thema in diesem Haus lange debattiert. Das zeigt,
wie wichtig es uns allen ist. Deshalb wären wir froh,
wenn wir heute zu einem Ergebnis kämen, das von allen
getragen wird. Darum haben wir uns in der langen Zeit
der Beratungen bemüht.

Kollege Thomae hat bereits ausgeführt, dass etwa
55 bis 60 Prozent der nicht verheirateten Eltern schon
heute eine gemeinsame Sorgeerklärung beim Jugendamt
abgeben. Wir haben jetzt eine Regelung für diejenigen
zu treffen, die das nicht machen. Eine Erhebung hat er-
geben, dass in der Regel sachfremde Erwägungen vorge-
tragen wurden, warum die gemeinsame Sorge nicht er-
klärt wurde.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und
das Bundesverfassungsgericht haben entschieden, dass
es dem Vater ermöglicht werden muss, eine gerichtliche
Entscheidung herbeizuführen, wenn die Mutter einer ge-
meinsamen Sorge entgegensteht. Wir hätten es bei der
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts belassen
können; denn ab diesem Zeitpunkt bestand die Möglich-
keit, eine gerichtliche Entscheidung herbeizuführen. Wir
hätten keine gesetzliche Regelung vornehmen müssen;
aber wir haben es getan. Im Laufe der Zeit wurde näm-
lich quer durch die Republik recht unterschiedlich von
den Familiengerichten entschieden, aber auch in zweiter
Instanz. Deshalb haben wir eine Regelung angestrebt.

Es gab drei Möglichkeiten, die wir debattiert haben,
immer mit Blick auf das Kindeswohl. Bei Feststellung
oder Anerkennung der Vaterschaft gilt per Gesetz die ge-
meinsame elterliche Sorge. In diesem Fall besteht das
Problem, dass der Vater zu einem Sorgerecht genötigt
werden kann. Es gibt Fälle, wo der Vater das aber gar
nicht möchte. Er möchte vielleicht den Umgang, aber
kein Sorgerecht. Deshalb soll das nicht der Regelfall
sein. Wir sagen: Die Antragslösung ist der Mittelweg.
Der Vater stellt bei Gericht den Antrag auf Erteilung des
Rechts auf Mitsorge, Alleinsorge oder Teilsorge. All das
ist möglich, wenn es dem Kindeswohl nicht wider-
spricht. Das ist ein ganz schneller und niederschwelliger
Weg für eine gemeinsame elterliche Sorge. Dies muss
immer vor dem Hintergrund gesehen werden, dass es

nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes mög-
lich gewesen wäre, per Gesetz eine elterliche Sorge fest-
zulegen. Insofern verstehe ich die Einwände nicht, dass
im beschleunigten bzw. vereinfachten Verfahren über die
Köpfe der Eltern hinweg entschieden wird. So ist es
nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lassen Sie mich noch etwas zum Verfahren sagen. Es
wurde auch eine dritte Möglichkeit diskutiert. Danach
sollte der Vater einen Antrag auf gemeinsame Sorge stel-
len, und wenn die Mutter nicht binnen einer bestimmten
Frist widerspricht, gilt die gemeinsame Sorge. Für uns
ist das keine Lösung. Es wäre auch ein systemfremder
Verfahrensweg; wir kennen so etwas im Familienrecht
nicht. Wir meinen, dass die Antragslösung ein guter Mit-
telweg ist. Wir haben das in der Fraktion und in der Ko-
alition lange diskutiert. Der Kollege Thomae sagte ge-
rade, er könne auch mit einer gesetzlichen Regelung ab
Geburt leben. Verschiedene in unserer Fraktion waren
ebenfalls dieser Meinung. Auch die SPD-Fraktion hat
sich lange damit auseinandergesetzt. Aber dann wurde
dieser Kompromiss geschlossen.

Wir wollen eine niederschwellige, das heißt negative
Kindeswohlprüfung. Ein Kind braucht Mutter und Vater
für eine gedeihliche Entwicklung. Warum soll der Vater
ausgeschlossen sein oder vortragen, dass er ein guter Va-
ter ist? Wir sind der Auffassung, dass das dem Kindes-
wohl entspricht, dass ein Kind Mutter und Vater braucht.
Die Mutter müsste im Verfahren vortragen, dass es
Gründe gibt, die einer gemeinsamen Sorge widerspre-
chen. Das müssen keine Schriftsätze, keine Rechtsausfüh-
rungen sein. Sie kann in einfachen Worten sagen: „Ich
habe Probleme mit einer gemeinsamen Sorge, weil …“.
Dann geht man automatisch von dem vereinfachten
schriftlichen Verfahren in das beschleunigte Verfahren.
Das Vorrang- und Beschleunigungsgebot ist die Neue-
rung, die wir damals im FamFG festgelegt haben. Dieses
Verfahren soll binnen vier Wochen terminiert werden.
Das ist zumutbar.

Zu den Fristen: Im Gespräch war zum einen die Frist
per Gesetz, also sofort, ab Geburt, zum anderen eine
Frist von 16 Wochen. Das ist eine lange Zeit. Wir blei-
ben bei den sechs Wochen; wir halten das für angemes-
sen. Die Mutter hat sechs Wochen Zeit, sich Gedanken
zu machen und sich zu äußern. Ich muss dazusagen – ich
habe es in diesem Haus schon einmal gesagt –: Die
Schwangerschaft fällt ja nicht vom Himmel. Die Frau ist
neun Monate schwanger und weiß, dass sie nicht verhei-
ratet ist und das Thema der gemeinsamen Sorge ansteht.
Ich meine, dass die Mutter nicht unter Druck gesetzt
wird, wenn sie nach sechs Wochen eine Entscheidung
treffen soll und das Gericht dann entscheidet.

In der Anhörung wurde ein breites Spektrum an Mög-
lichkeiten für eine Regelung aufgezeigt, die die Ver-
bände bis heute Nachmittag nochmals vorgetragen ha-
ben. Auch die Sachverständigen waren unterschiedlicher
Meinung, was das Verfahren angeht. Das Gericht soll im
schriftlichen vereinfachten Verfahren auf Antrag des Va-
ters über die gemeinsame elterliche Sorge entscheiden.
Dieses Verfahren soll schnell erfolgen. Es beinhaltet eine





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


Regelung, die jederzeit in das beschleunigte Verfahren
übergehen kann.

Zuerst hatten wir eine Mussvorschrift vorgesehen.
Das heißt, es war vorgesehen, dass im schriftlichen ver-
einfachten Verfahren entschieden werden muss. Das ha-
ben wir nach der Anhörung geändert. Nun soll im
schriftlichen Verfahren entschieden werden. Dadurch
besteht für das Gericht in besonderen Fällen die Mög-
lichkeit, in anderer Weise, nämlich im Vorrang- und Be-
schleunigungsverfahren, zu entscheiden.

Nach wie vor besteht die Möglichkeit, dass schon mit
der Geburt per einstweiliger Anordnung eine Entschei-
dung herbeigeführt wird, also auch innerhalb der soge-
nannten Karenzzeit von sechs Wochen. Wir denken da-
bei an den Fall der Beschneidung am achten Tag. Wir
denken dabei an einen Streit über eine Operation, über
die Namensgebung, über die Religionszugehörigkeit.
Für den Vater muss die Möglichkeit bestehen, bei wich-
tigen Fragen per einstweiliger Anordnung eine Entschei-
dung herbeizuführen.

Nach wie vor besteht auch die Möglichkeit, dass man
die gemeinsame Sorgeerklärung außerhalb eines gericht-
lichen Verfahrens beim Jugendamt abgibt. Das ist uns
natürlich am liebsten; denn es ist immer besser, wenn es
gar nicht erst zu einem gerichtlichen Verfahren kommt.
Wenn es aber doch dazu kommt, soll es für den Vater
niederschwellig möglich sein, die gemeinsame elterliche
Sorge zu erlangen, weil das Kind sowohl Mutter als auch
Vater braucht. Wir sind der Meinung, dass diese Lösung
dem Kindeswohl am ehesten entspricht. Es ist eine gute
Lösung. Sie stellt einen Mittelweg dar. Wir werben da-
für, dass Sie diesen Weg mit uns gehen.

Wir werden natürlich im Laufe der Zeit überprüfen,
ob die getroffenen Regelungen fruchten, ob sie einen gu-
ten Weg darstellen oder ob man in dem einen oder ande-
ren Fall, beispielsweise was Fristen oder Verfahren an-
geht, Korrekturen vornehmen muss. Zunächst sind wir
der Auffassung, mit der Niedrigschwelligkeit im mate-
riellen Recht und der Beschleunigung im Verfahrens-
recht eine tragbare Lösung gefunden zu haben.

Ich freue mich, dass nach den Berichterstattergesprä-
chen, aber auch den informellen Gesprächen, Bünd-
nis 90/Die Grünen bereit sind, zuzustimmen und diesen
Weg mitzugehen. Dafür bedanke ich mich.

Wir werden heute über eine gute Regelung abstim-
men. Dafür bedanke ich mich. Dies ist im Interesse der
Kinder, der Eltern und insbesondere der Väter, um die es
heute im Wesentlichen geht.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721922300

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner ist für

die Fraktion Die Linke unser Kollege Jörn Wunderlich.
Bitte schön, Kollege Jörn Wunderlich.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721922400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! In

Art. 6 Abs. 2 GG heißt es wörtlich:

Pflege und Erziehung der Kinder sind das natür-
liche Recht der Eltern und die zuvörderst ihnen ob-
liegende Pflicht.

Die Rede ist von Eltern; von verheirateten Eltern steht
hier nichts. Das war vielleicht auch mit der Grund, wa-
rum der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
vor über drei Jahren entschieden hat, dass hier in
Deutschland das Sorgerecht von nicht verheirateten El-
tern zu regeln ist und nicht, wie der Kollege Lischka
schon gesagt hat, mit einem einfachen Nein der Mutter
die Sorge des Vaters verhindert werden kann.

Heute wird dies endlich neu geregelt; lange genug hat
es gedauert. Es ist intensiv beraten worden. In der ersten
Lesung zum vorliegenden Gesetzentwurf bzw. zu der
Problematik als solcher ist bereits darauf hingewiesen
worden, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt, das
Sorgerecht neu zu regeln: die Antragslösung, die Wider-
spruchslösung, die sogenannte große Lösung, also elter-
liche Sorge kraft Gesetz.

Man muss sich fragen: Was ist für Kinder das Beste?
Ich denke, wir sind uns alle einig, dass die gemeinsame
Sorge der Eltern per se nicht das Schlechteste ist. Vier
von den acht Sachverständigen in der Anhörung haben
sich für die große Lösung ausgesprochen, also die elter-
liche Sorge beider Elternteile kraft Gesetz. Nun ist es so:
Keiner der Anträge verfolgt im Ergebnis die große Lö-
sung, obschon es etliche Abgeordnete, ohne Ansehen der
Fraktion, gibt, die diese Lösung präferieren. Im Antrag
meiner Fraktion, der Linken, heißt es unter anderem:

Eltern erhalten, unabhängig von ihrem eherecht-
lichen Status, mit der Anerkennung der Vaterschaft
ein gemeinsames Sorgerecht, sofern der Vater die
Übernahme der gemeinsamen Sorge erklärt.

Es handelt sich also um eine elterliche Sorge kraft Ge-
setz, verbunden mit einer Erklärung des Vaters, dass er
die Sorge auch übernehmen will. Insoweit wurde im
Rahmen der Anhörung der Antrag der Linken von eini-
gen Sachverständigen als leicht abgewandelter Automa-
tismus ausdrücklich als der weitestgehende und geeig-
netste Vorschlag angesehen. Konkrete Gründe, die gegen
unseren Antrag sprechen, sind mir bis heute nicht ge-
nannt worden. Ich denke, letztlich würde nur dieser Au-
tomatismus – frei von anachronistischen Rollenbildern
und Klischees – einer modernen, gleichberechtigten Ge-
sellschaft entsprechen.


(Beifall bei der LINKEN)


Nach wie vor lautet die Frage – die Frage bleibt ein-
fach –: Warum muss ein Vater, wenn er seiner grund-
rechtlich auferlegten Pflicht, sich um sein Kind zu küm-
mern, für sein Kind zu sorgen, nachkommen will, erst
einen Antrag bei Gericht stellen? Oder: Warum müssen
Eltern, die die faktische Sorge ausüben, möglicherweise
einen Antrag bei Gericht stellen? Nun gut, es gab ver-
schiedene Möglichkeiten. Wir haben verschiedene An-
träge aus allen Fraktionen vorliegen. Der Gesetzentwurf





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


setzt letztlich die Vorgaben des Bundesverfassungsge-
richts um – jetzt ist aber die Uhr gesprungen –; –


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721922500

Machen Sie sich keine Sorgen. Ich habe eine eigene

Uhr. Es geht alles in Ordnung. Ich habe es fest im Griff.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721922600

– die Umsetzung aber ist minimalistisch und halbher-

zig, nicht zukunftsweisend.

Immerhin ist ein Kritikpunkt, der in der Anhörung zur
Sprache kam – das ist hier schon angesprochen
worden –, leicht verbessert worden: das Schnellverfah-
ren ohne Anhörung der Beteiligten, nach Aktenlage. Es
geht hier um das Sorgerecht. Es geht um Kinder. Es geht
um wirklich richtungsweisende Entscheidungen. Aus
der sogenannten Istvorschrift ist eine Sollvorschrift ge-
worden. Das ist eine minimale Verbesserung. Nun kann
man natürlich sagen: Mein Gott, warum regt sich die
Linke darüber auf, dass man nach Aktenlage entscheidet,
wenn gleichzeitig der Automatismus im Sorgerecht prä-
feriert wird?


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Eben! Ja, genau! Antwort?)


Darin besteht aber kein Widerspruch. Wenn die gemein-
same elterliche Sorge besteht, kraft Gesetz, möglicher-
weise durch die Zusatzerklärung des Vaters, kann jeder
Elternteil, wenn sich die Eltern trennen oder über das
Sorgerecht streiten, nach § 1671 BGB, wie Eheleute
auch, die elterliche Sorge für sich allein oder Teile der
elterlichen Sorge beantragen. Das geht eben nicht aus-
schließlich in einem Schnellverfahren. Sobald die Ge-
richte damit befasst sind – am besten wäre es, sie müss-
ten sich gar nicht damit befassen; das sollten die Eltern
eigentlich schiedlich-friedlich miteinander klären –, darf
nicht nach Aktenlage im Schnellverfahren entschieden
werden.

Zu dem Antrag der Grünen muss man sagen: Er ist
nicht falsch, er ist aber der bürokratischste. Der Antrag
von der SPD ist auch nicht falsch, unser ist aber weiter
gehend. Zu dem Entschließungsantrag der Grünen, der
jetzt noch vorgelegt wurde, nach dem evaluiert werden
soll, sage ich: Das muss man mal sehen.


(Stephan Thomae [FDP]: Unser ist auch nicht falsch!)


Ich sage es einmal so: Da wurden mal schnell drei
Punkte formuliert; das reicht nicht aus. Man kann sich
aber bei allen Anträgen positiv enthalten.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721922700

Herr Kollege, jetzt ist die Uhr gesprungen.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721922800

Okay. – Letzter Satz: Die Zukunft wird zeigen, wie

sich das Sorgerecht zum Wohle der betroffenen Kinder
weiterentwickelt; denn diese müssen im Zentrum all un-
serer Überlegungen stehen. Wir sind noch nicht am Ende
der Überlegungen. Oder, um es mit Oscar Wilde zu sa-

gen: Am Ende wird alles gut. Und wenn es nicht gut
wird, ist es noch nicht das Ende.

Ich danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721922900

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächste Rednerin für

die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere Kollegin
Katja Dörner. Bitte schön, Frau Kollegin Katja Dörner.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721923000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Es ist Ihnen aus den Beratungen in den
Ausschüssen schon bekannt: Wir werden dem Gesetz-
entwurf heute Abend zustimmen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir tun das, weil wir der Ansicht sind, dass die darin
getroffenen Regelungen ein vernünftiger Kompromiss
sind. Aus unserer Sicht werden die Interessen und die
Rechte der Kinder, der Mütter und der Väter in einen tat-
sächlich gut ausgewogenen Ausgleich zueinander ge-
bracht. Ich bin auch der Meinung, dass sich dieses
Thema nicht für irgendwelche parteipolitischen Profilie-
rungen eignet. Man sollte auch nicht versuchen, das be-
rühmte Haar in der Suppe zu finden, zumal wir alle, die
wir hier sitzen und darüber diskutieren – ich glaube, das
ist auch in der Debatte heute Abend deutlich geworden –,
wissen, dass in allen Fraktionen die gleichen Argumente
vorgebracht wurden und sie vor dem Hintergrund unter-
schiedlicher Perspektiven abgewogen wurden.

Es fällt uns natürlich auch deshalb leicht, dem Gesetz-
entwurf zuzustimmen, weil sich der Vorschlag der Bun-
desregierung weitgehend mit den Eckpunkten der Grü-
nen deckt, die wir schon im Herbst 2010 vorgelegt
haben. Ich bleibe dabei, wenn auch mit einem kleinen
Augenzwinkern, dass ein dezenter Hinweis auf unser
Copyright bei den Regelungen im Gesetzentwurf an der
einen oder anderen Stelle durchaus angemessen gewesen
wäre.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Günter Krings [CDU/CSU]: Kein Copyright bei Gesetzentwürfen!)


Es ist allerdings nicht nachvollziehbar – das muss ich
sagen; das ist aus meiner Sicht auch keine Unkerei –,
dass es so lange gedauert hat, bis Schwarz-Gelb über-
haupt einen Gesetzentwurf vorgelegt hat. Nach den Ent-
scheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Men-
schenrechte und des Bundesverfassungsgerichts wäre es
angemessen und sicherlich auch möglich gewesen, einen
Gesetzentwurf schneller auf den Weg zu bringen. Ich er-
innere mich auch an die Aussagen der Justizministerin,
die ursprünglich einen Gesetzentwurf für den Herbst
2010 angekündigt hatte. Jetzt ist es 2013. Im Sinne der
Kinder und der betroffenen Eltern wäre aus unserer Sicht
sicherlich ein schnelleres Verfahren wünschenswert ge-
wesen. Aber ich sage an dieser Stelle: Schwamm drüber.
Es geht uns ja gemeinsam um die Sache, nämlich darum,





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


dass unverheiratete Väter zukünftig auf einem einfachen
Weg, in einem wirklich niedrigschwelligen Verfahren
das Sorgerecht für ihre Kinder bekommen können. Das
wird mit den nun vorgeschlagenen Regelungen möglich.
Wir begrüßen das.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Anhörung im Rechtsausschuss hat aber auch ge-
zeigt, dass bei einigen Aspekten im Gesetzentwurf ein
Fragezeichen durchaus angebracht wäre. Deshalb haben
wir heute Abend unseren Entschließungsantrag vorge-
legt. In diesem fordern wir die Bundesregierung auf, bei
der sowieso geplanten Evaluierung des Gesetzentwurfs
auf bestimmte Aspekte ein besonderes Augenmerk zu
richten. Dabei handelt es sich aus unserer Sicht vorran-
gig um die Frage, ob das Familiengericht tatsächlich der
richtige Ort ist, an dem der Vater den Antrag auf Sorge-
recht stellt, oder ob das nicht doch eine etwas zu hohe
Hürde ist und das Jugendamt nicht eher geeignet wäre.
Der zweite aus unserer Sicht wichtige Punkt ist die Frage
der Frist für einen möglichen Widerspruch der Mutter.
Der dritte für uns sehr wichtige Punkt ist die Frage, ob
die Beratungs- und Mediationsangebote tatsächlich be-
reitgestellt und genutzt werden bzw. was man in diesem
Zusammenhang im Sinne einer frühzeitigen Konfliktver-
meidung oder Konfliktlösung zwischen den Elternteilen
noch tun könnte.

Wir würden uns über Zustimmung zu unserem Ent-
schließungsantrag sehr freuen. Es ist sicherlich sachge-
recht, bei einem derart neuen Verfahren beim Sorgerecht
nicht miteinander verheirateter Eltern ganz genau auf die
Konsequenzen zu achten, zumal wir alle wissen, dass
wir es zum Teil mit höchst konfliktträchtigen Konstella-
tionen zu tun haben.

Alles in allem machen wir heute im Sinne der Kinder
und auch im Sinne der Eltern einen echten Schritt nach
vorne. Darüber freuen wir uns als Grüne. Wir stimmen
– dies ist eine eher untypische Konstellation – diesem
Gesetzentwurf zu.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721923100

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner in un-

serer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU un-
ser Kollege Norbert Geis. Bitte schön, Kollege Norbert
Geis.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Geis (CSU):
Rede ID: ID1721923200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Ohne Zweifel ist es eine der vordringlichsten
und wichtigsten Aufgaben beider Elternteile, die Kinder
zu erziehen, für sie Sorge zu tragen und für die Kinder
da zu sein. Durch die liebende Zuwendung, durch die
sorgende Zuwendung der Eltern entstehen in den Kin-

dern Geborgenheit und Vertrauen, das Urvertrauen, das,
wie uns die Sachverständigen sagen, für die Erlernung
der Daseinskompetenz in jüngsten Jahren unbedingt er-
forderlich ist.

Es besteht auch kein Zweifel – das möchte ich hier
betonen –, dass diese Voraussetzungen am ehesten in der
Familie geschaffen werden können. Wenn Vater und
Mutter in der Ehe zusammenleben und die Familie bil-
den, ist am ehesten die Voraussetzung gegeben, dass
diese Daseinskompetenz entsteht. Deswegen geht unsere
Rechtsordnung auch davon aus, dass Vater und Mutter
unmittelbar bei Geburt, wenn sie in Ehe vereint sind,
wenn sie verheiratet sind, das Sorgerecht bekommen.

Das ist nicht so, wenn Vater und Mutter getrennt le-
ben, wenn sie zumindest nicht eine Ehe eingegangen
sind, wenn sie vielleicht sogar im Streit miteinander
sind. Für solch einen Fall haben wir in diesem Gesetz-
entwurf vorgesehen – das war auch schon bei der großen
Kindschaftsrechtsreform Ende der 90er-Jahre so –, dass
dann zunächst die Mutter das Sorgerecht hat. Das hat
seinen Grund in der ganz natürlichen Gegebenheit, dass
die Mutter zuerst das engste Verhältnis mit dem Kind
hat. Die Erziehung beginnt ja schon in der Schwanger-
schaft. Viele Psychologen und Sachverständige haben
dargelegt, dass Mütter schon in der Schwangerschaft mit
ihrem Kind sprechen und durch dieses Sprechen eine
Verbindung zum Kind entsteht. Das ist, glaube ich, eine
wichtige Feststellung.

Bei der großen Kindschaftsrechtsreform Ende der
90er-Jahre wurde entschieden, dass zunächst die Mutter
das alleinige Sorgerecht haben soll. Mittlerweile wurde
auch entschieden, dass die Mutter das alleinige Sorge-
recht behalten soll, wenn sie dem Antrag bzw. dem Wil-
len des Vaters, auch das Sorgerecht zu erhalten, wider-
spricht. Wenn sie das tut, hat der Vater keine Chance
mehr. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat erklärt, dass diese Regelung gegen die Menschen-
rechte verstößt. Außerdem hat das Bundesverfassungs-
gericht in seinem Urteil aus dem Jahre 2010 erklärt, dass
diese Regelung verfassungswidrig ist, weil sie gegen
Art. 6 Abs. 2 des Grundgesetzes verstößt. Insofern sind
wir veranlasst, eine Regelung zu finden.

Dazu sind wir aber nicht nur deswegen aufgefordert,
weil diese Regelung verfassungswidrig ist, sondern auch
– das will ich dazusagen –, weil die Zahl der Kinder, die
nicht in einer Ehe geboren werden, im Laufe der Zeit im-
mer mehr zugenommen hat. Heutzutage kommen schon
ein Drittel aller Kinder nicht unter den Rahmenbedin-
gungen, die ich vorhin genannt habe, zur Welt.


(Monika Lazar [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Welt dreht sich trotzdem weiter, Herr Geis!)


Das hat die Politik zu berücksichtigen. An diesem Fak-
tum kann und darf die Politik nicht vorbeigehen. All
denjenigen, die diesen Gesetzentwurf kritisieren, weil
sie meinen, er gehe zu weit, möchte ich sagen: Wir sind
dazu da, Regelungen zu finden, die vom Volk insgesamt
akzeptiert werden können.





Norbert Geis


(A) (C)



(D)(B)


Ich meine, dass dieser Gesetzentwurf dieses Ziel er-
reicht. Sicherlich kann man darüber streiten, wie das
funktionieren soll, wenn ein Vater einen entsprechenden
Antrag stellt und die Mutter widerspricht. In diesem Fall
wird es eine streitige Auseinandersetzung geben. Dann
kann der Richter einschreiten. Er kann Vater und Mutter
anhören – er kann meinetwegen auch das Jugendamt an-
hören –, und er kann vielleicht sogar dazu beitragen,
dass das herauskommt, was Herr Lischka erwähnt hat:
dass die Eltern, wie in zwei Drittel aller Fälle, das ge-
meinsame Sorgerecht haben, auch wenn sie nicht in ei-
ner Ehe zusammenleben.

Wenn das aber nicht der Fall ist, wenn es also zu einer
heftigen Auseinandersetzung kommt, dann muss der
Richter entscheiden. Entscheidend ist dabei allein das
Kindeswohl. Allerdings kann man darüber nachdenken,
ob die negative Feststellung des Kindeswohls ausreicht.
Man könnte, wenn es einem wirklich um das Kindes-
wohl geht, überlegen, ob es, wenn Vater und Mutter ver-
bissen gegeneinander vorgehen, nicht besser wäre, eine
positive Feststellung vorzunehmen: dass das Sorgerecht
des Vaters dem Wohl des Kindes nicht entgegensteht,
sondern dass das Sorgerecht des Vaters für das Wohl des
Kindes förderlich ist. Eine solche Regelung ist in diesem
Gesetzentwurf aber nicht enthalten. Dennoch meine ich,
dass die gefundene Regelung auch so hinnehmbar ist.

Des Weiteren möchte ich sagen: Darüber, ob die
Sechswochenfrist, über die wir ja lange gestritten haben,
ausreicht, muss die Praxis entscheiden. Die Praxis muss
auch darüber entscheiden, ob es richtig ist, dass der
Richter ganz automatisch, nur weil eine gesetzliche Ver-
mutung dafürspricht, entscheiden muss, dass der Vater
das Sorgerecht bekommt, wenn sich die Mutter bis zum
Ablauf der Sechswochenfrist nicht dagegen gewehrt hat.
Ob das so ganz richtig ist, ist die Frage. Darüber muss,
wie gesagt, die Praxis entscheiden. Gegen diese Rege-
lung gibt es Bedenken. Diese Bedenken kann man teilen,
Herr Lischka und Herr Wunderlich. Aber ich glaube, wir
sollten es versuchen. Warten wir ab, wie die Praxis ent-
scheidet und ob sich die getroffene Regelung in der Pra-
xis bewährt. Ich glaube, dass wir dann durchaus eine
Korrektur vornehmen könnten.

Weil dieser Gesetzentwurf wichtig ist, schließe ich
mich der Bitte von Frau Granold an: Versuchen wir
doch, hier eine gemeinsame Entscheidung zu treffen! Ich
jedenfalls bin sehr für diesen Gesetzentwurf.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721923300

Vielen Dank, Kollege Norbert Geis. – Für die Frak-

tion der Sozialdemokraten unsere Kollegin Frau Sonja
Steffen. Bitte schön, Frau Kollegin Sonja Steffen.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1721923400

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Sehr geehrte Gäste! Fast könnte man meinen,
die klassische Familie mit einem verheirateten Eltern-

paar sei ein Auslaufmodell; denn immer mehr Kinder in
Deutschland wachsen bei Alleinerziehenden oder bei
Paaren ohne Trauschein auf. Im Osten der Republik sind
übrigens nicht ein Drittel der Eltern, sondern fast die
Hälfte der Eltern nicht verheiratet. In den neuen Bundes-
ländern leben also nur in circa jeder zweiten Familie die
Eltern mit Trauschein zusammen.

Die Rechtsprechung hat – das wissen wir alle – mit
diesem neuen Familienbild viel zu tun, insbesondere was
das Sorgerecht angeht. Nach den Entscheidungen des
Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte und des
Bundesverfassungsgerichts musste eine angemessene
Regelung der elterlichen Sorge für ein Kind nicht mitei-
nander verheirateter Eltern gefunden werden. Das ist zu-
gegebenermaßen keine leichte Entscheidung, zumal die
gesellschaftliche Bedeutung, wie gesagt, sehr groß ist.
Die Palette der Beziehungen der Eltern zueinander reicht
von einer flüchtigen Bekanntschaft – möglicherweise
nur einer Nacht – bis hin zu einer langjährigen eheähnli-
chen Beziehung.

Entgegen ersten Ankündigungen einer raschen Um-
setzung der gerichtlichen Entscheidungen – wir haben
schon gehört, dass das Gesetz ursprünglich schon im
Herbst 2010 angedacht war – hat sich die Regierungs-
koalition für die Reform des Sorgerechts ungewöhnlich
viel Zeit gelassen.


(Anton Schaaf [SPD]: So ist das!)


Dies lag wohl zu einem großen Teil an den unterschiedli-
chen Familienbildern, die die Mitglieder der Koalition
schlecht unter einen Hut bringen konnten.


(Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Ich finde, es ist doch gut geworden!)


Was dabei herausgekommen ist, überzeugt die Frak-
tion der SPD nicht, auch nicht nach der Debatte. Ich sage
Ihnen auch, warum dies so ist: Sie wollen für Sorge-
rechtsanträge der Väter ein Schnellverfahren einführen
– mein Kollege Lischka hat es, glaube ich, Hopplahopp-
Verfahren genannt –: Wenn die Mutter das gemeinsame
Sorgerecht nicht will, dann kann der Vater wählen, ob er
zunächst über das Jugendamt eine Einigung mit der Mut-
ter anstrebt oder ob er sich direkt an das Familiengericht
wendet. Ist die Begründung der Mutter in diesem fami-
liengerichtlichen Verfahren nicht überzeugend oder ver-
passt sie die Sechswochenfrist, dann kann das Gericht
nach Aktenlage über ein gemeinsames Sorgerecht ent-
scheiden. Diese Sechswochenfrist endet für die Mutter
übrigens frühestens sechs Wochen nach der Geburt.

Ich habe schon in der ersten Lesung dieses Gesetzent-
wurfes gesagt: Ich halte diese Frist für viel zu kurz.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Andrea Astrid Voßhoff [CDU/CSU]: Was ist mit den neun Monaten davor?)


Der Kollege Geiß hatte vorhin auch schon seine Zweifel.
Erinnern wir uns daran – gerade die von uns, die Mütter
sind, aber auch die, die Väter sind –, wie aufregend die
Zeit nach der Geburt ist! Eine Frist von sechs Wochen
– und das, wenn die Mutter alleinerziehend ist, der Vater
ihr nicht zur Seite steht, man im Streit ist – halte ich ge-





Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


rade in dieser Zeit nach der Geburt für erheblich zu kurz,
um sich mit Sorgerechtsdingen zu beschäftigen, sich ei-
nen Anwalt zu suchen und dafür zu sorgen, dass ein ver-
nünftiger Schriftsatz aufgesetzt wird.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In dem Fall, dass die Mutter die Frist verpasst oder die
Begründung dem Gericht nicht ausreicht, kann der Rich-
ter zukünftig tatsächlich wie eine Art Verwaltungsbe-
hörde ohne persönliche Anhörung der Eltern – ohne sie
jemals zu Gesicht bekommen zu haben – und ohne An-
hörung des Jugendamtes nach Aktenlage entscheiden.


(Stephan Thomae [FDP]: Dann gibt es den Beschwerdeweg!)


Konfliktbelasteten Beziehungen, um die es bei diesen
Entscheidungen eigentlich immer geht, wird diese Rege-
lung nicht gerecht. Wenn das Gericht entscheidet, ohne
die Eltern gesehen zu haben, wird der Streit unter den
Parteien vielleicht eher noch heftiger werden.

Im Gerichtssaal der Familiengerichte – das wissen
alle Familienrechtler unter uns – wird versucht, eine ein-
vernehmliche Lösung zu finden. Da sitzen die Parteien
nebeneinander, da ist das Jugendamt vertreten, da ist in-
zwischen auch ein Verfahrensbeistand zugegen, und man
sucht gemeinsam nach einer Lösung, überlegt vielleicht,
ob man die Eltern zu einer Elternberatung schickt, um zu
erreichen, dass das Sorgerecht gemeinsam ausgeübt
wird. Wir halten diese Lösung für notwendig. Deshalb
ist eine echte Einzelfallprüfung unbedingt erforderlich.


(Beifall bei der SPD)


Auch in der öffentlichen Anhörung – das wissen Sie –
haben viele Sachverständige starke Kritik an dem ur-
sprünglichen Gesetzentwurf geäußert. In dem betreffen-
den Paragrafen soll nun das Wort „hat“ durch „soll“ er-
setzt werden. Ich meine, dass wir damit nichts erreichen;
denn „soll“ heißt in der Regel doch „muss“. In unserem
Fall bedeutet das, dass das Gericht regelmäßig nach Ak-
tenlage entscheiden kann.

Wir können diesem Gesetz also – bei allem Verständ-
nis für die oft schwierige Situation der Eltern – nicht zu-
stimmen. Wir wollen einzig und allein das Kindeswohl
in den Vordergrund stellen. Sie haben nun die Wahl,
meine Damen und Herren: Bitte entscheiden Sie sich für
das Kindeswohl und damit für unseren Antrag.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721923500

Vielen Dank, Frau Kollegin.

Ich schließe nun die Aussprache. Wir kommen zur Ab-
stimmung über den von der Bundesregierung eingebrach-
ten Gesetzentwurf zur Reform der elterlichen Sorge nicht
miteinander verheirateter Eltern. Der Rechtsausschuss
empfiehlt unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/12198, den Gesetzentwurf der Bun-
desregierung auf Drucksache 17/11048 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-

setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,
um das Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Wer stimmt
dagegen? – Fraktion der Sozialdemokraten. Enthaltun-
gen? – Fraktion Die Linke. Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Koalitionsfraktionen und Bündnis 90/Die Grünen. Wer
stimmt dagegen? – Fraktion Sozialdemokraten. Enthal-
tungen? – Fraktion Die Linke. Abstimmungsergebnis
wie vorhin. Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/12224. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Das sind die Fraktionen Bündnis 90/Die
Grünen und Sozialdemokraten. Gegenprobe! – Koali-
tionsfraktionen. Enthaltungen? – Linksfraktion. Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir setzen die Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung des Rechtsaus-
schusses auf Drucksache 17/12198 fort. Der Ausschuss
empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussempfeh-
lung die Ablehnung des Antrags der Fraktion der SPD
auf Drucksache 17/8601 mit dem Titel „Neuregelung der
elterlichen Sorge bei nicht verheirateten Eltern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind die
Koalitionsfraktionen und die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen. Gegenprobe! – Sozialdemokraten. Enthaltun-
gen? – Linksfraktion. Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen.

Unter Buchstabe c empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/9402 mit dem Titel „Neuregelung des Sorge-
rechts für nicht miteinander verheiratete Eltern“. Wer
stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Koalitions-
fraktionen, Bündnis 90/Die Grünen und Sozialdemokra-
ten. Gegenprobe! – Fraktion Die Linke. Enthaltungen? –
Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/3219 mit dem Titel „Gemeinsames elterliches
Sorgerecht für nicht miteinander verheiratete Eltern“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Das sind
die Koalitionsfraktionen und die Sozialdemokraten. Ge-
genprobe! – Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltungen? –
Fraktion Die Linke. Die Beschlussempfehlung ist ange-
nommen.

Jetzt, liebe Kolleginnen und Kollegen, liegen mir
noch zwei persönliche Erklärungen nach § 31 unserer
Geschäftsordnung von Frau Kollegin Sylvia Canel und
vom Kollegen Thomas Jarzombek vor. Diese werden zu
Protokoll genommen.1)

1) Anlage 7





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe nun die Ta-
gesordnungspunkte 12 a und 12 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Karin Roth

(Esslingen), Dr. Sascha Raabe, Lothar Binding


(Heidelberg), weiterer Abgeordneter und der

Fraktion der SPD

Soziale Sicherung als Motor solidarischer und
nachhaltiger Entwicklungspolitik

– Drucksachen 17/7358, 17/11429 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss (Wesel I)
Karin Roth (Esslingen)
Harald Leibrecht
Niema Movassat
Uwe Kekeritz

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Kekeritz,
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn, Markus Kurth,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Aktionsplan Soziale Sicherung – Ein Beitrag
zur weltweiten sozialen Wende

– Drucksachen 17/11665, 17/11960 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Sabine Weiss (Wesel I)
Karin Roth (Esslingen)
Helga Daub
Niema Movassat
Uwe Kekeritz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Sie sind
alle damit einverstanden. Dann haben wir das so be-
schlossen.

Ich eröffne nun die Aussprache. Erste Rednerin für
die Fraktion der FDP ist unsere Kollegin Frau Helga
Daub. Bitte schön, Frau Kollegin Helga Daub.


(Beifall bei der FDP)



Helga Daub (FDP):
Rede ID: ID1721923600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kollegen und

Kolleginnen! Den Aufbau sozialer Sicherungssysteme
unterstützen: Wer wollte das nicht? Das gilt gerade für
uns hier in Deutschland und in Europa, die wir eine
breite soziale Sicherung haben, und das soll natürlich
auch in den Entwicklungsländern erreicht werden.

Was unsere Vorstellungen von den Anträgen von SPD
und Bündnis 90/Die Grünen unterscheidet, ist der Weg,
auf dem dieses Ziel erreicht werden soll. Hinzu kommt,
dass wir es natürlich mit völlig unterschiedlichen Ent-
wicklungsstadien in diesen Staaten zu tun haben, was
Sie ja auch in Ihren Anträgen ausführen. Es geht vom

Schwellenland bis hin zum fragilen Staat. Das wird von
Ihnen ja auch richtig bemerkt, und Sie sagen völlig zu
Recht, dass es bei der sozialen Sicherung nicht um Al-
mosen geht. Vielmehr müssen wir die Menschen in den
Entwicklungspartnerländern ihrerseits in die Lage ver-
setzen, Finanzierungssysteme aufzubauen.

Ich weiß, das klingt jetzt sehr theoretisch und sehr ab-
gehoben, und wir alle wissen, dass das nicht von selbst
kommen kann.

Zur nachhaltigen Finanzierung bedarf es eines trans-
parenten Steuersystems und einer Mischung aus nationa-
lem Beitragsaufkommen und der Unterstützung der
Geberländer. Wie aber ist das nationale Beitragsaufkom-
men zu erreichen? Vor allem die Regierungen der sehr
armen Partnerländer werden kaum in der Lage sein, ih-
rerseits eine soziale Grundsicherung zu gewährleisten.
Was man seitens der Geberländer sehr wohl tun kann,
ist, auch Hilfe beim Aufbau einer nachhaltigen Wirt-
schaft zu leisten. Warum? Diese schafft Arbeitsplätze,
Arbeitsplätze bedeuten Lohn, und wer Lohn erhält, kann
auch Steuern zahlen und zumindest im kleinen Umfang
Kosten zum Erhalt der eigenen Gesundheit tragen. Hier
ist aber auch die WHO gefordert. Wir alle wissen natür-
lich, dass sich die WHO in einem Prozess der Umorgani-
sation befindet. Herr Kekeritz, aus dem Ausschuss habe
ich aber zumindest mitgenommen, dass wir die WHO
bei diesem Vorhaben fraktionsübergreifend unterstützen.

Die in Ihrem Antrag geforderte globale Gesundheits-
strategie ist bereits Teil der Politik der Bundesregierung.
Wie eingangs schon erwähnt: Die soziale Sicherung ist
keine Sache von Almosen, zumindest nicht, wenn wir
eine nachhaltige Sicherung erreichen wollen. Deshalb
unterstützt und ermutigt die Bundesregierung die Wirt-
schaft, sich in Entwicklungsländern zu engagieren und
sich dort noch stärker zu engagieren, wo sie dies bereits
tut, selbstverständlich unter Beachtung der ILO-Nor-
men.

In Ihren Anträgen wird aber natürlich ein weiteres
Mal die Budgethilfe als Mittel des Heils angesehen.
Gute Regierungsführung und Bekämpfung von Korrup-
tion erreicht man sicher nicht mit Budgethilfe. Die Bun-
desregierung lehnt sie übrigens überhaupt nicht generell
ab. Es gibt sie konditioniert, in Tranchen ausgezahlt
– wir haben heute ja auch über Ruanda gesprochen –,
und es gibt auch die sektorale Budgethilfe, die im Ge-
sundheitswesen sicherlich durchaus wirkungsvoll sein
kann. Generell setzt sie aber vor allen Dingen gute Re-
gierungsführung voraus, und wir wissen, dass das leider
oft genug nicht die Realität ist.

Hier als Geberland mit der allgemeinen Budgethilfe
einspringen zu wollen, hieße, den sozialen Standard der
Herrschenden und ihrer Großfamilien üppig zu sichern.
Wir haben leider Gottes oft genug traurige Beispiele er-
lebt.

Meine Damen und Herren von SPD und Bündnis 90/
Die Grünen, in Ihren Anträgen schreiben Sie, es fehle
ein Haushaltstitel „Soziale Sicherung“. Warum? Weil
diese Bundesregierung der Meinung ist, dass jedes Poli-
tikfeld und jedes Engagement der sozialen Sicherung zu





Helga Daub


(A) (C)



(D)(B)


dienen hat, vor allem die Bereiche Bildung und Ausbil-
dung. Aber das ist ja fast selbstredend und selbsterklä-
rend. Betrachten wir zum Beispiel die Einnahmen aus
dem Rohstoffhandel. Gerade Rohstoffe sind vor allen
Dingen in den Entwicklungsländern häufig zu finden.
Wenn die Gewinne daraus in mehr Bildung, in Soziales
und in die Umwelt investiert werden, dann dient das sehr
wohl auch der sozialen Sicherung. Lassen Sie mich aber
auch noch ein ganz anderes Beispiel nennen: Der Haus-
haltstitel „Ländliche Entwicklung“ dient selbstverständ-
lich auch der sozialen Sicherung.


(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Sehr richtig!)


Die Mittel hierfür sind wieder aufgestockt worden, nach-
dem sie unter der Vorgängerin von Minister Niebel zu-
rückgefahren wurden.

Selbstverständlich ist die Kooperation mit Nichtregie-
rungsorganisationen ein wichtiger Pfeiler bei dieser Si-
cherung. An dieser Stelle erwähne ich die Organisation
Plan, eines der großen Kinderhilfswerke, die sich vor al-
len Dingen in der Geburtenregistrierung sehr stark enga-
giert; denn ohne diese Registrierung gibt es keinen Zu-
gang zu sozialen Sicherungssystemen.

Wir lehnen Ihren Antrag ab, weil, wie gesagt, die
Budgethilfe ein weiteres Mal das Allheilmittel sein soll.
Wir wollen auch keinen gesonderten Haushaltstitel „So-
ziale Sicherung“, weil dann eben die Gefahr besteht,
dass viele Projekte ineffektiv nebeneinander herlaufen.
Wir wollen Effektivität in der Entwicklungspolitik.

Danke.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721923700

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin für

die Fraktion der Sozialdemokraten ist unsere Kollegin
Frau Karin Roth. Bitte schön, Frau Kollegin Karin Roth.


(Beifall bei der SPD)



Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1721923800

Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-

gen! Wenn man Sie, Frau Daub, so hört, hat man fast den
Eindruck, man könnte sich an vielen Stellen einigen.
Aber leider ist das offensichtlich doch nicht möglich.


(Helga Daub [FDP]: Aber an manchen Stellen doch!)


80 Prozent der Weltbevölkerung – das sind rund
5,7 Milliarden Menschen – leben ohne jeglichen Ver-
sicherungsschutz vor Risiken wie Krankheit und Ar-
beitslosigkeit. Auch im Alter haben sie die Risiken zu
tragen. 100 Millionen Menschen verarmen jährlich welt-
weit nur deswegen, weil sie die Kosten für den Arztbe-
such oder Medikamente aus eigener Tasche bezahlen
müssen.

Nach Schätzungen der Internationalen Arbeitsorgani-
sation müssen 215 Millionen Kinder Tag für Tag arbei-
ten, um das Überleben der eigenen Familie zu sichern,
über 100 Millionen von ihnen unter gefährlichen und
ausbeuterischen Bedingungen. Um es konkret zu sagen:

Diese Kinder arbeiten in Steinbrüchen, als Drogen-
schmuggler, als Prostituierte und als Kindersoldaten; das
wissen wir alle. Die Hälfte dieser Kinder ist jünger als
14 Jahre.

Das muss sich ändern. Die Ursache für diese erschre-
ckenden Zahlen ist die Armut in diesen Ländern. Alles,
was dazu dient, die wirtschaftliche Lage und die soziale
Sicherung zu verbessern, müssen wir tun. Es gibt in die-
sem Zusammenhang, Frau Daub, überhaupt keinen Mei-
nungsunterschied zwischen uns. Wir beide sind der
Meinung: Je mehr reguläre Arbeitsplätze in den Ent-
wicklungsländern vorhanden sind, desto eher ist soziale
Sicherung möglich.


(Beifall des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])


Aber um das zu erreichen, müssen wir die Arbeitsbedin-
gungen im informellen Sektor – dieser umfasst in den
Entwicklungsländern 90 Prozent der erwerbstätigen
Menschen – ins Blickfeld unserer Überlegungen neh-
men. Für diese 90 Prozent Selbstständigen, die ohne eine
Sicherung des Existenzminimums leben, müssen wir Re-
gelungen finden, nicht nur für den formellen Sektor. Das
scheint mir jetzt wirklich wichtig zu sein.


(Beifall bei der SPD)


Diese Bereiche kann man nicht auseinanderdividie-
ren. Vielmehr muss man sich die Frage stellen: Was kön-
nen die Entwicklungsländer tun, um die Situation zu ver-
bessern? Diese Frage ist richtig. Die andere Frage ist:
Was können wir tun, um diese Situation zu verbessern?
Die wichtigsten internationalen Organisationen, wie die
Vereinten Nationen, allen voran die Internationale Ar-
beitsorganisation, die WHO, G 20 und G 8 und die Euro-
päische Union, haben erkannt, dass dieses Konzept eines
sozialen Basisschutzes genau die richtige Antwort ist.

Jetzt frage ich mich: Warum kann man das nicht un-
terstützen? Was hindert die Bundesregierung daran,
diese international vereinbarten Konzepte, die auf einem
gemeinsamen Konsens beruhen – das ist nicht allein eine
sozialdemokratische Idee –, umzusetzen? Ich habe den
Eindruck, dass man hier wirklich vorangehen kann.

Vor kurzem hat der EU-Entwicklungskommissar
Andris Piebalgs einen Vorschlag vorgelegt, in dem deut-
lich gemacht wird, dass zur Armutsbekämpfung Ein-
kommenssicherung, Bildung, Gesundheitsvorsorge und
wirtschaftliche Entwicklung im Mittelpunkt stehen und
deshalb auch das Thema soziale Sicherung eine wichtige
Rolle spielt. Er hat auf einer Fachveranstaltung der
Friedrich-Ebert-Stiftung in Brüssel gesagt – ich darf zi-
tieren –:

Soziale Sicherung stellt den Menschen in den Mit-
telpunkt. Und: Soziale Sicherung trägt zur Stabilität
der Partnerländer bei und ist die Voraussetzung für
deren weitere Entwicklung. Deshalb sollten wir da-
mit weitermachen, bei unseren Partnern für ein Mo-
dell zu werben, das das Kernstück des europäischen
Sozialmodells ist und uns in Europa stark gemacht
hat.

Das heißt, es ist nicht umstritten in Europa. Aber von
der schwarz-gelben Bundesregierung kommt leider





Karin Roth (Esslingen)



(A) (C)



(D)(B)


nichts. Wir in Deutschland wissen, wie notwendig und
hilfreich bei uns die Einführung des Kindergeldes war;
auch das ist unumstritten. Das hat für Chancengleichheit
gesorgt. Ebenfalls klar ist, dass die Wiedereinführung
der Sozialhilfe 1962 wichtig war, um das Existenzmini-
mum zu gewährleisten. Im Übrigen haben wir das zuerst
in der Weimarer Republik eingeführt.


(Gisela Piltz [FDP]: Was war das denn jetzt?)


– Das war die Antwort auf die Frage, wann die Sozial-
hilfe eingeführt wurde. Das geschah zuerst in der Wei-
marer Republik. Wiedereingeführt wurde sie 1962. Es ist
doch in Ordnung, das erst einmal festzustellen.


(Gisela Piltz [FDP]: Sie haben auf eine Frage geantwortet, die überhaupt nicht gestellt wurde!)


Das Konzept eines Social Protection Floor, also eines
sozialen Basisschutzes, stellt meiner Meinung nach eine
gute Basis dar. In Lateinamerika, Asien und Afrika gibt
es zahlreiche positive Beispiele dafür, dass Länder er-
folgreich einen solchen Basisschutz oder zumindest ei-
nige Elemente davon eingeführt haben. Es geht also vo-
ran. Ich will an dieser Stelle Brasilien, Mosambik,
Vietnam, El Salvador und – aktuell – Indonesien und
China nennen. Die sogenannten Schwellenländer zeigen
eindrucksvoll, wie soziale Sicherung, wenn sie systema-
tisch und vor allen Dingen staatlich organisiert wird,
funktionieren kann.

Ein ausgezeichnetes Beispiel ist Brasilien.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das dortige Sozialprogramm Bolsa Familia bietet rund
16 Millionen armen Haushalten mit schätzungsweise
72 Millionen Personen, darunter 29 Millionen erwerbs-
tätige Erwachsene und Jugendliche, ein Sicherheitsnetz
über Sozialtransfers. Das ist die richtige Richtung.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die anspruchsberechtigten Familien erhalten eine Unter-
stützung zu ihrem Familieneinkommen und müssen da-
für bestimmte Bedingungen – Frau Daub, das ist gar
kein Thema – einhalten. Beispielsweise verpflichten sie
sich, ihre Kinder zur Schule zu schicken und Maßnah-
men der Gesundheitsvorsorge durchführen zu lassen.
Bolsa Familia konnte damit einen großen Beitrag zur
Verbesserung der Bildung und der Gesundheit leisten
und damit auch – man höre und staune! – die Dynamik
des wirtschaftlichen Wachstums erhöhen. Alles geht in
der Praxis Hand in Hand.

Soziale Sicherung setzt ökonomische Potenziale frei,
die dazu dienen, den Hunger zu bekämpfen. Wir sollten
versuchen, zusammen mit den Partnern in den Entwick-
lungsländern den Weg zu gehen. Natürlich liegt die
Hauptverantwortung für die längerfristige Finanzierung
des sozialen Sicherungssystems bei den Partnerländern
selbst. Dafür sind zusätzliche Steuereinnahmen zu erzie-
len. Ich habe überhaupt kein Problem damit, wenn Gel-
der aus dem Rohstoffhandel in diesen Bereich fließen.

Auch die Länder selber müssen etwas tun. Darüber
herrscht bei uns Konsens, wie unser Antrag zeigt.


(Beifall bei der SPD)


Natürlich ist es wichtig, die Länder, die es können,
dazu zu veranlassen, soziale Sicherungssysteme aufzu-
bauen. Aber die Länder, die es nicht können, weil ihnen
die entsprechenden Mittel fehlen, müssen unterstützt
werden, beispielsweise durch Budgethilfe. Vorausset-
zung ist natürlich, dass die Kriterien der guten Regie-
rungsführung eingehalten werden; denn sonst funktio-
niert das ganze System gar nicht. Die Budgethilfe ist ein
wichtiges Mittel, um kurz- oder mittelfristig zu helfen,
solche Systeme einzuführen und damit eine tragfähige
Basis zu schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Es stimmt nicht, wie Sie suggerieren, dass die Budget-
hilfe ohne Auflagen gewährt werden soll. Das wäre Un-
sinn. Sie wissen aufgrund der Debatten im AwZ ganz ge-
nau, dass ich immer betone, dass die Strukturpolitik
unterstützt werden muss, dass aber die Budgethilfe nur
dann ausgezahlt werden darf, wenn es entsprechende Si-
cherungen gibt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich verwahre mich dagegen, dass hier so getan wird,
als ob das eine Erfindung der SPD und der Grünen wäre.
Der EU-Entwicklungsministerrat hat im Oktober letzten
Jahres zu Recht festgestellt, dass fehlende Sozialschutz-
systeme eine Ursache für weltweite Armut sind und die
Europäische Union den Aufbau solcher Systeme unter-
stützen will. Allerdings hält sich das Entwicklungsmi-
nisterium nicht an die Beschlüsse, die es selbst mitgetra-
gen hat. Das heißt, es verfährt nach dem Motto: Brüssel
ist weit weg, es wird schon keiner merken. – Das kann
nicht sein, das ist nicht fair. Es ist auch nicht gegenüber
den Ländern fair, wenn wir so tun, als würden wir im
Ministerrat das, was sogar Teil der EU-Strategie ist, in
Brüssel unterstützen, im deutschen Parlament aber ge-
gen die Budgethilfe und dieses Konzept gewettert wird
nach dem Motto: In Brüssel ist es in Ordnung, aber in
Berlin findet das nicht statt. Ich halte das für eine falsche
Strategie.

Im Übrigen muss ich, an die CDU/CSU gerichtet,
sagen: In der Großen Koalition haben Sie damals mit uns
gemeinsam im Zusammenhang mit einer eigenständigen
sozialen Sicherung eine Zielgröße für neue Projekte
beschlossen. Ich habe mich sehr gewundert, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von der CDU/CSU, dass Sie an
diesem Punkt nicht mehr gebohrt haben und sich nicht
gegen Herrn Niebel durchgesetzt haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das wäre in unserem Sinne gewesen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721923900

Frau Kollegin, Ihre Redezeit ist zu Ende, oder wollen

Sie noch eine Zwischenfrage zulassen?






(A) (C)



(D)(B)



Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1721924000

Gerne.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721924100

Sie gestatten die Zwischenfrage. Das ist wunderbar.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Ich dachte, der Präsident gestattet die Zwischenfragen!)



Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1721924200

Aber auch ich muss zustimmen, wenn Sie eine Zwi-

schenfrage stellen wollen.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721924300

Bitte schön, Frau Kollegin Pfeiffer.


Sibylle Pfeiffer (CDU):
Rede ID: ID1721924400

Ich möchte Sie, werte Frau Kollegin, nur darauf hin-

weisen, dass tatsächlich dieser Antrag während der
Großen Koalition gestellt wurde, und zwar unter Feder-
führung unseres allseits geschätzten Kollegen Walter
Riester. Ich glaube, er wurde sogar von den Grünen un-
terstützt. Die Einzige, die diesen Antrag völlig ignorierte
– sehr zum Leidwesen und Ärger des lieben Kollegen
Walter Riester –, war die damalige Ministerin. Ich kenne
diese Diskussion, die drei Jahre dauerte. Ich weiß, dass
sie lautstark zwischen Walter Riester und der Ministerin
geführt worden ist. Das wollte ich nur zur Erläuterung
sagen. Also: Gut gebrüllt, Löwe, aber zum falschen
Zeitpunkt.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1721924500

Frau Kollegin Pfeiffer, Sie wissen ganz genau, dass

der Antrag von dem Kollegen Walter Riester gestellt
wurde und er von den Grünen und auch der CDU/CSU
unterstützt wurde, von der SPD natürlich auch. Die
Projekte wurden gefördert, und es gab im Haushalt eine
eigenständige Zielgröße „Soziale Sicherung“, die von
Herrn Niebel und der FDP abgeschafft wurde. So viel
zum Thema Brüllen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Es war nicht so!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721924600

Jetzt darf ich Sie bitten, gleich zum Ende zu kommen.


Karin Roth (SPD):
Rede ID: ID1721924700

Ja, Herr Präsident. – Es ist klar, dass wir eine Chance

haben, die Armut zu bekämpfen. Es ist auch klar, dass
die Bundesregierung diese Chance zurzeit wirklich
vertut.


(Beifall bei der SPD – Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Na, na!)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721924800

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächste Rednerin in

unserer Aussprache ist für die Fraktion der CDU/CSU
unsere Kollegin Frau Sabine Weiss. Bitte schön, Frau
Kollegin Sabine Weiss.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Sabine Weiss (CDU):
Rede ID: ID1721924900

Schönen Dank, Herr Präsident. – Meine Damen und

Herren! Ich glaube – das zur Einleitung –, zwischen uns
allen hier, unter allen Entwicklungspolitikern herrscht
Einigkeit, dass der Aufbau sozialer Sicherungssysteme
ein zentraler Punkt der Armutsbekämpfung ist. Daher
werde ich jetzt nicht noch einmal ausführen, welche Be-
deutung eine funktionierende soziale Sicherung für das
Leben der einzelnen Menschen, aber auch für ganze
Volkswirtschaften hat.

Ich bin froh, liebe Kollegin Roth, dass soziale Sicher-
heit eben doch als entscheidendes Instrument und Quer-
schnittsthema im BMZ fest verankert ist. Derzeit fördert
das BMZ soziale Sicherungssysteme in rund 20 Ländern
und zusätzlich noch in regionalen und globalen Vorha-
ben. Mit geförderten Projekten in Höhe von 150 Millio-
nen Euro ist das Engagement unseres Ministeriums
damit so hoch wie nie zuvor. Ziel unserer Politik ist es,
die Absicherung aller Bevölkerungsschichten, insbeson-
dere der armen und benachteiligten Gruppen, sicherzu-
stellen. Daher lassen wir uns nicht vorwerfen, dass wir
das Thema „Soziale Sicherung“ vernachlässigen; denn
das ist schlicht und einfach falsch.

Es ist seit langer Zeit bekannt, wie wichtig der Auf-
bau sozialer Sicherungssysteme für die Armutsbekämp-
fung und die nachhaltige Entwicklung ist. Allein mit den
vorhandenen Studien von unterschiedlichster Seite zur
Bedeutung der sozialen Sicherung kann man mittler-
weile ganze Bibliotheken füllen. Es ist also ein altes
Thema und ein wichtiges Thema. Sie, verehrte Damen
und Herren von der Opposition, haben die Bedeutung
von sozialen Sicherungssystemen durch Ihre Anträge
also nicht erfunden – das haben Sie ja zugegeben, Frau
Kollegin Roth –, auch wenn man beim Lesen Ihrer An-
träge manchmal zu einem anderen Schluss kommen
könnte.


(Beifall des Abg. Helmut Heiderich [CDU/ CSU])


Es gibt unterschiedliche Herangehensweisen und In-
strumente, wie soziale Sicherung in Entwicklungslän-
dern erfolgreich sein kann. Ich finde – da spreche ich
auch im Namen meiner Fraktion –, dass die Maßnahmen
und Projekte des BMZ in den Bereichen Absicherung im
Krankheitsfall, Grundsicherung, Alterssicherung, Mikro-
versicherung und auch systemische Beratung ein guter
und erfolgversprechender Weg sind.

Was die Forderungen in Ihrem Antrag angeht, ver-
ehrte Frau Kollegin Roth, so gibt es sicherlich eine
Menge Punkte, denen ich inhaltlich zustimme, aber eben
auch, weil sie bereits Regierungshandeln sind. So sind
Frauen, Kinder, alte Menschen und Menschen mit
Behinderungen bereits Hauptzielgruppe des deutschen
Engagements, um nur ein Beispiel zu nennen.

Bei der Budgethilfe, deren Ausweitung Sie fordern,
sind wir nun einmal anderer Meinung. Aber das muss
ich jetzt nicht zum wiederholten Male ausführen.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das stimmt!)






Sabine Weiss (Wesel I)



(A) (C)



(D)(B)


Mein grundsätzliches Problem mit dem Antrag ist,
dass, wie ich finde, hier einfach an vielen Stellen das
Pferd von hinten aufgezäumt wird. Da wird in zig Forde-
rungen mehr oder weniger postuliert, dass die Bundes-
regierung für die Einführung sozialer Sicherungssysteme
in allen Entwicklungsländern sorgen soll.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Ja, richtig! Das soll passieren!)


Deutschland allein soll also die Welt retten. So einfach,
wie sich das in Ihren Anträgen liest, fragt man sich
manchmal ernsthaft, warum vorher noch keiner auf die
Idee gekommen ist. Dabei handelt es sich doch tatsäch-
lich um Jahrhundert- und Mammutprojekte, die wir als
Deutschland gar nicht alleine stemmen können.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das sagt auch keiner!)


Die Machbarkeit dieser Jahrhundert- und Mammut-
projekte wird anhand von ILO-Studien belegt. Diese
Studien besagen, sozialer Basisschutz für alle Bevölke-
rungsgruppen sei finanzierbar.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ja, eben!)

Dazu braucht man aber ein transparentes Steuersystem,
Beitragsaufkommen, nationale Steuermittel und interna-
tionale Geberunterstützung.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das steht auch alles in dem Antrag!)


Ich füge jetzt noch hinzu: Dafür bedarf es allerdings
auch: Geburtenregister, funktionierendes Ausweissys-
tem, Korruptionsbekämpfung, leistungsfähige Büro-
kratie, und zwar bis in das entlegenste Dorf hinein.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Sehr geehrte Damen und Herren von der Opposition,
ich weiß nicht, in welchen Entwicklungsländern Sie sich
vor Ort einen Blick verschafft haben. Ich gestehe – ich
denke, auch da spreche ich für die Kolleginnen und
Kollegen –, dass ich bisher kaum oder vielleicht sogar
gar kein Entwicklungsland kennengelernt habe, das
diese Grundkriterien, Grundvoraussetzungen alle erfüllt.
Wir dürfen also nicht den zweiten Schritt


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ich habe gerade sechs genannt!)


– ich habe von Entwicklungsländern gesprochen – vor
dem ersten machen.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Vietnam? Mosambik?)


Ohne funktionierende Bürokratie, Geburtenregister und
ein transparentes, faires Steuersystem wird die Einfüh-
rung von, wie Sie fordern, flächendeckenden sozialen
Sicherungssystem keinen Erfolg haben. Soziale Siche-
rungssysteme haben nur dann eine Chance, wenn die Be-
völkerung auch Vertrauen in das Versicherungsprinzip
hat. Sonst wird sie nämlich gar nicht bereit sein, Zahlun-
gen in eine unsichere Zukunft hinein zu leisten.


(Beifall der Abg. Helga Daub [FDP])

Bevor wir den flächendeckenden, teilweise beitragsfi-

nanzierten Aufbau von sozialen Sicherungssystemen für

alle Bevölkerungsgruppen mit Solidarausgleich in An-
griff nehmen, müssen wir also zuerst die Rahmenbedin-
gungen dafür schaffen, und das tun wir in vielen Dingen.
Schon das ist in vielen Ländern, wie wir alle wissen,
eine Herkulesaufgabe, die nur mit gewaltiger Kraft-
anstrengung der Regierungen vor Ort zu lösen ist. Ein
transparentes Steuersystem, ein funktionierendes Gebur-
tenregister, eine Verwaltung – so etwas stampft man in
den meisten Entwicklungsländern nicht mal so eben aus
dem Boden.

Auch sollten Sie ehrlich sein: All das, was Sie da for-
dern, wird zig Milliarden kosten und Jahrzehnte dauern.
Sie fordern hier mal eben 100 Millionen Euro pro Jahr,
um all das Wirklichkeit werden zu lassen. Herunterge-
rechnet ist das 1 Euro für jeden – Sie haben es gerade er-
wähnt, Frau Roth –, der aufgrund von medizinischen Be-
handlungskosten jedes Jahr neu in Armut fällt. Ich frage
Sie: Wem wollen Sie das denn allen Ernstes verkaufen?

Der Aufbau sozialer Sicherungssysteme ist zentraler
Bestandteil unserer Politik, den wir auch konsequent
weiterverfolgen werden. Wir machen aber – im Gegen-
satz zu Ihnen – nicht den zweiten Schritt vor dem ersten,


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Sie streichen Mittel!)


und wir tun auch nicht so, als wäre diese Mammutauf-
gabe einfach mal so zu bewältigen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Ihre Anträge lehnen wir daher ab.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721925000

Vielen Dank, Frau Kollegin. – Nächster Redner für

die Fraktion Die Linke unser Kollege Niema Movassat.
Bitte schön, Kollege Niema Movassat.


(Beifall bei der LINKEN)



Niema Movassat (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721925100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir disku-

tieren heute das Thema der sozialen Sicherung in Ent-
wicklungsländern. Um es klar zu sagen: Soziale Siche-
rung, soziale Gerechtigkeit wird es ohne eine gerechte
Verteilung des weltweiten Wohlstandes nicht geben.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


10 Prozent der Weltbevölkerung besitzen 85 Prozent
des weltweiten Vermögens. 50 Prozent der Menschheit
besitzen zusammengenommen gerade mal 1 Prozent des
Weltvermögens. Übertragen wir die Struktur der welt-
weiten Vermögensverteilung auf eine Gruppe von zehn
Menschen, die sich einen Kuchen teilen, dann müssen
wir uns einen Herrn vorstellen, der nahezu den gesamten
Kuchen alleine aufisst, während sich die übrigen neun
Menschen die Krümel teilen dürfen, und das ist asozial.


(Beifall bei der LINKEN)


Etwa 1,4 Milliarden Menschen leben weltweit in Ar-
mut. Sie können sich keinen Arzt leisten, ihre Kinder





Niema Movassat


(A) (C)



(D)(B)


nicht zur Schule schicken und müssen oftmals hungern.
Statt wie die Bundesregierung auf die Wohltätigkeit von
Bill Gates zu setzen, würde ich lieber 75 Prozent Steuern
auf sein Vermögen erheben. Danach wäre er immer noch
stinkreich, aber viele Menschen könnten dauerhaft aus
der Armut befreit werden. Das wäre der bessere Weg,
besser, als sich auf das Wohlwollen eines einzelnen
Menschen zu verlassen.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Entwicklungsorganisation Oxfam hat errechnet,
dass sich mit 60 Milliarden Dollar die Armut in der Welt
besiegen ließe. Die 100 reichsten Menschen haben im
letzten Jahr insgesamt etwa 240 Milliarden Dollar
verdient. Würden wir ihre Einkünfte nur mit 25 Prozent
besteuern, könnten wir zumindest aus rein finanzieller
Sicht die weltweite Armut jetzt beenden.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir brauchen also eine deutliche Umverteilung von
oben nach unten.

Dennoch: Soziale Sicherungssysteme wie Sozialhilfe,
Kranken-, Renten- und Arbeitslosenversicherung sind
ein notwendiger und wichtiger Schritt zur Verbesserung
der Lebensumstände von Milliarden von Menschen.
Heute haben etwa 80 Prozent der Menschen auf der Erde
diesen Schutz nicht. Und in Europa und Deutschland
werden die sozialen Sicherungssysteme immer weiter
eingeschränkt. Rot-Grün hat seinerzeit mit der Agenda
2010 den Startschuss gegeben.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Sagen Sie doch einmal etwas zum Antrag!)


Heute sind alle – von der FDP über die Union, die
Grünen bis hin zur SPD – mitverantwortlich für die Zer-
störung der Sozialsysteme im Süden Europas.

Auch in Deutschland nimmt die soziale Sicherheit
immer weiter ab. Seit 1997 ist die Mittelschicht um
5,5 Millionen Menschen geschrumpft. Immer mehr
Menschen leben hierzulande in Armut. Das macht die
Anträge von SPD und Grünen wenig authentisch.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Grünen stellen immerhin richtig fest, dass die
soziale Kluft zwischen Arm und Reich in fast allen
Ländern der Erde zusehends größer wird. Eine weltweite
soziale Wende fordern die Grünen. Das klingt fast nach
unserem Parteiprogramm, und das unterstützen wir
selbstverständlich.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Und auch der Ansatz, den Aufbau sozialer Sicherungs-
systeme zum Schwerpunkt der Entwicklungszusammen-
arbeit zu machen, ist richtig. Genauso richtig ist es, die
Zusammenarbeit der Länder des Südens zu fördern, wie
es die Linke seit Jahren fordert und was sich im Antrag
der Grünen wiederfindet.

Doch bevor jetzt zu viel Harmonie aufkommt:


(Heiterkeit bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Uwe Kekeritz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist ja auch unglaubwürdig!)


In der entscheidenden Frage, warum wir soziale Siche-
rungssysteme fördern wollen, unterscheiden wir uns
gravierend von den Antragstellern.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Oh toll!)


Denn der Linken geht es nicht darum, durch ein bisschen
soziale Sicherung Verteilungskonflikte abzumildern, wie
die Grünen schreiben. Wir sind der Ansicht, dass soziale
Kämpfe um eine gerechte Vermögensverteilung berech-
tigt sind.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wer immer weiter von unten nach oben umverteilt, darf
sich nicht wundern, wenn die immer größer werdende
Masse von verarmten Menschen sich dagegen wehrt. In
der Menschheitsgeschichte mussten soziale Rechte stets
in harten Auseinandersetzungen erkämpft werden. Das
wird auch dann so bleiben, wenn sich die Entwicklungs-
zusammenarbeit in Zukunft verstärkt auf den Aufbau so-
zialer Sicherungssysteme konzentriert. Trotzdem wäre
eine solche Konzentration natürlich wünschenswert.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721925200

Vielen Dank, Kollege Niema Movassat. – Nächster

Redner für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unser
Kollege Uwe Kekeritz. Bitte schön, Kollege Kekeritz.


Uwe Kekeritz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721925300

Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!

Jetzt mache ich einen Fehler. Ich weiche nämlich von
meinem Manuskript ab und gehe einmal kurz auf die
Kollegin Weiss ein.


(Helmut Heiderich [CDU/CSU]: Schön!)


Was mich total irritiert hat, ist, dass Sie, Frau Weiss,
die Forderung aufstellen, dass erst einmal das Startsys-
tem richtig funktionieren muss, bevor wir ein soziales
System etablieren können. Sie müssen doch einfach ein-
mal an die europäische Geschichte und insbesondere an
die deutsche Geschichte zurückdenken. Das ist parallel
erfolgt. Ich kann Ihnen sagen: Eine wirtschaftliche Ent-
wicklung in der Bundesrepublik Deutschland, damals
Deutsches Reich, hätte es nie gegeben, wenn nicht um
1880 die Grundlagen für die sozialen Sicherungssysteme
gelegt worden wären.


(Beifall der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD])


Wirtschaftliche Entwicklung und soziale Entwicklung
müssen parallel laufen, sonst funktioniert beides nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD])


Wir verfolgen seit Jahren die explosive Situation in
der MENA-Region, die viele Ursachen hat, aber immer
zentral mit den kollabierenden Sozialsystemen dieser





Uwe Kekeritz


(A) (C)



(D)(B)


Länder zusammenhängt. Der Umsturz in Tunesien, in
Libyen, Mubaraks Sturz und die gefährliche Instabilität
vieler Länder stehen in einem direkten Zusammenhang
mit maroden oder nicht vorhandenen Sozialsystemen.
Fehlende soziale Sicherheit ist die Basis für Failed States
und der Baustein, der einigen wenigen unendlichen
Reichtum beschert und gleichzeitig die Massen in Armut
zurücklässt.

Soziale Sicherheit ist inzwischen weltweit für Fami-
lien und Individuen zur entscheidenden Größe gewor-
den. Sie ist aber auch die volkswirtschaftliche Basis für
inklusive Entwicklung und eine zentrale Voraussetzung
für die Identifikation der Menschen mit ihrem Staat. Da-
ran wird deutlich, wie weitsichtig die UN 1966 war, als
sie den Sozialpakt verabschiedet hat, und wie kurzsich-
tig heute Minister Niebel agiert.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Er schaffte – das ist schon angesprochen worden – die
2008 eingeführte selbstständige Zielgröße „Soziale Si-
cherung“ ab. In diesem Punkt unterscheiden wir uns im
Aufbau gedanklich sehr stark von den sozialen Siche-
rungssystemen. Niebel hätschelt lieber die privaten Ver-
sicherungskonzerne, die in den Entwicklungsländern
und Schwellenländern immer mehr das lukrative Feld
der sozialen Sicherheit abgrasen.

Und auch, weil der Aufbau sozialer Sicherungssys-
teme immer mehr zur Frage von Staatsstabilität wird,
können wir nicht mehr länger warten. Wir Grüne haben
deshalb einen konkreten Aktionsplan mit klaren Vor-
schlägen vorgelegt, die unmittelbar umsetzbar sind. Wir
wollen öffentliche, solidarische Sicherungssysteme. Wie
schaut dagegen ein zweigeteilter Versicherungsmarkt à
la FDP aus? Die privaten Versicherer greifen vom Mit-
telstand nach oben den sozialen Markt ab, und der Staat
soll sich um die Massen der Mittellosen kümmern. So
kann Sicherung selbstverständlich nicht funktionieren.
Soziale Sicherung ist entweder solidarisch oder sie ist
keine Sicherung.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Uns ist auch, werte Kollegin Daub, bilaterale Zusam-
menarbeit stets wichtig. Im Bereich der sozialen Siche-
rung wollen wir aber vor allem eine explizit europäische
und globale Perspektive. Alleine schaffen wir das selbst-
verständlich nicht. Die BMZ-Führung setzt aber in die-
sem Bereich nach wie vor auf einen vollkommen über-
flüssigen und falschen Bilateralismus.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie der Abg. Karin Roth [Esslingen] [SPD])


Wir wollen gemeinsame Programme der EU-Mitglieds-
länder bündeln, die durch die EU ergänzt werden. Nur so
kann Intransparenz vermieden und europäische Kohä-
renz hergestellt werden.

Zur globalen Ebene. Wir diskutieren derzeit intensiv
über die Nach-MDG-Zeit. Das Thema „Soziale Siche-
rung“ muss innerhalb der neuen Development Goals ein

starker Ast werden. Unser Ansatz beschreibt dabei gleich-
zeitig ein breites, neues Gesellschafts- und Entwicklungs-
konzept und enthält ganz konkrete Handlungsanweisun-
gen, um Entwicklung voranzubringen.

Soziale Sicherungssysteme sind ein wichtiger Bau-
stein, um die globale soziale Wende voranzutreiben.
Aber wir brauchen mehr: Die soziale Spaltung lässt sich
nur überwinden, indem wir zum Beispiel die internatio-
nale Unternehmensverantwortung ernst nehmen. Es geht
nicht an, dass internationale Konzerne von Hungerlöh-
nen und Sozialdumping in Entwicklungsländern profitie-
ren. Wir müssen gegen Steuerhinterziehung und -ver-
meidung hier in Deutschland und in Europa vorgehen,
damit sich Despoten und Konzerne nicht weiter aus der
sozialen Verantwortung stehlen, während die Massen in
bitterer Armut bleiben. Nur so gehen wir die globalen
sozialen Probleme tatsächlich an.

Da Union und FDP keine eigenen Vorschläge, ge-
schweige denn Visionen haben, ist mein Angebot an Sie:
Bedienen Sie sich doch in unserem Antrag und reduzie-
ren Sie so die Zahl weiterer Fehlentscheidungen in der
Entwicklungspolitik. Das wäre zwar etwas völlig Neues,
aber man könnte es doch mal probieren.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721925400

Vielen Dank, Herr Kollege. – Nächster Redner für die

Fraktion der CDU/CSU: unser Kollege Helmut
Heiderich. Bitte schön, Kollege Helmut Heiderich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1721925500

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Ich begrüße auch die Gäste, die einzeln begrüßt werden
könnten.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721925600

Im Internet und vor den Bildschirmen schauen viel

mehr zu.


(Heiterkeit)



Helmut Heiderich (CDU):
Rede ID: ID1721925700

Danke für den Hinweis. – „SPD scheitert mit Initia-

tive zur sozialen Grundsicherung in Entwicklungslän-
dern“, hieß es Ende Oktober 2012 im Informationsdienst
des Deutschen Bundestages. Ähnlich hieß es im Dezem-
ber: „Grüne scheitern mit Initiative zum Aufbau sozialer
Grundsicherung in Entwicklungsländern“.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Das sagt ja noch gar nichts!)


Der flüchtige Leser könnte meinen, diese Regierungs-
koalition sei ein Gegner sozialer Grundsicherung in den
Entwicklungsländern.


(Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ist sie! Ist sie! Ist sie!)






Helmut Heiderich


(A) (C)



(D)(B)


Aber vielleicht ist das ja auch genau das, was SPD und
Grüne mit ihren Anträgen bewirken wollten.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Ach was, Herr Heiderich!)


Denn Ihre Initiative, verehrte Frau Kollegin Roth, ist ja
nun weder neu noch besonders konkret. So will ich
gerne das Angebot von Herrn Kekeritz annehmen und
mich etwas näher mit Ihren Anträgen beschäftigen.


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Sie müssen einfach die ILO-Empfehlungen lesen!)


Ein Beispiel aus dem SPD-Antrag – ich zitiere –: Es

… muss insbesondere der Auf- und Ausbau diskri-
minierungsfreier, effizienter, ganzheitlicher und so-
lidarischer, also durch Steuern wie auch Beiträge fi-
nanzierter, Gesundheitssysteme vorangetrieben
werden.

Etwas verständlicher gefasst, heißt es an anderer Stelle,
die Bundesregierung werde aufgefordert,

… den Aufbau von Good-Governance-Strukturen
in den Partnerländern zu fördern und diese bei der
Bekämpfung der Korruption zu unterstützen;


(Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Alles gesagt! – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das schreiben Sie in anderen Anträgen auch!)


bzw.

… die Partnerländer beim Aufbau transparenter, ef-
fizienter und nachhaltiger Verwaltungs- und Steuer-
systeme … zu unterstützen;

oder sich

… auf europäischer Ebene

– das spielte eben schon eine Rolle –

für eine bessere Kohärenz und Koordinierung der
Entwicklungszusammenarbeit … einzusetzen …


(Beifall des Abg. Dr. Sascha Raabe [SPD])


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Sozialde-
mokraten, was ist daran eigentlich neu? Daran arbeitet
die Regierung doch seit Jahren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karin Roth [Esslingen] [SPD]: Sie arbeiten nicht daran!)


Ich hoffe, dass wir mit Ihrer Unterstützung genau das er-
reichen, was ich eben vorgetragen habe.

Lassen Sie mich nun auch ein wenig aus dem Antrag
der Grünen zitieren. Demnach soll

… neben der Förderung von bedarfsgeprüften und
konditionierten Sozialtransfersystemen in Entwick-
lungs- und Schwellenländern auch die Förderung
von Modellprojekten zu bedingungslosen und uni-
versellen Sozialtransfers …

geprüft werden. Ich hoffe, so weit ist alles klar. Dabei sei

… primär die Überwindung der Fragmentierung der
Sicherungssysteme, die Ausweitung des Leistungs-
kataloges und die Erhöhung des Deckungsgrades
mit dem Ziel universeller Absicherung zu unterstüt-
zen …


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: Bravo!)


Ich nehme an, alle Gäste wissen jetzt genau, worum es
geht.


(Sibylle Pfeiffer [CDU/CSU]: So ist es!)


Meine verehrten Kolleginnen und Kollegen, auch
wenn das alles sehr bedeutend klingt, gilt doch: Wir in
der Regierungskoalition von CDU/CSU und FDP, ver-
treten durch die Bundesregierung und das BMZ, haben
seit langem Maßnahmen zur sozialen Sicherung in Ent-
wicklungsländern im Blickfeld, nicht nur als Spezialziel,
sondern als übergreifendes Ziel unserer gesamten Arbeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Manfred Grund [CDU/CSU]: Eine Herzensangelegenheit!)


Unser Handeln in vielen Partnerländern sorgt bereits in
breitem Umfang dafür, dass diese Unterstützung Frauen
und Benachteiligten, armen und armutsgefährdeten So-
zialgruppen besonders zugutekommt.

Diese Initiativen zum Aufbau von sozialen Siche-
rungssystemen müssen aber – darin unterscheiden wir
uns, glaube ich – immer von dem jeweiligen Partnerland
getragen oder mitgetragen werden. Wir haben nicht das
Ziel, europäische Modelle der sozialen Sicherung auf
Entwicklungsländer zu übertragen oder dorthin zu ex-
portieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Schade!)


Wir wollen auch nicht – das ist auch ein wesentlicher
Grund für die Ablehnung Ihrer Anträge – einfach nur
Finanzmittel in Form von Budgethilfe an dortige Regie-
rungen geben. Vielmehr wollen wir Partner der Entwick-
lung sein und bleiben. Dabei kommt es uns ganz beson-
ders darauf an, dass die Empfängerregierungen die
Menschenrechte beachten, dass sie eine transparente Re-
gierungsführung zeigen und dass ihre Leistungen insbe-
sondere den Ärmsten zugutekommen. Das ist unser An-
satz für Sozialpolitik in der Entwicklungspolitik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Ute Koczy [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Reicht nicht aus!)


Zur Verdeutlichung möchte ich jetzt aus dem Pro-
gramm der Bundesregierung zitieren. Darin heißt es
wörtlich:

Armut verhindern, Existenzminimum sichern: So-
ziale Sicherung bewirkt Entwicklung.

Das steht nicht erst seit heute, sondern seit Jahren im
Sektorkonzept des BMZ. Sie sehen, wir sind längst ein
Stück weiter als das, was Sie mit Ihren Anträgen be-
werkstelligen wollen. Wir gehen längst konkreter und
gezielter vor, als wie es von Ihnen gefordert wird.





Helmut Heiderich


(A) (C)



(D)(B)


Deswegen – mein letzter Satz – muss die Quintessenz
der heutigen Debatte richtigerweise lauten: Diese Koali-
tion fördert den Aufbau sozialer Grundsicherung bereits
in vielen Entwicklungsländern. Das werden wir gemein-
sam gezielt, transparent und erfolgreich fortsetzen.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721925800

Vielen Dank, Herr Kollege.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-

schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem
Titel „Soziale Sicherung als Motor solidarischer und
nachhaltiger Entwicklungspolitik“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/11429, den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/7358 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktio-
nen. Gegenprobe! – Sozialdemokraten und Bündnis 90/
Die Grünen. Enthaltungen? – Linksfraktion. Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirtschaft-
liche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem Antrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel „Ak-
tionsplan Soziale Sicherung – Ein Beitrag zur weltweiten
sozialen Wende“. Der Ausschuss empfiehlt in seiner
Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11960, den
Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/11665 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen.
Gegenprobe! – Das sind die drei Oppositionsfraktionen.
Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist an-
genommen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 13 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Modernisierung des Außenwirtschafts-
rechts
– Drucksache 17/11127 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)

– Drucksache 17/12101 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Rolf Hempelmann

Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
der SPD auf Drucksache 17/12188 vor.

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
Alle sind damit einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Wirtschaft und Technologie empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/12101, den Gesetzent-

wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/11127 in
der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen,
die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustim-
men wollen, um das Handzeichen. – Das sind die Koali-
tionsfraktionen. Wer stimmt dagegen? – Bündnis 90/Die
Grünen und die Linke. Enthaltungen? – Fraktion der So-
zialdemokraten. Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung angenommen.

Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-
gen? – Das sind Bündnis 90/Die Grünen und Linksfrak-
tion. Enthaltungen? – Die Sozialdemokraten. Der Ge-
setzentwurf ist angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/12188. Wer stimmt für diesen Entschließungs-
antrag? – Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten
und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe? –
Das sind die Koalitionsfraktionen und die Fraktion Die
Linke. Enthaltungen? – Keine. Der Entschließungsan-
trag ist abgelehnt.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Kornelia
Möller, Dr. Ilja Seifert, Dr. Kirsten Tackmann,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Reisen für alle – Für einen sozialen Tourismus
– Drucksache 17/11588 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Tourismus (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: Das ist eigentlich nicht schlecht!)


Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) –
Alle sind damit einverstanden.

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11588 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Alle sind damit ein-
verstanden? – Dann haben wir das gemeinsam so be-
schlossen.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 15 auf:

– Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur zusätzlichen Förde-
rung von Kindern unter drei Jahren in
Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege
– Drucksache 17/12057 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

(13. Ausschuss)


– Drucksache 17/12217 –

1) Anlage 8 2) Anlage 9





Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


Berichterstattung:
Abgeordnete Marcus Weinberg (Hamburg)
Caren Marks
Miriam Gruß
Jörn Wunderlich
Katja Dörner

– Bericht des Haushaltsausschusses (8. Ausschuss)

gemäß § 96 der Geschäftsordnung

– Drucksache 17/12218 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Andreas Mattfeldt
Rolf Schwanitz 
Dr. Florian Toncar
Roland Claus
Priska Hinz (Herborn)


Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
Alle sind damit einverstanden, sodass wir gleich zur Ab-
stimmung kommen können.

Der Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Ju-
gend empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12217, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/12057
in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich bitte diejeni-
gen, die dem Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zu-
stimmen wollen, um ein Handzeichen. – Das sind die
Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten und Bünd-
nis 90/Die Grünen. Wer stimmt dagegen? – Niemand.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD], an die LINKE gewandt: Was macht ihr? – Gegenruf des Abg. Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir warten die dritte Frage ab!)


Enthaltungen? – Jetzt ist die Fraktion Die Linke auch da-
bei: Sie hat sich enthalten. Der Gesetzentwurf ist damit
in zweiter Beratung angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Das sind die Koalitionsfraktionen, die Sozialdemokraten
und Bündnis 90/Die Grünen. Gegenstimmen? – Es er-
hebt sich niemand. Enthaltungen? – Die Linksfraktion
erhebt sich. Der Gesetzentwurf ist angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe Tagesord-
nungspunkt 25 auf:

Erste Beratung des von den Abgeordneten
Markus Kurth, Volker Beck (Köln), Wolfgang
Wieland, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines Gesetzes zur Umsetzung der
UN-Behindertenrechtskonvention im Wahl-
recht

– Drucksache 17/12068 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Niemand
widerspricht. Dann haben wir das gemeinsam so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Der erste Redner ist für
die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unser Kollege
Markus Kurth. Bitte schön, Kollege Markus Kurth.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721925900

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

„Wahlberechtigt ist, wer das achtzehnte Lebensjahr voll-
endet hat.“ So klar und deutlich steht es in Art. 38 des
Grundgesetzes. Das aktive und passive Wahlrecht steht
also grundsätzlich jeder Bürgerin und jedem Bürger zu.


(Beifall der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


Jedoch: Die Bundeswahlordnung und die Europa-
wahlordnung setzen diese Bestimmung des Grundgeset-
zes nicht um. Sie schließen bestimmte Personengruppen
im Zusammenhang mit ihrer Behinderung vom Wahl-
recht aus. Dies sind vor allem Menschen, für die eine
Betreuung in allen Angelegenheiten angeordnet wurde.

Ich möchte etwas konkreter erklären, was das bedeu-
tet. Im Prozess der Erarbeitung unseres Gesetzentwurfes
wurde mir berichtet, dass sich vor jeder Wahl Eltern be-
hinderter Kinder wundern, warum ihr Kind – obwohl
mittlerweile volljährig – keine Wahlbenachrichtigung er-
halten hat. Wenn sie dann erfahren, dass ihr Kind nicht
wählen darf, da eine Betreuung in allen Angelegenheiten
angeordnet ist, sind sie meist erstaunt und verärgert. Das
finde ich verständlich. Im gesamten Verfahren zur An-
ordnung einer Betreuung in allen Angelegenheiten wird
nämlich die Frage der Wahlfähigkeit weder geprüft noch
erwähnt. An dieser Stelle wundert man sich über die
Antwort des Bundesinnenministers Friedrich auf einen
Brief, den die Kollegin Ulla Schmidt geschrieben hat.
Dort heißt es – ich zitiere aus dem Schreiben –:

Deshalb ist ein Ausschluss vom Wahlrecht immer
dann geboten, wenn eine Person aufgrund ihres ge-
genwärtigen individuellen körperlichen oder geisti-
gen Zustandes unzweifelhaft keinerlei Einsichtsfä-
higkeit oder Verständnis dafür hat, worum es bei
einer Wahl geht.

Das offenbart zweierlei. Zum einen haben Sie nicht ver-
standen, dass das prüfungsabhängig ist. Die Prüfung fin-
det aber gar nicht statt.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Gibt es gar nicht in dem Gesetz! – Zuruf von der FDP)


– Reden Sie nicht dazwischen! Hören Sie zu!

Zum Zweiten zeigt es, dass Sie offensichtlich davon
ausgehen, dass jemand, für den eine Betreuung in allen
Angelegenheiten bestellt ist, keinerlei Einsichtsfähig-
keit oder Politikverständnis hat. Das finde ich allerdings
ziemlich übel. Setzen Sie sich doch einmal mit solchen
Personen auseinander! Die können das nämlich bewer-
ten.1) Anlage 10





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das ist eine Frage der Kommunikation und der Zeit, die
man für die politische Meinungsbildung von Personen
mit sogenannter geistiger Behinderung aufbringen muss.

Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert eine in-
klusive, partizipative und nichtdiskriminierende Ausge-
staltung des Rechts auf politische Teilhabe. Der pau-
schale Wahlrechtsausschluss, den ich eben beschrieben
habe, steht dazu in klarem Widerspruch.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Bereits im Sommer letzten Jahres habe ich gemein-
sam mit meiner Kollegin Ingrid Hönlinger in einem offe-
nen Brief an alle parlamentarischen Geschäftsführer
dazu aufgefordert, den Wahlrechtsausschluss im Zusam-
menhang mit einer Behinderung im interfraktionellen
Dialog abzuschaffen. Wir haben bereits damals auf die
widersinnigen Ergebnisse hingewiesen, die nach gelten-
dem Recht möglich sind. So kann es nämlich sein, dass
Menschen, die zur Entscheidung für eine politische Par-
tei durchaus in der Lage sind, von der Wahl ausgeschlos-
sen werden. Gleichzeitig bleibt für Personen etwa im
fortgeschrittenen Stadium einer Demenz, wenn diese zu-
vor eine Vorsorgevollmacht erteilt haben und kein Be-
treuer bestellt ist, das Wahlrecht erhalten. In diesem Ver-
gleich wird der diskriminierende Aspekt des pauschalen
Wahlrechtsausschlusses überdeutlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Leider ist im parlamentarischen Prozess, auch bei der
Erarbeitung des neuen Wahlrechts, nach unserem Brief
nicht viel passiert. Wir möchten nun mit unserem Ge-
setzentwurf die Debatte weiter vorantreiben. Wir verste-
hen unseren Entwurf explizit als Vorschlag, an dem wir
gerne gemeinsam mit Ihnen, den anderen Fraktionen, ar-
beiten wollen.

Ich weiß, dass es in allen Fraktionen Kolleginnen und
Kollegen gibt, die den Wahlrechtsausschluss im Zusam-
menhang mit einer Behinderung für nicht gerechtfertigt
halten. Darum freue ich mich auf die parlamentarische
Auseinandersetzung, in der wir hoffentlich noch beste-
hende Vorbehalte ausräumen und das Wahlrecht den
Standards anpassen können, wie sie das internationale
Recht der Behindertenrechtskonvention, die die Bundes-
republik ja ratifiziert hat, fordert.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721926000

Das Wort hat nun Reinhard Grindel für die CDU/

CSU-Fraktion.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1721926100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir

haben im Kreis der Berichterstatter zum Wahlrecht zwi-
schen allen Fraktionen verabredet, das sehr sensible
Thema des Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen
nicht mehr in dieser Legislaturperiode anzupacken, weil
wir zunächst Studien im Rahmen des Nationalen Ak-
tionsplans abwarten wollten, gerade auch unter Berück-
sichtigung des Betreuungsrechts. Wir wollen die Ergeb-
nisse auch im internationalen Rahmen betrachten. 2014
wird diese Studie vorliegen.

Es ist sehr bezeichnend, Herr Kurth, dass der Bericht-
erstatter der grünen Bundestagsfraktion für das Wahl-
recht, nämlich der Kollege Wieland, heute nicht einmal
anwesend ist. Das ist sehr bezeichnend; denn ich glaube,
dass er Ihren Vorstoß genauso klar beurteilt wie unsere
Fraktion.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Er steht auf dem Gesetzentwurf drauf!)


Entgegen unserer Verabredung haben die Grünen im
Alleingang einen Gesetzentwurf zur Änderung des
Wahlrechts eingebracht. Ich finde es wichtig – das war
bisher immer Konsens –, dass wir in Wahlrechtsangele-
genheiten versuchen, eine gemeinsame Linie aller Frak-
tionen zu finden.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das habe ich ja angeboten!)


Was mich allerdings noch wesentlich mehr stört, ist
die Art und Weise, wie Sie heute Abend hier vorgetragen
haben. Bei der Diskussion über die Stellung von Men-
schen mit Behinderungen im Wahlrecht tun Sie von den
Grünen so, als ob die Menschen kein ausreichendes
Wahlrecht hätten, weil sie behindert sind.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich habe das genau beschrieben! Erzählen Sie doch nichts!)


Das ist falsch. Es ist sehr naheliegend, dass Sie mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf aus rein wahlkampftakti-
schen Gründen vorpreschen, um bei sozialen Organisa-
tionen, bei Menschen mit Behinderungen und deren An-
gehörigen zu punkten. Das ist stillos, unkollegial und
angesichts der Ernsthaftigkeit des Themas im Grunde
unerträglich, Herr Kollege.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist eine Unverschämtheit! Jetzt reicht es aber! Frechheit! Unkollegial? Was werfen Sie mir überhaupt vor? Sie verzerren hier die Sachen! Das ist ja unverschämt!)


– Betroffene Hunde bellen umso lauter.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Ich bin sehr enttäuscht von Ihnen!)


Der Kollege Wieland war bei unseren Besprechungen
dabei; die anderen Kollegen werden das bestätigen. Wir
haben gesagt, dass es gerade im Lichte des Bundestags-
wahlkampfes wenig Sinn macht, dieses sensible Thema
in der Weise zu behandeln, wie Sie das gemacht haben.





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)


Sie werden dem Anliegen nicht gerecht. Ich wiederhole:
Sie brechen die Verabredung, die wir im Kreise der Be-
richterstatter getroffen haben; um das ganz klar festzu-
halten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Die Wahrheit ist: Menschen mit Behinderungen ha-
ben natürlich das aktive und passive Wahlrecht, wie je-
der andere Bundesbürger auch.


(Zuruf von der SPD: Und jetzt kommt das Aber!)


Der Gesetzgeber diskriminiert sie nicht. Es geht im Bun-
deswahlgesetz nicht darum, Menschen mit Behinderun-
gen vom Wahlrecht auszuschließen, sondern darum,
klare Rahmenbedingungen zu schaffen und festzulegen,
wer gar nicht wählen kann. Eigentlich müssten wir uns
doch wohl auf einen Grundsatz verständigen können:
Die selbstbestimmte Wahrnehmung des Wahlrechts setzt
voraus, dass die Möglichkeit zur Teilnahme am Kommu-
nikationsprozess zwischen Volk und Staatsorgan in hin-
reichendem Maße besteht. Das Bundesverfassungsge-
richt hat deshalb gerade in ständiger Rechtsprechung
betont, dass es das nach Art. 79 Abs. 3 Grundgesetz un-
antastbare demokratische Prinzip im Kern verletzen
würde, wenn das Wahlrecht Personen zustünde, die an
diesem Kommunikationsprozess nicht teilnehmen kön-
nen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Wer entscheidet das denn?)


– Frau Schmidt, wir haben uns ja gerade in einem ande-
ren Kreis unterhalten. Das Wahlrecht ist kein Mittel der
Inklusion.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Sagen Sie einmal, wer das entscheidet!)


Ich finde Ihre Arbeit bei der Lebenshilfe und alle Maß-
nahmen zum Thema Inklusion sehr wichtig. Aber die
Frage, ob das Wahlrecht an dieser Stelle ein geeignetes
Instrument ist, müssten wir im Lichte der von mir ange-
sprochenen wissenschaftlichen Studie intensiv diskutie-
ren.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Doch! Das hat mit der Würde der Menschen zu tun!)


Der Gesetzentwurf der Grünen eignet sich nicht als
Grundlage, auf der wir hier über dieses Thema diskutie-
ren könnten.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Das Wahlrecht wird willkürlich eingeschränkt!)


Ein Ausschluss vom Wahlrecht ist nicht nur zulässig,
sondern nach der Rechtsprechung des Bundesverfas-
sungsgerichts immer dann geradezu geboten, wenn eine
Person aufgrund ihres gegenwärtigen individuellen kör-
perlichen oder geistigen Zustands unzweifelhaft keiner-
lei Einsichtsfähigkeit oder Verständnis dafür hat, worum
es bei einer Wahl geht. Das ist der Maßstab.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber das muss doch geprüft werden!)


Insofern ist das, was der Bundesinnenminister Ihnen,
Frau Schmidt, geschrieben hat, gar nicht seine persönli-
che Meinung, sondern gefestigte Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts, an der doch gerade der Ver-
fassungsminister nicht vorbei kann. Deshalb besagt § 13
Abs. 2 des Bundeswahlgesetzes, dass Menschen, für die
auf Dauer ein Betreuer in allen Angelegenheiten bestellt
ist, und solche, die sich infolge einer richterlichen An-
ordnung in einer psychiatrischen Klinik aufhalten müs-
sen, weil sie eine Straftat begangen haben und von ihnen
aufgrund ihrer Krankheit weitere rechtswidrige Taten zu
erwarten sind, vom Wahlrecht ausgeschlossen sind.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Aber wenn sie keine Straftat begangen haben, dürfen sie wählen!)


Dies betrifft übrigens nur eine überschaubare Zahl von
Betroffenen.

Die Grünen wissen natürlich auch, dass das Prinzip
der Demokratie im Kern verletzt wäre, wenn wir hier zu
einer anderen wesentlichen Entscheidung kämen. Ihre
Motive sind in meinen Augen durchschaubar und wenig
ehrenhaft;


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist echt so eine Unverschämtheit! Eine Unverschämtheit nach der anderen!)


denn die Wahrheit ist, dass die große Mehrzahl der Men-
schen mit Behinderungen – das muss man den Betroffe-
nen und ihren Angehörigen sagen – natürlich das Wahl-
recht hat. Das Betreuungsrecht ist gerade darauf
ausgerichtet, die Selbstbestimmung Betroffener so weit
wie möglich zu erhalten. Demzufolge wird den Men-
schen mit teilweiser Betreuung das Wahlrecht gewährt.
Jemand, dem anderweitig ein Betreuer zugeordnet ist,
weil er aus psychischen oder körperlichen Gründen seine
Angelegenheiten nicht allein besorgen kann, ist davon
nicht betroffen. Selbst wenn sich die Betreuung auf alle
Lebensbereiche erstreckt, aber nicht auf Dauer besteht,
sondern auf einer einstweiligen Anordnung beruht, gibt
es keinen Ausschluss von der Wahl. Das heißt, selbst
Komapatienten, bei denen keine Anordnung einer Be-
treuung auf Dauer vorliegt, zum Beispiel aufgrund von
Heilungschancen, sind nach unserem Recht wahlberech-
tigt. Zudem behalten Menschen, für die nur für be-
stimmte Aufgabenkreise ein Betreuer bestellt worden ist,
ihr uneingeschränktes Wahlrecht. Schließlich kann nicht
ausgeschlossen werden, dass sie dieses auch selbstbe-
stimmt wahrnehmen können. Das haben Sie, Herr Kurth,
zu Recht erwähnt.

Somit nimmt das geltende Recht sogar in Kauf, dass
Menschen, die im Grunde zu einer Wahlentscheidung
nicht mehr in der Lage sind, dennoch wahlberechtigt
bleiben. Es gilt der Grundsatz: Lieber jemanden, der
nicht wählen kann, als Wahlberechtigten zulassen, als je-
mandem, der trotz Beeinträchtigung durchaus noch eine
Wahlentscheidung treffen kann, diese zu verwehren. Die
Regelungen sind entgegen dem Eindruck, den Sie hier
gerade vermittelt haben, sehr großzügig zugunsten der





Reinhard Grindel


(A) (C)



(D)(B)


Selbstbestimmung der Bürger. Eine weitere Einschrän-
kung wird es auch mit der Union nicht geben.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Darüber reden wir heute: über eine Verbesserung!)


Das Betreuungsrecht ist darauf ausgerichtet, dass die
Selbstbestimmung der Betroffenen so weit wie möglich
erhalten bleibt. Es geht nicht um Entmündigung, sondern
– im Gegenteil – um Hilfe zur Wahrnehmung der Mün-
digkeit.

Die geltende Regelung des Bundeswahlgesetzes hält
den Kreis der Betroffenen ohne Wahlrecht bewusst sehr
klein und erhält das Wahlrecht von Menschen mit psy-
chischer Krankheit oder körperlicher oder geistiger Be-
hinderung so lange wie nur möglich. Ein Wahlrechtsaus-
schluss erfolgt bewusst nicht aufgrund generalisierender
Anhaltspunkte; stattdessen gibt es ein rechtsstaatliches
Verfahren mit einer gültigen richterlichen Entscheidung,
die auf den individuellen Fall des Betroffenen fußt. Dis-
kriminierung sähe ganz anders aus, Herr Kurth.

Weil Sie die Bundeswahlordnung angesprochen
haben, will ich darauf hinweisen, dass dort viele Mög-
lichkeiten verankert sind, wie Menschen mit Beeinträch-
tigungen ihr Wahlrecht tatsächlich wahrnehmen können.
Man kann eine Hilfsperson benennen, um bei dem prak-
tischen Vorgang der Wahl – Lesen und Kennzeichnen
des Wahlzettels und Einwurf in die Urne – zu assistieren.
Sehbehinderte Wähler können eine Schablone benutzen,
um das Kreuz zu machen. Ebenso gelten solche Hilfsbe-
stimmungen für die Briefwahl. Wahllokale sollen mög-
lichst barrierefrei sein. Die Wahlberechtigten werden im
Voraus darüber informiert, wo es keine Mobilitätsein-
schränkungen gibt. Das Bundesinnenministerium hat zu-
gesichert, auf diese Regelungen der Bundeswahlordnung
einen aufmerksamen Blick zu haben und zu schauen, ob
sich noch weitere Verbesserungen hinzufügen lassen
können.

Deswegen sage ich Ihnen vor dem Hintergrund Ihres
Vortrages hier: Hören Sie endlich auf, der Bundesregie-
rung gegenüber Menschen mit Behinderungen eine
feindselige Einstellung zu unterstellen! Das ist abwegig.
Die Menschen im Land wissen, dass es nicht so ist, und
sehen, dass die Bundesregierung alles tut, Menschen mit
Behinderungen vor Diskriminierung zu schützen und ih-
nen eine gleichberechtigte Teilnahme am gesellschaftli-
chen und politischen Leben zu ermöglichen. Herr Kurth,
Sie sollten die Bürger hier nicht für dumm verkaufen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ebenso ist es falsch, zu unterstellen – das haben Sie
getan –, dass unsere christlich-liberale Koalition sich
weigert, die UN-Behindertenrechtskonvention voll um-
zusetzen. In Art. 29 der UN-Konvention wird Teilhabe
von Menschen mit Behinderungen am politischen Leben
verlangt. Die Vertragsstaaten sind dabei sehr wohl be-
rechtigt, objektive und angemessene Wahlausschluss-
gründe durch Gesetz festzulegen. Das bezieht sich auch
auf Gründe bei geistiger oder psychischer Behinderung,
die eine politische Willensbildung und -äußerung
unmöglich machen. Dies war auch bei der Verabschie-
dung der Konvention unter den Vertragsstaaten allge-

meiner Konsens und ist bis heute völkerrechtlich aner-
kannt.

Aus Urteilen des Bundesverfassungsgerichts geht
hervor, dass das Wahlrecht nicht nur den reinen Wahlakt
in der Wahlkabine umfasst, sondern eben auch eine ak-
tive Teilnahme am politischen Kommunikationsprozess
voraussetzt. Auch die UN-Behindertenrechtskonvention
spricht im maßgeblichen Art. 29 von der freien Willens-
äußerung der Menschen mit Behinderungen.

Wo die Willensbildung und -äußerung allein durch
die Krankheit oder die Behinderung unmöglich gemacht
werden, kann das staatliche Recht diese nicht einfach
voraussetzen. Politische Willensbildung ist eine Grund-
voraussetzung für eine demokratische Wahl. Daran kom-
men wir auch als Deutscher Bundestag nicht vorbei.

Insofern sage ich Ihnen zum Schluss: Ich bin zutiefst
der Auffassung, dass unsere jetzige Regelung in der
Bundeswahlordnung und im Bundeswahlgesetz im Ein-
klang mit der UN-Behindertenrechtskonvention steht.
Sie schließt niemanden aufgrund von Behinderungen
von der Wahl aus.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Doch!)


Vielmehr geht es um die Frage der durch das Demokra-
tieprinzip geforderten Teilhabe am Kommunikationspro-
zess. Das ist das Entscheidende.

Der Gesetzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen ist weder sinnvoll noch hilfreich, wenn es um die
Belange von Menschen mit Behinderungen in unserem
Land geht. Er ist im Kern demokratiewidrig. Daher wer-
den wir ihn ablehnen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721926200

Das Wort zu einer Kurzintervention erteile ich Kolle-

gen Markus Kurth.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721926300

Herr Grindel, Sie haben mir unkollegiales Verhalten

und den Bruch von Absprachen vorgeworfen. Ich finde
es im Gegenteil eher unkollegial, dass Sie mir jetzt vor-
werfen, interne Absprachen, die Sie angeblich mit dem
Kollegen Wieland getroffen haben, gebrochen zu haben,
indem dieser Gesetzentwurf eingebracht wird. Ich habe
mit Ihnen keine einzige Absprache getroffen.


(Otto Fricke [FDP]: Ihre Fraktion!)


Der Kollege Wolfgang Wieland steht auf diesem Gesetz-
entwurf bei der Liste der ihn einbringenden Personen an
dritter Stelle.

Es war vielmehr so, dass im Zuge der Neuordnung
des Wahlrechts – hier ging es um Regelungen für Über-
hangmandate und Ausgleichsmandate – gesagt wurde,
dass dies nicht mit der Frage des uneingeschränkten
Wahlrechts für Menschen mit Behinderungen und für
solche, die unter Betreuung in allen Angelegenheiten
stehen, vermengt werden sollte.


(Otto Fricke [FDP]: Wer wollte das?)






Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


Aber das heißt doch nicht im Gegenzug, dass man voll-
ständig auf die Behandlung dieses Themas und der Frage
der Nichtdiskriminierung beim Wahlrecht verzichtet. Ich
habe gerade ganz in Ruhe in meinem Wortbeitrag er-
klärt, dass die Kollegin Hönlinger und ich bereits vor gut
einem Jahr an alle Parlamentarischen Geschäftsführer
geschrieben haben. Daher finde ich es unkollegial, dass
Sie mir den Bruch von Absprachen unterstellen.

Zweitens finde ich es auch nicht in Ordnung, dass Sie
in Ihrer Argumentation behaupten, ich würde unlautere
Absichten verfolgen und mein Süppchen sozusagen auf
Kosten der Menschen mit Behinderungen kochen. – Da
nicken Sie auch noch. – Ich bitte Sie, zur Kenntnis zu
nehmen, dass dieser Gesetzentwurf sorgfältig ausgear-
beitet wurde. Er enthält eine mehrseitige Begründung,
über die wir uns wirklich Gedanken gemacht haben. Ich
finde Ihren Vorwurf daher unkollegial und nicht in Ord-
nung; so etwas muss man nach 21 Uhr nicht mehr ma-
chen. Wir haben ja sonst nicht so viele Berührungs-
punkte. Wenn Sie wüssten, wie sehr ich mich beim
Thema Behindertenpolitik in den letzten zehn Jahren en-
gagiert habe, würden Sie einsehen: Es ist einfach nicht in
Ordnung, mir so etwas zu unterstellen.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Stimmt! Das macht man nur, wenn man ein schlechtes Gewissen hat!)


Der letzte Punkt. Sie verweisen immer auf die Studie.
In dieser Studie – das hat Ole Schröder in Beantwortung
einer Frage von mir gesagt – wollen Sie die aktive und
passive Beteiligung von Menschen mit Behinderungen
an Wahlen untersuchen. Ja, aber wie wollen Sie das denn
machen, wenn für eine bestimmte Gruppe von vornhe-
rein ein Wahlrechtsausschluss besteht? Das ist aus mei-
ner Sicht widersinnig. Das ist weiße Salbe bzw. ein Pla-
cebo, das dazu dienen soll, das Ganze hinauszuzögern,
um nichts unternehmen zu müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721926400

Kollege Grindel.


Reinhard Grindel (CDU):
Rede ID: ID1721926500

Herr Kollege Kurth, Sie haben gesagt, dass wir in der

Vergangenheit wenige Berührungspunkte hatten. Das ist
richtig; denn ich bin Innenpolitiker, und Sie sind Sozial-
politiker. Ich muss Ihnen leider sagen: Das Wahlrecht
ressortiert bei den Innenpolitikern. Wir Innenpolitiker
haben uns nicht nur über die Frage der Überhang- und
Ausgleichsmandate unterhalten, sondern wir haben uns
auch über das Wahlrecht für Auslandsdeutsche unterhal-
ten. Außerdem hatten wir das Europawahlrecht und das
Wahlstatistikgesetz auf der Tagesordnung. Im Rahmen
vielfältiger Berichterstattergespräche, bei denen in der
Tat nicht Sozialpolitiker, die nicht zuständig sind, son-
dern Innenpolitiker, die zuständig sind, vertreten waren,


(Dr. Martina Bunge [DIE LINKE]: Wie bitte? Sagen Sie das mal vor Behinderten! Da werden Sie aber ausgepfiffen!)


haben wir mit Herrn Wieland und anderen Mitgliedern
der grünen Fraktion auch über dieses Thema gespro-
chen.

Vorhin haben Sie in Ihrem Vortrag gesagt, das Pro-
blem bei der Anordnung sei insbesondere, dass eine
mögliche teilweise Wahrnehmungsfähigkeit in Bezug
auf das Wahlrecht gar nicht überprüft werde. Aber das ist
ja gerade Gegenstand der Studie. Im Rahmen der Studie
soll geprüft werden, ob bei der Anordnung einer voll-
ständigen Betreuung der Aspekt, ob eine – ich nenne es
einmal so – Teilkommunikationsfähigkeit im Hinblick
auf das Wahlrecht möglich ist, nicht doch mit einbezo-
gen werden kann bzw. ob man sich das vorstellen kann.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: „Wahlfähigkeitsprüfung“ heißt das auf Neudeutsch!)


Gerade das ist ja der Sinn der Studie. Es soll genau das
überprüft werden, was Sie hier eingefordert haben.

Ich bleibe dabei: In dieser Studie soll überprüft wer-
den, liebe Frau Schmidt, ob die von Ihnen erwähnten
11 000 Personen nicht möglicherweise doch ein Wahl-
recht bekommen. Allerdings liegt diese Studie, weil ihre
Ergebnisse genau und gründlich ausgewertet werden,
erst 2014 vor.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Ach was! Es gibt sie doch schon, die Studie!)


Wie gesagt – ich wiederhole das –, der hier nicht an-
wesende Kollege Wieland, der zuständig ist, hat sich mit
dem vereinbarten Vorgehen einverstanden erklärt. Wenn
Sie hier vorsprechen, dann mag das Ausdruck eines be-
sonderen behindertenrechtlichen Engagements sein.
Aber ich bleibe dabei: Ich glaube, dass der Hintergrund
dieses Engagements eher der Versuch ist, sich bei dieser
Community einen weißen Fuß zu machen, um vor der
Bundestagswahl auch bei den entsprechenden Podiums-
diskussionen sprachfähig zu sein.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir doch gar nicht nötig!)


Das ist unredlich und nicht in Ordnung. Ich bleibe dabei,
dass ich das kritisiere.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721926600

Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1721926700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Alleingänge beim Wahlrecht haben selten Erfolg. Das
haben Sie von der Regierungskoalition bei Ihrer Neufas-
sung des Bundeswahlgesetzes im letzten Jahr erlebt.
Auch Ihr Gesetzentwurf, liebe Kolleginnen und Kolle-





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


gen von den Grünen, ist in der jetzt vorliegenden Fas-
sung nicht mehrheitsfähig.

Das Wahlrecht ist die Legitimation jedes einzelnen
Abgeordneten hier im Haus. Es ist Grundlage der Demo-
kratie und ein Grundrecht aller Bürgerinnen und Bürger.
Deshalb ist es sinnvoll und zielführend, Wahlrechtsände-
rungen unter Beteiligung aller Fraktionen zu verhandeln
und mit breiter Mehrheit zu beschließen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das Ganze ist uns sowohl bei der Neuregelung der
Sitzzuteilung als auch bei der Neuregelung des Wahl-
rechts für Auslandsdeutsche gelungen. Ein Ausschluss
vom Wahlrecht – also die Aberkennung eines Grund-
rechts – bedarf einer besonders fundierten Begründung.
Der § 13 des Bundeswahlgesetzes genügt diesem An-
spruch nicht. In § 13 Bundeswahlgesetz ist geregelt, dass
Menschen mit Behinderungen, für die eine Betreuung
zur Besorgung aller Angelegenheiten bestellt wird oder
die aufgrund einer Anordnung nach dem Strafgesetz-
buch in einem psychiatrischen Krankenhaus unterge-
bracht sind, vom Wahlrecht bei Bundes- und Europa-
wahlen ausgeschlossen sind. Dies bedarf dringend einer
politischen Neubewertung.

Nach den geltenden Menschenrechtsstandards sind
diese Ausschlusstatbestände nicht zu rechtfertigen, sie
widersprechen der UN-Konvention über die Rechte von
Menschen mit Behinderungen.

Nach geltendem Recht werden Menschen in ver-
gleichbarer Situation oder mit ähnlich schwerer Behin-
derung unterschiedlich behandelt: Derjenige, für den
eine Betreuung zur Besorgung aller Angelegenheiten be-
stellt wird, verliert automatisch das Wahlrecht – wer da-
gegen selbst per Vorsorgevollmacht entscheidet, wer
seine Angelegenheiten in Zukunft regeln soll, behält das
Wahlrecht. Ähnliches gilt für Menschen, die in einer
Psychiatrie untergebracht sind: Straftäter, die während
der Begehung der Tat schuldunfähig waren, bekommen
das Wahlrecht entzogen – Menschen mit einem ähnli-
chen Krankheitsbild, die ebenfalls in einer Psychiatrie
untergebracht sind, aber keine Straftat begangen haben,
verlieren ihr Wahlrecht nicht.

Unserer Ansicht nach besteht dringender Handlungs-
bedarf. Leider ist die Regierung Merkel untätig. Im Na-
tionalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behinder-
tenrechtskonvention hat die Bundesregierung erklärt, sie
wolle eine Studie zur tatsächlichen Situation behinderter
Menschen bei der Ausübung des aktiven und passiven
Wahlrechts in Auftrag geben. Als Laufzeit war dafür das
Jahr 2012 vorgesehen.

Auf eine schriftliche Frage von mir zu dieser Studie
erhielt ich die Antwort: Das Bundesministerium für Ar-
beit und Soziales erarbeitet zurzeit in Zusammenarbeit
mit dem Bundesministerium des Innern eine Leistungs-
beschreibung für die Ausschreibung der Studie. Erste
Ergebnisse werden wahrscheinlich 2014 vorliegen. –
Diese Antwort zeigt, dass die Regierung Merkel es nicht
wirklich ernst nimmt, ein diskriminierungsfreies, inklu-
sives Wahlrecht zu schaffen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Deshalb werden wir als SPD-Bundestagsfraktion ei-
nen Antrag in den Deutschen Bundestag einbringen, mit
dem die Bundesregierung aufgefordert wird, die im
Nationalen Aktionsplan zur Umsetzung der UN-Behin-
dertenrechtskonvention beschlossene Studie zur aktiven
und passiven Beteiligung von Menschen mit Behinde-
rungen an Wahlen unverzüglich zum Abschluss zu brin-
gen und die von ihr angekündigten Handlungsempfeh-
lungen zur Verbesserung der Partizipation vorzulegen.
Wir schließen uns damit einer Initiative des Bundes-
landes Rheinland-Pfalz an, das einen entsprechenden
Antrag in den Bundesrat eingebracht hat.

Eine Gruppe von Menschen haben Sie, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen von den Grünen, in Ihrem Gesetz-
entwurf gar nicht berücksichtigt, nämlich Menschen mit
Lese-Rechtschreib-Schwäche. In Deutschland leben
etwa 7,5 Millionen Menschen im erwerbsfähigen Alter,
die von funktionalem Analphabetismus betroffen sind.
Davon können 2 Millionen nur einzelne Wörter lesen
und schreiben – eine erschreckend hohe Zahl. Diese
Menschen haben zwar das Wahlrecht, können es aber
ohne fremde Hilfe nicht eigenständig ausüben. Ihnen das
Wählen zu erleichtern, gehört auch zu einem inklusiven
Wahlrecht und zur Umsetzung der UN-Konvention.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das Thema Analphabetismus ist in unserer Gesell-
schaft immer noch mit Angst und Scham besetzt. Die
Betroffenen haben sich deshalb Strategien zur Tarnung
angeeignet. Diese Strategien führen dazu, dass die Be-
troffenen aus Angst, „entdeckt“ zu werden, ein Leben
am Rande der Gesellschaft, ein Leben mit geringer Teil-
habe führen.

Es müssen Angebote geschaffen werden, um den Zu-
gang zu Wahlen und Wahlinformationen auch für diesen
Personenkreis zu vereinfachen. Untersuchungen des
Deutschen Volkshochschul-Verbandes zeigen, dass viele
Analphabetinnen und Analphabeten auf dem Stimmzet-
tel zum ersten Mal mit dem komplett ausgeschriebenen
Namen der Parteien konfrontiert werden. Ohne weitere
Visualisierung ist es für viele schwierig, den Wahlzettel
in kurzer Zeit zu verstehen. Deshalb wollen wir, dass
Wahlinformationen in Zukunft in einfacher Sprache ge-
halten werden. Zudem sollen die Wahlzettel durch ein
Foto der Kandidatin oder des Kandidaten und durch Par-
teisymbole ergänzt werden. Nur so können wir es
Menschen mit einer Lese- und Rechtschreibschwäche
ermöglichen, gleichberechtigt an Bundestags- und Euro-
pawahlen teilzunehmen.

Wir wollen im Wahlrecht die gleichberechtigte Teil-
habe von Menschen mit Behinderung verwirklichen, aber
wir wollen auch ein geordnetes Verfahren mit Bericht-
erstattergesprächen, Sachverständigenanhörung und
schließlich einen mehrheitsfähigen Gesetzentwurf. Meine
Fraktion und ich sind jederzeit zu Gesprächen bereit.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD, der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721926800

Das Wort hat nun Stefan Ruppert für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1721926900

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Ich will zunächst zur Sache sprechen.

Die heute vor uns liegende Materie ist in der Tat nicht
ganz einfach. Es gibt Fachstimmen, die sagen, wir soll-
ten die ganze Materie im Betreuungsrecht regeln. Das
überzeugt, offen gesagt, in weiten Teilen auch mich.

Bei den Menschen, die in allen Angelegenheiten unter
Betreuung stehen, ist es allerdings meiner Meinung nach
eine Idee, zu sagen: Wir fordern in der richterlichen Ent-
scheidung darüber, ob wir in allen Angelegenheiten die
Betreuung zulassen, eine explizite Feststellung, dass die-
sen Menschen auch das Wahlrecht aberkannt wird; denn
nur weil jemand beim Umgang mit seinem eigenen Geld
oder bei anderen Angelegenheiten nicht in der Lage ist,
adäquat zu handeln, ist es nicht selbstverständlich, dass
man ihm auch das Wahlrecht abspricht. Deswegen
glaube ich, es ist sehr sinnvoll und richtig, darüber nach-
zudenken, wie man das regelt. Meine Präferenz geht da-
hin, das im Betreuungsrecht zu tun.


(Beifall bei der FDP)


Gegen eine Regelung im Betreuungsrecht spricht
aber, dass es viele Menschen gibt, die nicht in allen An-
gelegenheiten unter Betreuung stehen, etwa weil ihre El-
tern sich um sie kümmern, die aber gegebenenfalls in der
gleichen Situation sind wie Menschen, die in allen An-
gelegenheiten unter Betreuung stehen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721927000

Gestatten Sie eine Zwischenfrage der Kollegin

Schmidt?


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1721927100

Gerne.


Ulla Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1721927200

Herr Kollege, habe ich Sie gerade richtig verstanden,

dass Sie in unsere Rechtsordnung einen neuen Tatbe-
stand einfügen wollen, nämlich eine Wahlfähigkeitsprü-
fung? Bisher haben wir so etwas nicht. Wir haben in
Deutschland ein allgemeines Wahlrecht für alle. Wir ha-
ben auch keine Wahlpflicht, von der jemand, der an einer
Wahl nicht mehr teilnehmen kann, durch ein Gericht ent-
bunden werden könnte. Das könnte nur in Ländern erfol-
gen, in denen es eine Wahlpflicht gibt. Nun wollen Sie
im Betreuungsrecht eine Wahlfähigkeitsprüfung einfüh-
ren, mit der darüber entschieden wird, ob jemand noch in
der Lage ist, verantwortlich zu wählen, oder nicht. Habe
ich das richtig verstanden, dass die FDP darüber nach-
denkt?


Dr. Stefan Ruppert (FDP):
Rede ID: ID1721927300

Nein. Ich habe den auch von Ihren Landesregierungen

unterstützten Vorschlag übernommen, zu sagen: Es
reicht nicht, zu entscheiden, dass jemand in allen Ange-
legenheiten unter Betreuung gestellt wird, sondern man
kann positiv davon abweichen, indem festgelegt wird:
Jemand wird zwar unter Betreuung gestellt; es ist aber
durchaus im Einzelfall möglich, ihm das Wahlrecht zu-
zuerkennen, wie es übrigens viele Fachleute, die dieses
Thema diskutieren, fordern.


(Zuruf der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])


Ich glaube, wir reden in der Sache gar nicht aneinan-
der vorbei. Es geht mir nur darum: Wenn jemand in allen
Angelegenheiten unter Betreuung gestellt wird, finde ich
den Automatismus, dass er damit ausdrücklich automa-
tisch auch sein Wahlrecht verliert, nicht unbedingt ange-
messen, sondern man könnte auch zu der Entscheidung
kommen, dass er sein Wahlrecht trotz einer Betreuung in
allen drei Angelegenheiten behält. Das ist ja auch das
Anliegen des Grünen-Antrags, wenn auch aus einer an-
deren Systematik heraus.


(Ulla Schmidt [Aachen] [SPD]: Aber im Unterschied zur CDU, zu Herrn Grindel!)


Ich glaube also, in dieser Sache sind wir nicht weit aus-
einander.

Jetzt kann man überlegen, ob diese Regelungstechnik
allein im Betreuungsrecht richtig ist oder ob wir nicht im
Wahlrecht bleiben müssten. Auch dafür gibt es viele gute
Argumente. Man könnte auch zu einer anderen Rege-
lung kommen und etwa den § 13 des Bundeswahlge-
setzes neu fassen, um zu einer inklusiveren und mehr
Partizipation und politische Teilhabe ermöglichenden
Wahlordnung zu kommen. Auch dafür sind wir aus-
drücklich offen.

Nun komme ich zu dem, was mich ärgert. Ich bin jetzt
schon einige Jahre hier, und ich glaube von mir sagen zu
können, dass ich nicht zu den Scharfmachern oder zu
denjenigen gehöre, die immer den parteipolitischen
Streit um seiner selbst willen suchen.


(Dagmar Freitag [SPD]: Sehr gut!)


Aber ich habe in der Vergangenheit schon an vielen Sit-
zungen zum Wahlrecht teilgenommen. Wir haben Vor-
schläge gemacht. Unter anderem habe ich für meine
Fraktion schon zweimal eine Regelung im Betreuungs-
recht vorgeschlagen, habe in Sitzungen, die Herr Grindel
geleitet hat, darum gebeten, das auf die Tagesordnung
zu nehmen. Die Kollegin Wawzyniak, der Kollege
Wiefelspütz und der Kollege Wieland haben sich dem
gegenüber skeptisch gezeigt,


(Otto Fricke [FDP]: Ach nein!)


nicht – ich will die Kollegen jetzt gar nicht frontal an-
greifen – weil sie das nicht wollten, sondern weil leider
in relativ kurzer Zeit eine Fülle von Regelungen zu tref-
fen waren. Wir mussten uns um das allgemeine Wahl-
recht und um die Frage kümmern, wie im Ausland le-
bende Deutsche wählen dürfen. Deshalb wurde gesagt:





Dr. Stefan Ruppert


(A) (C)



(D)(B)


Wir warten die Studie ab; bis dahin wollen wir erst ein-
mal keine Regelung treffen.

Ich habe Herrn Grindel dann erneut gebeten, das
Thema auf die Tagesordnung zu setzen. Es kam zu ei-
nem Gespräch in der Sache, in dem von Ihren Fraktionen
auch zu den inhaltlichen Punkten erhebliche Skepsis ge-
äußert worden ist,


(Otto Fricke [FDP]: Das ist ja interessant!)


die ich in Teilen durchaus nachvollziehen kann. Sie
sagten, das liege Ihnen in der Sache doch nicht so nahe,
weil Sie die Differenzierung zwischen denjenigen, die
ihr Wahlrecht vielleicht gerade noch selbst ausüben kön-
nen, und denjenigen, für die das nicht gilt – gerade we-
gen der Frage, ob man wirklich eine Art Wahltaug-
lichkeitsprüfung einführen soll –, im Einzelfall sehr
schwierig finden.

Man kann also aus guten Gründen zu einer sachgerech-
ten Lösung mit einer stärkeren Nuancierung im Sinne des
geltenden Rechts kommen. Meine Kollegin Molitor und
ich sind jedoch eher zu der Auffassung gekommen, dass
wir im Betreuungsrecht zu einer gewissen Modifikation
kommen müssen. Dafür stehen wir auch ein.

In den vergangenen drei Jahren habe ich es allerdings
noch nicht erlebt, dass laufende Gespräche, obwohl die
eigene Fraktion skeptisch ist, torpediert werden – völlig
unabgesprochen –, weil man hier einen Gesetzentwurf
vorlegt. Ich glaube, hier ist die Anregung von Herrn
Grindel richtig: Sie müssen sich fragen lassen, ob Sie für
die Menschen in der Sache etwas erreichen wollten, ob
Sie eine graduelle Verbesserung dieser Situation errei-
chen wollten oder ob Sie in der bevorstehenden Aus-
einandersetzung vor der Bundestagswahl schlicht den
Organisationen auf ihre auch mich vielfach erreichenden
Briefe eine parteipolitisch in Ihrem Sinne befriedigende
Antwort geben wollten.

Ich glaube, mit der heutigen Initiative haben Sie dem
Betreuungsrecht sowie den Menschen mit Behinderung
und ihrer politischen Teilhabe keinen Gefallen getan. Ich
hoffe trotzdem, dass wir dieses Thema weiter auf der Ta-
gesordnung behalten, weil wir glauben, hier etwas än-
dern zu müssen.

Eine so billige parteipolitische Münze, wie Sie sie
heute gespielt haben,


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist doch jetzt schäbig! Das ist unverschämt!)


ist meiner Meinung nach in der Sache überhaupt nicht
angemessen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Setzen Sie sich! Unmöglich! – Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Das ist doch so!)


– Herr Kurth, ich verstehe, dass Menschen, die meinen,
von einer höheren moralischen Warte gegenüber einem

liberalen Verständnis zu argumentieren, immer den Ein-
druck haben, sie seien moralisch überlegen.


(Markus Kurth [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hätten Sie jetzt nicht nötig!)


Das kennzeichnet viele Ihrer parteipolitischen Äußerun-
gen – nicht Ihrer persönlichen, aber von Ihrer Partei.

Ich glaube, Sie haben den Menschen mit Behinderung
heute keinen Gefallen getan, weil Sie uns von einer
sachgerechten Lösung dieses Problems eher entfernt als
uns ihr näher gebracht haben. Sie können sich ja viel-
leicht einmal mit Ihren Kollegen darüber unterhalten,
wie sie sich uns gegenüber in den Gremiensitzungen
geäußert haben. Ich glaube, es gibt genügend Zeugen
– auch hier im Raum –,


(Reinhard Grindel [CDU/CSU]: So ist es!)


die meine Position bestätigen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721927400

Kollege Ilja Seifert hat seine Rede zu Protokoll ge-

geben.1)

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12068 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
dazu anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall.
Dann ist so beschlossen.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 17 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur innerstaatlichen Um-
setzung des Fiskalvertrags

– Drucksache 17/12058 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Haushalts-
ausschusses (8. Ausschuss)


– Drucksache 17/12222 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Johannes Kahrs
Otto Fricke
Dr. Gesine Lötzsch
Priska Hinz (Herborn)


Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.2) –
Sie sind damit einverstanden.

Wir kommen zur Abstimmung. Der Haushaltsaus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf

1) Anlage 12
2) Anlage 11





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Drucksache 17/12222, den Gesetzentwurf der Fraktio-
nen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache 17/12058
anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
wurf zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen von
CDU/CSU, FDP und Grünen gegen die Stimmen von
SPD und Linken angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit dem gleichen Mehrheitsverhältnis wie zuvor
angenommen. Ich rufe Tagesordnungspunkt 18 auf:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung personenstandsrechtlicher Vor-

(Personenstandsrechts-Änderungsgesetz-PStRÄndG)


– Drucksache 17/10489 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses (4. Ausschuss)


– Drucksache 17/12192 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Gabriele Fograscher
Manuel Höferlin
Ulla Jelpke
Dr. Konstantin von Notz

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-
nen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile Stefanie
Vogelsang für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Stefanie Vogelsang (CDU):
Rede ID: ID1721927500

Vielen Dank, Herr Präsident! – Meine Damen und

Herren! Es ist 21.40 Uhr, und wir beraten ein Gesetz mit
dem Namen „Gesetz zur Änderung personenstandsrecht-

(Personenstandsrechts-Änderungsgesetz)

sehr bürokratisch an. Es hört sich an, als ob es im täg-
lichen Leben und auch in den Moral- und Wertvorstel-
lungen von einzelnen Bürgern nur am Rande etwas zu
suchen hätte.

Seit 1937 gibt es das Personenstandsgesetz. 1957 ist
es reformiert worden. Im Jahre 2007 hat die Große Koali-
tion dieses Gesetz den Erfordernissen der neuen Welt,
der technischen Entwicklung und den elektronischen
Neuheiten angepasst. Jetzt, sechs Jahre später, gehen wir
mit diesem Personenstandsrechts-Änderungsgesetz an
die Punkte heran, bei denen man an der einen oder ande-
ren Stelle nachjustieren, etwas verbessern und einzelne
Lücken schließen muss. Im Großen und Ganzen passt

dieser Gesetzentwurf – wir haben ihn im Innenausschuss
beraten – das Personenstandsrecht, wie es seit 2007 gilt,
in Einzelheiten den Erfordernissen an. Aber dieser Ge-
setzentwurf enthält noch viel mehr.

Ich bin dem Kollegen Brandt und dem Kollegen Uhl
vom Innenausschuss äußerst dankbar, dass sie mich
heute Abend zu diesem Tagesordnungspunkt reden las-
sen. Ausgangspunkt für die Debatte war für mich eine
Petition, die von einem engagierten Ehepaar, das oben
auf der Tribüne Platz genommen hat, eingebracht wor-
den ist. Dieses Ehepaar hat viele Tausend Unterschriften
gesammelt und in den Deutschen Bundestag eine Petition
des Inhalts eingereicht, dass in Zukunft juristisch dieje-
nigen, die mit einem Gewicht von unter 500 Gramm lei-
der tot zur Welt kommen, als Menschen, als Personen
behandelt werden und nicht mehr als Sache oder gar als
Klinikmüll.


(Beifall im ganzen Hause)


Wir haben uns in den Ministerien als Abgeordnete
über die Parteigrenzen hinweg mit Bürokratismus ausei-
nandergesetzt. Wir haben diese Petition immer wieder zu
den Beamten in die entsprechenden Häuser geschickt
und gesagt: Nein, eure ablehnende Stellungnahme kön-
nen wir nicht akzeptieren.

Es geht hier nicht nur um bürokratische Vorschriften,
sondern es geht darum, Leben als Leben zu bezeichnen
und den Menschen, die ein Kind verloren haben, sei es
auch noch so klein und winzig, die Möglichkeit zu ge-
ben, dass dieses Kind offiziell zu ihrer Familie gehört,
dass sie offiziell um dieses Kind trauern dürfen, dass sie
dieses Kind bestatten dürfen, dass es im Kreißsaal des
Krankenhauses als Kind behandelt wird, dass die Kran-
kenhäuser mit diesem menschlichen Leben würdevoll
umgehen. Ich glaube, dass diese Regelung sehr wichtig
ist, auch wenn sie in der Debatte über das Personen-
standsrechts-Änderungsgesetz um 21.40 Uhr nur ver-
steckt als kleines statistisches Detail auftaucht.

Ich finde es erstaunlich, wie viele Menschen sich der
Petition angeschlossen haben. Ich finde es erstaunlich,
dass jetzt – diese Information habe ich gerade bekom-
men – über den Livestream des Bundestages etliche
Hundert, vielleicht sogar über tausend Menschen diese
Debatte verfolgen. Sie und auch die Menschen an den
Fernsehgeräten warten darauf, dass wir das, was in die-
sem Entwurf steht, zum Gesetz machen. Dann können
sie in Zukunft zu den Standesämtern gehen, um eine Be-
scheinigung zu bekommen, mit der – das ist der parla-
mentarischen Beratung über den Gesetzentwurf der
Regierung zu verdanken – das Leben eines Kindes fest-
gestellt wird, auch wenn es gestorben ist, eine Bescheini-
gung, in der nicht mehr von einer Fehlgeburt oder von
Leibesfrucht die Rede ist. Es geht auch darum, dem Kind
einen Namen zu geben und ein Gefühl der Zugehörigkeit
zur Familie entstehen zu lassen.

Ich bin denjenigen, die die Petition eingereicht haben,
ausgesprochen dankbar, genauso wie denjenigen – na-
mentlich Frau Fischbach und Ministerin Schröder –, die
diese Petition unterstützt haben. Ich freue mich darüber,
dass wir über diesen Gesetzentwurf noch im Detail
debattieren können. Ich freue mich vor allen Dingen da-





Stefanie Vogelsang


(A) (C)



(D)(B)


rauf, wenn dieser Gesetzentwurf in Kraft tritt und wir
dann sagen können: Wir haben etwas Gutes getan und
für menschliche Wärme gesorgt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721927600

Das Wort hat nun Gabriele Fograscher für die SPD-

Fraktion.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1721927700

Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!

Es geht bei diesem Gesetzentwurf, über den wir nun ab-
schließend beraten, um technische und redaktionelle Än-
derungen aufgrund der Evaluierung des 2007 in Kraft
getretenen Gesetzes. Diese Änderungen sind notwendig
und sinnvoll. Deshalb tragen wir als SPD-Fraktion sie
mit.

Neben diesen formalen und bürokratischen Änderun-
gen hat die heutige Novellierung des Personenstands-
rechts konkrete Auswirkungen auf das Leben von Bür-
gerinnen und Bürgern. Ich will drei Änderungen
gesondert hervorheben. Diese betreffen die weißen Kar-
teikarten, die Sternenkinder – von denen hat Frau
Vogelsang gerade gesprochen – und intersexuelle Men-
schen.

Der Umgang mit den weißen Karteikarten ist nach
langen Verhandlungen nun endlich geregelt. Auf diesen
Karteikarten sind Informationen über nichteheliche und
adoptierte Kinder der Geburtsjahrgänge 1970 bis 2009
gesammelt. Wichtig ist, dass die Nachlassgerichte von
nichtehelichen und einzeladoptierten Kindern eines Ver-
storbenen Kenntnis erhalten. Die Länder hatten vorge-
schlagen, diese Karten an die Bundesnotarkammer zu
überführen. Diese sollte dann eine entsprechende Datei
einrichten und die Nachlassgerichte unterrichten. Diesen
Vorschlag hat die Bundesregierung abgelehnt, obwohl
die Gefahr bestand, dass aufgrund fehlender Informatio-
nen falsche Erbscheine ausgestellt würden. Auch auf
unsere Kleine Anfrage haben wir nur hinhaltende Ant-
worten erhalten. Umso erfreulicher ist es, dass die Bun-
desregierung sich nun mit den Bundesländern geeinigt
hat. Nun sollen die weißen Karteikarten an die Bundes-
notarkammer übermittelt und dort verwaltet werden. Die
dafür anfallenden Kosten haben die Länder zu tragen.
Die laufenden Betriebskosten übernimmt der Bund.

Wir hätten uns zwar auch eine personenstandsrechtli-
che Lösung vorstellen können. Aber das Entscheidende
für uns ist, dass diese Informationen nicht verloren ge-
hen und Schutz im Erbrecht garantiert wird. Ich freue
mich, dass die Bundesregierung sich hier im Interesse
der Betroffenen bewegt hat.


(Beifall des Abg. Rainer Erdel [FDP])


Die Eintragung von sogenannten Sternenkindern war
ein großes Anliegen vieler Eltern. Deshalb wurde damit
auch der Petitionsausschuss des Deutschen Bundestages
befasst. Der Eingabe lagen 8 428 Mitzeichnungen, meh-

rere sachgleiche Petitionen, über 11 000 eingereichte
Unterschriften sowie 19 484 Onlineunterschriften zu-
grunde, eine beachtliche Zahl an Menschen, die dieses
Thema bewegt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir begrüßen es ausdrücklich, dass die sogenannten
Sternenkinder, also Kinder, die mit einem Gewicht von
weniger als 500 Gramm tot zur Welt kommen, nun end-
lich personenstandsrechtlich registriert werden können.
Es ist auch gut, dass auf der Bescheinigung für die Eltern
von Sternenkindern nicht mehr solche Worte wie „Lei-
besfrucht“ oder „Fehlgeburt“ auftauchen. Für die betrof-
fenen Eltern war es nämlich keine Leibesfrucht, sondern
ihr Kind. Deshalb ist es richtig, dass nun in der Beschei-
nigung „Kind“ steht.


(Beifall im ganzen Hause)


Für uns als SPD-Bundestagsfraktion ist es wichtig,
dass die Eintragung von Sternenkindern nicht erst ab In-
krafttreten des Gesetzes möglich ist, sondern auch rück-
wirkend gilt.


(Beifall der Abg. Kirsten Lühmann [SPD] und Stefanie Vogelsang [CDU/CSU])


Uns wurde vom Bundesinnenministerium versichert,
dass geprüft wurde, dass die nun vorgesehene rechtliche
Regelung eine rückwirkende Eintragung ermöglicht. Wir
hoffen, dass das Bundesinnenministerium diese Ansicht
auch gegenüber den Behörden vertritt.

Die Gesetzesänderung zeigt, dass Petitionen von Bür-
gerinnen und Bürgern erfolgreich sein können. Ich
danke allen, die ihr Anliegen auf diesem Weg an uns he-
rangetragen haben.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und der FDP)


Im ursprünglichen Entwurf zum Personenstandsrecht
war kein Wort zu der Situation intersexueller Menschen
zu finden, und das, obwohl der Deutsche Ethikrat in sei-
ner Stellungnahme eine Lösung angemahnt hat. Außer
Verzögerungen durch Hinweise auf die Komplexität des
Problems und auf das fortgeschrittene Gesetzgebungs-
verfahren war weder bei der Bundesregierung noch bei
den Koalitionsfraktionen eine Bereitschaft zu erkennen,
sich bei diesem Thema zu bewegen. Umso mehr freut es
meine Fraktion und mich, dass die Koalitionsfraktionen
offenbar meine Ausführungen in der ersten Lesung auf-
merksam gelesen, sie sich zu Herzen genommen und
sich mit dem Thema befasst haben. Wir begrüßen es des-
halb ausdrücklich, dass die Koalitionsfraktionen nun ei-
nen Änderungsantrag vorgelegt haben, in dem es heißt:


(3) Kann das Kind weder dem weiblichen noch dem

männlichen Geschlecht zugeordnet werden, so ist
der Personenstandsfall ohne eine solche Angabe in
das Geburtenregister einzutragen.

Diese Regelung hatte die Direktorin des Deutschen
Instituts für Menschenrechte in einem Fachgespräch des
Ausschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


im Oktober letzten Jahres als Minimallösung bezeichnet.
Es ist trotzdem gut und richtig, dass es hier nun eine
neue Regelung gibt. Ich hoffe, dass wir diese Lösung für
Intersexuelle zum Anlass nehmen, endlich auch etwas
für Transsexuelle zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Es liegen zahlreiche Urteile des Bundesverfassungsge-
richts vor, die das Transsexuellengesetz von 1980 in
weiten Teilen als verfassungswidrig einstufen. Dieses
Gesetz entspricht auch nicht mehr dem heutigen Stand
der Wissenschaft. Auch hier bestünde akuter Handlungs-
bedarf.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Alles in allem halten wir dieses Gesetz für richtig, vor
allem durch die Ergänzungen aufgrund des Änderungs-
antrags, der im Innenausschuss vorgelegt wurde. Wir
werden dem Gesetzentwurf in der veränderten Form zu-
stimmen.

Danke sehr.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721927800

Das Wort hat nun Manuel Höferlin für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1721927900

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren! Das Personenstandsrecht ist sonst eher eine
trockene Materie. Heute ändern wir einige ganz wesent-
liche Punkte im Gesetz. Lassen Sie mich kurz einige
vorstellen.

Ein zentraler Punkt – das ist schon gesagt worden;
deswegen fasse ich mich, obwohl das sehr wichtig ist, et-
was kürzer – ist der Umgang mit den Sternenkindern. Es
kommt immer wieder vor, dass Kinder geboren werden,
die noch nicht 500 Gramm wiegen. Das ist eine große
Tragödie für Eltern und Geschwister, die zum Teil schon
eine persönliche Bindung zu dem ungeborenen Kind
aufgebaut und ihm einen Namen gegeben haben. Das ist
auch ein Problem im aktuellen Personenstandsrecht.
Denn bisher wurden die Kinder nicht erfasst; für den
Staat haben diese Kinder rechtlich quasi nicht existiert.
In der Vergangenheit war die Konsequenz daraus
manchmal, dass diesen Kindern eine Bestattung verwei-
gert wurde. Das, liebe Kolleginnen und Kollegen – da
sind wir uns alle einig –, ist nicht hinnehmbar.


(Beifall im ganzen Hause)


Eltern müssen ein Recht auf Anerkennung ihrer
Elternschaft haben. Sie müssen das Recht bekommen,
angemessen um ihr Kind zu trauern. Sie müssen die
Möglichkeit haben, seiner anständig gedenken zu kön-

nen. Die Petition einer Familie aus Hessen – sie sitzt auf
der Besuchertribüne – hat viel bewegt. Ich bin froh da-
rüber, dass wir jetzt die Möglichkeit schaffen, dass sich
künftig Eltern unabhängig vom Gewicht ihres Kindes
ihre Elternschaft anerkennen lassen können.


(Beifall im ganzen Hause)


Es gibt auch noch andere Änderungen im Personen-
standsrecht. Wir haben zum Beispiel gesetzlich geregelt,
dass, wenn bei der Geburt eines Kindes das Geschlecht
nicht eindeutig festgestellt werden kann, künftig der Ein-
trag im Personenstandsregister offengelassen werden
kann, ohne Frist. In Deutschland kommen Menschen zur
Welt, die biologisch nicht eindeutig einem Geschlecht
zugeordnet werden können. Die Festlegung auf ein Ge-
schlecht ist für die Betroffenen oftmals unpassend und
sehr problematisch; denn wenn sich dieses später als das
„falsche“ Geschlecht für sie herausstellt, ist das in der
Folge ein großes Problem. Das hat auch der Deutsche
Ethikrat in seiner Stellungnahme erkannt.

Liebe Frau Fograscher, glauben Sie mir: Wir haben
das schon vor der ersten Lesung auf dem Schirm gehabt
und auch bereits besprochen. Aber ich glaube, es ist rich-
tig, dass man Dinge, auf die man sich noch nicht geei-
nigt hat, hier noch nicht groß diskutiert. Die FDP hat
sich eingebracht, weil wir wollten, dass das im Gesetz
steht. Ich glaube, es ist für die Intersexuellen eine Ver-
besserung, wenn der Eintrag offenbleibt. Das ist sachge-
recht und praxisnah. Damit wird das Leben für die Inter-
sexuellen ein Stück leichter.


(Beifall bei der FDP, der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Koalition hat noch weitere Verbesserungen in das
Gesetz eingebracht. Dazu gehört die Möglichkeit,
Todesfälle im Ausland von den Auslandsvertretungen
beurkunden zu lassen. Viele Deutsche halten sich im
Ausland auf. Sie gehen als Entwicklungshelfer, als Kata-
strophenschützer, als Freiwillige im Entwicklungsdienst
ins Ausland. Sie dienen als Bundeswehrsoldaten oder als
Polizisten. Sie berichten als Korrespondenten aus Kri-
sengebieten, oder sie machen schlicht Urlaub. Dabei
kommt es leider immer wieder zu tragischen Todesfällen –
durch einen Sprengsatz, einen bewaffneten Raubüber-
fall, einen Verkehrs- oder einen Badeunfall.

Die Hinterbliebenen stehen vor großen Problemen.
Sie haben nicht nur einen schmerzhaften persönlichen
Verlust erlitten, sondern sie müssen sich zusätzlich noch
darum kümmern, dass ihre Angehörigen nach Deutsch-
land zurückkommen. Zudem entsteht für sie derzeit noch
der Aufwand, dass sie bei ihrem örtlichen Standesamt
die Sterbeurkunde des Angehörigen ausfertigen lassen
müssen. Dass Menschen in einer solch schwierigen Si-
tuation auch noch mit bürokratischem Ärger behelligt
werden oder Probleme bekommen, weil wichtige Doku-
mente fehlen, kann nicht länger hingenommen werden.
Daher passen wir im neuen Personenstandsgesetz auch
in diesem Fall die Verwaltungsarbeit an die Realität an.
Zukünftig können Auslandsbehörden die Ausstellung
der Sterbeurkunde in Auftrag geben und die Angehöri-





Manuel Höferlin


(A) (C)



(D)(B)


gen so entlasten. Ich glaube, das ist eine klare Verbesse-
rung der Rechtslage.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Eine weitere Änderung im Gesetz sorgt dafür, dass
zukünftig die zusätzliche Angabe des Geschlechts in
personenstandsrechtlichen Urkunden, wie beispiels-
weise Eheurkunden, erforderlich wird. Dies, sehr ge-
ehrte Frau Kollegin Fograscher, ist sehr wohl auch für
Transsexuelle hilfreich; denn wenn ihr rechtliches Ge-
schlecht erfasst wird, ist das unter Umständen für sie ein
Vorteil. Gleichzeitig stärken wir den Offenbarungsschutz
für Transsexuelle, indem ihr früheres Geschlecht nicht
offenbart wird.

Ich gebe zu: Das ist lediglich ein erster Schritt, aber
für die Transsexuellen ist es ein wichtiger Schritt. Wir
wünschen uns, dass da noch mehr folgt.

Darüber hinaus werden wir noch eine Reihe techni-
scher Anpassungen im Gesetz vornehmen, um das Per-
sonenstandswesen zeitgemäßer, moderner zu machen
und es an die Lebensrealitäten der Bürgerinnen und Bür-
ger anzupassen.

Insgesamt kann man sagen: Das Gesetz ist ein gutes
Gesetz für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
Wir stärken die Rechtspositionen, die Entscheidungsfrei-
heit und den Schutz ihrer Privatsphäre. Ich freue mich
ausgesprochen über die breite – nicht ganz uneinge-
schränkte – Zustimmung


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Abwarten!)


zum Personenstandsrechts-Änderungsgesetz. Aber ich
gebe die Hoffnung noch nicht auf, dass auch der Rest
des Hauses dem Gesetzentwurf am Ende zustimmen
wird.

Vielen herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall im ganzen Hause)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721928000

Das Wort hat nun Ulla Jelpke für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721928100

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Linke

wird diesem Gesetzentwurf zustimmen,


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


auch wenn ich ein paar Kritikpunkte habe, Herr Kollege
Höferlin.

Der vorliegende Gesetzentwurf hat sich zur Aufgabe
gemacht, Schlussfolgerungen aus den praktischen Erfah-
rungen zu ziehen. In letzter Minute hat der Innenaus-
schuss noch eine Änderung am ursprünglichen Gesetz-
entwurf der Regierung vorgenommen. Darauf gehe ich
gleich ein.

Auch die Linke hat sich dafür eingesetzt, dass die
Möglichkeit besteht, dass Eltern von totgeborenen Kin-
dern bzw. Sternenkindern diese im Personenstandsregis-
ter eintragen lassen können. Das ist für uns seit langem
eine Selbstverständlichkeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Nachdem die Koalitionsfraktionen noch einen Ände-
rungsantrag eingebracht haben, wonach ein neugebore-
nes Kind ohne eindeutige Geschlechtszugehörigkeit nun
auch ohne Geschlechtsangabe in das Geburtenregister
eingetragen werden kann, meinen wir, dass das in der Tat
den Druck von den Eltern nimmt, schon bald nach der
Geburt geschlechtsangleichende Operationen an ihrem
Kind vornehmen zu lassen. Wir wissen, dass das Kind
dies in der Regel nur selbst entscheiden kann, wenn es
erwachsen ist. Wir wissen, dass gerade solche Kinder
sehr depressiv sind. Es gibt überdurchschnittlich viele
Selbstmorde und Ähnliches.

Ich will hier etwas ganz deutlich sagen; das ist näm-
lich nicht ganz richtig wiedergegeben worden. Der Deut-
sche Ethikrat hat vor einem Jahr eine Stellungnahme
zum Thema Intersexualität abgegeben, auf die sich nun
die Koalition mit ihrem Vorschlag beruft. Allerdings hat
der Ethikrat sehr viel weiter gehende Forderungen auf-
gestellt, die sich im vorliegenden Gesetzentwurf leider
nicht wiederfinden.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Schade! Chance vertan!)


Die Möglichkeit, in der Kategorie „Geschlecht“ ne-
ben „männlich“ oder „weiblich“ eine neue Kategorie,
nämlich „anderes“, einzuführen, die es übrigens in eini-
gen Ländern gibt – Australien, Belgien usw. –, ist leider
nicht aufgegriffen worden.


(Manuel Höferlin [FDP]: Das ist richtig so!)


– Das geht meines Erachtens sehr wohl. Das Entschei-
dende ist, Herr Kollege: Im Grunde genommen ist die
jetzige Lösung halbherzig; denn die Eltern und die Be-
troffenen werden durch eine Nichteintragung immer
wieder in Erklärungsnöte gebracht. Wenn sie auf irgend-
einer Behörde sind, werden sie gefragt: Warum steht da
nicht „männlich“ oder „weiblich“? Was sind Sie eigent-
lich?

Meine Kollegin Gabriele Fograscher hat hier bereits
erwähnt, dass für transsexuelle Menschen im vorliegen-
den Gesetz keine Lösungen gefunden wurden. Es gibt
sehr hohe Hürden, insbesondere im Transsexuellen-
gesetz. Wir finden es sehr problematisch, dass Betrof-
fene beispielsweise ihre Vornamen immer noch nicht ei-
genständig verändern können; sie können da nicht
einfach zur Behörde gehen. Sie müssen immer noch
zwingend psychiatrische Begutachtungen über sich erge-
hen lassen, die übrigens – das nur ganz nebenbei – teuer
sind, wenn sie eine Änderung ihres Vornamens vorneh-
men wollen. Deswegen fordern wir hier ganz klar unbü-
rokratische Herangehensweisen, sodass diejenigen, die
ihren Vornamen ändern wollen, ihn auch ändern können,
wenn sie sich dem anderen Geschlecht zugehörig fühlen.





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


Insofern stimmen wir zwar zu, aber melden noch eini-
gen Nachbesserungsbedarf an; Nachbesserungen werden
wir weiterhin fordern.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721928200

Nun hat Konstantin von Notz das Wort.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir
freuen uns, verehrte Kolleginnen und Kollegen der
Koalition, nach der kontroversen Debatte, die dieser
Debatte vorausgegangen ist, zur Abwechslung auch ein-
mal gemeinsam mit Ihnen ein Gesetz verabschieden zu
können.

Dieser Gesetzentwurf, den wir hier heute diskutieren,
umfasst vor allem klarstellende und redaktionelle Ände-
rungen, die wir allesamt mittragen. Besonders hervorzu-
heben ist die neu geschaffene Möglichkeit der Anzeige
jeder Fehlgeburt gegenüber dem Standesamt und die Er-
langung einer amtlichen Bescheinigung hierüber; viele
haben es hier schon angesprochen. Das ist ein richtiger
und wichtiger Schritt; das hat auch die erfolgreiche Peti-
tion zu diesem Thema gezeigt. Auch ich danke Ihnen im
Namen meiner Fraktion für Ihr Engagement in dieser
Sache, liebe Vertreterinnen und Vertreter des Sternenkin-
der e. V.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Die wesentliche Reform des Personenstandswesens
erfolgte in der letzten Legislaturperiode. Die schwarz-
rote Koalition war in der glücklichen Lage, im Wesentli-
chen auf die gute Vorarbeit der rot-grünen Koalition zu
diesem komplexen Thema zurückgreifen zu können.


(Manuel Höferlin [FDP]: Heiterkeit bei der FDP-Fraktion!)


Im Ergebnis wurden insbesondere die Beurkundung
in elektronischen Personenstandsregistern und der stan-
dardisierte elektronische Informationsaustausch zwi-
schen den Standesämtern gesetzlich geregelt. Bei der
Umsetzung wurden eine fünfjährige Übergangsperiode
und die Evaluierung der Erfahrungen durch eine Bund-
Länder-Arbeitsgruppe vereinbart. Die Ergebnisse dieser
Evaluierung liegen im Wesentlichen der vorgelegten Ini-
tiative zugrunde.

Bedauerlich war – das kann man an dieser Stelle ru-
hig noch einmal sagen –, dass die Bundesregierung im
Rahmen dieser Reform ursprünglich keine Bereitschaft
zeigte, auf die auch vom Bundesrat unter Bezugnahme
auf die Stellungnahme des Deutschen Ethikrates angera-
tene Berücksichtigung von Intersexuellen einzugehen.
Meine Fraktion und ich haben dazu in einem eigenen
Antrag und in Übereinstimmung mit dem Ethikrat eine
eigene Berücksichtigung Intersexueller im Personen-
standsrecht eingefordert bzw. eine Überprüfung der Not-
wendigkeit der Eintragung bzw. Ausdifferenzierung des

Geschlechts. Umso mehr freut es uns heute, dass jetzt im
nochmals überarbeiteten Antrag der Koalitionsfraktio-
nen eine Änderung des § 22 Personenstandsgesetz vor-
geschlagen wird, wonach bei Geburt eines intersexuellen
Kindes der Personenstandsfall ohne Angabe zum Ge-
schlecht in das Geburtenregister einzutragen ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Damit setzt die Koalition auch unsere Forderung um, das
Personenstandsrecht so zu ändern, dass ein Eintrag des
Geschlechts in der Geburtsurkunde auch der Existenz
von intersexuellen Menschen angemessen Rechnung
trägt.

Ebenfalls begrüßenswert ist – der Kollege Höferlin
hat es angesprochen – die nunmehr veranlasste Ände-
rung bezüglich transsexueller Menschen. Die Koalition
hat endlich eingesehen, dass nach der Ermöglichung
gleichgeschlechtlicher Ehen im Rahmen des Transsexu-
ellenrechts von 2009 das Geschlecht der Ehegatten bzw.
Lebenspartnerinnen und Lebenspartner nicht selbstver-
ständlich ist und im Ehe- bzw. Lebenspartnerschafts-
register deshalb gesondert ausgewiesen werden sollte.
Gleichzeitig wird mit der beabsichtigten Regelung der
bisher nur für Geburtsurkunden bestehende Offen-
barungsschutz auch auf die Erteilung von Ehe- und
Lebenspartnerschaftsurkunden erweitert.


(Manuel Höferlin [FDP]: So ist es!)


Das Personenstandswesen wird in dem Maße im Um-
bruch bleiben, wie der gesellschaftliche Wandel Verän-
derungen von Ehe, Familie oder auch individuellen
Identitäten nach sich zieht. Gerade bei der von uns maß-
geblich erstrittenen Lebenspartnerschaft werden wir
weiter darauf hinwirken, dass die Gleichbehandlung
auch im Rahmen des Personenstandsrechts umgesetzt
wird und gewahrt bleibt. Gleichzeitig werden wir im
Sinne des Datenschutzes aufmerksam darauf achten,
dass im Personenstandsrecht die Einhaltung des Erfor-
derlichkeitsgrundsatzes und die Beschränkung der Erfas-
sung von personenbezogenen Daten auf das zur
Zweckerreichung unbedingt Erforderliche von ganz zen-
traler Bedeutung bleibt.

Ganz herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721928300

Letzter Redner in der Debatte ist Peter Tauber für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Peter Tauber (CDU):
Rede ID: ID1721928400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Auch wenn ein Fraktionskollege mich dankenswerter-
weise darauf hingewiesen hat, dass ich als letzter Redner
rechtlich nicht verpflichtet bin, meine Redezeit voll aus-
zuschöpfen,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Jawohl! So ist es! – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Guter Hinweis!)


möchte ich doch zu zwei oder drei Dingen etwas sagen.





Dr. Peter Tauber


(A) (C)



(D)(B)


Zunächst möchte ich sagen, dass ich mich sehr freue.
Ich freue mich, dass wir heute das Gesetz zur Änderung
personenstandsrechtlicher Vorschriften verabschieden.
Der Name des Gesetzes lässt auf eine sehr technische
Änderung schließen. An vielen Stellen dieses Gesetzes
ist das auch so. Mit dem Gesetzentwurf wird das am
1. Januar 2009 in Kraft getretene neue Personenstands-
recht punktuell verbessert, mit klarstellenden Änderun-
gen versehen und an die Anforderungen eines modernen
Beurkundungswesens angepasst. Das ist ein Grund, sich
richtig zu freuen. – Na ja, vielleicht nicht so ganz.

Ich freue mich zunächst einmal, dass wir dieses Ge-
setz heute offensichtlich einstimmig beschließen wer-
den.


(Gabriele Fograscher [SPD]: Das kommt vor!)


Darüber kann man sich gemeinsam freuen. Ich freue
mich auch – man soll sich nicht selber loben; aber es
spricht ja nichts dagegen, dass ich einmal alle anderen
Kolleginnen und Kollegen, die daran mitgearbeitet
haben, lobe –, dass an ganz vielen Stellen – ich bin Mit-
glied im Familienausschuss – mit ganz viel Engagement
und auch fraktionsübergreifend an zwei, drei Stellen
gearbeitet wurde. Die Kollegin Vogelsang, die vor mir
gesprochen hat, kann man an dieser Stelle, glaube ich,
ganz besonders erwähnen, weil sie sich sehr engagiert
hat, bei dem Thema Sternenkinder sogar so sehr, dass
sich die österreichischen Kolleginnen und Kollegen das
inzwischen zum Vorbild genommen haben und jetzt
überlegen, ein ähnliches Gesetz auf den Weg zu bringen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich persönlich freue mich über einen anderen Punkt
ein bisschen intensiver. Ich habe für meine Fraktion im
November 2011 hier zum allerersten Male in einer De-
batte sprechen dürfen, die sich mit dem Thema Interse-
xualität beschäftigt hat. Das war das allererste Mal, dass
der Deutsche Bundestag überhaupt über dieses Thema
diskutiert hat. Ganz ehrlich: Wenn man mit Besucher-
gruppen aus dem Wahlkreis, vielleicht auch mit dem ei-
nen oder anderen Kollegen darüber gesprochen hat, dann
hat man zumindest in fragende Augen geschaut: Interse-
xualität, was ist das? Wir haben damals den Ethikrat
beauftragt, uns eine Stellungnahme an die Hand zu ge-
ben, die uns helfen soll, uns den Herausforderungen und
Problemen, denen intersexuelle Menschen in unserer
Gesellschaft gegenüberstehen, zu nähern und sie zu ver-
stehen. Wie sehr wir an diesem Thema noch arbeiten
müssen, erkennt man auch an der Ungenauigkeit der
Zahlen – ich habe es schon in meiner letzten Rede er-
wähnt –: Jedes Jahr werden zwischen 150 und 340 Kin-
der geboren, die in die Kategorie „intersexuell“ fallen. In
einem Land, in dem wir die Statistik perfektioniert ha-
ben, ist eine solche Bandbreite, wie ich finde, atembe-
raubend. Das zeigt eben, dass wir über dieses Thema
noch nicht wirklich viel wissen, dass wir uns dem
Thema auch hier im Parlament erst nähern.

Es mag deswegen richtig sein, dass wir nicht alles,
was uns der Ethikrat vorschlägt, heute beschließen; das

können wir auch gar nicht, weil die Vorschläge ganz
viele Politikfelder betreffen, nicht nur das Personen-
standsrecht. Die Kollegen im Gesundheitsausschuss sind
aufgerufen, sich damit zu befassen. Die Kollegen im Fa-
milienausschuss werden über das Thema reden müssen.
Wir müssen schauen, ob wir uns mit dem Geld, das wir
in den Haushalt eingestellt haben, noch einmal fachlich
und wissenschaftlich beraten lassen können, um zu se-
hen, was da in den nächsten Jahren noch getan werden
kann.

Das Thema ist nicht nur zum ersten Mal im Deut-
schen Bundestag diskutiert worden; wir haben nun auch
– das ist das Schöne; ich freue mich darüber – ein Ergeb-
nis:


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Künftig wird es nicht mehr notwendig sein, dass sich die
Eltern von intersexuellen Kindern gegenüber dem Stan-
desamt auf ein Geschlecht festlegen. Vielmehr kann
diese Kategorie offenbleiben, bis eine Entscheidung
getroffen werden kann: Entweder entscheidet sich ein
betroffener Mensch für das eine bzw. das andere Ge-
schlecht – das tun viele intersexuelle Menschen –, oder
er entscheidet sich für den Lebensentwurf, zu sagen:
Nein, ich bin nun einmal intersexuell. – Auch das bildet
das neue Personenstandsrecht ab. Mein Dank gilt hier
dem Staatssekretär im Innenministerium, dem Kollegen
Schröder, der sich ebenfalls dafür eingesetzt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Von denjenigen, die dieser Debatte, ob aus Schlaf-
losigkeit oder aus großem Interesse, zu später Stunde
folgen, wird sich der eine oder andere immer noch die
Frage stellen: Was sind denn intersexuelle Menschen?
Intersexuelle Menschen sind Menschen, die nicht in das
medizinische und rechtliche Konstrukt zweier abgrenz-
barer Geschlechter passen, die also weder klar männlich
noch klar weiblich sind. Gerade weil diese Menschen
unseren gängigen Normen und Geschlechterkategorien
nicht entsprechen und wir sie ihnen auch nicht zuordnen
können, kann sich jeder vorstellen, welchen Herausfor-
derungen sich diese Menschen und vor allem auch die
Eltern von intersexuellen Kindern gegenübersehen.

Ich glaube, wir tun gut daran, heute einen wichtigen
Schritt zu gehen und diesen Menschen, auch wenn sie
eine ganz kleine Gruppe bilden, zu signalisieren: Wir ha-
ben verstanden, dass wir uns um sie kümmern müssen.
Wir müssen ihnen aber auch sagen: Wir werden uns jetzt
nicht zurücklehnen; das Thema ist damit nicht erledigt.
Es gibt ganz viele Stellen, an denen wir das Thema in
den unterschiedlichen Fachausschüssen weiter begleiten
werden. Ich freue mich darauf, dass wir das im Familien-
ausschuss tun, und ich freue mich über das Gesetz, das
wir heute verabschieden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721928500

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-
desregierung eingebrachten Gesetzentwurf zur Ände-
rung personenstandsrechtlicher Vorschriften. Der Innen-
ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12192, den Gesetzentwurf der Bundes-
regierung auf Drucksache 17/10489 in der Ausschuss-
fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter
Beratung einstimmig angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie der Abg. Manuel Höferlin [FDP] und Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Tagesordnungspunkt 19:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Dr. Sascha Raabe, Wolfgang
Tiefensee, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Transparenz in den Zahlungsflüssen im Roh-
stoffbereich und keine Nutzung von Konflikt-
mineralien

– Drucksache 17/11876 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)
Auswärtiger Ausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1721928600

Hier liegt uns ein grundsätzlich gut gemeinter An-

trag der SPD-Fraktion vor. Ich befürchte nur, gut ge-
meint ist nicht gut gemacht. Das Bemühen um mehr
Transparenz und die Sanktionierung von Konfliktmine-
ralien sind prinzipiell zu begrüßen. Aber setzen wir da-
bei auf die richtigen und verhältnismäßigen Instru-
mente? Oder sind Forderungen aus dem vorliegenden
Antrag bereits erfüllt?

So setzt sich die Bundesregierung bereits im Rah-
men der G 8 und G 20 für eine breite internationale
Unterstützung für EITI ein und ermuntert Unterneh-
men, sich an dieser freiwilligen Initiative zu beteiligen.
Diese Schwerpunkte sind auch bereits in der Roh-
stoffstrategie der Bundesregierung vom Herbst 2010
festgelegt.

Der Antrag nennt die Entwicklungen in den USA,
insbesondere einige Aspekte des Dodd-Frank Act, als
positives Beispiel für Bemühungen um mehr Transpa-
renz. Allerdings ist die Situation in den USA nicht so
eindeutig, wie im Antrag aufgeführt. Die Ausführungs-
bestimmungen der US-Börsenaufsicht ESC für Jahres-
abschlüsse im Sinne des Dodd-Frank Act werden
gerade juristisch angefochten; der entsprechende
Rechtsstreit dauert noch an. Außerdem ist in den Aus-
führungsbestimmungen der US-Börsenaufsicht, entge-
gen der Darstellung im Antrag, nicht festgelegt, wie
ein Projekt definiert wird. Da gibt es unterschiedliche
Ansichten. Sie hat vielmehr verschiedene Projektdefi-
nitionen dargestellt und manche ausgeschlossen. Vor
einer Eins-zu-eins-Übernahme sollten wir eine Eva-
luation des Dodd-Frank Act abwarten. Dazu sind Stu-
dien in Arbeit.

Möglicherweise meiden Bergbauunternehmen künf-
tig Konfliktregionen aus Sorge vor möglichen Sanktio-
nen oder Rechtsunsicherheit generell. Dies könnte den
existierenden, legalen Bergbau gefährden und krimi-
nellen Marktakteuren Vorteile verschaffen sowie für
weitere politische Instabilität sorgen. Weiterhin sind
Wettbewerbsnachteile und zusätzliche Bürokratiekos-
ten für deutsche und europäische Unternehmen zu be-
fürchten. Nachteile, die andere internationale Akteure
nicht haben und die unsere Unternehmen in Entwick-
lungsländern verdrängen.

Leider geht der Antrag nicht auf das Instrument der
Rohstoffpartnerschaften ein. Rohstoffpartnerschaften
sind ein zentrales Instrument der deutschen Rohstoff-
politik. Sie dienen einerseits der Rohstoffversorgung
der deutschen Wirtschaft, aber andererseits auch des
Technologie- und Know-how-Transfers in die Partner-
länder. Dies betrifft auch die Etablierung von Umwelt-
und Sozialstandards sowie die Implementierung von
Transparenz- und Antikorruptionsregeln. Deutschland
fördert bereits, auch im Rahmen der wirtschaftlichen
Entwicklungszusammenarbeit, die Etablierung von
Good-Governance-Standards.

Beispielhaft für das Engagement Deutschlands im
Bereich der Rohstoffpartnerschaft ist die Zusammen-
arbeit mit der Mongolei. Dort kooperieren im Rahmen
der Integrated Mineral Ressource Initiative, IMRI,
deutsche Durchführungsorganisationen eng mit der in-
ternationalen, deutschen und lokalen Privatwirtschaft.
Mit diesen Partnerschaften ist sicher mehr für Trans-
parenz und gute Regierungsförderung zu erreichen als
mit Schaufensteranträgen oder der Denunziation der
Rohstoffpartnerschaften als neokoloniale Ausbeu-
tungsregime.

Die Bundesanstalt für Geowissenschaften und Roh-
stoffe, BGR, führt bereits ein G-8-Pilotprojekt zur Zer-
tifizierung von Handelsketten für mineralische Roh-
stoffe in Ruanda und der Demokratischen Republik
Kongo, DRC, durch. Weiterhin wurde ein belastbares,
standardisiertes Verfahren für den Herkunftsnachweis
von Coltan und ein Konzept für dessen umfassende in-
ternationale Verankerung entwickelt. Beide Verfahren





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


tragen nun zum Aufbau eines Zertifizierungssystems in
der Region der Großen Seen in Afrika bei. Deutsch-
land unterstützt diese Maßnahmen im Rahmen der
wirtschaftlichen Zusammenarbeit.

Deutschland setzt sich also bereits aktiv für mehr
Transparenz auf den internationalen Rohstoffmärkten
ein. Mit der Rohstoffpartnerschaft haben wir bereits
ein positives Model für Entwicklungsländer entwickelt,
welches Unterstützung verdient. Weiterer Anträge zu
diesem Thema bedarf es nicht.


Erich G. Fritz (CDU):
Rede ID: ID1721928700

Sowohl in Bezug auf Zahlungsströme als auch auf

die Anforderungen zur Nutzung von Mineralien aus
Konfliktregionen unterstütze ich international abge-
stimmte Forderungen nach Transparenz im Rohstoff-
bereich. Viele weltweit tätige deutsche Unternehmen
orientieren sich seit geraumer Zeit mit Erfolg an den
OECD-Leitsätzen für multinationale Unternehmen,
mit denen Standards für unternehmerisches Handeln
unter anderem im Hinblick auf Menschenrechte, Um-
welt und Korruptionsbekämpfung gesetzt wurden.
Auch die freiwilligen Verhaltensleitlinien des Global
Compact der Vereinten Nationen stoßen bei der heimi-
schen Industrie auf großen Anklang. Wieso ist das der
Fall?

Wir haben einerseits das Angebot, das sich im Roh-
stoffsektor bisher nicht immer auf eindeutige Her-
kunftskonturen zurückführen ließ. Auf der anderen
Seite besteht eine große Nachfrage nach Rohstoffen
aus ordnungsgemäßer Herkunft, sowohl unter Men-
schenrechts-, Umwelt- als auch Korruptionsgesichts-
punkten. Insofern erhöht sich auch der Druck auf Zwi-
schenhändler, die nun bemüht sind, eben solche
nachhaltigen Produkte zu liefern. Ein Angebotsüber-
schuss an Konfliktmineralien ist demnach schlecht für
den Verkauf; ein Nachfrageüberschuss an nachhalti-
gen Produkten ist schlecht für den Anbieter.

Aufgrund dieser simplen Ökonomie bin ich der Mei-
nung, dass hier marktwirtschaftliche Gesetze positiv
wirken und die richtigen Leitplanken gesetzt werden
können. Anders als im vorliegenden SPD-Antrag argu-
mentationslos beschrieben, denke ich, dass freiwillige
Maßnahmen ausreichen können. Was macht mich da
so sicher?

In Ihrem Antrag, sehr geehrte Damen und Herren
der SPD, erwähnen Sie Art. 1502 des geplanten ameri-
kanischen Dodd-Frank Wall Street Reform and Consu-
mer Protection Act, kurz Dodd-Frank Act. Demnach
sollen Unternehmen erstmalig 2014 für das vorange-
gangene Kalenderjahr dokumentieren, ob in ihren
Produkten Rohstoffe enthalten sind, die aus der Demo-
kratischen Republik Kongo und angrenzenden Ge-
bieten gewonnen wurden, und Auskunft über ihre
Herkunft geben. Als Rohstoffe werden hier die soge-
nannten 3TG geführt, die in diversen Projekten geför-
dert werden: Tantal, Wolfram – englisch Tungsten –,
Zinn – englisch Tin – und Gold. Bereits jetzt wirkt sich
das Gesetz auch auf deutsche Unternehmen aus, die

mit Tochterunternehmen an der US-Börse gelistet sind
oder die an der US-Börse gelistete Unternehmen belie-
fern: Die Anforderung eines Herkunftsnachweises
wird an die Zulieferer weitergegeben. Mischschmelz-
und Veredelungsprozesse können jedoch dazu führen,
dass sich eine Herkunft nicht mehr eindeutig nachwei-
sen lässt. Das so umgegossene oder veredelte Endpro-
dukt aus einem unbedenklichen Drittland, das mögli-
cherweise Konfliktrohstoffe beinhalten kann, entzieht
sich den geforderten Ausfuhrbestimmungen. Ein ein-
deutiger Herkunftsnachweis ist somit kaum zu realisie-
ren.

Da Unternehmer und Zulieferer nun Klage gegen
die US-Börsenaufsicht SEC eingereicht haben – be-
gründet durch die bürokratische Mehrbelastung sowie
wettbewerbsverzerrende Auflagen für einen Handel
auf dem Weltmarkt durch den Dodd-Frank Act –, bleibt
die tatsächliche Umsetzung dieses staatlichen Zwangs
fraglich. Man baut nicht auf eine nachhaltige, unter-
nehmerische Einsicht – auch wenn sie in manchen Fäl-
len nur profitorientiert sein mag – seitens Anbieter und
Nachfrager für soziale, ökologische und transparente
Rohstoffe und Zahlungsströme, sondern verabreicht
offenbar, wie dem vollständigen Namen dieser Geset-
zesinitiative – Wall Street Reform and Consumer Pro-
tection Act – schon zu entnehmen ist, eine Beruhi-
gungspille für weltweite Finanzmärkte und nationale
Investoren, die vom Reformwillen nach der weltweiten
Finanzkrise überzeugt werden wollen.

Die Europäische Union sieht das anscheinend ähn-
lich: So ist das Europäische Parlament aufgrund eines
Kommissionsvorschlages von seinen sehr weitreichen-
den Forderungen vom September 2012 bereits teilweise
abgerückt. Der vorliegende Entschließungsantrag der
SPD gibt daher nicht den aktuellsten Sachstand wieder.

Bedauerlich finde ich, dass in dieser internationa-
len Diskussion der Erfolg des Kimberley-Prozesses
von Anfang 2003 vergessen wird: Dieser Selbstregulie-
rungsmechanismus beinhaltet die Einigung von Dia-
mantenindustrie sowie Diamanten importierenden und
exportierenden Ländern auf staatliche Herkunftszerti-
fikate, mit dem Ziel, den Schmuggel sogenannter Blut-
diamanten zu verhindern. Die Konfliktdiamanten dien-
ten hauptsächlich der Finanzierung regionaler, meist
äußerst brutaler Bürgerkriege. Kurz zuvor entschied
sich die Europäische Union dazu, diesen Selbstregu-
lierungsprozess mit der Verordnung (EG) Nr. 2368/
2002 des Rates vom 20. Dezember 2002 zur Umset-
zung des Zertifikationssystems des Kimberley-Prozes-
ses für den internationalen Handel mit Rohdiamanten
zu unterstützen. Als Folge davon sehen Sie heutzutage
nur noch Entsetzen im Gesicht eines Juweliers, wenn
Sie sich nach Blutdiamanten erkundigen. Sogleich
werden Ihnen Zertifikate vorgelegt, die einen konflikt-
freien Abbau bestätigen.

Zugegebenermaßen kann man Zertifikate fälschen
und eine Herkunft verschleiern. Genau das ist das ak-
tuelle Problem der deutschen, aber auch internationa-
len rohstoffverarbeitenden Industrie: Wie eingangs be-

Zu Protokoll gegebene Reden





Erich G. Fritz


(A) (C)



(D)(B)


schrieben, lässt sich nach dem Schmelzprozess nicht
mehr eindeutig nachweisen, woher die einzelnen Roh-
stoffbestandteile stammen, wenn das veredelte End-
produkt auf dem Weltmarkt angeboten wird. Um hier
die bürokratischen Belastungen so gering wie möglich
zu halten, befürworte ich die Pilotprojekte der Bundes-
anstalt für Geowissenschaften und Rohstoffe, BGR, zur
Zertifizierung von Handelsketten für mineralische
Rohstoffe in Ruanda und der Demokratischen Repu-
blik Kongo, DRC. Meines Erachtens ist das der bes-
sere Weg zu mehr Transparenz. Ein standardisiertes
Verfahren für den Herkunftsnachweis von Coltan und
ein Konzept für dessen breite internationale Veranke-
rung wurden von der BGR entwickelt. Beide Instru-
mente haben Eingang gefunden in den Aufbau eines
Zertifizierungssystems in der DRC sowie in der Region
der Großen Seen Afrikas. Diese Projekte will die Bun-
desregierung auch weiterhin unterstützen.

Problematisch sehe ich aber die sich bereits ab-
zeichnenden Folgen der bestehenden Regulierungs-
und Zertifizierungsideen: Das Ziel, den Vertrieb von
Konfliktmineralen aus dem Ostkongo, deren Abbau in
der Hand bewaffneter Gruppen ist, zu verhindern oder
zumindest zu erschweren, klingt zunächst plausibel
und moralisch richtig. Doch leider bewirkt es den
Rückzug der dort aktiven Unternehmen aus der gesam-
ten Region, weil der Herkunftsnachweis zu aufwendig
und die Unsicherheit über die genauen Ausführungs-
bestimmungen noch zu groß ist. Wie die Bloggerin
Claire Grauer eindrucksvoll berichtet, kommt es so
schlussendlich zu einem selbst auferlegten Handels-
verbot, dessen großer Verlierer die arme Bevölkerung
ist. Die einzige Erwerbs- und Existenzgrundlage, die
Tätigkeit in den Bergbaubetrieben, bricht weg und för-
dert so die Rekrutierung dieser Menschen durch Re-
bellengruppen. Ebenso beschreibt die US-amerikani-
sche Politikwissenschaftlerin Laura Seay in einem
Arbeitspapier des Center for Global Development
„What’s wrong with Dott-Frank 1502?“, dass die bis-
herigen De-facto-Handelsverbote keineswegs zu Frie-
den und Menschenrechten im Kongo geführt haben.
Bis zu 2 Millionen Menschen haben nun keinerlei Ar-
beit in den Minen mehr. Die Arbeitsbedingungen in
den Minen waren und sind ohne Zweifel bedauerlich;
allerdings sind es regional oft die einzigen Einkom-
mensmöglichkeiten für die Menschen. Neben der feh-
lenden Kaufkraft für die lokale Mikrowirtschaft, so
Seay, fehlt es nun Familien an Geld für die Schule der
Kinder oder Medikamente. Zeitgleich verstärkt sich
der Schmuggel in die für einen Herkunftsnachweis ver-
meintlich unbedenklichen Nachbarstaaten.

Deshalb, meine Damen und Herren, müssen wir zu-
sätzlich zu Zertifizierungsmaßnahmen weitere Instru-
mente ins Spiel bringen: Wichtig ist es, auch auf die
Regierungen derjenigen Rohstoffländer einzuwirken,
die sich noch nicht an freiwilligen Transparenzinitiati-
ven beteiligen. Der Offenlegung der Zahlungen durch
Unternehmen sollte die Offenlegung der Einnahmen
durch die Regierungen der Rohstoffländer gegenüber-
stehen. Es muss uns weiterhin ein dringliches Anliegen

sein, Entwicklungsländer dabei zu unterstützen, Ein-
nahmen aus dem Rohstoffsektor gezielt für die soziale,
ökologische und ökonomische Entwicklung dieser
Länder zu nutzen. Dieses Mehr an Transparenz und
Good Governance kann zu einer nachhaltigen Roh-
stoffgewinnung beitragen. Beides unterstütze ich, und
beides ist fester Bestandteil der Rohstoffstrategie von
2010, die diese christlich-liberale Regierung verab-
schiedet hat.

Da die Probleme von der Industrie erkannt und
sogar durch Selbstverpflichtungen bekämpft werden,
zudem bisherige Zertifizierungsvorhaben wie die der
BGR durch die Bundesregierung bereits aktiv unter-
stützt werden und geplante, internationale Maßnah-
men meines Erachtens gänzlich über das Ziel hinaus-
schießen oder sogar zur Konfliktverschärfung
beitragen können, lehne ich den vorliegenden Antrag
der SPD ab.


Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1721928800

Uns alle, die wir uns in der Entwicklungspolitik

engagieren, eint ein gemeinsames Ziel: Wir wollen
Hunger und Armut bekämpfen. Wir wollen gerade den
jungen Menschen in den Entwicklungsländern Per-
spektiven eröffnen, sie darin unterstützen, dass sie sich
ein besseres Leben aufbauen können. In vielen Län-
dern, mit denen wir uns hier beschäftigten, wäre das
auch möglich. Es wäre möglich, wenn die arme Bevöl-
kerung am Reichtum ihres Landes teilhaben könnte.

Und uns alle eint wohl ebenso der Ärger darüber,
dass das nicht funktioniert. Korrupte Regierungen und
Eliten und multinationale Konzerne füllen sich skru-
pellos die Taschen, während die einfache Bevölkerung
weiterhin in bitterer Armut lebt. Menschen leiden Hun-
ger, obwohl der Außenhandel ihres Landes boomt;
denn Einnahmen, die aus Rohstoffgewinnung und
Bodenschätzen stammen, versickern allzu oft in dunk-
len Kanälen, als dass sie etwa in ein funktionierendes
Gesundheits- und Bildungssystem gesteckt werden.
Noch schlimmer: Nicht nur, dass die Bevölkerung am
Reichtum nicht teilhaben kann, zum Teil – etwa im Falle
der sogenannten Konfliktmineralien – dienen die Ein-
nahmen sogar dazu, Krieg und Gewalt zu finanzieren.

Schlechtestes Beispiel hierfür ist die Demokratische
Republik Kongo. Hier kurbelt der illegale Handel mit
Rohstoffen die Kriegsökonomie kräftig an. Zig Millio-
nen Dollar haben Rebellen und Armee durch die Kon-
trolle von Minen und Handelsrouten eingenommen.
Ohne dieses Geld wäre es kaum möglich gewesen, die
kriegerischen Auseinandersetzungen so lange fortzu-
führen. Hier ist der Rohstoffreichtum mehr Fluch als
Segen, und man muss es in dieser Deutlichkeit sagen:
Wer in diesem Handel mitmischt, der hat Blut an den
Händen.

Wir wollen das nicht länger hinnehmen. Wir wollen
den Menschen die Möglichkeit geben, sich gegen diese
Ungerechtigkeit zu wehren. Grundvoraussetzung dafür
ist die Transparenz von Zahlungsflüssen im weltweiten

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Sascha Raabe


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(D)(B)


Rohstoffhandel. Nur wenn die Öffentlichkeit, die Zivil-
gesellschaft in den betroffenen Ländern nachvollzie-
hen kann, wer was an wen und wofür gezahlt hat, kann
sich für eine gerechtere Verteilung der Einnahmen ein-
setzen. Das System der Verschleierung, das Korrup-
tion, halbseidene Geschäfte und eben auch Gewalt för-
dert, muss endlich aufgebrochen werden.

Es ist bedauerlich, aber an diesem Punkt hört die
Einigkeit hier im Hause leider auf. Über den Weg, wie
wir mehr Transparenz erreichen können, haben wir ja
schon mehrfach gestritten. Die Bundesregierung steht
in dieser Frage auf der Bremse und will weiterhin auf
die freiwillige Selbstverpflichtung der Wirtschaft
setzen. Wir wollen verbindliche Regelungen; denn wir
sagen: Wer allein auf guten Willen und Einsicht setzt,
der unterschätzt den Glanz des Goldes und wird dem
Problem in keiner Weise gerecht. Das zeigt die Erfah-
rung. Mit unserem Antrag legen wir nun konkrete Vor-
schläge vor, wie solche verbindlichen Regelungen aus-
gestaltet werden sollten. An dieser Stelle möchte ich
ausdrücklich meinem Kollegen Rolf Hempelmann für
die gute Zusammenarbeit danken, der diesen Antrag
mit auf den Weg gebracht hat.

Was also wollen wir? Zunächst geht es uns um eine
größtmögliche Offenlegung der Zahlungsströme. Um-
fassende Transparenz in diesem Sinne muss dabei die
Offenlegung sowohl auf Länderebene, das Country-
by-Country-Reporting, als auch auf Projektebene, also
Project-by-Project, beinhalten. Außerdem muss eine
eindeutige Projektdefinition festgelegt werden, die sich
auf den Vertrag bezieht, aus dem sich die Zahlungsver-
pflichtungen ergeben. Und es muss klar sein, dass es
keine Ausnahmeregelungen geben kann. Das soge-
nannte Tyrannenveto als Schlupfloch muss ausge-
schlossen sein. Ansonsten wäre jede Regelungsnorm
nichts als heiße Luft. Wir konkretisieren unsere
Vorschläge sogar so weit, dass wir eine Offenlegungs-
untergrenze festschreiben. Wir wollen hier eine Unter-
grenze von 80 000 Euro einziehen.

Das alles sind keine neuen Ideen, und wir wollen
uns hier auch gar nicht mit fremdem Lorbeer schmü-
cken. Wir beziehen uns lediglich auf Initiativen, die es
bereits gibt, sowohl auf europäischer Ebene als auch
in den USA. Ich möchte es an dieser Stelle schon noch
einmal betonen: Die USA waren es, die uns mit dem
Dodd-Frank Act in der Frage der Transparenz gezeigt
haben, wie es gehen kann. Sie haben dankenswerter-
weise den ersten Schritt gemacht, die EU-Kommission
ist inzwischen nachgezogen, und auch wir in Deutsch-
land sollten diesen Weg mitgehen. Wer dazu nicht be-
reit ist, dem muss man vorwerfen, der Korruption mit
all ihren Folgen Tür und Tor zu öffnen. Deutschland
war seinerzeit die treibende Kraft, als es darum ging,
die Initiative für Transparenz in der Rohstoffwirtschaft
EITI zu starten. Wir dürfen jetzt beim nächsten Schritt
nicht der Bremser in Europa sein. Wenn es die Bundes-
regierung wirklich ernst meint mit ihren Appellen zu
Good Governance in den Entwicklungsländern, dann

darf sie die Bemühungen um mehr Transparenz nicht
blockieren.

Die Offenlegung von Zahlungsflüssen ist das eine,
der Handel mit den oben erwähnten Konfliktminera-
lien das andere. Wir wollen die beteiligten Unterneh-
men dazu verpflichten, einen möglichst lückenlosen
Herkunftsnachweis liefern zu müssen, wenn sie etwa
mit Rohstoffen aus der Region der afrikanischen
Großen Seen Handel treiben. Insbesondere sind hier
wohl Zinn, Tantal, Wolfram und Gold zu nennen. Das
Ziel ist klar: Es gilt, den Konflikten in der Demokrati-
schen Republik Kongo und den angrenzenden Staaten
die finanzielle Grundlage zu entziehen, damit das Ster-
ben dort endlich ein Ende hat. Auch hier dient wieder
der Dodd-Frank Act als Vorbild.

Dabei ist uns durchaus bewusst, dass ein solcher
Nachweis oft schwer zu führen ist und Unternehmen
abschrecken könnte, überhaupt noch in den Problem-
ländern aktiv zu werden. Es wird daher darauf ankom-
men ein sinnvolles Zertifizierungssystem für Rohstoffe
von der Mine an zu entwickeln, das international ak-
zeptierte Transparenzregelungen beinhaltet und die
Überprüfung der Einhaltung ökologischer, menschen-
rechtlicher und sozialer Mindeststandards wie der
ILO-Kernarbeitsnormen ermöglicht.

Die Bestrebungen der EU, den Handel mit Konflikt-
mineralien zu unterbinden und strenge Herkunftsnach-
weise einzufordern, stoßen bereits auf großen Wider-
stand in der Wirtschaft. Ich habe erst letzte Woche ein
entsprechendes Schreiben des BDI erhalten. Dem
möchte ich entgegenhalten, dass sogar der UN-Sicher-
heitsrat in den letzten Jahren die Regierungen der
Mitgliedstaaten mehrfach dazu aufgefordert hat, si-
cherzustellen, dass Unternehmen keine illegalen Roh-
stoffe aus Konfliktregionen verarbeiten. Dieser Auffor-
derung wollen wir nachkommen.

Am Ende werden einheitliche Regelungen, wie wir
sie hier vorschlagen, im Übrigen auch im Sinne der
deutschen Wirtschaft sein. Denn schon jetzt müssen
sich deutsche Unternehmen, die in die USA liefern,
den Vorgaben des Dodd-Frank Act unterwerfen. Deut-
sche Zulieferer werden bei Geschäften in den USA
künftig gefragt werden, woher sie ihre Rohstoffe bezie-
hen. Ist ein Nachweis nicht möglich, gibt es keinen
Abschluss. Es macht also absolut Sinn, jetzt zügig für
einheitliche Transparenzstandards zu sorgen. Man
mag sich kaum ausmalen, welches Chaos im interna-
tionalen und insbesondere im transatlantischen
Handel entstehen wird, wenn wir damit noch länger
warten.

Wie Sie sehen, nützt unser Antrag also nicht nur den
Menschen in den rohstofffördernden Entwicklungslän-
dern, sondern ebenso unserer Wirtschaft, die von
klaren Regeln profitieren wird. Ich bitte Sie daher, un-
serem Antrag zuzustimmen. Sorgen Sie dafür, dass die
Bundesregierung endlich den Fuß von der Bremse neh-
men muss und Vollgas gibt für mehr Transparenz.

Zu Protokoll gegebene Reden






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Klaus Breil (FDP):
Rede ID: ID1721928900

Die SPD greift in dem vorliegenden Antrag auf ihre

zwei Lieblingsvokabeln „Regulierung“ und „Zertifi-
zierung“ zurück, dieses Mal in Verbindung mit dem
Import von Steinkohle. Dabei verfolgen die Genossen
mit ihrem Antrag eigentlich ganz andere Ziele: Sie
wollen durch zusätzliche Bürokratie den Import von
Steinkohle erschweren. Damit wollen sie erstens die
2018 auslaufende Steinkohleförderung, so wie sie die
schwarz-gelbe Bundesregierung beschlossen hat, hi-
nauszögern. Zum Zweiten wollen sie damit die Verstro-
mung von Braunkohle als letztem verbleibenden heimi-
schen Energieträger zementieren. Das ist rote Klien-
telpolitik.

Wir Liberale haben nichts gegen die Braunkohle, im
Gegenteil: Wenn sie sich auf dem Markt gegen die zu
importierende Steinkohle oder das zu importierende
Erdgas durchsetzt, ist ihr Einsatz geboten. Den be-
kannten Argumenten der Neinsager von der Linken
und den Grünen halte ich folgendes entgegen: Die Re-
naturierung der Abbaugebiete wird durch die Energie-
versorger bzw. Abbaugesellschaften finanziert. Den
externen Effekten, wie der Emission von CO2, wird
durch den Emissionshandel Rechnung getragen. Mit
dem Einsatz der CCS-Technologie, die in Deutschland
trotz Verbot in den Ländern durch Rot und Grün von
deutschen Ingenieuren weiterentwickelt wird, behält
die Braunkohle für uns auch weiter ihre Bedeutung.

Was den Kern des Antrages angeht, so ist es für
mich nur schwer nachvollziehbar, wie die SPD es sich
vorstellt, fungiblen Commodities, deren globaler Han-
del über organisierte Warenterminbörsen abgewickelt
wird, einen Fußabdruck anzuheften. Das ist schlicht-
weg nicht möglich und auch nicht nötig.

Dazu will ich Ihnen aus der Praxis der Finanzie-
rung rohstofffördernder Unternehmen berichten. Die
milliardenschweren Unternehmen aus dem Bereich
der Rohstoffförderung sind schon durch ihre Eigentü-
merstrukturen gezwungen, die von Ihnen geforderten
Standards einzuhalten. Kapitalsammelstellen, wie zum
Beispiel das California Public Employees’ Retirement
System, CalPERS, bekennen sich zu strengen sozialen
und ökologischen Selbstverpflichtungen. Gemäß derer
entscheiden sie über Veräußerung oder Akquise von
Beteiligungen in Milliardenhöhe. Nachhaltigkeit ist
damit für Unternehmen nicht nur eine schöne Wort-
hülse für den CRS-Bericht. Nachhaltigkeit führt über
sozialen Frieden und einen wachsenden Wohlstand in
den Förderregionen zu einer besseren Verlässlichkeit
von Lieferungen, und die ist im Interesse aller.

Dabei kann die Rolle des Staates allenfalls eine
flankierende sein: Es gibt weltweit eine Vielzahl von
Initiativen und Abkommen, die der Verbesserung der
Transparenz sowie von Umwelt- und Sozialstandards
dienen. Deutschland ist in vielen Fällen als aktiver
Partner eingebunden. Deutschland unterstützt die Ini-
tiative zur Verbesserung der Transparenz in der Roh-
stoffindustrie, EITI, politisch und finanziell. Sie ist
derzeit sogar Mitglied im internationalen Aufsichts-

gremium. Zahlreiche Staaten habe die formulierten
Standards anerkannt, ebenso eine Vielzahl von Unter-
nehmen. In Deutschland zählen zum Beispiel RWE und
die KfW dazu – eigeninitiativ, ohne gesetzlichen
Zwang.

Die im Antrag genannten Lieferländer sind Mit-
gliedstaaten der International Labour Organization,
ILO. Sie haben die ILO-Konvention 169 bereits ratifi-
ziert. Die Überwachung der Einhaltung obliegt den
Kontrollorganen der ILO. Die betreffenden Länder
sind verpflichtet, regelmäßig Berichte über die Umset-
zung des Abkommens zu veröffentlichen. Verstößt ein
Unterzeichnerstaat gegen Vorgaben der Konvention,
können Arbeitnehmer- und Arbeitgeberorganisationen
Klagen und Beschwerden einreichen. Damit sind die
im Antrag erhobenen Forderungen entweder unnötig
oder bereits erfüllt. Die Notwendigkeit für eine gesetz-
liche Regelung besteht nicht. Tatsächlich aber können
einzelne Länder bei der Umsetzung von Richtlinien
und Konventionen abweichende Auffassungen vertre-
ten. Ohne Zweifel kann auch die zeitliche Abfolge dif-
ferieren.

Die Bundesregierung unterstützt die betreffenden
Länder mit ihrer Außen-, Wirtschafts- und Entwick-
lungspolitik. Sie wirkt damit schon heute auf die Aner-
kennung und Einhaltung von Umwelt- und Sozialstan-
dards hin. Über die nationale Souveränität einzelner
Staaten können wir uns aber nicht hinwegsetzen. Die
von Ihnen gern bemühte Kavallerie werden wir nicht
zur Sicherung sozialer und ökologischer Standards ins
Ausland entsenden.


Ursula Lötzer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721929000

Die Verseuchung von Landstrichen, Zwangsumsied-

lungen für neue Minenprojekte, Kinderarbeit oder ge-
waltsames Vorgehen gegen Gewerkschaften: Viele
deutsche Rohstoffimporteure, aber auch Stahl- und
Automobilfirmen wissen um die Situation in vielen
Bergwerken und Tagebauen im Süden, aber sie tun
nichts. Sie übernehmen keine Mitverantwortung für
die Einhaltung von Menschen- und Arbeitsrechten
sowie Umweltstandards entlang der Produktions- und
Lieferkette. Was zählt, ist der Rohstoffpreis und der
freie Marktzugang. Hierzu lesen wir jeden Tag die
Forderungen der Unternehmensverbände an die Bun-
desregierung.

Während Konsumenten von Kaffee oder Textilien
auf Zertifizierungen zurückgreifen können und so mit
ihrem Kaufverhalten Menschenrechtsverletzungen und
Umweltschäden etwas entgegensetzen können, sind
wir beim Kauf von Heizöl, Autos oder Baumaterialien
noch weit von gekennzeichneten sozialen Mindeststan-
dards oder ökologischen Zertifikaten entfernt.

Die Linke begrüßt deshalb den Ansatz des amerika-
nischen Dodd-Frank Act, schon am Beginn der
Lieferkette anzusetzen und negative Auswirkungen des
Abbaus mineralischer und fossiler Rohstoffe zu min-
dern, indem Unternehmen zukünftig Zahlungen an die

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulla Lötzer


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Regierungen für jede Mine und jedes andere Projekt
offenlegen müssen. Das soll es den Bürgerinnen und
Bürgern vor Ort ermöglichen, Rechenschaft von ihren
Regierungen über die Höhe sowie insbesondere über
die Verwendung der Einnahmen einzufordern.

Diese Regelungen für US-börsennotierte Unterneh-
men sollen jetzt zumindest für Öl-, Gas-, Bergbau- und
Forstunternehmen in EU-Recht übernommen werden.
Die Richtlinienentwürfe zu Transparenz- und Offen-
legungspflichten für Rohstoffunternehmen wären
– wenn sie denn den Konflikt mit den Unternehmen
suchen würden – ein erster und großer Schritt, um
weltweit die Abhängigkeit von Rohstoffexporterlösen
zu reduzieren, Korruption zu bekämpfen und die
Abhängigkeit von Entwicklungshilfe zu reduzieren.
Aber wie zu erwarten, blockiert die Bundesregierung,
unterstützt von den Brüsseler Lobbyabteilungen der
Öl- und Bergbaumultis.

In den Verhandlungen mit den Mitgliedstaaten und
dem Ministerrat sind wesentliche Forderungen des
Europäischen Parlaments – so weit wir im Bundestag
das nachvollziehen können – bereits verwässert
worden, und zwar mit expliziter Unterstützung der
Bundesregierung.

Das Europäische Parlament hatte gefordert, die
Offenlegungspflichten auch auf Banken, den Telekom-
munikationssektor und den Infrastrukturbereich anzu-
wenden, um der wachsenden Bedeutung dieser Sekto-
ren für Entwicklungsländer gerecht zu werden. Das
wurde von den Mitgliedstaaten in eine Revisionsklau-
sel verbannt. Eine Ausweitung auf Agrobusinesskon-
zerne wurde nur von NGOs gefordert.

Ein großes Schlupfloch wurde geöffnet, da keine
Angaben zu Subunternehmen gemacht werden müssen.
Drittens wurde die sogenannte Wesentlichkeits-
schwelle auf Zahlungen in Höhe von 100 000 Euro
festgesetzt. Das ist schon einmal ein großer Fortschritt
gegenüber der skandalösen Forderung des Minister-
rates, erst Zahlungen ab einer halben Million Euro an-
geben zu müssen. Diese hohe Schwelle widerspricht
aber immer noch eindeutig dem Ziel und auch dem
Namen der Transparenzrichtlinie.

Offengelegte und vergleichbare Zahlungen an Re-
gierungen sollen der Zivilgesellschaft vor Ort Einblick
in die Geschäftspraktiken der Rohstoffunternehmen
geben. Entwicklungsorganisationen hatten aufgrund
ihrer Erfahrungen darauf hingewiesen, dass auch
kleine Zahlungen von Bedeutung für lokale Gemein-
schaften sind, die von der Ressourcenausbeutung be-
troffen sind, und hatten eine Schwelle von höchstens
15 000 Euro vorgeschlagen.

Die Bundesregierung lehnt es viertens weiter ab,
bezahlte Strafen für Verletzungen von Umwelt- bzw.
Altlastensanierungsgesetzen in die Offenlegungs-
pflicht einzubeziehen, und beschränkt die Richtlinie
auch darauf, nur die Anzahl der vor Ort Beschäftigten
veröffentlichungspflichtig zu machen.

Damit sind wir bei den Grenzen eines Ansatzes, der
die Probleme der Rohstoffausbeutung alleine über die
Offenlegung von Zahlungen an Regierungsstellen an-
gehen will. Bleibt man bei dieser Forderung stehen,
wird die Verantwortung von den Konzernen weg auf
die staatlichen Stellen vor Ort verlagert, die oft an ei-
nem schwachen Hebel sitzen. Die Zivilgesellschaft und
NGOs vor Ort werden überfordert.

Notwendige Spielräume bei der sozial-ökologischen
Regulierung in den Entwicklungsländern werden
häufig durch multilaterale und bilaterale Verträge ein-
geschränkt. Deshalb müssen zukünftig Menschen-
rechte, Arbeitsrechte und Umweltschutz Vorrang bei
allen Handels-, Investitions- und Rohstoffabkommen
bekommen. Wenn wir aber mit dem Ressourcenfluch
und mit der umweltzerstörenden und oft sozial verhee-
renden neuen Jagd nach Rohstoffen Schluss machen
wollen, müssen wir hier in den Industrieländern begin-
nen, unseren Wohlstand vom Verbrauch von Öl, Gas,
Kohle und Metallen zu entkoppeln. Ein fundamentaler
Politikwechsel hin zu einer zukunftsfähigen Rohstoff-
politik muss deshalb in sehr viel stärkerem Umfang als
bisher auf eine absolute Senkung des Rohstoff-
verbrauchs abzielen.


Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721929100

Die Situation im Nigerdelta ist unerträglich: Die

Region leidet unter einer der schlimmsten Umwelt-
katastrophen weltweit. Im drittgrößten Feuchtgebiet
der Welt hat die rücksichtslose Ölförderung die Um-
welt massiv geschädigt, die Menschen vor Ort sind ge-
zwungen, mit vergiftetem Grundwasser, verseuchten
Fischgründen und starken gesundheitlichen Beein-
trächtigungen zu leben. Gestern wurde Shell Nigeria
in den Niederlanden zu Schadenersatz für die massi-
ven Umweltschäden im nigerianischen Ogoniland ver-
urteilt. Damit ist ein Teilerfolg errungen. Bäuerinnen
und Bauern, Fischerinnen und Fischer aus dem Niger-
delta sowie eine niederländische Umwelt-NGO hatten
Shell verklagt. Das eigentliche Ziel und der damit er-
hoffte internationale Präzedenzfall blieb jedoch leider
aus: Das Gericht hat geurteilt, dass nicht der Mutter-
konzern Royal Dutch Shell, sondern die Tochter Shell
Nigeria verantwortlich sei. Dennoch zwingt zum ers-
ten Mal ein Gericht Shell dazu, Schadenersatz zu leis-
ten für verursachte Schäden. Die Klägerinnen und
Kläger der abgewiesenen vier Klagen werden jetzt in
Berufung gehen und Verantwortung von Shell einfor-
dern. Auf diesem Weg müssen wir sie unterstützen,
parlamentarisch und medial. Es braucht ein Bewusst-
sein für die Straftaten, die von transnationalen Kon-
zernen begangen werden.

Genau darum geht es: Wir müssen Rohstoffunter-
nehmen dazu bringen, Rechenschaft abzulegen, und
sie müssen zur Verantwortung gezogen werden kön-
nen. Dafür ist Transparenz eine entscheidende Voraus-
setzung. Nur wenn wir mehr Licht in die Rohstoffge-
schäfte bringen, kann überprüft werden, ob Standards
eingehalten werden oder nicht, ob Gewinne ins Aus-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Koczy


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land abgezogen werden oder nicht, ob die Bevölkerung
angemessen an den Rohstoffeinnahmen beteiligt wird
oder nicht und wie es um die Einhaltung der Men-
schenrechte sowie von Umwelt- und Sozialstandards
bestellt ist.

Deshalb sind die Transparenzregelungen, die ak-
tuell auf EU-Ebene verhandelt werden, so wichtig:
Bereits vor über einem Jahr haben wir Grüne die Bun-
desregierung mit unserem Antrag zu Rohstofftranspa-
renz, Bundestagsdrucksache 17/8354, nachdrücklich
dazu aufgefordert, sich für substanzielle Offenlegungs-
pflichten im Rohstoffsektor einzusetzen. Insofern
begrüßen wir die erneute Aufforderung durch den vor-
liegenden Antrag der SPD. Denn wir wissen aus
Brüssel, dass die schwarz-gelbe Bundesregierung trotz
aller Beteuerungen umfassende Transparenzverpflich-
tungen blockiert, wo sie nur kann.

Ich möchte Sie daran erinnern, sehr geehrte Kolle-
ginnen und Kollegen von Union und FDP: Bevor die
US-amerikanische Börsenaufsicht im Sommer ihre
Regelungen für die Ausgestaltung von Dodd-Frank
Sektion 1504, also die projektbasierte Offenlegung,
vorgelegt hat, haben Sie im Ausschuss darauf beharrt,
dass es keine divergierenden Standards zwischen der
EU und den USA geben dürfe. Folgen Sie also Ihrer
Argumentation und setzten Sie sich für eine umfas-
sende Regelung ein. Wir haben auf EU-Ebene jetzt die
große Chance, mehr Transparenz im Rohstoffsektor zu
verankern. Die dürfen wir nicht verspielen.

Heute erfahren wir von einer neu eingerichteten
BMZ-Task-Force, die die Themen nachhaltige Roh-
stoffwirtschaft, transparente Finanzströme sowie so-
ziale und ökologische Mindeststandards bündeln soll.
Ich weiß, das BMZ hat im Rohstoffsektor gute Kon-
zepte und engagiert sich an vielen Stellen. Aber das
bleibt für mich nichts als ein Feigenblatt, solange Sie
die Entwicklungsinteressen nicht mit Verve in die
Rohstoffpolitik der Bundesregierung einbringen – und
das tun sie nicht. Schwarz-gelbe Rohstoffpolitik ist und
bleibt kurzsichtig und nationalbezogen. Die Rohstoff-
sicherung für die deutsche Wirtschaft ist bei Ihnen das
Maß aller Dinge. Alles Weitere, insbesondere die ent-
wicklungspolitischen Interessen, wird zur Nebensache.

Aktuellstes Beispiel ist die am Wochenende auf dem
EU-Lateinamerika-Gipfel vereinbarte Rohstoffpart-
nerschaft mit Chile. In der gemeinsamen deutsch-
chilenischen Absichtserklärung zur Zusammenarbeit
beim Bergbau und bei mineralischen Rohstoffen kön-
nen laut Text Wirtschaftsverbände und Unternehmen
„gezielt eingeladen werden“. Die Zivilgesellschaft
bleibt hier in guter schwarz-gelber Tradition außen
vor. Eine entwicklungsförderliche Rohstoffpolitik sieht
anders aus.

Noch ein paar Worte zur Zertifizierung und zu Kon-
fliktmineralien, auf die Sie, Kolleginnen und Kollegen
von der SPD, in Ihrem Antrag auch eingehen: Wir
müssen uns hier intensiv mit den Bedingungen für eine
erfolgreiche Zertifizierung auseinandersetzen. Zertifi-

zierung im Rohstoffsektor wird aus meiner Sicht nur
dann ein erfolgreiches Steuerungsinstrument, wenn
wir die komplexen Zusammenhänge berücksichtigen
und mit angehen. Ganz abgesehen von den technischen
Voraussetzungen: Ich sehe nicht, wie Zertifizierung
zum Beispiel in der Demokratischen Republik Kongo
nachhaltig funktionieren kann, ohne gleichzeitig auch
die Entmilitarisierung der Minenregionen und Refor-
men im Sicherheits- und Justizsektor anzugehen. Wenn
das Ziel ein einheitliches und übergreifendes Zertifi-
zierungssystem ist, dann müssen wir auch die großen
Abnehmer, die Technologiekonzerne, dazu bringen,
sich zu beteiligen. Umwelt- und Sozialstandards müs-
sen mit einbezogen werden. Vor allem ist eine erfolg-
reiche Zertifizierung nicht möglich, ohne eine umfas-
sende Einbindung der lokalen Zivilgesellschaft. Die
Menschen vor Ort können kontrollieren, ob bewaffnete
Gruppen mitmischen oder nicht. Gleichzeitig müssen
Kleinschürferinnen und Kleinschürfer und kleine
Kooperativen vor Ausbeutung geschützt werden. Hier
müssen wir ansetzen.

Wir Grüne fordern verbindliche Maßnahmen für
eine entwicklungsförderliche und faire internationale
Rohstoffpolitik. Dazu gehört, liebe Kolleginnen und
Kollegen von der SPD, nicht nur der Hinweis, dass
Deutschland abhängig von Rohstoffimporten ist. Denn
genau hier beginnt unsere Verantwortung: Wir müssen
unsere Art, zu wirtschaften, radikal vom Rohstoff-
verbrauch entkoppeln.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721929200

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/11876 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich sehe, Sie sind
damit einverstanden. Dann haben wir das so beschlos-
sen.

Tagesordnungspunkt 20:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Telekommunikationsgesetzes und zur
Neuregelung der Bestandsdatenauskunft

– Drucksache 17/12034 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Kultur und Medien

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Armin Schuster (CDU):
Rede ID: ID1721929300

Ermittler können in Deutschland sogenannte

Bestandsdaten bei Telekommunikationsanbietern ab-
fragen, wenn sie diese zur Verfolgung von Straftaten,
Ordnungswidrigkeiten oder zur Gefahrenabwehr be-
nötigen. Unter dem eher trockenen Begriff „Bestands-
daten“ verstehen wir Kundendaten wie Telefonnum-
mern und die dazugehörigen Namen und Adressen,
E-Mail-Adressen oder andere sogenannte Anschluss-





Armin Schuster (Weil am Rhein)



(A) (C)



(D)(B)


erkennungen. Beispiel: In einer Mordermittlung stellt
die Polizei fest, dass beim Opfer zuletzt Anrufe mit drei
verschiedenen Telefonnummern eingegangen sind. Die
Anrufer könnten wichtige Zeugen, aber auch Verdäch-
tige sein. In jedem Fall müssen die Ermittler diesen
Spuren nachgehen. Die zur Nummer zugehörigen
Namen erfahren sie vom Telefonanbieter. Der ist schon
heute dazu verpflichtet, diese Kundendaten an be-
stimmte Bundes- und Landesbehörden herauszugeben.

Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
vom 24. Januar 2012 diese Auskunftspflicht grundsätz-
lich als unbedenklich beurteilt. Allerdings wurden die
bisherigen Regelungen im Telekommunikationsgesetz,
insbesondere in § 113, von den Karlsruher Richtern
kassiert, dürfen aber noch übergangsweise bis Ende
Juni 2013 angewandt werden. Damit haben die
Richter ganz überwiegend die Bedeutung der Be-
standsdatenauskunft für die Arbeit von Behörden
bestätigt. Moniert hat das Gericht drei Punkte: Erstens
kann § 113 TKG nicht für die Abfrage von Inhabern
dynamischer IP-Adressen herangezogen werden.
Zweitens. Für die Auskunft über Zugangsdaten zu
mobilen Endgeräten, also PINS, PUKs und Passwör-
ter, müssen die rechtlichen Voraussetzungen konkreti-
siert werden. Drittens. Letztlich fordert das Gericht ein
sogenanntes Doppeltürprinzip: Es bedürfe sowohl
einer Norm zur Datenübermittlung als auch einer
Abrufnorm. Heute bringt die Bundesregierung einen
Gesetzentwurf ein, der diese Vorgaben des Verfas-
sungsgerichts umsetzt. Eine darüber hinaus gehende
Neuerung ist die elektronische Schnittstelle, die für
große Provider verpflichtend vorgesehen ist.

Das geforderte Doppeltürprinzip ist umgesetzt, in-
dem sich im Telekommunikationsgesetz die Regelun-
gen zur Datenübermittlung finden; das ist die erste
Tür. In den Fachgesetzen wird die Abrufnorm veran-
kert; das ist die zweite Tür. Das TKG beschreibt laut
Entwurf die Speicherpflichten der Anbieter und die
datenschutzrechtlichen Voraussetzungen zur Übermitt-
lung von Daten. Alle weiteren Regelungen, insbeson-
dere was die Bedingungen der Abfrage von Bestands-
daten betrifft, finden sich in den Fachgesetzen, also
beispielsweise in der Strafprozessordnung, im BKA-
Gesetz, im Bundespolizeigesetz. Die Länder werden
vergleichbare Normen auch in ihren Fachgesetzen zu
verankern haben.

Damit Ermittler auch in Zukunft noch die Inhaber
dynamischer IP-Adressen zu einem bestimmten Zeit-
punkt abfragen können, ist die entsprechende Norm in
den Fachgesetzen vorgesehen. Karlsruhe hatte ja nicht
grundsätzlich Bedenken gegenüber der Zuordnung,
sondern hat lediglich betont, dass der alte § 113 diese
Abfrage nicht abdecke. Mit der Verankerung in den
Fachgesetzen wäre dieser Einwand hinfällig. Ins-
besondere für die Behörden der Strafverfolgung und
für die Nachrichtendienste brauchen wir diese Befug-
nis. Gerade bei Straftaten im Internet, die in den
letzten Jahren immens zugenommen haben, ist die Zu-

ordnung von IP-Adressen meist der einzige erfolgver-
sprechende Ansatz.

Passwörter, PINs und PUKs für mobile Endgeräte
dürfen in Zukunft nur noch dann abgefragt werden,
wenn auch die rechtlichen Voraussetzungen dafür ge-
geben sind, dass auf die Daten der Endgeräte zugegrif-
fen werden darf. Diese rechtliche Klarstellung hatte
der erste Senat gefordert. Gemeint ist: Erlangt man die
Zugangsdaten zum Beispiel zu einem Mobiltelefon, so
hat man, insbesondere bei Smartphones, Zugriff auf
eine Reihe sensibler Daten. Zu Recht fordert das Ge-
richt hier, dass die Abfrage nur dann erlaubt ist, wenn
die Voraussetzungen für den Zugriff auf diese Daten
gegeben sind.

Das Gericht hat uns einige wenige Änderungen und
Konkretisierungen auferlegt: Es hat aber nicht grund-
sätzlich die Bestandsdatenauskunft als verfassungs-
widrig abgelehnt. Wir begrüßen diese Entscheidung,
weil wir ein großes Interesse daran haben, dass Er-
mittler bei Bund und Ländern Bestandsdatenabfragen
vornehmen können und so auch weiterhin erfolgreich
polizeiliche Gefahrenabwehr und Aufklärungsarbeit
leisten können. Deshalb hat das BMI jetzt diesen
Entwurf vorgelegt, den wir nun parlamentarisch bera-
ten können. Auf diesen Diskurs bin ich gespannt. Ich
möchte Sie aber davor warnen, einseitig über angebli-
che Sammel- und Kontrollwut zu klagen. Wir haben
hier ein immens wichtiges, unverzichtbares Instrument
der Gefahrenabwehr und Strafverfolgung, das es zu
erhalten gilt.


Michael Hartmann (SPD):
Rede ID: ID1721929400

Auf den letzten Metern befassen wir uns nun endlich

mit einem weiteren Sicherheitsgesetz: Bis Juni dieses
Jahres bleibt uns noch Zeit, um unser Telekommunika-
tionsgesetz verfassungsfest zu machen. Diese Aufgabe
wurde uns vom Bundesverfassungsgericht bereits im
Januar 2012 gestellt. Erst jetzt liegt uns bei einem
komplizierten, weit und tief in die Bürgerrechte
eingreifenden Paragrafenwerk ein Gesetzentwurf der
Bundesregierung vor.

Es droht der Koalition also erneut eine Peinlichkeit,
vergleichbar dem Streit um das Wahlrecht 2011. Hier
wie dort blockierten sich die Koalitionspartner, anstatt
Lösungen vorzulegen. Hier wie dort versuchen sie auf
den letzten Drücker, ein Gesetzgebungswerk anzu-
stoßen.

Eine aufmerksame und kritische Öffentlichkeit wird
sich des Themas – völlig zu Recht – bemächtigen. Eine
qualifizierte und seriöse Anhörung wird nötig sein; die
Auswertung dieser wird folgen müssen – und schließ-
lich: Auch dieses Mal wird die Koalition wie bei jedem
Sicherheitsgesetz streiten und streiten und streiten.
Dabei läuft der Sand weiter durch die Uhr.

Die SPD-Fraktion weiß um die Erforderlichkeit
eines Gesetzes zur Regelung der Eingriffe in die
Telekommunikationsbeziehungen. Deshalb sagen wir

Zu Protokoll gegebene Reden





Michael Hartmann (Wackernheim)



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(D)(B)


nicht grundsätzlich und von vorneherein Nein zu einer
Neuregelung.

Allerdings verlangen wir solide Beratungen. Und
nicht nur das: Was heute Vorlage ist, wird keinesfalls
unsere Zustimmung erhalten. Denn so sehr, wie das
Bundesverfassungsgericht – übrigens vergleichbar mit
dem Urteil zur Vorratsdatenspeicherung – grundsätz-
lich Maßnahmen zur Bestandsdatenauskunft bejaht, so
sehr verlangt es saubere und klare Vorschriften. Ange-
sichts der Eingriffstiefe der Maßnahmen ist dies auch
nur zu gut zu verstehen.

Wir wollen weder aufgeregte ideologische Debatten
um den Staat als indiskrete Datenkrake, noch Sicher-
heitslücken für unsere Bevölkerung. Gemessen an
dieser Vorgabe ist der Entwurf unzureichend. Denn
weder ist die Anzahl der abfragenden Stellen über-
schaubar, noch wird der Zugriff auf sogenannte
Bestandsdaten, PIN-Nummern und Passwörter sowie
dynamische IP-Adressen auf befriedigende Weise ge-
löst. Wir werden jedenfalls keiner Regelung zustim-
men, die Maßnahmen ohne Richtervorbehalt vorsieht,
keine Benachrichtigungspflichten definiert und die
einschlägigen Delikte nicht begrenzt.

All das sieht der Regierungsentwurf aber vor. Wie
kann das sein? Wo ist da die Stimme von Frau
Leutheusser-Schnarrenberger? War ihr Haus nicht be-
teiligt? Oder sind die sonst ach so großen Sorgen und
Bedenken um die Bürgerrechte hier nicht vorhanden?
Fragen über Fragen. Niemand wird sie so recht beant-
worten können. Bei der inneren Sicherheit ist diese
Regierung ein noch größeres Rätsel als in allen ande-
ren Bereichen. Regierungskunst oder handwerkliche
Gründlichkeit erwartet da ohnehin niemand mehr.
Jedoch haben die Sicherheitsbehörden ebenso wie die
kritische Öffentlichkeit den Anspruch darauf, wenigs-
tens nicht veralbert zu werden.

Wir werden auch bei diesem Gesetz auf Seriosität
und Solidität achten, wie beim Wahlrecht und der Ein-
richtung einer Datei gegen Rechtsextremisten.


Gisela Piltz (FDP):
Rede ID: ID1721929500

Die Änderung des Telekommunikationsgesetzes und

verschiedener Sicherheitsgesetze des Bundes wie auch
die noch zusätzlich erforderlichen Änderungen, die die
Länder in ihren Sicherheitsgesetzen werden vorneh-
men müssen, ist notwendig, weil die von Rot-Grün be-
schlossene Regelung verfassungswidrig war und vom
Bundesverfassungsgericht daher für nichtig erklärt
wurde. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetz-
geber eine Frist bis zum 30. Juni 2013 eingeräumt, bis
zu der das alte – verfassungswidrige – Gesetz noch an-
gewandt werden darf.

Nun hat die Bundesregierung einen Entwurf vorge-
legt, von dem ich für die FDP-Fraktion schon heute
sagen kann, dass dieser in den nun anstehenden parla-
mentarischen Beratungen noch verändert werden
muss. Richtig hat die Bundesregierung erkannt, dass
es nach dem Bundesverfassungsgericht ausdrücklich

verfassungswidrig ist, im Telekommunikationsgesetz,
also einem Gesetz des Bundes, die prozessualen oder
polizeirechtlichen Vorgaben zu verankern, die die
Rechtmäßigkeit des Auskunftverlangens absichern sol-
len, weil damit gegen das Föderalismusprinzip versto-
ßen wird. Unter welchen rechtsstaatlichen Vorausset-
zungen – also beispielsweise Richtervorbehalte – die
Landespolizei auf Bestandsdaten zugreifen darf, muss
im Land geregelt werden.

Für den Bund gilt das aber genauso. Auch hier muss
in den jeweiligen Sicherheitsgesetzen – also im BKA-
Gesetz, im Bundespolizeigesetz, in den Gesetzen der
Nachrichtendienste des Bundes – geregelt werden, ob
und wann auf Bestandsdaten zugegriffen werden darf.
Das Bundesverfassungsgericht hat ausdrücklich vor-
gegeben, dass sich die Abfrage von Bestandsdaten
nicht schlicht auf die polizeilichen Generalklauseln
stützen dürfe.

Hier hat die Bundesregierung Vorschläge unterbrei-
tet, die noch intensiver und gründlicher Prüfung be-
dürfen, ob und inwieweit hier die verfassungsrechtli-
chen Vorgaben erfüllt sind. Denn wir sprechen bei der
Bestandsdatenabfrage ja nicht nur von einfachen Be-
standsdatenauskünften, wie sie in jedem Telefonbuch
zu finden sind, sondern wir reden auch über grund-
rechtsintensive Eingriffe wie die Abfrage von Zu-
gangssicherungscodes, sprich PINs, PUKs oder Pass-
wörtern, und nicht zuletzt von der Zuordnung
dynamischer IPs zu einer Person, also einem Eingriff
in den Schutzbereich von Art. 10 Grundgesetz.

Es geht – um das an dieser Stelle einmal deutlich zu
machen – aber nicht, wie verschiedentlich behauptet,
um Telekommunikationsverkehrsdaten oder um Tele-
kommunikationsverbindungsdaten. Es geht um Be-
standsdaten, also zum Beispiel: Wer ist Inhaber einer
Telefonnummer? Was derjenige mit der Telefonnum-
mer gemacht hat, also ob er darüber telefoniert hat
oder mit wem oder wie lange, das ist kein Bestandsda-
tum – und darum auch nicht von dem Gesetz erfasst.

Dennoch reden wir nicht über eine Lappalie. Man
muss das eigentlich nicht noch gesondert sagen, aber
um hier gleich Missverständnissen vorzubeugen: Be-
standsdaten genießen selbstverständlich Schutz auf-
grund des Grundgesetzes: einmal aufgrund des mit ih-
rer Erhebung verbundenen Eingriffs in das Recht auf
informationelle Selbstbestimmung oder im Falle der
Erhebung einer Zuordnung einer dynamischen IP des
mit ihrer Erhebung verbundenen Eingriffs in Art. 10
Grundgesetz.

Nach dem Gesetzentwurf der Bundesregierung ist in
allen zu ändernden Sicherheitsgesetzen vorgesehen,
dass die Abfrage von Zugangssicherungscodes nur
dann möglich sein soll, wenn auch deren Nutzung
durch die jeweilige Sicherheitsbehörde rechtmäßig
wäre. Unabhängig davon, dass in aller Regel solche
Daten wie PINs, PUKs oder Passwörter gar nicht ab-
gefragt werden können, weil schon der faktische Zu-
griff des Providers nicht gegeben ist, muss für alle

Zu Protokoll gegebene Reden





Gisela Piltz


(A) (C)



(D)(B)


Fälle, in denen ein Zugriff doch faktisch möglich wäre,
also von der Sicherheitsbehörde, die die Daten haben
will, geprüft werden, ob die Voraussetzungen – mate-
riell wie prozessual – erfüllt sind, um diese auch nut-
zen zu dürfen.

Bräuchte also zum Beispiel das BKA einen Zu-
gangssicherungscode, um eine Telekommunikations-
überwachung durchzuführen, müsste die geplante Te-
lekommunikationsüberwachung rechtmäßig sein. Hier
müsste also zum Beispiel im strafprozessualen Bereich
zuerst einmal eine Straftat aus dem Straftatenkatalog
von § 100 a StPO vorliegen und zudem eine richterli-
che Genehmigung für die Telekommunikationsüberwa-
chung. Erst wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind,
dürfte nach der neu einzufügenden Norm im BKA-Ge-
setz eine Abfrage beim Provider stattfinden.

In diesem Beispielsfall sind mithin die rechtsstaatli-
chen Hürden bereits ausgestaltet. Doch die von der
Bundesregierung vorgeschlagene Norm begrenzt die
Abfragebefugnis nicht auf solche Nutzungstatbe-
stände, die mit hohen rechtsstaatlichen Hürden ausge-
stattet sind. Hier muss also nachgearbeitet werden, um
sicherzustellen, dass für jeden Zugriff auf Zugangs-
sicherungscodes entsprechende rechtsstaatliche Siche-
rungen vorgesehen sind.

Bei die Abfrage der Zuordnung dynamischer IP-
Adressen besteht ebenfalls Verbesserungsbedarf. Hier
sprechen wir über einen Eingriff in Art. 10 Grundge-
setz, sodass hier Benachrichtigungspflichten das Min-
deste sind, was erforderlich ist, um rechtsstaatlichen
Vorgaben zu genügen. Zudem ist ein Eingriff in das Te-
lekommunikationsgrundrecht ohne Richtervorbehalt
ausgesprochen weitgehend und unter dem Gesichts-
punkt der rechtsstaatlichen Sicherungen fragwürdig.

Diese Punkte werden im nun anstehenden parla-
mentarischen Verfahren zu beraten sein. Die FDP-
Fraktion freut sich auf konstruktive Gespräche mit den
anderen Fraktionen. Es muss dem Bundestag ein An-
liegen sein, hier mit der Umsetzung des Bundesverfas-
sungsgerichtsurteils in den Sicherheitsgesetzen des
Bundes ein gutes Beispiel zu setzen. Es wäre wün-
schenswert, wenn diesem dann auch die Länder folgen
könnten; denn die weit überwiegende Zahl der Be-
standsdatenabfragen wird von den Landesbehörden
vorgenommen – und diese richten sich nach Landes-
recht, welches ja nun auch noch von den Landtagen
anzupassen sein wird.


Jan Korte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721929600

Wir reden hier heute über die von der Bundesregie-

rung vorgeschlagenen Änderungen am Telekommuni-
kationsgesetz, genauer über die Bestandsdatenaus-
kunft. Die Bundesregierung hat diesen Entwurf
vorgelegt, weil sie mal wieder vom Verfassungsgericht
zu einer Korrektur gezwungen worden ist. Das ist ja
mittlerweile zu einer schlechten Tradition der letzten
Bundesregierungen geworden, mit in die Bürgerrechte
eingreifenden Gesetzen bis über die Grenzen des ver-

fassungsmäßig Erlaubten zu gehen, um sich dann vom
Verfassungsgericht in die Schranken weisen zu lassen.
Das sagt dann, was eigentlich verfassungsmäßig
machbar ist und was nicht. So auch in diesem Fall.
Diese Entwicklung halte ich für demokratisch nicht
hinnehmbar, und sie ist ein Missbrauch dieser Institu-
tion. Das Bundesverfassungsgericht ist keine ausgela-
gerte Rechtsabteilung der Bundesregierung, und das
sollte auch respektiert werden.

Klar ist: Eine an den Bürgerrechten orientierte
Politik bräuchte das Bundesverfassungsgericht als
Korrektiv nicht. Nicht alles, was verfassungsrechtlich
erlaubt ist, wenn es wie hier um Überwachungs- und
Kontrollbefugnisse geht, muss man machen. Das
scheinen Union und FDP mal wieder vergessen zu
haben.

Mit dem heute vorliegenden Entwurf will Schwarz-
Gelb die Abfrage von Kundendaten der Telekommuni-
kationsdienstleister durch Sicherheitsbehörden und
Geheimdienste sichern. Es geht zum einen um die Na-
men und Adressen von Kommunikationsteilnehmern,
zum anderen um Handy-PINs und E-Mail-Passwörter,
oder darum, welche Internetnutzer zu welcher Zeit
eine bestimmte dynamische IP genutzt haben.

Die Verfassungsrichterinnen und -richter haben zu
Recht festgestellt, dass die Behörden nur solche Daten
abfragen sollten, die sie auch verwenden dürfen. Das
ist bei Ihnen in der Bundesregierung offenbar vorher
niemandem aufgefallen. Diese und andere Kritik-
punkte haben Sie nun in einem Entwurf auszuräumen
versucht, der so schwammig und intransparent ist, das
es einem nur so graust.

Ein Beispiel: Aus der nun geschaffenen neuen Er-
mächtigungsgrundlage in § 100 j Strafprozessordnung
geht nicht eindeutig hervor, unter welchen materiellen
Voraussetzungen die Strafverfolgungsbehörden auf
Zugangscodes, wie PIN und PUK bei Handys, zugrei-
fen dürfen. In Abs. 1 Satz 2 der Vorschrift findet man
nur die Formulierung, dass die Auskunft nur verlangt
werden darf, wenn die gesetzlichen Voraussetzungen
für die Nutzung der Daten vorliegen. Sehr interessant.
Nachvollziehbar wäre es jetzt gewesen, diese Vor-
schriften dann auch zu zitieren, wie beispielsweise den
§ 98 Strafprozessordnung beim Code zum Auslesen ei-
nes beschlagnahmten Mobiltelefons oder den § 100 a
und b Strafprozessordnung bei Nutzung eines Zugangs-
codes für eine Onlinedurchsuchung oder zur Überwa-
chung eines noch nicht abgeschlossenen Telekommu-
nikationsvorgangs.

So herrscht weder für den Normanwender und erst
recht nicht für den Normbetroffenen Klarheit. Das
birgt ein enormes Fehler- und Missbrauchspotenzial.
Dasselbe gilt übrigens für die von Schwarz-Gelb hier
vorgeschlagenen Änderungen der Sicherheitsgesetze
und den Gesetzen der Nachrichtendienste: Im neuen
§ 8 d Bundesverfassungsschutzgesetz wird die vom
Bundesverfassungsgericht geforderte konkrete Gefahr
als Voraussetzung für eine Datenabfrage bei den Tele-

Zu Protokoll gegebene Reden





Jan Korte


(A) (C)



(D)(B)


kommunikationsanbietern überhaupt nicht aufgeführt.
Dies ist bei den sensiblen Daten und den intensiven
Grundrechtseingriffen, um die es hier geht, nicht
akzeptabel, schon gar nicht bei einer völlig aus dem
Ruder laufenden Institution wie dem Verfassungs-
schutz.

Dass die Bundesregierung hier jede Menge Verwir-
rung stiftet, ist ihr offenbar selber aufgefallen. In § 113
Abs. 5 des Telekommunikationsgesetzes wird geregelt,
dass eine Fachkraft des Telekommunikationsanbieters
die Voraussetzungen für die Herausgabe von Daten
prüfen muss. Also nicht an Gewinnspielanbieter, Pri-
vatpersonen oder irgendwen – wir reden hier von
staatlichen Sicherheitsbehörden, die diese Daten ha-
ben wollen, die von privaten Unternehmen kontrolliert
werden sollen, ob sie denn das Richtige tun. Als Kunde
finde ich das gut, kein Zweifel, wenn mein Telefonan-
bieter erst einmal guckt, ob ein Auskunftsersuchen
rechtmäßig ist. Aber für Sie als Bundesregierung ist
das ein Armutszeugnis, weil Sie eingestehen: Ihre Ge-
setze sind so grenzwertig, so schlecht formuliert und so
wenig nachvollziehbar, dass Sie den eigenen Behörden
nicht zutrauen, danach handeln zu können. Wenn Sie
Fehler und Missbrauch auf so einem sensiblen Gebiet
riskieren – wir sprechen hier immerhin von Eingriffen
in Grundrechte nach Art. 2 und 10 unseres Grund-
gesetzes –, dann ist das schlichtweg fahrlässig.

Ich komme noch einmal auf die Voraussetzungen
zum Abruf von Bestandsdaten und den Respekt vor den
Grundrechten der Bürgerinnen und Bürger zurück.
Statt auf die diversen Rechtsgrundlagen von abrufbe-
rechtigten Behörden zu verweisen, hätte die Bundes-
regierung hier auch die Chance gehabt, hohe Hürden
für die Bestandsdatenauskunft zu formulieren. Das
wäre nicht nur transparenter und nachvollziehbarer
gewesen, sondern hätte zum Beispiel verhindert, dass
Sicherheitsbehörden bei geringstem Anlass fleißig
Daten sammeln. Das wäre im Sinne der Bürgerrechte
gewesen. Stattdessen will die Union wieder einmal das
Maximum des verfassungsmäßig Erlaubten heraus-
holen, mit freundlicher Unterstützung der FDP, die
dann eine vom Verfassungsgericht erzwungene
Korrektur als Gewinn für Rechtstaat und Demokratie
zu verkaufen versucht. Das nimmt ihr zum Glück
niemand mehr ab.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denk ich an das Fernmeldegeheimnis in der Nacht,
so bin ich nicht nur um den Schlaf gebracht, sondern
regelmäßig befällt mich helles Entsetzen angesichts
dieser innen- wie gesellschaftspolitischen Groß-
baustelle. Hier geht es um die Grundlagen unserer
Demokratie. Eines der Merkmale, das demokratische
Systeme von autoritären und totalitären Systemen un-
terscheidet, ist der effektive Schutz verfassungsrecht-
lich garantierter Bürger- und Freiheitsrechte. Hierzu
zählt auch die Verlässlichkeit der Vertraulichkeit der

Kommunikation, die sich heute so stark wie niemals
zuvor über die neuen Medien vollzieht.

Der Schutz der Kommunikation vor willkürlicher
Erfassung durch den Staat, zum Beispiel durch eine
anlasslose Vorratsdatenspeicherung oder einen ver-
fassungsrechtlich höchst fragwürdigen Einsatz der
Onlinedurchsuchung, aber eben auch durch eine weit-
gehende Erfassung vertraulicher Kommunikation
durch privatwirtschaftliche Unternehmen, ist und
bleibt aus bürgerrechtlicher Sicht eine unserer ele-
mentarsten Aufgaben. Das haben auch die insbeson-
dere im Bundesland Sachsen, aber auch andernorts
um sich greifenden massenhaften, ja millionenfachen
Funkzellenüberwachungen, also das Erfassen von
Handystandortdaten in Ermittlungsfällen von allen-
falls mittlerer Kriminalität, einmal mehr gezeigt.

Aber auch angesichts der durch diese Bundesregie-
rung weitgehend verschleppten und bis heute nicht
möglichen Aufklärung des Trojanerskandals, der ein
erschreckendes Ausmaß an Naivität und hemdsärmeli-
ger Gleichgültigkeit aufseiten der Sicherheitsbehörden
im staatlichen Umgang mit hochkomplexer Schad-
software zur Quellentelekommunikationsüberwachung
und Onlinedurchsuchung offenbart hat, stellen sich
weiterhin zahlreiche drängende Fragen: Was können
die von Sicherheitsbehörden eingesetzten Programme
tatsächlich? Wurden die sogenannten Nachladefunkti-
onen tatsächlich nur genutzt, um auf Softwareupdates
auf Zielcomputern reagieren zu können? Warum hat
man entsprechende Programme eingesetzt, ohne einen
Einblick in den Quellcode zu nehmen, wodurch die
Überprüfung der Einhaltung äußerst enger gerichtli-
cher und verfassungsrechtlicher Vorgaben gar nicht
möglich war und bis heute nicht möglich ist? Woran
liegt es wohl, dass sich das Bundeskriminalamt bis
heute nicht in der Lage sieht, entsprechende
Programme selbst zu bauen? Wie kann es sein, dass
stattdessen Programme von Anbietern gekauft werden,
von denen wir zweifelsfrei Wissen, dass sie die – wohl-
gemerkt, mit öffentlichen Mitteln entwickelten – Pro-
gramme ohne Hemmungen weiter in alle Welt verkau-
fen und dabei auch nicht eine Zusammenarbeit mit
Despoten scheuen?

Dass sich einerseits Bundeskanzlerin Merkel und
Außenminister Westerwelle öffentlich hinstellen und
die demokratisierende Wirkung der neuen Medien als
ihren Verdienst verkaufen, andererseits aber zusehen,
wie entsprechende Programme in autoritären Staaten
dazu genutzt werden, oppositionellen und demokrati-
schen Protest zu unterbinden und Menschen zu verfol-
gen, zu inhaftieren und zu unterdrücken, spricht schon
für sich. Dass diese Bundesregierung wiederholt eine
bessere Kontrolle der Ausfuhr entsprechender
Programme mit Hinweis auf bürokratische Hürden zu
verhindern versucht hat, ebenso. Dass nun aber, wo
man aufgrund höchster verfassungsrechtlicher Hürden
selbst an der Programmierung solcher grundsätzlich
fragwürdigen Programme scheitert, erneut und weiter-
hin ohne Kenntnis des Quellcodes auf die Programme

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


ebendieser Hersteller zurückgreifen will, um die ei-
gene Bevölkerung zu überwachen, setzt dem ganzen
die Krone auf.

Schließlich möchte ich in diesem Zusammenhang
auch die Vorratsdatenspeicherung nicht unerwähnt
lassen. Sie hängt weiter wie ein Damoklesschwert über
den Kommunikationsfreiheiten der Bürgerinnen und
Bürger. Liebe Kolleginnen und Kollegen der CSU, Sie
lassen ja weiter keine Gelegenheit aus, um populis-
tisch die sofortige Wiedereinführung dieses höchst um-
strittenen Instruments zu fordern. Sie tun dies trotz der
Tatsache, dass längst nachgewiesen ist, dass der Effekt
für die Strafverfolgung hart gegen null geht, es sich
nach höchster bundesdeutscher Rechtsprechung
gleichzeitig aber um einen „besonders schweren Ein-
griff mit einer Streubreite, wie sie die Rechtsordnung
bisher nicht kennt“, handelt und die bloße Existenz
einer Vorratsdatenspeicherung bereits ein „diffus
bedrohliches Gefühl des Beobachtetseins hervorru-
fen“ und eine „unbefangene Wahrnehmung der Grund-
rechte in vielen Bereichen beeinträchtigen“ kann.

Auch die EU-Kommission verhedderte sich an die-
sem Thema leider in höchst peinliche Widersprüche
beim Versuch, die vermeintlichen Erfolge dieser Maß-
nahme nachzuweisen. Jetzt hat man das Problem ver-
tagt, und wir müssen auf ein kluges Urteil des EuGH
zu diesem Instrument der Totalerfassung warten. Die
Chance, für die Grundrechte der Bürgerinnen und
Bürger und gegen eine Neuauflage der Vorratsdaten-
speicherung in Brüssel zu streiten, haben Sie, obwohl
wir Sie hierzu in einem Antrag explizit aufgefordert
haben, vertan.

Mit Vorratsdatenspeicherung, Funkzellenüberwa-
chung und Onlinedurchsuchung habe ich gleichsam
nur die Oberfläche, also das vom tagespolitischen mit-
erfasste Geschehen im Drama um den anhaltenden
Grundrechteabbau beim Telekommunikationsgeheim-
nis, beschrieben. Dabei beschäftigt uns die Gesamt-
frage doch bereits seit Jahren: Wie können wir es im
Digitalzeitalter angesichts einer proliferierenden Viel-
falt von Kommunikationsmöglichkeiten wie E-Mail,
Chat, sozialen Netzwerken usw., aber auch angesichts
neuer Erhebungsformen sowie mittelbarer Aus-
tauschmöglichkeiten via Cloud Computing, Internet
usw. sicherstellen, dass ein zeitgemäßer und wirksa-
mer Grundrechtsschutz rund um die Nutzung all dieser
neuen Formen erhalten bleibt? Es wäre Ihre Aufgabe,
sich endlich dieser Frage mit aller Entschlossenheit
zuzuwenden. Sie tun es nicht. Stattdessen hintertreiben
Sie die dringend benötigte EU-Datenschutzreform und
helfen denen, die den Grundrechtsschutz der Bürgerin-
nen und Bürger – statt gestärkt – lieber weiter abge-
baut sehen würden.

Wir Grünen sind fest davon überzeugt, dass wir die
Freiheit der Kommunikation nur durch ein ganzes
Bündel von Maßnahmen auf unterschiedlichen Ebenen
werden erhalten können. Man wird deshalb um eine
Erweiterung des Grundgesetzes nicht herumkommen.
Dabei sollte an einer Fortentwicklung des Fernmelde-

geheimnisses hin zu einem übergreifenden Telekommu-
nikations- und Mediennutzungsgeheimnis gearbeitet
werden. Wir werden auch nicht umhin können, die ins-
besondere im zurückliegenden Jahrzehnt – ja, leider
zum Teil auch schon unter Rot-Grün – durchgeführten
Ausweitungen der Aufgaben und Befugnisse von
Sicherheitbehörden ernsthaft auf den Prüfstand zu
stellen. Bis heute fehlen die in den einschlägigen Ge-
setzen festgehaltenen Evaluationen. Darauf hat auch
gerade der Bundebeauftragte für den Datenschutz,
Peter Schaar, noch einmal nachdrücklich hingewiesen.

Weitere offenkundige Baustellen, wie etwa die nach
wie vor offene Frage eines wirksamen Kernbereichs-
schutzes bei Telekommunikationsüberwachungen,
oder die nach gesetzgeberischer Klarstellung rufende
Abgrenzung der Reichweite von Art. 10 GG im
Verhältnis zu Art. 2 Abs. 1 GG im Falle der E-Mail-
Überwachung, ließen sich aufzählen, und die Reihe
ließe sich mühelos fortsetzen. Was, frage ich mich, hat
die ehemalige Bürgerrechtspartei FDP und ihre Vor-
zeigeministerin im Justizministerium angesichts dieser
Entwicklung in den letzten Jahren getan?

Dem heute vorgelegten Gesetzentwurf zur Neurege-
lung des Bestandsdatenzugriffes merkt man die
beschriebenen Umbrüche und den fundamentalen
Wandel jedenfalls nicht an. Im Gegenteil: Die Bundes-
regierung liefert eine wachsweiche, ja nahezu ignorant
indifferente Umsetzung der Vorgaben des Bundesver-
fassungsgerichtsurteils vom Januar vergangen Jahres
zur Bestandsdatenerfassung. Zum Teil mag das dem
Urteil des Gerichts selbst zuzuschreiben sein. Denn es
hat sich teilweise wenig klar ausgedrückt und insge-
samt weniger Leidenschaft für die Grundrechte zum
Ausdruck gebracht, als es die dahinterliegenden Fra-
gen wohl erforderlich gemacht oder wir es uns zumin-
dest erhofft hätten.

So erweckt der Gesetzentwurf der Bundesregierung
den Eindruck, dass es sich beim Schutz von Bestands-
daten um eine Art „kleiner Münze“ des Verfassungs-
rechts handelte. Diesen Eindruck mag vielleicht ge-
winnen, wer allein die klassische Trias von
Inhaltsdaten, Verkehrsdaten und Bestandsdaten vor
Augen hat. Lediglich die Inhaltsdaten und Verkehrsda-
ten genießen nach der Rechtsprechung die hohen
Schutzschwellen des Fernmeldegeheimnisses, wäh-
rend die Bestandsdaten „nur“ dem Schutz durch das
Recht auf informationelle Selbstbestimmung unterfal-
len. Diese seien von geringer Aussagekraft und des-
halb weniger schützenswert, weil zumeist bloße
Adressdaten.

Doch das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu
den Bestandsdaten zeigt selbst auf, dass diese „heile
Welt“ der drei Schutzstufen heute kaum mehr trägt.
Das Gericht verdeutlicht selbst, dass auch Bestands-
daten dann dem Schutz von Art. 10 GG unterfallen
können, wenn für deren Ermittlung zwingend zuerst
auf dynamische IP-Adressdaten zurückgegriffen
werden muss, und zum anderen betont es die Veränder-
lichkeit seiner Gesamtbewertung für die Zukunft ange-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Konstantin von Notz


(A) (C)



(D)(B)


sichts der Entwicklung des neuen Adressvergabestan-
dards Ipv6. Denn in dem Maße, wie statische
Adressvergaben üblich werden, wird mit dem Zugriff
auf das vermeintliche Bestandsdatum auch der ge-
samte Verkehrdsdatenkontext einer Person erschließ-
bar. Wann aber ist rein faktisch quantitativ die
Schwelle überschritten, bei der der Gesetzgeber schüt-
zend einschreiten soll?

Einen dritten problematischen Fall benennt das
Gericht mit den Zugangssicherungscodes wie Pass-
wörtern, PINs oder PUKs. Hier kommt das Gericht
ebenfalls zum Ergebnis, dass zusätzlicher Schutz vor
behördlichen Zugriffen angezeigt ist. Eine Beauskunf-
tung auf Vorrat scheidet aus, konkrete Voraussetzun-
gen für einen jeweiligen Zugriff müssen vorliegen.

Der Koalitionsentwurf bleibt auf diese grundrecht-
lichen Probleme bedauerlicherweise alle Antworten
schuldig. Insbesondere fehlt es an einer differenzieren-
den Regelung zwischen reinen Bestandsdatenzugriffen
und solchen, bei denen auf nach Art. 10 GG geschützte
Daten zugegriffen werden muss. Das Mindeste wären
engere Zugriffsvoraussetzungen und die Benachrichti-
gungspflicht gegenüber den Betroffenen. Der Zugriff
nach dem Ordnungswidrigkeitengesetz auf diese Da-
ten dürfte unverhältnismäßig und deshalb auszuschlie-
ßen sein.

Ebenfalls untragbar erscheint die Regelung für Zu-
griffe auf Zugangssicherungscodes, weil hier gegen
die gleichwohl etwas schräg formulierten Anforderun-
gen des Bundesverfassungsgerichts geregelt wurde.
Angesichts der sich eröffnenden umfassenden Zugriffs-
möglichkeit durch Kenntnis dieser Daten braucht es
eine normenklare und hinreichend bestimmte Formu-
lierung, die fachgesetzlich eine Rückbindung an einen
konkreten Tatverdacht oder eine konkrete Gefahr zum
Zeitpunkt der Anfrage sicherstellt. Hier sollte auch
über den Richtervorbehalt nachgedacht werden. Auch
an einer Benachrichtigungspflicht darf es dann nicht
fehlen. Generell sollte eine Beauskunftung nach § 113
Abs. 1 Satz 1 TKG nur für den Einzelfall zugelassen
werden, um den entsprechenden konkreten Maßgaben
des Bundesverfassungsgerichts in seinem Urteil ange-
messen Rechnung zu tragen.

Aus Anlass einer Bestandsdatenzugriffsregelung
sollten bereits jetzt die Empfehlungen des deutschen
Ipv6-Rates sowie die Entschließungen nationaler wie
auch internationaler Datenschutzkonferenzen beachtet
werden. Ziel muss es unter anderem sein, die Endnut-
zer über die Möglichkeiten von Ipv6 aufzuklären und
ihnen die Wahl zu belassen, ob sie statisch oder dyna-
misch unterwegs sein wollen. Gerätehersteller sollten
die Privacy Extensions bei Endkundengeräten stan-
dardmäßig aktivieren und dazu gesetzlich verpflichtet
werden.

Ebenfalls anlässlich dieser Regelung sollte erneut
geprüft werden, auf welche Weise der Gesetzgeber si-
cherstellen kann, dass die Speicherdauer von IP-Daten
zu den unterschiedlichen bislang anerkannten unter-

nehmerischen Zwecken auf das absolut Erforderliche
beschränkt werden kann. Wie stets sollte in diesem
grundrechtssensiblen Bereich per Statistik die Abfra-
gerealität der Behörden differenziert erfasst und eine
Evaluation der Neuregelung angestrebt werden.

Lassen Sie mich noch sagen, dass ich es außeror-
dentlich bedauere, dass einzelne Innenministerien aus
Anlass dieses Entwurfes über den Bundesrat versu-
chen, eine Verschärfung dahin gehend zu bewirken,
dass durch die Hintertür eine Identifizierungspflicht
für Prepaid-Kunden geschaffen werden soll. Dieser
Streit begleitet uns nun seit gut 20 Jahren, und Neues
wurde auch diesmal nicht vorgetragen. Es ist meine
Grundüberzeugung, dass sich weder damit noch mit
einem allgemeinen Namenszwang die realen Risiken
als auch fantasierten Risiken der TK-Nutzung bekämp-
fen lassen. Vielmehr würde ein Stück selbstverständli-
che Freiheit, wie sie uns aus dem analogen Leben so
geläufig ist, für immer verloren gehen, nämlich die un-
befangene Nutzung des Kommunikationsraums TK und
des Internets.

Erlauben Sie mir an dieser Stelle doch abschließend
bei aller notwendigen Kritik auch ein kleines Lob an
die Bundesregierung im Detail. Zutreffenderweise
sieht Ihr Entwurf in § 113 Abs. 5 eine formelle Prüf-
pflicht der Provider im Hinblick auf Anfragen vor. Im
Aufsichtsbereich sowie im Schrifttum wird dies bereits
länger vertreten, um die teilweise erschreckende
Realität unzulänglicher behördlicher Anfragen – oft
per E-Mail, ohne Unterschrift etc. – eindämmen zu
können. Meine Fraktion und ich freuen uns auf die
weiteren intensiven Beratungen dieser Initiative in den
Fachausschüssen und die Plenardebatte zur zweiten
und dritten Lesung, der Sie angesichts der Bedeutung
des Themas sicherlich einen prominenten Platz auf der
Tagesordnung einräumen werden.

D
Dr. Ole Schröder (CDU):
Rede ID: ID1721929700


Mit dem Gesetzentwurf zur Bestandsdatenauskunft
setzen wir die Anforderungen um, die das Bundes-
verfassungsgericht im letzten Jahr für die manuelle
Bestandsdatenauskunft nach § 113 TKG angemahnt
hatte.

Am Anfang von Ermittlungen steht oftmals nur eine
Telefonnummer oder E-Mail-Adresse eines Verdächti-
gen, eines Zeugen oder einer hilfsbedürftigen Person.
Ist aufgrund eines Hinweises oder einer Anzeige eine
sogenannte Anschlusskennung bekannt, so darf die
Polizei erfragen, wem dieser Anschluss gehört. Dabei
geht es um sehr unterschiedliche Fälle, zum Beispiel
um eine Bombendrohung zurückzuverfolgen oder,
weitaus häufiger, einen angekündigten Suizid zu ver-
hindern.

Die entsprechende Befugnis ist bisher im TKG in
den §§ 112 und 113 geregelt. Das Bundesverfassungs-
gericht hat diese Regelung im Grundsatz für verfas-
sungsrechtlich unbedenklich befunden. Gleichwohl hat
das Gericht drei Änderungen der sogenannten manu-

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder


(A) (C)



(D)(B)


ellen Bestandsdatenauskunft nach § 113 TKG ange-
mahnt, die eher formelle Aspekte betreffen und die mit
dem heute zu beratenden Gesetzentwurf neu geregelt
werden sollen.

Erstens. Nach dem vom BVerfG entwickelten Dop-
peltürenmodell kann im TKG nur die Befugnis bzw.
Verpflichtung der Provider, die Auskunft zu erteilen,
geregelt werden. Die Befugnis für die Behörden, die
Auskunft auch zu verlangen, muss in allen Fachgeset-
zen ausdrücklich geregelt werden. Dies hat das BVerfG
besonders hervorgehoben. Denn der Bundesgesetz-
geber hat keine Kompetenz, im TKG auch die Befugnis
für Landesbehörden vorzusehen, über Bestandsdaten
Auskunft zu verlangen.

Dabei genügen die allgemeinen Datenerhebungs-
vorschriften nach dem Beschluss des Bundesverfas-
sungsgerichts nicht; vielmehr muss sich die Befugnis
ausdrücklich auf die Erhebung von Bestandsdaten im
Sinne des § 113 TKG beziehen.

Zweitens. Anders als Telefonnummern werden IP-
Adressen in den meisten Fällen nicht fest einem Kun-
den zugeordnet, sondern bei jeder Einwahl neu verge-
ben; wir sprechen von sogenannten dynamischen IP-
Adressen. Die Bestandsdaten, also Name und An-
schrift des Inhabers solch einer dynamisch vergebenen
IP-Adresse, kann ein Provider daher nur beauskunf-
ten, wenn er die bei ihm anfallenden Verkehrsdaten
einsieht. Das Gesetz wird daher klarer als bislang re-
geln, dass und unter welchen Umständen ein Provider
dies darf. Da die Verkehrsdaten dem Schutz des Tele-
kommunikationsgeheimnisses aus Art. 10 GG unterfal-
len, muss auch das grundgesetzliche Zitiergebot be-
achtet werden – auch wenn die staatliche Stelle selbst
keine Verkehrsdaten erhält.

Drittens. Auf Zugangssicherungscodes wie Pass-
wörter und PINs darf nach dem Beschluss des Bundes-
verfassungsgerichts nur dann zugegriffen werden,
wenn auch die rechtlichen Voraussetzungen für die Be-
schlagnahme der durch sie geschützten Daten vorlie-
gen. Wenn die Behörde auf die geschützten Daten oh-
nehin nicht zugreifen dürfte, benötigt sie natürlich
auch nicht die entsprechende PIN. Wenn durch einen
Zugangssicherungscode auch der Zugriff auf sensiblere
Daten geschützt wird, müssen auch die entsprechend
höheren Zugriffsvoraussetzungen für diese Daten er-
füllt werden.

Zugangssicherungscodes wie Passwörter und PINs
gehören dabei nur dann zu den Bestandsdaten, wenn
der Provider auch tatsächlich über diese verfügt. In
der Praxis ist dies in erster Linie bei PIN und PUK der
Handy-SIM-Karte der Fall. Andere Passwörter, die
der Kunde selbst festlegen kann, werden nicht vom
Provider vorgehalten und sind daher von der Regelung
auch nicht umfasst.

Diese drei Punkte sollen nach dem Gesetzentwurf
der Bundesregierung einerseits in § 113 TKG, ande-
rerseits in den jeweiligen Fachgesetzen geregelt wer-
den. § 113 TKG schafft dabei die Befugnis der Provider,
die entsprechende Auskunft zu erteilen. Zudem enthält

§ 113 TKG die verfahrensrechtlichen Rahmenbedin-
gungen für die Auskunftserteilung: Die Auskunft ist
aufgrund einer Anfrage in Textform unverzüglich,
richtig und vollständig zu erteilen.

Für die Befugnisse der zuständigen Behörden, eine
solche Auskunft zu verlangen, dient die Vorschrift des
neu eingeführten § 100 j StPO als „Muster“, das in den
jeweiligen Fachgesetzen der Polizei- und Sicherheits-
behörden des Bundes nachgebildet wird. § 100 j StPO
normiert entsprechend dem vom Bundesverfassungs-
gericht vorgegebenen Dreiklang die „normale“ Be-
standsdatenauskunft, die Bestandsdatenauskunft zu
IP-Adressen und die Beauskunftung von Zugangs-
sicherungscodes für Zwecke der Strafverfolgung.

Mit diesem Gesetzentwurf werden weder neue Be-
fugnisse für Strafverfolgungs- oder Sicherheitsbehör-
den geschaffen noch der Kreis der zugriffsberechtigten
Behörden erweitert. Wir beschränken uns vielmehr auf
die Umsetzung der Vorgaben des Bundesverfassungs-
gerichts. Das kann der Bund allerdings nicht allein.
Wir können nur die Vorschriften regeln, für die der
Bund die Gesetzgebungskompetenz hat.

Damit die Bestandsdatenauskunft auch für die nach
dem bisherigen § 113 TKG befugten Landesbehörden,
die keine Strafverfolgungsbehörden sind, Bestand hat,
müssen die entsprechenden Landesgesetze, insbeson-
dere die Polizeigesetze der Länder, auch angepasst
werden, sofern sie nicht schon ausdrücklich auf Be-
standsdaten bezogene und den Vorgaben des Bundes-
verfassungsgerichts genügende Befugnisnormen ent-
halten.

Ich möchte daher mit einem Appell schließen, bei
dieser zwar eher kleinen, aber dennoch für die öffent-
liche Sicherheit in Deutschland äußerst wichtigen An-
gelegenheit zügig zu einem Ergebnis zu kommen. Denn
die bisher geltenden Regelungen sind nach dem Be-
schluss des Bundesverfassungsgerichts nur noch bis
zum 30. Juni 2013 anwendbar. Bis dahin müssen so-
wohl diese Novelle als auch die vermutlich in den Lan-
desgesetzen erforderlich werdenden Änderungen in
Kraft treten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721929800

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/12034 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
haben wir so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 21 a und 21 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, Petra
Crone, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD

Förderung des ökologischen Landbaus –
Wachstumspotentiale in Deutschland für deut-
sche Produzenten erschließen

– Drucksache 17/10862 –





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz (10. Ausschuss) zu
dem Antrag der Abgeordneten Heinz Paula,
Dr. Wilhelm Priesmeier, Willi Brase, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Ökologische Land- und Lebensmittelwirt-
schaft stärken

– Drucksachen 17/7186, 17/8954 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Hans-Georg von der Marwitz
Heinz Paula
Dr. Christel Happach-Kasan
Alexander Süßmair
Cornelia Behm

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auch
hier die Reden zu Protokoll genommen.


Hans-Georg von der Marwitz (CDU):
Rede ID: ID1721929900

Ökologischer Landbau ist zweifelsohne eine nach-

haltige und umweltschonende Form der Landwirt-
schaft. Die Opposition zitiert in ihrem Antrag den Indi-
katorenbericht 2012 des Statistischen Bundesamtes
zur nachhaltigen Entwicklung in Deutschland: „Öko-
logischer Landbau ist besonders auf Nachhaltigkeit
ausgelegt. Er erhält und schont die natürlichen Res-
sourcen in besonderem Maße, hat vielfältige positive
Auswirkungen auf Natur und Umwelt …“ Richtige
Punkte, die ich genauso sehe, allerdings verschweigen
Sie das Ende des Absatzes: „Ökonomisch betrachtet
werden die geringeren Produktionsmengen je Flä-
cheneinheit teilweise durch höhere Preise für Ökopro-
dukte und durch Agrarumweltzahlungen aufgefan-
gen.“

Der Anteil ökologisch bewirtschafteter Fläche ist
von 1994 bis 2010 von 1,6 Prozent auf 5,9 Prozent ge-
stiegen. Das Ziel, 20 Prozent der landwirtschaftlichen
Nutzfläche auf Ökolandbau umzustellen, so wie es in
der Nachhaltigkeitsstrategie formuliert wurde, liegt in
weiter Ferne. Es ist unrealistisch, den Ökoanteil in den
verbleibenden sieben Jahren zu verdreifachen.

Aus der Nachhaltigkeitsstrategie ziehe ich andere
Schlüsse und Handlungsalternativen als die Opposi-
tionsparteien. Ist es nötig und sinnvoll, eine dynamisch
verlaufende Entwicklung im Ökolandbau so zu intensi-
vieren, dass das Ziel im Jahr 2020 erreicht wird? Wir
müssen uns bewusst sein, dass solche Zielvorgaben
nur durch ein Mehr an staatlicher Subventionierung
machbar wären und diese vor allem wettbewerbsver-
zerrend wirken. Subventionierung entkräftet die
marktwirtschaftlichen Mechanismen auf dem europäi-
schen- und auf dem Weltmarkt. Der grenzübergrei-
fende Handel ermöglicht es uns, Ökoprodukte kosten-

günstiger aus anderen Ländern zu importieren und
heimischen Verbrauchern die Produkte zu günstigeren
Preisen anzubieten. Eine fortlaufende Subventionie-
rung schafft keine nachhaltige Selbstständigkeit, auch
nicht in der Ökobranche. Ganz im Gegenteil, es wer-
den Abhängigkeiten geschaffen, die zu ineffizienter
und subventionsoptimierter Wirtschaftsweise führen.

Vor zwei Wochen war ich mir mit manch einem aus
den Reihen der Opposition einig, dass pauschale Di-
rektzahlungen in der ersten Säule nicht das Mittel der
Wahl für eine zukunftsorientierte EU-Agrarpolitik sein
können. Der aktuelle Antrag der SPD fordert „eine
Verstetigung und die Attraktivität der Umstellungsprä-
mien von konventioneller zu ökologischer Landwirt-
schaft sicherzustellen“. Mit ihrem Antrag wird zum ei-
nen der Abbau von Subventionen konterkariert; zum
anderen gibt sich die SPD der populistischen Positio-
nierung der Grünen hin, Ökoproduktion sei die einzig
zukunftsfähige Form der Landwirtschaft. Eine solche
Stigmatisierung des konventionellen Landbaus ist
nicht hinnehmbar, insbesondere vor dem Hintergrund
der hohen Produktionsstandards in Deutschland.

Auch wenn die Verbraucher zunehmend ökologische
Produkte nachfragen: Die bescheidenen Zahlen spre-
chen für sich. Der Anteil von Ökoprodukten am deut-
schen Lebensmittelmarkt lag 2011 laut der Statistik des
Bundes Ökologische Lebensmittelwirtschaft, BÖLW,
bei lediglich 3,7 Prozent.

Das subventionsinduzierte Wachstum ist in Bran-
denburg bereits an seine Grenzen gestoßen. In Bran-
denburg werden über 10 Prozent der landwirtschaft-
lichen Fläche ökologisch bewirtschaftet. Es ist damit
das Bundesland mit dem größten Anteil an Ökoflächen
in Deutschland. Dennoch hat Brandenburg die Um-
stellungsförderung gestoppt. Es konnte die Kofinanzie-
rung nicht mehr aufbringen. Die fallenden Preise für
Ökorohware haben die Ertragskraft vieler Betriebe
nachhaltig geschwächt.

Viel wichtiger als die Förderung des ökologischen
Landbaus wäre es, regionale Veredelungs- und Ver-
marktungsstrukturen aufzubauen, um die heimisch
produzierten Produkte auch für den Verbraucher, zum
Beispiel in Berlin, nutzbar zu machen. Der Faktor
„Regionalität der Agrarprodukte“ ist in Bezug auf
Umwelt- und Verbraucherinteressen gewichtiger als
die Frage nach ökologischer oder konventioneller
Produktion. Viele Produkte sind lediglich für den Ex-
port bestimmt, eine Veredlung vor Ort findet selten
statt und der Bedarf im Ballungsraum Berlin wird
durch Produzenten von außerhalb bedient. Die großen
Ökostrukturen Brandenburgs gleichen sich den Han-
dels- und Vermarktungswegen der konventionellen
Landwirtschaft an. Am Ende muss man sich fragen, ob
eine bedingungslose Ökoförderung wirklich nachhal-
tige und lokale Strukturen begünstigt.

Im Rahmen der zweiten Säule der EU-Agrarpolitik
halte ich eine Umstellungsförderung zugunsten des
Ökolandbaus als Anreizsystem für gerechtfertigt. Des





Hans-Georg von der Marwitz


(A) (C)



(D)(B)


Weiteren sollten die Vorzüge des Ökolandbaus an
sensiblen Umweltstandorten honoriert werden. Die
wissenschaftsbasierte Forschung in der ökologischen
Produktion ist zu unterstützen, um die Effizienz und
Produktivität zu erhöhen. Insoweit teile ich die Mei-
nung der SPD. Eine bevorzugte Dauerförderung aller-
dings lehne ich ab.

Der Ökolandbau ist eine wichtige Säule der Agrar-
wirtschaft, aber nicht die einzige. Deshalb versuche
ich, einen Weg der Gemeinsamkeiten zu suchen, und
vermeide, die eine Form der Bewirtschaftung gegen
die andere auszuspielen. Fehlentwicklungen gilt es al-
lerdings zu erkennen und zu benennen. Bioprodukte
müssen sich über kurz oder lang am Markt behaupten.
Dabei gilt es, solche Strukturen zu fördern, die den
Ökolandbau aus eigenem Antrieb als rentable Wirt-
schaftsform für sich entdecken. Die Diskussion um die
GAP-Reform bietet eine Plattform, den neuen Förder-
zeitraum von 2014 bis 2020 zu nutzen, um die Land-
wirtschaftsbetriebe zu fördern und zu fordern, die den
größtmöglichen volkswirtschaftlichen Nutzen garan-
tieren. Meiner Meinung nach sind das die regionalen
Landwirte, die in ihrer Heimat verwurzelt sind, die, ob
ökologisch oder konventionell wirtschaftend, verant-
wortungsbewusst im Stall und auf dem Feld ihre Höfe
generationsübergreifend führen. Diese Betriebe müs-
sen wir im nächsten Förderzeitraum im Fokus haben.

Allerdings muss die Zeit genutzt werden, um Be-
triebe vom Subventionstropf der ersten Säule unab-
hängig zu machen. Die zweite Säule wird auch weiter-
hin für die strukturschwachen und benachteiligten
Regionen unseres Landes gebraucht werden. Von die-
sen Förderungen können gerade die Betriebe auf
Grenzstandorten profitieren, die ihre Erträge durch
zusätzliche Leistungen für die Gesellschaft sichern. Da
sehe auch ich eine Möglichkeit, den Ökolandbau re-
gional zu fördern.


Heinz Paula (SPD):
Rede ID: ID1721930000

Manche Zeitenwende kann man spüren. Vor weni-

gen Wochen gingen über 25 000 Menschen in Berlin
auf die Straßen. Unter dem Motto „Wir haben Agrar-
industrie satt!“ sprechen sie aus, was viele in unserem
Land denken: Wir brauchen ökologische und soziale
Reformen in der Landwirtschaft.

Wir reden dabei nicht über ein gesellschaftliches
Randphänomen vermeintlich naiver Großstädter, die
noch nie einen Stall von innen gesehen haben, wie es
so oft vonseiten der Union und der FDP spöttisch
dargestellt wird. Es geht vielmehr um die Mitte der Ge-
sellschaft. Bürger, Familien, Anwohner, Landwirte,
Kommunalvertreter, Kirchen, Nichtregierungsorgani-
sationen – sie haben erkannt: So kann es nicht weiter-
gehen.

Die derzeitige Form der landwirtschaftlichen Inten-
sivtierhaltung geht auf Kosten ökologischer, sozialer
und ethischer Aspekte. Sie führt zu immensen Proble-
men vom Tier- und Artenschutz, über Antibiotikamiss-
brauch bis hin zum Klimawandel. Insbesondere in den

Zentren der intensiven Tierhaltung befürchten die
Menschen gesundheitliche Schäden und negative Aus-
wirkungen auf den Boden und das Grundwasser. Mil-
lionen von Tieren werden weiterhin gequält, auf viel zu
engem Raum gehalten, tagelang durch Deutschland
gekarrt. Es werden weiterhin millionenfach Schnäbel
gekürzt, Hörner geschliffen und Ferkel betäubungslos
kastriert. In deutschen Schlachthöfen herrschen wei-
terhin verheerende Zustände für Mensch und Tier.
Deutschland verkommt zum Billigland für Schlachtun-
gen und Fleischproduktion. Der bäuerliche Mittelstand
und über Jahrhunderte gewachsene landwirtschaftli-
che Strukturen werden verdrängt. Auch in Bayern und
gerade in den ländlichen Regionen betrifft uns das un-
mittelbar. Man kann wie die Regierungskoalition die
Augen davor schließen und sie als reines Akzeptanz-
problem abtun, oder aber man tut etwas dagegen.
Denn so kann es nicht weitergehen.

Der ökologische Landbau ist Teil der erwähnten
Wende der Ernährungswirtschaft, die unser Land er-
fasst. Er kann einen entscheidenden Beitrag dazu leis-
ten, die genannten Probleme zu lösen. Das sehen nicht
nur die SPD-Bundestagsfraktion, sondern auch die
Autoren des Weltagrarberichts so. Ökologische Land-
wirtschaft nimmt eine bedeutende Rolle ein, die drän-
genden Herausforderungen in der Landwirtschafts-,
Umwelt- und Ernährungspolitik zu meistern. Sie ist
seit mehr als 20 Jahren ein Erfolgsmodell und hat sich
gerade in dieser Zeit als krisenfeste betriebswirt-
schaftliche Alternative zur konventionellen Landwirt-
schaft entwickelt. Sie schützt und bewahrt gesellschaft-
lich bedeutsame Güter, leistet einen wichtigen Beitrag
zum Klima- und Artenschutz und trägt insbesondere
zur Erhaltung der Boden- und Wasserqualität bei.
Auch vom Arbeitsmarkt sind die ökologische Land-
wirtschaft und die ökologische Lebensmittelwirtschaft
nicht mehr wegzudenken. Insgesamt sind in der deut-
schen Biobranche knapp 180 000 Menschen vor allem
in den ländlichen Regionen beschäftigt. Das alles
müssen auch vonseiten der Politik endlich alle aner-
kennen. Die Potenziale müssen endlich weiter ausge-
schöpft und die Leistungen der Biolandwirte verläss-
lich honoriert werden. Wir müssen den Ökolandbau
stützen und fördern.

Bisher hat sich Deutschland mit seiner nationalen
Nachhaltigkeitsstrategie nur hehre Ziele gesetzt. So
legt der Nachhaltigkeitsindikator für ökologische
Landwirtschaft fest, dass 20 Prozent der landwirt-
schaftlich genutzten Fläche in den nächsten Jahren
ökologisch bewirtschaftet werden sollen. Auch wenn
diese Maßgabe auf den ersten Blick sehr bodenständig
wirkt, zumal noch nicht einmal ein Zieldatum definiert
ist, sind wir immer noch weit von ihrer Verwirklichung
entfernt. Denn trotz der jährlichen Zuwächse für den
ökologischen Landbau wurden im Jahr 2011 nur ma-
gere 6,1 Prozent der landwirtschaftlichen Fläche tat-
sächlich ökologisch genutzt.

Doch statt nun zu sagen: „Dann muss eben mehr für
den Biolandbau getan werden“, greift man tief in die

Zu Protokoll gegebene Reden





Heinz Paula


(A) (C)



(D)(B)


statistische Trickkiste. So verzögert die schwarz-gelbe
Bundesregierung den Ausbau weiter, indem sie ohne
Grund das Bundesprogramm Ökologischer Landbau
auf andere Formen Landwirtschaft erweitert und da-
mit die ursprüngliche Zweckbestimmung konterka-
riert.

Gerade hier wird deutlich: Dieser Bundesregierung
fehlt eine einheitliche und auf Dauer angelegte syste-
matische Zielförderung der ökologischen Landwirt-
schaft. Bisher gibt es ein unkoordiniertes Nebeneinan-
der von Direktzahlungen aus Brüssel und freiwillige
Agrarumweltmaßnahmen auf Länderebene. Obwohl
viele punktuelle Initiativen zeigen, wie sich Landwirt-
schaft mit Klima-, Natur-, Arten- und vor allem
Tierschutz unter wirtschaftlichen Maßgaben zusam-
menbringen lässt, vermisst man bei dieser Bundes-
regierung jede Strategie, damit mehr Landwirte auf
ökologische Produktionsweisen umstellen.

Nicht erst seit 2010 zeichnet sich stets dasselbe
Schema ab: Bundesministerin Aigner verkündet treu-
herzig Verbesserungen, kürzt hinterrücks dann aber
die Mittel. Ich möchte daran erinnern, dass die jetzige
Bundesregierung noch 2010 rigoros Verpflichtungser-
mächtigungen in Höhe von 3,3 Millionen Euro für den
Ökolandbau gestrichen hat. Statt in langfristige, not-
wendige Projekte floss das Geld in die Exportförde-
rung für die Überproduktion in der Intensivlandwirt-
schaft.

Es reicht auch nicht, wenn Bundesministerin Aigner
noch vor wenigen Wochen Investitionsförderung für
Stallbauten mit besonders artgerechter Tierhaltung
ankündigt, dann aber bei den entsprechenden Ver-
handlungen zur Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung
der Agrarstruktur und des Küstenschutzes“ kein Wort
dazu verliert und die Finanzmittel bis zur Unkenntlich-
keit kürzt. Es reicht ebenso nicht, dass hier und da
neue Regionallabels oder Onlineportale eingeführt
werden.

Um wirklich etwas zu bewegen, könnte beispiels-
weise ganz konkret in der nationalen Nachhaltigkeits-
strategie das Ziel zur Umstellung auf Ökolandbau auf
20 Prozent der landwirtschaftlich genutzten Fläche bis
zum Jahr 2020 festlegt werden. Ebenso ließe sich das
öffentliche Beschaffungsprogramm zur Förderung
ökologischer Landwirtschaft nutzen. Wir müssen auch
endlich die sozialen Aspekte der Landwirtschaft erken-
nen und dementsprechend handeln: Lassen Sie uns ei-
nen flächendeckenden Mindestlohn festlegen.

Wir brauchen ein Umsteuern, um gesunde Ernäh-
rung, Bodenschutz und artgerechte Tierhaltung zu er-
möglichen. Hier sind wir aufgefordert, die nationalen,
internationalen und besonders europäischen Rahmen-
bedingungen zu verbessern. Wir brauchen weiterhin
die Unterstützung der Europäischen Union für die
Landwirtschaft, zugleich dürfen die europäischen
Agrarmittel nicht an historischen Ansprüchen, son-
dern müssen am Erstellen öffentlicher Güter orientiert
werden. Die Zahlungen müssen für die Zukunftsfähig-

keit einer bäuerlichen, für Umwelt, Tier, Natur und
Landschaft verträglichen Landwirtschaft eingesetzt
werden.

Ökolandbau weist einen deutlich kleineren ökologi-
schen Fußabdruck auf, ist weniger abhängig von künf-
tig knappen Ressourcen, integriert ethische Anliegen
wie das Tierwohl und erhöht die Wertschöpfung in
ländlichen Räumen. Er baut dabei stark auf bäuerli-
ches Wissen, muss aber auch darüber hinaus weiter er-
forscht werden. In unseren Haushaltsentwurf für 2013
hat die SPD-Bundestagsfraktion daher zusätzliche Mit-
tel für Forschung, Technologieentwicklung und -trans-
fer gefordert, zum Beispiel für eine Effizienzsteigerung
der ressourcenschonenden ökologischen Anbausys-
teme.

Seit Jahren verzeichnet der deutsche Biomarkt ein
stetiges Umsatzwachstum. Trotzdem übersteigt die
Nachfrage nach heimischen, ökologischen Lebensmit-
teln das derzeitige Angebot. Diese Schere wird immer
noch durch Importe gedeckt. Doch ohne Förderung
fehlt unseren Landwirten der Ausgleich für die Kosten
der Umstellung und für die zusätzlichen gesellschaftli-
chen Leistungen, die sie erbringen.

Es brodelt in der Gesellschaft. Die Menschen gehen
auf die Straße und wollen Veränderungen sehen. Wir
brauchen eine Ernährungswende, die ökologische und
ethische Aspekte praktikabel umsetzt. Stellen Sie die
Landwirtschaft endlich auf die Zukunft ein. Dazu ge-
hört insbesondere die Unterstützung der ökologischen
Landwirtschaft bei uns in Deutschland.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1721930100

Die beiden Anträge sind ein bisschen in die Jahre

gekommen und in ihren rückwärtsgerichteten Forde-
rungen völlig überholt. Der Ökolandbau muss, wie
andere Formen der Landwirtschaft, auf die Zukunft
ausgerichtet werden und darf nicht in alten Denkscha-
blonen verharren. Dafür bieten die beiden Anträge
keine Ansätze. Alte Bewirtschaftungsmethoden sind
nicht per se gut, nur weil sie alt sind. Bei Autos weiß
das bei uns jeder; bei der Landwirtschaft dagegen gibt
es noch immer eine Rückwärtsorientierung.

Im Jahr 2013 den sogenannten Weltagrarbericht
aus dem Jahr 2008 zu unterzeichnen heißt, die Ent-
wicklungen der letzten fünf Jahre auszublenden. Der
Bericht der britischen Regierung „The Future of Food
and Farming“ aus dem Jahr 2011 ist deutlich aktuel-
ler. Seine Vorstellungen von effizienter Landwirtschaft
sind besser geeignet, die Herausforderungen zu bewäl-
tigen, die eine wachsende Weltbevölkerung und der
Klimawandel an die Landwirtschaft stellen.

Es ist reine Klientelpolitik, eine höhere Förderung
für Biobetriebe zu fordern. Schon jetzt werden Ökobe-
triebe zusätzlich zu den Direktzahlungen der EU von
den Bundesländern mit zwischen 150 und 204 Euro
pro Hektar Ackerland, 255 bis 360 Euro pro Hektar
Gemüse und in der Größenordnung von 700 Euro pro
Hektar Dauerkulturen gefördert. In die gleiche Rich-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)


tung geht die Forderung, die Öffnung des Förderpro-
gramms Ökologischer Landbau zurückzudrehen. Das
hieße, Neulandbetriebe auszuschließen, also Betriebe,
die sich einer besonders tierschonenden Tierhaltung
verpflichtet haben, oder ebenfalls die von der DLG als
besonders nachhaltig wirtschaftend anerkannten Be-
triebe auszugrenzen. Das ist keine Zukunftsstrategie.

Die Forderung berücksichtigt nicht, dass Öko-
bauern für ihre Produkte bereits jetzt über den Markt
höhere Preise erwirtschaften als konventionell wirt-
schaftende Betriebe. Die deutlich geringeren Erträge
der Biobauern werden ausgeglichen durch höhere Er-
löse für ihre Produkte. Für das Wirtschaftsjahr 2010/11
zeigten die Auswertungen der Bundesregierung, dass
im Durchschnitt die Gewinne dieser Betriebe ge-
genüber dem Vorjahr um knapp 30 Prozent auf
60 736 Euro zugenommen haben. Damit waren ihre
Gewinne größer als im Durchschnitt der konventionell
wirtschaftenden Haupterwerbsbetriebe mit 54 730 Euro.
Wer vor diesem Hintergrund eine noch höhere Förde-
rung des Ökolandbaus aus Haushaltsmitteln fordert,
handelt unverantwortlich.

Es ist doch vielmehr an der Zeit, dass die unter-
schiedlichen Formen der Landbewirtschaftung vonei-
nander lernen, ohne ihr eigenes Profil aufzugeben, und
sich von ihren Dogmen trennen. Das wäre zu beider-
seitigem Nutzen und würde die Nachhaltigkeit der
Nahrungsmittelproduktion, die Effizienz der Flächen-
nutzung, die Schonung der Böden und den Erhalt der
Biodiversität unterstützen.

Wir wissen, dass die Herausforderungen immens
sind, die global an die Landwirtschaft aufgrund von
Klimawandel, Bevölkerungswachstum und Mehrung
des Wohlstands in den Schwellenländern gestellt wer-
den. Um diesen Ansprüchen gerecht werden zu können,
benötigen wir eine nachhaltige Intensivierung der
Landwirtschaft, um zu einer Effizienzsteigerung zu
gelangen. Dafür muss die Landwirtschaft insgesamt
besser werden: Die moderne Landwirtschaft muss
beispielsweise die Nitratausträge mindern, der Öko-
landbau seine Erträge wesentlich steigern. Wir können
nicht damit zufrieden sein, dass seine Erträge im Ver-
gleich zur modernen Landwirtschaft teilweise nur bei
50 Prozent liegen. Der Ökolandbau ist in der Pflicht,
seine Produktionssysteme den modernen Anforderun-
gen entsprechend weiterzuentwickeln. Forschung kann
dabei nur helfen, wenn die Anbaurichtlinien der Ver-
bände für moderne Methoden geöffnet werden.

Aus Sicht der FDP sollte der Ökolandbau auch
seine Haltung zu gentechnisch veränderten Pflanzen
überprüfen, die gegenüber Schadorganismen resistent
sind. Das Gleiche gilt für Hybridpflanzensorten, die
durch den Heterosiseffekt höhere Erträge ermögli-
chen. Nur weil zu Zeiten von Steiner diese Methoden
noch nicht bekannt waren, sollten sie nicht fundamen-
talistisch abgelehnt werden.

Wir brauchen eine nüchterne und wissenschaftlich
fundierte Betrachtung des Ökolandbaus, die den Res-

sourceneinsatz in Bezug auf die erzeugte Menge des
landwirtschaftlichen Produkts misst. Denn Landwirt-
schaft dient der Erzeugung von Weizen, Fleisch oder
Eiern. Die Produktmenge muss zum Vergleich ver-
schiedener Produktionssysteme herangezogen werden;
die Fläche ist die falsche Bezugsgröße.

Die Biobetriebe haben sich sehr erfolgreich ein ei-
genes Marktsegment erschlossen. Die unternehmeri-
sche moderne Landwirtschaft hat von Ökobetrieben
gelernt. Zusätzliche Dienstleistungen wie Selbstver-
marktung, Bildungsangebote für Schulen, Erlebnis-
gastronomie oder Urlaub auf dem Bauernhof bieten
moderne landwirtschaftliche Betriebe genauso wie
Ökobetriebe. Es wäre gut, dies bliebe keine Einbahn-
straße; denn moderne Betriebe wirtschaften zumeist
effizienter als Ökobetriebe.

Zum Anspruch, gesunde Lebensmittel bei geringer
Beeinträchtigung der Natur zu produzieren, gehört
auch die Vermeidung des Einsatzes von Kupfer im
Weinbau und in der Obst- und Hopfenerzeugung. Bö-
den mit Schwermetallen zu belasten ist keine echte
ökologische Alternative zur Nutzung moderner Fungi-
zide. Das UBA hat wissenschaftlich nachgewiesen,
dass es chemische Fungizide gibt, die die Natur weni-
ger beeinträchtigen als der Kupfereinsatz. Es ist daher
überfällig, dass das Dogma der Ablehnung syntheti-
scher Pflanzenschutzmittel fällt.

In der modernen wie der ökologischen Landwirt-
schaft besteht noch viel Potenzial für Verbesserungen.
Es wäre an der Zeit, dass beide Seiten voneinander ler-
nen: die Ökolandwirte von den modern wirtschaften-
den Landwirten und umgekehrt die modernen Land-
wirte von den Ökolandwirten. Es ist an der Zeit, dass
Gesellschaft und Politik dafür Impulse setzen.


Alexander Süßmair (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721930200

Wir debattieren heute zwei Anträge der SPD zur

Förderung des ökologischen Landbaus.

Lebensmittel aus ökologischer Produktion erfreuen
sich stetig steigender Beliebtheit in Deutschland. In-
zwischen werden über 1 Million Hektar in Deutsch-
land ökologisch bewirtschaftet. Das sind rund 6 Pro-
zent der Agrarfläche in Deutschland. Ziel des
Ökolandbaus ist nachhaltiges Wirtschaften, das den
Boden sowie natürliche Ressourcen schont, umwelt-
freundlich und tiergerecht ist.

Dazu werden geschlossene Betriebskreisläufe ange-
strebt, bei denen die notwendigen Futtermittel und
Nährstoffe für den Anbau von Pflanzen und zur Tier-
haltung möglichst aus dem eigenen Betrieb stammen.
Zugekaufte Betriebsmittel müssen grundsätzlich auch
aus ökologischem Anbau stammen.

Deutschland strebt in seiner Nachhaltigkeitsstrate-
gie an, dass 20 Prozent der landwirtschaftlich genutz-
ten Fläche ökologisch bewirtschaftet werden. Aller-
dings gibt es kein Zieldatum dafür.

Zu Protokoll gegebene Reden





Alexander Süßmair


(A) (C)



(D)(B)


Vor wenigen Tagen hat der Bund für ökologische
Lebensmittelwirtschaft, BÖLW, ein Thesenpapier ver-
abschiedet. Darin fordert der BÖLW unter anderem
Folgendes:

Nachhaltige Ernährung: Die Fächer Ernährungs-
lehre, Kochen, Hauswirtschaft müssen in allen allge-
meinbildenden Schulen eingeführt werden, ausgerich-
tet an einem nachhaltigen Ernährungsstil. Öffentliche
Kantinen sollen auf eine ökologische Kost umgestellt
werden.

Artgerechte Tierhaltung: Staatliche Investitionszu-
schüsse für Stallneu- und -umbauten dürfen in allen
Bundesländern nur noch für artgerechte Tierhaltungs-
systeme gewährt werden, die über dem gesetzlichen
Mindeststandard liegen. Eine Strategie muss kommen,
mit der alle Betriebe in einer bestimmten Übergangs-
frist auf artgerechte Tierhaltung umstellen müssen.

Kreislaufwirtschaft: Durch die Produktion bedingte
Umwelt- und sonstige gesellschaftliche Kosten müssen
den Verursachern zugeordnet werden.

Eine ökosoziale Marktwirtschaft. Das heißt, die
Wirtschaftsleistung ist mittelfristig mit dem Nationalen
Wohlfahrtsindex, NWI, anstelle des Bruttosozial-
produkts zu messen.

Diese Forderungen unterstützen auch wir von der
Linken.

Nun, wenden wir uns den Anträgen der SPD zu. Sie
wollen den ökologischen Landbau stärken. Welche
Maßnahmen schlagen sie vor, damit dieses Ziel er-
reicht werden kann? Der erste Antrag ist vom Septem-
ber 2011. Diesen beraten wir heute abschießend. Im
Ausschuss Ernährung, Landwirtschaft und Verbrau-
cherschutz haben wir darüber bereits beraten. Was
fordert die SPD darin? Hier vier Beispiele:

Erstens. Ökolandbau soll in der Gemeinsamen Eu-
ropäischen Agrarpolitik eine wichtigere Rolle spielen.
Zweitens. Die Forschung zur ökologischen Landwirt-
schaft soll verstärkt werden. Drittens. Die Öffnung des
Bundesprogramms Ökolandbau für konventionelle
Produktionsverfahren soll ohne finanzielle Kürzungen
rückgängig gemacht werden. Viertens. Die Bundesre-
gierung soll endlich den Weltagrarbericht von 2008
unterzeichnen.

Alles nicht falsch – alles nicht neu. Aber leider auch
nicht sehr konkret. Deshalb enthält sich die Linke zu
diesem Antrag. Meine Damen und Herren von der
SPD, das ist einfach zu wenig.

Interessanter ist da schon der zweite, umfassendere
Antrag vom September 2012. Darin fordert die SPD:
einen flächendeckenden Mindestlohn, auch in der
Landwirtschaft; ein Weiterbildungsprogramm für die
ökologische Landwirtschaft bei der Bundesagentur für
Arbeit; eine Ökologisierung der gesamten landwirt-
schaftlichen Forschung, Lehre und Ausbildung; das
öffentliche Beschaffungswesen zur Verbreitung ökolo-
gisch erzeugter Lebensmittel zu nutzen. Kantinen kön-
nen hier eine Vorreiterrolle übernehmen. Die bundes-

weite Kompetenzstelle für nachhaltige Beschaffung,
die vom Bundesinnenministerium ins Leben gerufen
wurde, muss mit Leben erfüllt werden. Bundesweit
müssen auch ökologische Kriterien bei der Vergabe
und Beschaffung berücksichtigt werden. Denn nur
ökologisch nachhaltige Angebote sind auch wirt-
schaftlich. Nicht zuletzt: die Ökologisierung der Ge-
meinschaftsaufgabe Agrarstruktur und Küstenschutz,
GAK. Diese Forderungen können wir unterstützen,
und sie finden sich zum Teil auch so in Anträgen, die
die Linke bereits in den Bundestag eingebracht hat.

Klar ist: Kreislaufwirtschaft, Wachstumskritik,
nachhaltige Ernährung, Recht auf Nahrung und artge-
rechte Tierhaltung gehören zusammen! Welthandels-
politik, Tierschutzpolitik, Ernährungs- und Landwirt-
schaftspolitik sind Facetten derselben Medaille. Das
hat sogar unsere Bundeslandwirtschaftsministerin
beim Charta-Prozess begriffen. Nur CDU/CSU und
FDP pflegen weiter ihre Träume vom Weltmarkt auf
Kosten von Mensch, Tier und Umwelt. Alle anderen
haben das satt! Ich hoffe, dass wir diesen Antrag kon-
struktiv im Ausschuss beraten werden.


Cornelia Behm (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721930300

Der Ökolandbau ist nun einmal die nachhaltigste

Form der Landbewirtschaftung. Er schont Boden,
Wasser und Luft sowie Flora und Fauna nicht nur da-
durch, dass er auf Mineraldünger und chemisch-syn-
thetische Pflanzenschutzmittel verzichtet. Den Nutztieren
wird ein weitestgehend artgerechtes Leben ermöglicht.
Der Ökolandbau stellt hinsichtlich der Landnutzung
ein völlig anderes System dar als der aktuell prakti-
zierte sogenannte konventionelle Landbau. Die Nach-
frage nach Produkten aus dem Ökolandbau steigt seit
Jahren, während sie aus heimischer Produktion immer
weniger gedeckt werden kann. Nicht etwa, weil Ökobe-
triebe weniger produzieren als vergleichbare konven-
tionelle Betriebe auf der gleichen Fläche, sondern weil
immer weniger Betriebe umstellen. Soweit die unum-
stößlichen Fakten.

Aus diesen Gründen sollte das Ziel einer gleicher-
maßen ökologisch wie ökonomisch ausgerichteten
Agrarpolitik eigentlich den Ökolandbau zum Leitbild
der Agrarproduktion machen, das heißt schrittweise
Ökologisierung der Landnutzung bis zu 100 Prozent
Ökolandbau. Doch die Regierungskoalition konnte
sich aus parteiideologischen Gründen nicht einmal
dazu überwinden, das 20-Prozent-Ziel in der nationa-
len Nachhaltigkeitsstrategie mit einem zeitlichen Ziel
zu versehen. Die entsprechende Empfehlung des Nach-
haltigkeitsrates wurde schlichtweg ignoriert. Durch die
Öffnung des Bundesprogramms Ökologischer Landbau
für sogenannte andere Formen nachhaltiger Landwirt-
schaft verzögert die schwarz-gelbe Bundesregierung
den Umbau weiter. Schlimmer noch: Selbst das euro-
päische Minimalziel, 7 Prozent der Anbauflächen als
ökologische Vorrangflächen auszuweisen, wird zur
Chefinsache erklärt und mit allen Mitteln zu verhin-
dern versucht. Diese Fehler werden wir nach einem
Regierungswechsel korrigieren.

Zu Protokoll gegebene Reden





Cornelia Behm


(A) (C)



(D)(B)


Denn dass die Verbraucherinnen und Verbraucher
einen Wechsel in der Agrarpolitik hin zu mehr Nach-
haltigkeit und Tierschutz wollen, wurde nicht nur auf
der „Wir haben es satt!“-Demo am 19. Januar von
25 000 Menschen auf den Straßen des Regierungsvier-
tels deutlich artikuliert. In Niedersachsen wurde an
den Wahlurnen ganz eindeutig für eine andere Haltung
abgestimmt.

Wir Grüne wollen dem Ökolandbau wieder mehr
Schub geben. Wir wollen seine ökologischen und ge-
sellschaftlichen Leistungen angemessen honorieren.
Denn die konventionelle, zunehmend industrialisierte
Landwirtschaft produziert nur scheinbar „billige“ Le-
bensmittel. Die externen Kosten, die beispielsweise
durch die Belastung von Böden und Gewässern oder
die Flächeninanspruchnahme in Drittländern für das
Mastfutter auf Basis von importiertem Soja entstehen,
werden nicht im Produkt abgebildet. Viel zu oft gehen
billige tierische Produkte auf Kosten der Nutztiere, die
ihr kurzes Leben ohne Licht, Luft und Sonne in engen
Ställen fristen müssen. Um dies zu ändern, muss die
Höhe von Umstellungs- und Ökoprämien im Rahmen
der Gemeinschaftsaufgabe „Verbesserung der Agrar-
struktur und des Küstenschutzes“ angepasst werden.

Ökolandbau ist keine Spielwiese für naturverliebte
Träumer, sondern volkswirtschaftlich sinnvoll: Die Re-
gionen profitieren durch eine höhere Wertschöpfung
von der ökologischen Landbewirtschaftung, da sie im
Vergleich der Systeme bis zu 30 Prozent mehr Arbeits-
plätze bietet und oftmals auch eine größere betriebliche
Gewinnmarge zu verzeichnen hat. Der Ökolandbau
geht Hand in Hand mit zwei großen gesellschaftlichen
Trends, die für die Entwicklung ländlicher Räume sehr
große Potenziale bieten: mit dem naturnahen Touris-
mus und mit der Regionalität von Lebensmitteln. Wir
können es uns angesichts der Herausforderungen für
die ländlichen Räume nicht leisten, diese Potenziale zu
verspielen. Wir brauchen eine finanziell starke zweite
Säule sowie höhere EU-Kofinanzierungssätze für die
Unterstützung des ökologischen Landbaus.

Die exportorientierte intensive Produktion, die in
der vergangenen Woche auf der Internationalen Grünen
Woche gefeiert wurde, hilft weder dem ländlichen
Raum, wo immer mehr Mastställe aus dem Boden
schießen, noch den Verbraucherinnen und Verbrau-
chern, die keine Gentechnik auf dem Teller haben
möchten, noch den Menschen in ärmeren Teilen der
Welt, deren lokalen Wertschöpfungsketten durch indus-
trielle Massenware zerstört werden. Deutschland
wurde viel zu lange in eine agrarpolitische Sackgasse
manövriert. Aus der kommen wir nur mit einer Kehrt-
wende heraus. Deshalb stimmen wir den Anträgen der
SPD-Fraktion zu, selbst wenn sie uns im Detail nicht
immer ausreichen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721930400

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/10862 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann haben wir so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung zu Tagesordnungs-
punkt 21 b. Der Ausschuss für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz empfiehlt in seiner
Empfehlung auf Drucksache 17/8954, den Antrag der
Fraktion der SPD auf Drucksache 17/7186 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der beiden Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen von SPD und Grünen bei Ent-
haltung der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 24:

Zweite und dritte Beratung des von der Bundes-
regierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
zur Änderung versicherungsrechtlicher Vor-
schriften

– Drucksache 17/11469 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/12199 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Marco Wanderwitz
Ingo Egloff 
Judith Skudelny 
Halina Wawzyniak 
Ingrid Hönlinger

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen worden.


Marco Wanderwitz (CDU):
Rede ID: ID1721930500

Mit der grundlegenden Novellierung des rund

100 Jahre alten Versicherungsvertragsgesetzes haben
wir in der letzten Legislaturperiode einen zeitgemäßen
gerechteren Interessenausgleich zwischen Versicher-
ten und Versicherern geschaffen.

In zweiter und dritter Lesung beraten wir heute ein
Änderungsgesetz, mit dem wir die getroffenen Rege-
lungen an erforderlichen Stellen nachjustieren.
Schwerpunkt des Gesetzentwurfs ist die nachhaltige
Stärkung der Rechte von Versicherten in der privaten
Krankenversicherung und in der Kfz-Haftpflichtversi-
cherung. Hierzu haben wir für die Verfahren bei der
Übernahme und für die Regulierung von Versiche-
rungsfällen die Transparenz erhöht. Die christlich-
liberale Bundesregierung ergänzt damit das in dieser
Wahlperiode bereits geschnürte umfassende Verbrau-
cherschutzpaket.

Bereits heute hat ein privat Krankenversicherter
nach den Grundsätzen von Treu und Glauben gegen-
über seiner Versicherung den Anspruch, zu erfahren,
ob der abgeschlossene Versicherungsvertrag die
Übernahme der wahrscheinlichen Kosten einer Be-
handlung vorsieht bzw. ob die beabsichtigte Heilbe-
handlung eine notwendige Heilbehandlung im Sinne
des § 192 Abs. 1 VVG ist. Dieser Auskunftsanspruch
wird nun klarstellend gesetzlich normiert. Er besteht,
sofern die Heilbehandlung voraussichtlich mehr als
2 000 Euro kosten wird. Die Auskunft hat in dringen-





Marco Wanderwitz


(A) (C)



(D)(B)


den Fällen unverzüglich zu erfolgen, also spätestens
nach zwei Wochen, ansonsten nach vier Wochen. Posi-
tiv für den Versicherten: Unterbleibt die Antwort des
Versicherers innerhalb der Frist, wird bis zum Beweis
des Gegenteils durch den Versicherer vermutet, dass
die beabsichtigte medizinische Heilbehandlung not-
wendig ist.

Wir stärken zudem die Informationsmöglichkeiten
der Versicherten. So können diese künftig ohne Anwalt
die Einsicht in die zur Prüfung der Leistungspflicht
und der Notwendigkeit einer medizinischen Behand-
lung durch den Versicherer herangezogenen Unterla-
gen höchstpersönlich verlangen.

Im Bereich der Kündigungsfristen einer privaten
Krankenversicherung wegen einer Erhöhung der
Beiträge schaffen wir einen großen Puffer, der beiden
Seiten insbesondere beim Abschluss eines neuen Ver-
trages zugutekommt. Künftig hat der Versicherungs-
nehmer nun zwei Monate statt wie bisher nur einen
Monat Zeit. Diese Änderung ist insofern wichtig, als
eine Kündigung nur möglich ist, wenn der Versicherte
einen neuen Vertrag abschließt. Innerhalb der bisheri-
gen recht kurzen Kündigungsfrist nach § 205 Abs. 4
VVG war der vom neuen Versicherer regelmäßig ge-
forderte umfassende Gesundheitstest häufig nicht
durchzuführen, woran ein kurzfristiger Wechsel schei-
terte. Hiermit erhöhen wir die Planbarkeit für alle
Seiten.

Stichwort „Selbstbehalt“: Versicherungsnehmer
können auch im Basistarif bei einer Mindestlaufzeit
von drei Jahren einen Selbstbehalt vereinbaren. Die
Praxis hat gezeigt, dass bei hohen Beiträgen im Basis-
tarif, teilweise sogar bei Höchstbeträgen, dieser
Selbstbehalt nicht immer zu einer Beitragsermäßigung
führt, sondern sich oberhalb des Höchstbetrages
vollzieht. Ein hiervon betroffener Versicherter kann
den Selbstbehalt nun jederzeit kündigen, indem eine
Umstellung des Vertrages in den Basistarif ohne
Selbstbehalt verlangt werden kann.

Zudem werden mit dem vorliegenden Gesetzentwurf
die Widerrufsregelungen der Fernabsatz-Richtlinie,
Richtlinie 2002/65/EG, auch im Bereich des Versiche-
rungswesens umgesetzt. Künftig ist der Versicherte im
Falle der Kündigung seines Versicherungsvertrages
nicht mehr an einen mit diesem zusammenhängenden
Vertrag gebunden. Ein solcher zusammenhängender
Vertrag liegt vor, wenn er einen Bezug zu dem widerru-
fenen Vertrag aufweist und eine Dienstleistung des
Versicherers oder eines Dritten auf der Grundlage
einer Vereinbarung zwischen dem Dritten und dem
Versicherer betrifft. Da die in Umsetzung der Richtli-
nie ins Bürgerliche Gesetzbuch übernommenen
Regelungen des § 312 b Abs. 3 Nr. 3 BGB nicht für
Versicherungsverträge gelten, wird hierzu nun das
VVG erweitert. Die Besonderheit: Die Regelungen im
Versicherungsbereich sind nicht auf den Fernabsatz
beschränkt. Einen besonderen verbraucherschützen-
den Charakter erhält die Regelung dadurch, dass der
Schutz dem Versicherten nicht aufgezwungen wird,

sondern optional ist. Er kann den zusammenhängen-
den Vertrag auch weiterlaufen lassen, sofern dieser
ohne den widerrufenen Vertrag eigenständig fortge-
führt werden kann.

Im Rahmen der Kfz-Haftpflicht wird der Versicher-
tenschutz im Falle der Insolvenz des Versicherers ge-
stärkt. Während in einem solchen Ausnahmefall
grundsätzlich die Verkehrsopferhilfe für entstandene
Schäden eintritt, kann es unter Umständen auch den
Versicherten selber treffen, der den Verkehrsunfall
verursacht hat. Da es für einen ordnungsgemäß Versi-
cherten unbillig wäre, ihn mit den Kosten alleinzulas-
sen, wird seine Haftung auf 2 500 Euro beschränkt.


Ingo Egloff (SPD):
Rede ID: ID1721930600

Wir beraten heute eine Änderung des Versiche-

rungsvertragsgesetzes, die die Rechte der Versicherten
stärken und für Rechtsklarheit sorgen soll. Beides ist
positiv und wird von der SPD-Bundestagsfraktion un-
terstützt.

Die Verbesserung der Einsichtsrechte für die Kran-
ken in die Unterlagen, die sie selbst betreffen, ohne ei-
nen Anwalt oder Arzt bemühen zu müssen, ist zeitge-
recht und richtig. In Zeiten, in denen Transparenz in
vielen Bereichen gefordert und beschlossen wird bis
hin zu Verwaltungsverfahren, die bisher der Öffentlich-
keit entzogen waren, ist es recht und billig, Auskunft zu
erhalten in Sachen, die den höchsten persönlichen Be-
reich betreffen, die Gesundheit und körperliche Inte-
grität. Gerechtfertigt sind hier auch die Einschränkun-
gen, wenn klar eine enge Grenze definiert ist.

Auch die Tatsache, dass die Vereinbarung eines
Selbstbehaltes in jedem Falle zu einer Beitragsredu-
zierung führen muss, ist im Interesse des Versicherten
zu begrüßen. Dies gilt auch für die Verlängerung der
Kündigungsfrist bei Tarifwechsel von einem Monat auf
zwei Monate. Der Versicherungsnehmer erhält damit
mehr Zeit, den Markt zu prüfen, zu sondieren und diese
eventuell weitreichende Entscheidung zu treffen. Denn
der Versichererwechsel ist ja gegebenenfalls mit ver-
änderten Leistungen und Prämien verbunden, die sich
für den Laien nicht unbedingt auf den ersten Blick er-
schließen. Insofern ist eine verlängerte Frist, die es er-
möglicht, entsprechende Angebote einzuholen, zu be-
grüßen.

Wichtig ist der Punkt, dass der Versicherte bei Be-
handlungen, deren Kosten voraussichtlich 2 000 Euro
überschreiten, schriftlich Auskunft über den Versiche-
rungsschutz erhalten kann, dass hierfür eine Frist ge-
setzt ist und bei Überschreiten und Nichtreaktion des
Versicherers die gesetzliche Fiktion eintritt, die Be-
handlung sei genehmigt.

Die Möglichkeit für den Versicherer, nach Ablauf
der Frist das Gegenteil zu beweisen, dürfte in normalen
Fällen eher theoretischer Natur sein, es sei denn, es
lag aufseiten des Versicherungsnehmers eine betrüge-
rische Handlung vor. Aber dann ist meines Erachtens
auch die gesetzliche Regelung gerechtfertigt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingo Egloff


(A) (C)



(D)(B)


Im Normalfall wird sich der Versicherer, wenn der
Patient sich im Vertrauen auf den Fristablauf behan-
deln ließ, gegen diesen Vertrauenstatbestand, den er
geschaffen hat, kaum auf diese Regelung berufen kön-
nen. Denn dann würde die ganze Regelung, die ja
Rechtssicherheit geben soll, ad absurdum geführt wer-
den. Dies würde, da bin ich mir aufgrund meiner be-
ruflichen Kenntnis über die versicherungsrechtliche
Rechtsprechung sicher, kein Gericht überzeugen, zu-
mal die Tendenz der Rechtsprechung in den letzten
Jahren zunehmend im Interesse der Versicherungsneh-
mer liegt.

Zum Schluss: Dass die Umsetzung des Urteils des
Europäischen Gerichtshofes über Unisex-Tarife zu er-
folgen hat, ist völlig klar.

Mein Fazit: Ein vernünftiger Entwurf, den die SPD-
Fraktion unterstützt.


Judith Skudelny (FDP):
Rede ID: ID1721930700

Wir sind uns ja alle einig, dass mit dem Gesetz zur

Änderung versicherungsrechtlicher Vorschriften die
Rechte von Versicherten in der privaten Krankenver-
sicherung und in der Kfz-Haftpflichtversicherung
deutlich gestärkt werden.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf können privat
Krankenversicherte künftig von ihrer Versicherung im
Vorfeld eine Auskunft darüber verlangen, ob diese die
Kosten einer Behandlung übernimmt. Wie Ihnen be-
kannt ist, müssen privat Versicherte für die Kosten ei-
ner Behandlung zunächst in Vorleistung treten und
wissen in vielen Fällen nicht, ob sie diese Kosten von
ihrer Versicherung auch erstattet bekommen. Gerade
bei kostenintensiven größeren Behandlungen ist diese
Auskunft für die Versicherten eine entscheidende
Verbesserung; denn dadurch erhalten sie frühzeitig
Gewissheit und können sich auf die Situation einstel-
len. Im Gesetzentwurf ist ausdrücklich geregelt, dass
diese Auskunft in dringenden Fällen unverzüglich
– spätestens nach zwei Wochen – und in nicht dringen-
den Fällen nach vier Wochen zu erfolgen hat.

Wir erinnern uns, dass diese Änderung durch eine
Petition aus dem Deutschen Bundestag angeregt
wurde. Daran zeigt sich, dass die Betroffenen selbst
ein starkes Interesse daran haben, dass in diesem
Bereich verbindliche Regelungen geschaffen werden.
An dem heutigen Gesetzentwurf zeigt sich aber auch,
dass die Bundesregierung eine Politik des Gehörtwer-
dens betreibt und die Anregungen der Bürgerinnen und
Bürger ernst nimmt und umsetzt. Wir sind als Regie-
rungsfraktionen diesem Wunsch nachgekommen und
stärken mit dem vorliegenden Gesetzentwurf die
Rechte der Versicherten, indem wir im Bereich der
Übernahme und Regulierung von Versicherungsfällen
Klarheit und Rechtssicherheit schaffen.

Schön finde ich, dass dieser Gesetzentwurf von fast
allen Fraktionen getragen wird. Einzig die Grünen
konnten sich gestern im Ausschuss nicht zu einer Zu-
stimmung durchringen. Dabei konnten mich die vorge-

tragenen Bedenken wenig überzeugen. Die Grünen
fordern, das Wort „verbindlich“ in dem Gesetzentwurf
zu verankern. Dabei verkennen sie die Tatsache, dass
die Deckungszusage einer Versicherung, der alle wich-
tigen Tatsachen vorliegen, bereits verbindlich ist.
Nimmt man dieses Wort jedoch mit in den Gesetz-
entwurf auf, verlängert man die Prüfung der Versiche-
rungen, mit dem Ergebnis, dass diese rechtlich nicht
mehr dazu gezwungen werden könnten, eine schnelle
Antwort zu geben.

Aus diesem Grund kann die Streichung des Wortes
„verbindlich“ wohl kaum zu einer Schlechterstellung
der Versicherten führen. Sie haben es selber in der
Hand, durch die vollständige Vorlage aller Unterlagen
eine verbindliche Auskunft zu erhalten. Wenn sie keine
oder unvollständige Unterlagen vorlegen, kann daraus
auch keine verbindliche Auskunft folgen – ein fairer
Ausgleich zwischen den berechtigten Anliegen der
Versicherungen und den Interessen der Patienten.

Wie bei jedem Gesetz müssen sich auch hier Kosten
und Nutzen die Waage halten. Aus diesem Grund
haben wir einen Schwellenwert für die Kosten der
Behandlung von 2 000 Euro eingeführt. Dadurch lässt
sich der bürokratische Mehraufwand für die Versiche-
rungen auf besonders kostenintensive Fälle begrenzen,
bei denen das Interesse des Versicherten an einer Aus-
kunft besonders hoch ist. Zudem wird dadurch Rechts-
sicherheit geschaffen, da anhand des Schwellenwertes
nun klar ersichtlich ist, ob es sich um eine größere
Heilbehandlung handelt oder nicht.

Auch im Bereich der Kfz-Haftpflichtversicherung
wird nun Klarheit geschaffen. Für die Fälle, in denen
der Versicherer insolvent wird und die nicht von der
Verkehrsopferhilfe übernommen werden, wird die
Haftung auf 2 500 Euro beschränkt. Das schafft
Rechtssicherheit für die betroffenen Bürger.

Mit der Entfristung durch Art. 5 des Gesetzentwurfs
wird deutlich, dass sich die bisherigen Regelungen be-
währt haben und nicht mehr befristest werden müssen.

Abschließend möchte ich sagen, dass ich mich sehr
freue, dass die gelb-schwarze Koalition mal wieder
einen Gesetzentwurf vorlegen konnte, dem sich die
überwältigende Mehrheit des Hauses angeschlossen
hat. Vielen Dank an alle Mitwirkenden.


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721930800

Vorweg: Dieser Gesetzentwurf enthält eine ganze

Reihe von größeren und kleineren Regelungen, von de-
nen viele positiv sind. Deswegen werden wir in der
Summe auch zustimmen, wenngleich es auch Regelun-
gen gibt, die wir als problematisch ansehen, dazu spä-
ter. Ich will daher mit dem Positiven beginnen:

Eine Änderung begrüßen wir besonders. Das ist
eine Regelung, die auf den unermüdlichen Bürger
Horst Glanzer zurückzuführen ist, der auch in meinem
Büro schon viele Arbeitsstunden für sein Anliegen in
Anspruch genommen hat. Aber der Mann hat völlig
recht. Wenn ein privat Krankenversicherter eine ernste

Zu Protokoll gegebene Reden





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)


Krankheit hat und deshalb bei seiner Krankenversiche-
rung nachfragt, ob sie die Kosten übernimmt, dann
hatte diese bisher die Möglichkeit, ihn an der langen
Hand verhungern zu lassen. Sie hat einfach nicht ge-
antwortet. In Folge haben der Arzt oder das Kranken-
haus nicht behandelt, weil die Finanzierung nicht gesi-
chert war. Offenbar gab es Versicherungen, die darauf
spekuliert haben, dass sich diese schwere Krankheit
und die damit verbundenen finanziellen Verpflichtun-
gen aus biologischen Gründen lösen werden. Deshalb
ist es völlig richtig, dass nun klargestellt wird, dass die
Versicherung in dringenden Fällen unverzüglich, spä-
testens nach zwei Wochen, sonst spätestens innerhalb
vier Wochen zu entscheiden hat. Reagiert sie nicht,
dann gilt das als Zustimmung.

Schlecht an dieser Änderung ist, dass es eine soge-
nannte Bagatellgrenze von 2 000 Euro gibt. Denn für
viele Menschen, auch für viele privat Krankenversi-
cherte, sind 1 950 Euro keine Bagatelle. Besser wäre
es gewesen, hätten Union, SPD, FDP und Grüne unse-
rem Änderungsantrag zum GKV-Änderungsgesetz im
Juni 2010 zugestimmt, den wir damals schon auf Horst
Glanzers Initiative hin vorgelegt haben. Dann hätten
wir schon seit über zwei Jahren eine bessere Regelung
als die, die wir jetzt bekommen, die auch ohne Baga-
tellgrenze auskommt. Aber im Großen und Ganzen ist
es gut, dass die Bundesregierung unser Anliegen nun
aufgegriffen hat.

Mit diesem Gesetzentwurf zurrt die Bundesregie-
rung aber auch die Unisex-Tarife bei Versicherungen
fest. Und hier beginnt das Schlechte. Die Art und
Weise, wie die europäischen Vorgaben, dass keiner
aufgrund seines Geschlechts bei Versicherungen be-
nachteiligt werden darf, umgesetzt werden, finde ich
empörend.

Erstens hat die Bundesregierung mit dieser Rege-
lung gewartet bis zur letzten Sekunde. Eigentlich gel-
ten diese Regelungen, die auf eine zehn Jahre alte EU-
Initiative zurückgehen, schon seit 2007. Die Bundesre-
gierung wollte jedoch weiterhin Frauen in der Kran-
kenversicherung und Männer in der Lebensversiche-
rung benachteiligen. Sie hat uns noch vor zweieinhalb
Jahren in einer Antwort auf eine Kleine Anfrage er-
klärt, dass sie an dieser Diskriminierung festhalten
will, sich nicht um Grundsätze der Gleichstellung der
Geschlechter schert und europäische Richtlinien, die
das fordern, ihr letztlich egal sind. Ein Dreivierteljahr
später, im März 2011, hat der Europäische Gerichtshof
der Bundesregierung die Leviten gelesen und eine Ein-
führung bis spätestens 21. Dezember 2012 gefordert.
Keinen Tag früher wurde diese Regelung in Deutsch-
land umgesetzt.

Zweitens – und das ist noch schlimmer – hat die
Bundesregierung eine Minimalumsetzung betrieben.
Sie hat die Unisex-Tarife nur für Neukunden durchge-
setzt. Das ist besonders desaströs in der privaten
Krankenversicherung. Denn die Bundesregierung hat
damit die Rahmenbedingungen für die Krankenver-
sicherungskonzerne so gesetzt, dass die Frauen, die

schon versichert sind, weiterhin zu viel bezahlen müs-
sen. Nun könnte man denken, dass die Frauen nun von
ihrem gesetzlichen Wechselrecht Gebrauch machen
können und in Neutarife wechseln. Radio Eriwan lässt
grüßen: Im Prinzip können sie schon wechseln, aber
dann wird’s noch teurer. Das hat ein Analysehaus ge-
rade vor wenigen Tagen festgestellt: Die neuen Tarife
für Frauen sind rund 3 Prozent teurer als die alten.

Woran liegt das? Es gibt nun zwei Versicherungs-
welten, die alte ohne, die neue mit Unisex. Die Männer
wollen bei der Krankenversicherung in die alte Welt
– das verbietet nun dieses Gesetz –, und die Frauen
wollen aus der alten in die neue Welt – dazu haben sie
das gesetzliche Recht. Wenn nun aber viele Frauen von
dem Wechselrecht Gebrauch machen würden, gäbe es
überdurchschnittlich viele Frauen in der neuen Welt.
Dann müssten die Versicherer die Tarife mit den teure-
ren Frauen entsprechend teurer kalkulieren und Si-
cherheitsmargen einfügen. Denn im Nachhinein dürfen
sie richtigerweise aufgrund falscher Kalkulation zu
niedrig berechnete Beiträge nicht mehr erhöhen. Die
Versicherer wissen aber nicht, wie viele Frauen tat-
sächlich wechseln würden, und wie groß dieser Effekt
ist, und damit können sie ihre Tarife nicht sauber kal-
kulieren. Also greifen sie in die Trickkiste, und senken
den Rechnungszins nur für Neuverträge, was dort das
gesamte Beitragsniveau derart erhöht, dass es sich
selbst für Frauen der alten Welt nicht mehr lohnt, zu
wechseln.

Wechselrecht ausgehöhlt, keine Probleme mehr mit
einem Frauenüberhang, Kalkulation geht einfacher,
Kunden zahlen drauf: Dieses denkbar schlechteste
Szenario für die Einführung der Unisex-Tarife ist jetzt
aber Realität.

Die Bundesregierung hätte Unisex auch für Be-
standskunden einführen müssen. Das wäre gerechter
und günstiger gewesen. Dann hätten in allen Tarifen
Männer und Frauen gleich viel zu zahlen, und für
Neuversicherte wäre es nicht teurer geworden. Nun
aber haben sich die Neutarife für Männer um 17 bis
150 Euro im Monat, durchschnittlich um 70 Euro, ver-
teuert. Und sogar Frauen, die eigentlich profitieren
sollten, legen nun durchschnittlich acht Euro drauf.

Für die Linke ist klar: Auch bei Versicherungen
muss Geschlechtergerechtigkeit herrschen, und die
Bundesregierung sollte beginnen, Politik für die Ver-
sicherten und nicht für die Versicherungskonzerne zu
machen.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721930900

Wir debattieren heute über einen ganzen Strauß von

neuen Vorschriften im Bereich des Versicherungs-
rechts. Diese Neuregelungen sollen den Versicherten
mehr Rechte verleihen. Das begrüßen wir Grünen.

Wenn eine Kfz-Haftpflichtversicherung sich in der
Insolvenz befindet, sollen Versicherungsnehmerinnen
und Versicherungsnehmer besser vor existenzbedro-
henden Schadensersatzansprüchen nach einem Unfall

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


geschützt werden. Krankenversicherte sollen selbst
– und nicht nur über den Rechtsanwalt oder die Ärztin –
bei ihrer privaten Krankenkasse Einsicht in Gutachten
oder Stellungnahmen nehmen können, wenn die
Notwendigkeit einer Heilbehandlung geprüft wird. Zu-
sätzlich haben privat Versicherte mehr Zeit, ihre
Krankenversicherung zu kündigen, wenn die Beiträge
erhöht werden.

Versicherungen tragen dazu bei, finanzielle Lebens-
risiken für den Einzelnen und die Einzelne abzusi-
chern. Das ist eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe.

Besonders gut ist das Verhältnis zwischen Versiche-
rung und Versicherten dann, wenn es ausgewogen ist.
Deshalb ist es wichtig, dass beide Seiten starke Rechts-
positionen haben und diese Rechte auch effektiv durch-
setzen können.

Hier weist der Regierungsentwurf eine empfindliche
Schwäche auf: Die Bundesregierung will einen
Auskunftsanspruch der privat Versicherten gegenüber
ihren Krankenversicherungen einführen. Privat
Versicherte sollen bei größeren Heilbehandlungen von
ihrer Versicherung im Vorhinein Auskunft darüber ver-
langen dürfen, ob diese die Kosten der Behandlung
übernimmt. In dringenden Fällen hat die Versicherung
unverzüglich die Auskunft zu erteilen.

Die Regelung dieses Auskunftsanspruchs ist erfor-
derlich, weil es immer wieder Fälle gibt, in denen
Versicherungsnehmer so lange auf die Antwort ihrer
Versicherung warten müssen, dass die Behandlung
schon fast zu spät erfolgt. Im schlimmsten Fall tragen
die Betroffenen dann irreparable Schäden davon.

Der Haken am neuen Auskunftsanspruch ist aber,
dass der Gesetzentwurf der Regierung keine verbindli-
che Auskunft der Versicherung vorsieht. Das heißt, der
Versicherte bekommt eine Auskunft des Versicherungs-
unternehmens über die Kostenübernahme, kann sich
aber nicht darauf verlassen, dass die Versicherung die
Kosten anschließend tatsächlich übernimmt. Und das
ist nicht nur meine Einschätzung. Diese Interpretation
teilt auch der Bundesrat.

Die Bundesregierung gibt zwar an, dass die Zusage
der Versicherung verbindlich sei, wenn diese eine
abschließende Bewertung anhand aller Unterlagen
vorgenommen habe. Aber das schreibt sie nicht ins
Gesetz. Der Vorgängerentwurf, der Referentenentwurf,
hatte die Verbindlichkeit noch ausdrücklich beinhaltet.
Und auch in der Gesetzesbegründung steht nicht, dass
eine Zusage verbindlich ist. Ich zitiere Seite 13 des
Gesetzentwurfs: „Legt der Versicherungsnehmer Un-
terlagen vor, muss der Versicherer in seiner Antwort
im Sinne einer gesteigerten Darlegungslast auf die
Unterlagen eingehen; die Antwort erlangt einen höhe-
ren Grad an Verbindlichkeit.“

Da frage ich mich: Was ist ein höherer oder niedri-
gerer Grad an Verbindlichkeit? Hier gibt es nur ein
Entweder-oder: Entweder ist eine Auskunft verbind-
lich, oder sie ist es nicht.

Und es kommt noch schlimmer: Bleibt der Gesetzes-
text so, wie er jetzt ist, wäre es letztendlich für den
Versicherten besser, er erhielte gar keine Antwort von
seiner Versicherung. In diesem Fall greift nämlich
nach Ablauf der Frist zur Antwort die gesetzliche Ver-
mutung ein. Das bedeutet, es wird vermutet, dass die
beabsichtigte Heilbehandlung notwendig ist und damit
die Krankenversicherung die Kosten übernehmen
muss. Um diese Vermutung zu widerlegen, muss dann
die Versicherung beweisen, dass die Behandlung nicht
notwendig war.

Im Klartext heißt das: Der Versicherte, der von sei-
ner Versicherung keine Auskunft erhalten hat, hat im
Prozess eine stärkere Position als der Versicherte, der
eine unverbindliche Auskunft bekommen hat. Bei der
unverbindlichen Auskunft trägt nämlich der Versi-
cherte die Beweislast dafür, dass seine Versicherung
zur Zahlung der Behandlungskosten verpflichtet ist.

Rechtsstreitigkeiten über die Verbindlichkeit einer
Auskunft der Krankenversicherung sind damit vorpro-
grammiert. Das aber muss eine solide Rechtspolitik
vermeiden. Ihr Anspruch muss sein, Rechtsstreitigkei-
ten vorzubeugen, nicht aber, sie erst zu verursachen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721931000

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/12199, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/11469 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in
der Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Hand-
zeichen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der
Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung bei Stimmenthal-
tung der Grünen und Zustimmung aller anderen Fraktio-
nen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist mit gleichem Mehrheitsverhältnis wie zuvor an-
genommen.

Tagesordnungspunkt 23:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Inge
Höger, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Uranmunition ächten

– Drucksache 17/11898 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss (f)
Verteidigungsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen worden.


Dr. Reinhard Brandl (CSU):
Rede ID: ID1721931100

Um es gleich vorwegzunehmen: Die Bundeswehr

verfügt über keine Munition mit abgereichertem Uran
und plant auch nicht, diese in Zukunft zu beschaffen.





Dr. Reinhard Brandl


(A) (C)



(D)(B)


Im Mittelpunkt des Antrages der Fraktion Die Linke
steht deshalb auch nicht der bundeswehrinterne
Umgang mit DU-Munition – Depleted-Uranium-Mu-
nition –, sondern der weltweite Stopp des Einsatzes
dieser Munition. Zwar macht die Bundeswehr keinen
Gebrauch von DU-Munition, aber andere Nationen
nutzen sie. Hierzu gehören beispielsweise auch die
USA, Frankreich oder Großbritannien.

Ich wundere mich, ehrlich gesagt, wieso gerade
jetzt ein derartiger Antrag der Fraktion Die Linke
kommt. Die Haltung des Bundesverteidigungsministe-
riums zum Einsatz von DU-Munition, die wir als CDU/
CSU-Bundestagsfraktion teilen, hat sich nicht geän-
dert. Zum letzten Mal ausführlich dargestellt wurde sie
in der Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine
Anfrage der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im
November 2010.

Die Forderung verschiedenster Organisationen
nach einem Verbot von Munition mit abgereichertem
Uran ist nach heutigem Stand der wissenschaftlichen
Untersuchungen nicht abgesichert. Die Studien, die
unter anderem durch NATO, IAEA, WHO oder durch
die Europäische Kommission durchgeführt wurden,
haben keine Hinweise auf eine relevante Gefährdung
von Mensch und Umwelt durch DU-Munition ergeben.
Insbesondere konnte kein wissenschaftlich nachweis-
barer Zusammenhang zwischen der Munition und den
mit ihr in Verbindung gebrachten Krankheiten fest-
gestellt werden. Dies ging schon aus der bereits er-
wähnten Antwort der Bundesregierung hervor. Ohne
eine fundierte wissenschaftliche Begründung für die
Risiken von DU-Munition ist ein Moratorium oder ein
Verbot des Einsatzes nicht durchsetzbar.

Zuständig für medizinische Fragen hinsichtlich
ionisierender Strahlung ist das Institut für Radiobio-
logie der Bundeswehr. Zu dessen Aufgaben gehört es,
die wissenschaftliche Fachliteratur zur Wirkung von
DU-Munition fortwährend auszuwerten. Auf meine
Nachfrage hin hat das Bundesverteidigungsministe-
rium mir mitgeteilt, dass auch in den vergangenen
zwei Jahren keine seriöse Untersuchung zu einem an-
deren Ergebnis gekommen sei. Am Sachstand hat sich
demnach nichts geändert.

Ich halte die Entscheidung der Bundeswehr, selbst
keine Munition mit abgereichertem Uran einzusetzen,
für richtig. Ein völkerrechtliches Verbot von Munition,
die abgereichertes Uran enthält, gibt es jedoch nicht.
Unsere Verbündeten und ihre Streitkräfte entscheiden
eigenmächtig und eigenverantwortlich darüber, ob sie
DU-Munition einsetzen oder nicht. Dies trifft übrigens
auch im Rahmen multilateraler Einsätze zu. Unser
Fokus im Parlament und im Speziellen im Verteidi-
gungsausschuss sollte der Bundeswehr gelten, für die
sich in diesem Fall jedoch keine primären Verpflich-
tungen ableiten lassen. Den Antrag der Fraktion Die
Linke lehne ich deshalb ab.


Robert Hochbaum (CDU):
Rede ID: ID1721931200

Wir beraten heute über einen Antrag der Fraktion

Die Linke, Uranmunition zu ächten. Um eins vorweg
klar zu sagen: Uranmunition spielt innerhalb unserer
Bundeswehr keine Rolle. Grundsätzlich möchte ich
aber auch feststellen, dass Uranmunition nicht in einer
Reihe mit Streumunition oder etwa bestimmten For-
men von Minen zu sehen ist.

Ein einseitiger Entschluss Deutschlands, Uranmu-
nition zu ächten, würde diese auf keinen Fall von die-
ser Welt verschwinden lassen. Das müsste eigentlich
auch der Linken einleuchten. Sie, die Linke, weisen in
Ihrem Antrag selbst darauf hin, welche und wie viele
Länder weltweit Uranmunition vorhalten bzw. in Kon-
flikten einsetzen. Wenn also an dieser Situation etwas
geändert werden soll, wenn Uranmunition weltweit
abgeschafft werden soll, ist es wenig hilfreich, wenn
sich ein Land wie Deutschland, welches nicht einmal
über Uranmunition verfügt, einseitig dagegen erklärt.
Ich schlage Ihnen vor, wenn Sie es für so wichtig er-
achten, andere Länder, vor allem solche, die über
Uranmunition verfügen, von Ihrem Anliegen zu über-
zeugen.

Deutschland hat sich richtigerweise dafür entschie-
den, gegen den Einsatz von Streumunition vorzugehen.

Seit dem 1. August 2010 gilt das Übereinkommen
über Streumunition, welchem 111 Staaten beigetreten
sind. Deutschland wird die Vorgaben aus diesem Über-
einkommen eher erreichen als vorgesehen. Bis 2015
werden alle Bestände der Bundeswehr an Streumuni-
tion vernichtet, und damit drei Jahre früher als im
Übereinkommen festgelegt. Um dieses Ziel zu errei-
chen, werden bzw. wurden von der Bundesregierung
für den Zeitraum 2000 bis 2015 59 Millionen Euro zur
Verfügung gestellt. Auch wenn bis zur weltweiten Äch-
tung von Streumunition noch ein weiter Weg zu gehen
ist, so war dieses Vorgehen für Deutschland ein folge-
richtiger und wesentlicher Schritt.

Was aber das Thema Uranmunition betrifft, so
möchte ich Ihnen zwei Dinge zu bedenken geben. Ge-
genwärtig gibt es keine valide Untersuchung, die einen
wissenschaftlich nachweisbaren Zusammenhang zwi-
schen Uranmunition und den damit in Verbindung ge-
brachten Krankheiten herstellt. Sogar das Internatio-
nale Rote Kreuz, IKRK, sieht aufgrund der
unbestätigten Fakten keinen Anlass, die Forderung
nach einem Moratorium für DU-Munition aufzuma-
chen.

Da vertraue ich auch auf unsere Fachärzte in der
Bundeswehr. Das Institut für Radiobiologie der Bun-
deswehr zum Beispiel wertet regelmäßig neue und neu-
este Fachliteratur und Studien zum Thema abgerei-
cherte Uranmunition aus. Sollten sich da neue
belastbare Erkenntnisse ergeben, können Sie darauf
vertrauen, dass gehandelt wird.

Des Weiteren existieren keine Anhaltspunkte, dass
der Einsatz von Munition mit abgereichertem Uran ge-
gen das Völkerrecht verstößt. Ein solcher Einsatz ist,

Zu Protokoll gegebene Reden





Robert Hochbaum


(A) (C)



(D)(B)


wie im Übrigen der Einsatz anderer konventioneller
Waffen auch, den allgemeinen Bedingungen des huma-
nitären Völkerrechts unterworfen. Und diese haben ja
– wie sie wissen sollten – den Zweck, die Bevölkerung
zu schützen.

Die von der Linken gewählte Methode, über An-
träge Entscheidungen zu erzwingen, ist hier kontra-
produktiv. Betroffene Staaten könnten sich von einem
einseitigen Entschluss vor den Kopf gestoßen fühlen,
worunter eine eventuelle Kompromiss- und Verhand-
lungsbereitschaft leiden könnte. Aus diesem Grund ist
der Antrag der Linken abzulehnen.

Mir erscheint es sowieso, als ob die Linken dieses
Thema nur aufgrund des politischen Rampenlichts ge-
wählt haben. Um in diesem zu erscheinen, nehmen sie
selbst einen Misserfolg in der Sache in Kauf.

Dabei zeigt sich überdeutlich, dass wir uns bereits
im Wahljahr befinden. Aufgrund der guten und erfolg-
reichen Regierungsarbeit scheinen Teilen der Opposi-
tion die Themen auszugehen, und sie klammern sich an
jeden sich bietenden Strohhalm, um Aufmerksamkeit
zu erlangen. Das hilft nicht in der Sache und ist
schlussendlich leicht zu durchschauen.


Uta Zapf (SPD):
Rede ID: ID1721931300

Am 6. April 2011 hat sich der Unterausschuss „Ab-

rüstung, Rüstungskontrolle und Nichtverbreitung“ mit
dem Thema Uranmunition befasst, nicht zum ersten
Mal.

DU, Depleted Uranium Ammunition, also Munition
mit abgereichertem Uran, wurde 1991 im Golfkrieg,
2003 im Irakkrieg und im Jugoslawienkrieg eingesetzt.
Abgereichertes Uran ist ein Abfallprodukt der Uran-
anreicherung zur Herstellung von Brennelementen. Es
ist besonders hart und wird zur Herstellung von pan-
zerbrechender Munition benutzt.

Im Zusammenhang mit dem Jugoslawienkrieg gab
es schon 1999 in Deutschland eine Diskussion über
Gesundheitsgefährdung durch DU-Munition. Die Dis-
kussion tobt bis heute. In der letzten Expertenanhö-
rung im Unterausschuss „Abrüstung, Rüstungskon-
trolle und Nichtverbreitung“ waren wir mit zwei
divergierenden Meinungen konfrontiert. Diese Kontro-
verse gibt es seit Jahren.

Die kontroverse Diskussion fand einen ersten Höhe-
punkt im Jahr 2000/2001. So warnten 2001 die USA
ihre Soldaten in Deutschland auf einer Internetseite
vor Strahlengefahren durch DU-Munition; SZ vom
11. Januar 2001. Im Golfkrieg, so hieß es dort, hätten
DU-Geschosse zahlreiche Soldaten verletzt und sie ei-
ner gefährlichen Strahlung ausgesetzt. Die Soldaten
sollten daher Schutzmasken tragen und ihre Haut ab-
decken, wenn sie sich in der Nähe von Fahrzeugen auf-
hielten, die mit DU beschossen wurden.

Schon am 1. Juli 1999 veröffentlichten die Joint
Chiefs of Staff der US-Armee eine Warnung vor den Ri-
siken von DU-Munition. Alle verbündeten Soldaten

sollten besondere Vorsicht walten lassen beim Betreten
von Gebieten im Kosovo, die mit DU-Munition be-
schossen worden waren. Die Menschen sollten die
Reste der Munition nicht berühren und Schutzmaßnah-
men einhalten. Deutschland, Frankreich und andere
Länder gaben die Warnungen an ihre Soldaten weiter.

Am 11. Januar 2001 berichtete die „Frankfurter
Rundschau“ über einen internen Bericht des briti-
schen Verteidigungsministeriums von 1997, der vor
Gesundheitsgefahren beim Umgang mit diesen Ge-
schossen warnt. Der Bericht warnt davor, dass das
Einatmen von Uranstaub langfristige Risiken mit sich
bringt. Der Staub erhöhe die Wahrscheinlichkeit der
Entwicklung von Lungen-, Lymphknoten- oder Gehirn-
krebs. Obwohl der chemische Giftgehalt gering sei,
könnten Strahlenschäden in der Lunge auftreten, die zu
Krebs führen können. Auch das Golfkriegssyndrom bei
US-Soldaten wurde auf Exposition von DU-Munition
zurückgeführt.

Tatsache ist, dass bei der Verwendung der DU-Mu-
nition die selbstentzündlichen Uranmetalle verbren-
nen und DU-Partikel als Aerosole bilden, die über die
Atemwege in den Körper gelangen. Der Staub konta-
miniert auch die getroffenen Panzer, ebenso Luft und
Boden der Umgebung.

Es liegt mittlerweile eine Reihe von Studien über die
Gesundheitsgefährdung durch DU-Munition vor. Im
Jahr 2001 wertete der Wissenschaftliche Dienst sechs
Studien aus, die alle auf potenzielle Risiken hinwiesen,
aber im Endeffekt eine gesundheitliche Schädigung für
eher unwahrscheinlich halten. Für uns ist dies ein
Dilemma, weil diese Studien immer für die Unbedenk-
lichkeit der Munition herangezogen werden. Andere
Untersuchungen werden übergangen, diffamiert oder
als unprofessionell abgetan.

Wissenschaftliche Belege zeigen allerdings die
schädliche Wirkung von DU-Waffen auf die menschli-
che Gesundheit. Anzuführen wären die Ergebnisse von
Tier- und Zellexperimenten, das hohe Vorkommen von
Chromosomenaberrationen durch erhöhte Strahlen-
belastung in Blutproben von Golfkriegsveteranen,
ebenso vermehrte Krankheitsfälle in dieser Gruppe. In
Basra im Südirak führen Ärzte viele Krankheitsfälle
auf DU-Munition zurück.

Die Generalversammlung der UNO befasste sich
wiederholt mit dem Thema der Auswirkung von DU. In
den Jahren 2007 und 2008 wurden die Staaten aufge-
fordert, dem Generalsekretär Berichte über ihre
Erfahrungen und Erkenntnisse vorzulegen, der Gene-
ralsekretär sollte darüber einen Bericht an die Gene-
ralversammlung vorlegen.

Im Jahre 2011 wurde die Resolution 65/55 beschlos-
sen, in der die Aufforderung an die Staaten erneuert
wurde, ihre Berichte abzuliefern. Die Resolution stellte
fest, dass bisherige Studien zur Wirkung von DU, wie
die der IAEA, der UNO-Umweltorganisation UNDEP
und Weltgesundheitsorganisation WHO, keine hinrei-
chend detaillierten Erkenntnisse zu Wirkung und mög-

Zu Protokoll gegebene Reden





Uta Zapf


(A) (C)



(D)(B)


lichen Langzeiteffekten auf Mensch und Umwelt er-
bracht hätten. Die Resolution fordert neue Studien und
Forschungen ein. Deutschland hat dieser Resolution
zugestimmt.

Der neue Bericht des Generalsekretärs liegt vor.
Darin referiert der Generalsekretär die eingegange-
nen Berichte der Staaten. Die Niederlande fordern zu-
sätzliche Forschungen ein. Die Niederlande wenden
keine DU-Munition an, sind aber besorgt um die
Sicherheit ihrer Soldaten in internationalen Einsätzen.

Besonders interessant ist der Bericht Serbiens.
Vranje, Bujanovac und Presevo waren betroffene Orte.
Serbien geht davon aus, dass es radioaktive Kontami-
nation gegeben hat, die menschliches Leben, Fauna
und Flora bedroht – nicht nur unmittelbar am Ort des
Beschusses, sondern auch weiter entfernt. Wie in ande-
ren Untersuchungen auch werden die entstehenden
Aerosole als besonders gefährlich betrachtet. Abgerei-
chertes Uran wurde noch bei der Dekontaminierung
des betroffenen Bodens in der Luft gemessen. In Ser-
bien gehen die Langzeitstudien weiter.

Die Häufung bösartiger Erkrankungen, besonders
in Südserbien, wird auf DU zurückgeführt. Ein steiles
Ansteigen von angeborenen Missbildungen nach den
Luftangriffen wird berichtet und eine eklatante Häu-
fung angeborener Bluterkrankungen. Der Bericht be-
klagt, dass manche Untersuchungen mangels adäqua-
ter medizinischer Ausrüstung nicht möglich gewesen
seien.

Ein irakischer Bericht von 2003 beschreibt ein dra-
matisches Ansteigen von Krebs bei Kindern, Leukämie
und Missbildungen. Diese Missbildungen seien in Ge-
genden aufgetreten, wo DU-Beschuss vorgekommen
ist.

Es ist zu befürchten, dass viele der Bedenken gegen
DU-Munition, die es auch in den USA gegeben hat, un-
terdrückt werden. Die Aussagen von Dough Rokke,
früherer Direktor des Depleted Uranium Project der
US-Armee sind interessant. Er betreute 100 US-Solda-
ten, die irakische Tanks, die mit DU-Munition beschos-
sen worden waren, aufräumten und untersuchten.
Rokke sagte, dass „zu viele“ dieser Soldaten gestor-
ben seien, aber er schrecke davor zurück, genaue Zah-
len zu nennen, weil der Zusammenhang mit DU-Muni-
tion schwer zu beweisen sei.

Aus all dem folgt für mich: Es muss ein sofortiges
Moratorium für jeglichen Einsatz dieser Munition ge-
ben. Das hat die SPD im Übrigen schon 2001 im Bun-
destag gefordert. DU-Munition wird in Deutschland
weder hergestellt, noch ist sie in den Beständen der
Bundeswehr enthalten. Es gibt auch den Entwurf einer
Verbotskonvention für Uranmunition. Die bisher auf-
gezeigten Verdachtsmomente sollten genügen, Initiati-
ven zum Verbot dieser Munition weiterzuverfolgen. Es
gibt Alternativen zu DU, zum Beispiel mit Wolfram
oder Tungsten gehärtete Munition. Diese ist teurer.
Sollte das Grund zum Ignorieren der Risiken durch
Uranmunition sein?


Christoph Schnurr (FDP):
Rede ID: ID1721931400

Das Thema DU-Munition beschäftigt den Bundes-

tag seit mindestens 15 Jahren. Vor allem nach dem
Einsatz der Bundeswehr auf dem Balkan gab es heftige
Debatten über mögliche Gesundheitsgefährdungen
von Soldaten und der Zivilbevölkerung durch den Ein-
satz von Geschossen aus abgereichertem Uran. Der
damalige Verteidigungsminister Rudolf Scharping er-
klärte seinerzeit die Munition für unbedenklich und
stützte sich dabei auf eine Untersuchung der Gesell-
schaft für Strahlenforschung. Wegen der verbleiben-
den Unsicherheiten gab es in der Folge eine Reihe
weiterer Studien im internationalen Maßstab, um dem
Verdacht der Gesundheitsgefährdung wissenschaftlich
nachzugehen.

Zwei dieser Untersuchungen werden auch im vor-
liegenden Antrag der Linken erwähnt: die der Weltge-
sundheitsorganisation, WHO, und die des Umweltpro-
gramms der Vereinten Nationen, UNEP. Allerdings
werden die Ergebnisse sehr einseitig dargestellt.
Gleiches gilt für den Bezug auf die VN-Resolution zu
DU-Munition, die für sich genommen natürlich kein
Beweis und auch kein Indiz für die gesundheitliche Be-
denklichkeit von abgereichertem Uran ist. Einen sol-
chen Beweis gibt es auch nicht. Belegen können die
Gegner von DU-Munition deren vermeintliche Schäd-
lichkeit für Mensch oder Umwelt nämlich nicht. Aus
dieser Erkenntnis heraus haben sie eine einfache For-
derung entwickelt: Die Beweislast soll umgekehrt wer-
den. Wer DU-Munition einsetzen will, soll nachweisen,
dass diese für Mensch und Umwelt ungefährlich ist.
Bis dahin soll gelten: Sie ist gefährlich. Nur so ist auch
der Verweis auf die vermeintliche Völkerrechtswidrig-
keit der Munition zu verstehen.

Nicht jeder kann sich dieser Logik anschließen. So
konnte zum Beispiel das Internationale Komitee des
Roten Kreuzes bisher keinen Verstoß gegen das Völ-
kerrecht erkennen und sah wegen der unbestätigten
Faktenlage auch keinen Anlass, ein Verbot der Muni-
tion zu fordern.

Dafür spricht auch das, was die Linke bei dem Ver-
weis auf die Untersuchungen von WHO und UNEP
nicht erwähnt. Beide Studien wecken Zweifel an einer
Gesundheitsgefährdung durch abgereichertes Uran.
Laut WHO ist es sehr unwahrscheinlich, dass die Zivil-
bevölkerung und die Soldaten einer unnatürlich hohen
Strahlung ausgesetzt werden. SCHER, ein wissen-
schaftlicher Ausschuss der Europäischen Kommission,
kam zu den gleichen Ergebnissen. Einen wissenschaft-
lich nachweisbaren ursächlichen Zusammenhang zwi-
schen DU-Munition und den verschiedentlich damit in
Verbindung gebrachten Krankheiten gibt es also nicht.

Im besten Fall lässt sich also den Gegnern von DU-
Munition zugutehalten, dass weder das eine noch das
andere lückenlos zu belegen ist. Da die Bundesrepu-
blik selbst aber keine DU-Munition besitzt und wohl
auch nie vorsätzlich zum Einsatz gebracht hat, besteht
für Deutschland auf nationaler Ebene kein unmittelba-
rer Handlungsbedarf. In den letzten zehn Jahren hat es

Zu Protokoll gegebene Reden





Christoph Schnurr


(A) (C)



(D)(B)


auch international keinen bestätigten Einsatz von ab-
gereichertem Uran mehr gegeben. Zudem lässt sich
derzeit innerhalb der VN noch nicht einmal ein Kon-
sens zu der bereits erwähnten Resolution herstellen,
und das, obwohl hier sehr viel weniger als ein Verbot
oder ein Moratorium von DU gefordert wird. Maxi-
malforderungen bringen daher niemanden weiter.

Man sollte das Thema auch nicht emotional aufla-
den und DU-Munition in die Nähe von Atomwaffen rü-
cken. Stattdessen empfiehlt sich, das zu tun, was dem
Stand unseres Wissens entspricht: Transparenz, Auf-
klärung und Vorsichtsmaßnahmen.


Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721931500

Krieg verursacht nicht nur unzähliges menschliches

Leid. Krieg führt auch immer wieder zu verheerender
Umweltzerstörung. Beides kommt zum Beispiel dann
vor, wenn Waffen mit abgereichertem Uran eingesetzt
werden. Viele wissenschaftliche Arbeiten lassen keinen
Zweifel an den schweren gesundheitlichen Schäden
durch Uranmunition. Sie treffen sowohl die beteiligten
Soldatinnen und Soldaten als auch die Zivilbevölke-
rung in den betroffenen Gebieten. Dennoch behauptet
die Bundesregierung hartnäckig, dass eine Gefähr-
dung durch abgereichertes Uran nur spekulativ sei. Sie
setzt sich deshalb nicht eindeutig für eine weltweite
Ächtung dieser Waffen ein. Hier ist ein Umdenken
angesagt. Die Linke unterstützt die Anti-Uranwaffen-
Kampagne, die die deutsche Sektion der International
Coalition to Ban Uranium Weapons, ICBUW, gemein-
sam mit der IPPNW – Internationale Ärzte für die
Verhütung des Atomkrieges, Ärzte in sozialer Verant-
wortung – initiiert hat.

Ein erster Schritt in die richtige Richtung war im
Dezember die Zustimmung der Bundesregierung zum
indonesischen Resolutionsentwurf in der Vollver-
sammlung der Vereinten Nationen. Die Resolution
macht sich für das Vorsorgeprinzip stark: Staaten, die
Uranmunition einsetzen, müssten nach diesem Prinzip
beweisen, dass dadurch keine nachhaltigen Schäden
für Zivilbevölkerung und Umwelt entstehen. Dies zu
beweisen, dürfte ziemlich schwierig werden.

Leider sind Beschlüsse der UN-Vollversammlung
nicht völkerrechtlich bindend. Deshalb ist es notwen-
dig, dass die Bundesregierung sich nun auch für eine
internationale Konvention zur Ächtung von Uranwaf-
fen einsetzt. Sie hätte dabei Zivilgerichte in Schottland
und Italien auf ihrer Seite. Mitte Oktober wurde erneut
Uranmunition als Todesursache für einen im Jahr
2000 an Leukämie verstorbenen italienischen Soldaten
anerkannt.

Ungeachtet der bekannten Risiken halten eine Reihe
von Staaten an der Verwendung von abgereichertem
Uran in ihrer Munition fest, zum Beispiel die USA,
Großbritannien, Russland, China, Türkei, Israel, Paki-
stan, Saudi-Arabien, die Vereinigten Arabischen Emi-
rate, Ägypten und Kuwait. Gerüchte über einen Uran-
einsatz der USA 2011 in Libyen konnten bislang nicht

entkräftet werden. Zudem gibt es den Vorwurf an die
französische Regierung, sie setze derzeit im Mali-
Krieg Uranmunition ein. Dafür gibt es momentan
keine Beweise; meistens kann der Uraneinsatz erst
Jahre später zweifelsfrei festgestellt werden. Ein Uran-
munitionseinsatz Frankreichs in Mali wäre besonders
zynisch, weil der billige Zugang zu den Uranvorkom-
men in der Sahelzone einer der Hauptgründe für den
französischen Militäreinsatz ist. Man würde also abge-
reichertes Uran einsetzen, um weiterhin Uran abbauen
zu können, was man dann wieder abgereichert im
nächsten Krieg einsetzen kann. Ein Teufelskreis, der
schnell unterbrochen werden muss!

Die Linke fordert die Bundesregierung auf, sich für
den sofortigen Stopp des Einsatzes von Uranmunition
einzusetzen, gestützt auf das Vorsorgeprinzip, Precau-
tionary Approach. Herstellung, Besitz, Einsatz, Ver-
kauf und Lieferung von Waffen, die abgereichertes
Uran enthalten, müssen in Deutschland untersagt wer-
den. Auch auf die in Deutschland stationierten Streit-
kräfte der NATO-Verbündeten ist einzuwirken, keine
Munition mit abgereichertem Uran in Deutschland
einzusetzen, zu lagern oder über Deutschland weiter
zu transportieren. Die Münchener Sicherheitskonfe-
renz wäre die nächste Gelegenheit, den Abzug aller
Uranwaffen zu fordern. Das wäre eine sinnvollere
Beschäftigung für Minister Westerwelle als in Mün-
chen, wie jedes Jahr, weitere Kriegseinsätze zu bespre-
chen. Allerdings reicht es nicht, auf einen Beschluss
der NATO zu hoffen. Deutschland kann auch von sich
aus Druck gegen den Einsatz dieser furchtbaren
Waffen machen. Was wir für Streumunition fordern,
gilt auch für Waffen mit abgereichertem Uran. Die fi-
nanzielle Unterstützung von Herstellern dieser Waffen
durch deutsche Banken oder Investitionsfonds gehört
verboten.

Wir fordern die Bundesregierung auf, sich im
Rahmen der Vereinten Nationen für die weltweite Äch-
tung von Uranmunition einzusetzen. Eine internatio-
nale Konvention ist notwendig. Außerdem halten wir
die Einsetzung eines UN-Sonderbeauftragten mit aus-
reichenden Kompetenzen für sinnvoll.

Die Gebiete, in denen Uranmunition eingesetzt wor-
den ist, müssen ausgewiesen und die Bevölkerung
muss über die Risiken informiert werden. Medizinische
und finanzielle Unterstützung für die Opfer muss
bereitgestellt und Projekte zur Dekontaminierung
müssen initiiert werden. Die Finanzierung kann durch
die Gründung einer entsprechenden Stiftung sicher-
gestellt werden.

Deutschland setzt seit einigen Jahren keine Uran-
munition mehr ein. Ich bin allerdings auch nicht blind
gegenüber der Tatsache, dass die Bundeswehr in
Afghanistan und anderswo Wolfram zum Panzer-
brechen benutzt. Auch das Schwermetall Wolfram kann
schlimme Schäden für die Umwelt und die
Zivilbevölkerung in den Einsatzgebieten anrichten.
Deswegen ist für die Linke die Ächtung von Uranmuni-

Zu Protokoll gegebene Reden





Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)


tion nur der erste Schritt hin zur Ächtung aller Kriegs-
waffen.


Agnes Malczak (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721931600

Die langfristigen Risiken und gesundheitsgefähr-

denden Folgen des Einsatzes von Munition aus ab-
gereichertem Uran sind seit langem Gegenstand ab-
rüstungspolitischer Diskussionen. Auch wenn die
Bundeswehr selbst keine Uranmunition einsetzt, dür-
fen wir die mit dem Einsatz solcher Munition verbun-
denen gesundheitlichen Risiken und Schäden für die
Umwelt nicht ignorieren. Einer möglichen Gefährdung
sind sowohl die Zivilbevölkerung als auch viele Ent-
wicklungshelferinnen und -helfer, die sich in den be-
troffenen Gebieten gerade nach dem Ende der Kampf-
handlungen aufhalten, ausgesetzt. Das gilt aber auch
für Angehörige der Bundeswehr, wenn sie sich im Ein-
satz mit Verbündeten, die Uranmunition einsetzen, be-
finden oder in Gebieten stationiert sind, in denen
Uranmunition benutzt wurde. Immerhin erhalten die
deutschen Soldatinnen und Soldaten ja auch im Ein-
satz vorsorglich genaue Anweisungen zum Schutz vor
Überresten von Uranmunition, und das aus gutem
Grund; denn das Gesundheitsrisiko kann nicht gänz-
lich ausgeschlossen werden.

Die angebliche Unkenntnis der Bundesregierung
darüber, ob, wann und wo unsere Verbündeten Uran-
munition verwenden oder verwendet haben, macht je-
doch eine gewissenhafte Vorsorge unmöglich. Trotz-
dem hält sie es nicht für nötig, Informationen darüber
einzuholen, in welchen Gebieten Verbündete Uran-
munition eingesetzt haben. Ich zitiere dazu eine Antwort
aus unserer Kleinen Anfrage vom November 2010:
„Die Bundeswehr ermittelt keine Informationen über
die Verwendung von DU-Munition durch Verbündete.
Ferner werden keine Listen über Staaten, die DU-Mu-
nition produzieren, besitzen oder einsetzen, geführt.“
Das ist fahrlässig und ignorant, geht es doch um Men-
schen, deren Einsatz der Deutsche Bundestag und die
Bundesregierung verantworten. Diese Unsicherheit
muss endlich aufhören. Die Bundesregierung muss da-
für sorgen, dass die für ein umfassendes Gefahrenbild
nötigen Informationen von unseren Partnern in der
Europäischen Union und in der NATO über den Ein-
satz von Uranmunition zur Verfügung stehen.

Wir brauchen außerdem weitere Untersuchungen zu
den mittel- und langfristigen Folgen und Gefahren für
Mensch und Umwelt. Die bisher veröffentlichten Stu-
dien und Gutachten, beispielsweise der Weltgesund-
heitsorganisation, des Umweltprogramms der Verein-
ten Nationen sowie der Internationalen Atomenergie-
Organisation, weisen in unterschiedliche, teils gegen-
sätzliche Richtungen. Manche verweisen ausdrücklich
auf schwerwiegende toxische Schädigungen und ein
erhöhtes Leukämie- und Krebsrisiko, während andere
einen kausalen Zusammenhang verneinen. Eine For-
derung nach einem Verbot schießt angesichts der wis-
senschaftlichen Unklarheit über das Ziel hinaus. Aber
soll man den Einsatz solange hinnehmen, bis gesund-

heitliche Schädigungen bei einer wissenschaftlich hin-
reichend großen Anzahl von Menschen eindeutig und
zweifelsfrei nachgewiesen worden sind? Das kann nie-
mand verantworten.

Wir Grüne fordern deshalb ein Moratorium für den
Einsatz von Uranmunition, bis Gewissheit über das
gesundheitsgefährdende Potenzial dieser Munitionsart
herrscht. Wir brauchen eine verlässliche Langzeitfor-
schung auf internationaler Ebene, die stichhaltige Aus-
sagen über den Zusammenhang von gesundheitlichen
Beeinträchtigungen und dem Einsatz von Uranmuni-
tion liefert. Ich begrüße ausdrücklich, dass die Bun-
desregierung im Rahmen der Vereinten Nationen für
die Anwendung des Vorsorgeprinzips in Bezug auf
Uranmunition gestimmt hat. Jetzt geht es darum, diese
Entscheidung auch konsequent umzusetzen.

Dazu gehört vor allem auch eine umfassende Be-
standsaufnahme, wo genau weltweit Uranmunition zur
Anwendung kam, damit die mit Rückständen verseuch-
ten Gebiete dekontaminiert werden können. Ich fordere
die Bundesregierung deshalb auf, sich mit Nachdruck
für die allgemeine Beachtung des Vorsorgeansatzes
einzusetzen und vor diesem Hintergrund auf ein effek-
tives internationales Moratorium für Uranmunition
hinzuwirken.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721931700

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/11898 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung
soll jedoch abweichend von der Tagesordnung beim
Auswärtigen Ausschuss liegen. Sind Sie damit einver-
standen? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisung so
beschlossen.

Tagesordnungspunkt 26:

Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zum
Schutz des Erbrechts und der Verfahrensbe-
teiligungsrechte nichtehelicher und einzelad-
optierter Kinder im Nachlassverfahren

– Drucksache 17/9427 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/12212 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Jan-Marco Luczak
Sonja Steffen 
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die
Reden zu Protokoll genommen worden.


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1721931800

Wir beraten heute abschließend über den Gesetzent-

wurf zum Schutz des Erbrechts und der Verfahrensbe-





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


teiligungsrechte nichtehelicher und einzeladoptierter
Kinder im Nachlassverfahren.

Mit dem Gesetz möchten wir die Überführung der
von 1970 bis 2009 bei den Standesämtern geführten
sogenannten weißen Karteikarten in das Zentrale Tes-
tamentsregister der Bundesnotarkammer sicherstellen.
Wir möchten dadurch die erbrechtlichen Ansprüche
nichtehelicher und einzeladoptierter Kinder schützen,
die seit 2010 bestehende Gesetzeslücke schließen und
die Erteilung unrichtiger Erbscheine verhindern.

Hintergrund ist, dass nichtehelichen und einzel-
adoptierten Kindern ebenso wie ehelichen Kindern
seit 1998 ein gesetzliches Erbrecht zusteht. Dennoch
wurde beim Standesamt bis Ende 2008 bei der Eintra-
gung der Geburt eines Kindes zwischen ehelichen und
nichtehelichen Kindern unterschieden. Im Gegensatz
zu ehelichen Kindern, die in das Familienbuch der El-
tern eingetragen wurden, wurden für nichteheliche
oder einzeladoptierte Kinder sogenannte weiße
Karteikarten angelegt, die anschließend mit dem Ge-
burtseintrag der Eltern verknüpft wurden. Folglich
ordneten die Geburtsstandesämter mit den weißen
Karteikarten nichteheliche und einzeladoptierte Kin-
der ihren Eltern zu und sicherten im Erbfall ihre Betei-
ligung, indem sie nach dem Tod eines Elternteils von
Amts wegen das Nachlassgericht informierten.

Das Verfahren zur Benachrichtigung wurde durch
die Allgemeine Verwaltungsvorschrift des Bundes zum
Personenstandsgesetz geregelt. Es handelt sich dabei
um eine Dienstanweisung für die Standesbeamten und
ihre Aufsichtsbehörden vom 27. Juli 2000, die sicher-
stellte, dass im Falle des Todes eines Elternteils das
zuständige Nachlassgericht vom Vorhandensein eines
nichtehelichen Kindes informiert wird. Für die Mittei-
lung an den Geburtseintrag der Eltern wurden die wei-
ßen Karteikarten in die bereits bei den Standesämtern
bestehende Testamentskartei integriert, die zuvor nur
Mitteilungen über das Vorliegen von Verwahrungs-
nachrichten, sogenannte gelbe Karteikarten, enthielt.

Mit dieser Vorgehensweise wurde sichergestellt,
dass das zuständige Nachlassgericht nach dem Tod ei-
nes Elternteils automatisch von der Existenz eines
nichtehelichen oder einzeladoptierten Kindes erfuhr,
und es wurde gleichzeitig gewährleistet, dass die Be-
troffenen die Möglichkeit hatten, ihre Rechte effektiv
wahrzunehmen.

Durch das am 1. Januar 2009 in Kraft getretene
neue Personenstandsgesetz, PStG, wurde unter ande-
rem das standesamtliche Mitteilungsverfahren bei Ge-
burt eines Kindes geändert. Seitdem wird die Geburt
jedes Kindes beim Geburtseintrag jedes Elternteils
vermerkt, unabhängig davon, ob die Eltern miteinan-
der verheiratet sind oder nicht. Seitdem werden also
keine neuen weißen Karteikarten mehr angelegt.

Im Rahmen dieser gesetzlichen Neuregelung wurde
durch die Allgemeine Verwaltungsvorschrift zum Per-
sonenstandsgesetz, PStG-VwV, die zuvor erwähnte
Dienstanweisung aufgehoben. Eine vergleichbare Re-

gelung konnte in die neue Verwaltungsvorschrift nicht
aufgenommen werden, da das Gesetz über das Verfah-
ren in Familiensachen und in Angelegenheiten der
freiwilligen Gerichtsbarkeit nur Regelungen zum Mit-
teilungswesen für Verwahrungsnachrichten – die soge-
nannten gelben Karteikarten – enthält. Folglich fehlt
seit 2010 eine gesetzliche Grundlage für die Benach-
richtigung in Bezug auf die noch existierenden weißen
Karteikarten. Es besteht daher ein dringender gesetz-
licher Handlungsbedarf; denn schon heute droht man-
gels Informationsweitergabe die Erteilung unrichtiger
Erbscheine.

Um diese Lücke zu schließen, ist vorgesehen, die
weißen Karteikarten in das von der Bundesnotarkam-
mer geführte Zentrale Testamentsregister für Deutsch-
land, das seit dem 1. Januar 2012 in Betrieb ist, zu
überführen. Mit Einführung des Zentralen Testaments-
registers wurde das Benachrichtigungswesen für amt-
lich verwahrte Testamente und Erbverträge moderni-
siert. Es enthält die Verwahrangaben zu sämtlichen
erbfolgerelevanten Urkunden, die vom Notar errichtet
werden oder in gerichtliche Verwahrung gelangen.
Das Register wird in jedem Sterbefall von Amts wegen
auf vorhandene Testamente und andere erbfolgerele-
vante Urkunden geprüft. Die Bundesnotarkammer in-
formiert daraufhin das zuständige Nachlassgericht, ob
und welche Verfügungen von Todes wegen zu beachten
sind. Dadurch wird der letzte Wille des Erblassers ge-
sichert, und Nachlassverfahren können schneller und
effizienter durchgeführt werden.

Bereits im Sommer 2012 hat die Bundesnotarkam-
mer mit der Überführung der Verwahrungsnachrich-
ten – gelbe Karteikarten – in das Zentrale Testaments-
register begonnen. Da die weißen Karteikarten und
Verwahrungsnachrichten, die denselben Erblasser be-
treffen, durch Heftung miteinander verbunden sind, ist
es zweckmäßig und ökonomisch sinnvoll, in einem Ar-
beitsgang auch die weißen Karteikarten in das Zen-
trale Testamentsregister zu überführen, dort elektro-
nisch zu erfassen und weiter zu bearbeiten. Wenn dann
künftig ein Elternteil eines Kindes stirbt, erfolgt eine
Benachrichtigung der Registerbehörde an das zustän-
dige Nachlassgericht. Dadurch kann die funktionie-
rende Verknüpfung zwischen gelben und weißen Kar-
teikarten wiederhergestellt werden.

Schließlich vertrauen betroffene Kinder und Eltern-
teile darauf, dass die auf den weißen Karteikarten ge-
sammelten Informationen auch künftig ihrem Zweck
entsprechend von Amts wegen erhalten bleiben. Denn
im Unterschied zu ehelichen Kindern kann man bei
nichtehelichen Kindern nicht ohne Weiteres davon
ausgehen, dass sie Kontakt mit beiden Elternteilen ha-
ben, vom Tod der Eltern erfahren und sich von sich aus
beim Nachlassgericht melden. Dies ist empirisch be-
legt. Deshalb muss gewährleistet sein, dass nichteheli-
che Kinder auch künftig von Amts wegen informiert
werden. Die Teilung der Kosten für die Überführung
der weißen Karteikarten in das Zentrale Testamentsre-
gister entspricht der Vorgabe des Art. 104 a Abs. 1

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


Grundgesetz, nach der Bund und Länder gesondert die
Ausgaben aus der Wahrnehmung ihrer Tätigkeit tra-
gen.

Abschließend möchte ich noch einmal die zentralen
Gründe, die für eine Übertragung der weißen Kartei-
karten sprechen, zusammenfassen:

Schon beim bisherigen Benachrichtigungswesen in
Nachlassverfahren waren die Verwahrungsnachrich-
ten mit den weißen Karteikarten verknüpft.

Die körperliche Trennung der zusammengehefteten
erblasserbezogenen Verwahrungsnachrichten und
weißen Karteikarten durch die Standesämter kann ent-
fallen.

Die Weiterführung der weißen Karteikarten in Pa-
pierform ist nicht zeitgemäß.

Benachrichtigungswege, die zum Betrieb des Zen-
tralen Testamentsregisters ohnehin eingerichtet wer-
den müssen, und technische Einrichtungen, die benö-
tigt werden, können genutzt werden.

Bei einer Überführung der Daten auf den weißen
Karteikarten in das Zentrale Testamentsregister wird
künftig die Registerbehörde die Benachrichtigung der
zuständigen Gerichte übernehmen, wodurch die Stan-
desämter entlastet würden.

Bei gleichzeitiger Überführung und Integration der
Daten können die Kosten für die Erfassung der weißen
Karteikarten gering gehalten werden. Eine dauerhafte
manuelle Weiterbearbeitung durch die Standesämter
wäre teurer.

Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten,
dass wir mit dem vorliegenden Gesetzentwurf einen
guten und vor allem auch kostengünstigen Weg gefun-
den haben, die erbrechtlichen Ansprüche von nicht-
ehelichen und einzeladoptierten Kindern zu sichern.
Ich hoffe daher heute auf eine breite Zustimmung.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1721931900

Durch das Anfang 2011 verabschiedete Gesetz zur

erbrechtlichen Gleichstellung nichtehelicher Kinder
sind wir einen großen Schritt vorangekommen, um das
Erbrecht der betroffenen Kinder zu schützen.

Jedoch nützt dies unter Umständen wenig, wenn die
Kinder über den Tod des Elternteils nicht informiert
und die Nachlassgerichte über die Existenz weiterer
Erben nicht unterrichtet sind. Das kann zur Ausstel-
lung falscher Erbscheine führen.

Die Datenerfassung ist bei nichtehelichen und
einzeladoptierten Kindern sehr unterschiedlich er-
folgt. Erst seit dem 1. Januar 2009 wird einheitlich am
Geburtseintrag beider Eltern ein Hinweis auf alle
Kinder mit den Kindesdaten angebracht, ob ehelich
oder nichtehelich. Zuvor wurden seit 1970 – bzw. 1990
in den neuen Bundesländern – die Kindsdaten auf so-
genannten weißen Karteikarten in der Testamentskar-
tei der Eltern notiert. Im Personenstandsregister der

Eltern wurde lediglich ein Hinweis auf die Testaments-
kartei angebracht.

Nun werden die Testamentsverzeichnisse jedoch seit
2012 zentral geführt und nicht mehr, wie bisher, bei
den Standesämtern. Die Dienstanweisung, die für eine
Information der Nachlassgerichte über die weißen
Karteikarten sorgte, wurde aufgehoben. Seitdem gibt
es keine rechtliche Grundlage mehr für die Benach-
richtigung.

Ich denke, es sind mehrere Möglichkeiten denkbar,
wie sichergestellt werden kann, dass die auf den
weißen Karteikarten gespeicherten Informationen er-
halten und den Nachlassgerichten zugänglich bleiben.
Wichtig ist nur, dass endlich ein Weg gegangen wird,
um weitere fehlerhafte Erbscheine zu vermeiden und
die Rechtsunsicherheit zu beenden.

Es besteht jetzt die Gefahr, dass Informationen ver-
loren gehen. Die Karteikarten können von den Stan-
desämtern auch vernichtet werden. Dies hat uns die
Bundesregierung auf unsere Kleine Anfrage hin bestä-
tigt und hat dabei – reichlich spät – angekündigt, sich
um diese Problematik zu kümmern.

Im Gegensatz zur Bundesregierung hat der Bundes-
rat gehandelt und im vorliegenden Entwurf vorge-
schlagen, die Informationen der weißen Karteikarten
an die Bundesnotarkammer zu übermitteln, die dann
für eine Information der Nachlassgerichte sorgt. Die
mit den weißen Karteikarten in der Testamentskartei
verbundenen gelben Karteikarten, die auf Testamente,
Erbverträge oder ähnliche Schriftstücke hinweisen,
werden ohnehin an das Zentrale Testamentsverzeich-
nis der Bundesnotarkammer übermittelt und dort digi-
tal erfasst.

Die Bundesregierung hat den Entwurf des Bundes-
rates zunächst abgelehnt. In der vergangenen Woche
haben sich Bundesrat und Bundesregierung nun doch,
mit einigen Änderungen vor allem bezüglich der
Kostenübernahme und der Konkretisierung des Vorge-
hens, auf die vom Bundesrat vorgeschlagene Variante
geeinigt.

Ich bin sehr froh, dass endlich ein Kompromiss ge-
funden wurde. Die gefundene Lösung scheint vor allem
auch kurzfristig machbar und kostengünstig zu sein.
Es ist wichtig, hier schnell zu handeln, um den Verlust
der Informationen über die nichtehelichen und einzel-
adoptierten Kinder zu vermeiden.


Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1721932000

In Deutschland haben alle Kinder ein gleichwerti-

ges Erbrecht, unabhängig davon, ob sie aus einer Ehe
hervorgegangen, adoptiert sind oder unehelich gebo-
ren wurden. Allerdings wurde dieser – aus heutiger
Sicht – selbstverständliche Zustand erst vor nicht allzu
langer Zeit erreicht. Erst seit 1998 sind nichteheliche
Kinder mit Blick auf die Erbfolge nach ihrem Vater mit
ehelichen Kindern gleichgestellt. Für nichteheliche
Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden, gilt
dies sogar erst seit dem Jahr 2011.

Zu Protokoll gegebene Reden





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


Es war ein wichtiger Schritt, dass für alle Nachkom-
men grundsätzlich gleiche Erbrechte geschaffen wur-
den, unabhängig von der Frage, welchen Familien-
verhältnissen die Kinder entstammen. Allerdings ist
dieses Recht nur dann von Nutzen, wenn die Betroffe-
nen auch die notwendigen Informationen und Kennt-
nisse über ihnen zustehende Ansprüche haben. Dies ist
in der Praxis jedoch nicht automatisch gewährleistet.
Die von der Justizministerkonferenz eingesetzte Ar-
beitsgruppe „Zentrales Testamentsregister“ hat im
Zuge des Gesetzgebungsprozesses zum Entwurf eines
Gesetzes zur Modernisierung des Benachrichtigungs-
wesens in Nachlasssachen durch Schaffung des Zen-
tralen Testamentsregisters bei der Bundesnotarkammer,
Bundestagsdrucksache 17/2583, hierzu eine Umfrage
durchgeführt. An dieser haben über 100 Nachlassge-
richte teilgenommen. Aus der Umfrage geht hervor,
dass nichteheliche Kinder oft nicht zu beiden Elterntei-
len Kontakt haben; zum Teil ist dem Kind sein Vater
nicht einmal bekannt.

Hinzu kommt, dass bis Ende 2008 in Standesämtern
bei der Geburt eines Kindes zwischen ehelichen und
nichtehelichen Kindern unterschieden wurde. Ehelich
geborene Kinder wurden in das Familienbuch der El-
tern eingetragen, das zur Eheschließung angelegt
wurde. Für nichteheliche oder einzeladoptierte Kinder
wurden hingegen lediglich sogenannte weiße Kartei-
karten angelegt, die mit dem Geburtsregistereintrag
der Eltern verknüpft waren. Damit nun die vor 2009
nichtehelich geborenen Kinder ihre erbrechtlichen An-
sprüche wahrnehmen konnten, informierte das Ge-
burtsstandesamt nach dem Tod eines Elternteils von
Amts wegen das Nachlassgericht über die Existenz des
Kindes, wenn eine weiße Karteikarte vorhanden war.
Der Bund hatte zu diesem Zweck eine Allgemeine Ver-
waltungsvorschrift erlassen. Diese Dienstanweisung
wurde im März 2010 aufgehoben, ohne dass bislang
eine entsprechende Neuregelung erfolgt ist. Dem bis-
lang funktionierenden geschilderten Benachrichti-
gungswesen fehlt somit die Rechtsgrundlage. Dadurch
ist es denkbar, dass Erbberechtigte nicht erfahren,
dass der Erblasser verstorben und dadurch der erb-
rechtliche Anspruch entstanden ist. Diese Entwicklung
ist jedoch in der Bevölkerung weitestgehend unbe-
kannt. Vielmehr vertrauen nichtehelich geborene und
einzeladoptierte Kinder sowie deren Eltern weiter da-
rauf, dass die auf den weißen Karteikarten vorhande-
nen Informationen auch künftig an die Nachlassge-
richte weitergeleitet werden. Dieses Vertrauen muss
geschützt werden. Folglich besteht hier Handlungsbe-
darf.

Die Inhalte der weißen Karteikarten sollen in das
bei der Bundesnotarkammer eingerichtete Zentrale
Testamentsregister überführt werden. Die Überfüh-
rung soll im Zuge eines anderen, bereits eingeleiteten
Prozesses erfolgen. Der Deutsche Bundestag hat am
2. Dezember 2010 den Gesetzentwurf zur Modernisie-
rung des Benachrichtigungswesens in Nachlasssachen
durch Schaffung des Zentralen Testamentsregisters
bei der Bundesnotarkammer, Bundestagsdrucksache

17/2583, verabschiedet. Darin ist geregelt, dass erb-
folgerelevante Urkunden in ein zentrales Testaments-
register übertragen werden sollen, das bei der Bundes-
notarkammer eingerichtet wird. Hierdurch soll der
Informationsfluss in Erbschaftssachen optimiert wer-
den. Die Übertragung dieser Daten wird von der Bun-
desnotarkammer durchgeführt. Im Zuge dieses Prozes-
ses soll die Bundesnotarkammer nun auch die auf den
weißen Karteikarten gespeicherten Daten zusammen-
tragen und in das Zentrale Testamentsregister über-
nehmen. Dadurch wird gewährleistet, dass die zustän-
digen Nachlassgerichte auch in Zukunft von der
Existenz unehelicher und einzeladoptierter Kinder er-
fahren. Gleichzeitig können die Kosten des erforderli-
chen Datentransfers gesenkt werden, wenn die weißen
Karteikarten und erbfolgerelevante Unterlagen in ei-
ner gebündelten Aktion durch die Bundesnotarkammer
in das Zentrale Testamentsregister übertragen werden.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 des neuen Testamentsver-
zeichnis-Überführungsgesetzes ist es grundsätzlich die
Aufgabe der Länder, der Registerbehörde die erforder-
lichen Daten zur Verfügung zu stellen. Allerdings sieht
§ 9 Abs. 1 Satz 3 TVÜG-E vor, dass die Länder die
Bundesnotarkammer damit betrauen können, die Da-
ten zu erfassen und der Registerbehörde zur Verfügung
zu stellen. Nehmen die Länder diese Möglichkeit war,
müssen sie die dadurch entstehenden Kosten tragen,
§ 9 Abs. 1 Satz 4 TVÜG-E.

Der FDP-Bundestagsfraktion ist es ein wesentliches
Anliegen, dass Nachkommen nicht nur im Erbrecht
grundsätzlich gleichbehandelt werden, unabhängig
von den Familienverhältnissen, denen sie entstammen.
Gleichzeitig müssen wir auch dafür Sorge tragen, dass
die entsprechenden Rechte in der Praxis angewendet
werden können. Dafür wird mit dem vorliegenden Ge-
setzentwurf gesorgt. Ich bitte daher um Ihre Zustim-
mung für dieses Anliegen.


Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721932100

Bis 1998 waren nichteheliche Kinder erbrechtlich

ehelichen Kindern nicht gleichgestellt. Sie hatten kein
Erbrecht im Hinblick auf das Erbe des Vaters; es gab
eine Krückenkonstruktion über einen Erbersatzan-
spruch. Erst mit dem Erbrechtsgleichstellungsgesetz
vom 1. April 1998 wurden nichteheliche Kinder ehe-
lichen Kindern gleichgestellt.

Natürlich hat eine derartige gesetzliche Regelung
– und überhaupt die frühere Differenzierung zwischen
nichtehelichen und ehelichen Kindern – auch erheb-
lichen Einfluss auf die Verwaltungspraxis. Und so
kommt es, dass die Standesämter verschiedene Regis-
ter geführt haben: Nichteheliche und adoptierte Kin-
der landeten in einem speziellen Register – weiße Kar-
teikarten –, während eheliche Kinder im Familienbuch
mit den Eltern verewigt wurden. Die weißen Karten wur-
den lediglich mit Referenzen zu den Registereinträgen
der Eltern verknüpft. Über allgemeine Verwaltungsan-
weisungen wurde sichergestellt, dass Nachlassgerichte

Zu Protokoll gegebene Reden





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


bei Tod eines Elternteils auch über Kinder in weißen
Karten informiert wurden.

Diese Verwaltungsanweisung ist nun weggefallen,
sodass die Nachlassgerichte – bei ehelichen Kindern
reicht ja der Blick ins Familienbuch – keine entspre-
chenden Informationen mehr über nichteheliche Erben
erhalten.

Seit 1. Januar 2012 gibt es – geführt durch die Bun-
desnotarkammer – das Zentrale Testamentsregister,
das sämtliche erbfolgerelevanten Informationen digi-
tal abrufbar verwahrt.

Die Bundesländer schlagen nun mit dem vorliegen-
den Gesetzentwurf vor, sämtliche weiße Karteikarten
in das Zentrale Testamentsregister zu überführen und
somit die Benachrichtigung der Nachlassgerichte über
erbfolgerelevante Tatsachen sicherzustellen. Dazu
werden die entsprechenden Vorschriften in der Bun-
desnotarordnung und dem Testamentsverzeichnis-
Überführungsgesetz erweitert.

Treffend führt die Bundesregierung in ihrer Stel-
lungnahme zu diesem – einstimmig – im Bundesrat be-
schlossenen Vorschlag zunächst aus, dass es eine gute
Regelung sei und grundsätzlich alles zu unterstützen
ist, was die Gleichbehandlung von ehelichen und
nichtehelichen Kindern sicherstellt. Bedenken gab es
aber hinsichtlich der Kosten, da die Überführung der
Karten etwa 1,5 Millionen Euro Kosten verursachen,
welche vom Bund zu tragen wären, da das Zentrale
Testamentsregister durch die Bundesnotarkammer in
bundeseigener Verwaltung geführt werde. Da aber die
Länder verantwortlich für die Ausführung des Benach-
richtigungswesens im Personenstandswesen und Nach-
lasswesen sind, müssten sie eigentlich die Kosten tra-
gen.

Eine Überführung ins Zentrale Testamentsregister
ist nicht zwingend erforderlich. Es würde genügen, die
weggefallene Verwaltungsanweisung erneut zu erlas-
sen und damit Aufbewahrung und Benachrichtigung
wiederherzustellen. Die Notwendigkeit für eine Über-
führung ins Testamentsregister an sich ist nicht zwin-
gend in dem Gesetz dargetan.

Dennoch kann die Linke das Anliegen unterstützen.
So heißt es zutreffend auf der Seite des Zentralen Tes-
tamentsregisters – ich zitiere –: „Das Zentrale Testa-
mentsregister der Bundesnotarkammer steht im Mittel-
punkt des deutschen Benachrichtigungswesens in
Nachlasssachen für Testamente, Erbverträge und
sonstige erbfolgerelevante Urkunden. Es flankiert die
verfassungsrechtliche Gewährleistung des Erbrechts

(Art. 14 Abs. 1 Satz 1, Fall 2 GG)


Damit ist der auch verfassungsrechtliche Auftrag
klar definiert, und nur eine Überführung ins Testa-
mentsregister kann letztlich die Wahrung der Rechte
nichtehelicher Kinder wirklich sicherstellen. Wenn
man weiterhin bedenkt, dass der Bund, der die aus-
schließliche Gesetzgebungsbefugnis zum Erbrecht hat,

die Lage letztlich selbst herbeigeführt hat, ist es nur
angemessen, wenn er sich am Ausbaden der Situation
gegebenenfalls auch finanziell beteiligt. Das Kosten-
argument hat die Koalition durch ihren Änderungsan-
trag entkräftet.

Die Länder müssen die Daten nun dem Register zur
Verfügung stellen, die Kosten der Erfassung tragen
und für die Aufbewahrung in den Standesämtern so
lange weiter Sorge tragen, bis der Vorgang der Erfas-
sung abgeschlossen ist. Sie können dies allein oder un-
ter Inanspruchnahme der Bundesnotarkammer tun.
Nun bleibt noch abzuwarten, ob die Länder im Bun-
desrat sich jetzt immer noch stark für die Gleichstel-
lung der nichtehelichen und ehelichen Kinder einset-
zen, wenn sie für eigene Versäumnisse zahlen müssen,
wobei die Kosten jedoch überschaubar sein dürften.

Die Linke jedenfalls stimmt diesem Gesetzentwurf
zu.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721932200

Der Gesetzentwurf zum Schutz des Erbrechts und

der Verfahrensbeteiligungsrechte nichtehelicher und
einzeladoptierter Kinder im Nachlassverfahren, über
den wir heute beraten, liest sich in Teilen wie ein Stück
deutscher Geschichte. Lange Zeit über wurden nicht-
eheliche Kinder wie Kinder zweiter Klasse behandelt.
Glücklicherweise sind nichteheliche Kinder, die nach
dem 1. Juli 1949 geboren sind, seit 2011 den ehelichen
Kindern auch im Erbrecht gleichgestellt.

Bis hierhin war es ein weiter Weg. Der Gesetzent-
wurf, den wir heute beraten, trägt nun dazu bei, dass
nichteheliche und adoptierte Kinder ihre Erbansprü-
che auch durchsetzen können.

Warum ist das notwendig? Aufgrund einer Gesetzes-
lücke ist derzeit nicht sichergestellt, dass die Nachlass-
gerichte von den nichtehelichen Kindern eines Erb-
lassers erfahren. Es droht die Ausstellung unrichtiger
Erbscheine.

Dem liegt folgender Sachverhalt zugrunde: Ehe-
liche Kinder werden in das Familienbuch ihrer ver-
heirateten Eltern eingetragen. Für nichteheliche und
auch adoptierte Kinder wurden bisher sogenannte
weiße Karteikarten erstellt. Im Falle des Todes einer
Person, deren Erbe das nichteheliche oder adoptierte
Kind war, wurden die weißen Karteikarten an das zu-
ständige Nachlassgericht weitergegeben. Grundlage
war Verwaltungsvorschrift. Die ist im Jahr 2010 weg-
gefallen. Seitdem fehlt es an einer Rechtsgrundlage
dafür, dass das Geburtsstandesamt eines Kindes das
Nachlassgericht automatisch über die Existenz eines
nichtehelichen oder adoptierten Kindes unterrichtet.

Diese Lücke im Verfahren müssen wir schnellstmög-
lich schließen. Jeder Erbin und jedem Erben soll ihr
bzw. sein Erbrecht gewährleistet werden.

Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,
schlägt folgenden Weg vor: 2010 wurde die Einfüh-
rung eines Zentralen Testamentsregisters bei der Bun-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


desnotarkammer beschlossen. Die Bundesnotarkammer
überführt nun Verwahrungsnachrichten aus den Stan-
desämtern in das Zentrale Testamentsregister und er-
fasst sie elektronisch.

Dieser Überführungsprozess soll nun auch für die
Überführung der Daten genutzt werden, die auf den
sogenannten weißen Karteikarten niedergelegt sind.
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass die Daten von den
weißen Karteikarten aus den Standesämtern in das
Zentrale Testamentsregister der Bundesnotarkammer
überführt werden. Stirbt ein Elternteil eines dort regis-
trierten Kindes, soll die Registerbehörde dann das zu-
ständige Nachlassgericht benachrichtigen.

Dieses vom Bundesrat vorgeschlagene Verfahren
halten auch wir Grünen für geboten und angemessen.
Mit den Änderungen, die im Änderungsantrag der Koali-
tion vorgesehen sind, wird der Ansatz des Bundesrates
konsequent weiterentwickelt: Durch einen Verweis auf
die Testamentsregister-Verordnung wird bestimmt,
welche Daten zu überführen sind und der untechnische
Begriff der weißen Karteikarten vermieden. Außerdem
wird klargestellt, dass die Übergabe der Daten grund-
sätzlich in landeseigener Verwaltung zu erfolgen hat.
Die Bundesnotarkammer kann aber von den Ländern
und auf deren Kosten im Wege der Organleihe mit die-
ser Aufgabe betraut werden.

Wir dürfen hier nicht noch mehr Zeit verstreichen
lassen. Schon seit 2010 kann es vorkommen, dass Kin-
der eines Erblassers unberücksichtigt bleiben. Nicht in
allen Fällen haben Kinder Kontakt zum Erblasser und
melden sich dann im Falle dessen Todes beim zustän-
digen Nachlassgericht. Die genauen Abläufe zwischen
Standesamt und Nachlassgericht und die Verfahrens-
änderungen sind in der Bevölkerung so gut wie unbe-
kannt. Dennoch verlassen sich alle Kinder, Väter und
Mütter darauf, dass im Erbfall die Behörden unter-
einander vernetzt sind und die relevanten Informatio-
nen an das Nachlassgericht weitergeben. Dies gilt für
alle Familien, unabhängig davon, ob die Erben ehe-
lich oder nichtehelich geboren oder adoptiert sind.

Die im Gesetzentwurf und im Änderungsantrag vor-
geschlagene Lösung halten wir Grünen für sinnvoll.
Wir werden dem Gesetzentwurf zustimmen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721932300

Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschuss

empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12212, den Gesetzentwurf des Bundesrates auf
Drucksache 17/9427 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der
Ausschussfassung zustimmen wollen, um das Handzei-
chen. – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Ge-
setzentwurf ist in zweiter Beratung einstimmig ange-
nommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Diejenigen, die dem Gesetz-
entwurf zustimmen wollen, bitte ich, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzent-
wurf ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkte 27 a und 27 b:

a) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Oliver Krischer, Bärbel Höhn, Hans-Josef
Fell, weiteren Abgeordneten und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Vereinheitlichung der
bergrechtlichen Förderabgabe

– Drucksache 17/9390 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-

(9. Ausschuss)


– Drucksache 17/10182 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Todtenhausen

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Wirtschaft und Tech-
nologie (9. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Rolf
Hempelmann, Doris Barnett, Klaus Barthel,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
SPD

Anpassung des deutschen Bergrechts

– zu dem Antrag der Abgeordneten Eva Bulling-
Schröter, Dorothée Menzner, Ralph Lenkert,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Novelle des Bundesberggesetzes und ande-
rer Vorschriften zur bergbaulichen Vorha-
bengenehmigung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Oliver

(Quedlinburg)

tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Ein neues Bergrecht für das 21. Jahrhun-
dert

– Drucksachen 17/9560, 17/9034, 17/8133,
17/10182 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Manfred Todtenhausen

Auch hier ist vorgesehen, die Reden zu Protokoll zu
nehmen.


Andreas G. Lämmel (CDU):
Rede ID: ID1721932400

Im vergangenen Jahr haben wir sehr intensiv über

die Themen Rohstoffversorgung und Bergrecht disku-
tiert. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion hat dazu
Kongresse und Fachgespräche organisiert. Aber auch
hier im Plenum und im Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie gab es zahlreiche Anlässe zu Diskussio-
nen.

Leider verkennen die Initiativen der Opposition
beim Bergrecht den Kontext der Rohstoffpolitik.





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Erstens. Deutschland ist umfassend von Rohstoff-
importen abhängig, verfügt aber auch über vielfältige
eigene Rohstoffvorkommen. Die christlich-liberale
Koalition hat daher in dieser Legislaturperiode eine
umfassende Rohstoffstrategie vorgelegt. Ein wesentli-
cher Bestandteil dieser Rohstoffstrategie ist die Diver-
sifizierung der Rohstoffbezugsquellen. So werden Ab-
hängigkeiten vermieden oder reduziert und die
Versorgungssicherheit kann erhöht werden.

Zweitens. Zur Diversifizierung zählt auch die Nut-
zung heimischer Rohstoffe. Damit kann Deutschland
Rohstoffimporte vermeiden, Vermögens- und Kauf-
krafttransfers ins Ausland verhindern und Wertschöp-
fungsketten im Land erhalten.

Drittens. Neben diesem ökonomischen Aspekt sind
auch ökologische und soziale Aspekte zu beachten. Wir
haben in Deutschland bereits hohe Standards an Um-
weltauflagen für den Bergbau. Dies gilt auch für den
Arbeitsschutz. Fände Bergbau nicht mehr in Deutsch-
land statt, müsste der Bedarf ausschließlich durch den
Abbau in anderen Weltregionen gedeckt werden. Wir
alle wissen, dass die ökologischen und sozialen Stan-
dards in den meisten Ländern viel niedriger sind als
bei uns. Eine Verlagerung des Bergbaus aus Deutsch-
land steigert die Nachfrage nach importierten
Rohstoffen, die unter niedrigeren bis nicht vorhande-
nen ökologischen und sozialen Standards abgebaut
wurden.

Viertens. Das Motto „Kein Bergbau bei uns – kein
Problem“ ist kurzsichtig und verantwortungslos. Das
sollten Sie auch gegenüber Ihren Anhängern erklären.

Fünftens. Der zweite grundlegende Punkt betrifft
die Energiepolitik. Fast alle Mitglieder des Deutschen
Bundestages haben im Sommer 2011 die Energie-
wende beschlossen. Wir haben also gemeinsam acht
grundlastfähige Kernkraftwerke vom Netz genommen
und wollen schrittweise bis zum Jahr 2022 komplett
auf die Kernenergie verzichten. Bis der erforderliche
Ausbau der erneuerbaren Energien und insbesondere
die begleitende Infrastruktur realisiert ist – ich gebe
nur „Netze“ und „Speicher“ als Stichworte –, werden
wir in Deutschland verstärkt fossile Energieträger nut-
zen müssen. Dazu gehören neben überwiegend impor-
tiertem Erdgas und Erdöl auch die heimischen Ener-
gieträger Stein- und Braunkohle. Folglich müssen wir
in der Lage sein, die erforderlichen Rohstoffe auch in
Deutschland abzubauen.

Die Anhörung im Ausschuss für Wirtschaft und
Technologie am 23. Mai 2012 bestätigte dann auch die
Kritik an den vorliegenden Anträgen, die ich bereits in
den zahlreichen Debatten des letzen Jahres geäußert
hatte. Das Bergrecht wurde seit seinem Inkrafttreten
1982 ständig an umweltrechtliche Vorgaben, insbeson-
dere denen des EU-Rechts, angepasst. Auch in der
ständigen Rechtsprechung der Gerichte wurden keine
Differenzen zwischen dem Bergrecht und bestehenden
umwelt- oder verfahrensrechtlichen Regelungen ange-
mahnt.

Das Bergrecht hat selbstverständlich den Zweck,
die Rohstoffgewinnung zu ermöglichen. Aber dies ge-
schieht natürlich unter Abwägung mit den Interessen
Dritter, primär der ansässigen Bevölkerung und der
Natur. So ist seit 1990 für größere Vorhaben die
Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens inklu-
sive Umweltverträglichkeitsprüfung und Öffentlich-
keitsbeteiligung obligatorisch. Speziell für den
Braunkohlenbergbau ist noch das raumordnerische
Braunkohlenplanverfahren vorgesehen, welches meh-
rere Jahre in Anspruch nimmt und unter Durchführung
von Umweltprüfungen, Öffentlichkeitsbeteiligung und
auf Basis von zahlreichen Gutachten die gesamtheit-
liche Abwägung der Braunkohlengewinnung im Tage-
bau mit allen anderen berührten Belangen vollzieht.
Die Wiedernutzbarmachung der Erdoberfläche nach
erfolgtem Abbau in Deutschland ist ein weltweit ein-
maliger Bestandteil eines Bergrechts. Das geltende
Bergrecht erfüllt seinen Zweck: Es schafft bereits Aus-
gleich zwischen den Interessen der Menschen, der Na-
tur und der Rohstoffgewinnung. Viele der Forderungen
sind daher überflüssig. 98 Prozent aller Umsiedlungs-
fälle werden gütlich geregelt, und Grundabtretungs-
verfahren werden vermieden.

Die Forderungen nach befristeten Rahmenbetriebs-
plänen auf 10 bis 15 Jahre bieten weder den Bergbau-
betroffenen Rechtssicherheit, noch erlauben sie einen
betriebswirtschaftlichen Bergbaubetrieb. Bergwerke
sind kapitalintensive Vorhaben, die Planungs- und In-
vestitionssicherheit benötigen. Die Abschaffung der
bergfreien Bodenschätze würde eine effiziente Nutzung
von Lagerstätten verhindern sowie Planungs- und In-
vestitionssicherheit gefährden. Das ist also ein klassi-
scher Bergbauverhinderungsvorschlag.

Ich will auch noch zum Punkt Förderabgabe kom-
men. In der Anhörung hat keiner der von der Opposi-
tion benannten Sachverständigen die juristischen Ein-
wände gegen die Vereinheitlichung der Förderabgabe
diskutiert, vielmehr wurde sehr knapp und allgemein
die Notwendigkeit einer Vereinheitlichung der Förder-
abgabe betont. Die Anhörung thematisierte aber an-
schaulich die verfassungsrechtlichen Probleme einer
Förderabgabe als Eingriff in die Freiheit des Eigen-
tums und die damit verbundenen Voraussetzungen für
eine Gesetzesänderung, die von Ihrer Gesetzesbegrün-
dung nicht aufgegriffen werden. Gleiches gilt für die
Rechtslage bei den Bergbaurechten in Ostdeutschland.

Wichtig ist auch der betriebswirtschaftliche Aspekt
einer solchen Förderabgabe. Die Abgabe bezieht sich
auf den Marktwert des Rohstoffes, nicht auf den Ge-
winn des Unternehmens. Eine Förderabgabe auf alte
Rechte würde also die Kosten bestehender Bergbau-
projekte immens erhöhen und Kalkulationen durchein-
anderbringen. Jeder, der einmal ein Bergbauprojekt
besichtigt hat, weiß, mit welch großem Kapital- und
Personaleinsatz da gearbeitet wird. Diese Investitio-
nen erfordern Planungs- und Rechtssicherheit. Deswe-
gen zweifle ich an den edlen Motiven des Gesetzent-
wurfs und vermute einen weiteren Angriff auf die

Zu Protokoll gegebene Reden





Andreas G. Lämmel


(A) (C)



(D)(B)


Möglichkeit, überhaupt noch Bergbau in Deutschland
betreiben zu können.

Auch beim kontroversen Thema Fracking war die
Ansicht der Sachverständigen klar: In Trinkwasser-
schutzgebieten ist es bereits verboten, und auch in
anderen Bereichen ist für die Zulassung das Einver-
nehmen mit der zuständigen Wasserschutzbehörde not-
wendig. Wir brauchen Bergbau zur Gewährleistung
der Rohstoffversorgung und zur Sicherung des Know-
how in Deutschland. Das geltende Bergrecht berück-
sichtigt dabei auch die Interessen anderer Beteiligter.
Jeder, der seinen Arbeitsplatz im Bergbau oder dessen
Umfeld hat, sollte also wissen, wo er bei der Wahl zum
Deutschen Bundestag im Herbst sein Kreuz machen
sollte.

Erneut empfehle ich Ihnen Urlaub in Sachsen. Dort
können Sie in der Lausitz beobachten, wie aus alten
Braunkohletagebauen touristische Destinationen ent-
stehen und sich die Natur vom Raubbau der Planwirt-
schaft erholt. Oder fahren Sie ins Erzgebirge und las-
sen Sie sich zeigen, wie die Menschen vor Ort mit Stolz
die Tradition des Bergbaus pflegen und die Folgen der
Zerstörung einer Landschaft wegen eines fehlenden
Bergrechts fast nicht mehr zu finden sind.

Ich empfehle daher die Ablehnung des Gesetzent-
wurfs und die Annahme der Beschlussempfehlung des
Ausschusses.


Rolf Hempelmann (SPD):
Rede ID: ID1721932500

Deutschland ist ein Industrieland und für die deut-

sche Industrie ist die Versorgung mit Rohstoffen von
großer Bedeutung. Und: Deutschland gehört zu den
größten Rohstoffverbrauchern der Welt. Entgegen der
landläufigen Meinung ist Deutschland jedoch nicht
rohstoffarm. Jährlich werden große Mengen von
Sanden, Erden, Tonen oder Kohle in unserem Land ab-
gebaut. Während wir bei den Energierohstoffen und
bei den metallischen Primärrohstoffen von Importen
abhängig sind, decken wir bei den nichtmetallischen
Rohstoffen, wie zum Beispiel Steine, Erden, Kali- und
Steinsalz, den größten Teil unseres Bedarfs aus heimi-
scher Produktion. Die heimische Rohstoffgewinnung
macht uns insgesamt unabhängiger von Importen.

Die Aufsuchung, die Erschließung, die Gewinnung
und die Aufbereitung von Rohstoffen, aber auch die
Rekultivierung der ausgebeuteten Tagebaue sind im
Bundesberggesetz geregelt. Die historische Bedeutung
des deutschen Bergrechts für die enorme Beschäfti-
gungsentwicklung, für den Aufschwung der Bergbau-
regionen und für den schnellen Wiederaufbau nach
dem Zweiten Weltkrieg habe ich zur ersten Lesung
schon betont. In der Anhörung des Wirtschaftsaus-
schusses wurde deutlich, dass in Deutschland nicht
nur die Bergbaugroßindustrie – Kohle, Gas, Kali und
Salze – tätig ist, sondern dass eine Vielzahl von mittel-
ständischen Unternehmen in Deutschland Bergbau be-
treiben. Circa 200 000 Arbeitsplätze gibt es allein in
der unmittelbar fördernden Industrie. Mit der Zuliefer-

industrie erhöht sich der Anteil um ein Vielfaches. Es
geht also bei der Diskussion um den Bergbau auch um
Beschäftigung.

Durch Bergbau unter und über Tage wird in die Um-
welt eingegriffen. Durch das Bundesberggesetz und
die entsprechenden Verordnungen wird ein Ausgleich
der zum Teil entgegenstehenden Interessen angestrebt:
Die Rohstoffbranche hat großes Interesse an Vertrags-
und Investitionssicherheit; denn die Erschließung und
die Ausbeutung der ortsgebundenen Lagerstätten sind
zeitaufwendig und kostenintensiv. Die betroffenen Bür-
gerinnen und Bürger in den Abbauregionen möchten,
dass hohe Umweltschutzstandards eingehalten werden
und dass in ihre Wohn- und Lebensumgebung geringst-
möglich eingegriffen wird. Der Staat hat ein Interesse
an angemessenen Steuern und Abgaben aus dem Berg-
bau sowie an Rechtsfrieden in den Abbauregionen.

Das historisch gewachsene Bergrecht genügt trotz
mancher Anpassungen nicht mehr den neuen Anforde-
rungen einer modernen, aufgeklärten und an Teilhabe
interessierten Gesellschaft. Außerdem reicht der ur-
sprüngliche Interessenausgleich nicht mehr aus. Die
SPD-Bundestagsfraktion sieht einigen Bedarf an einer
Weiterentwicklung des Bergrechts, ohne es abschaffen
zu wollen. In unserem Antrag plädieren wir für eine
Überprüfung und Anpassung des Bergrechts. Insbe-
sondere möchten wir das Bundesberggesetz und die
Verordnung über die Umweltverträglichkeitsprüfung
bergbaulicher Vorhaben, UVP-V Bergbau, derart
reformieren, dass die Beteiligung der Öffentlichkeit,
von Gemeinden, von Umwelt- und Wasserbehörden so-
wie die Transparenz im gesamten Verfahren deutlich
erhöht werden. Wichtig ist uns dabei eine frühzeitig
beginnende Bürgerbeteiligung. Aus unserer Sicht wird
dadurch die Akzeptanz bei den Bürgerinnen und
Bürgern verbessert.

Die Regelungen des Bundesberggesetzes finden
unter anderem auch Anwendung auf das Einbringen
von Bergversatz, die Geothermie oder die Errichtung
unterirdischer Speicher. Die unterschiedlichen
Nutzungen des Bodens und des Untergrundes können
untereinander in Konkurrenz stehen. Weitere Nut-
zungskonkurrenzen für die heimische Rohstoffindus-
trie und die vorgenannten Nutzungen ergeben sich au-
ßerdem aus dem Natur- und Bodenschutz. Weder die
Bundesraumordnungsplanung noch die Landes- oder
Regionalplanung berücksichtigen diese Nutzungskon-
kurrenzen und setzen sie in einen bundesweiten Kon-
text. Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich für eine
unterirdische Raumordnung in Abstimmung mit den
Ländern ein, um diese Nutzungskonkurrenzen aufzulö-
sen, indem die verschiedenen Nutzungen bewertet, pri-
orisiert und aufeinander abstimmt werden. Dieser
Vorschlag wurde von den Sachverständigen in den An-
hörungen positiv bewertet. Leider verschlafen Bundes-
regierung und die sie tragenden Koalitionsfraktionen
die notwendige Modernisierung der Rechtslage und
versuchen, sich die nächsten acht Monate bis zu Wahl
zu retten.

Zu Protokoll gegebene Reden





Rolf Hempelmann


(A) (C)



(D)(B)


Die SPD-Bundestagsfraktion sieht Handlungs-
bedarf beim Bergrecht. Das gesamte Verfahren muss
transparenter und nachvollziehbarer für die Bürgerin-
nen und Bürger gestaltet werden, denn nur das erzeugt
Akzeptanz. Für die SPD ist in der gesamten Diskussion
auch klar: Es muss und wird weiter Bergbau in
Deutschland geben.


Manfred Todtenhausen (FDP):
Rede ID: ID1721932600

Ich brauche wohl nicht erneut zu betonen, dass die

deutsche Wirtschaft auf die Nutzung heimischer Roh-
stoffe und Bodenschätze angewiesen ist. Wachstum
und Wohlstand entstehen durch industrielle Wert-
schöpfung. Aber dieser Zusammenhang ist leider nicht
jedem bewusst, oder er verträgt sich offensichtlich
nicht mit bestimmten politischen Zielsetzungen und
ideologischen Konzepten.

Die Opposition, insbesondere die Grünen, blenden
offenbar die Notwendigkeit der heimischen Rohstoff-
gewinnung weitestgehend aus und damit die dadurch
initiierten positiven Effekte: eine Erhöhung der Ver-
sorgungssicherheit, die Sicherung von Arbeitsplätzen
und die Impulse zur Entwicklung strukturschwacher
Regionen. Dabei ist gerade die verstärkte Nutzung hei-
mischer Ressourcen zur ortsnahen Versorgung ein
nachhaltiger Ansatz der Rohstoffpolitik – ein Grund-
satz, den die Grünen für unsere Obstteller doch stän-
dig fordern.

Klassische Bergbauprojekte verlaufen immer in
Etappen, beginnend mit der Erkundung, gefolgt von ei-
ner wirtschaftlichen Bewertung und erst anschließend
einer möglichen Gewinnungsplanung. Hierfür bedarf
es eines flexiblen Konzessionssystems, wie es im Berg-
recht verankert ist. Zwangsläufig greifen Bergbauvor-
haben auch in die Umwelt ein. Die Bedürfnisse der
Menschen, Tiere und Pflanzen sowie der Wasser-, Bo-
den-, Luft- und Lärmschutz sind jedoch bereits ebenso
in das Bergrecht integriert wie das allgemeine Um-
weltrecht. In der Regel gelten die gleichen Standards
und Anforderungen wie für andere industrielle Groß-
projekte. In den letzten Jahren wurde kein größeres
Vorhaben ohne vorhergehende Durchführung eines
Planfeststellungsverfahrens mit Umweltverträglich-
keitsprüfung genehmigt. In einigen Fällen sind zudem
weitere individuelle Landesvorgaben zu beachten wie
etwa das raumordnerische Braunkohlenplanverfahren
in Brandenburg.

Insgesamt gilt somit für die heimische Gewinnung
von Rohstoffen ein deutlich höheres Umweltschutz-
niveau, als es in vielen anderen Regionen der Welt der
Fall ist. Die im Abschlussbetriebsplan vorgeschrie-
bene Wiedernutzbarmachung der beanspruchten Flä-
chen führt nicht selten sogar zu einer Verbesserung der
regionalen Biodiversität. Auch diese Aspekte sind ab-
zuwägen. Eine reine Verhinderungspolitik nach dem
Motto „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht
nass!“ wird auch der Verantwortung für unsere Um-
welt nicht gerecht.

Obwohl die Rohstoffgewinnung in Deutschland auf
Basis des Bundesberggesetzes sachgerecht und im Ein-
klang mit allen anderen relevanten Rechtsgrundlagen
genehmigt und vollzogen wird, schlagen die Antrag-
steller umfassende und weitreichende Anpassungen
des Rechtsrahmens vor. Zusätzliche Belastungen und
politisch induzierte Kosten werden aber weder den
Interessen der Mehrheit der Bürger unseres Landes
noch der erforderlichen Planungs-, Investitions- und
Rechtssicherheit der Bergbaubetreibenden gerecht.

Würde man die eingebrachten Forderungen auf-
greifen, ergäben sich daraus bei neuen Bergbauprojek-
ten und technischen Entwicklungen hohe Unsicherhei-
ten für Investoren. Dies stünde einer Entscheidung für
den Standort Deutschland entgegen. Daher ist es auch
nicht zielführend, wenn neben den zwingenden um-
weltrechtlichen Versagensgründen weiter gehende
Blockadespielräume in das Bergrecht eingefügt wür-
den – außer man verfolgt eben diese Blockade als Ziel,
und hierum geht es wohl eigentlich.

Auch wenn ich mich an dieser Stelle wiederhole:
Eine Aufgabe der Politik ist es, durch zweckmäßige
und verantwortungsvolle Rahmenbedingungen den
Zugang zu Rohstoffen zu gewährleisten und stetig zu
verbessern. Selbstverständlich bedingt dies auch eine
regelmäßige Weiterentwicklung des Rechtsrahmens.
Forderungen, die tendenziell Bergbauaktivitäten un-
terbinden sollen, lehnen wir jedoch auch in Zukunft
entschieden ab.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721932700

Erstmalig seit Jahrzehnten wurde im Wirtschafts-

ausschuss des Bundestages ausführlich und öffentlich
über die Defizite des deutschen Bergrechts diskutiert.
Anlass waren die Anträge von Linken und Grünen so-
wie – wenn auch etwas zaghaft – der SPD zur Novel-
lierung des Bundesberggesetzes und anderer berg-
rechtlicher Vorschriften.

Nun, die Mehrheit in diesem Haus wird alle Anträge
abschmettern, die man unter http://www.bundestag.de/
bundestag/ausschuesse17/a09/anhoerungen/Archiv_der_
Anhoerungen/12_Oeffentliche_Anhoerung/index.html
findet. Ich meine jedoch, allein die Anhörung, die man
sich übrigens unter der Adresse http://dbtg.tv/cvid/
1713867 im Internet ansehen kann, war die ganze Ar-
beit wert. Denn sie machte die irrwitzigen Defizite des
geltenden Bergrechts deutlich. Und sie machte Alter-
nativen öffentlich.

Sicher, das Sächsische Oberbergamt oder die Berg-
baugewerkschaft IG BCE haben das geltende Recht
erwartungsgemäß kritiklos verteidigt. Rechtsanwälte
dagegen, die unter anderem Bergbaubetroffene, Kom-
munen und Umweltverbände in bergrechtlichen Kon-
flikten vertreten, werteten das Regelwerk als völlig
überholt. Es sei nicht geeignet für Konfliktlösungen,
die auch die Rechte von Anwohnern und Umwelt ad-
äquat berücksichtigten.

Zu Protokoll gegebene Reden





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)


Die Anträge von den Linken und Grünen unter-
scheiden sich deutlich voneinander; sie haben jeweils
eine etwas andere Philosophie. Ich meine, unserer ist
konsequenter, aber darüber können wir sicherlich
streiten. Gemeinsam ist beiden jedoch die Kernforde-
rung, den automatischen Vorrang des Abbaus von
Rohstoffen vor allen anderen Interessen zu beenden.
Dafür soll unter anderem künftig ein Planfeststel-
lungsverfahren mit UVP anstelle der bisherigen Ver-
fahren treten.

Zudem soll das vorgelagerte Bergwerkseigentum
abgeschafft werden. Abbaurechte sollen erst dann an
Unternehmen verliehen werden, wenn ein Abbau in ei-
nem demokratischen Verfahren beschlossen wurde,
und zwar unter Abwägung aller Interessen und nach
einer sorgfältigen Umweltverträglichkeitsprüfung – und
keinen Tag vorher.

Ebenfalls gemeinsam ist den Anträgen die Forde-
rung nach mehr Transparenz und mehr Beteiligungs-
und Klagemöglichkeiten für Bürgerinnen und Bürger
sowie für Verbände und Kommunen. Beide Anträge
wollen auch, dass in Haftungs- und Entschädigungs-
fragen künftig die Position der Anwohnerinnen und
Anwohner deutlich gestärkt wird.

Im Unterschied zu den Grünen will die Linke je-
doch, dass künftig sämtliche Bodenschätze dem
BBergG unterliegen, also nicht nur Kohle, Gas, Erze
oder Salz, sondern auch Kiese, Sande und Natursteine.
Alle Bodenschätze würden dann als bergfrei definiert.
Dies hätte zwei Folgen: Zum einen würden alle Boden-
schätze Gemeineigentum sein. Das halten wir für an-
gemessen, denn für den Rohstoff unter seinem Hintern
hat ein Grundstückseigentümer nichts getan. Zum an-
deren hätte dies die Folge, den Abbau jeglicher Boden-
schätze einem Planfeststellungsverfahren mit UVP zu
unterwerfen.

Intelligent und zeitgemäß finden wir auch die For-
derung, die nur im Antrag der Linken steht, Genehmi-
gungsvoraussetzung für einen Abbau unter besiedeltem
Gebiet an streng nachzuweisende Ausnahmetatbe-
stände zu knüpfen. Der Vorhabenträger müsste dann
nachweisen, dass ein unabweisbarer volkswirtschaft-
licher Bedarf für den Rohstoff besteht und der Abbau
alternativlos ist. Dieser Nachweis dürfte beispiels-
weise für viele Braunkohlevorhaben, die gegenwärtig
diskutiert werden – und die bis weit nach Mitte des
Jahrhunderts laufen würden –, kaum zu erbringen
sein. Denn glücklicherweise wachsen die erneuerba-
ren Energien rasant. Darum braucht diese
klimaschädliche Kohle spätestens ab 2040 – wahr-
scheinlich schon weit früher – niemand mehr.

Mit den Anträgen von den Linken und Grünen hät-
ten die Bürgerinnen und Bürger zudem erstmals realis-
tische Chancen, Abbauvorhaben gerichtlich überprü-
fen zu lassen. Wir setzen uns auch dafür ein, dass
Gemeinden, Interessenvertretungen von betroffenen
Anwohnern und Umweltverbänden der Klageweg of-
fensteht, und zwar auch dann, wenn es um die Fragen

der Bedarfsfeststellung oder der Umweltauswirkungen
insgesamt geht. Anerkannte Umweltorganisationen
beispielsweise sollten sich also im Verfahren nicht nur
um den reinen Naturschutz streiten können, sondern
auch um den Wasserhaushalt oder den Klimaschutz.

Das alles und noch mehr war unser Plan. Er wird
heute mit den Stimmen von Union und FDP vorerst be-
erdigt. Damit ist er aber längst nicht aus der Welt.
Neue Bundesregierungen werden sich mit dem Thema
beschäftigen müssen; denn der Widerstand vor Ort ge-
gen neue Abbauvorhaben wächst. Er wächst mit jedem
Quadratmeter zusätzlich zerstörter Natur und Heimat.
Und er wächst mit jeder Kilowattstunde Ökostrom, die
mehr durch unsere Netze fließt, womit die Kohlever-
stromung zunehmend überflüssiger wird.

Ich hoffe und erwarte, dass die Abbauunternehmen
nicht mehr lange Wildwest spielen können. Der Wider-
stand gegen die CCS-Technologie war nur ein Vorge-
schmack auf künftige bergbauliche Konflikte. Darum
ist jede neue Regierung gut beraten, sich des Themas
der Reform des Bergrechts ernsthaft anzunehmen. Nur
dann können Konflikte so gelöst werden, dass nicht
nur die Interessen der Wirtschaft Berücksichtigung fin-
den, sondern genauso stark die der ansässiges Bevöl-
kerung und der Umwelt.


Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721932800

Das deutsche Bergrecht ist antiquiert und nicht

mehr zeitgemäß. Es ist geprägt von einem starren
Über- und Unterordnungssystem. Das heißt, dem Inte-
resse des Bergbaus wird weitgehend Vorrang vor
anderen Belangen, Interessen und Rechten, insbeson-
dere denen Privater, eingeräumt. Eine gleichwertige
Interessenabwägung in der Planungs- und Genehmi-
gungsphase findet faktisch nicht statt. Die Anforderun-
gen an das deutsche Bergrecht werden weiter zuneh-
men, je stärker auch heimische Bodenschätze durch
steigende Weltmarktpreise wieder in den Fokus der
bergbautreibenden Unternehmen rücken. Darüber hi-
naus werden immer mehr Anforderungen durch neue
Technologien wie das Fracking, die Nutzung der
Geothermie oder die Errichtung großer Erdgasspei-
cher an den Untergrund gestellt werden. Dafür ist das
Gesetz in seiner derzeit gültigen Fassung jedoch über-
haupt nicht ausgelegt. Nach unserer Auffassung steht
das deutsche Bergrecht daher zurzeit von mehreren
Seiten unter Druck, und eine Anpassung an die Anfor-
derungen des 21. Jahrhunderts erscheint dringend
erforderlich.

Unser Antrag macht dazu konkrete Vorschläge und
benennt die Defizite ganz klar. Dieser Reformbedarf
wurde in der öffentlichen Anhörung am 23. Mai 2012
von den anwesenden Experten auch klar bestätigt.
Doch Schwarz-Gelb stellt sich auf beiden Augen blind.
In den zahlreichen Debatten, welche wir in den ver-
gangenen Monaten und Jahren über das Bundesberg-
gesetz allgemein oder auch über das Thema Fracking
geführt haben, hieß es von der Koalition: Es ist alles in
Ordnung, und alles soll so bleiben, wie es ist. Bergbau

Zu Protokoll gegebene Reden





Oliver Krischer


(A) (C)



(D)(B)


ist gut, und darum sollen die Unternehmen ohne Rück-
sicht auf Verluste alles aus der Erde holen, was der
Bagger irgendwie zu fassen kriegt. Das ist keine
zeitgemäße Politik; das ist Raubbau auf Kosten von
Mensch und Natur und muss dringend geändert
werden.

Ich weise deutlich darauf hin, dass dies auch in
vielen Landtagsfraktionen der Union so gesehen wird.
So fordert die Landtagsfraktion in NRW explizit die
Beweislastumkehr beim Tagebau. Aber hier im Bund
wollen die Fraktionen der Koalition von alldem nicht
wissen und wollen so weitermachen wie bisher.

Ich betone: Unsere Forderungen bedeuten nicht,
dass Bündnis 90/Die Grünen in Deutschland keinen
Bergbau mehr haben wollen: In Deutschland gibt es
eine lange Bergbautradition. Ohne den Bergbau wäre
in den vergangenen Jahrhunderten und Jahrzehnten
die wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands so nicht
möglich gewesen. Auch wenn der Bergbau heute nicht
mehr die wirtschaftliche Rolle spielt, wird der Abbau
von Bodenschätzen auch in Zukunft in Deutschland ein
wesentlicher Bestandteil der Ökonomie sein und sein
müssen. Doch die dafür geltende Rechtsgrundlage ist
nicht mehr zeitgemäß. Sie ist in Teilen regelrecht aus
der Zeit gefallen. Moderne Bürgerbeteiligung, Trans-
parenz, Interessenabwägung sind beinahe Fremdworte
bei der Genehmigung von Bergbauvorhaben und deren
Umsetzung.

Speziell möchte ich an dieser Stelle noch einmal das
Thema Förderabgabe hervorheben, zu dem ein konkre-
ter Gesetzentwurf vorliegt. Es ist nicht nachvollzieh-
bar, dass in Deutschland nur Unternehmen eine
Förderabgabe entrichten müssen, die ihre Lizenz nach
dem Jahr 1982 erworben haben. Dies ist eine Un-
gleichbehandlung, welche unbedingt behoben werden
muss. Allein dem Land NRW gehen dadurch Einnah-
men von circa 150 Millionen Euro jährlich verloren; in
der Lausitz wären es knapp 80 Millionen Euro pro
Jahr. Es ist den Bürgerinnen und Bürger nicht zu ver-
mitteln, warum Bergbauunternehmen ganze Land-
schaften abbaggern können und mit der gewonnenen
Braunkohle Milliardengewinne machen, aber keinen
Cent dafür an den Staat zahlen müssen. Die massiven
Belastungen des Abbaus etwa durch Lärm, Staub,
Umsiedlungen ganzer Dörfer und zerstörte Landschaf-
ten sowie von größtenteils unkalkulierbaren Altlasten
und Ewigkeitskosten lassen eine Förderabgabe eben-
falls als notwendig und richtig erscheinen. Gerade in
diesen Tagen erleben wir mit der großflächigen Verun-
reinigung der Spree durch Eisen und Sulfat, was für
Langzeitauswirkungen der Tagebau für Mensch und
Natur haben kann.

Zu den vorliegenden Anträgen von SPD und Linken
möchte ich noch Folgendes sagen: Wir stimmen dem
Antrag der Linken zu, weil wir bis auf einige Detail-
fragen viele Übereinstimmungen mit unserer Position
sehen. Die Linke konnte uns im Laufe der Beratungen
allerdings nicht erklären, warum sie hier die Umsied-
lung von Menschen im Rahmen bergbaulicher Vorha-

ben nahezu komplett verbieten möchte, während ihre
Parteigenossen in Brandenburg eifrig daran arbeiten,
neue Tagebaue für den Braunkohleabbau zu genehmi-
gen, und dabei auch mit Umsiedlungen offenbar
keinerlei Probleme haben.

Wir enthalten uns zum Antrag der SPD, weil wir
zwar auch hier Übereinstimmungen sehen, aber auch
Differenzen. So beschränkt sich die SPD bei der Be-
weislastumkehr auf einen Prüfauftrag und ist offenbar
auch nicht bereit, den Bestand der „Alten Rechte“
zeitlich zu begrenzen.

Abschließend möchte ich Sie nochmals um Zustim-
mung zu unseren Initiativen bitten; denn nur mit diesen
Maßnahmen lassen sich die massiven Konflikte im
Bergbau befrieden und es wird endlich Waffengleich-
heit zwischen den Interessen der Bergbauunternehmen
einerseits und denen Privater und des Naturschutzes
andererseits hergestellt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721932900

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-

wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Verein-
heitlichung der bergrechtlichen Förderabgabe. Der Aus-
schuss für Wirtschaft und Technologie empfiehlt unter
Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/10182, den Gesetzentwurf der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/9390 abzulehnen.
Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmen
wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zweiter Bera-
tung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und der
SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen abge-
lehnt. Damit entfällt nach unserer Geschäftsordnung die
weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 27 b. Wir kommen zur Abstim-
mung über die Beschlussempfehlung des Ausschusses
für Wirtschaft und Technologie auf Drucksache 17/10182.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-
schlussempfehlung die Ablehnung des Antrags der Frak-
tion der SPD auf Drucksache 17/9560 mit dem Titel
„Anpassung des deutschen Bergrechts“. Wer stimmt für
diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die Stimmen
der SPD bei Enthaltung von Linken und Grünen ange-
nommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9034 mit dem
Titel „Novelle des Bundesberggesetzes und anderer Vor-
schriften zur bergbaulichen Vorhabengenehmigung“.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
und der SPD gegen die Stimmen von Linken und Grünen
angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buchsta-
be d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


sache 17/8133 mit dem Titel „Ein neues Bergrecht für
das 21. Jahrhundert“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? –
Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen der
Grünen bei Enthaltung der Linken angenommen.

Tagesordnungspunkt 28:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Rechte des leiblichen, nicht rechtli-
chen Vaters

– Drucksache 17/12163 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Ute Granold (CDU):
Rede ID: ID1721933000

Wir beraten heute in erster Lesung über das Gesetz

zur Stärkung der Rechte des leiblichen, nicht recht-
lichen Vaters.

Nach der derzeitigen Rechtslage steht dem leibli-
chen Vater eines Kindes, der mit der Mutter nicht ver-
heiratet ist und auch die Vaterschaft nicht anerkannt
hat, nur dann ein Umgangsrecht zu, wenn er eine enge
Bezugsperson des Kindes ist, für das Kind tatsächlich
Verantwortung trägt oder getragen hat und der Um-
gang dem Kindeswohl dient. Wenn dem leiblichen Va-
ter zum Beispiel die rechtlichen Eltern den Kontakt mit
dem Kind verweigern und er trotz Interesse dadurch
keine Möglichkeit hat, eine Beziehung zu seinem Kind
aufzubauen, bleibt ihm bislang der Kontakt verwehrt,
ohne dass er rechtlich dagegen vorgehen könnte.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat in zwei Entscheidungen aus den Jahren 2010 und
2011 festgestellt, dass es nicht mit Art. 8 der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention vereinbar ist, den
leiblichen – biologischen – Vater, der keine Bezugsper-
son des Kindes ist, vom Umgang mit seinem Kind und
vom Recht auf Auskunft über dessen persönliche Ver-
hältnisse auszuschließen. Mit dem jetzt vorgelegten
Gesetzentwurf sollen in konventionskonformer Weise
die Rechte des biologischen Vaters, der einen Umgang
mit seinen Kindern wünscht, gestärkt werden, indem
die Möglichkeit, Umgang mit dem Kind zu erhalten,
erweitert wird. Dabei geht es nicht um „Besitzrechte“
des Vaters, sondern um das Wohl des Kindes.

Der Entwurf stärkt die Rechte des biologischen Va-
ters in zweierlei Hinsicht:

Zum einen soll es für das Umgangsrecht künftig
nicht mehr darauf ankommen, ob bereits eine enge Be-
ziehung zwischen dem Kind und seinem leiblichen Va-
ter besteht, sondern vielmehr, ob dieser ein nachhalti-
ges Interesse an seinem Kind gezeigt hat und ob der
Umgang dem Kindeswohl dient. Eine konkrete Aufzäh-
lung, was alles unter einem nachhaltigen Interesse zu

verstehen ist, ist nicht angezeigt. Es gibt unterschiedli-
che Situationen, wie zum Beispiel die räumliche Nähe
zum Kind, ob die Kontaktaufnahme überhaupt ver-
sucht wurde etc., durch die sich das nachhaltige Inte-
resse manifestieren kann. Durch die gewählte „offene“
Formulierung soll den Gerichten ermöglicht werden,
im Einzelfall genau zu prüfen, ob ein nachhaltiges In-
teresse gegeben ist oder nicht.

Im Weiteren wird dem leiblichen Vater die Möglich-
keit eingeräumt, Auskunft über die persönlichen
Verhältnisse und die Entwicklung seines Kindes zu er-
halten. Voraussetzung ist auch hier, dass er ein nach-
haltiges Interesse an seinem Kind gezeigt hat und dies
dem Kindeswohl nicht widerspricht. Aktuell steht der
Auskunftsanspruch nach § 1686 BGB nur den Eltern
im rechtlichen Sinne zu.

Die konkrete gesetzliche Ausgestaltung soll – auch
um zu verdeutlichen, dass für den biologischen Vater
Sonderregeln gelten – durch die Einführung eines
neuen § 1686 a in das Bürgerliche Gesetzbuch erfol-
gen. In diesem wird künftig das Umgangs- und Aus-
kunftsrecht des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters ge-
regelt sein. Von dieser Vorschrift sollen aber nur die
Fälle erfasst werden, in denen das Kind bereits einen
rechtlichen Vater hat. In allen anderen Fällen ist der
biologische Vater auf die Erlangung der rechtlichen
Vaterstellung zu verweisen, wodurch er die Rechte ge-
mäß §§ 1684 und 1686 BGB erlangt, aber auch die
entsprechenden Pflichten eines rechtlichen Vaters.

Weiterhin wird das Umgangs- und Auskunftsrecht
des vermeintlichen biologischen Vaters an die Bedin-
gung geknüpft, dass der Antragsteller auch wirklich
der biologische Vater ist. Dies bedeutet zugleich, dass
er die Möglichkeit haben muss, seine biologische Va-
terschaft klären zu lassen, ohne dass die Mutter dies
vereiteln kann. Der Gesetzentwurf sieht daher die inzi-
dente Klärung der Vaterschaft im Rahmen des Um-
gangs- und Auskunftsverfahrens vor.

Alternativen zu der vorgelegten gesetzlichen Neure-
gelung sehen wir nicht: Die Möglichkeit, auch den bio-
logischen Vater in den Kreis der nach § 1598 a BGB
klärungsberechtigten Personen aufzunehmen, ist keine
für die soziale Familie schonendere Option. Denn da-
durch bestünde die Gefahr, dass auch biologische Vä-
ter, denen es nur um die Klärung der Abstammung geht
und die kein Interesse an Umgang oder Auskunft ha-
ben, ein gerichtliches Verfahren anstrengen. Das Ver-
fahren könnte sogar dazu missbraucht werden, ledig-
lich Unfrieden in die soziale Familie zu tragen. Dass
dies nicht dem Kindeswohl dient, liegt auf der Hand.

Die Einführung einer Anfechtungsmöglichkeit für
den biologischen Vater trotz sozial-familiärer Bezie-
hung des Kindes zu seinem rechtlichen Vater ist eben-
falls abzulehnen. Denn dies hätte zur Folge, dass der
vermeintlich biologische Vater nach Klärung der Ab-
stammung durch Anfechtung die Stellung des rechtli-
chen Vaters einnehmen könnte. In diesem Fall stünde
ihm dann auch ein Umgangsrecht nach § 1684 BGB





Ute Granold


(A) (C)



(D)(B)


zu. Diese Lösung wäre zu weitgehend und ebenfalls
nachteilig für das Kind.

Aus den vorgenannten Gründen haben wir uns für
eine eigenständige gesetzliche Regelung in Bezug auf
das Umgangs- und Auskunftsrecht des leiblichen
Vaters entschieden. Diese wird von entsprechenden
flankierenden verfahrensrechtlichen Regelungen un-
terstützt. Konkret ist im Verfahrensrecht als Zulässig-
keitsvoraussetzung zur Erlangung eines Umgangs-
und Auskunftsrechts in dem neu einzufügenden § 167 a
Familienverfahrensgesetz die eidesstattliche Versiche-
rung der Beiwohnung vorgesehen. Dies soll Mutter,
Kind und rechtlichen Vater – nach dem Vorbild des
§ 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB – vor willkürlichen, voreili-
gen oder unüberlegten Umgangs- und Auskunftsver-
fahren schützen. Dadurch wird auch verhindert, dass
ein Mann, der durch künstliche Befruchtung mittels
heterologer Samenspende biologischer Vater gewor-
den ist, ein Umgangs- oder Auskunftsrecht herleiten
kann. Darüber hinaus regelt die Vorschrift, unter wel-
chen Voraussetzungen Untersuchungen zur Klärung
der leiblichen Vaterschaft zu dulden sind.

Zusammenfassend lässt sich demnach festhalten,
dass wir mit dem Gesetzentwurf einen guten Weg ge-
funden haben, das berechtigte Interesse des leiblichen
Vaters an einem Umgangs- und Auskunftsrecht in ei-
nen angemessenen Ausgleich mit den Interessen der
sozialen Familie an einem ungestörten Familienleben
zu bringen. Das Kindeswohl steht dabei immer an ers-
ter Stelle. Darüber hinaus wird der Gesetzentwurf
auch den Vorgaben des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte gerecht.


Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1721933100

Dreiecksbeziehungen sind nie einfach. Besonders

schwierig werden sie, wenn aus ihnen ein Kind hervor-
geht, ob durch den einmaligen Ausrutscher, die später
doch noch überstandene Ehekrise oder den bis dahin
nicht erfüllten Wunsch nach einem eigenen Kind.
Schätzungen gehen davon aus, dass bei 5 bis 10 Pro-
zent aller Kinder der in der Geburtsurkunde eingetra-
gene Vater nicht der biologische ist. In solchen Fällen
die Interessen und Bedürfnisse aller Beteiligten unter
einen Hut zu bekommen und dabei das von den Eltern
oftmals sehr subjektiv ausgelegte Wohl des Kindes im
Blick zu behalten, ist schwierig.

Unser Familienrecht geht grundsätzlich davon aus,
dass der Ehemann der Mutter auch der Vater des Kin-
des ist. Dies kann dazu führen, dass der Ehemann zwar
automatisch rechtlicher Vater wird, gleichzeitig aber
nicht biologischer Vater des Kindes ist.

Bisher hat die Gruppe der leiblichen, aber nicht
rechtlichen Väter in Fällen, in denen der rechtliche Va-
ter in einer sozial-familiären Beziehung zu dem Kind
steht und sie selbst keine enge Bezugsperson sind, kei-
nerlei Möglichkeit, die Vaterschaft anzufechten oder
ein Umgangs- oder Auskunftsrecht einzufordern.

Abgesehen davon, dass meiner Meinung nach jedes
Kind ein Recht auf Kenntnis seiner eigenen Herkunft
und Abstammung hat, entspricht ein Kontaktverbot
zwischen dem biologischem Vater und dem Kind nicht
in jedem Fall dem Kindeswohl. Dies hat auch der Eu-
ropäische Gerichtshof für Menschenrechte, EGMR, in
zwei Urteilen kritisiert und eine Verletzung von Art. 8
EMRK, dem Recht des biologischen Vaters auf Ach-
tung seines Privat- und Familienlebens, festgestellt.
Im Gegensatz zur derzeitigen gerichtlichen Praxis in
Deutschland fordert der EGMR, dass geprüft werden
müsse, ob der Umgang mit dem biologischen Vater im
Einzelfall dem Wohl des Kindes dient.

Der vorliegende Gesetzentwurf sieht zur Stärkung
der Rechte der leiblichen Väter die Einführung eines
Umgangs- und eines Auskunftsrechts ohne eine Aus-
weitung der Anfechtungsmöglichkeiten vor. Vorausset-
zung für das Umgangsrecht sind ein nachhaltiges Inte-
resse des Vaters und dass der Kontakt dem Kindeswohl
dient. Das Auskunftsrecht über die persönlichen Ver-
hältnisse des Kindes dürfen dem Kindeswohl nicht wi-
dersprechen. Im Rahmen des Umgangs- und Aus-
kunftsverfahrens wird die Möglichkeit zur inzidenten
Klärung der Vaterschaft geschaffen.

Die Reaktionen von Vereinen und Verbänden auf
den Gesetzentwurf sind sehr unterschiedlich. Sie rei-
chen von „Die eingeräumten Rechte gehen viel zu
weit“ bis hin zu „Gesetzentwurf geht definitiv nicht
weit genug“.

Unsere Aufgabe wird es sein, im parlamentarischen
Verfahren den Gesetzentwurf auf seine Praktikabilität
hin zu überprüfen und einige Detailfragen zu klären.
Dabei muss zwischen den Interessen einer sozial intak-
ten Familie und den Rechten des leiblichen Vaters ab-
gewogen werden.

Als erste Frage wird oft aufgeworfen, ob die Stär-
kung der Rechte des biologischen Vaters ohne die
Übertragung von Pflichten vorgenommen werden
sollte. In diesem Zusammenhang muss zum Beispiel
geprüft werden, ob die Möglichkeit, über den neuen
§ 1686 a BGB ein Umgangs- und Auskunftsrecht zu er-
halten, auch sinnvoll ist, wenn ein Recht auf Anfech-
tung der Vaterschaft nach § 1600 BGB besteht und die-
ses bisher nicht ausgeschöpft wurde.

Nicht ganz unproblematisch ist die Voraussetzung,
dass der biologische Vater ein „nachhaltiges Interesse
an dem Kind gezeigt haben muss“, um für sich ein Um-
gangs- und Auskunftsrecht in Anspruch zu nehmen.
Dies stellt den biologischen Vater oft vor eine unlös-
bare Aufgabe, insbesondere wenn jeglicher Kontakt
seitens der Kindesmutter verweigert wird.

Wichtig ist uns in diesem Gesetzgebungsverfahren
vor allem, dass die Interessen des Kindes im Vorder-
grund stehen und die notwendigen Änderungen nicht
allein durch die Sicht der Eltern geprägt werden.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721933200

Das Umgangsrecht, strikt zu trennen vom Sorge-

recht, ist in den §§ 1684 ff. BGB geregelt. Nach § 1684
BGB haben Kinder ein Recht auf Umgang mit ihren El-
tern und umgekehrt. Gemeint sind damit jedoch die
rechtlichen Eltern, nicht die biologischen Eltern. Je-
doch muss ein biologischer Elternteil nicht unbedingt
der rechtliche Elternteil sein, wobei dies im Regelfall
den Vater trifft.

Nach geltendem Recht kann der biologische Vater
gegebenenfalls nur sonstige Bezugsperson im Sinne
des § 1685 BGB sein. Für ein Umgangsrecht muss
dann aber eine sozial-familiäre Beziehung bestehen,
welche der Vater möglicherweise bis zur Geltendma-
chung des Umgangsanspruchs nicht herstellen konnte,
weil die rechtlichen Eltern dies zu verhindern wussten.

Der Gesetzentwurf geht auf ein Urteil des EGMR
vom 21. Dezember 2010 zurück, welcher in seiner Ent-
scheidung gerade diese fehlende sozial-familiäre Be-
ziehung nennt, gleichzeitig jedoch feststellt, dass nicht
die Konstellation bedacht ist, in welcher dem biologi-
schen Vater verwehrt war, eine solche herzustellen, er
gleichwohl im Einzelfall ein berechtigtes Interesse am
Umgang mit seinem Kind habe. Nun stellt sich die
Frage, wie das „nachhaltige Interesse“ des Vaters
nachgewiesen werden soll, und offen bleibt ebenso,
wie festzustellen sein soll, dass es dem Kindeswohl
dient. Sofern Einvernehmen zwischen den unterschied-
lichen Eltern besteht, bedarf es keiner Regelung. Es
sind folglich nur streitige Verfahren bei dieser Frage
in Betracht zu ziehen.

Kann es dem Kindeswohl dienen, wenn der leibliche
Vater in das Familienleben des Kindes, welches mögli-
cherweise schon seit Jahren besteht, hineingrätscht?
Bei Kleinstkindern mag dies möglicherweise noch re-
lativ unproblematisch sein. Wie verhält es sich aber bei
größeren Kindern, bei denen auf einmal der leibliche
Vater neben dem Papa auftaucht und großes Interesse
zeigt. Psychologische Schwierigkeiten, eine Störung
des bis dato intakten Familienlebens können auftreten,
die mit der Erkenntnis verbunden sind, nicht das leib-
liche Kind des rechtlichen Vaters zu sein. Andererseits
besteht natürlich auch das Recht des Kindes auf Wis-
sen seiner Herkunft. Dies darf nicht vergessen werden.

Diese Gesamtproblematik ist vielfach im Zusam-
menhang mit Adoptivkindern thematisiert worden. Es
ist in jedem Fall höchst problematisch. Der EGMR er-
wartet eine Regelung seit 2010. Aber der Entwurf der
Bundesregierung lässt gegenwärtig immer noch zu
viele Fragen offen. Insoweit hoffe ich, dass im Rahmen
des erweiterten Berichterstattergesprächs unter Ein-
beziehung von Sachverständigen eine Regelung gefun-
den werden kann, welche konkret genug ist, den Anfor-
derungen des EGMR zu entsprechen und keine Fragen
offen lässt.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721933300

Noch immer ist das deutsche Familienrecht auf das

traditionelle klassisch-konservative Familienbild aus-

gerichtet. Aber nach und nach, angestoßen auch durch
die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte in Straßburg, setzt sich, auch bei der
Regierung, die Erkenntnis durch, dass es nicht nur ein
einziges Familienbild gibt.

Ausgangspunkt unserer heutigen Debatte sind zwei
Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für
Menschenrechte aus den Jahren 2010 und 2011. Kon-
kret geht es um Väter, die ihr Kind zwar gezeugt haben,
aber nicht über die rechtliche Vaterstellung verfügen.
Grund hierfür kann sein, dass die Vaterschaft des bio-
logischen Vaters rechtlich nicht festgestellt ist. Grund
hierfür kann auch sein, dass das Kind in eine Ehe hi-
neingeboren wurde, in der die Mutter des Kindes mit
einem anderen Mann lebt und dieser rechtlich als Va-
ter des Kindes gilt.

Nach jetzigem deutschen Recht ist der biologische
Vater, der keine enge Bezugsperson seines Kindes ist,
kategorisch und ohne Prüfung des Kindeswohls vom
Umgang mit seinem Kind ausgeschlossen. Das gilt
auch dann, wenn ihm der Umstand, dass eine sozial-
familiäre Beziehung zwischen Vater und Kind bisher
nicht aufgebaut wurde, nicht zuzurechnen ist.

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
hat festgestellt, dass die Bundesrepublik mit dieser Ge-
setzeslage gegen Art. 8 der Europäischen Menschen-
rechtskonvention verstößt. In seinen Entscheidungen
hat der Gerichtshof einerseits die Rechte des biologi-
schen Vaters gestärkt, andererseits aber auch festge-
stellt, dass die sozial-familiären Beziehungen, in denen
das Kind lebt, schützenswert sein können. Es müsse
immer genau geprüft werden, in welchem Verhältnis
das Auskunfts- und Umgangsrecht des Vaters und das
Wohl seines Kindes zueinander stehen.

Mit seiner Rechtsprechung hat uns der Europäische
Gerichtshof für Menschenrechte eine nicht ganz einfa-
che Aufgabe aufgetragen: Das deutsche Recht muss
gewährleisten, dass leibliche Väter, die nicht gleich-
zeitig auch rechtliche Väter sind, eine Beziehung zu ih-
ren Kindern aufbauen können. Dennoch soll dabei
kein Automatismus etabliert werden, sondern die Be-
trachtung des Einzelfalls im Vordergrund stehen.

Der Gesetzentwurf, über den wir heute debattieren,
will die Rechtsstellung des biologischen Vaters stär-
ken. Dem Vater werden unter bestimmten Umständen
ein Umgangsrecht und ein Auskunftsrecht über die
persönlichen Verhältnisse seines Kindes eingeräumt.
Zusätzlich wird für diese Fälle ein Vaterschaftsfeststel-
lungsverfahren eröffnet.

Damit ist die Bundesregierung auf dem richtigen
Weg. Unter Berücksichtigung des Kindeswohles muss
das deutsche Recht gewährleisten, dass auch außen-
stehende biologische Väter eine Beziehung zu ihren
Kindern aufbauen können. Im Vordergrund muss in al-
len Fällen das Kindeswohl stehen.

Ob und inwiefern die Regelungen des Gesetzent-
wurfs angemessen sind, werden wir im weiteren Gesetz-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


gebungsverfahren, an dem wir uns konstruktiv betei-
ligen werden, zu beurteilen haben. Nach derzeitigem
Stand stellen sich noch viele Fragen zu den Einzelhei-
ten. Die unbestimmten Formulierungen im Gesetzent-
wurf sollen zwar der Berücksichtigung des Einzelfalles
dienen; sie können aber auch zu Rechtsunsicherheit
führen. Auch bin ich mir nicht sicher, ob die Neurege-
lungen sich in das Gesamtgefüge der familienrechtli-
chen Regelungen einfügen, ohne neue Widersprüche
aufzuwerfen.

Unabhängig von der konkreten Ausgestaltung
freuen wir Grünen uns aber noch aus einem anderen
Grund auf die Diskussion über den Gesetzentwurf: Die
Formen familiären Zusammenlebens haben sich in den
letzten Jahrzehnten stark verändert. Mehrelternkon-
stellationen gibt es nicht nur in den Fällen, in denen es
einen biologischen und einen rechtlichen Vater gibt. In
einer kontinuierlich wachsenden Anzahl von Familien
wachsen Kinder mit mehreren Eltern auf. In Patch-
work- oder Regenbogenfamilien mit biologischen und
sozialen Elternteilen haben Kinder regelmäßig mehr
als zwei Elternteile. Einen ausreichenden rechtlichen
Rahmen gibt es für diese Familienbeziehungen bisher
nicht. Dies stellt viele Familien vor ganz praktische
Probleme.

Heute haben wir hier im Bundestag die Reform des
Sorgerechts für nicht miteinander verheiratete Eltern
beschlossen. Väter, die nicht mit der Mutter ihres Kin-
des verheiratet sind, können jetzt niedrigschwellig ei-
nen Antrag auf Mitübertragung der elterlichen Sorge
stellen. Das ist eine Reform, die längst überfällig war.

Mit dem Gesetz zur Stärkung der Rechte des leib-
lichen, nicht rechtlichen Vaters machen wir den nächs-
ten Schritt hin zu einem moderneren Familienrecht.
Damit passen wir das Recht ein kleines Stück mehr an
die gesellschaftlichen Realitäten an. Weitere Schritte
müssen folgen.

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Bundes-
ministerin der Justiz:

Für Kinder ist es wichtig, dass ihnen die Familie ein
stabiles, sicheres Umfeld bietet. Aus Sicht des Kindes
bedeutet die soziale Familie, in der es lebt, vor allem
das Gefühl der Zugehörigkeit, das Gefühl von Gebor-
genheit und Schutz. Mutter und Vater, das sind diejeni-
gen Menschen, die tatsächlich die Verantwortung tra-
gen.

Für ein Kind kann es eine Bereicherung sein, denje-
nigen zu kennen, von dem es biologisch abstammt.
Gibt es neben dem rechtlichen Vater einen weiteren
Mann, der leiblicher, aber nicht rechtlicher Vater des
Kindes ist, so kann es für das Kind gut und wichtig
sein, auch mit diesem Kontakt zu haben.

Dieser Aspekt – so hat es der EGMR in zwei Urtei-
len entschieden – kommt in unserem Recht zu kurz. Der
leibliche Vater kann nach geltendem Recht nur dann
ein Recht auf Umgang mit seinem Kind haben, wenn er
eine sogenannte enge Bezugsperson des Kindes ist,

wenn er also für das Kind bereits tatsächliche Verant-
wortung trägt, § 1685 Abs. 2 BGB. Ist dies nicht der
Fall, so ist ein Umgang kategorisch ausgeschlossen –
ohne Rücksicht darauf, ob der leibliche Vater über-
haupt eine Chance hatte, Verantwortung für das Kind
zu tragen, und ohne Rücksicht darauf, was für das
Kind am besten wäre.

Diese Rechtslage wird weder dem Interesse des
leiblichen Vaters noch dem Interesse des Kindes ge-
recht. Häufig möchte ein leiblicher Vater, der zum Bei-
spiel mit einer verheirateten Frau ein Kind gezeugt
hat, Kontakt zu seinem Kind aufnehmen, sich kümmern
und Verantwortung übernehmen, auch wenn das Kind
nicht ihm, sondern dem Ehemann der Frau rechtlich
zugeordnet ist. Wenn aber die rechtlichen Eltern sich
weigern, den Kontakt zwischen leiblichem Vater und
Kind zuzulassen, hat der leibliche Vater hierzu bisher
keine Chance. Es hängt zunächst einmal vom Verhal-
ten der rechtlichen Eltern ab, ob eine Beziehung zwi-
schen dem Kind und dem leiblichen Vater zustande
kommen kann. Diese Rechtslage, so auch der EGMR,
verletzt den leiblichen Vater in seinem Recht auf Ach-
tung seines Privatlebens.

Auch den Interessen des Kindes wird dabei nicht in
ausreichendem Maße Rechnung getragen. Nicht im-
mer ist die Weigerung der rechtlichen Eltern, den leib-
lichen Vater ins Leben des Kindes zu lassen, auch zum
Besten des Kindes. Wir wissen heute, dass es für Kin-
der zwar einerseits sehr wichtig ist, ein stabiles famili-
äres Bezugssystem zu haben, dass aber andererseits
die Suche nach der eigenen biologischen Herkunft für
Kinder eine große Bedeutung haben kann und gerade
vor diesem Hintergrund auch dem Umgang mit dem
leiblichen Vater besonderer Stellenwert zukommen
kann. Es ist daher wichtig, dass diese Frage – die
Frage, ob ein Umgang mit dem leiblichen Vater dem
Kindeswohl dient – in jedem Einzelfall konkret gestellt
und geklärt wird.

An dieser Stelle setzt der heute diskutierte Gesetz-
entwurf an, und zwar – das halte ich für sehr entschei-
dend – in einer vorsichtigen und zurückhaltenden
Weise: Wenn es dem Kindeswohl dient, soll künftig ein
Umgang zwischen Kind und leiblichem Vater möglich
sein. Im Zentrum steht mithin die Frage, ob der Um-
gang dem Kindeswohl dient. Damit das Kind und die
rechtlich-soziale Familie nicht unnötig verunsichert
werden, sind weitere Hürden eingebaut: Der leibliche
Vater muss an Eides statt versichern, der Mutter wäh-
rend der Empfängniszeit beigewohnt zu haben, und er
muss ein echtes, nachhaltiges Interesse an dem Kind
gezeigt haben.

Dadurch, dass ein Umgangsrecht nur für solche
leibliche Väter in Betracht kommt, die ein nachhalti-
ges Interesse am Kind gezeigt haben, wird ganz klarge-
stellt: Hinter dem Antrag auf Umgang muss ein echtes,
ein nicht nur vorübergehendes, sondern nachhaltiges
Interesse am Kind stecken. Es dürfen nicht andere Mo-
tive des leiblichen Vaters ausschlaggebend für seinen
Antrag sein – zum Beispiel der Wunsch, sich an der

Zu Protokoll gegebene Reden





Bundesministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger


(A) (C)



(D)(B)


Mutter zu rächen, oder die bloße Neugier darauf, das
Kind kurz einmal kennenzulernen.

Bei der Frage, ob der leibliche Vater ein nachhalti-
ges Interesse am Kind gezeigt hat, wird es ganz ent-
scheidend auf die konkreten Umstände des Einzelfalls
ankommen. Wenn die rechtlichen Eltern dem leiblichen
Vater jede Kontaktaufnahme verbieten und bei Zuwi-
derhandlung Konsequenzen androhen, wird man vom
leiblichen Vater nicht verlangen können, dass er täg-
lich anruft. Wenn ein leiblicher Vater aber jahrelang
überhaupt keinen Kontakt sucht, oder wenn sein Inte-
resse am Kind bereits nach sehr kurzer Zeit wieder
verloren geht, so wird zweifelhaft sein, ob diese Vo-
raussetzung für ein Umgangsrecht tatsächlich erfüllt
ist. Die Gerichte haben wegen des bewusst offen ge-
wählten Tatbestandsmerkmals die Möglichkeit, die
Umstände des Einzelfalls angemessen zu berücksichti-
gen.

Im Mittelpunkt aller Überlegungen steht das Kin-
deswohl; ein Umgangsrecht wird nur dann gewährt,
wenn es dem Wohl des Kindes dient. Auch ein Aus-
kunftsrecht des leiblichen Vaters kommt nur in Be-
tracht, wenn das Kindeswohl dadurch nicht gefährdet
wird.

Der Entwurf nimmt das Bedürfnis des Kindes, mit
seinen rechtlichen Eltern in einem stabilen Umfeld
aufwachsen zu können, sehr ernst. Er will verhindern,
dass ein Kind in seinem – für sich so wichtigen – Zuge-
hörigkeitsgefühl zur rechtlichen Familie unnötig ver-
unsichert wird. Als seinerzeit der Anspruch auf Einwil-
ligung in eine genetische Untersuchung zur Klärung
der leiblichen Abstammung, § 1598 a BGB, eingeführt
wurde, wurde der biologische Vater bewusst nicht in
den Kreis der Klärungsberechtigten einbezogen. Ent-
sprechend hat sich auch der heute zu beratende Ent-
wurf – ganz bewusst – dagegen entschieden, dem leib-
lichen Vater die Klärungsmöglichkeit nach § 1598 a
BGB zu geben. Denn dann würde auch derjenige mut-
maßliche leibliche Vater Rechte anmelden, der gar kei-
nen Umgang mit dem Kind will, sondern lediglich
Klarheit über die Frage erlangen möchte, ob das Kind
biologisch von ihm abstammt. Ziel des Klärungsver-
fahrens soll es jedoch nicht sein, unabhängig vom Be-
stehen einer rechtlichen Verbindung das bloße Inte-
resse an der biologischen Abstammung zu befriedigen.

Ich bitte Sie deshalb um Unterstützung für den Ent-
wurf in der Ihnen heute vorliegenden Fassung: Er be-
hält die bestehende Systematik bei und justiert – unter
größtmöglichem Schutz für die rechtlich-soziale Fami-
lie – da nach, wo es mit Blick auf das Kindeswohl und
die berechtigten Interessen leiblicher Väter nötig ist.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721933400

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/12163 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Es gibt
keine anderweitigen Vorschläge. – Dann haben wir die
Überweisung so beschlossen.

Zusatzpunkt 9:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Angelika Graf (Rosenheim), Dr. Edgar Franke,
Dr. Carola Reimann, weiterer Abgeordneter und
der Fraktion der SPD

Überlebenshilfe in der Drogenpolitik – Situa-
tion der Substitution von Opiatabhängigen
verbessern und Substitutionsbehandlung im
Strafvollzug gewährleisten

– Drucksache 17/12181 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Gesundheit (f)
Rechtsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) –
Sie sind damit einverstanden.

Ebenso interfraktionell wird die Überweisung der
Vorlage auf Drucksache 17/12181 an die in der Tages-
ordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie
sind einverstanden? – Dann verfahren wir so.

Tagesordnungspunkt 29:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Achten Gesetzes zur
Änderung des Urheberrechtsgesetzes

– Drucksache 17/12013 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)
Ausschuss für Kultur und Medien

Auch hier werden, wie vorgesehen, die Reden zu
Protokoll genommen.


Ansgar Heveling (CDU):
Rede ID: ID1721933500

Leistungsschutzrechte sind dieser Tage in aller

Munde. Und es ist verwunderlich, wie teilweise hoch-
emotional dieses Thema – insbesondere in Verbindung
mit der geplanten Einführung eines Leistungsschutz-
rechtes für Presseverleger – in der Diskussion vor-
kommt. Auch in dem vorliegenden von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurf eines Achten Gesetzes
zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes, den wir
heute in erster Lesung beraten, geht es – neben der
Harmonisierung der Schutzdauer von Musikkomposi-
tionen mit Text – im Wesentlichen um Leistungsschutz-
rechte, und zwar im Bereich Musik.

Leistungsschutzrechte gibt es nicht erst seit dem Ko-
alitionsvertrag der christlich-liberalen Bundesregie-
rung. Sie bestehen bereits länger als unser heutiges
Urheberrecht. Leistungsschutzrechte sind als soge-
nannte verwandte Schutzrechte im Urheberrechtsge-
setz ab § 70 geregelt und beinhalten die technisch-or-
ganisatorische Komponente der Urheberleistung.

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf soll die Richt-
linie 2011/77/EU des Europäischen Parlaments und
des Rates vom 27. September 2011 über die Schutz-

1) Anlage 14





Ansgar Heveling


(A) (C)



(D)(B)


dauer des Urheberrechts und bestimmter verwandter
Schutzrechte umgesetzt werden. Diese Richtlinie er-
gänzt die Richtlinie 2006/77/EU und soll ein Schutzni-
veau für ausübende Künstler schaffen, das ihrer krea-
tiven Arbeit gerecht wird. Schließlich sollen die
Urheber während ihres gesamten Lebens auf Einnah-
men aus den ausschließlichen Rechten ihrer Werke zu-
rückgreifen können.

Der Entwurf des neuen Gesetzes und damit die Um-
setzung der Richtlinie enthält zwei wesentliche
Punkte: Zum einen wird die Schutzdauer für Musik-
kompositionen mit Text innerhalb der EU harmoni-
siert. Zum anderen soll die Schutzdauer von Rechten
ausübender Künstler und Tonträgerhersteller von 50
auf 70 Jahre verlängert werden. Das deutsche Recht
muss dahin gehend angepasst werden, dass es bisher
keine Regelungen zu dieser geänderten Schutzdauer
enthält: Dies betrifft ein Kündigungsrecht sowie An-
sprüche auf zusätzliche Vergütung für ausübende
Künstler.

Die Schutzdauer für Musikkompositionen mit Text
knüpft an eine vergleichbare Bestimmung zu Film- und
audiovisuellen Werken an. Die EU-Richtlinie legt die
Schutzdauer auf 70 Jahre nach dem Tod des Urhebers,
also des Textverfassers oder des Komponisten, fest. Sie
verlängert zudem die Schutzdauer für Rechte von aus-
übenden Künstlern und von Tonträgerherstellern. Bis-
her erloschen die Rechte des ausübenden Künstlers
50 Jahre nach Erscheinen des Tonträgers bzw. seiner
ersten öffentlichen Wiedergabe. Nun wird diese Frist
auch hier auf 70 Jahre verlängert. Mit der Umsetzung
der Richtlinie, die bis zum 1. November 2013 erfolgt
sein muss, leisten wir also einen wichtigen Beitrag zur
Stärkung von im Musikbereich tätigen Künstlern und
Urhebern.

Bereits Ende des 19. Jahrhunderts gab es eine große
Diskussion über das damals eingeführte Leistungs-
schutzrecht für Tonträgerhersteller mit der Begrün-
dung, Konzert- und Theatersäle könnten dadurch leer
bleiben. Zu Beginn des 21. Jahrhunderts können wir
wohl heute sagen, dass sich diese Befürchtung nicht
bewahrheitet hat. Das sollten wir uns vielleicht vor
Augen halten, wenn wir bei der Diskussion um das
Leistungsschutzrecht für Presseverlage an so mancher
Stelle ebenfalls erleben, dass die maximale Orchestrie-
rung gewählt wird, um Widerstand gegen die Einräu-
mung eines solchen Rechts zu erzeugen.

An den tatsächlichen Wirkungen von Schutzrechten
wird dabei leider oftmals vorbeiargumentiert. Denn
die EU-Richtlinie für eine verlängerte Schutzdauer für
Musikleistungsschutzrechte, die wir nun in deutsches
Recht umsetzen, zeigt, dass es um eine sinnvolle Er-
gänzung bestehender verwandter Schutzrechte im Ur-
heberrecht geht, um das Schutzniveau für die Urheber
entsprechend ihrer Leistungen auszugestalten.


Burkhard Lischka (SPD):
Rede ID: ID1721933600

Wir beraten heute einen Gesetzentwurf der Bundes-

regierung, der die Schutzdauer für die Rechte an

Musikaufnahmen von 50 auf 70 Jahre verlängern soll.
Der Entwurf setzt eine EU-Richtlinie um.

Dabei geht es um die sogenannten verwandten
Schutzrechte der Tonträgerhersteller, also der Platten-
firmen, und die der ausübenden Künstlerinnen und
Künstler, die nicht gleichzeitig als Texter oder Kompo-
nist Miturheber des Musikwerkes sind, das heißt um
die an der Aufnahme beteiligten Studiomusiker. Es
geht also nicht um eine Verlängerung urheberrechtli-
cher Schutzfristen insgesamt.

Grundsätzlich dienen Schutzfristen im Urheber-
recht der sozialen Absicherung der Kreativen – und
haben damit prinzipiell ihre Berechtigung. Das Ziel,
die soziale Situation ausübender Künstlerinnen und
Künstler zu verbessern, verfolgte auch die Europäi-
sche Kommission, als sie im Juli 2008 einen Richtlini-
envorschlag vorlegte, mit dem die Schutzfrist für die
Rechte an Musikaufnahmen von bislang 50 Jahren auf
95 Jahre verlängert werden sollte. Die ursprünglich
geplante – realitätsferne – Verlängerung um 45 Jahre
wurde zu Recht einmütig kritisiert, vom Europäischen
Parlament ebenso wie vonseiten des Bundestages, der
2009 eine maximale Verlängerung auf 70 Jahre ange-
mahnt hatte.

Für die SPD-Bundestagsfraktion stellt sich im Kern
eine Frage: Können die Künstlerinnen und Künstler
nun auf eine Verbesserung ihrer Einkommenssituation
im Alter hoffen, oder werden hauptsächlich andere von
der Verlängerung der Schutzdauer profitieren? Viele
Urheberrechtsexperten bezweifeln, dass die längeren
Fristen den Künstlerinnen und Künstlern helfen wer-
den. Viele glauben, dass sich die Einnahmen für aus-
übende Künstler durch die Schutzfristverlängerung
nicht nennenswert erhöhen werden. Wahrscheinlicher
sei, dass die Musikindustrie, vor allem die großen
Plattenlabels, davon am meisten profitieren werde.
Warum? Bisher erloschen die Rechte an Aufzeichnun-
gen und Darbietungen ausübender Künstlerinnen und
Künstler 50 Jahre nach ihrer Veröffentlichung. Dieser
Schutz verlängert sich jetzt um 20 Jahre. An den
Zusatzeinnahmen, die die Plattenfirmen in dieser Zeit
erzielen, sollen die Künstlerinnen und Künstler zu
einem Fünftel beteiligt werden – allerdings erst an
Einnahmen, die 50 Jahre nach Erscheinen des Ton-
trägers erzielt wurden.

Wir wissen jedoch, dass die meisten Künstlerinnen
und Künstler ihre Rechte umfassend an ihre Plattenfir-
men abtreten und dafür in der Regel lediglich eine
einmalige Pauschale erhalten. Die Gründe sind uns
bekannt: Aufgrund des wirtschaftlichen Ungleichge-
wichts von Künstlern auf der einen und Plattenfirmen
auf der anderen Seite finden Vertragsverhandlungen
selten auf Augenhöhe statt. Vor allem Studiomusiker
können wegen ihrer schwachen Verhandlungsposition
so gut wie nie eine wiederkehrende Vergütung verein-
baren. Das Max-Planck-Institut für Geistiges Eigen-
tum hat deshalb in einer Stellungnahme zum Richtlini-
enentwurf kritisiert, dass die Verlängerung der
Schutzfrist den Künstlern nichts bringe und die „Unzu-

Zu Protokoll gegebene Reden





Burkhard Lischka


(A) (C)



(D)(B)


länglichkeiten des heutigen Systems“ unberührt lasse.
Beschnitten werden auch die Rechte der Allgemein-
heit, indem der Zugang zu Tonaufnahmen von Musik,
vor allem aus den 50er- und 60er-Jahren, die bereits
gemeinfrei ist, weiter beschränkt bleibt.

Ob Schutzfristverlängerungen ein geeignetes Mittel
sind, um die soziale Situation von Künstlerinnen und
Künstlern zu verbessern, kann daher zumindest be-
zweifelt werden. Dieser Frage werden wir uns in den
anstehenden Beratungen im Rechtsausschuss genauer
widmen müssen.


Dr. Petra Sitte (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721933700

Sie hatten sich ja in Sachen Urheberrecht eine

Menge vorgenommen, einen ganzen „Dritten Korb“
von Gesetzesreformen. Aber aus einem Zweitveröffent-
lichungsrecht für Wissenschaftlerinnen und Wissen-
schaftler ist ebenso wenig geworden wie aus einer all-
gemeinen Wissenschaftsschranke, einer gesetzlichen
Regelung für Mashups, einer Erlaubnis für den privaten
Weiterverkauf von heruntergeladenen Musikdateien
oder auch nur einer Eindämmung des Abmahnwahns.
Sie haben viele große Töne gespuckt und am Ende
nichts getan. Nichts – das meine ich wörtlich. Aber
damit die Bilanz Ihrer Legislaturperiode in Sachen
Urheberrecht nicht ganz so düster aussieht, wollen Sie
jetzt kurz vor Ihrer Abwahl noch die Verlängerung der
Schutzfristen für Tonträgerhersteller durchdrücken.
Na toll! Sie kommen mit einem „Körbchen“ um die
Ecke, in das Sie ein faules Ei gelegt haben.

Worum geht es? Darum, dass Musikaufnahmen zu-
künftig nicht mehr nur 50, sondern 70 Jahre lang ge-
schützt sein sollen, wobei wir nicht vom Urheberrecht
reden, also nicht von den Rechten der Komponisten
und Textschreiberinnen, sondern von den Leistungs-
schutzrechten. Geht es also um die Interessen der aus-
übenden Künstler, wie Sie behaupten? Keineswegs.

Es geht einzig und allein um die Partikularinteres-
sen der drei großen Major Labels. Warum? Weil nur
sehr wenige Werke 50 Jahre nach Erscheinen über-
haupt noch kommerziell verwertet werden, nämlich die
großen Hits. Die meisten anderen werfen schon nach
einem Jahr keine nennenswerten Einnahmen mehr ab,
erst recht jedoch nicht nach 50 oder gar 70 Jahren.
Die angeblichen Mehreinnahmen werden einigen we-
nigen Stars und ihren Plattenfirmen zugutekommen.
Und dafür nehmen Sie achselzuckend in Kauf, dass
auch der ganze Rest fortan 20 Jahre länger hinter
Schloss und Riegel bleibt.

Wenn es Ihnen tatsächlich um Mehreinnahmen für
die Künstler gegangen wäre, hätten Sie in Europa, als
die EU über diese Richtlinie beraten hat, vorschlagen
können, dass die Rechte an den Aufnahmen nach
spätestens 50 Jahren an die Künstler zurückgegeben
werden sollen. Stattdessen steht drin, dass bereits be-
stehende Verträge sich automatisch auf die neue
Schutzdauer von 70 Jahren verlängern. Wer also als
Künstler seine Rechte abgetreten hat, ist sie jetzt auto-
matisch für weitere 20 Jahre los, und er hat lediglich

einen Anspruch darauf, in Höhe von 20 Prozent an den
potenziellen Einnahmen beteiligt zu werden.

Anders gesagt: Sie verlängern der Künstler und
Künstlerinnen Rechte um 20 Jahre, um sie ihnen so-
gleich wieder zu entziehen, um sie den Major Labels
zuzuschustern. Die Künstlerinnen und Künstler aber
werden mit einer Beteiligung von 20 Prozent abge-
speist, die dann erstmals nach 50 Jahren gezahlt wer-
den muss.

Sie sind wirklich tolle Kämpfer für die Rechte der
Kreativen! Um von den Rechten der Nutzerinnen und
Nutzer gar nicht erst zu reden, die jetzt 20 weitere
Jahre lang keine Samples aus älteren Musikstücken für
kreative Remixes verwenden dürfen.

Zahlreiche Experten haben sich auf europäischer
Ebene gegen diese Richtlinie ausgesprochen. Zugege-
ben, Sie haben in Deutschland jetzt keine Wahl, die
Richtlinie muss in nationales Recht umgesetzt werden.
Aber es ist auffällig, dass Sie es besonders eilig damit
haben.

Sie haben keine einzige Urheberrechtsreform umge-
setzt, wollen aber schnell noch dieses Gesetz durch-
drücken, bevor Sie abgewählt werden. Nach dem
Motto „Lieber noch schnell eine schlechte Reform als
gar nichts auf die Reihe bekommen“. Warten wir ab,
ob die Wählerinnen und Wähler das auch so sehen.


Jerzy Montag (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721933800

Auf den ersten Blick bringt der vorliegende Gesetz-

entwurf eines Achten Gesetzes zur Änderung des Ur-
heberrechtsgesetzes wenig Aufregendes. Die Vorgaben
der Europäischen Richtlinie 2011/77/EU vom 27. Sep-
tember 2011 ändern lediglich die Schutzfristen-
Richtlinie 2006/116/EG und fordern von den Mitglied-
staaten eine entsprechende Anpassung nationalen
Urheberrechts. Europarechtlich ist dies ein gewollter
und aus den Europäischen Verträgen resultierender
Vorgang der fortschreitenden Vereinheitlichung der
Europäischen Union.

Wenden wir uns aber den Inhalten und den Ände-
rungen im Urheberrecht zu, wird die Sache ungleich
komplizierter.

Die Schutznormen des Urheberrechts schützen das
Persönlichkeitsrecht und das Verwertungsrecht der
Kreativen, die Rechte der geistig schaffenden
Menschen an den von ihnen geschaffenen geistigen
Werken. Insoweit ist das Urheberrecht dem Eigentums-
recht am Sach- und Rechtseigentum ähnlich und steht
wie dieses in seinem Kern unter der Grundrechts-
garantie von Art. 14 GG. Dabei geht es um nicht weni-
ger als um die soziale Frage, ob Kreative das Recht
haben sollen, von ihrer Arbeit zu leben, auch indem sie
bestimmen, ob und unter welchen Bedingungen ihre
Werke gehört, gesehen oder gelesen werden. Auch in-
ternationale Verträge, denen Deutschland schon vor
Jahrzehnten beigetreten ist, und auch das Europäische
Recht schützen das Urheberrecht der Urheberinnen
und Urheber.

Zu Protokoll gegebene Reden





Jerzy Montag


(A) (C)



(D)(B)


Geistige Werke der Literatur und der Musik gehören
aber auch und mit gleichem Anspruch auf Achtung
zum geistigen Erbe von Kultur- und Sprachgemein-
schaften, ohne dass einzelne Rechteinhaber dies regle-
mentieren oder lizensieren dürften. Die Welt der
Kultur sähe arm aus, wenn Werke von Goethe oder
Mozart nicht der Allgemeinheit gehören würden, wenn
sie nicht gemeinfrei wären.

Im Grundsatz weiß das Urheberrecht mit diesem
Widerspruch umzugehen, indem es den Urheberrechts-
schutz zeitlich beschränkt. Politisch strittig sind
deshalb weniger diese Schutzfristen als solche als viel-
mehr ihre genaue Dauer. Hierbei gilt es, zu beachten,
dass verschiedene Schutzfristen durchaus unterschied-
lich lange gelten und dass sie sich im Laufe der Zeit
auch immer wieder erheblich geändert – meistens
verlängert – haben.

Ein Urheberrecht, das den Urheberinnen und
Urhebern wie den ausübenden Künstlern zu ihren Leb-
zeiten fortlaufende Einnahmen aus der Verwertung
ihrer Werke sichert, findet unsere volle Zustimmung.
Da jedoch in den meisten Fällen die Verwertung nicht
von den Urhebern selbst vorgenommen, sondern an
professionelle Verwerter übertragen wird, ist die Aus-
gestaltung der vertraglichen Grundlagen zwischen
Urhebern und Verwertern von entscheidender Bedeu-
tung für die Frage, ob die Schutzfristen wirklich den
Urhebern oder vielmehr und ausschließlich nur den
Verwertern nutzen.

Schutzfristen über den Tod hinaus werden viel kriti-
scher gesehen. Sie haben einerseits eine soziale Absi-
cherungsfunktion gegenüber den Familienmitgliedern
der Urheber und bilden oft den Hauptinhalt des Erbes,
welches zweifelsohne unter gesetzlichem Schutz steht.
Andererseits schwindet nach dem Tod der personale
Bezug zwischen dem Urheber und seinem Werk, wes-
halb besonders Fristverlängerungen post mortem
problematisch sind.

Bei alledem darf nicht übersehen werden, dass alle
Schutzfristverlängerungen der Gemeinfreiheit neue
Grenzen setzen, diese aber in Wissensgesellschaften
von integraler Bedeutung ist. Schließlich wird die
Durchsetzung der Urheberrechte in der Zeit einer fort-
schreitenden Digitalisierung und Globalisierung im-
mer schwieriger und kollidiert mit datenschutzrechtli-
chen sowie bürgerrechtlichen Vorgaben. Deshalb
sollte sich die parlamentarische Debatte des vorlie-
genden Gesetzentwurfs nicht auf den Umsetzungsas-
pekt europäischer Vorgaben beschränken. Wir sind der
Gesetzgeber und müssen die von uns zu erlassenden
Gesetze verantworten. Ich will nur zu bedenken geben,
dass die Änderungen der Schutzfristenrichtlinie – wor-
über wir heute reden – auf Initiativen derjenigen
zurückgehen, die die Rechte an den Beatles-Liedern
halten. Deshalb habe ich beim vorliegenden Gesetz-
entwurf der Bundesregierung vermisst, dass keine Aus-
führungen zu der Frage gemacht werden, wem konkret
und in welchem Umfang die vorzunehmenden gesetz-

lichen Änderungen nutzen und welche möglichen
Schäden dem gegenüberstehen.

Beim vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die
Dauer der Rechte an Musikkompositionen mit Text, die
Dauer der Rechte ausübender Künstler an ihren auf
Tonträger aufgenommenen Darbietungen und die
Dauer der Verwertungsrechte der Hersteller von
Tonträgern.

Zum ersten Punkt. Bisher erloschen die Rechte der
Musiker und Texter unabhängig voneinander 70 Jahre
nach dem Tod. Nunmehr wird die Regelung derjenigen
für Miturheber und bei Filmwerken angeglichen; die
Rechte erlöschen 70 Jahre nach dem Tod des Längst-
lebenden.

Zum zweiten Punkt. Bisher erloschen die Rechte
ausübender Künstler auf Aufnahme, Vervielfältigung,
Verbreitung und öffentliche Wiedergabe ihrer Werke
50 Jahre nach dem ersten Erscheinen. Diese Frist wird
um 20 Jahre verlängert; allerdings nur für Ton- und
nicht für Bildaufnahmen. Einen Umsetzungsspielraum
sehe ich insoweit nicht. Ob die unterschiedliche Be-
handlung von Ton- und Bildaufnahmen sinnvoll ist,
müssen wir in den Beratungen noch diskutieren.

Zum dritten und brisantesten Punkt. Das geltende
Recht sichert den Herstellern von Tonträgern ein ei-
genständiges Leistungsschutzrecht zur Vervielfälti-
gung, Verbreitung und öffentlichen Zugänglichma-
chung der Tonträger zu. Dieses Recht erlischt nach
50 Jahren; nun soll es um 20 Jahre verlängert werden.
Ich will nicht verhehlen, dass mir diese Änderung rich-
tig gegen den Strich geht und dass mich die neuen
Regeln zur Partizipation der Urheber an den Gewin-
nen der Tonträgerhersteller aus dieser Verlängerung
nur schwer mit einem solchen Geschenk an die Ton-
trägerindustrie zu versöhnen vermögen. Positiv ist
sicherlich, dass den Urhebern ein neues Kündigungs-
recht zugestanden wird, auf welches die Urheber auch
nicht verzichten können. Urheber brauchen solche un-
abdingbaren Schutznormen, weil sie in Verhandlungen
meist in der wirtschaftlich schwächeren Position sind.

Ich will zum Schluss auf einen möglicherweise pro-
blematischen Punkt hinweisen. Bei Aufzeichnungen
von Darbietungen mehrerer ausübender Künstler, also
bei Orchester-, Chor- oder Bandeinspielungen, be-
stimmt sich die Kündigung nach nationalem Recht. Wir
werden prüfen müssen, ob dieses sich für Kündigungen
eignet, die 50 Jahre nach der Einspielung auszuspre-
chen ist. Eventuell werden wir hier noch Änderungs-
vorschläge zur Abstimmung vorlegen.

D
Dr. Max Stadler (FDP):
Rede ID: ID1721933900


Das Urheberrecht ist in aller Munde. Es wird ge-
wöhnlich breit in der Öffentlichkeit diskutiert – und
das meistens sehr kontrovers. Denn in den Debatten
werden in der Regel sehr unterschiedliche Positionen
vertreten, und die Aufgabe der Rechtspolitik ist, die
unterschiedlichen Interessenlagen auszuloten und die

Zu Protokoll gegebene Reden





Parl. Staatssekretär Dr. Max Stadler


(A) (C)



(D)(B)


Interessenskonflikte in Ausgleich zu bringen. Die De-
batte im Zusammenhang mit dem Gesetzentwurf, den
wir heute zu beraten haben, gab bisher wenig Anlass
zu solch kontroversen Diskussionen.

Denn mit dem vorliegenden Entwurf eines Achten
Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes hat
die Bundesregierung einen Gesetzentwurf vorgelegt,
mit dem die Richtlinie des Europäischen Parlaments
und des Rates vom 27. September 2011 über die
Schutzdauer des Urheberrechts und bestimmter ver-
wandter Schutzrechte in deutsches Recht umgesetzt
werden soll. Die Umsetzung der Richtlinie durch den
deutschen Gesetzgeber ist zwingend. Die gesetzgebe-
rischen Spielräume sind dabei marginal. Der Regie-
rungsentwurf beschränkt sich auf diejenigen gesetz-
lichen Regelungen, die zur Umsetzung der Richtlinie
zwingend erforderlich sind.

Im Wesentlichen verlängert der Gesetzentwurf die
Schutzdauer von Rechten der ausübenden Künstler
und der Tonträgerhersteller. Ausübende Künstler und
Hersteller von Tonträgern sollen aus folgenden Grün-
den einen längeren Schutz für ihre Leistungen erhal-
ten: Ausübende Künstler beginnen ihre Laufbahn im
Allgemeinen relativ jung, sodass ihre Darbietungen
bei der derzeitigen Schutzdauer von 50 Jahren für Auf-
zeichnungen von Darbietungen gegen Ende ihres Le-
bens häufig nicht mehr geschützt sind. Gerade dann
sind sie aber darauf angewiesen, noch Einkünfte aus
der Verwertung ihrer Leistungen zu erzielen. Zukünftig
wird sich die Schutzdauer daher an dem Schutz für Ur-
heber orientieren. Entsprechend den Richtlinienvorga-
ben wird die Schutzdauer künftig 70 statt wie bisher
50 Jahre betragen.

Die Richtlinie und ihr folgend der Regierungsent-
wurf beschränken sich jedoch nicht auf eine bloße Ver-
längerung der Schutzdauer. Denn mit der verlängerten
Schutzdauer für Tonträger ist es den Tonträgerher-
stellern länger als bisher möglich, die Tonträger kom-
merziell zu verwerten. Sie können also zusätzliche
Einnahmen generieren. Die Richtlinie und der Regie-
rungsentwurf stellen sicher, dass die ausübenden
Künstler an diesen zusätzlichen Einnahmen partizipie-
ren, die Tonträgerhersteller wegen der verlängerten
Schutzdauer zukünftig erwirtschaften werden.

Dazu räumt der Regierungsentwurf dem ausüben-
den Künstler, der seine Rechte gegen eine Pauschal-
vergütung dem Tonträgerhersteller eingeräumt oder
übertragen hat, für den Zeitraum der verlängerten
Schutzdauer, das heißt für die Jahre 51 bis 70, einen
zusätzlichen Vergütungsanspruch in Höhe von 20 Pro-
zent der Einnahmen des Tonträgerherstellers ein. Die-
ser Vergütungsanspruch ist im Interesse des ausüben-
den Künstlers unverzichtbar und kann nur über eine
Verwertungsgesellschaft geltend gemacht werden.

Auch für den Fall, dass ein Übertragungsvertrag
eine laufende Beteiligung des ausübenden Künstlers
vorsieht, stellt der Regierungsentwurf die Teilhabe an
den generierten Mehreinnahmen des Tonträgerher-

stellers sicher: Für den Zeitraum der verlängerten
Schutzdauer – das heißt für die Jahre 51 bis 70 – dür-
fen dann keine Abzüge von der Vergütung des ausüben-
den Künstlers vorgenommen werden. Der ausübende
Künstler wird dadurch geschützt, dass der Regierungs-
entwurf ihm ein Kündigungsrecht einräumt für den
Fall, dass der Tonträgerhersteller die Aufzeichnung
seiner Darbietung während der verlängerten Schutz-
dauer nicht verwertet. Die Rechte fallen dann an den
ausübenden Künstler zurück, und er kann diese ande-
ren Verwertern anbieten oder selbst verwerten.

Mit der Verlängerung der Schutzdauer leistet der Re-
gierungsentwurf so einen wichtigen Beitrag zur wirt-
schaftlichen Absicherung ausübender Künstlerinnen
und Künstler. Künftig stehen ihnen die Einnahmen aus
ihrer Arbeit für insgesamt 70 Jahre zur Verfügung. Ein
weiterer wesentlicher Gegenstand der Umsetzung be-
trifft die Schutzdauer für Musikkompositionen mit Text.
Die Richtlinie setzt für diese eine europaweit einheit-
liche Schutzdauer von 70 Jahren fest. Dies setzt der
Regierungsentwurf ebenfalls um.

Die Richtlinie muss bis zum 1. November 2013 um-
gesetzt werden. Das parlamentarische Verfahren muss
also noch vor der Sommerpause 2013 abgeschlossen
werden, weil sonst Schadensersatzansprüche drohen.
Der Bundesrat hat keinerlei Einwendungen gegen den
Regierungsentwurf erhoben. Dies bestätigt für mich,
dass die Bundesregierung einen rundum gelungenen
Entwurf vorgelegt hat. Ich würde mich freuen, wenn
dies von Ihnen genauso gesehen würde.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721934000

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/12013 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt
keine anderweitigen Vorschläge. Dann verfahren wir so.

Tagesordnungspunkt 30:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur Stärkung der beruflichen Aus- und
Weiterbildung in der Altenpflege

– Drucksache 17/12179 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Auch hier werden, wie vorgesehen, die Reden zu
Protokoll genommen.


Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1721934100

Die Lebenserwartung der Menschen in unserem

Lande verlängert sich stetig und hat einen historischen
Höchststand erreicht. Diese erfreuliche Entwicklung
wird aber auch dazu führen, dass immer mehr Men-
schen im hohen Alter auf Pflege angewiesen sind.
Heute sind es circa 2,4 Millionen, im Jahr 2030 wer-





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)


den es über 3,3 Millionen Menschen sein, die profes-
sionelle Pflege benötigen. Daher ist es eine der gesell-
schaftspolitisch wichtigsten Aufgaben der nächsten
Jahre, dafür zu sorgen, dass ausreichend motivierte
Fachkräfte für die Altenpflege gewonnen werden.

Schon heute gehört die Altenpflege nach den Zahlen
der Bundesagentur für Arbeit zu den Berufen mit dem
größten Mangel an Fachkräften: Derzeit bewerben
sich auf 100 offene Stellen nur noch 35 als Arbeit su-
chend gemeldete Altenpflegerinnen und Altenpfleger.
Hier müssen wir entschieden gegensteuern und allen
an der Altenpflegeausbildung Interessierten deutlich
machen, dass die Altenpflege ein stark wachsender
Dienstleistungssektor mit hervorragenden beruflichen
Perspektiven ist.

Zu diesem Zweck haben sich rund 30 Partner aus
Bund, Ländern und Verbänden zusammengefunden
und die „Ausbildungs- und Qualifizierungsoffensive
Altenpflege“ auf den Weg gebracht. Zu den Partnern
gehören neben der Bundesregierung die Länder und
Kommunen, die Wohlfahrtsverbände, die Fach- und
Berufsverbände der Altenpflege, die Bundesagentur
für Arbeit, die Kostenträger und die Gewerkschaften.
Ziel der Initiative ist es, die Ausbildungszahlen in der
Altenpflege stufenweise bis zum Jahr 2015 um mehr
als 30 Prozent zu steigern. Ziel ist es aber auch, Alten-
pflegefachkräfte im Beruf zu halten und die Attraktivi-
tät dieses Berufs zu steigern durch Verbesserung der
beruflichen Rahmenbedingungen der Pflegekräfte in
stationären und ambulanten Pflegeeinrichtungen.

Zu den in der Initiative vereinbarten Maßnahmen
gehören unter anderem die Verbesserung der Verein-
barkeit von Familie und Beruf in der Altenpflege,
attraktivere Arbeitsbedingungen – wozu auch die
Zahlung einer angemessenen Ausbildungsvergütung
gehört –, die Förderung der gesellschaftlichen Bedeu-
tung des Berufsfeldes durch Öffentlichkeitsarbeit so-
wie die bessere Nutzung der Arbeitnehmerfreizügigkeit
in der Europäischen Union. Umgesetzt wurden bereits
zwei Maßnahmen: Das beim Bundesamt für Familie
und zivilgesellschaftliche Aufgaben eingerichtete Be-
ratungsteam Altenpflegeausbildung hat seine Arbeit
aufgenommen und berät vor Ort in allen Regionen
Deutschlands Pflegeeinrichtungen, Altenpflegeschu-
len sowie alle an der Altenpflegeausbildung Interes-
sierten. Darüber hinaus organisiert es Ausbildungs-
verbünde und Netzwerke. Das Informationsportal
www.altenpflegeausbildung.net informiert Interes-
sierte über die Altenpflege.

Mit dem heute vorgelegten Gesetzentwurf bringen
wir zwei weitere Maßnahmen auf den Weg: Wir stärken
erstens die bereits bestehenden Möglichkeiten zur Aus-
bildungsverkürzung und führen zweitens die Vollfinan-
zierung von nicht verkürzbaren Weiterbildungen zur
Altenpflegekraft für eine befristete Zeit wieder ein.

Zu 1: Bereits nach der geltenden gesetzlichen Rege-
lung in § 7 Abs. 1 und 2 Altenpflegegesetz kann bei
Vorliegen bestimmter Voraussetzungen die Ausbil-

dungsdauer für den Beruf der Altenpflegerin oder des
Altenpflegers verkürzt werden. Mit der nun vorgeleg-
ten Neuregelung wird bei Maßnahmen der beruflichen
Weiterbildung die Möglichkeit einer positiven Ver-
kürzungsentscheidung gestärkt für im Berufsfeld
erfahrene Personen, wie zum Beispiel Altenpflegehel-
ferinnen und Altenpflegehelfer sowie Krankenpflege-
helferinnen und Krankenpflegehelfer. Die Verkürzung
ist nur unter bestimmten Voraussetzungen – Gutachten
durch den berufspsychologischen Service der Bundes-
agentur für Arbeit – möglich und erfolgt nur dann,
wenn „die Durchführung der Ausbildung und die Er-
reichung des Ausbildungsziels“ nicht gefährdet wird.

Zu 2: Umschulungen zur Altenpflegerin oder zum
Altenpfleger sind eine wichtige Säule der Fachkräfte-
sicherung in der Altenpflege. So können auch ältere
und lebenserfahrene Menschen aus anderen Berufen
für einen Beruf in der Altenpflege gewonnen werden.
Viele Frauen, die sich nach der Familienphase neu
orientieren, können sich eine Beschäftigung in der
Pflege vorstellen. Daher ist es erfolgversprechend,
verstärkt Menschen für die Altenpflege zu gewinnen,
die sich wegen Arbeitslosigkeit oder aus anderen
Gründen beruflich neu orientieren müssen und Inte-
resse an diesem Berufsbild mitbringen. Mit den vorge-
legten Änderungen im SGB II und SGB III werden die
Bundesagentur für Arbeit oder das Jobcenter Umschu-
lungen zur Altenpflegerin oder zum Altenpfleger, die
zwischen dem 1. April 2013 und den 31. März 2016 be-
ginnen, wieder für drei Jahre finanzieren: Neben den
Weiterbildungskosten werden BA und Jobcenter auch
das Arbeitslosengeld bzw. die Leistungen zur Siche-
rung des Lebensunterhalts im Bereich der Grundsiche-
rung tragen.

Nachdem am 13. Dezember 2012 mit der Unter-
zeichnung der „Ausbildungs- und Qualifizierungs-
offensive Altenpflege“ der erste bundesweite Ausbil-
dungspakt für den Bereich der Altenpflege gestartet
wurde, leisten wir mit der Einbringung des vorliegen-
den Gesetzentwurfs einen weiteren wesentlichen
Beitrag zur Fachkräftesicherung in der Altenpflege.
Mit den vorgeschlagenen Maßnahmen werden wir den
Fehlbedarf an Pflegekräften deutlich reduzieren. Die
Koalitionsfraktionen werden den Gesetzentwurf
schnell verabschieden, damit für an einer Ausbildung
oder Umschulung Interessierte Planungssicherheit ge-
schaffen wird.


Erwin Rüddel (CDU):
Rede ID: ID1721934200

Es ist ein Grund zur Freude, dass dank der gestiege-

nen Lebenserwartung die Chance auf ein langes Leben
heute so hoch wie nie zuvor in der menschlichen Ge-
schichte ist. Dies gilt auch für die Menschen in
Deutschland. In der Folge werden allerdings auch im-
mer mehr von ihnen im Alter auf Pflege angewiesen
sein. Bis 2030 wird die Zahl der pflegebedürftigen
Menschen in Deutschland voraussichtlich um 40 Pro-
zent auf dann 3,4 Millionen anwachsen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Erwin Rüddel


(A) (C)



(D)(B)


Bereits heute fehlen in den Pflegeberufen Fach-
kräfte. Auf 100 offene Stellen im Pflegebereich kamen
zuletzt nur 37 Fachkräfte, die eine entsprechende Tä-
tigkeit suchten. Die Bundesagentur für Arbeit hat so-
eben neue Zahlen zum Fachkräftemangel in den Ge-
sundheits- und Pflegeberufen vorgelegt. Danach hat
sich die Lage vor allem in der Altenpflege in den ver-
gangenen Monaten sogar verschlechtert: Freie Stellen
bleiben danach im Bundesdurchschnitt 124 Tage unbe-
setzt, und auf 100 gemeldete Stellen kommen nur noch
rund 35 Arbeitslose. Betroffen von dieser Entwicklung
sind alle Bundesländer.

Dieser gefährlichen Tendenz tritt die Bundesregie-
rung jetzt mit dem vorliegenden Gesetzentwurf zur
Stärkung der beruflichen Aus- und Weiterbildung in
der Altenpflege wirksam entgegen. Sie setzt damit eine
wesentliche Maßnahme im Rahmen der „Ausbildungs-
und Qualifizierungsoffensive“ um, auf die sich im De-
zember vier Bundesministerien, die Bundesländer so-
wie die Bundesagentur für Arbeit und zahlreiche Ver-
bände und Organisationen verständigt haben. Ein
besonderes Verdienst beim Zustandekommen dieser
Initiative zur Sicherung des Fachkräftebedarfs in der
Altenpflege kommt der hierbei federführend zuständi-
gen Frau Bundesministerin Schröder zu, der ich na-
mens meiner Fraktion für ihre geduldigen und beharr-
lichen Bemühungen ausdrücklich danken möchte.

Ich denke, wir alle hier in diesem Hause sind uns ei-
nig, wenn ich feststelle: Wir brauchen mehr Altenpfle-
gerinnen und Altenpfleger! Und: Unser Ziel sind gut
ausgebildete und motivierte Fachkräfte!

Mit dem Startschuss für die „Ausbildungs- und
Qualifizierungsoffensive Altenpflege“ und dem vorlie-
genden Gesetzentwurf unternehmen wir einen ent-
scheidenden Schritt, um dem wachsenden Bedarf an
guten Fachkräften in den kommenden Jahren gerecht
zu werden:

Wir wollen bis 2015 die Ausbildungszahlen stu-
fenweise um jährlich 10 Prozent steigern und bis zu
4 000 Pflegehelferinnen und Pflegehelfer nachqualifi-
zieren.

Die dreijährige Umschulungsförderung durch die
Bundesagentur für Arbeit wird befristet wieder einge-
führt. Bei entsprechenden Vorkenntnissen ist auch eine
verkürzte Ausbildungszeit möglich, das heißt, bereits
erworbene Qualifikationen oder Berufserfahrungen
können auf eine Aus- und Weiterbildung angerechnet
werden. Mit dem Start der neuen Offensive geht eine
intensive Information und Beratung vor Ort in Pflege-
einrichtungen und Altenpflegeschulen in allen Regio-
nen Deutschlands einher. Parallel dazu wurde bereits
das neue Informationsportal www.altenpflegeausbil-
dung.net freigeschaltet. Der Gesetzentwurf soll zügig
umgesetzt werden, damit die Regelungen noch vor dem
neuen Ausbildungsjahr in Kraft treten können.

Zu den notwendigen Maßnahmen gehören auch die
verbesserte Anerkennung im Ausland erworbener
Qualifikationen im Pflegebereich und die Wahrneh-

mung der Chancen, die sich aufgrund der Arbeitneh-
merfreizügigkeit in der EU bieten. Ich füge ausdrück-
lich hinzu: Die hohen Qualitätsanforderungen an die
Ausbildung in einem Gesundheitsfachberuf bleiben
selbstverständlich auch künftig gewahrt. Ganz wichtig
für den Erfolg des gesamten Vorhabens ist natürlich,
dass die Bundesländer künftig ausreichend Schulungs-
plätze zur Verfügung stellen.

Der Bedarf an qualifizierten Fachkräften wird an-
gesichts der sich abzeichnenden demografischen Ent-
wicklung weiter zunehmen. Das bedeutet andererseits
aber auch, dass die Altenpflege ein stark wachsender
Dienstleistungssektor ist, der hervorragende und si-
chere berufliche Perspektiven bietet.

Das breite Bündnis für eine bundesweite Offensive
im Bereich der Altenpflege macht nun den Weg frei für
Zehntausende von neuen Auszubildenden und Um-
schülern. Das gibt uns die Zuversicht, dass wir dem
drohenden Mangel an Pflegekräften wirksam werden
begegnen können. Jetzt geht es darum, die vorgesehe-
nen Schritte rasch umzusetzen, aber auch darum, die
Pflege durch gute Bezahlung und gesellschaftliche
Achtung noch attraktiver zu machen.

Das Thema Pflege ist mit Sicherheit eine der größ-
ten gesellschaftlichen und sozialen Herausforderun-
gen der kommenden Jahre. Der vorliegende Gesetzent-
wurf weist deshalb die Richtung. Denn gute Pflege
benötigt vor allem gut ausgebildete und motivierte
Fachkräfte.


Petra Crone (SPD):
Rede ID: ID1721934300

Der Anteil der Hochaltrigen in Deutschland wird

größer. Zur Bewältigung der ambulanten und stationä-
ren Nachfrage benötigen wir gut ausgebildetes, moti-
viertes und engagiertes Pflegepersonal. Um den Beruf
des Altenpflegers bzw. der Altenpflegerin generell für
Männer und Frauen attraktiver zu gestalten, sind an-
gemessene Arbeitsbedingungen für eine körperlich
und seelisch kräftezehrende Arbeit absolut notwendig:
Altenpflegerinnen und Altenpfleger sollten flexibler
als bisher zwischen ambulanter und stationärer Be-
schäftigung wechseln können. Eine verbesserte Verein-
barkeit von Familie und Beruf und eine alters- und
alternsgerechte Arbeitsumgebung ist dabei ebenso
überfällig wie die grundsätzliche Finanzierung von
drei Umschulungsjahren durch die Bundesagentur für
Arbeit.

Ich begrüße daher die nun vereinbarte Übernahme
der kompletten Umschulungskosten durch die Bundes-
agentur für Arbeit. Zur Gewinnung von mehr Fach-
kräften ist die Finanzierung von drei Umschulungsjah-
ren durch die Bundesagentur für Arbeit ein wichtiger
Baustein. Denn die Menschen brauchen eine verlässli-
che, nachvollziehbare und zukunftssichere Bezahlung.
Seit Jahren machen wir Sozialdemokraten daher Wer-
bung für eine generelle Finanzierung der Umschulung
durch die BA.

Zu Protokoll gegebene Reden





Petra Crone


(A) (C)



(D)(B)


Umso mehr freuen wir uns über die Bereitschaft der
Bundesregierung, unsere Forderung umzusetzen. In
der nun vereinbarten Befristung dieser dreijährigen
Finanzierung bis Ende 2015 und der Vorgabe, dass
Vorkenntnisse zu einer Verminderung der regulären
Ausbildung auf zwei Jahre führen, sehe ich allerdings
die Gefahr einer Qualitätseinbuße. Hier wird eine ge-
meinsame Kraftanstrengung weiterhin nötig sein, um
eine solche zu verhindern. Daher stimme ich der Vor-
wegnahme im Gesetzentwurf zu, die Verkürzung nur
nach einer mindestens zweijährigen Berufserfahrung
im Bereich Pflege und Betreuung und nach einer zu-
sätzlichen Kompetenzprüfung zuzulassen.

Bund, Länder und Gemeinden haben sich zusam-
mengeschlossen, mit der „Ausbildungs- und Qualitäts-
offensive Altenpflege“ möglichst schnell einem dro-
henden Fachkräftemangel entgegenzutreten. Sie
wollen die Zahl der Auszubildenden um 10 Prozent pro
Jahr steigern. Dem kann ich mich nur anschließen; da-
ran arbeiten wir gemeinsam.

Die Zeichen zur Berufsanerkennungsrichtlinie aus
Brüssel sind eindeutig positiv zu werten. Denn einer
Zusammenlegung der Pflegeausbildungen im Bereich
Kranken-, Kinderkranken- und Altenpflege steht nun
deutlich weniger im Wege. Auch künftig – und völlig zu
Recht – sind Abgänger von Haupt- und Realschulen
willkommen als Auszubildende im Pflegesektor. Den-
noch blieb die Bundesregierung bislang eine Antwort
schuldig, wie sie eine weitere Abwertung der Alten-
pflege verhindern will. Der seit vielen Monaten ange-
kündigte Gesetzentwurf zur Zusammenlegung der drei
Pflegeausbildungen in eine neue generalisierte Ausbil-
dung liegt noch nicht vor.

Zusätzlich sollten ausbildende Einrichtungen den
Mehraufwand einer Ausbildung nicht allein tragen
müssen. Nicht ausbildende Einrichtungen sollten an
der Finanzierung der Ausbildung und Ausbildungsver-
gütung beteiligt werden. Einige Länder haben hier be-
reits gute Lösungen erarbeitet.

Alle Punkte zusammen unterstützen das Image der
Altenpflege. Das Geld für das dritte Umschulungsjahr
ist gut angelegt. Die BA ist zudem derzeit durch eigene
Überschüsse in der Lage, diesen Bedarf zu decken.


Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1721934400

Durch den Anstieg der Zahl Älterer und Hochbetag-

ter und die Zunahme der Zahl Pflegebedürftiger haben
sich auch die Erwartungen und Bedingungen auf dem
Pflegemarkt verändert. Die Altenpflege hat an Bedeu-
tung zugenommen. Der hohe Bedarf an qualifizierten
Altenpflegern und Altenpflegerinnen geht jedoch ein-
her mit einem Mangel an qualifiziertem und motivier-
tem Personal; denn Altenpflege gilt als ein besonders
belastendes Berufsfeld.

Gute Pflege kann aber nicht ohne eine ausreichende
Zahl qualifizierter und motivierter Pflegekräfte ge-
währleistet werden. Bis 2030 wird die Zahl der pflege-
bedürftigen Menschen in Deutschland voraussichtlich

um 40 Prozent ansteigen. In Zahlen ausgedrückt heißt
das, 3,4 Millionen Menschen werden auf Pflege ange-
wiesen sein.

Wir müssen die Herausforderungen des demografi-
schen Wandels annehmen. Deshalb bin ich froh, dass
wir die Offensive als Bund gemeinsam mit den
Ländern, verschiedenen Verbänden und Kostenträgern
gestaltet haben. Dem Gesetzentwurf der Koalition
liegt, wie Sie wissen, eine Vereinbarung zur „Ausbil-
dungs- und Qualifizierungsoffensive Altenpflege“
zugrunde, die von rund 30 Partnern aus Bund, Län-
dern und Verbänden unterzeichnet wurde.

Dass die Pflege von alten und kranken Menschen
nicht nur körperlich anstrengend ist, sondern auch
psychisch, können wir nicht ändern. Wir können wohl
aber Männer und Frauen, die in der Pflege ihren Beruf
– und vielleicht auch ihre Berufung – sehen, unterstüt-
zen. Und darauf zielt der Gesetzentwurf.

Mit der Qualifizierungsoffensive wollen wir die
Ausbildungszahlen im Bereich Altenpflege in den
nächsten drei Jahren um 30 Prozent steigern. Die
Koalition sichert mit den Maßnahmen des Gesetzent-
wurfs die Aus- und Weiterbildungsförderung in der
Altenpflege – und das auf hohem Niveau.

Unser Ziel ist es, die Ausbildungszeit zu verkürzen
und gleichzeitig die Vollfinanzierung des dritten
Weiterbildungsjahres zur Altenpflegerin oder zum
Altenpfleger durch die Bundesagentur für Arbeit und
die Jobcenter zu sichern.

Dies kommt berufserfahrenen und älteren Men-
schen zugute, die umschulen möchten, aber auch den
rund 4 000 Altenpflegehelferinnen und -helfern, die
sich zur Fachkraft weiterbilden wollen. Das ist eine
großartige Sache.

Deshalb ist die Offensive für mehr Pflegekräfte
nicht nur eine Verbesserung für die Pflegebedürftigen.
Sie ist auch eine Chance für Frauen und Männer, die
beruflich noch einmal durchstarten wollen.

Die Offensive zur Sicherung der Fachkräfte in der
Altenpflege ist zugleich eine gute Chance, den qualifi-
zierten und motivierten Altenpflegerinnen und Alten-
pflegern im gesellschaftlichen Ansehen mehr Würdi-
gung ihrer Arbeit zukommen zu lassen. Dies kann der
Staat allerdings nicht per Gesetz verordnen. Hier ist
die Gesellschaft insgesamt gefordert.


Kathrin Senger-Schäfer (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721934500

Der heute in erster Lesung debattierte Entwurf ei-

nes Gesetzes zur Stärkung der beruflichen Aus- und
Weiterbildung der Altenpflege setzt zwei Punkte der
kürzlich beschlossenen Ausbildungs- und Qualifizie-
rungsoffensive Altenpflege um. Die Linke begrüßt
diese Offensive ausdrücklich, auch wenn sie reichlich
spät auf den Weg gebracht wurde, gemessen an der
Dringlichkeit, welche uns der hausgemachte Fach-
kräftemangel in der Altenpflege auferlegt.

Zu Protokoll gegebene Reden





Kathrin Senger-Schäfer


(A) (C)



(D)(B)


Zum einen werden mit dem Gesetz die Möglichkei-
ten der Ausbildungsverkürzung im Rahmen der beruf-
lichen Weiterbildung festgeschrieben. Zum anderen
soll endlich die Finanzierung des dritten Umschu-
lungsjahres in der Altenpflege wieder durch die Bun-
desagentur für Arbeit übernommen werden. Schnell
wird also klar, dass es sich hierbei nur um den Start-
schuss der Bundesregierung im Kampf gegen den
Fachkräftemangel in der Altenpflege handeln kann, ja,
handeln darf.

Die Linke hat immer wieder darauf gedrängt, dass
die Finanzierung des dritten Umschulungsjahres er-
neut von der Bundesagentur finanziert wird, und des-
halb sind wir auch froh, dass sich die Bundesregierung
hier endlich bewegt. Doch es bleibt fragwürdig, wes-
halb die Befristung nur auf magere drei Jahre festge-
setzt wird. Das ist zu wenig, auch wenn arbeitsmarkt-
politische Aktivitäten kein dauerhaftes Instrument sein
sollten und im Bereich der Altenpflegeausbildung ins-
besondere auch Aktivitäten der Bundesländer gefragt
sind.

Hat denn die christlich-liberale Koalition keine
Lehren aus der zeitlichen Begrenzung gezogen? Be-
reits mit dem Konjunkturpaket II wurde, für zwei Jahre
befristet, die Umschulung in der Kranken- und Alten-
pflege über die gesamte Ausbildungsdauer von drei
Jahren gefördert. Das Ergebnis: Nachdem im Förder-
zeitraum die Umschulungen im Bereich der Alten-
pflege einen beachtlichen Umfang angenommen hat-
ten, nahm deren Zahl mit dem Auslaufen der
Finanzierung wieder deutlich ab. Die Erfahrungen der
letzten Jahre zeigen zudem, dass weder eine verlässli-
che Finanzierung der Altenpflegeausbildung landes-
weit auf den Weg gebracht wurde, noch die Förderung
des dritten Umschulungsjahres dauerhaft gesichert
werden konnte.

Da also auch in den kommenden drei Jahren nicht
zu erwarten ist, dass die Finanzierung der Altenpfle-
geausbildung bzw. des dritten Umschulungsjahres auf
ein langfristig tragfähiges Fundament gestellt werden,
muss diese Maßnahme nach Auffassung der Linken so
lange entfristet werden, bis eine vernünftige Finanzie-
rungsgrundlage gefunden ist. Zumindest aber sollte
die Befristung wenigstens deutlich verlängert werden.

In der Gesamtschau zum Thema Pflegeausbildung
ist es ohnehin ein trauriger Befund, dass das von der
schwarz-gelben Regierungskoalition versprochene
neue Pflegeberufegesetz noch immer auf sich warten
lässt. Bereits vor drei Jahren wurde hierfür eine Bund-
Länder-Arbeitsgruppe durch die Bundesregierung ins
Leben gerufen. Diese legte ein Eckpunktepapier An-
fang März 2012 vor, und seitdem ruht still der See. Der
Knackpunkt ist auch hier die Finanzierung, und des-
halb kann mit einer Umsetzung in dieser Legislatur de-
finitiv nicht mehr gerechnet werden. Mein Befund: Ver-
sprechen gebrochen!

Bereits im Sommer 2011 hat die Linke dagegen die
Koordinaten für eine Reform der Pflegeausbildung auf

den Tisch gelegt. Eine gute Pflegeausbildung allein
bringt wenig; denn ohne attraktive Pflegeberufe mit
guten Arbeitsbedingungen und einer attraktiven
Bezahlung wird sich niemand für die beste Pflegeaus-
bildung der Welt interessieren. Für eine gute Pfle-
geausbildung setzt die Linke auf die Integration der
Pflegeberufe. Wir wollen eine dreijährige duale Be-
rufsausbildung mit einer zweijährigen einheitlichen
Grundausbildung und einer anschließenden einjähri-
gen Schwerpunktsetzung in allgemeiner Pflege, Kin-
derkrankenpflege oder Altenpflege mit gleichwertigen
Berufsabschlüssen. Die Wechselmöglichkeit während
der Ausbildung muss gegeben sein. Schmalspurpfle-
geausbildungen erteilt die Linke eine Absage.

Zentraler Bestandteil des linken Pflegeausbildungs-
konzepts ist es, die Durchlässigkeit im Bildungssystem
zu gewährleisten. Einschlägige Pflegestudiengänge
müssen ohne zusätzliche Hochschulzugangsberechti-
gung auf der Grundlage der bewährten dreijährigen
Berufsausbildung möglich sein. Für Sicherheit und
Qualität der integrierten Pflegeausbildung sorgt die
Verankerung im Berufsbildungsgesetz.

Darüber hinaus gibt es noch reichlich zu tun, um
den Fachkräftemangel in der Altenpflege zu bewälti-
gen und die pflegerische Versorgung in Zukunft zu
sichern. Hierzu gehört neben einer verlässlichen
Finanzierung der Pflegeausbildung über eine Ausbil-
dungsplatzumlage beispielsweise auch die grund-
sätzliche Etablierung eines bundeseinheitlichen Per-
sonalbemessungsinstruments, welches sich am
tatsächlichen pflegerischen Bedarf orientiert.

Die Linke wird jedenfalls das Engagement der Bun-
desregierung im Rahmen der Ausbildungs- und Quali-
fizierungsoffensive und darüber hinaus weiter wach-
sam und kritisch und über die Bundestagswahl 2013
hinaus begleiten und, wenn nötig, der Bundesregie-
rung gehörig auf die Finger klopfen, damit Pflege in
Deutschland eine sichere Zukunft hat.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auf diesen Gesetzentwurf haben wir lange warten
müssen, sehr lange. Wir begrüßen es, dass die Bundes-
agentur für Arbeit ab April nun wenigstens für drei
Jahre wieder die vollständige Finanzierung von nicht
verkürzbaren Weiterbildungen zur Altenpflegefach-
kraft übernimmt.

Vielleicht verrät uns die Bundesregierung bei dieser
Gelegenheit aber einmal, warum sie für diesen unauf-
wendigen Gesetzentwurf so lange gebraucht hat? Im
letzten Sommer – und schon das war viel zu spät –
wurde uns dieses Gesetz versprochen. Jetzt erst legen
Sie es vor. Ab April soll die Regelung gelten. Ein Drei-
vierteljahr vergeht also vom Versprechen bis zur Um-
setzung.

Die schwarz-gelbe Koalition hat aber nicht nur die-
ses Dreivierteljahr tatenlos verplempert. Das gesamte
Jahr 2011 und das Jahr 2012 sind für die Umschulung

Zu Protokoll gegebene Reden





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)


zur Altenpflegekraft vollständig verloren gegangen.
Entsprechend ist die Zahl der Weiterbildungsmaßnah-
men in dieser Zeit im Schnitt um etwa 40 Prozent zu-
rückgegangen.

Die Bundesregierung sollte sich jetzt also mit allzu
viel Eigenlob zurückhalten. Sie tut gerade das, was nö-
tig ist – nicht mehr. Und sie tut es viel zu spät.

Außerdem sollte Schwarz-Gelb die Kirche im Dorf
lassen. Die Aussage, die wir am Dienstag in einer
Pressemitteilung der CDU/CSU-Fraktion lesen durf-
ten – „Wir sorgen für genügend Fachkräfte in der Al-
tenpflege“ – ist doch reichlich übertrieben.

In der Pressemitteilung heißt es weiter, die Koali-
tion wolle die Ausbildungszahlen in den nächsten drei
Jahren um 30 Prozent steigern. Zum einen bleibt das
erst einmal abzuwarten. Zum anderen dürfte wohl al-
len klar sein, dass auch das viel zu wenig ist, um dem
schon bestehenden Fachkräftemangel in der Alten-
pflege auch nur ansatzweise zu begegnen. Es gibt
Schätzungen, die den Bedarf schon heute auf etwa
30 000 Fachkräfte schätzen. Das Statistische Bundes-
amt gibt an, dass wir bis zum Jahr 2025 110 000 zu-
sätzliche Vollzeitstellen in der Pflege besetzen müssen.
Angesichts dessen liegt es nahe, dass die Förderung
der Umschulung ein richtiger Schritt, aber sicherlich
nicht die Lösung des gesamten Problems ist.

Nun werden die Kolleginnen und Kollegen der
Koalitionsfraktionen einwenden, es sei doch aber im
letzten Dezember die gemeinsame „Ausbildungs- und
Qualifizierungsoffensive Altenpflege“ von Bund, Län-
dern und Verbänden vereinbart worden. Das ist rich-
tig. In der Offensive steht durchaus vieles, was wichtig
wäre. So ist es gut, dass alle Bundesländer die Einrich-
tung einer Ausbildungsumlage prüfen wollen. Zu prü-
fen heißt natürlich noch lange nicht, dass es auch ge-
macht wird. Auch ist es richtig, dass endlich
Modellprojekte zur Übertragung heilkundlicher Auf-
gaben auf Pflegekräfte gestartet werden sollen. Es
gäbe noch weitere Beispiele.

Nur, bisher existiert diese Offensive erst einmal nur
auf dem Papier. Absichtserklärungen sind noch keine
Taten. Des Weiteren fällt auf, dass die Bundesregie-
rung sich in der gesamten Offensive doch sehr vor-
nehm mit eigenen Aktivitäten zurückhält. Das be-
schränkt sich vor allem auf Kampagnen und die
Aushändigung von Informationsmaterial.

Ja, Sie legen nun dieses Gesetz vor, in Ordnung.
Doch ansonsten: außer Spesen nichts gewesen.

Fakt ist, diese Bundesregierung erledigt in der Pfle-
gepolitik ihren Job nicht. Sie hat schlicht versagt. Und
dieses Gesetz reißt es bestimmt nicht raus.

Schwarz-Gelb hat vieles angekündigt, so auch einen
neuen Pflegebegriff. Nichts haben Sie dazu auf die
Reihe bekommen. Ein neuer Pflegebegriff ist auch für
die Pflegekräfte wichtig; denn damit wollen wir doch
wegkommen von der sogenannten Minutenpflege, un-

ter der nicht nur die Pflegebedürftigen, sondern auch
die Beschäftigten leiden.

Mit Ihrer kümmerlichen Pflegereform – dem Pflege-
Neuausrichtungs-Gesetz, kurz: PNG – richten Sie gar
nichts neu aus, sondern nur eine Menge an, auch für
das Pflegepersonal. Schwarz-Gelb redet großspurig
von der Attraktivitätssteigerung der Pflegeberufe. Was
aber haben Sie mit dem PNG gemacht? Sie haben die
Kopplung der Zulassung von Pflegeeinrichtungen an
die „ortsübliche Vergütung“ abgeschafft. Das gefähr-
det die Lohnstruktur in der Altenpflege und droht zu ei-
nem Wettbewerb der Billigheimer nach unten zu füh-
ren.

Familienministerin Kristina Schröder hat ihr Fami-
lienpflegezeitgesetz auf den Weg gebracht. Ein einzi-
ger Reinfall, wie erste Zahlen, die in den Medien ge-
landet sind, belegen: Keine 200 Personen haben die
Familienpflegezeit bisher in Anspruch genommen.
Ohne Rechtsanspruch für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer kann das auch nicht funktionieren – so
auch nicht für Beschäftigte in der Pflegebranche.

Was die Pflegekräfte bzw. Einrichtungen brauchen,
ist ein Personalbemessungsinstrument, um die Perso-
nalsituation in den Einrichtungen objektiv bewertbar
zu machen und auf dieser Basis dann dauerhaft ver-
bessern zu können. Sie müssen von unnötiger, zeitrau-
bender Bürokratie entlastet werden. Die Pflege
braucht insgesamt ein durchlässiges Ausbildungssys-
tem, das allen Karrierechancen eröffnet – von der
Hilfskraft bis hin zur Leitungsperson oder Fachkraft
mit Hochschulausbildung.

Nichts von alledem ist passiert oder auch nur ange-
schoben worden. Das ist schwarz-gelbe Pflegepolitik.
Von Verbesserungen für die Pflegekräfte – geschweige
denn für die Pflegebedürftigen – nicht der Hauch einer
Spur.

Abschließend noch ein kritisches Wort zum Geset-
zesinhalt an sich. Auch für Personen, die eine zweijäh-
rige Vollzeitbeschäftigung in einer Pflegeeinrichtung
vorzuweisen, aber keine Ausbildung haben, soll die
Weiterbildung verkürzt werden können. Durch ein
„Kompetenzfeststellungsverfahren“ soll festgestellt
werden, ob diese Vorerfahrungen ausreichen, um die
Ausbildung um bis zu ein Jahr zu verkürzen. Die Bun-
desländer sollen diese Verfahren ausgestalten.

Immerhin wird dieses Verfahren dazwischenge-
schaltet. Ansonsten hätte man doch sehr stark den Ver-
dacht hegen müssen, dass hier auf Kosten der Qualität
vor allem Geld gespart werden soll. Dennoch öffnet
sich hier ein Fenster, auch nicht geeignete und/oder
nicht ausreichend vorqualifizierte Personen im Eil-
tempo durch die Umschulung zu schleusen. Wir kön-
nen nur hoffen, dass die Länder der Qualität der Aus-
bildung absolute Priorität einräumen. Es bleibt
allerdings unklar, wie und durch wen genau diese Ver-
fahren ausgestaltet werden und inwieweit dabei auf
pflegefachliche Expertise zurückgegriffen wird. Zum
anderen sollten die Verfahren möglichst zwischen den

Zu Protokoll gegebene Reden





Elisabeth Scharfenberg


(A) (C)



(D)(B)


Ländern abgestimmt werden, damit nicht jedes Land
nach anderen Kriterien vorgeht. Wir werden dies sehr
genau beobachten.

Kurzum: Dieses Gesetz ist überfällig. Schwarz-Gelb
sollte sich jedoch nicht allzu viel darauf einbilden. Es
wird bei weitem nicht ausreichen, einige Menschen
mehr von einer Aus- bzw. Weiterbildung zu überzeu-
gen, um die Altenpflege aus ihrer Fachkräftemisere zu
befreien. Der Pflegeberuf muss insgesamt attraktiver
werden. Dafür aber tut Schwarz-Gelb nichts. Das pfle-
gepolitische Versagen dieser Koalition wird durch die-
ses Gesetz sicherlich nicht ausgewetzt.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721934600

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-

wurfes auf Drucksache 17/12179 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt
keine anderweitigen Vorschläge. Dann verfahren wir so.

Tagesordnungspunkt 31:

Erste Beratung des vom Bundesrat eingebrachten
Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung des
Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer
Gesetze

– Drucksache 17/12036 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Interfraktionell ist vorgeschlagen, die Reden zu die-
sem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben.1) – Sie
sind damit einverstanden.

Es wird die Überweisung des Gesetzentwurfes auf
Drucksache 17/12036 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Anderweitige Vor-
schläge gibt es nicht. Dann verfahren wir so.

Tagesordnungspunkt 32:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Maria
Michalk, Karl Schiewerling, Paul Lehrieder, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/
CSU sowie der Abgeordneten Gabriele Molitor,
Dr. Heinrich L. Kolb, Sebastian Blumenthal, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Leistungspotenziale von Menschen mit Behin-
derung im Arbeitsleben ausschöpfen

– Drucksache 17/12180 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales (f)
Haushaltsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll gegeben.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1721934700

Es gibt in unserem Land zunehmend mehr Arbeitge-

ber, die sich mit der Erwartung auseinandersetzen,
Menschen mit Behinderung auf dem regulären Arbeits-
markt einzustellen. Das geschieht vielleicht aus per-
sönlicher Betroffenheit, weil sie die verzweifelte Suche
eines schwerbehinderten Arbeitsuchenden nach einem
Job in der Familie oder im Umfeld erleben. Das
geschieht auch aus sozialer Verantwortung; denn die
gesellschaftliche Teilhabe von Menschen mit Behinde-
rung ist ein Wert an sich und gehört zu unserer freiheit-
lichen Grundordnung. Das geschieht vielleicht auch
aus der wettbewerbsrechtlichen Notwendigkeit, einfa-
che Arbeiten aus Kostengründen nicht von hoch spezi-
alisierten Fachkräften erledigen zu lassen. Das ge-
schieht vielleicht auch aus der Erkenntnis, dass durch
die Herausforderung des drohenden Fachkräfteman-
gels die bisherige Denkweise abgelegt werden muss.

Es gibt wirklich bereits viele, viele positive Bei-
spiele auf dem Weg zu einer inklusiven Arbeitswelt. Ja,
selbst die Tatsache, dass viele Menschen mit einer
Behinderung ihren eigenen Betrieb gegründet haben,
Arbeitskräfte einstellen und so selbst als Unternehmer
ein Beispiel von uneingeschränkter Qualitätsarbeit,
Termintreue, Flexibilität, Leistungsfähigkeit und Krea-
tivität sind, bleibt in der öffentlichen Wahrnehmung
verborgen.

Was jedoch immer wieder thematisiert wird, ist das
sogenannte Freikaufen der Unternehmen durch Zah-
lung der gesetzlichen Ausgleichsabgabe. Und weil die
angebotenen Arbeitsplätze nicht ausreichend sind
– das beweist die Zahl der arbeitslosen Schwerbehin-
derten –, ist die Forderung nach mehr Sanktionen und
einer höheren Ausgleichsabgabe nicht zu überhören.
Die Frage aber ist doch, ob mit einer stärkeren Sankti-
onierung einer nicht eingetretenen Erwartung die Ein-
stellung und die Grundhaltung der Unternehmen hin-
sichtlich einer stärkeren Einstellungspraxis von
Schwerbehinderten verändert wird. Wir in der CDU/
CSU-Bundestagsfraktion glauben das eher nicht, son-
dern setzen auf Anreize, auf Gespräche, auch auf In-
klusionsvereinbarungen in den Betrieben, auf mehr ge-
genseitiges Verständnis und auf verantwortungsvolle
Personalentscheidungen durch mehr Sensibilität.

Vertrauen – Zutrauen – Getrauen: So hat ein Unter-
nehmer seine Einstellung zu diesem Thema beschrie-
ben. Ich finde, das ist eine vorbildliche Haltung. Sol-
che positiven Beispiele sollen aber nicht darüber
hinwegtäuschen, dass es noch viel zu tun gibt. Das
Thema ist aufzugreifen. Dazu dient der Antrag der
Koalitionsfraktionen. Wir zeigen darin auf, welche
Unterstützungsmöglichkeiten für eine erfolgreiche
Teilhabe am Arbeitsleben es bereits gibt.

Es sind nicht nur die technischen Hilfen am Arbeits-
platz, die Beratungsleistungen der Integrationsfach-
dienste, die Rehabilitationsmöglichkeiten bzw. Weiter-
bildungsangebote der Bundesagentur für Arbeit, das
Instrument der unterstützten Beschäftigung oder die
sozialpädagogische Begleitung zur Unterstützung 1) Anlage 13





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


während der Einarbeitungsphase, sondern auch die
modellhafte Erprobung von Maßnahmen, wie das
„Budget für Arbeit“ oder das Modellprojekt „Inklu-
sion“.

Die Zahl schwerbehinderter Menschen wird in den
kommenden Jahren infolge des demografischen Wan-
dels zunehmen. Und nicht zu verkennen ist die Tatsa-
che, dass auch während eines Arbeitslebens durch eine
schicksalhafte Erkrankung oder einen Unfall aus dem
bisherigen Arbeitnehmer ein schwerbehinderter Mit-
arbeiter wird. Hier gilt es, auch ihm die Arbeitsbedin-
gungen und die Rehabilitation bzw. Wiedereingliede-
rung so zu gestalten, dass Teilhabe am Arbeitsleben
möglich bleibt. Es geht also sowohl um Weiterbeschäf-
tigung eines Mitarbeiters mit einer Behinderung als
auch um Neueinstellungen. Das Bewusstsein dafür
müssen noch viel stärker als bisher die Unternehmen
mit ihren Personalabteilungen, der Einzelunterneh-
mer, aber ebenso auch die Mitarbeiterschaft und die
Kolleginnen und Kollegen des jeweils betroffenen
Menschen mit einer Behinderung entwickeln.

Die UN-Behindertenrechtskonvention fordert in
Art. 27 eine gleichberechtigte Teilhabe. Der Arbeits-
markt muss Menschen mit Behinderung offen stehen
und ihnen individuelle Möglichkeiten bieten, ihre be-
ruflichen Ziele selbstbestimmt verfolgen zu können.
Der Arbeitsmarkt ist aber kein anonymes Gebilde,
sondern wird bestimmt von Personen, die sich für die
Sache einsetzen oder auch nicht. Um das Letztere zu
vermeiden, setzen wir uns nicht für einen gesetzgeberi-
schen Aktionismus ein, sondern werben für die Ein-
sicht, auf diesem Feld noch mehr zu tun, ohne sich be-
drängt zu fühlen. Wenn es nicht zur Herzenssache
vieler Unternehmungen wird, wird auch eine erhöhte
Ausgleichsabgabe die Einstellung nicht ändern. Trotz-
dem macht es Sinn, hin und wieder die bestehenden In-
strumente auf ihre Wirksamkeit zu überprüfen.

Gleichwohl betonen wir in unserem Antrag auch,
dass es immer Situationen und Einzelschicksale durch
bestimmte Erkrankungen bzw. Mehrfachbehinderun-
gen geben wird, die auch in Zukunft das Vorhalten von
geschützten Räumen zum Arbeiten und Wohnen not-
wendig machen. Das Wunsch- und Wahlrecht von
Menschen mit Behinderung zwischen einer Werkstatt
für Menschen mit Behinderungen und alternativen
Leistungserbringern ist und bleibt ein zentrales Anlie-
gen. Diese Möglichkeiten, Außenarbeitsplätze in
Betrieben zu schaffen oder Betriebspraktika zu gewäh-
ren, um den Sprung aus der Werkstatt auf den ersten
Arbeitsmarkt zu ermöglichen, sind noch nicht ausge-
schöpft.

Deshalb macht es Sinn, differenzierte Daten zur
Situation von Menschen mit Behinderung auf dem
Arbeitsmarkt vorzulegen. Es fehlen uns als Beispiel
aussagekräftige Daten zur unterschiedlichen Situation
von Männern und Frauen. Wir möchten, dass viel stär-
ker als bisher bereits in der Phase der Berufsorientie-
rung in den Förderschulen die Möglichkeiten auf dem
ersten Arbeitsplatz zur Sprache kommen und genutzt

werden. Viel konsequenter als bisher muss das Persön-
liche Budget für die berufliche Bildung genutzt wer-
den. Flexible Sachleistungen für Leistungsempfänger
mit hohem Unterstützungsbedarf sind angesagt; denn
es geht jeweils um eine sehr individuelle konkrete
Situation. Deshalb ist die Einbeziehung der Schwerbe-
hindertenvertrauenspersonen kein Element für Inflexi-
bilität, vielmehr ein Zeichen von Vertrauen und Ver-
ständnis füreinander, um die jeweils beste Lösung zu
finden.

Mit guten Beispiel vorangehen, miteinander in Er-
fahrungsaustausch treten, Vorurteile ablegen und mu-
tig auch mal neue Wege gehen: Das ist die Botschaft,
die von diesem Antrag ausgehen soll. Wir brauchen die
Bereitschaft aller, sich aufeinander einzulassen.


Paul Lehrieder (CSU):
Rede ID: ID1721934800

Trotz Euro-Krise ist die Arbeitslosenzahl in

Deutschland im Jahr 2012 auf den niedrigsten Stand
seit der Wiedervereinigung gesunken. Bei der Beschäf-
tigungsquote konnte trotz eines schwierigen wirt-
schaftlichen Umfelds ein Rekordstand verzeichnet
werden.

Doch bei weitem nicht alle Menschen in unserem
Land konnten von dieser erfreulichen Entwicklung pro-
fitieren. Zwar wissen mittlerweile viele Unternehmen,
dass Menschen mit Behinderungen hochmotivierte und
leistungsfähige Arbeitnehmer sind, und profitieren von
ihren Fähigkeiten; aber dennoch finden viele von ih-
nen ohne zusätzliche Hilfe keine Arbeit auf dem ersten
Arbeitsmarkt.

Der Ihnen vorliegende Antrag „Leistungspotenziale
von Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben aus-
schöpfen“ ist auf Initiative von Maria Michalk – der
Beauftragten für Menschen mit Behinderungen der
CDU/CSU-Bundestagsfraktion – in enger Abstimmung
mit unserem Koalitionspartner FDP und Hubert
Hüppe – dem Beauftragten der Bundesregierung für
die Belange behinderter Menschen – erarbeitet wor-
den. Er nimmt Menschen mit Behinderungen in den
Blick und möchte ihnen den Zugang zum ersten Ar-
beitsmarkt erleichtern und ermöglichen.

Gerade in Anbetracht des drohenden Fachkräfte-
mangels müssen wir dafür Sorge tragen, die Vorbe-
halte und Barrieren in den Köpfen der Arbeitgeber ab-
zubauen, um behinderten Menschen eine Chance zu
geben. Qualifizierte Arbeitskraft wird immer mehr zu
einem kostbaren Gut. Trotzdem sind viele der aktuell
arbeitslosen Behinderten in diesem Land trotz ihrer
fachlichen Qualifikation und Fähigkeiten zum Teil
schon lange arbeitslos. Oftmals mangelt es potenziel-
len Arbeitgebern an Informationen hinsichtlich der
Kompetenzen und Qualifikationen von Arbeitnehmern
mit Behinderung; Fördermöglichkeiten zur beruflichen
Eingliederung sind ihnen meist nicht hinreichend be-
kannt.

Doch die Zeit arbeitet für die Menschen mit Behin-
derungen in unserem Land; der Fachkräftemangel ist

Zu Protokoll gegebene Reden





Paul Lehrieder


(A) (C)



(D)(B)


heute schon evident. Ihre Berufschancen steigen, je
mehr Fachkräfte fehlen. Wobei es meines Erachtens
ein Armutszeugnis ist, dass bei vielen Betrieben erst
der Fachkräftemangel dazu führt, sich ernsthaft mit
dem Beschäftigungspotenzial behinderter Arbeitneh-
mer auseinanderzusetzen. Leider ist es immer noch so,
dass sich häufig sowohl Arbeitgeber als auch Arbeits-
kollegen schwertun, sich behinderte Menschen als
Mitarbeiter bzw. Kollegen vorzustellen. Hier brauchen
wir dringend einen Mentalitätswechsel. Dieser not-
wendige Prozess des Umdenkens ist durchaus eine ge-
samtgesellschaftliche Aufgabe. Wir können und wollen
auf die Qualifikationen von Menschen mit Behinderun-
gen nicht verzichten. Es sollte selbstverständlich wer-
den, dass Menschen mit und ohne Behinderung zusam-
menarbeiten.

Unternehmen schaffen die Arbeitsplätze; doch für
die Rahmenbedingungen ist die Politik zuständig. Un-
ser Antrag „Leistungspotenziale von Menschen mit
Behinderung im Arbeitsleben ausschöpfen“ macht un-
missverständlich klar, dass behinderte Menschen auf
dem ersten Arbeitsmarkt gebraucht werden. Sie haben
einen rechtlichen Anspruch auf gesellschaftliche Par-
tizipation und Teilhabe am Arbeitsleben, angefangen
beim Grundgesetz, das über das sogenannte Gleich-
stellungsgebot explizit Benachteiligungen für Men-
schen mit Behinderung verhindern soll, bis hin zu den
Regelungen zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft
über das SGB IX und den Regelungen zur Teilhabe am
Arbeitsleben im SGB III. Das Neunte Buch Sozialge-
setzbuch – SGB IX – ist bereits vor über elf Jahren,
nämlich am 1. Juli 2001, in Kraft getreten. Es regelt
die selbstbestimmte Teilhabe behinderter Menschen
am gesellschaftlichen Leben und hilft dabei, Hinder-
nisse, die der Chancengleichheit entgegenstehen, zu
beseitigen. So enthält es zum Beispiel verpflichtende
Sonderregelungen für Arbeitgeber, schwerbehinderte
Menschen zu beschäftigen.

Erst gestern haben wir im Reichstag im Rahmen des
Kongresses „Die Einstellung zählt: Wie sich die Ar-
beitswelt für Menschen mit Behinderungen öffnet“ dis-
kutiert, welche Teilhabemöglichkeiten sich heute für
Menschen mit Behinderung in der Arbeitswelt und der
Gesellschaft bieten. Wir alle wissen, dass eine dauer-
hafte Teilhabe am Arbeitsleben eine der Hauptgrund-
lagen für eine eigenverantwortliche Lebensgestaltung
und Grundvoraussetzung für die Entfaltung der Per-
sönlichkeit ist. Das gilt für behinderte und nichtbehin-
derte Menschen gleichermaßen. Arbeit zu haben, be-
deutet wirtschaftliche Unabhängigkeit und aktive
Teilnahme am gesellschaftlichen Leben.

Für Menschen mit Behinderung gibt es in vielen Be-
reichen des ersten Arbeitsmarktes Arbeit. Den Wett-
bewerb können sie jedoch nur dann bestehen, wenn
sie gut ausgebildet sind. Wirksame Maßnahmen und
Konzepte sind also gefragt, um einerseits behinderte
Menschen für den allgemeinen Arbeitsmarkt zu quali-
fizieren und andererseits potenzielle Arbeitgeber um-
fassend zu informieren, um die Beschäftigungsfähig-

keit fördern zu können. Ein nahtloser Wechsel in die
betriebliche Ausbildung und auf den ersten Arbeits-
markt stellt für viele Menschen mit Behinderung noch
die Ausnahme dar. Daher sind für einen erfolgreichen
Übergang von der Schule in die Berufsausbildung und
die betriebliche Übernahme die Rahmenbedingungen
entscheidend.

Unser Ziel ist es, die Rahmenbedingungen in allen
Lebensbezügen so zu gestalten, dass behinderte Men-
schen ohne Ausgrenzung teilhaben können. Dies setzt
ein Umdenken und gezieltes Handeln der Gesellschaft
voraus. Menschen mit Behinderungen müssen nicht
nur bei der Arbeitssuche immer noch gegen Vorurteile
ankämpfen. Um eine vollständige Teilhabe an allen
Bereichen des Lebens zu ermöglichen, gilt es, diese
hartnäckigen Vorbehalte auf lange Sicht endgültig
auszuräumen. Daran werden wir auch weiterhin ar-
beiten.


Silvia Schmidt (SPD):
Rede ID: ID1721934900

Es ist begrüßenswert, dass die Koalition zum Ende

dieser Legislatur offenbar doch noch erkannt hat, wie
wichtig die Teilhabe von Menschen mit Behinderung
am Arbeitsleben ist.

Der vorliegende Antrag greift die Probleme zum
Teil auf und bietet Lösungen an, wie man das Fach-
kräftepotenzial heben kann, das bei den aktuell
180 000 arbeitslosen schwerbehinderten Menschen
vorhanden ist.

Leider bedient der Antrag nur einen Ausschnitt des
gesamten vorhandenen Potenzials, kratzt an der Ober-
fläche und lässt wichtige und für den Arbeitsmarkt
grundlegende Bereiche außen vor. Hier wären unter
anderem inklusive Bildung und Ausbildung, Reform
der Ausgleichsabgabe und der daraus finanzierten
Nachteilsausgleiche, Weiterentwicklung und Struktur
der Werkstätten sowie die Reform der Eingliederungs-
hilfe zu nennen.

Das sind keine Details, die man mit einer einfachen
Forderung abspeisen kann.

So wie Sie es hier formulieren, entsteht einmal mehr
der Eindruck, dass es sich um reine Lippenbekennt-
nisse handelt. Diese Fragen sind wichtig, wenn man
wirklich etwas für die Beschäftigung behinderter
– nicht nur schwerbehinderter – Menschen tun
möchte, und das müssen wir tun. Denn Menschen mit
Behinderung haben ohne Unterstützung keine Chance
auf unserem allgemeinen Arbeitsmarkt.

Es ist unsere Aufgabe, Anreize für Beschäftigung zu
schaffen und nicht nur gut auf die Arbeitgeber einzure-
den. Die wollen wissen, warum sie einen schwerbehin-
derten Menschen einstellen sollen und ob sich das für
sie rechnet. Da hilft es keinem weiter, wenn man – wie
Sie es tun – der Regierung einen Merkzettel schreibt,
was sie alles noch tun könnte; man muss konkret wer-
den.

Zu Protokoll gegebene Reden





Silvia Schmidt (Eisleben)



(A) (C)



(D)(B)


Der Antrag ist gut gemeint, zeugt aber leider wie die
gesamte Leistung dieser Regierung und der Koali-
tionsparteien in der Behindertenpolitik von Rat- und
Mutlosigkeit. Nehmen wir einmal die Beschäftigungs-
zahlen: Sie stellen es so dar, als wenn immer mehr Un-
ternehmen Menschen mit Behinderung beschäftigen
und das ein Fortschritt sei. In Wahrheit hat sich die
Beschäftigungsquote der privaten Wirtschaft zwischen
2003 und 2010 nur um 0,4 Prozent nach oben bewegt.

Die öffentlichen Arbeitgeber machen das wett. Aber
auch hier gibt es noch Potenzial, denn immerhin 5 400
öffentliche Arbeitgeber erfüllten die Fünfprozentquote
im Jahr 2010 nicht. Durch die Flexibilisierung am
Arbeitsmarkt werden heute viele Arbeitsplätze in der
Privatwirtschaft gar nicht mehr mitgezählt. Insofern
ist die eigentliche bereinigte Quote wahrscheinlich so-
gar noch geringer. Diesem Effekt könnte man mit einer
Reform des Berechnungsmodus der Pflichtquote be-
gegnen, zum Beispiel indem man zukünftig Arbeitsver-
hältnisse unter 18 Stunden wöchentlicher Arbeitszeit
grundsätzlich mitzählt.

Die Zahl der beschäftigten schwerbehinderten Men-
schen hat sich zwischen 2005 und 2010 sogar verrin-
gert. Waren 2005 bundesweit noch 142 700 Schwerbe-
hinderte in Arbeit, waren dies 2010 nur noch 138 300.
Gleichzeitig hat sich die Zahl derjenigen, die als soge-
nannte voll erwerbsgeminderte Menschen die Werk-
stätten besuchen, fast verdoppelt.

Die Zahl der Firmen, die 2 Prozent und weniger
schwerbehinderte Menschen beschäftigen, hat sich im
selben Zeitraum aber kaum verändert. Das heißt, dass
sich die Bereitschaft zur Einstellung im privaten Sek-
tor kaum verbessert hat und Alternativen zur Werkstatt
offenbar fehlen oder nicht attraktiv genug sind. Ich bin
mir nicht sicher, ob man dieses Gesamtbild als „Fort-
schritt“ bezeichnen kann, so wie Sie es in Ihrem An-
trag tun.

Hier müssen endlich konkrete Vorschläge auf den
Tisch, und das haben wir mit unserem Antrag „Aus-
gleichsabgabe erhöhen und Menschen mit Behinde-
rung fairen Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglichen“,
Drucksache 17/9931, getan.

Wir fordern eine Wiedererhöhung der Pflichtquote
auf 6 Prozent und die Erhöhung der Ausgleichsab-
gabebeträge, besonders für die Unternehmen, die an-
haltend eine geringe Quote unter 2 Prozent aufweisen,
eine deutliche Erhöhung der Beträge von 290 auf
750 Euro pro nicht besetztem Pflichtarbeitsplatz.

Den Arbeitgebern gut zuzureden, hilft offenbar auch
nicht weiter. Das muss man nach zehn Jahren einfach
mal feststellen und seine Schlüsse daraus ziehen. Des-
halb müssen Verstöße gegen die Beschäftigungspflicht
als Ordnungswidrigkeiten konsequent verfolgt und die
Nichterfüllung der Mindestbeschäftigung geahndet
werden.

Als weitere Maßnahme schlagen wir vor, die institu-
tionelle Förderung in Höhe von derzeit circa 40 Mil-

lionen Euro jährlich aus Mitteln der Ausgleichsabgabe
zukünftig nicht mehr für Werkstätten und Wohnheime,
sondern für die Inklusion auf dem Arbeitsmarkt zu ver-
wenden. Das ist wichtig; denn nur so bekommen wir
eine Trendwende von der Werkstatt zur Beschäftigung
auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt hin.

Die Integrationsunternehmen leiden momentan
nicht darunter, dass es zu wenige tragfähige Geschäfts-
ideen oder zu wenig geeignetes Personal gäbe, son-
dern vor allem darunter, dass das Aufkommen der Aus-
gleichsabgabe in einigen Ländern begrenzt ist und
daraus keine neuen Förderungen erfolgen können. Die
Aufteilung des Aufkommens der Ausgleichsabgabe
muss deshalb auch so neu geregelt werden, dass mehr
Mittel für die Förderung von Integrationsunternehmen
bereitstehen.

Auch die Rücklagemittel im Ausgleichsfonds des
Bundesministeriums für Arbeit und Soziales – nach un-
seren Informationen fast 300 Millionen Euro – sind für
eine neue Beschäftigungsinitiative für schwerbehin-
derte Arbeitslose zu verwenden.

Die „Initiative Inklusion“ ist gut und schön, aber
sie reicht bei weitem nicht aus.

Frau Dr. Arnade von der Interessenvertretung
Selbstbestimmt Leben e. V. hat es in einer Anhörung
hier im Deutschen Bundestag einmal richtig formu-
liert: „Die ,Initiative Inklusion‘ wird von Mitteln be-
zahlt, die sowieso schon den Menschen mit Behinde-
rung zustehen.“

Nehmen Sie also endlich richtiges Geld in die Hand
und fördern Sie die Eingliederung aktiv und mit Nach-
druck! Schöpfen Sie einmal dieses Potenzial aus!
Dann stimmt auch ihre Feststellung: „Der erste Ar-
beitsmarkt muss das Beschäftigungsziel von Menschen
mit Behinderung sein. Davon profitieren alle.“

Die Integrationsunternehmen könnten in Jahresfrist
mehrere Tausend neuer sozialversicherungspflichtiger
Jobs auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt schaffen.
Wenn Sie diese Chance nicht nutzen, dann bleibt dieser
Antrag wieder nur ein leeres Versprechen.


Gabriele Molitor (FDP):
Rede ID: ID1721935000

„Inklusion heißt: Zusammen Pause machen.“ Mit

diesem Slogan wirbt die Aktion Mensch für die
Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Ar-
beitsleben. Nicht nur in gemeinsamen Pausen, sondern
vor allem in gemeinsamen Arbeitsprozessen erleben
Menschen mit und ohne Behinderung ein selbstver-
ständliches Miteinander. Die Eingliederung von
Menschen mit Behinderung in den Arbeitsmarkt ist
eine wichtige Voraussetzung, damit Inklusion insge-
samt gelingt. Denn Arbeit ist sinnstiftend und gibt das
Gefühl, gebraucht zu werden.

Menschen mit Behinderung und Arbeiten wird oft
gedanklich sofort mit der Werkstatt für Menschen mit
Behinderung verknüpft. Doch das Potenzial von
Menschen mit Behinderung ist viel größer. Wir haben

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


es in vielen Branchen schon jetzt mit einem Fachkräf-
temangel zu tun. Für Menschen mit Behinderung kann
das neue Chancen eröffnen. Das ist auch Ansatz des
gemeinsamen Koalitionsantrages, der die Leistungs-
potenziale von Menschen mit Behinderung voll aus-
schöpfen will. Damit verbunden ist ein verändertes
Verständnis von Menschen mit Behinderung, das von
Wertschätzung und dem Gedanken, ihnen etwas zuzu-
trauen, geprägt ist.

Noch stellen zu wenig Unternehmen Menschen mit
Behinderung ein. Vorbehalte und Barrieren erschwe-
ren die Integration schwerbehinderter Menschen in
den ersten Arbeitsmarkt. Noch sind das Miteinander
und ein gemeinsamer Arbeitsalltag von behinderten
und nichtbehinderten Kollegen nicht selbstverständ-
lich. Damit sich das ändert, setzen wir uns für inklu-
sive Modelle im Arbeitsleben ein. So fordert es auch
Art. 27 der UN-Behindertenrechtskonvention, der die
gleichberechtigte Teilhabe am Arbeitsleben betont.

Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregie-
rung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskon-
vention und mit der „Initiative Inklusion“ sind wir auf
einem guten Weg, Teilhabechancen zu erhöhen. Vor al-
lem ältere und junge Menschen mit Behinderung profi-
tieren von der „Initiative Inklusion“. Die Inklusions-
kompetenzen bei den Kammern zu fördern,
schwerbehinderten Jugendlichen den Zugang zu Aus-
bildung und Beschäftigung zu erleichtern und ältere
Menschen mit Behinderung wieder in den Arbeits-
markt zu integrieren, sind genau die Schritte, die not-
wendig sind. Hierbei sind auch die Länder aufgerufen,
die „Initiative Inklusion“ zu unterstützen und so umzu-
setzen, dass mehr Menschen einen Arbeitsplatz auf
dem ersten Arbeitsmarkt bekommen. Ferner müssen
wir die „Initiative Inklusion“ regelmäßig auf ihre
Wirksamkeit hin überprüfen.

Bei der Debatte sollte jedoch nicht vergessen wer-
den, dass die Teilhabe von Menschen mit Behinderun-
gen nicht allein durch Gesetze gesichert werden kann.
Entscheidend ist ein Wandel in der Gesellschaft. Dabei
nehmen Betriebe, die Menschen mit Behinderungen
schon seit langem erfolgreich beschäftigen, eine Vor-
bildfunktion ein. Deshalb ist es erfreulich, dass bereits
ein breites Spektrum an Aktionen, Wettbewerben und
Preisen existiert. Der Hamburger Integrationspreis,
der rheinland-pfälzische Landespreis für Firmen, die
schwerbehinderte Menschen beschäftigen oder das
LVR-Prädikat „Behindertenfreundlicher Arbeitgeber“
des Landschaftsverbandes Rheinland sind nur einige
Beispiele.

Und es werden mehr. Der Inklusionspreis „Unter-
nehmen fördern Inklusion“ zeigt, dass die Wirtschaft
inklusive Prozesse auf dem Arbeitsmarkt unterstützt.
Die Initiative geht auf das UnternehmensForum
zurück. Unter dem Motto „Inklusion – so geht’s“ wur-
den auf einer Fachtagung im letzten Jahr Inklusions-
kompetenzen vermittelt. Es wird vor dem Hintergrund
des demografischen Wandels sehr deutlich, dass Un-
ternehmen großes Interesse daran haben, Menschen

mit Behinderung in das Wirtschaftsleben zu integrie-
ren. Die Unternehmer in verschiedensten Branchen
haben längst erkannt, dass sie gerade in Zeiten des
Fachkräftemangels auf Menschen mit Behinderung
angewiesen sind. So sagt Olaf Guttzeit, Vorstandsvor-
sitzender des UnternehmensForums, zu Recht, dass die
Wirtschaft Menschen mit Behinderung braucht.

Modelle wie das Persönliche Budget, die Arbeitsas-
sistenz und die Unterstützte Beschäftigung sind zu för-
dern und bekannter zu machen. Für uns ist der erste
Arbeitsmarkt das Beschäftigungsziel von Menschen
mit Behinderungen. Doch nicht alle Menschen mit
Behinderung können auf dem ersten Arbeitsmarkt
arbeiten. Oft wird gerade in der Diskussion um Inte-
gration auf dem Arbeitsmarkt vergessen, dass manche
Menschen mit Beeinträchtigungen auf dem ersten
Arbeitsmarkt überfordert sind.

Für Menschen mit schweren geistigen Behinderun-
gen oder Mehrfachbehinderungen ist die Werkstatt für
behinderte Menschen, WfbM, die einzige Möglichkeit,
zu arbeiten. Aber auch viele Menschen mit psychischer
Behinderung wie Angststörungen, Depressionen und
Suchterkrankungen brauchen einen geschützten Ort.
Ein wichtiger Punkt ist dabei das Wunsch- und
Wahlrecht zwischen einer WfbM und alternativen
Leistungserbringern. Die Wahlmöglichkeiten müssen
ausgebaut werden, damit sich Menschen mit Behinde-
rungen auch wirklich entscheiden können. Dafür
müssen auch Unterstützungsinstrumente vereinfacht
werden.

Für mich ist auch das Stichwort Durchlässigkeit
sehr wichtig. Die Erwerbsbiografien verlaufen heute
nur noch selten linear. Viele Menschen werden erst im
Laufe ihres Lebens behindert oder chronisch krank.
Daher ist es wichtig, dass der Unterstützungsbedarf
von Menschen mit Behinderung der jeweiligen Situa-
tion angepasst wird.

Zum Beispiel kann es für einen Menschen mit
psychischer Behinderung wichtig sein, zwei oder drei
Jahre in einer Werkstatt zu arbeiten. Im Anschluss
daran muss der Weg in den allgemeinen Arbeitsmarkt
offen sein. Ein Rückkehrrecht in die WfbM ermutigt
dazu, den Schritt in den ersten Arbeitsmarkt zu wagen.

Aber auch Menschen mit geistigen Behinderungen
können in ausgelagerten Werkstattplätzen arbeiten,
wie Best-Practice-Beispiele eindrücklich veranschau-
lichen. Ein Mann mit Autismus arbeitet erfolgreich in
einer Kölner Jugendherberge. Durch die Unterstüt-
zung von Arbeitstrainern des Integrationsunterneh-
mens Füngeling Router ist er zu einem anerkannten
und ehrgeizigen Mitarbeiter geworden.

Inklusion gilt es für alle zu ermöglichen. Deshalb ist
es wichtig, dass Leistungen im Förderbereich nicht
zwangsläufig an eine WfbM gekoppelt sind. Andere
Leistungsanbieter bieten Menschen mit Behinderun-
gen Alternativen. Die soziale Absicherung muss auch
bei ihnen gewährleistet sein.

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Molitor


(A) (C)



(D)(B)


Ziel ist es, den Automatismus von Förderschule und
Werkstatt zu durchbrechen. Denn viele Menschen mit
Behinderung wollen keine Sonderwelten, sondern auf
dem allgemeinen Arbeitsmarkt arbeiten. Daher för-
dern wir den uneingeschränkten Zugang zum Arbeits-
markt und sprechen uns dafür aus, Nachteilsausglei-
che auf ihre Wirksamkeit hin zu überprüfen.

Der FDP ist es ein weiteres grundlegendes Anlie-
gen, auch die Existenzgründung für schwerbehinderte
Menschen zu berücksichtigen. Als Selbstständiger zu
arbeiten, gibt vielen Menschen mit Schwerbehinde-
rung mehr Freiräume im Berufsleben. Von Februar
2004 bis Ende Juni 2012 haben sich in Berlin mehr als
210 Menschen mit Schwerbehinderung selbstständig
gemacht. Unterstützt wurden sie durch spezielle Bera-
tungsangebote für Menschen mit Schwerbehinderung,
„enterability“. Beratungs- und Informationsangebote
für gründungswillige Menschen mit Schwerbehinde-
rung gilt es deshalb auszubauen.

Ein Gedanke ist mir abschließend wichtig. Mit
Druck, Zwang und Sanktionen oder mit der Erhöhung
der Ausgleichsabgabe werden wir Betriebe und Unter-
nehmen nicht ermuntern, mehr Menschen mit Behinde-
rung einzustellen. Deshalb müssen wir genau hin-
sehen, ob scharfe Sanktionen wirklich zu mehr
inklusiven Arbeitsplätzen führen oder Inklusion eher
erschweren.

Das Unternehmen Füngeling Router hat ein Modell
konzipiert, das zeigt, wie sinnvoll es ist, wenn alle an
einem Strang ziehen. Ausgelagerte Werkstattplätze,
eine individuelle betriebliche Einstiegsqualifizierung
und intensives Jobcoaching sind die Instrumente, die
schwerbehinderten Menschen Arbeit in einem Unter-
nehmen verschaffen.

Das Modell von Füngeling Router ist ein Modell,
das Mut macht und zur Nachahmung anregt. Wenn
Menschen die für sie notwendige Unterstützung und
Assistenz bekommen, und wenn es sich die Gesell-
schaft zur Aufgabe macht, Bedingungen zu schaffen,
die Menschen mit Behinderung ein gleichberechtigtes
und selbstverständliches Miteinander ermöglichen,
wird Inklusion gelingen.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721935100

Dieser Antrag, verehrte Kolleginnen und Kollegen

aus der Koalition, kommt sehr spät und greift viel zu
kurz. Seit Jahren stehen wir vor der gleichen Situation:
Menschen mit Behinderung sind überdurchschnittlich
oft arbeitslos. Die Arbeitslosenquote ist mehr als dop-
pelt so hoch wie unter Menschen ohne Behinderung.
Die Schere in allen Arbeitsmarktkennziffern zwischen
Menschen mit und ohne Behinderung klafft immer wei-
ter auseinander. Diese Tatsache liegt seit der Finanz-
krise so deutlich auf der Straße, dass sie in den Natio-
nalen Aktionsplan der Bundesregierung hineingehört
hätte. Trotz gewerkschaftlicher Kritik geschah dies
nicht.

18 Monate später nun greift die Koalitionsfraktion
die Arbeitslosigkeit von Menschen mit Behinderung
endlich auf. Die Linke legte jedoch bereits im Mai
2012 Vorschläge im Antrag „Gute Arbeit für Men-
schen mit Behinderung“ auf den Tisch, Drucksache
17/9758. Diese entstanden in engem Dialog mit Be-
troffenen und Wissenschaftlern. Im Juni folgte die SPD
mit einem Antrag zur Ausgleichsabgabe. Die Opposi-
tion war sich einig, dazu eine öffentliche Anhörung zu
erwirken. Im Oktober präzisierten Betroffene viele
Ideen während der Veranstaltung „Menschen mit Be-
hinderung im Deutschen Bundestag“. Inzwischen leg-
ten alle Sozialverbände eigene Positionen vor, um
Menschen mit Behinderung entsprechend Art. 27 der
UN-Behindertenrechtskonvention die Teilhabe am Ar-
beitsleben zu ermöglichen.

Als hätte es diese vielfältigen Diskussionen nicht
gegeben, legen Sie nun einen Antrag vor, der nur einen
Bruchteil der bereits öffentlich diskutierten Fragen
aufgreift. Kein Wort über skandalöse Werkstattent-
gelte, kein Wort über notwendige Gesetzesänderungen,
kein Wort über barrierefreie Arbeitsplätze und ihre
Festschreibung in der Arbeitsstättenverordnung, kein
Wort über größere Rechte von Interessenvertretungen
und kein Wort über Beschäftigungsquote und Aus-
gleichsabgabe.

Sie schauen zu wenig aus der Perspektive der Be-
troffenen. Sie schauen wie ein Arbeitgeber, der die
„Leistungspotenziale von Menschen mit Behinderung
ausschöpfen“ kann. Hier, so suggeriert der Antrag,
liegt ein Potenzial brach, das Gewinn verspricht. Sie,
Herr Unternehmer, sollten es nutzen; denn der demo-
grafische Wandel verschärft die Situation, nicht ge-
nügend Fachkräfte zu finden. Da ist sie wieder, die
Nützlichkeitstheorie oder das „Mindestmaß an wirt-
schaftlich verwertbarer Leistung“, dessen Streichung
aus dem Gesetz schon lange im Raum steht. Das sind
keine Menschenrechtskriterien. Das sind reine Profit-
kriterien.

Welche Motivation hat ein Arbeitgeber, einen Men-
schen mit Behinderung einzustellen? Auf der CDU-
Veranstaltung am 30. Januar im Bundestag formu-
lierte ein Unternehmer das so: „Warum sollte ich ein-
fache und Hilfsarbeiten nach Asien auslagern?“ Er-
gänzt, könnte es heißen: „ … wenn ich die billigen
Arbeitskräfte vor der Tür finde“.

Deshalb ist es gut, dass der Antrag davon spricht,
Menschen mit Behinderung seien „in der Regel gut
ausgebildet und hochmotiviert“. Aber meinen Sie
wirklich, der demografische Wandel sorgt für qualifi-
zierte Beschäftigung? Glauben Sie wirklich, es ginge
ohne gesetzliche Änderungen? Ohne veränderte Be-
schäftigungspflicht? Ohne die restriktive Förderpolitik
zurückzunehmen? Ohne Weiterentwicklung der gesetz-
lichen Förder- und Unterstützungsinstrumente? Ohne
Abbau der Bürokratie in der Leistungserbringung?
Ohne die Stärkung der betrieblichen Ausbildung für
Jugendliche mit Behinderung?

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


„Das Wunsch- und Wahlrecht von Menschen mit
Behinderung zwischen einer WfbM und alternativen
Leistungserbringern ist ein zentrales Anliegen“, heißt
es im Antrag. Ich verstehe das so, dass Betreuungs-
und Förderangebote auch außerhalb der Werkstatt be-
stehen sollen. Das unterstützen wir. Doch was bedeutet
„das Eingangsverfahren … für andere Anbieter zu öff-
nen“? Soll im Eingangsverfahren auch entschieden
werden, ob ein Arbeitsplatz außerhalb der Werkstatt
angenommen werden kann? Wenn ja, zu welchen Kon-
ditionen? Bleibt der Betroffene Angehöriger der Werk-
statt mit dem entsprechend niedrigen Entgelt? Wie
schon jetzt auf vielen Außenarbeitsplätzen? Die Linke
fordert jedoch Mindestlohn und gleichen Lohn für glei-
che Arbeit. Ich frage mich, warum der Antrag zu die-
sen brisanten sozialen Tatsachen schweigt.

Auch deshalb wird er an der bestehenden Ausgren-
zung und ihren Ursachen nichts ändern. Um die „Leis-
tungspotenziale von Menschen mit Behinderung aus-
schöpfen“ zu können, muss Mensch seine Potenziale
doch erst einmal einbringen dürfen. Das bleibt das
Hauptproblem. Der Antrag schweigt dazu, wie zu än-
dern ist, dass von drei Menschen mit Behinderung zwei
arbeitslos sind und dauerhaft bleiben. Dazu bedarf es
Strukturveränderungen in der ganzen Arbeitswelt. Im
Antrag jedoch soll vor allem geprüft, gesprochen, ein-
geschätzt, „Sorge getragen“, flexibilisiert und verein-
facht werden.

Es ist das Weiter-so, das uns schon in der Denk-
schrift der Bundesregierung zur Diskussion der UN-
Behindertenrechtskonvention 2008 begegnete. Es ist
die Selbstgefälligkeit einer Politik, die sich nach der
Anzahl ihrer Einzelprojekte bemisst und nicht nach de-
ren Wirkung für ein besseres Leben der Betroffenen. Es
ist die Arroganz gegenüber anderen europäischen Er-
fahrungen. Es ist die Verlegenheit einer Regierung, et-
was tun zu müssen, weil die Opposition dazu treibt. Es
ist das Interesse der Macht, sich im Wahlkampf sozial
zu präsentieren, ohne sozial zu sein.

Selbst das, was wir unterschreiben könnten, ist zu
wenig. Ohne strukturelle Veränderungen wird es keine
gute Arbeit für Menschen mit Behinderung geben.
Keine Arbeitswelt, in der wirklich „die Möglichkeit“
besteht, „den Lebensunterhalt durch Arbeit zu verdie-
nen, die in einem offenen, inklusiven und zugänglichen
Arbeitsmarkt und Arbeitsumfeld frei gewählt und an-
genommen wird“. Das besagt Art. 27 der UN-Behin-
dertenrechtskonvention. Das ist der Maßstab der
Fraktion Die Linke, und das sollte auch für Sie die
Messlatte sein.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721935200

Damit Menschen mit Behinderungen auf dem Ar-

beitsmarkt die gleichen Chancen haben wie nichtbe-
hinderte Menschen, ist noch viel zu tun. Insofern freue
ich mich, dass die Koalitionsfraktionen diesen Antrag
vorgelegt haben. Ganz richtig bemerken sie, dass sich
bereits eine Reihe von Personen seit Jahren sehr dafür
stark macht, echte Teilhabemöglichkeiten für behin-

derte Menschen auf dem ersten Arbeitsmarkt zu schaf-
fen.

Doch die Möglichkeiten zur individuellen und dau-
erhaften Unterstützung jenseits großer Institutionen
sind nur ungenügend ausgebaut und für viele Men-
schen zu unübersichtlich. Ich möchte hier nur auf drei
Aspekte näher eingehen.

Integrationsfachdienste beraten und unterstützen
schwerbehinderte Menschen und Arbeitgeberinnen
und Arbeitgeber. Sie begleiten Menschen mit Behinde-
rungen bei der Suche nach einem Arbeitsplatz auf dem
ersten Arbeitsmarkt, bereiten auf die Arbeit dort vor
und stehen auch weiterhin als Ansprechpartner für
Arbeitgeberinnen und Beschäftigte zur Verfügung. Erst
2011 hat ein von der Bundesregierung neu eingeführ-
tes Ausschreibungsverfahren dazu geführt, dass häufig
nicht mehr diejenigen den Zuschlag bekamen, die über
Jahre eine hohe Kompetenz und gute Kontakte aufge-
baut hatten, sondern vollkommen unerfahrene Anbie-
ter. Die Qualität der Integrationsfachdienste besteht
gerade darin, Leistungen aus einer Hand anzubieten.
Von vielen Arbeitgeberinnen und Arbeitgebern habe
ich gehört, wie sehr sie es schätzen, bei einem An-
sprechpartner gut aufgehoben zu sein. Die verfehlte
Politik dieser Regierung hat dazu geführt, dass ein gu-
tes Instrument beschädigt wurde. Vorausschauende
Politik, die Menschen mit Behinderungen mehr Ar-
beitsplätze auf dem ersten Arbeitsmarkt bietet, sieht
anders aus.

Zum Zweiten möchte ich eine kleine Unstimmigkeit
hervorheben: Es war und ist eines der zentralen Ziele
der Reform der Eingliederungshilfe, Möglichkeiten für
Arbeitsplätze jenseits der Werkstätten für behinderte
Menschen zu schaffen. Mit Blick auf Stoßrichtung und
Ziele, die hier im Antrag genannt werden, würde man
also annehmen, Union und FDP hätte in dieser Legis-
laturperiode viel daran gelegen, den Reformprozess
zügig und transparent voranzutreiben. Damit hat sich
die Koalition nun wirklich nicht hervorgetan.

Abschließend ein Kommentar zur ersten Forderung
des Antrags: Die Koalitionsfraktionen fordern die
Bundesregierung dazu auf, zeitnah differenzierte Da-
ten zur Situation von Menschen mit Behinderungen am
Arbeitsmarkt vorzulegen. Insbesondere an geschlech-
terdifferenzierten Daten mangele es. Ich kann den Kol-
leginnen und Kollegen nur zustimmen; schon seit Jah-
ren fordere ich, diese Daten zu erheben. Für Ministerin
von der Leyen wäre es ein Leichtes, die Bundesagentur
für Arbeit zu verpflichten, geschlechterdifferenzierte
Daten zur Arbeitsmarktsituation von Menschen mit
Behinderungen zu veröffentlichen. Ein wenig verwun-
derlich, dass sie von ihrer Fraktion offenbar nicht auf
anderem Weg dazu aufgefordert werden kann. Aber ich
freue mich, wenn wir zeitnah mit diesen Daten arbei-
ten können.

Der Antrag enthält einige sinnvolle Vorschläge und
ich würde mich freuen, wenn das positive Effekte für
Arbeit suchende Menschen mit Behinderungen hätte.

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


Wenn ich mir die Politik dieser Koalition in den letzten
Jahren angucke, beschleicht mich allerdings der Ver-
dacht, dass es mit dem Antrag in erster Linie darum
geht, ein paar schöne Absichtserklärungen zu Papier
zu bringen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721935300

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/12180 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einver-
standen. Also geschieht es so.

Wir kommen zu den Zusatzpunkten 10 a und 10 b:

a) Beratung des Antrags der Fraktionen CDU/CSU,
SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimit-
teln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer sicherstellen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundesta-
ges nach Artikel 23 Absatz 3 des Grundgeset-
zes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die Zusam-
menarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/12183 –

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Kathrin
Vogler, Diana Golze, Matthias W. Birkwald, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimit-
teln – Schutz der Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer sicherstellen

hier: Stellungnahme des Deutschen Bundes-
tages nach Artikel 23 Absatz 3 des Grund-
gesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über die
Zusammenarbeit von Bundesregierung und
Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der
Europäischen Union

– Drucksache 17/12184 (neu)

Fünf Redner haben ihre Reden zu Protokoll gege-
ben.1) Nur die Kollegin Kathrin Vogler möchte für die
Fraktion Die Linke das Wort ergreifen. – Bitte schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721935400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Ja, tut mir leid, wir müssen reden.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: „Wir“ ist falsch! Sie! – Manuel Höferlin [FDP]: Nein, wir müssen zuhören!)


– Sie müssen zuhören, das ist ja noch besser.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Geht so!)


Wir sprechen heute über zwei Anträge zum Schutz
von Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Medikamen-
tenstudien der EU. Wir sind uns quer durch alle Fraktio-
nen dieses Hauses einig, dass insbesondere Kinder und
nicht einwilligungsfähige Menschen besonderen Schutz
benötigen. Eine Aufweichung der Schutzstandards, wie
sie in der neuen EU-Richtlinie vorgesehen ist, wollen
wir alle nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Wie gesagt, wir sind uns da vollkommen einig.

Ich möchte mich ausdrücklich bei den Kolleginnen
und Kollegen des Gesundheitsausschusses und unseren
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die konstruktive
Zusammenarbeit bedanken, die es ermöglicht hat, in sehr
kurzer Zeit einen detaillierten und wirklich guten Forde-
rungskatalog zu entwickeln.


(Beifall bei der LINKEN)


Das hätte heute wirklich eine Sternstunde des Parla-
ments werden können.


(Manuel Höferlin [FDP]: Nein, eine Hohnstunde!)


Dass wir aber dennoch zwei Anträge vorliegen haben,
ist leider dem steinzeitlichen Demokratieverständnis der
Führung der Unionsfraktion geschuldet; denn da hat man
offensichtlich noch nicht so ganz gemerkt, dass der
Kalte Krieg längst zu Ende ist.


(Otto Fricke [FDP]: Oh!)


Was da passiert ist, ist ein politisches Narrenstück,
eine Schmierenkomödie in drei Akten.

Erster Akt. Union und FDP legen einen Antragsent-
wurf vor und laden die Oppositionsfraktionen ein, diesen
gemeinsam einzubringen.


(Otto Fricke [FDP]: Sie haben den Prolog vergessen!)


Zweiter Akt. Die Oppositionsfraktionen schlagen ei-
nige Änderungen vor, die weitgehend aufgenommen
werden. Ein gemeinsam abgestimmter Antragstext, dem
alle zustimmen können, wird am Montag dieser Woche
an die vier Fraktionsvorstände weitergeleitet, um am
Dienstag in den Fraktionen beschlossen zu werden.

Dritter Akt. Der Vorstand der CDU/CSU-Fraktion er-
klärt, dass er den Antrag nur zulässt, wenn meine Frak-
tion, Die Linke, von der gemeinsamen Einbringung des
Antrags ausgeschlossen wird.


(Stephan Stracke [CDU/CSU]: Sehr richtig so! – Gegenruf des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Buh! Undemokratisch!)


Dieses Schauspiel ist ein Armutszeugnis für die De-
mokratie.


(Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP Kathrin Vogler Sie grenzen damit fast 12 Prozent aller Wählerinnen und Wähler dieser Republik bei einem gemeinsamen Anliegen aus. Sie erweisen den schutzbedürftigen Studienteilnehmern, für die wir uns gemeinsam starkmachen wollten, einen Bärendienst. Sie sorgen für Politikverdrossenheit, weil Sie kleinkarierte Ideologie über die Interessen der Menschen stellen. (Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ich lach mich tot! Ausgerechnet von Ihnen! Haben Sie eigentlich etwas zur Sache zu sagen?)





(A) (C)


(D)(B)


(Beifall bei der LINKEN)


Ich will noch etwas anderes anmerken. Die Fraktio-
nen SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen sind auch
dieses Mal wieder vor der Erpressungsstrategie von
Kauder und Hasselfeldt eingeknickt. Jedes Mal sagen
Sie, dass Sie diese Ausgrenzerei blöd und unpolitisch
finden, dass Sie das eigentlich nicht wollen; aber Sie ma-
chen trotzdem jedes Mal wieder mit. Eigentlich müssten
Sie hier mit knallroten Köpfen sitzen, wenn Sie noch ei-
nen Funken politischen Anstand hätten.


(Beifall bei der LINKEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie haben es gerade nötig! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Die Einzige, die hier mit knallrotem Kopf stehen müsste, sind Sie!)


Wir haben uns entschieden, den Antrag, den wir alle
gemeinsam erarbeitet haben, wortgleich als Antrag der
Linksfraktion einzubringen. Wir haben zugestimmt, über
beide Anträge heute gemeinsam abstimmen zu lassen.
Damit geben wir Ihnen jetzt die Gelegenheit, unserem
Antrag zuzustimmen, ohne mit Ihren Fraktionsführun-
gen in Konflikt zu geraten. Wir hatten sowieso vor, zu
beiden Anträgen Ja zu sagen; denn wir finden, dass un-
ser gemeinsames Anliegen, der Schutz der Teilneh-
merinnen und Teilnehmer, wichtig ist.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721935500

Frau Kollegin, wollen Sie noch eine Zwischenfrage

zulassen? Das verlängert Ihre Redezeit. Zu dieser Stunde
ist das ein großzügiges Angebot.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721935600

Ja, Kollege Ackermann, gerne.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721935700

Aber machen Sie es kurz.


(Heiterkeit – Manuel Höferlin [FDP]: Ich stelle auch gleich noch eine! – Weiterer Zuruf von der FDP: Herr Präsident!)



Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1721935800

Sehr geehrter Herr Präsident! Vielen Dank, Frau Kol-

legin Vogler, dass Sie die Zwischenfrage zulassen. Ich
denke, dieses Thema eignet sich nicht, um politische
Schlachten zu schlagen.


Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721935900

Hört! Hört!


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ach! Dann lassen Sie es doch! – Gegenruf des Abg. Otto Fricke [FDP]: Erst einmal zuhören!)



Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1721936000

Wir sind uns einig, dass der Schutz der Probanden

ganz oben anzusiedeln ist. Wenn die Kollegen der Euro-
päischen Kommission und des Europäischen Parlaments
sagen, dass sie klinische Prüfungen auch ohne Einsatz
einer Ethikkommission zulassen wollen, so lehnen das
alle Fraktionen in diesem Hause ab und sagen: Wir kön-
nen klinische Prüfungen nur zulassen, wenn wir vorher
eine unabhängige Ethikkommission eingesetzt haben.

Ich möchte Sie aber fragen: Wie konnte es die Vor-
gängerorganisation Ihrer Partei in der ehemaligen DDR
zulassen, dass Pharmaindustrie und Pharmahersteller im
Osten an unbeteiligten Patienten Versuche durchgeführt
haben, ohne dass die Patienten davon wussten? Die SED
hat damit Devisen beschafft. Wie beurteilen Sie das im
Zusammenhang mit dem, was Sie jetzt vor uns hier auf-
führen?


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Herr Ackermann, legen Sie Ihre Hand dafür ins Feuer, dass es im Westen keine solchen Versuche gab?)


Ist es nicht auch unethisch, zu sagen: „Wir wollen klini-
sche Prüfungen ohne Beteiligung der Patienten durch-
führen“? Ich denke, Sie sollten auch dazu eine Stellung-
nahme abgeben, weil Sie in der Nachfolge dieser
Staatspartei stehen.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: So ein Unsinn, was Sie da erzählen!)



Kathrin Vogler (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721936100

Herr Ackermann, Sie reden sich um Kopf und Kra-

gen. Wollen Sie es nicht langsam gut sein lassen? – Sehr
geehrter Herr Kollege, ich muss etwas, was ich vorhin
gesagt habe, revidieren. Ich habe die These aufgestellt,
dass lediglich bei der Union der Kalte Krieg noch nicht
beendet ist. Ich muss das erweitern: Offensichtlich ist
auch bei der FDP noch nicht angekommen, dass wir den
Kalten Krieg inzwischen beendet haben.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


Es muss Ihnen doch bewusst sein, dass wir vor
25 Jahren auch in der Bundesrepublik und den westli-
chen Demokratien längst nicht den Schutz hatten, den
wir heute haben,


(Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Das ist doch eine Lüge!)


und auch Länder, die durchaus demokratisch sind, nicht
unbedingt die Schutzkriterien und ethischen Kriterien
anlegen, die wir hier gemeinsam anlegen.


(Beifall des Abg. Matthias W. Birkwald [DIE LINKE] – Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Das Jens Ackermann wissen Sie doch ganz genau, dass das eine Lüge ist! – Dr. Peter Tauber [CDU/CSU]: Das haben Sie auf der Kaderschule gelernt, was Sie hier vortragen! Unerträglich!)





(A) (C)


(D)(B)


– Ist klar. – Wissen Sie was? Das ist doch wirklich pein-
lich. Wir haben inhaltlich gut zusammengearbeitet, an
einem Punkt, bei dem es um ethische Fragen geht, bei
dem es um die Gesundheit von Menschen geht. Es geht
um die Frage, wie wir mit Probandinnen und Probanden
umgehen, die sich selbst nicht aktiv für die Teilnahme an
der Studie entscheiden können. Das sind wirklich wich-
tige ethische Fragen. Bisher war es in diesem Haus gute
Tradition, dass in ethischen Fragen solche parteipoliti-
schen Spielchen, solche Kalter-Krieg-Nummern keine
Rolle spielen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Ulrich Petzold [CDU/CSU]: Kalter Krieg?)


Nichtsdestotrotz geben wir Ihnen die Gelegenheit, un-
serem Antrag zuzustimmen, ohne mit Ihren Fraktions-
führungen in Konflikt zu geraten. Wir sind weiter zu
konstruktiver Zusammenarbeit bereit, aber ein so absur-
des Theater, wie Sie es im Zusammenhang mit diesen
beiden Anträgen aufgeführt haben, werden wir uns von
Ihnen nicht mehr bieten lassen.


(Beifall bei der LINKEN – Maria Michalk [CDU/CSU]: Was passiert denn jetzt?)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721936200

Ich schließe die Aussprache.

Kollege Birkwald, weil Sie dazwischengerufen ha-
ben, es sei undemokratisch, dass Parteien bzw. Fraktio-
nen sich unterschiedlich verhalten und entscheiden kön-
nen, ob sie etwas zusammen tun oder nicht, sage ich:

Das ist nicht undemokratisch. Sie mögen das kritisieren;
aber das ist nicht undemokratisch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)


Im Übrigen will ich darauf hinweisen, dass vereinbart
ist, über beide Anträge gemeinsam abzustimmen. Auch
das sollten Sie dabei berücksichtigen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/
Die Grünen auf Drucksache 17/12183 mit dem Titel
„EU-weite Regelungen zur Durchführung von klini-
schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln – Schutz der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer sicherstellen. Hier:
Stellungnahme des Deutschen Bundestages nach Arti-
kel 23 Absatz 3 des Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Ge-
setzes über die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenheiten der Euro-
päischen Union“ sowie über den gleichlautenden Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/12184 (neu).
Es ist vereinbart, dass über die gleichlautenden und in-
haltsgleichen Anträge der Fraktionen, die ich genannt
habe, gemeinsam abgestimmt werden soll. – Ich sehe,
dagegen erhebt sich kein Widerspruch. Dann verfahren
wir so. Wir stimmen daher jetzt ab über die Anträge auf
den Drucksachen 17/12183 und 17/12184 (neu). Wer
stimmt für diese Anträge? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Anträge sind damit angenommen.

Wir sind am Schluss unserer heutigen Tagesordnung.

Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 1. Februar 2013,
9 Uhr, ein.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
ruhige Nacht.