Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27287
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlagen zum Stenografischen Bericht
        Anlage 1
        Liste der entschuldigten Abgeordneten
        Anlage 2
        Neuabdruck der Antwort
        des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die
        Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN) (218. Sitzung) (Drucksache 17/12162,
        Frage 36):
        Wann wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundes-
        tag den nach § 3 des Energieleitungsausbaugesetzes, EnLAG,
        seit dem 1. Oktober 2012 fälligen Fortschrittsbericht zum
        Ausbau der Höchstspannungsnetze vorlegen, vor dem Hinter-
        grund, dass die Bundesnetzagentur die Prüfung des Netzent-
        wicklungsplans inzwischen abgeschlossen hat, was die Bun-
        desregierung in ihrer Antwort auf meine mündliche Frage 79,
        Plenarprotokoll 17/210, als Grund für die Verzögerung ange-
        geben hat, und was sind die Gründe für die weitere Verspä-
        tung?
        Der Bericht wurde mit Schreiben vom 4. Dezember
        2012 an den Deutschen Bundestag übersandt.
        Anlage 3
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur namentlichen Abstimmung über die Be-
        schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung
        der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
        kräfte an dem Einsatz der Internationalen Si-
        cherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan
        (International Security Assistance Force, ISAF)
        unter Führung der NATO auf Grundlage der
        Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutio-
        nen, zuletzt Resolution 2069 (2012) vom 9. Ok-
        tober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten
        Nationen (Tagesordnungspunkt 7)
        Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Die Entscheidung des Parlamentes über den Ein-
        satz von Soldatinnen und Soldaten in Krisengebieten
        und bei kriegerischen Auseinandersetzungen übertragen
        jedem Abgeordneten eine besonders hohe Verantwor-
        tung. Denn mit dieser Entscheidung ist unmittelbar eine
        Entscheidung über Menschenleben verbunden. Nach
        sehr gründlicher Abwägung zu den Zielen, den Risiken
        und der geplanten Vorgehensweise dieses Einsatzes habe
        ich mich entschieden, mich bei der Entscheidung zu ei-
        ner Fortsetzung des ISAF-Mandates zu enthalten.
        Einerseits stimme ich den genannten Zielen des Ein-
        satzes zu einer Befriedung Afghanistans ausdrücklich
        zu. Und ich weiß, dass nach jahrelangen kriegerischen
        Auseinandersetzungen der Aufbau einer Zivilgesell-
        schaft viel Einsatz, auch Risikoübernahme und vor allem
        Zeit erfordert. An dieser Stelle sage ich ausdrücklich
        Dank den Soldatinnen und Soldaten, die bereit sind, die
        mit dem Einsatz in Afghanistan verbundenen erhebli-
        chen Risiken zu tragen. Aber der Einsatz hat sich auch
        gelohnt. Es gab beim zivilen Aufbau erkennbare Fort-
        schritte. Schulen wurden errichtet, Brunnen angelegt,
        Straßen gebaut. Die Zivilgesellschaft und vor allem
        Frauen genießen heute in vielen Regionen einen ganz
        
        Abgeordnete(r)
        entschuldigt bis
        einschließlich
        Brase, Willi SPD 31.01.2013
        Canel, Sylvia FDP 31.01.2013
        Dittrich, Heidrun DIE LINKE 31.01.2013
        Heil, Hubertus SPD 31.01.2013
        Dr. Hendricks, Barbara SPD 31.01.2013
        Humme, Christel SPD 31.01.2013
        Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        31.01.2013
        Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        31.01.2013
        Kudla, Bettina CDU/CSU 31.01.2013
        Menzner, Dorothée DIE LINKE 31.01.2013
        Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        31.01.2013
        Remmers, Ingrid DIE LINKE 31.01.2013
        Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
        DIE GRÜNEN
        31.01.2013
        Schlecht, Michael DIE LINKE 31.01.2013
        Schmidt (Eisleben),
        Silvia
        SPD 31.01.2013
        Schreiner, Ottmar SPD 31.01.2013
        Sendker, Reinhold CDU/CSU 31.01.2013
        Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 31.01.2013
        Thönnes, Franz SPD 31.01.2013
        Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 31.01.2013
        Widmann-Mauz,
        Annette
        CDU/CSU 31.01.2013
        Ziegler, Dagmar SPD 31.01.2013
        Anlagen
        27288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        anderen Schutz und haben ganz andere Möglichkeiten,
        als sie es unter der Herrschaft von Extremisten erfahren
        haben und erwarten könnten. Unter militärischem Schutz
        gerade auch der Bundeswehr arbeiten demokratische
        Nichtregierungsorganisation am Aufbau demokratischer
        Strukturen in Afghanistan. Ohne diesen Schutz ausländi-
        scher Streitkräfte hätten diese Projekte nicht umgesetzt
        werden können. Und wir wissen, ein schneller und unge-
        ordneter Abzug dieser Truppen würde zivile Helfer im
        Land gefährden und potenziell das Engagement dieser
        Menschen vor Ort unmöglich machen.
        Andererseits haben die ausländischen Truppen und
        auch die Bundeswehr bzw. die Bundesregierung sich nie
        wirklich klar und unmissverständlich allein diesen Zie-
        len des zivilen Aufbaus verpflichtet und alle Maßnah-
        men und Aktionen strikt an diesen Zielen ausgerichtet.
        Dabei geht es mir nicht um die bloße Anzahl der nach
        Afghanistan gesandten Soldatinnen und Soldaten. Es
        geht mir um die Umsetzung konkreter Ziele. Der vorlie-
        gende Antrag der Bundesregierung enthält nur wenig
        Konkretes zur zivilen Zukunft des Landes. Die Bundes-
        regierung müsste klar benennen, welche Projekte sie im
        Zuge der Entwicklungszusammenarbeit fördern will,
        und sie muss ihre Zusagen aus der Geberkonferenz 2012
        in Tokio einhalten. Es fehlen ein klares Bekenntnis der
        Bundesregierung, sich gegenüber den ISAF-Partnern für
        eine Beendigung von nicht mit dem Völkerrecht verein-
        baren gezielten Tötungen einzusetzen, und die unmiss-
        verständliche Aussage, dass sich die Bundeswehr nicht
        an solchen Aktionen beteiligt. Bei jedem militärischen
        Einsatz ist die klare Ausrichtung der Maßnahmen auf ei-
        nen zivilen Aufbau unabdingbar, im Prinzip erfüllt der
        vorgelegte Antrag der Bundesregierung diese Anforde-
        rungen nicht.
        Mit meiner Enthaltung zum vorliegenden Antrag der
        Bundesregierung will ich meine Zustimmung zu den
        Zielen, zu vielen Projekten und der Vorgehensweise der
        Bundeswehr ausdrücken, gleichzeitig aber meiner Kritik
        an der Nichteinhaltung von unabdingbaren Vorausset-
        zungen für eine Entsendung von Einsatztruppen Aus-
        druck verleihen.
        Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit die-
        sem Mandat will die Bundesregierung den Abzug der
        ISAF-Truppen aus Afghanistan bis Ende 2014 vorberei-
        ten. Damit tritt das deutsche Engagement in eine neue
        Phase ein. Ich werde mich zu diesem Mandat enthalten,
        das ich aus vielen Gründen für nicht zustimmungsfähig
        halte. So kritisiere ich, dass keine konzipierte und glaub-
        hafte Abzugsplanung vorliegt, dass immer noch keine
        unabhängige Evaluation des deutschen Engagements in
        Afghanistan stattfindet und es bis heute keine Agenda
        bis 2014 und danach gibt.
        Die schwierigste Situation erleben jedoch jetzt die
        Menschen in Afghanistan. Niemand kann vorhersehen,
        wie die verschiedenen Akteure in Afghanistan und der
        Region auf einen Truppenabzug reagieren werden. Die
        Sicherheitslage bleibt schwierig, die regierungsfeindli-
        chen Kräfte bleiben gefährlich und bedrohen die Bevöl-
        kerung, vielfach tödlich. Mir ist daher mit meinem
        Votum das politische Signal wichtig, dass es weiterhin
        eine internationale Verantwortung gibt, den Menschen in
        Afghanistan nach den langen Jahren des Krieges den
        Weg zu einer Entwicklung in Frieden zu ermöglichen.
        Der Einsatz in Afghanistan ist immer noch großen
        Gefahren ausgesetzt. Ich möchte an dieser Stelle meinen
        Dank und meine Wertschätzung ausdrücken für all dieje-
        nigen, die als zivile Helferinnen und Helfer, als Soldatin-
        nen und Soldaten, in Verbindung mit ihren Familienan-
        gehörigen, Aufgaben in Afghanistan erfüllen. Dieses
        Mandat fordert in Afghanistan mitunter den höchsten
        Einsatz, und das darf nie vergessen werden.
        In Afghanistan findet eine Zeitenwende statt. Die
        kommenden zwei Jahre sind eine Phase des Übergangs,
        in der die Beendigung des ISAF-Engagements vollzogen
        werden soll. Ziel ist es, dass die afghanische Regierung
        in der Lage ist, die Sicherheitsverantwortung landesweit
        und so vollständig wie möglich wahrzunehmen. Daher
        verändert sich auch das Mandat für Afghanistan, wenn
        die deutschen Truppen verringert werden. Unglaubwür-
        dig ist jedoch, dass bis zum 28. Februar 2014 immer
        noch mindestens 3 300 deutsche Soldatinnen und Solda-
        ten in Afghanistan stationiert sein werden. Zweifel, dass
        ein wirklicher Abzug mit dieser großen Zahl bis Ende
        2014 damit möglich wird, sind begründet.
        Die Transition ist für Afghanistan ein extremes Ri-
        siko, aber hoffentlich auch mit Chancen verbunden. Der
        damit verbundene Abzug stellt jedoch auch die interna-
        tionale Gemeinschaft und Deutschland vor komplexe
        Aufgaben. Auch schwinden mit einer abnehmenden
        Zahl an Soldatinnen und Soldaten die mediale Aufmerk-
        samkeit und die politische Bereitschaft, sich den weiter
        bestehenden Problemen intensiv zu widmen.
        Wir dürfen die Menschen in Afghanistan aber nicht
        alleinlassen. In Deutschland muss energisch dafür einge-
        treten werden, dass die angekündigte langfristige Unter-
        stützung im zivilen und im entwicklungspolitischen Be-
        reich tatsächlich verwirklicht wird. Deutschland muss zu
        seinen Versprechen und seiner Verantwortung für Afgha-
        nistan stehen. Daher ist es ein fatales Signal, wenn die
        Bundesregierung die Mittel für den zivilen Aufbau um
        10 Millionen Euro für 2013 gekürzt hat. Dabei hatte sie
        noch auf der Tokio-Konferenz 2012 versprochen,
        430 Millionen Euro bis 2015 jährlich bereitzustellen.
        Hier zeigt sich die Brüchigkeit der geleisteten Verspre-
        chen auf internationaler Ebene.
        Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Den Antrag zum Kriegseinsatz der Bundeswehr
        in Afghanistan lehne ich ab.
        Seit mehr als elf Jahren führt Deutschland inzwischen
        Krieg in Afghanistan. Zehntausende Menschen, ganz
        überwiegend Zivilisten, sind getötet und verletzt wor-
        den. Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung lehnen den
        Krieg ab. Er ist nicht zu gewinnen. Trotzdem soll er fort-
        gesetzt werden, zunächst bis März nächsten Jahres mit
        bis zu 4 400 Soldaten. Dann soll das Mandat erneut ver-
        längert werden, mindestens bis Ende 2014. Tausende
        Menschen werden wieder Opfer sein, meist afghanische
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27289
        (A) (C)
        (D)(B)
        Zivilisten, Polizisten und Soldaten, aber auch Nato-Sol-
        daten.
        Die Versicherungen der Bundesregierung bezüglich
        einer fortschreitenden Verbesserung der Sicherheitslage
        der Bevölkerung sind trügerisch. Aktuelle Auswertun-
        gen internationaler Organisationen zeichnen ein anderes
        Bild. Sie gehen davon aus, dass die afghanischen Sicher-
        heitskräfte überfordert und unvorbereitet auf den Über-
        gang sind. Dafür spricht auch die hohe Zahl der im letz-
        ten Jahr getöteten afghanischen Sicherheitskräfte, über
        3 000. Und die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölke-
        rung ist im letzten halben Jahr wieder gestiegen.
        Weiter Krieg führen, ist der falsche Weg. Die offen-
        sive Aufstandsbekämpfung durch die ISAF-Truppen
        führt unweigerlich zu weiterer Eskalation. Wertvolle
        Zeit wird vertan. Anstatt Kommandounternehmen und
        gezielte Tötungen einzustellen und mit den Aufständi-
        schen über Waffenstillstand und die Erhaltung des bisher
        Erreichten zu verhandeln, wird weitergemacht bis zum
        bitteren Ende in der Hoffnung, es werde noch alles gut
        und sicher in Afghanistan. Völkerrechtswidrige gezielte
        Tötungen von „feindlichen Kämpfern“ durch Spezialein-
        heiten oder bewaffnete Drohnen werden intensiviert. Im
        deutschen Verantwortungsbereich wurden Kampfdroh-
        nen mit Tötungsauftrag stationiert. Aufgrund welcher
        Informationen die Todeslisten erstellt werden, ist un-
        durchsichtig und nicht überprüfbar. Den gezielten Tö-
        tungen fallen häufig am Krieg völlig Unbeteiligte oder
        zu Unrecht Denunzierte zum Opfer. Die Bundesregie-
        rung behauptet, die Bundeswehr beteilige sich nicht an
        solchen Tötungen. Sie hat aber eingeräumt, sie könne
        nicht ausschließen, dass Informationen, die sie für Aktio-
        nen zur Gefangennahme liefert, nicht doch zum Auffül-
        len der Tötungslisten für Drohnen oder Special Forces
        der Alliierten genutzt werden. Die Folge sind immer
        neuer Hass, Gewalt und Krieg, und Verhandlungen kom-
        men nicht zustande. Ohne Verhandlungen, Vereinbarun-
        gen und Waffenstillstandsabkommen mit den Aufständi-
        schen wird es nichts mit mehr Sicherheit, auch nicht bis
        Ende 2014.
        Und viel schlimmer noch: Als Konsequenz für die
        Zeit danach droht erneut ein fürchterlicher Bürgerkrieg –
        oder doch die Verlängerung des NATO-Kampfeinsatzes
        und Krieges.
        Dann wird es ein neues „Schutzmandat“ mit Kampf-
        auftrag geben. Auch das ISAF-Mandat war ursprünglich
        lediglich ein Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung
        und der Regierung in Kabul – anders als das Mandat
        Enduring Freedom. Es wurde zum Kriegsmandat von
        heute umgedeutet.
        Ein Weiter-so darf es nicht geben. Der Krieg in Af-
        ghanistan muss unverzüglich beendet werden. Die Alter-
        nativen sind Verhandlungen mit allen Beteiligten, auch
        den Aufständischen, und Waffenstillstandsabkommen,
        vielleicht zunächst regionale wie in dem Verantwor-
        tungsbereich der Bundeswehr.
        Deshalb stimme ich mit Nein.
        Anlage 4
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Tabea
        Rößner und Josef Philip Winkler (alle BÜND-
        NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab-
        stimmung über die Beschlussempfehlung zu
        dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be-
        waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
        der Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
        truppe in Afghanistan (International Security
        Assistance Force, ISAF) unter Führung der
        NATO auf Grundlage der Resolution 1386
        (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-
        solution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des
        Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
        ordnungspunkt 7)
        Auf der Londoner Afghanistan-Konferenz 2010 ha-
        ben die an ISAF beteiligten Nationen die Beendigung
        des Einsatzes bis Ende 2014 beschlossen. Die afghani-
        schen Sicherheitskräfte sollen dazu befähigt werden,
        selbst für die Sicherheit in Afghanistan zu sorgen. Wir
        wollen, dass Deutschland bis dahin weiterhin einen Bei-
        trag dazu leistet, die afghanischen Sicherheitskräfte aus-
        zubilden.
        Die Entscheidung, den ISAF-Militäreinsatz zu been-
        den, ist richtig. Mit seinem Ende wird dem politischen
        Prozess endlich Vorrang gegeben. Denn nur politisches
        und ziviles Engagement kann der afghanischen Bevölke-
        rung eine wahrhaft nachhaltige Perspektive bieten.
        Nur zivile Aufbauhilfe kann zum Aufbau von Verwal-
        tungsstrukturen, eines Justiz-, Bildungs- oder auch Ge-
        sundheitssystems beitragen. Nur durch die zivilen
        Anstrengungen kann sich eine nachhaltige Wirtschafts-
        perspektive entwickeln. Die zivile Aufbaustrategie darf
        militärischen Zielsetzungen nicht untergeordnet werden.
        Unsere Erwartung in ein neues ISAF-Mandat ist, dass
        es einen eindeutigen und entschlossenen Weg in Rich-
        tung der Beendigung des Einsatzes Ende 2014 darlegt.
        Der nun vorgelegte Antrag der Bundesregierung wird
        diesem Anspruch jedoch nicht gerecht. Im Besonderen
        betrifft dies die Mandatsobergrenze, die auf 4 400 Solda-
        tinnen und Soldaten festgelegt wurde. In der Begrün-
        dung wird bis zum Mandatsende eine Reduktion der
        Truppenzahl auf 3 300 in Aussicht gestellt. Wenn am
        1. März 2014 noch mehr als 3 000 Soldatinnen und Sol-
        daten in Afghanistan stehen, scheint uns ein vollständi-
        ger Abzug der Bundeswehr bis Ende 2014 nur schwer
        durchführbar.
        Zur geplanten Folgemission ab 2015 fehlen konkrete
        Informationen. In der Begründung des Mandats wird le-
        diglich darauf hingewiesen, dass eine Folgemission mit
        deutlich geringerem Personalansatz geplant werde. Was
        dies genau bedeutet, ist jedoch unklar. Mit der durch die
        Bundesregierung vorgelegten Entwicklung der Kontin-
        gentgröße ist zu befürchten, dass auch ab 2015 eine vier-
        stellige Zahl von Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
        wehr in Afghanistan verbleiben soll. Aus unserer Sicht
        erzeugt das vorgelegte Mandat eine Pfadabhängigkeit
        für die Folgemission, die wir nicht mittragen wollen.
        27290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Gleichzeitig sehen wir, dass Deutschland durch sei-
        nen Einsatz in Afghanistan eine Schutzverantwortung
        für die afghanische Bevölkerung übernommen hat. Die-
        ser Verantwortung müssen wir sowohl mit unserem zivi-
        len als auch militärischen Engagement weiter gerecht
        werden. Unser Ziel ist es, das militärische Engagement
        rasch und entschlossen zu reduzieren. Ein sofortiger Ab-
        zug würde aus unserer Sicht nicht nur bereits Erreichtes,
        sondern auch die Zukunft der afghanischen Kinder,
        Frauen und Männer in existenzieller Art und Weise ge-
        fährden.
        Wir haben uns in der Summe dazu entschieden, uns
        bei der Abstimmung über die Fortsetzung des ISAF-
        Mandates der Bundeswehr zu enthalten. Dies ist eine
        Gewissensentscheidung.
        Der Entschließungsantrag unserer Fraktion findet un-
        sere Unterstützung und legt unsere Position im Hinblick
        auf den Afghanistan-Einsatz näher dar.
        Anlage 5
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Agnes Brugger, Katja
        Dörner, Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting-
        Uhl, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Lisa
        Paus, Ulrich Schneider, Dr. Gerhard Schick und
        Dorothea Steiner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN) zur namentlichen Abstimmung über die
        Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fortset-
        zung der Beteiligung bewaffneter deutscher
        Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen
        Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis-
        tan (International Security Assistance Force,
        ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage
        der Resolution 1386 (2001) und folgender
        Resolutionen, zuletzt Resolution 2069 (2012)
        vom 9. Oktober 2012 des Sicherheitsrates der
        Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 7)
        Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundes-
        wehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, die
        Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen ha-
        ben, und fordert wie kaum eine andere das Gewissen und
        Herz der Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Dem
        Engagement der in Afghanistan eingesetzten zivilen
        Helferinnen und Helfer, Soldatinnen und Soldaten sowie
        ihren Familienangehörigen gilt unser großer Dank und
        unsere Wertschätzung.
        Das vorliegende Mandat versagt dabei, den vollstän-
        digen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vorzube-
        reiten. Die Politik der Bundesregierung und das ISAF-
        Mandat schreiben das Primat des Militärischen vor dem
        Zivilen weiter fort. Nach wie vor finden in Afghanistan
        durch ISAF-Nationen verübte gezielte Tötungen durch
        Kommandoaktionen und Drohnenangriffe statt, die eine
        Verhandlungslösung konterkarieren. Wir stimmen gegen
        einen solchen Militäreinsatz, der zur Gewalteskalation
        beiträgt und kontraproduktiv für die Schaffung von Frie-
        den in Afghanistan ist.
        Strategie der Aufstandsbekämpfung schmälert Chan-
        cen auf Frieden: Seit über einem Jahrzehnt beteiligt sich
        die Bundeswehr am ISAF-Einsatz in Afghanistan. Noch
        immer ist die Sicherheitslage sehr angespannt, unbere-
        chenbar und besorgniserregend. Die vergangenen Jahre
        waren geprägt von gewaltsamen Auseinandersetzungen
        zwischen ISAF-Truppen und afghanischen Sicherheits-
        kräften auf der einen Seite und Taliban und anderen
        Aufständischen auf der anderen. Für die meisten zivilen
        Opfer sind die Anschläge der Aufständischen verant-
        wortlich. Aber auch die Strategie der offensiven Auf-
        standsbekämpfung durch die ISAF-Truppen hat zu einer
        zunehmenden Eskalation beigetragen. Die vor allem von
        den USA und anderen ISAF-Nationen weiter durch-
        geführten massiven gezielten Tötungen mit zahlreichen
        zivilen Opfern in Afghanistan und Pakistan tragen nach
        wie vor maßgeblich zur Eskalation der Gewalt bei. Der
        Einsatz von bewaffneten Drohnen fordert zahlreiche
        zivile Opfer, zerstört den Rückhalt in der afghanischen
        Bevölkerung und fördert die Radikalisierung und den
        Zulauf bei den Aufständischen. So werden die Bemü-
        hungen um eine Verhandlungslösung, die Stabilisierung
        der Sicherheitslage und der Erfolg des Transitions-
        prozesses in Afghanistan massiv konterkariert. Die Stra-
        tegie, mit militärischen Mitteln den Frieden in Afghanis-
        tan erzwingen zu wollen, ist gescheitert.
        Keine glaubwürdige Abzugsplanung: Das vorlie-
        gende Mandat ist weit davon entfernt, die Voraussetzun-
        gen für einen geordneten und glaubwürdigen Abzug der
        Bundeswehr bis 2014 aus Afghanistan zu schaffen. Es
        sieht weiterhin eine Obergrenze von 4 400 Soldatinnen
        und Soldaten vor und stellt selbst bei positiver Entwick-
        lung der Sicherheitslage bis März 2014 immer noch
        3 300 deutsche Einsatzkräfte zur Verfügung. Mit einem
        Abzugsmandat hat eine solche Kontingentplanung nichts
        zu tun. Die Bundesregierung stellt damit den selbst
        angekündigten und international vereinbarten Abzug in-
        frage, der unter diesen Bedingungen nur noch schwer
        durchführbar scheint. In der NATO beteiligt sich die
        Bundesregierung bereits an der Planung einer ISAF-
        Nachfolgemission. Weder über den geplanten Umfang
        einer möglichen deutschen militärischen Beteiligung
        noch über die Strategie und die völkerrechtliche Grund-
        lage eines solchen Einsatzes gibt es vonseiten der Bun-
        desregierung Aufklärung. Wenn wir wollen, dass die
        Bundeswehr bis 2014 abzieht, brauchen wir hierzu be-
        reits jetzt ein Mandat, das die Voraussetzungen für einen
        geordneten Abzugsprozess im nächsten Mandatszeit-
        raum schafft. Es steht aber im Gegenteil zu befürchten,
        dass die Pläne der Bundesregierung darauf angelegt
        sind, Vorfestlegungen in Bezug auf eine Nachfolgemis-
        sion zu schaffen und eine vierstellige Zahl von Bundes-
        wehrangehörigen auch nach 2014 in Afghanistan zu sta-
        tionieren. Dieses Verfahren ist nicht nur intransparent,
        sondern hat mit Mandatswahrheit und -klarheit gegen-
        über Parlament und Öffentlichkeit nichts zu tun.
        Versöhnung und Wiederaufbau verlässlich unterstüt-
        zen: Für einen nachhaltigen Frieden in Afghanistan muss
        ein breiter Versöhnungsprozess stattfinden und der wirt-
        schaftliche und institutionelle Wiederaufbau des Landes
        vorangetrieben werden. Menschenrechtsverletzungen,
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27291
        (A) (C)
        (D)(B)
        ungeachtet von welcher Seite, müssen aufgedeckt und
        aufgearbeitet werden. Nur so gibt es eine Chance, dass
        der Versöhnungsprozess in der nach wie vor traumati-
        sierten und zerrissenen afghanischen Gesellschaft gelin-
        gen kann. Ein Waffenstillstand alleine reicht nicht aus,
        um Frieden zu schaffen. Auch wenn dies im von Krieg
        und Gewaltherrschaft geprägten Afghanistan schwierig
        ist und schmerzhafte Kompromisse abverlangt, müssen
        alle Möglichkeiten genutzt werden, um ein größtmögli-
        ches Maß an Gerechtigkeit walten zu lassen. Diese mit
        einem echten Versöhnungsprozess verbundenen Heraus-
        forderungen werden von dem vorliegenden Mandat und
        der Afghanistan-Politik der Bundesregierung nicht ange-
        gangen. Wiederaufbau und Versöhnung gehören ins Zen-
        trum der Afghanistan-Politik. Doch die Unterstützung
        bei der Entwicklung grundlegender Staatsstrukturen und
        einer funktionierenden Verwaltung wird weiterhin ver-
        nachlässigt. Darüber hinaus fehlt es an einem Gesamt-
        konzept und einer sinnvollen Schwerpunktlegung für die
        wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans. Diese muss
        sich an den Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung
        und den Gegebenheiten vor Ort orientieren. Der für die
        afghanische Wirtschaft zentrale landwirtschaftliche Sek-
        tor und die Modernisierung des afghanischen Bildungs-
        systems müssen dabei im Vordergrund stehen. Ein weite-
        rer wichtiger Schwerpunkt im Rahmen des zivilen
        Wiederaufbaus ist die Stärkung der Zivilgesellschaft.
        Der Weg zu einem nachhaltigen Frieden in Afghanis-
        tan ist noch lang und steinig und erfordert eine langfris-
        tige und verlässliche Unterstützung durch die internatio-
        nale Gemeinschaft. Das vorliegende Mandat bleibt eine
        Antwort auf die Frage schuldig, wie das deutsche Enga-
        gement für den Aufbau in Afghanistan in einem ange-
        messenen Umfang fortgesetzt werden kann und lässt an-
        ders als das Vorgängermandat die Höhe der Mittel für
        den zivilen Wiederaufbau offen. Die Bundesregierung
        hat ihre Versprechen diesbezüglich schon gebrochen:
        Nur ein halbes Jahr nach ihren Zusagen auf der Geber-
        konferenz in Tokio wurden die Mittel des Afghanistan-
        Stabilitätspakts um 10 Millionen gekürzt. Dem zukünfti-
        gen deutschen Engagement fehlt eine überzeugende und
        umfassende Gesamtstrategie für den Aufbau Afghanis-
        tans.
        Wir lehnen die Strategie der offensiven Aufstandsbe-
        kämpfung und die weiter fortgesetzten völkerrechtswid-
        rigen gezielten Tötungen ab. Sie stehen einer friedlichen
        Lösung des Konfliktes durch Verhandlungen entgegen.
        Wir fordern Mandatswahrheit und -klarheit in der Frage
        des Abzugs und sagen Nein zu einem Mandat, das sich
        einer realistischen und geordneten Abzugsplanung bis
        Ende 2014 verweigert. Unser Votum richtet sich nicht
        gegen die in Afghanistan eingesetzten Soldatinnen und
        Soldaten, sondern gegen die falsche Afghanistan-Politik
        der Bundesregierung.
        Anlage 6
        Erklärung nach § 31 GO
        der Abgeordneten Omid Nouripour, Marieluise
        Beck (Bremen), Cornelia Behm, Hans-Josef
        Fell, Priska Hinz (Herborn), Tom Koenigs,
        Nicole Maisch, Jerzy Montag, Manuel Sarrazin,
        Markus Tressel und Daniela Wagner (alle
        BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen
        Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
        dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be-
        waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
        der Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
        truppe in Afghanistan (International Security
        Assistance Force, ISAF) unter Führung der
        NATO auf Grundlage der Resolution 1386
        (2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-
        solution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des
        Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
        ordnungspunkt 7)
        Nur eine politische Lösung kann verhindern, dass Af-
        ghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen
        in einen neuen, blutigen Bürgerkrieg zurückfällt. Die
        Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft
        müssen daher ihre Anstrengungen erhöhen, um den Ver-
        handlungs- und Reintegrationsprozess in Afghanistan zu
        unterstützen und eine Friedenslösung unter Einbezie-
        hung der beteiligten Nachbarstaaten zu erzielen.
        Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass die erreich-
        ten Fortschritte insbesondere bei Menschenrechten ins-
        besondere für Frauen und Mädchen im Rahmen der Ver-
        handlungen nicht ausgehöhlt werden.
        Der zivile Aufbau in Afghanistan erfordert ein lang-
        fristiges Engagement der internationalen Gemeinschaft
        und verlässliche Zusagen für Hilfen und Unterstützungs-
        leistungen auch über das Jahr 2014 hinaus. Hierzu ge-
        hört, die im Juli 2012 auf der Geberkonferenz in Tokio
        gemachte Zusage einzuhalten, bis einschließlich 2015
        jährlich 430 Millionen Euro für den zivilen Aufbau be-
        reitzustellen. Die Bundesregierung belässt es jedoch bei
        vagen Zusagen und hat sich im Rahmen der letzten
        Haushaltsverhandlungen von verbindlichen Mittelzusa-
        gen für Afghanistan verabschiedet. Dies ist ein herber
        Rückschlag für die afghanische Zivilbevölkerung.
        Um der Verantwortung Deutschlands für die Men-
        schen in Afghanistan endlich gerecht zu werden, muss
        die Bundesregierung bindende Verpflichtungen ausspre-
        chen. Darüber hinaus braucht es vor allem eine umfas-
        sende Agenda für den zivilen Aufbau, die das deutsche
        Engagement im politischen und entwicklungspolitischen
        Bereich für die Zeit nach 2014 für Afghanistan verläss-
        lich festlegt. Dies ist auch erforderlich, da in Afghanis-
        tan die Befürchtung zunimmt, dass mit dem militäri-
        schen Abzug auch die meisten Aufbauhelferinnen und
        -helfer das Land verlassen werden.
        Im militärischen Engagement setzen Partnernationen
        weiter auf kontraproduktive „gezielte Tötungen“. Die
        Bundesregierung muss sich im Rahmen von ISAF und
        gegenüber den Partnern dafür einsetzen, dass dieses fal-
        sche Vorgehen beendet wird. Sie muss außerdem sicher-
        stellen, dass sich die Bundeswehr nicht an solchen Ak-
        tionen beteiligt.
        Es ist zu kritisieren, dass die Bundesregierung hin-
        sichtlich ihrer Abzugsplanung im Ungefähren bleibt. Die
        enormen logistischen und sicherheitspolitischen Heraus-
        27292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        forderungen müssen endlich nachvollziehbar ausbuch-
        stabiert werden, um verlässlich und transparent darzule-
        gen, wie der zugesagte Abzug sämtlicher Truppen mit
        einem Kampfauftrag bis Ende 2014 in verantwortbarer
        Art und Weise realisiert werden soll.
        Die Bundesregierung muss sich in diesem Zusam-
        menhang auch dafür einsetzen, dass die afghanischen
        Ortskräfte, die für die Bundeswehr unter anderem als
        Dolmetscher, Fahrer und Arbeiter tätig waren und nun
        Repressalien durch die Taliban befürchten, nicht ihrem
        Schicksal überlassen werden, und sie muss ihnen ein
        großzügiges Aufnahmeangebot machen.
        Trotz unserer Kritik an der unzureichenden und teil-
        weise fehlgeleiteten Afghanistan-Strategie der Bundes-
        regierung stimmen wir dem Mandat zur Verlängerung
        des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr bis zum
        28. Februar 2014 zu. Dies ist eine schwere Gewissens-
        entscheidung.
        Mit dem Engagement der internationalen Gemein-
        schaft haben wir eine Schutzverantwortung für die
        Menschen in Afghanistan übernommen. Wir fühlen uns
        weiterhin verpflichtet, sie nicht alleine zu lassen. Zu-
        stimmung bedeutet auch, dass wir Mitverantwortung
        übernehmen für den schwierigen, oft lebensgefährlichen
        Einsatz der Soldatinnen und Soldaten und der zivilen
        Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer.
        Ein sofortiger militärischer Abzug würde die Men-
        schen in Afghanistan in einem neu eskalierenden Bür-
        gerkrieg alleine zurücklassen und die gesamte Region
        destabilisieren. Die Polizei und die Armee Afghanistans
        sind noch nicht in der Lage, verlässlich für die Sicherheit
        im Land zu sorgen. Expertinnen und Experten sowie
        Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft aus
        Afghanistan machen immer wieder deutlich, dass des-
        wegen eine – wenn auch befristete – militärische Präsenz
        internationaler Truppen notwendig ist.
        Anlage 7
        Erklärungen nach § 31 GO
        zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
        zes zur Reform der elterlichen Sorge nicht mit-
        einander verheirateter Eltern (Tagesordnungs-
        punkt 11 a)
        Sylvia Canel (FDP): Eheliche und nichteheliche
        Kinder haben einen Anspruch darauf, dass ihre Väter
        und Mütter gleichermaßen Verantwortung über ihr Le-
        ben übernehmen. Deshalb sollen die bisher geltenden
        Rechte von ledigen Vätern deutlich verbessert werden.
        Das ist nicht nur meine persönliche Auffassung, sondern
        auch die klare politische Haltung der FDP-Bundestags-
        fraktion.
        Die Stärkung des Sorgerechts insbesondere bei außer-
        ehelich geborenen Kindern ist aus meiner Sicht bereits
        von Geburt an sicherzustellen. Denn beide Elternteile,
        unabhängig von dem Familienstand, sind dazu verpflich-
        tet, im Sinne des Kindeswohls zu handeln. Dies kann nur
        gewährleistet werden, wenn künftig die Väter das Recht
        bekommen, ihre Fürsorge und Sorgepflicht bereits von
        Geburt an ausüben zu können.
        Bereits 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Men-
        schenrechte die Sorgerechtsregelungen, die in Deutsch-
        land vorherrschen, als menschenrechtswidrig deklariert.
        Die Begründung beruft sich auf die Unterscheidung zwi-
        schen ehelichen und nichtehelichen Neugeborenen. Dem-
        zufolge werden Neugeborene von nicht verheirateten
        Paaren deutlich benachteiligt, da es keine klare Regelung
        des gemeinsamen Sorgerechts gibt. Der Europäische Ge-
        richtshof für Menschenrechte erstellte jedoch einen kla-
        ren Forderungskatalog bezüglich der Neuregelung des
        gemeinsamen Sorgerechts bei nicht verheirateten Eltern-
        paaren.
        Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auch auf
        die UN-Kinderrechtskonvention verwiesen. Hier heißt
        es, dass alle Kinder das Recht besitzen, von beiden El-
        ternteilen gleichermaßen erzogen zu werden, unabhän-
        gig von dem Familienstand der Eltern.
        Die Neuregelung des gemeinsamen Sorgerechts von
        nichtehelichen Neugeborenen wird durch den vorliegen-
        den Gesetzentwurf vereinfacht und nimmt Rücksicht auf
        die moderne Form der Beziehung. Dementsprechend
        soll ein Vater, der seine Vaterschaft bereits anerkennt,
        auch das Recht bekommen, sich um sein Kind zu sorgen
        und zu kümmern. Sollte es zum Streit der Elternteile
        kommen, wird ein Gericht im Sinne des Kindeswohls
        entscheiden. Jedoch sollte meiner Ansicht nach der Vater
        dieses Recht bereits mit der Geburt des Kindes erhalten.
        Einen anderen Weg erachte ich als eine Diskriminierung
        des Kindsvaters.
        Vor diesem Hintergrund soll die Reform der elterli-
        chen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern weiter
        vorangebracht werden und um einen Punkt erweitert
        werden. Väter sollen bereits von Geburt das Recht erhal-
        ten, sich ihrer Verantwortung zu stellen und sich glei-
        chermaßen um das Kind zu kümmern. Diese Forderung
        ist zum Wohle des Kindes.
        Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Bei der heutigen
        Abstimmung des Bundestages zum Gesetz zur Reform
        der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter El-
        tern – Bundestagsdrucksache 17/11048 – stimme ich
        heute mit Nein.
        Es ist richtig, die Rechte der Väter zu stärken; inso-
        fern ist der heute vorliegende Gesetzentwurf eine Ver-
        besserung in der Sache. Dennoch halte ich dabei die
        zwangsweise Einschaltung eines Gerichtes, um auch Vä-
        tern das Sorgerecht zuzusprechen, für falsch.
        Art. 3 des Grundgesetzes lautet wie folgt:
        (1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz
        gleich.
        (2) Männer und Frauen sind gleichberech-
        tigt. Der Staat fördert die tatsächliche
        Durchsetzung der Gleichberechtigung von
        Frauen und Männern und wirkt auf die Be-
        seitigung bestehender Nachteile hin.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27293
        (A) (C)
        (D)(B)
        Dieser zentrale Gleichheitsgrundsatz des Grundgeset-
        zes muss auch beim Sorgerecht gelten. So halte ich es
        für geboten, dass Mutter und Vater das gemeinsame Sor-
        gerecht bei der Geburt eines Kindes erhalten, unabhän-
        gig davon, ob sie verheiratet sind oder nicht. Ein Verfah-
        ren, bei dem der Vater seine Rechte erst beantragen und
        einen Gerichtsbeschluss herbeiführen muss, halte ich für
        falsch. Dies gilt umso mehr, wenn dies zu einer mögli-
        cherweise sehr schwierigen familienrechtlichen Aus-
        einandersetzung und Entscheidung führt.
        Das häufig vorgetragene Argument von Kollegen,
        dieses Gesetz würde ohnehin nur in – wenigen – stritti-
        gen Fällen greifen, halte ich für ein sehr schwaches Ar-
        gument. Denn gerade für die problematischen und stritti-
        gen Fälle ist das Gesetz ja da; bei einem Einvernehmen
        wird es ohnehin nicht zum Tragen kommen.
        Aus Sicht des Kindes halte ich es für wichtig, dass so-
        wohl Mutter wie auch Vater Verantwortung übernehmen
        – das erwarte ich von beiden Elternteilen – und dass
        diese dazu auch tragfähige gemeinsame Lösungen ent-
        wickeln.
        Es gibt darüber hinaus Fälle, in denen eine Ausnahme
        angezeigt ist, insbesondere wenn Gewalt ausgeübt wird
        oder wurde oder das Kindeswohl beeinträchtigt werden
        könnte. Hierfür wäre eine entsprechende Regelung wün-
        schenswert; ansonsten sollte das Gesetz von einem ge-
        meinsamen Sorgerecht ausgehen.
        Anlage 8
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts
        (Tagesordnungspunkt 13)
        Erich G. Fritz (CDU/CSU): In zweiter und dritter Le-
        sung beraten wir heute eine Novelle des Außenwirt-
        schaftsgesetzes. Sie führt zu einer erheblichen Vereinfa-
        chung und Entschlackung des aus dem Jahre 1962
        stammenden deutschen Außenwirtschaftsrechts.
        Mit der vorliegenden Überarbeitung erfüllen wir eine
        Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag vom 26. Okto-
        ber 2009. Ich freue mich, dass in den abschließenden
        Ausschussberatungen eine sehr weitgehende Überein-
        stimmung zwischen den Fraktionen zu erkennen war und
        dass die Notwendigkeit und die Art der Überarbeitung
        viel Zustimmung gefunden hat.
        Ich habe es bereits in meiner letzten Rede versichert
        und wiederhole es gerne: Das Außenwirtschaftsgesetz
        genießt weltweit einen hervorragenden Ruf und wird
        daher seine bewährten Grundstrukturen, insbesondere
        den Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit, beibehal-
        ten. Doch es wurde Zeit für eine Modernisierung.
        Das Außenwirtschaftsgesetz ist vor 50 Jahren in Kraft
        getreten. Seither hat sich, wie wir alle wissen, im
        Rechtsrahmen der Außenwirtschaft national, europäisch
        und international einiges geändert, und die Kontroll-
        und Genehmigungspraxis in Deutschland wurde immer
        weiter entwickelt. Die Europäische Union hat Zustän-
        digkeiten im Außenhandel übernommen und in ihrem
        Zuständigkeitsbereich einen gemeinsamen Exportkon-
        trollmechanismus aufgebaut. Auch deshalb sind das Au-
        ßenwirtschaftsgesetz, AWG, und die Außenwirtschafts-
        verordnung, AWV, häufig geändert worden.
        AWG und AWV glichen bisher einem Flickenteppich.
        Sie waren unübersichtlich und wenig nutzerfreundlich.
        Selbst Juristen und Experten haben teilweise Schwierig-
        keiten, sich in diesem Dschungel von 50 Paragrafen
        noch zurechtzufinden. Nach der Novelle sollen es nur
        noch 28 Bestimmungen sein. Im Interesse der Expor-
        teure, insbesondere der kleinen und mittelständischen
        Unternehmen in Deutschland, die oft nicht über eine ei-
        gene Rechtsabteilung verfügen, müssen die Regelungen
        gestrafft und verständlicher formuliert werden, auch für
        Nicht-Juristen. Die Neufassung ist also eine notwendige
        Anpassung, und ich gratuliere der Bundesregierung zu
        ihrer Entscheidung, das Außenwirtschaftsrecht zu novel-
        lieren. Um es noch einmal plastisch zusammenzufassen:
        Das AWG stammt aus einer Zeit vor dem Binnenmarkt,
        natürlich auch vor dem Lissabon-Vertrag. Das BAFA hat
        sich in dieser Zeit ebenso entwickelt wie die Expertise
        der Unternehmen im Umgang mit den nötigen Verfah-
        ren. Die Hauptzollämter haben ihre Fähigkeiten enorm
        entwickelt. Die Compliance-Regeln in den Unternehmen
        haben den Grad innerbetrieblicher Selbstkontrolle erheb-
        lich ausgeweitet. Fahndungsmöglichkeiten wurden unter
        anderem durch Aufbau und Entwicklung des Zollkrimi-
        nalinstitutes ausgebaut. Die Dual-Use-Verordnung der
        Europäischen Union ist heute unmittelbar geltendes
        Recht in Deutschland. Der Gemeinsame Standpunkt der
        EU wie die fortgeschriebenen Exportrichtlinien der Bun-
        desregierung binden Regierungshandeln. Wir haben ein
        sehr hohes Niveau der Ausfuhrkontrolle erreicht, das
        seine Wirkung entfalten kann. Dual-Use-Güter sind im
        normalen Handelsverkehr unter Kontrolle. Der Staat
        kommt seiner Verpflichtung nach, und die Exporteure
        können damit umgehen.
        Wir dürfen aber auch den Güterhandel nicht nur unter
        dem Gesichtspunkt der doppelt verwendbaren Güter be-
        trachten, sondern müssen auch an die Millionen von Pro-
        dukten denken, die das Verfahren durchlaufen, ohne je-
        mals in die Gefahr zu geraten, im weitesten Sinne
        militärisch verwendet zu werden. Deshalb war ein An-
        spruch an die Überarbeitung auch, die Regelungen klar,
        überschaubar und eindeutig zu machen. Solche An-
        sprüche wurden auch von der Rechtsprechung immer
        wieder an den Gesetzgeber gestellt.
        Die dafür notwendigen Veränderungen liefern auch
        modernere Definitionen für ein besseres sprachliches
        Verständnis. Das AWG wird an die moderne Terminolo-
        gie angepasst. Es erhält so eine zeitgemäße Sprache und
        wird mit den europarechtlich etablierten Begriffen in
        Einklang gebracht. Da das nationale und das europäische
        Recht eng verzahnt sind, werden so Widersprüche besei-
        tigt. Viele Begrifflichkeiten waren schlicht veraltet. Dies
        ist nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt,
        dass viele der Definitionen aus der Zeit vor der Wieder-
        vereinigung und vor der Dual-Use-Verordnung – erstma-
        liges Inkrafttreten 1994, grundlegende Überarbeitung
        27294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        2009 – stammen. Es ist also an der Zeit, den Definitions-
        katalog zu überarbeiten. Einige Begriffe entfallen ganz,
        und einige werden sprachlich vereinfacht.
        „Fremde Wirtschaftsgebiete“, um ein Beispiel zu nen-
        nen, hat der Teilung Deutschlands Rechnung getragen.
        Künftig sollen die Begriffe „In- und Ausland“ verwendet
        werden.
        Auch sollen AWG und AWV besser und übersicht-
        licher strukturiert werden. Ein Beispiel: Die außenwirt-
        schaftsrechtlichen Einfuhrverfahrensvorschriften finden
        sich derzeit sowohl im AWG als auch in der AWV. Im
        Interesse der Übersichtlichkeit werden sie nunmehr ein-
        heitlich in der AWV geregelt und damit an die Ausfuhr-
        verfahrensvorschriften angeglichen.
        Sie sehen, es geht hier nicht um eine grundlegende
        Änderung der Inhalte, etwa um laxere Ausfuhrbestim-
        mungen, wie teils fälschlicherweise in der Presse be-
        hauptet und skandalisiert, sondern vor allem um eine
        Anpassung an die moderne Begrifflichkeit und eine
        schlankere Fassung der Bestimmungen, die gleichzeitig
        eine Präzisierung ist, weil viele Rechtsvorschriften nicht
        mehr mühsam aus jeweils anderen Gesetzen abgeleitet
        werden müssen, sondern sich eindeutig im AWG finden.
        Vergleicht man Außenwirtschaftsgesetz alt und neu, so
        wird klar, dass sich in der Sache nur wenig ändert.
        Ich war sehr enttäuscht, dass Teile der Opposition ab-
        sichtlich, zumindest aber durch Nachlässigkeit falsche
        Behauptungen über laxere Rüstungskontrollen durch das
        neue AWG verbreitet haben, die explizit nicht vorgese-
        hen sind.
        Denn das AWG geht weit über Rüstung hinaus, und
        der Bereich Rüstung innerhalb des AWG bleibt völlig
        unberührt von der Überarbeitung. Ich sage es noch ein-
        mal: Die Überarbeitung des Außenwirtschaftsrechts
        sieht keinerlei Erleichterungen für den Export von Rüs-
        tungsgütern vor. Insofern ist es gelinde gesagt verwun-
        derlich, wenn das Magazin Der Spiegel in seiner Aus-
        gabe vom 16. Juli 2012, Ausgabe 29/2012, Seite 16, mit
        dem irreführenden Titel „Rüstungsexporte: Deutsche
        Waffen für die Welt“ behauptet, die Bundesregierung
        wolle mit der Gesetzesnovellierung „den Export von
        Waffen und Rüstungsgütern vereinfachen“. Davon kann
        keine Rede sein. Kriegswaffenkontrollgesetz, Rüstungs-
        exportrichtlinien der Bundesregierung und der Gemein-
        same Standpunkt verändern sich nicht.
        Es bleibt zu hoffen, dass man sich zwischenzeitlich
        ernsthaft mit dem Inhalt des Entwurfs vertraut gemacht
        hat. Denn die Inhalte der bestehenden Verbote und Ge-
        nehmigungsinhalte bleiben dieselben. Die vorliegende
        Gesetzesmodernisierung führt nicht dazu, dass sich Rüs-
        tungsgüter aus Deutschland leichter exportieren lassen.
        Was in der Tat entfällt, sind überholte Ermächtigungs-
        grundlagen, die seit Inkrafttreten des Gesetzes schlicht
        nie genutzt wurden. Gerne gebe ich Ihnen ein Beispiel:
        Nach § 17 AWG können Rechtsgeschäfte über die Ver-
        breitung ausländischer Filme und anderer audiovisueller
        Werke beschränkt werden, um die deutsche Filmwirt-
        schaft zu schützen. Die Beschränkungen hatten keinen
        außenwirtschaftsrechtlichen, sondern einen industrie-
        politischen Hintergrund. Von der Ermächtigungsgrund-
        lage wurde noch nie Gebrauch gemacht. Sie ist auch
        nicht nötig.
        Wichtige Grundlagen, wie beispielsweise der soge-
        nannte Einzeleingriff, §§ 6, 7 AWG-Novelle, bleiben er-
        halten. Nach wie vor können also Lieferungen, die nach
        dem geltenden Recht legal wären, durch einen Ein-
        zeleingriff gemäß § 6, ehemals § 2 Abs. 2 AWG, unter-
        sagt werden, um bestimmte Gefahren abzuwenden, zum
        Beispiel für die auswärtigen Beziehungen Deutschlands.
        Die Voraussetzungen einer solchen Ausfuhrbeschrän-
        kung in Form eines Verwaltungsakts soll durch die Ge-
        setzesnovelle auch für den Seeverkehr außerhalb des
        deutschen Küstenmeers konkretisiert werden, § 7 AWG-
        Novelle.
        Zusätzlich zu der Anpassung an die moderne Termi-
        nologie sind einige inhaltliche Änderungen im Bereich
        der Straf- und Bußgeldbewehrungen vorgesehen, die ich
        Ihnen gerne noch einmal erläutere:
        Bislang fiel es schwer, zwischen dem Tatbestand ei-
        ner Ordnungswidrigkeit und dem einer Straftat zu unter-
        scheiden. Die bisherigen Straf- und Bußgeldbewehrun-
        gen sind schwer verständlich, weil sie an unbestimmte
        Rechtsbegriffe anknüpfen. Verstöße gegen bestimmte Ge-
        nehmigungserfordernisse werden zu Straftaten, wenn sie
        geeignet sind, die „auswärtigen Beziehungen der Bun-
        desrepublik Deutschland“ erheblich zu gefährden, § 34
        Abs. 2 AWG Dies ist eine schwammige Formulierung.
        Die Rechtsprechung hat die Bestimmungen aus gutem
        Grund kritisiert: Es sei für den Adressaten schwer er-
        kennbar, wann er sich strafbar machen könne, weil nicht
        immer klar sei, in welchen Fällen das Auswärtige Amt
        diesen Tatbestand bescheinige. Deshalb seien die gelten-
        den Straf- und Bußgeldbewehrungen „am Rande der
        Verfassungswidrigkeit“.
        Ich halte es daher für richtig, dass die Novelle auf un-
        bestimmte Rechtsbegriffe in der Zukunft verzichten soll.
        Die Straf- und Bußgeldbewehrungen werden in der No-
        velle klarer als bisher am Grad der Vorwerfbarkeit aus-
        gerichtet. Mit anderen Worten, vorsätzliche Verstöße ge-
        gen bestimmte Verbote und Genehmigungserfordernisse,
        die bisher als Ordnungswidrigkeiten behandelt werden,
        sollen zukünftig als Straftaten bewertet werden.
        Auch hier bietet sich ein kurzes Beispiel zum besse-
        ren Verständnis an: Die ungenehmigte Ausfuhr von Waf-
        fen wird als Straftat geahndet. Das ist bisher so, und das
        wird auch so bleiben. Nach dem vorliegenden Gesetz-
        entwurf wird aber auch die ungenehmigte Ausfuhr zivi-
        ler Güter, die für militärische Zwecke missbraucht wer-
        den können, eine Straftat, wenn der Täter vorsätzlich
        handelt, § 18 AWG-Novelle. Damit ist die klare Bot-
        schaft verbunden: Wer sich bewusst über das Außenwirt-
        schaftsrecht hinwegsetzt, handelt nicht nur ordnungs-
        widrig, er macht sich vielmehr strafbar.
        Eine Ahndung von Ordnungswidrigkeiten als Straf-
        taten soll hingegen nicht mehr möglich sein. Der Ge-
        setzentwurf – mit Ausnahme von Verstößen gegen Waf-
        fenembargos – verzichtet auf eine Strafbewehrung
        fahrlässigen Handelns, das heißt von Verstößen gegen
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27295
        (A) (C)
        (D)(B)
        die erforderliche Sorgfalt. Der Grund hierfür ist ein-
        leuchtend: Mitarbeiter exportierender Unternehmen sol-
        len nicht kriminalisiert werden, wenn sie sich rechtstreu
        verhalten wollen, ihnen aber versehentlich ein Arbeits-
        fehler unterläuft. Gerade bei Unternehmen, die automati-
        sierte Kontrollverfahren eingerichtet haben, kann es zu
        versehentlichen Verstößen im Bereich der Ordnungswid-
        rigkeiten kommen. In diesen Fällen ist die Verhängung
        eines Bußgeldes gegen das Unternehmen die angemes-
        sene Sanktion.
        Nach dem Struck‘schen Gesetz, dass kein Gesetz den
        Bundestag so verlässt, wie es ihn erreicht hat, wurde
        auch diese Vorlage der Bundesregierung im Wirtschafts-
        ausschuss verändert. Wir haben im § 22 einen Absatz 4
        eingefügt, der die Möglichkeit eröffnet, von der Verfol-
        gung einer Ordnungswidrigkeit abzusehen, wenn ein
        Verstoß im Wege der Eigenkontrolle aufgedeckt und der
        zuständigen Behörde angezeigt wurde sowie angemes-
        sene Maßnahmen zur Verhinderung eines Verstoßes aus
        gleichem Grund getroffen werden. Für Unternehmen
        entsteht so der Anreiz, durch firmeninterne Compliance-
        Maßnahmen und freiwillige Meldungen an die Behörden
        zur Aufdeckung und Behebung von Verstößen beizutra-
        gen. Wir waren dabei natürlich der Meinung, dass genau
        dieser Sachverhalt von den Behörden überprüft werden
        kann. Gerade für kleinere Unternehmen kann diese Re-
        gelung aber vereinfachend wirken und dabei das Kon-
        trollniveau sogar erhöhen.
        Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass Verstöße
        gegen Waffenembargos verschärft werden. Eine Liefe-
        rung von Rüstungsgütern in ein Embargoland, oder die
        Vermittlung eines solchen Geschäfts wird als Verbrechen
        bestraft. Festzuhalten ist: Die Strafbewehrungen für vor-
        sätzliche Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht
        werden deutlich verschärft.
        Erlauben Sie mir, auch kurz auf den Bereich der Ge-
        setzesnovelle einzugehen, der die Überarbeitung der
        AWV betrifft. Ich meine die Genehmigungserfordernisse
        für Güter mit doppeltem Verwendungszweck, den soge-
        nannten Dual-Use-Bereich. Gemeint sind damit Export-
        güter, die für zivile, gegebenenfalls aber auch für militä-
        rische Zwecke eingesetzt werden können.
        Meine Damen und Herren, sehr verehrte Kollegen
        von der Opposition, es handelt sich um deutsche Sonder-
        vorschriften aus einer Zeit, als es noch keine vergleich-
        baren Bestimmungen im europäischen Recht gab. Mitt-
        lerweile sind sie durch korrespondierende europäische
        Vorschriften überlagert. Das Nebeneinander der europäi-
        schen und deutschen Genehmigungserfordernisse mit
        weitgehend identischem Regelungsgehalt führt nicht zu
        einer verbesserten Exportkontrolle, sondern nur zu einer
        bürokratischen Belastung der Unternehmen und zu Wett-
        bewerbsnachteilen gegenüber ihren europäischen Kon-
        kurrenten.
        Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Welche
        Dual-Use-Güter gelistet sind, ist im deutschen Recht in
        der Ausfuhrliste geregelt. Diese erfasst neben den europa-
        weit gelisteten Gütern auch Güter, die nur in Deutsch-
        land gelistet sind – sogenannte 900er-Listenpositionen –:
        Häufig sind die nationalen Listungen auf Einzelfallent-
        scheidungen – durch Einzeleingriff gemäß § 2 Abs. 2
        AWG – zurückzuführen. Viele dieser gelisteten Güter
        sind veraltet bzw. haben ihre Praxisrelevanz verloren.
        Aus diesem Grund wird die deutsche Güterliste gekürzt.
        Zudem wird auf die Wiedergabe der Güter der Dual-
        Use-Verordnung verzichtet; denn diese Güter sind ohne-
        hin von der vorrangig geltenden EG-Dual-Use-Güter-
        VO erfasst.
        Sie sehen also, dass die vorliegende Novelle deutlich
        in die Klasse der Weiterentwicklung effizienten Regie-
        rens in Deutschland einzuordnen ist. Dies hat im Übri-
        gen auch deutlich die überwiegend positive Resonanz
        von Fachleuten aus Wirtschaft und Wissenschaft wäh-
        rend der öffentlichen Anhörung des Wirtschaftsaus-
        schusses am 10. Dezember ergeben.
        Auch Fachmagazine finden positive Worte für die
        Novelle: So lobt der DIHK die Erleichterung für deutsche
        Unternehmen. Die AW-Prax spricht von „übersichtlicheren
        und für den Nutzer freundlicheren“ Vorschriften, die je-
        doch „keineswegs dazu führen, dass sich insbesondere
        Rüstungsexporte einfacher gestalten als bisher“ – ver-
        gleiche AW-Prax, August 2012, Seite 255. Im Gegenteil,
        mit der AWG-Novelle sorgt die Bundesregierung für
        klare Regeln sowie fairen Wettbewerb für die export-
        orientierte deutsche Wirtschaft, die ich gerne zu unter-
        stützen bereit bin.
        Ich bedanke mich bei den Mitberichterstattern, den
        Mitarbeitern des BMWi sowie bei den Sachverständi-
        gen, die durch ihre Beiträge und Diskussionen wesent-
        lich zu einem gemeinsamen Verständnis und einem gu-
        ten Ergebnis beigetragen haben.
        Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Die Novelle des
        Außenwirtschaftsgesetzes, AWG, ist ein wichtiger
        Schritt zur Stärkung des Exportstandortes Deutschland,
        insbesondere für unsere kleineren und mittleren Unter-
        nehmen. Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht nicht
        um die Lockerung der Regeln für Rüstungsexporte. Dies
        ist eine unseriöse Behauptung. Die Novelle sieht keiner-
        lei Erleichterungen für den Export von Rüstungsgütern
        vor. Die unter Rot-Grün beschlossenen „Politischen
        Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
        Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem
        Jahr 2000 gelten unverändert.
        Wir aktualisieren heute ein Gesetz aus dem Jahr 1962.
        Das AWG und die Außenwirtschaftsverordnung, AWV,
        wurden in den vergangenen Jahrzehnten sehr häufig ge-
        ändert und gleichen einem Flickenteppich; eine separate
        Überarbeitung der AWV erfolgt noch.
        Wir führen das bewährte deutsche Außenwirtschafts-
        recht fort, es ist aber ein zentrales Anliegen der christ-
        lich-liberalen Koalition: das Außenwirtschaftsrecht ver-
        einfachen, Rechtssicherheit für Anwender gewährleisten
        und deutsche Sondervorschriften aufheben, um deutsche
        Exporteure gegenüber ihren europäischen Konkurrenten
        nicht zu benachteiligen, Stichwort „level playing field“.
        Der Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit bleibt erhal-
        ten. In der Anhörung des Wirtschaftsausschusses be-
        27296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        scheinigten alle Experten dem neuen Gesetz, ein sehr
        modernes und praktikables zu sein.
        Es geht also um eine Vereinfachung und eine über-
        sichtlichere Gestaltung des AWG. Wir nehmen eine Neu-
        strukturierung und Verschlankung vor, heben überholte
        Vorschriften auf, neben der Anpassung an europarechtli-
        che Vorgaben ist die sprachliche Vereinfachung ein we-
        sentliches Ziel. Die Anzahl der Paragrafen wird fast hal-
        biert.
        Insbesondere im EU-Recht ist eine Anpassung an die
        Entwicklung seit 1962 (!) dringend geboten. In dieser
        Zeit hat die EU beträchtliche Kompetenzen gewonnen,
        die Stichworte lauten „Binnenmarkt“, „Kapitalmarkt“,
        „gemeinsame Handelspolitik“ etc. Wir nehmen eine Ver-
        einfachung und Abschaffung bestimmter Begriffe vor.
        So ist beispielsweise der Begriff „fremde Wirtschaftsge-
        biete“ als Bezeichnung für die ehemalige DDR nicht
        mehr notwendig. Aus „Datenverarbeitungsprogrammen“
        wird der gängige Begriff „Software“.
        Die Stellungnahme der Nationalen Normenkontrollra-
        tes, NKR, gibt uns recht: „Gleichwohl leistet das Rege-
        lungsvorhaben einen wichtigen Beitrag zur Rechts- und
        Verwaltungsvereinfachung. Im Rahmen seines gesetzli-
        chen Prüfauftrags begrüßt der Nationale Normenkon-
        trollrat das Regelungsvorhaben.“
        Weiterhin fassen wir die Straf- und Bußgeldvorschrif-
        ten neu. Vorsätzliche Verstöße, zum Beispiel gegen Waf-
        fenembargos sollen künftig härter geahndet werden. An-
        dere fahrlässige Verstöße sollen dagegen nicht mehr als
        Straftat, sondern nur noch als Ordnungswidrigkeit ge-
        ahndet werden. Nationale Sondervorschriften zu den
        Dual-Use-Gütern schaffen wir ab. Sie sind unnötig, da
        hier bereits eine Regelung im EU-Recht existiert. Die
        bisherigen Bestimmungen sehen – in anderen EU-Län-
        dern nicht geltende – zusätzliche Genehmigungserfor-
        dernisse für Dual-Use-Güter innerhalb der EU vor. Sie
        stammen aus einer Zeit, als es noch keine einheitlichen
        europäischen Regelungen gab. Die inzwischen einge-
        führte EG-Dual-Use-Verordnung regelt nunmehr die ein-
        heitliche und umfassende Kontrolle von Dual-Use-Gü-
        tern durch alle EU-Mitgliedstaaten. Damit haben die
        deutschen Sondervorschriften ihre Bedeutung verloren,
        zumal sie einen nicht unerheblichen bürokratischen Auf-
        wand für die betroffenen Unternehmen verursachen und
        damit einen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen eu-
        ropäischen Unternehmen darstellten.
        Ein wesentliches Ergebnis der parlamentarischen Be-
        ratung ist die Neuregelung der Selbstanzeige. Es gibt
        künftig die Möglichkeit einer „Selbstanzeige“ von Un-
        ternehmen bei einem fahrlässigen Verstoß gegen Melde-
        pflichten bei Ausfuhren in § 22 Abs. 4 (neu) AWG. In
        diesem Fall finden keine weiteren Sanktionen im Ord-
        nungswidrigkeitenrecht statt, die nicht bei Straftatbe-
        ständen gilt.
        Voraussetzungen sind einfach. Der Verstoß muss im
        Wege der Eigenkontrolle innerhalb des Unternehmens
        aufgedeckt und der Behörde angezeigt werden. Es sind
        Maßnahmen zur Verhinderung eines weiteren Verstoßes
        aus dem gleichem Grund zu treffen. Beim Status quo in
        der Verwaltungspraxis könnten bereits kleine Formfeh-
        ler, die im Zuge des firmeninternen Compliance-Ma-
        nagements aufgedeckt und gemeldet werden, Anlass für
        weitreichende Prüfungen und langwierige, potenziell ko-
        stenträchtige Verfahren – drohende Ordnungsgelder von
        bis zu 500 000 Euro pro Verstoß – sein. Dies wider-
        spricht zunehmenden Compliance-Bestrebungen, die ge-
        rade einen Anreiz für die Unternehmen schaffen sollen,
        durch firmeninterne Maßnahmen und freiwillige Mel-
        dungen an die Behörden zur Aufdeckung und Behebung
        von Fehlern beizutragen. Dadurch werden auch die
        staatlichen Stellen entlastet, und wir setzen gezielte An-
        reize für die Selbstkontrolle innerhalb der Unternehmen.
        Ich komme also zu dem Fazit, dass wir hier beträchtli-
        che Erleichterungen gerade für kleinere und mittlere Un-
        ternehmen beschließen, die über keine eigene Rechtsab-
        teilung verfügen oder teure Anwaltskanzleien bezahlen
        können. Dies wurde auch in der Anhörung des Wirt-
        schaftsausschusses bestätigt. Wir erreichen eine
        Entschlackung und Modernisierung des Außenwirt-
        schaftsrechts. Wir schaffen Erleichterungen und Rechts-
        sicherheit gerade für den Mittelstand. Die Neufassung
        der Außenwirtschaftsverordnung muss nun zügig erfol-
        gen, um das Gesetzeswerk zu komplettieren
        Diesem Gesetz kann man nur zustimmen.
        Rolf Hempelmann (SPD): Die Bundesregierung hat
        uns einen Gesetzentwurf zur Modernisierung des Au-
        ßenwirtschaftsrechts vorgelegt, mit welchem sie das Au-
        ßenwirtschaftsgesetz vereinfachen und vor allem moder-
        nisieren will. Unbenommen, die Anzahl der Vorschriften
        wurde verringert, die Grundstruktur blieb.
        Wie die Sachverständigenanhörung zum Außenwirt-
        schaftsrecht Anfang Dezember ergab, ist jedoch die
        Handhabung des Gesetzes nicht verbessert worden. Das
        Außenwirtschaftsgesetz bleibt nach Aussage der Wirt-
        schaft hinreichend kompliziert, und die Erwartungen der
        Wirtschaft sind daher eher gedämpft.
        Grundsätzlich eröffnet eine Modernisierung des Au-
        ßenwirtschaftsgesetzes die Chance, die Vorgaben aus
        dem EU-Verhaltenskodex und der gemeinsamen Posi-
        tion in deutsches Recht zu übernehmen und so das Ge-
        setz an zivilgesellschaftliche und europäische Entwick-
        lungen anzupassen. Hierbei geht es insbesondere um die
        Kriterien aus den „Politischen Grundsätzen der Bundes-
        regierung für den Export von Kriegswaffen und sonsti-
        gen Rüstungsgütern“ und aus dem Gemeinsamen Stand-
        punkt des Rates vom 8. Dezember 2008 betreffend
        gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von
        Militärtechnologie und Militärgütern.
        Zwar gelten diese Kriterien schon jetzt verbindlich,
        sind aber nicht gesetzlich geregelt. Ihr eigener Sachver-
        ständiger sagte in der Anhörung, „unter dem Gesichts-
        punkt der Bestimmtheit gesehen …, hätte das dann viel-
        leicht einen höheren Stellenwert“, und bezog sich auf die
        Einbeziehung dieser Kriterien. Kriterien wie zum Bei-
        spiel die Beachtung von Menschenrechten in Empfän-
        gerländern deutscher Rüstungsgüter sowie die Förde-
        rung von Frieden und Freiheit in der Welt hätten
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27297
        (A) (C)
        (D)(B)
        Gesetzesrang. Und in anderen europäischen Ländern ist
        es kein Problem, die Regelungen aus dem Gemeinsamen
        Standpunkt in innerstaatliche Gesetze aufzunehmen.
        Bisher lehnten die Bundesregierung und die sie stüt-
        zenden Koalitionsfraktionen die Aufnahme der Vorga-
        ben aus den Politischen Grundsätzen und dem Gemein-
        samen Standpunkt mit der Begründung ab, dies würde
        das Außenwirtschaftsgesetz überfrachten. Die SPD hat
        im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie einen Vor-
        schlag gemacht, wie die Kriterien aus den Politischen
        Grundsätzen und dem Gemeinsamen Standpunkt in das
        Außenwirtschaftsgesetz integriert werden könnten. Die-
        sen Änderungsvorschlag haben Sie mit der Mehrheit der
        Koalitionsfraktionen aus fadenscheinigen Gründen ab-
        gelehnt: Die Kriterien würden ja schon verbindlich gel-
        ten, war ein Argument. Außerdem würde ein solcher
        Verweis – so verstehe ich Ihre Anmerkungen im Wirt-
        schaftsausschuss – für alle Güter, die unter das Außen-
        wirtschaftsgesetz fallen, gelten. Sie haben sich nicht
        ausreichend mit unserer Intention und der Gesetzessyste-
        matik beschäftigt. Das Außenwirtschaftsrecht gilt für
        alle Außenwirtschaftsgüter, die keine Kriegswaffen nach
        dem Kriegswaffenkontrollgesetz sind, somit auch für an-
        dere Rüstungsgüter und Dual-Use-Güter. Auf diese Gü-
        ter kann und sollte ein solcher Verweis beschränkt wer-
        den. Einen anderen Vorschlag, wie die Kriterien ins
        Gesetz aufgenommen werden könnten, sind Sie bislang
        schuldig geblieben. Wir fordern Sie jetzt noch einmal
        auf – das können Sie auch in unserem Entschließungsan-
        trag lesen –, diese Kriterien in das Außenwirtschaftsge-
        setz aufzunehmen.
        Kommen wir zu einem weiteren Punkt: Einzelne Rüs-
        tungsexportentscheidungen der Bundesregierung haben
        in der vergangenen Zeit wiederholt Diskussionen und
        Kritik ausgelöst. Dabei zeigt sich auch, dass es an einer
        entsprechenden parlamentarischen Beteiligung und
        Transparenz fehlt, die gerade der Bedeutung und Brisanz
        der Entscheidungen angemessen wäre. Darüber hinaus
        werden Rüstungsexportberichte verspätet vorgelegt, der
        Bericht für 2010 zum Beispiel lag erst circa zwei Jahre
        später vor. Dies ist nicht haltbar. Die SPD fordert eine
        feste Frist zur Vorlage des Rüstungsexportberichts.
        Diese Forderung ist nicht neu. Anfang 2012 hat die
        SPD-Bundestagsfraktion diese Forderung mit anderen in
        einen Antrag gegossen. Bei der Erarbeitung der Novelle
        zum Außenwirtschaftsgesetz hätte man durchaus darauf
        stoßen können. Darüber hinaus fordern wir inhaltliche
        Vorgaben für den Rüstungsexportbericht im Gesetz. Im
        Gegensatz zu Deutschland ist das woanders in Europa,
        wie zum Beispiel in Spanien, durchaus üblich.
        Kommen wir zu den tatsächlichen Ausfuhren: Bei
        Exporten wird vermerkt, dass und welche Exportgeneh-
        migung vorliegt. Es besteht derzeit aber keine Übersicht
        über die Höhe der real getätigten Exporte. Dabei geht es
        um das Ausschöpfen von Exportgenehmigungen. Die
        SPD-Bundestagsfraktion fordert daher eine gesetzlich
        verankerte Informationspflicht der Unternehmen über
        getätigte Exporte, welche es der Bundesregierung er-
        möglicht, für alle Rüstungsgüter Zahlen über tatsächli-
        che Ausfuhren vorzulegen. Eine solche Erhebung vorzu-
        nehmen, ist auf europäischer Ebene schon angeregt
        worden und wird zum Beispiel in Schweden seit Jahren
        praktiziert.
        Schließlich sind der Entschlackung die deutschen
        Sondervorschriften zur Ausfuhr von Dual-Use-Gütern
        zum Opfer gefallen. Begründet wird diese Aufhebung
        mit der Geltung der europäischen Dual-Use-Verordnung,
        dem bürokratischen Aufwand für die betroffenen Unter-
        nehmen und dem Wettbewerbsnachteil gegenüber Wett-
        bewerbern aus anderen Mitgliedstaaten. Nur, warum
        bleiben sie aber auf europäischer Ebene untätig? Die
        SPD-Bundestagsfraktion sieht eine große Aufgabe darin,
        in Europa auf politischer und operationeller Ebene ver-
        stärkt und innereuropäisch zusammenzuarbeiten. Sie
        nutzen Europa nur als Grund zur Aufhebung der Sonder-
        vorschriften und bleiben ansonsten untätig.
        Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen Entschlie-
        ßungsantrag eingebracht. Darin fordern wir die Bundes-
        regierung auf, ihren Gesetzentwurf zum Außenwirt-
        schaftsrecht noch einmal zu überarbeiten. Die
        wichtigsten Gründe habe ich schon genannt. Die SPD-
        Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf, so wie er
        derzeit vorliegt, nicht zustimmen.
        Ulla Lötzer (DIE LINKE): Würde es im vorliegenden
        Gesetzentwurf zur Modernisierung des Außenwirt-
        schaftsrechts allein um die „Entschlackung“ und sprach-
        liche Verbesserungen sowie die Anpassung an europäi-
        sche Entwicklungen gehen, könnten wir dem Entwurf
        möglicherweise zustimmen. Aber wie oft steckt der Teu-
        fel im Detail. Zwar hat die die Fülle der Änderungen
        nicht die Grundstruktur des Außenwirtschaftsgesetzes,
        AWG, geändert. Aber hier liegt das Problem und setzt
        unsere Kritik an. Denn wie bislang wird der Export von
        Dual-Use-Gütern und Rüstungs- und Kriegswaffen nicht
        ausreichend reguliert, begrenzt und damit verhindert.
        Uns ist klar, dass das AWG einen viel breiteren Gel-
        tungsbereich als Rüstungsexporte und Dual-Use-Güter
        umfasst. Fakt ist jedoch auch, dass das AWG und seine
        zugehörige Verordnung sowie das Kriegswaffenkontroll-
        gesetz die zentralen Gesetze sind, die deutsche Rüs-
        tungsexporte im weiteren Sinne maßgeblich ermögli-
        chen. Der vorgelegte Gesetzentwurf erleichtert in der
        Summe nun sogar den Export von Rüstungs- und Dual-
        Use-Gütern.
        Bisher gültige Restriktionen, die nach deutschem
        Recht vorgeschrieben waren, aber nach europäischem
        Recht nicht sind, entfallen. Beispielsweise kann laut al-
        tem AWG die Ausfuhr von Gütern beschränkt werden,
        die für die Entwicklung, Erzeugung oder den Einsatz
        von Waffen, Munitionen oder Kriegsgerät nützlich sind.
        Künftig soll dies nur noch für Güter gelten, die aus-
        drücklich für die Entwicklung, Erzeugung oder den Ein-
        satz von Waffen, Munitionen und Rüstungsgütern vorge-
        sehen sind. Das heißt, die Güter müssen explizit für
        diese Zwecke bestimmt sein. Damit wird zum einen eine
        deutlich größere Bandbreite von Gütern abgedeckt. Zum
        anderen wird der Exporteur aus der Verantwortung für
        die spätere Verwendung seiner Güter schlicht entlassen.
        27298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Ebenso sollen nach der Novelle des AWG die ohnehin
        weitreichenden und intransparenten Genehmigungen
        ohne Befristung erteilt werden. Die Befristung wäre
        zwar auch nach neuem Recht noch möglich, aber eben
        nicht länger zwingend notwendig. Entsprechend könnten
        Lieferungen für transnationale Rüstungskoproduktionen
        nun ohne zeitliches Limit genehmigt werden. Die Folge
        wäre ein maßgeblicher Kontrollverlust bei der Ausfuhr
        der betroffenen Güter.
        Schließlich sieht der Gesetzentwurf bei den Straf- und
        Bußgeldvorschriften zwar einige Verschärfungen, aber
        zugleich auch Erleichterungen vor. So muss etwa einem
        Exporteur von Rüstungsgütern künftig nachgewiesen
        werden, dass er vorsätzlich gegen die geltenden Gesetze
        gehandelt hat. Fahrlässige Verstöße gegen das AWG
        werden nur noch als Ordnungswidrigkeiten geahndet.
        Lediglich leichtfertige Verstöße gegen ein Waffen-
        embargo werden noch strafbewehrt.
        Im Gegenzug hat es die Koalition völlig versäumt, in
        die Novelle des AWG dringend notwendige Grenzen für
        den Export von Rüstungsgütern mit aufzunehmen. Im
        Entschließungsantrag der SPD wird in diesem Sinne die
        Aufnahme der „Politischen Grundsätze der Bundesregie-
        rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
        Rüstungsgütern“ angemahnt.
        Aber wie schon in der Debatte im Wirtschaftsaus-
        schuss angemerkt, würde dies nicht zur wirklichen Re-
        duktion oder zu dem Stopp der Rüstungsexporte in
        Kriegs- und Krisengebiete führen. Machen wir uns
        nichts vor: Die politischen Grundsätze sind allesamt un-
        verbindliche Absichtserklärungen ohne praktische Kon-
        sequenz. Nach wie vor erhalten deshalb Diktaturen und
        Regierungen, die schwere Menschenrechtsverletzungen
        zu verantworten haben, relativ problemlos Rüstungs-
        güter aus deutscher Produktion, wenn es denn dem au-
        ßenpolitischen Interesse entspricht. Und so erreicht der
        Export dieser Güter jedes Jahr ein neues Hoch. Deutsche
        Waffen und zugehörige Güter finden sich weltweit in
        steigenden Größenordnungen in allen Kriegs- und Kri-
        sengebieten.
        Die Interessen der deutschen Rüstungsindustrie auf
        dem schwer umkämpften Markt geben den Takt vor,
        nicht die Menschenrechte, insbesondere der Erhalt von
        Frieden. Daran werden auch die leider zahmen Forde-
        rungen der SPD nichts ändern, sollten sie ins AWG auf-
        genommen werden. Sie sind politische Kosmetik und
        dem schlechten Gewissen geschuldet – nicht mehr und
        nicht weniger.
        Aus diesen Gründen lehnen wir den vorliegenden Ge-
        setzentwurf der Bundesregierung ab und können den
        Entschließungsantrag der SPD ebenso wenig mittragen.
        Von beiden Seiten wurde explizit versäumt, über klare
        Verbote des Exports von Rüstungsexporten und entspre-
        chende Dual-Use-Güter die bisher für unzählige Men-
        schen tödliche deutsche Genehmigungspraxis bei Waffen-
        ausfuhren nachdrücklich und wirksam zu unterbinden.
        Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute
        Morgen haben wir noch darüber diskutiert, was man
        alles bei Rüstungsexporten ändern muss, und schon am
        gleichen Abend bietet sich eine Gelegenheit, die neu ge-
        wonnenen Erkenntnisse in Taten umzusetzen. Wir soll-
        ten den Gesetzentwurf an den Ausschuss zurücküber-
        weisen und gründlich überarbeiten. Das würde dann
        auch zu den Verlautbarungen passen, mit denen einige
        Abgeordnete der Koalition neuerdings öffentlich von
        sich reden machen.
        Neben den Kollegen Stinner, Polenz und Kiesewetter
        hat nun auch der Kollege Djir-Sarai von der FDP
        Reformbedarf und mehr Transparenz bei der Rüstungs-
        exportkontrolle gefordert. Er kündigt noch in dieser
        Legislaturperiode einen Vorstoß für mehr Transparenz
        an. Hier wäre jetzt die Gelegenheit. Komisch nur, dass
        davon in diesem Gesetzentwurf nichts zu finden ist. Da-
        bei wäre das Außenwirtschaftsgesetz die richtige Stelle,
        um transparente Verfahren gesetzlich zu verankern.
        Zeitnahe Unterrichtung über Rüstungsexporte? Ein-
        bindung des Bundestages bei sensiblen Exporten? Oder
        gar eine gesetzliche Bindung an menschenrechtliche
        Kriterien? Von alldem keine Spur. Nichts davon findet
        sich in Ihrem Gesetzentwurf. Einen Änderungsantrag,
        der darauf abzielte, den „Gemeinsamen Standpunkt der
        EU zu Rüstungsexporten“ in das Gesetz zu integrieren,
        haben Sie mit Ihrer Mehrheit im Ausschuss abgeschmet-
        tert. Wie passt ein solches Verhalten mit Ihren öffentli-
        chen Äußerungen zusammen? Sie versprechen etwas
        und tun dann das genaue Gegenteil. Die Österreicher
        haben es uns gerade vorgemacht und den Gemeinsamen
        Standpunkt der EU in Sachen Rüstungsexporte in ihr
        nationales Außenwirtschaftsgesetz übernommen.
        Die formaljuristischen Bedenken aus dem deutschen
        Wirtschaftsministerium sind nicht wirklich überzeugend.
        Warum soll bei uns nicht möglich sein, was in anderen
        europäischen Ländern längst gemacht wird? Dem Ent-
        schließungsantrag der SPD stimmen wir daher gerne zu.
        Wir wollen, dass Parlament und Öffentlichkeit künftig
        vierteljährlich umfassend unterrichtet werden. Endver-
        bleibskontrolle soll bei uns auch tatsächliche Kontrolle
        vor Ort bedeuten und nicht nur ein Ehrenwort des Ver-
        käufers umfassen. Neben dem Gemeinsamen Standpunkt
        muss auch die Rüstungsexportrichtlinie gesetzlich
        verankert werden. Menschenrechtskriterien sollen so
        künftig verbindlich bei der Entscheidung berücksichtigt
        werden.
        Die Bundesregierung macht sich offensichtlich nur
        Sorgen um die Nöte der Rüstungsindustrie und möchte
        daher bewusst keine transparenten Verfahren. Deren
        Strukturprobleme sind virulent: Die Staatsverschuldung
        steigt, und die Einkaufslisten der westlichen Verteidi-
        gungsminister werden kürzer. Die Interessenten der
        Rüstungsindustrie kommen daher zunehmend aus Nicht-
        NATO- oder Nicht-EU-Staaten. Allein mit den eigenen
        Mitteln aus den westlichen Verteidigungsbudgets könnte
        die europäische Rüstungsindustrie niemals ausgelastet
        werden. Auch 20 Jahre nach dem Ende des Ost-West-
        Konflikts sind die Überkapazitäten viel zu groß. Um die
        heimische Rüstungsindustrie trotz knapper Kassen am
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27299
        (A) (C)
        (D)(B)
        Leben erhalten zu können, werden daher Exportwünsche
        der Firmen immer großzügiger beschieden.
        Dabei ist auch das wieder einmal eine denkbar kurz-
        sichtige Politik – nicht nur aus friedenspolitischer Sicht,
        sondern auch aus der Perspektive der exportierenden
        Industrie.
        Es führt kein Weg daran vorbei, die europäische – und
        mit ihr die deutsche – Rüstungsindustrie umfassend
        umzubauen. Es muss nicht jeder Staat die ganze Ferti-
        gungskette von militärischem Equipment vorhalten.
        Solch ein antiquiertes Souveränitätsverständnis muss
        endlich überwunden werden. Brauchen wir wirklich
        schon allein in Deutschland zwei große Hersteller für ge-
        panzerte Fahrzeuge? Wir brauchen stattdessen eine euro-
        päische Definition von Kernfähigkeiten, das heißt, wir
        müssen definieren, was militärisch gebraucht wird und
        was davon auch tatsächlich selbst entwickelt und her-
        gestellt werden muss. Wenn das geklärt ist, gilt es, den
        übrigen Betreibern konsequent Hilfestellung beim
        Umbau auf eine zivile Produktion zu leisten. Viele der
        jetzigen Rüstungsbetriebe verfügen bereits über zivile
        Sparten, die sie ausbauen könnten.
        Selbst Gewerkschaften wie die IG Metall haben sich
        hierüber bereits differenzierte Gedanken gemacht. Die
        80 000 betroffenen Arbeitnehmer müssen deswegen
        noch lange nicht auf der Straße stehen. Indem die Bun-
        desregierung aber stattdessen weiterhin auf großzügige
        Exportgenehmigungen setzt und sich einer restriktiven
        Genehmigungspraxis verweigert, gibt sie der Rüstungs-
        industrie falsche Anreize. Das Problem Ihres Gesetzes
        ist weniger das, was darin steht, als das, was nicht darin
        steht. Die Konkretisierung der Straftatbestände ist zwar
        durchaus begrüßenswert, die eigentliche Chance der Ge-
        setzesnovellierung ist damit allerdings nicht genutzt
        worden.
        Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bun-
        desminister für Wirtschaft und Technologie: Mit der
        Novellierung des Außenwirtschaftsrechts wird eine
        wichtige Zusage aus dem Koalitionsvertrag eingelöst.
        Unser Außenwirtschaftsrecht wird besser, indem die
        ausgesprochen komplexen Vorschriften vereinfacht wer-
        den. Dabei bleibt das hohe Kontrollniveau unangetastet.
        Deutschland ist eine Exportnation, und deshalb ist das
        Außenwirtschaftsrecht für uns so bedeutsam. Wir sind
        weltweit drittgrößter Exporteur von Waren. Deshalb ste-
        hen wir in einer besonderen Verantwortung: Kritische
        Güter dürfen nicht in falsche Hände gelangen. Eine ef-
        fektive Exportkontrolle setzt aber auch voraus, dass die
        Vorschriften verständlich sind. Wir dürfen unsere
        Exportunternehmen nicht mit unnötig komplizierten
        Vorschriften belasten, sondern wir müssen dafür sorgen,
        dass unsere hohen Standards in einen möglichst ver-
        ständlichen Rechtsrahmen gefasst werden.
        Warum brauchen wir diese Novelle? Unser Außen-
        wirtschaftsrecht ist bereits 1961 in Kraft getreten.
        Seitdem hat sich Europa kontinuierlich verändert. Die
        EU-Mitgliedstaaten haben ein gemeinsames EU-Export-
        kontrollrecht geschaffen.
        Aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen der
        Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten müssen
        unsere exportierenden Unternehmen daher sowohl euro-
        päisches als auch nationales Recht beachten. Das trägt
        zur Komplexität der Materie bei. Zu einer effektiven
        Exportkontrolle gehört auch, dass das Exportkontroll-
        system bei Bedarf an neue außen- und sicherheitspoliti-
        sche Gefährdungen angepasst wird. Das war und ist ein
        besonderes Anliegen des deutschen Gesetzgebers. Des-
        halb wurde das Außenwirtschaftsgesetz seit 1961 etwa
        60-mal geändert. Diese stetigen Überarbeitungen hatten
        ihren Preis: Unser Außenwirtschaftsrecht ist besonders
        unübersichtlich und schwer verständlich geworden.
        Das ändert sich jetzt. Mit der Novelle wird das AWG
        vereinfacht und übersichtlicher gestaltet. Die Experten
        haben dies in der Anhörung am 10. Dezember letzten
        Jahres bestätigt: Dieses Ziel erreichen wir, ohne die
        hohen Standards anzutasten.
        Worin besteht also diese Vereinfachung? Nach dem
        Entwurf wird das AWG massiv gekürzt. Es entfallen ei-
        nige Beschränkungsmöglichkeiten, die ausschließlich
        industriepolitisch motiviert waren. Es bleibt bei den
        klassischen außenwirtschaftsrechtlichen Beschränkun-
        gen. Diese bleiben unangetastet. Die Novelle führt daher
        nicht zu einer Vereinfachung beim Export von Rüstungs-
        gütern. Das spricht auch gegen den Entschließungs-
        antrag der SPD-Fraktion. Dieser würde das Gesetz nur
        unangemessen aufblähen und neue bürokratische Anfor-
        derungen einführen. Mit den Zielen der Novelle, ein ein-
        faches Außenwirtschaftsrecht zu schaffen, hat das nichts
        zu tun. Zudem wird die Achtung der Menschenrechte
        schon nach geltendem Recht bei der Genehmigungs-
        erteilung zwingend geprüft. Weiter wird das gesamte
        Außenwirtschaftsrecht sprachlich überarbeitet. Es werden
        Wertungswidersprüche zwischen dem europäischen Recht
        und dem deutschen Außenwirtschaftsrecht beseitigt.
        Schließlich möchte ich noch auf wichtige materiell-
        rechtliche Änderungen hinweisen. Mit der Novelle
        werden auch alle Straf- und Bußgeldbewehrungen über-
        arbeitet. Es bestehen Zweifel, ob die Strafbewehrungen
        nach dem geltenden AWG hinreichend bestimmt sind.
        Das hat die Rechtsprechung kritisiert. Zudem ist die
        Abgrenzung zwischen Straftaten und Ordnungswidrig-
        keiten sehr schwierig.
        Der Gesetzentwurf differenziert hier klar nach dem
        Grad der Vorwerfbarkeit: Vorsätzliche Verstöße gegen
        wesentliche Genehmigungserfordernisse oder Verbote
        sind immer Straftaten. Fahrlässig begangene Verstöße
        sind mit wenigen Ausnahmen Ordnungswidrigkeiten.
        Mit dieser Anpassung ist eine klare Botschaft verbun-
        den: Wer sich bewusst über das Außenwirtschaftsrecht
        hinwegsetzt, wird bestraft. Das führt bei Vorsatztaten zu
        einer Strafverschärfung im Vergleich zum Status quo.
        Bei fahrlässigen Verstößen sieht der Entwurf dagegen
        eine Erleichterung vor: Wenn dem Mitarbeiter eines
        exportierenden Unternehmens versehentlich ein Fehler
        unterläuft, wird er nicht kriminalisiert. Solche Mitarbei-
        ter wollen sich eigentlich rechtstreu verhalten. In diesen
        Fällen ist ein Bußgeld die angemessene Sanktion.
        27300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Lassen Sie mich zusammenfassen. Der Schwerpunkt
        der Novelle liegt auf der Rechtsbereinigung und Verein-
        fachung. Zudem gibt es eine deutliche Abgrenzung
        zwischen strafbarem und ordnungswidrigem Verhalten.
        Damit tragen wir zur Klarheit und Übersichtlichkeit des
        Gesetzes bei – im Interesse unserer Exportunternehmen
        und damit im Interesse Deutschlands.
        Anlage 9
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Reisen für alle – Für
        einen sozialen Tourismus (Tagesordnungs-
        punkt 14)
        Marlene Mortler (CDU/CSU): Ihr Antrag weist zu
        Recht darauf hin, dass die Teilhabe aller Bevölkerungs-
        kreise am Tourismus erklärtes Ziel der Bundesregierung
        ist. In den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundes-
        regierung vom Dezember 2008 heißt es: „Auch Men-
        schen mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen
        Einschränkungen sollen reisen können“. Das ist auch un-
        ser erklärtes Ziel. Es stimmt auch, dass die Bundesrepu-
        blik sich grundsätzlich für einen nachhaltigen sozialen
        Tourismus im Sinne der UNWTO-Menschenrechtskon-
        vention einsetzt, die das Recht auf direkten und persön-
        lichen Zugang zur Entdeckung und zu dem Genuss der
        Ressourcen des Planeten für alle Bewohner der Welt ge-
        währleisten soll. Hier ist aber eher die Reisefreiheit ge-
        meint.
        Ich gebe Ihnen recht, dass vielen Menschen das Geld
        fürs Reisen fehlt. Das beste Mittel dagegen ist eine ver-
        nünftige Wirtschaftspolitik, damit genügend Geld im
        Lohnbeutel ist.
        Wir sind auf gutem Weg: Gestern ging über den Ti-
        cker: Tarifgehälter 2012 deutlich um 2,7 Prozent gestie-
        gen. So weit so gut. Ehrlich gesagt fühle ich mich aller-
        dings ein wenig wie vor 14 Tagen: Damals haben wir an
        eben dieser Stelle einen Antrag Ihrer Fraktion zum
        Thema Schulspeisung für alle debattiert. Der Dissens
        zwischen uns von damals ist der von heute.
        Sie tischen munter wünschenswerte Wohltaten auf.
        Der Bund soll zahlen und koordinieren. Wir müssen uns
        aber nicht nur fragen, was wünschenswert ist, sondern
        auch: Was ist machbar? Und vor allem: Was leistet un-
        sere Bundesregierung auf diesem Gebiet bereits? Eini-
        ges! Und das, obwohl sie nach dem Grundgesetz nur den
        Rahmen festlegen darf. Denn, wie Sie wissen bzw. wis-
        sen sollten, fällt der Tourismus in die Zuständigkeiten
        der Bundesländer. Deshalb richten sich Ihre Forderun-
        gen an die falsche Adresse.
        Zunächst zu Ihrer Forderung, die Bundesregierung
        solle Mitglied in der Internationalen Organisation für
        Sozialtourismus, IOST, werden und dort aktiv mitarbei-
        ten: Die Forderung von Ihnen ist nicht neu. Wir haben
        Sie bereits am 24. Februar 2011 hier an dieser Stelle de-
        battiert. Damals wie heute lehne ich sie ab. Warum?
        Erstens. Ein möglicher Nutzen einer Mitgliedschaft
        Deutschlands in der bisher relativ unbekannten Interna-
        tionalen Organisation für Sozialtourismus ist nur schwer
        erkennbar. So sind zum Beispiel Praxisbeispiele anderer
        Staaten oder Perspektiven des Sozialtourismus auf euro-
        päischer Ebene schon Gegenstand des Projektes Calypso
        der Europäischen Kommission, auf das auch ausdrück-
        lich auf der Internetseite der IOST hingewiesen wird. In
        dieser Studie konnte nicht belegt werden, wie die darge-
        stellten Praktiken oder daraus abgeleitete mögliche euro-
        päische Programme sich wirtschaftlich auswirken. Die
        geplante Ausgestaltung von Calypso lässt die Entste-
        hung eines Subventionswettlaufs zwischen den Mit-
        gliedstaaten befürchten mit der Gefahr, dass sich fi-
        nanziell selbst tragende Angebotsstrukturen zugunsten
        subventionsabhängiger Strukturen verdrängt würden.
        Eine solche mögliche Entwicklung lehnen wir ab.
        Zweitens. Die Bundesregierung hat zu Recht darauf
        hingewiesen, dass es sich auch haushaltspolitisch nicht
        rechtfertigen ließe, mit staatlichen Mitteln den Urlaub
        bestimmter Bevölkerungsgruppen in anderen Mitglied-
        staaten zu finanzieren.
        Drittens. In der Mitgliederliste der IOST finden sich
        keine Regierungen, lediglich Ministerien einzelner Län-
        der. Aus Deutschland ist das Bundes Forum Kinder- und
        Jugendreisen dabei, das mit Mitteln des Kinder- und Ju-
        gendplans des Bundes gefördert wird.
        Sie fordern Reisezuschüsse für Hartz-IV-Empfänger.
        Es ist bekannt, dass Hartz-IV-Empfänger nach der Er-
        reichbarkeits-Anordnung keinen Anspruch auf Urlaub
        haben. Diese dürfen nur verreisen, wenn die Arbeits-
        agentur zustimmt; denn Arbeitslose müssen für kurzfris-
        tige Jobangebote zur Verfügung stehen. Zuschüsse zum
        Urlaub stehen Hartz-IV-Empfängern nicht zu. Kinder
        von Hartz-IV-Empfängern brauchen allerdings auf Klas-
        senfahrten nicht zu verzichten. Grundsätzlich ist die
        Unterstützung von Klassenfahrten Sache der Schulträ-
        ger; aber nach einer Reihe von Vorschriften wie SGB II,
        SGB III, BKGG, AsylbLG und auch für Familien mit ge-
        ringem Einkommen gibt es Zuschüsse für mehrtätige
        Klassenfahrten.
        Die Bundesregierung fördert zudem in erheblichem
        Umfang den Bau und die Einrichtung von Familienferi-
        enstätten, Jugendbildungs- und Begegnungsstätten, Ju-
        gendherbergen, die internationale Jugendarbeit im Rahmen
        des Kinder- und Jugendplans des Bundes sowie zum
        Beispiel den gezielten bilateralen Jugendaustausch über
        das Deutsch-Französische Jugendwerk und das Deutsch-
        Polnische Jugendwerk. Es ist sogar vorgesehen, das
        Budget für das DFJW für dieses Jahr um 1 Million Euro
        zu erhöhen.
        Darüber hinaus fördert der Bund Projekte der Natio-
        nalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo,
        und der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien,
        abm.
        Hier möchte ich gern auf das Projekt „Zukunfts-
        projekt Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“
        hinweisen. Dieses wurde auf Initiative der christlich-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27301
        (A) (C)
        (D)(B)
        liberalen Bundestagsfraktionen auf Betreiben des Bundes-
        wirtschaftsministeriums gerade auf den Weg gebracht.
        Auch die Länder engagieren sich: Sie unterstützen ge-
        ringverdienende Familien bei der Finanzierung gemein-
        samer Ferien zum Beispiel in gemeinnützigen Familien-
        ferienstätten durch Individualzuschüsse. Ich verweise an
        dieser Stelle auf neue vorbildliche Programme der Länder
        Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sowie „Familien-
        begegnung mit Bildung“, die Ferien für Familien, Sozial-
        hilfeempfänger anbieten, die nur sehr wenig oder nichts
        kosten und in die auch Hartz-IV-Empfänger einbezogen
        werden.
        Auf lokaler Ebene gibt es weitere Programme zur
        Kinder- und Jugenderholung zum Beispiel in Ferien-
        lagern, die über Jugendämter aus öffentlichen Mitteln
        finanziert werden, Unterstützung gibt es auch von freien
        Trägern und den Kirchen.
        Reisen lässt sich nicht von oben nach unten diktieren.
        Welche Möglichkeiten gibt es, preisgünstiges Reisen
        weiter zu fördern?
        Wir müssen uns nicht nur um mehr Zuschüsse küm-
        mern, sondern sollten dafür sorgen, dass das Angebot für
        günstige Quartiere und Reisen erweitert wird. Auch das
        ist aber Landessache bzw. eine kommunale Angelegen-
        heit: An diese Stelle appelliere ich, den Investoren preis-
        günstig Grundstücke oder vernünftige Liegenschaften
        zur Verfügung zu stellen oder eigene Grundstücke fürs
        Campen, wie zum Beispiel in Frankreich. Kommunen
        müssen Angebote vorhalten.
        Ich weiß, dass es zurzeit mehrere private Investoren
        gibt, die Platz zum Bauen von Hotels suchen. Dazu ge-
        hört aber ebenso die Bereitschaft des einheimischen
        Gast- und Hotelgewerbes, neue Hotels zuzulassen. Ich
        kenne aus der Praxis in Bayern durchaus Beispiele, wo
        neue Investoren bei den Einheimischen auf Granit gebis-
        sen haben.
        Was Ihre Forderung nach der Erhebung von statisti-
        schen Reisedaten zum Sozialtourismus betrifft, bin ich
        der Ansicht: Man sollte Daten erheben, die nicht nur den
        Sozialtourismus, sondern die gesamte demografische
        Entwicklung mit Blick auf das Reiseverhalten insgesamt
        im Fokus haben und die von Ihnen genannten Personen-
        gruppen um die der Migranten erweitern.
        Aus den oben genannten Gründen ist Ihr Antrag ins-
        gesamt abzulehnen.
        Ingbert Liebing (CDU/CSU): Der vorliegende An-
        trag kritisiert die Bundesregierung für die mangelnde
        Förderung eines sozialen Tourismus’ in Deutschland.
        Die Fraktion der Linken fordert, dass sich die Bundesre-
        gierung in diesem Bereich mehr engagiert und ein Pro-
        gramm zur Durchsetzung eines sozialen Tourismus’ vor-
        legt.
        Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Teilhabe aller Be-
        völkerungsgruppen am Tourismus ein wichtiges Thema.
        Dies bezieht sich unter anderem auf Menschen aller Al-
        tersgruppen, Personen mit geringem Einkommen oder
        Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Für all
        diese Gruppen bietet Tourismus einen wichtigen Zugang
        zu Erholung, Bildung und dem Kennenlernen anderer
        Umgebungen. Dies ist uns durchaus bewusst, und so ist
        die umfassende Teilhabe aller Menschen an touristischen
        Angeboten erklärtes Ziel der Bundesregierung. Und zu
        diesem Ziel stehen auch wir als CDU/CSU-Fraktion. Mit
        ihrem Antrag verliert die Linke dagegen aus den Augen,
        wie vielfältig „Tourismus für alle“ in Deutschland be-
        reits durch die Bundesregierung gefördert wird.
        Zunächst möchte ich auf eine generelle inhaltliche
        Schwäche des Antrags eingehen. Die Linke fordert die
        „Stärkung von Verantwortung und Kompetenzen des
        Bundes für einen sozialen Tourismus“. Gesetzlich ist
        aber festgelegt, dass Tourismusförderung primär eine
        Kompetenz der Länder ist. Ebenso wird die Wiederauf-
        nahme der Landesförderung für Familienreisen gefor-
        dert. Hier ist die Bundesregierung jedoch klar der fal-
        sche Adressat. Die Fraktion der Linken sollte sich
        zunächst einmal über die Kompetenzaufteilung der Bun-
        desrepublik informieren, bevor sie solche Forderungen
        stellt.
        Eine weitere konkrete Forderung bezieht sich auf die
        Bereitstellung von Mitteln im Rahmen der Regelbedarfs-
        sätze. Die Regelsätze im SGB II sind jedoch rechtssicher
        ausgestattet, vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.
        Darüber hinausgehende Wohltaten zu versprechen, mag
        für die Linken attraktiv sein – verantwortungsvoll ist das
        nicht angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidie-
        rung, der Schuldenbremse, aber auch angesichts des Ge-
        bots sozialer Gerechtigkeit. Je mehr wir für SGB-II-
        Bezieher bieten, umso mehr empfinden dies die Gering-
        verdiener, die knapp über der Einkommensgrenze lie-
        gen, also sozial ungerecht.
        Zudem wird der Kinder- und Jugendtourismus bereits
        in umfassender Weise durch die Bundesregierung unter-
        stützt. Das Jahr 2013 steht im Zeichen des von der Deut-
        schen Zentrale für Tourismus ausgerufenen Themenjah-
        res „Junges Reiseland Deutschland“. Für 2013 wird
        allein die DZT mit 28,275 Millionen Euro durch die
        Bundesregierung gefördert. Denn gerade für Kinder und
        Jugendliche haben Reisen eine große soziale und päda-
        gogische Bedeutung.
        So werden viele Projekte gefördert: Für Jugendbil-
        dungs- und Jugendbegegnungsstätten stehen auch in die-
        sem Jahr wieder 3 Millionen Euro zur Verfügung. Im
        Rahmen des Kinder- und Jugendplans stellt die Bundes-
        regierung für die Internationale Jugendarbeit 17,9 Mil-
        lionen Euro bereit. Ebenso erhält das Deutsch-Französi-
        sche Jugendwerk im Jahr 2013 Fördermittel in der Höhe
        von 11,226 Millionen Euro. Auch im 2012 begonnenen
        „Zukunftsprojekt Kinder- und Jugendtourismus in
        Deutschland“, dessen Trägerschaft das Deutsche Ju-
        gendherbergswerk innehat, fördert das BMWi die Ange-
        bote sowohl gemeinnütziger als auch kommerzieller An-
        bieter. Hier liegt das Gesamtbudget bei 325 000 Euro,
        Eigenanteil DJH 32 500 Euro.
        Positives Beispiel für die Förderung gemeinsamer
        Urlaube mit der gesamten Familie ist auch die Bundes-
        arbeitsgemeinschaft Familienerholung. Seit den 50er-
        Jahren werden in rund 120 Familienerholungsstätten in
        27302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        ganz Deutschland kostengünstige Urlaubsangebote ge-
        macht. Dabei richtet sich die Förderung unter anderem
        auch an alleinerziehende Elternteile, kinderreiche Fami-
        lien oder solche mit behinderten oder pflegebedürftigen
        Angehörigen. Diese gehören unter anderem zu den Be-
        völkerungskreisen, deren Förderung die Linke im vorlie-
        genden Antrag fordert.
        Doch auch außerhalb des Kinder- und Jugendtouris-
        mus’ setzt sich die Bundesregierung für eine verbesserte
        Teilhabe an touristischen Angeboten ein. Besonders
        durch barrierefreie Angebote können große Teile der Be-
        völkerung profitieren. Obwohl es hier schon viele posi-
        tive Beispiele gibt, müssen die Angebote noch ausge-
        weitet und verbessert werden. Dies geschieht zum
        Beispiel durch das Projekt „Tourismus für alle: Entwick-
        lungen und Vermarktung barrierefreier Angebote und
        Dienstleistungen in Deutschland“, welches die Bundes-
        regierung mit fast 500 000 Euro unterstützt. Zentrales
        Anliegen dieses Projektes ist es, den barrierefreien Tou-
        rismus zu erleichtern und die Teilhabe von Menschen
        mit Mobilitätseinschränkungen zu verbessern. Dies soll
        etwa durch einheitliche Qualitätsmerkmale oder die Sen-
        sibilisierung von Mitarbeitern geschehen.
        Zuletzt möchte ich auch auf die vielfältigen Urlaubs-
        formen hinweisen, die außerhalb der direkten Förderung
        der Bundesregierung günstigen, aber attraktiven Urlaub
        ermöglichen. Gerade in ländlichen Räumen werden be-
        sonders Familien, aber auch Senioren, Geringverdienern
        oder Menschen mit körperlichen Einschränkungen her-
        vorragende Urlaubsangebote gemacht.
        Ein letzter Punkt, der gegen diesen Antrag spricht und
        den ich besonders hervorheben möchte, betrifft die er-
        neut geforderte Mitgliedschaft in der International Orga-
        nisation of Social Tourism. Dieses Thema hatten wir erst
        vor zwei Jahren im Plenum auf der Tagesordnung und
        haben es sowohl hier als auch in den Ausschüssen inten-
        siv diskutiert. Schließlich wurde der dazugehörige An-
        trag aus gutem Grund abgelehnt. Neben allgemeinen for-
        malen Bedenken, nach denen die Beteiligung der
        Bundesrepublik in einer vornehmlich von Nichtregie-
        rungsorganisationen geprägten Organisation eher frag-
        würdig ist, sprach vor allem die umfassende Förderung,
        die die Bundesregierung in diesem Bereich schon vor-
        nimmt, gegen die Mitgliedschaft. Diese wäre nicht ziel-
        führend gewesen. Warum die Linke diesen bereits inten-
        siv diskutierten Punkt innerhalb so kurzer Zeit erneut auf
        die Tagesordnung setzt, ist mir nicht klar. Er spricht klar
        gegen den vorliegenden Antrag.
        Es ist offensichtlich, dass der vorliegende Antrag der
        Fraktion der Linken wenig hilfreich ist. Nicht nur, dass
        der Antrag die gesetzlich festgelegte Kompetenzauftei-
        lung von Bund und Ländern ignoriert; auch kommende
        Generationen werden uns dankbar sein, dass wir lang-
        fristig die Belastung durch einen ausgeglichenen Haus-
        halt gering halten, anstatt diesen durch Urlaubsförderung
        weiter hinauszuschieben.
        Die vielfältigen Angebote und Projekte, die die Bun-
        desregierung mit initiiert hat und fördert, zeigen deut-
        lich, wie sehr sie sich für den umfassenden Zugang aller
        Bevölkerungskreise zu touristischen Angeboten einsetzt.
        Dieses Engagement wird zusätzlich von einer großen
        Zahl an Initiativen der Länder und Kommunen komple-
        mentiert.
        Eine letze Anmerkung möchte ich aber gerade an die
        Adresse der Antragssteller der Fraktion Die Linke anfü-
        gen: Sie schreiben von einem Recht auf Tourismus. Als
        direkte Nachfolger der SED ist dies eine unglaubliche
        Dreistigkeit. Sie stehen in der Tradition derer, die ihr
        Volk in der damaligen DDR mit Mauer und Stacheldraht
        eingesperrt haben, in einem Land, in dem es kein Recht
        auf Tourismus und kein freies Reisen gab. Und Sie reden
        heute von einem solchen „Recht auf Tourismus“? Mit
        dieser Vergangenheit ist die Fraktion der Linken die al-
        lerletzte, die solche Forderungen stellen darf.
        Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Wir haben heute erneut
        die Gelegenheit, über ein wichtiges Thema zu sprechen.
        Sind Reisen und Urlaub für alle erschwinglich? Dabei
        geht es um die zentrale Frage, ob alle Menschen Chan-
        cen auf Teilhabe in unserer Gesellschaft erhalten. So bit-
        ter wie es ist: Dass wir in dieser Frage von der Regie-
        rung und den Koalitionsfraktionen keine Initiative
        erwarten können, dürfte in diesem Hause niemanden
        mehr überraschen. Erst gestern hat das Kabinett ent-
        schieden, den vierten Armuts- und Reichtumsbericht,
        auf den wir seit etlichen Monaten vergeblich warten,
        noch weiter hinauszuzögern und – ich nehme an – den
        Bericht noch stärker zu verwässern. Schwarz-Gelb will
        offensichtlich keine offene Debatte über die Entwick-
        lung von Arm und Reich in diesem Land. Beschämend
        ist das.
        Die Fraktion die Linke hat uns einen Antrag vorge-
        legt, der besagt: Alle Menschen sollen am Tourismus
        teilhaben können. Dafür setzt sich die SPD seit langem
        ein. Wir haben 2009 in den Tourismuspolitischen Leitli-
        nien der Bundesregierung festgelegt: „Auch Menschen
        mit gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Ein-
        schränkungen sollen reisen können.“ Die SPD-Fraktion
        hat in dieser Wahlperiode mehrere Initiativen für die
        Teilhabe am Tourismus ins Parlament gebracht. Vor al-
        lem Menschen mit Behinderungen finden noch viele
        Barrieren vor, die ihnen das Reisen unmöglich machen.
        Das müssen wir gemeinsam mit den Ländern und
        Kommunen ändern. Weg mit den Barrieren – reißen wir
        sie ein! Wir haben 2011 einen umfangreichen Maßnah-
        menkatalog für barrierefreien Tourismus in Deutschland
        vorgelegt. Schwarz-Gelb hat diesen leider abgelehnt.
        Teilhabe am Tourismus ist aber auch eine Frage von
        Arm oder Reich. Fest steht: Wir sind weit davon ent-
        fernt, dass sich jede Familie, Alleinerziehende mit Kin-
        dern und jeder Rentner eine Urlaubsreise leisten kann.
        Deshalb ist es richtig, Menschen, die aus eigener Tasche
        keinen Urlaub stemmen können, zu unterstützen. Wir
        wissen alle: Besonders Kinder und Heranwachsende
        profitieren von Reisen in ihrer Persönlichkeitsentwick-
        lung. Für Familien, die besonders wenig zum Leben
        haben und auf Arbeitslosengeld I oder Sozialhilfe ange-
        wiesen sind, springt der Staat für mehrtägige Klassen-
        fahrten der Kinder und Jugendlichen ein. So ist gesi-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27303
        (A) (C)
        (D)(B)
        chert, dass die Kinder nicht außen vor bleiben, wenn ihre
        Klasse verreist.
        Die SPD hat in den Hartz-IV-Verhandlungen Anfang
        2011 erreicht, dass auch eintägige Schulausflüge finan-
        ziert werden. Ebenso haben wir uns im Vermittlungsaus-
        schuss erfolgreich dafür eingesetzt, dass vom Bildungs-
        und Teilhabepaket auch Kinder aus Familien profitieren,
        die Kinderzuschlag und Wohngeld beziehen. Dadurch
        haben rund 500 000 Kinder und Jugendliche zusätzlich
        Anspruch auf die monatlichen 10 Euro, die auch für Fe-
        rienfreizeiten angespart werden können. CDU/CSU und
        FDP wollten das verhindern. Gut, dass Schwarz-Gelb im
        Bundesrat nicht mehr an der SPD vorbeikommt, schon
        gar nicht mehr nach dem tollen Wahlsieg von Stephan
        Weil in Niedersachsen.
        Wir haben auch die Berechnung der Regelsätze von
        Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Grundsicherung im
        Alter kritisiert. Frau von der Leyen rechnet zum Beispiel
        bei der dem Regelsatz zugrunde liegenden Auswertung
        der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die Ausga-
        ben für Beherbergungskosten einfach heraus. Auch
        durch andere „Tricks“ vermindert die Sozialministerin
        den Regelsatz künstlich. Verstecken, Tricksen, Aussit-
        zen – so sieht das Programm der Regierung Merkel aus.
        Die Linke spricht in ihrem Antrag die Finanzierung
        von Familienerholung und damit eine traurige Bilanz an:
        Mittlerweile haben sechs der sechzehn Bundesländer die
        Zuschüsse eingestellt. Dies sind vor allem Länder, wo
        Schwarz-Gelb noch regiert oder bis vor kurzem in Ver-
        antwortung war. 2011 haben CDU und FDP die Landes-
        zuschüsse auch in meinem Bundesland, Schleswig-Hol-
        stein, gestrichen. Nun führt die SPD die Regierung im
        schönen Norden. Ich hoffe, dass sich der Wind damit
        zwischen Nord- und Ostsee dreht und Reisen für Fami-
        lien mit geringem Einkommen wieder vom Land unter-
        stützt werden.
        Die Debatte zeigt aber auch: Es muss genügend preis-
        werte Urlaubsangebote geben. Diese stellen zum Beispiel
        das Jugendherbergswerk, die Bundesarbeitsgemeinschaft
        Familienerholung, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kir-
        chen, Naturfreunde und viele andere Einrichtungen be-
        reit. Die Linke fordert hier zu Recht mehr Investitionen.
        Denn viele Unterkünfte leiden unter einem Renovie-
        rungsstau. Dieser verstärkt sich noch, wenn die staatliche
        Förderung, so wie jetzt, zurückgefahren wird.
        Sehr geehrte Mitglieder der Regierungskoalition, ge-
        nau das haben Sie zu verantworten. Sie haben im Haus-
        halt 2013 die Mittel für Jugendherbergen, Jugendbil-
        dungs- und Begegnungsstätten um 1,5 Millionen Euro
        auf nur noch 3 Millionen Euro gekürzt. Damit brechen in
        vielen Häusern weitere Mittel weg. Sanierungen, Erwei-
        terungen, Neubauten müssen damit verschoben werden
        oder bleiben ganz auf der Strecke. Die SPD hat sich im
        Haushaltsausschuss mit einem Antrag gegen die Kür-
        zungen gestellt. Den haben CDU/CSU und FDP abgebü-
        gelt – zulasten der Jugendherbergen und anderer Ein-
        richtungen. Das ist der falsche Weg.
        Der Antrag der Fraktion Die Linke geht dagegen in
        die richtige Richtung. Einige der Forderungen sind aller-
        dings fragwürdig. Sie fordern, das Thema Sozialtouris-
        mus in alle touristischen Aus- und Weiterbildungen auf-
        zunehmen. Ich glaube nicht, dass dies unbedingt in den
        Lehrplan angehender Köche oder Restaurantfachfrauen
        gehören muss. Auch Ihre erneute Forderung, dass deut-
        sche Behörden in der Internationalen Organisation für
        Sozialtourismus, kurz ISTO, mitarbeiten sollen, halten
        wir nicht für stichhaltig, da kaum andere staatliche Stel-
        len Mitglied der ISTO sind. Zudem ist Deutschland mit
        dem BundesForum Kinder- und Jugendreisen bereits gut
        vertreten. Alle Menschen müssen sich einen Urlaub leis-
        ten können. Das muss unser Anspruch sein.
        Das Kernproblem, das diese Regierung nicht löst, ist
        doch, dass die Einkommen der Menschen zu niedrig
        sind. Wir brauchen endlich einen flächendeckenden ge-
        setzlichen Mindestlohn und eine höhere Tarifbindung,
        indem die Tarifverträge leichter allgemeinverbindlich
        werden können. Das sichert gute Löhne. Davon will
        Schwarz-Gelb aber nichts wissen. CDU/CSU und FDP
        haben kein Interesse, allen Bürgerinnen und Bürgern
        Teilhabechancen zu gewähren. Das müssen die Men-
        schen wissen, wenn Sie am 22. September 2013 zur
        Wahl gehen.
        Jens Ackermann (FDP): Reisen für alle; für einen
        sozialen Tourismus. – Wer da nicht sofort an 40 Jahre
        FDGB-Heime und Ernteeinsätze unter dem Deckmantel
        der netten Feriengestaltung denkt, der hat die DDR nicht
        erlebt oder verdrängt. In ihrem Antrag fordern die Linken
        dann auch, wie man es von ihnen gewohnt ist, eine ganze
        Reihe von Maßnahmen auf nationaler, europäischer und
        gar internationaler Ebene – egal ob es realistisch ist oder
        einfach nur schön klingt. Natürlich sei es jedem Bürger
        unseres Landes vergönnt, zu reisen oder in den Urlaub zu
        fahren. Doch jeder, vor allem jede junge Familie weiß,
        dass Urlaub nun mal nicht alltäglich, sondern etwas Be-
        sonderes ist. Auch Familien aus der sogenannten Mittel-
        schicht können nicht jederzeit in den Urlaub reisen; denn
        auch sie haben zuerst andere, wichtigere – grundlegen-
        dere – finanzielle Verpflichtungen.
        Dann stellt sich mir auch noch die Frage, wo für die
        Linken Urlaub oder Reisen anfängt. Reicht es nicht
        manchmal, mit der S-Bahn raus an den Müggelsee zu
        fahren? Muss man denn immer die Ferne als das einzige
        Reiseerlebnis anpreisen? Ich glaube jedes Kind erinnert
        sich mehr an die lustigen und schönen Momente mit lie-
        ben Menschen – egal wo diese stattfanden.
        Für mich und meine Fraktion steht es aber natürlich
        außer Frage, dass den Menschen die Möglichkeit gege-
        ben werden sollte, frei zu entscheiden, was sie mit ihrer
        Freizeit anfangen wollen. Dazu haben wir auch bis heute
        einen sehr wichtigen Beitrag geleistet. 2012 waren so
        viele Menschen in Deutschland erwerbstätig wie noch
        nie zuvor. Mit durchschnittlich 416 000 mehr Erwerbstä-
        tigen als 2011 konnte der Rekord aus dem vorangegan-
        genen Jahr nochmals gebrochen werden. Zudem gab es
        im vergangenen Jahr mit durchschnittlich 2,897 Millio-
        nen so wenige Arbeitslose wie seit über 20 Jahren nicht
        mehr. Die teilweise verheerende Arbeitsmarktsituation
        in vergleichbaren europäischen Ländern zeigt, wie ro-
        27304 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        bust der deutsche Arbeitsmarkt mittlerweile ist. Nur so
        kann Teilhabe für alle geschaffen werden. So werden die
        Rentenkassen aufgefüllt und am Ende haben alle etwas
        davon.
        Wir wollen keine Fördermittel oder Geldgeschenke
        mit der Gießkanne verteilen. Wir möchten, dass alle
        Menschen in unserem Land in Lohn und Brot stehen und
        sich damit ihre Freizeit selbst so gestalten, wie sie es
        gerne möchten und für richtig halten. Es soll auch tat-
        sächlich Bürgerinnen und Bürger geben, die nicht gerne
        reisen.
        Dass noch in diesem Jahr alle mehr im Geldbeutel ha-
        ben werden und sich dafür vielleicht auch so etwas wie
        einen Ausflug oder eine kleine Reise leisten können, da-
        rauf sind wir stolz. So haben wir als christlich-liberale
        Koalition beschlossen, den steuerlichen Grundfreibetrag
        in zwei Stufen 2013 und 2014 um insgesamt 350 Euro
        anzuheben. Parallel dazu soll die kalte Progression abge-
        mildert werden, indem der Tarifverlauf so angepasst
        wird, dass die Steuersätze erst bei einem höheren
        Einkommen greifen. Damit hat unsere Koalition Entlas-
        tungen von 6,1 Milliarden Euro auf den Weg gebracht.
        Dieses Projekt wird leider zulasten der kleineren und
        mittleren Einkommen von Rot-Grün im Bundesrat
        blockiert. Die Praxisgebühr wurde abgeschafft. Die Pa-
        tienten und damit genau jene Familien werden im Jahr
        um bis zu 160 Euro entlastet. Das Arbeitslosengeld II
        steigt. Der Regelbedarf steigt auf 382 Euro. Das alles
        sind Schritte, um soziale Annäherung zu schaffen – nicht
        die Forderung nach einem sozialen Tourismus. Den
        brauchen wir dann nämlich nicht. Wir blicken trotz der
        Krisenmeldungen aus Europa und der Welt auf eine po-
        sitive Entwicklung in Deutschland und so soll es unserer
        Meinung nach auch weitergehen.
        Ich möchte jetzt noch auf eine der Forderungen aus
        ihrem Forderungskatalog eingehen, liebe Linksfraktion.
        Es gibt seit 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket, das
        schon jetzt ein- oder mehrtägige Klassenreisen von Kin-
        dern unterstützt, sodass es zukünftig nahezu jedem Kind
        möglich sein sollte, an einer Klassenfahrt teilzunehmen.
        Im Übrigen hatte die Linke zehn Legislaturperioden
        Zeit, all diese Maßnahmen vorzubereiten. Leider hat sie
        diese Zeit, wie so oft, nicht genutzt, um Wohlstand und
        Freiheit zu mehren – ganz im Gegenteil.
        Kornelia Möller (DIE LINKE): Unser Antrag ist ein
        Plädoyer für mehr Solidarität im Tourismus, und zwar
        national wie auch international. Der aktuelle EU-Sozial-
        bericht gibt erneut Anlass, das Thema Solidarität ganz
        oben auf die Agenda der Politik zu setzen. In Europa
        driften arme und reiche Länder immer weiter auseinan-
        der, und die Krisenbewältigungspolitik der Bundesregie-
        rung reißt diese Kluft noch weiter auf. Und auch im ei-
        genen Land besteht ein großes Solidaritätsdefizit.
        Deswegen musste der Armuts- und Reichtumsbericht
        der Bundesregierung auch weichgespült werden.
        Im Tourismus vertieft und verfestigt sich eine Zwei-
        klassengesellschaft als Folge des Auseinanderdriftens
        der Einkommen. Diese Entwicklung wollen wir nicht
        hinnehmen.
        Die Tourismuspolitik der Koalition ist gekennzeich-
        net durch einseitige ökonomische und Gewinnausrich-
        tung, durch Marktgläubigkeit, durch Entsolidarisierung,
        durch schlechte Arbeits- und Einkommensbedingungen
        für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der
        Branche und eine tiefe soziale Spaltung des inländischen
        touristischen Kundenpotenzials. Die vorliegenden Fak-
        ten sprechen eine klare Sprache: In Deutschland ist ein
        großer Teil der Bevölkerung vom Tourismus ausge-
        schlossen.
        Die Tourismuspolitik der Bundesregierung ist euro-
        pafeindlich, vor allem, wenn es um sozialen Tourismus
        geht. Das zeigte bereits die Debatte zum Antrag der
        Linksfraktion zur Mitarbeit im Rahmen der Internationa-
        len Sozialtouristik-Organisation, ISTO. Bei Merkel und
        Co. dominierten nationaler Egoismus, wenn sie die Mit-
        arbeit im Rahmen der EU-Initiative Calypso strikt ableh-
        nen, wenn sie das zweifellos erhebliche touristische
        Potenzial der Bundesrepublik und die Erfahrungen auf
        diesem Gebiet nicht in den Dienst der Verbesserung des
        europäischen Sozialtourismus stellen wollen. Die Argu-
        mente sind teilweise haarsträubend: Frau Mortler, Vor-
        sitzende der CDU/CSU-Fraktionsarbeitsgruppe Touris-
        mus, wollte zum Beispiel verhindern, „dass deutsche
        Steuerzahler den Urlaub beispielsweise dänischer Rent-
        ner in Spanien finanzieren“. Das ist völlig aus der Luft
        gegriffener Unsinn. Da werden Gespenster an die Wand
        gemalt, um Solidarität zu verhindern. Noch abenteuerli-
        cher ist das Argument, dass es sich bei einem öffentlich
        geförderten Urlauberaustausch über Ländergrenzen hin-
        weg „um Ausgrenzung“ handelt und sich die „betroffe-
        nen Menschen als Reisende zweiter Klasse fühlen müss-
        ten“. Liebe Frau Mortler, was glauben Sie, wie sich jene
        Menschen in unserem Land fühlen, denen jegliches Rei-
        sen, Urlaub überhaupt, aufgrund ihrer sozialen Situation
        verwehrt sind? Bei solcher Geisteshaltung ist es nicht
        verwunderlich, dass dem Vorschlag des EU-Industrie-
        kommissars Tajani von 2012, zwecks besserer Auslas-
        tung von Urlaubsunterkünften in der Nebensaison Rei-
        sen für Seniorinnen und Senioren mit öffentlichen
        Mitteln zu subventionieren, von deutscher Seite sofort
        eine Abfuhr erteilt wurde, und dies, obwohl Tajanis Vor-
        stoß in erster Linie auf höhere Steuereinnahmen zielte.
        Wir meinen: Bei allen großen und wichtigen europäi-
        schen Sozialtourismusinitiativen sollte Deutschland mit
        seinem Potenzial nicht länger abseits stehen.
        Und ist es nicht ein Armutszeugnis, wenn die deut-
        sche Reisebranche zwölf Jahre brauchte, um den Globa-
        len Ethik-Kodex der Welttourismusorganisation zu un-
        terschreiben, der die Förderung des Sozialtourismus
        ausdrücklich fordert?
        Solidarität darf kein Lippenbekenntnis sein. Notwen-
        dig sind konkrete politische Weichenstellungen. Genau
        darauf zielt unser Antrag. Er beinhaltet einen ganzen
        Komplex von Maßnahmen für einen sozialen und solida-
        rischen Tourismus und bildet deshalb ein scharfes
        Kontrastprogramm zur gegenwärtigen schwarz-gelben
        Tourismuspolitik. Wir erinnern Sie von den Regierungs-
        parteien damit an ihre eigenen tourismuspolitischen
        Leitlinien, an den Vorsatz, dass auch Menschen mit ge-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27305
        (A) (C)
        (D)(B)
        sundheitlichen, sozialen und finanziellen Einschränkun-
        gen reisen können sollen – ein Versprechen, das Sie bis-
        her nicht eingelöst haben.
        Die Linksfraktion fordert ein ausreichendes Budget
        für Erholungsurlaub für Bedarfsgemeinschaften und Fa-
        milien mit Kindern im Rahmen der Regelbedarfssätze
        des SGB II sowie des SGB XII und die Aufstockung von
        öffentlichen Mitteln für die Finanzierung von Projekten
        des sozialen Tourismus. Das ist überfällig.
        Einen Schwerpunkt sehen wir in der verstärkten öf-
        fentlichen Förderung des Familienurlaubs sowie von
        Reisen Alleinerziehender mit Kindern. Das Niveau ver-
        gangener Jahre muss wieder erreicht werden. Denn die
        Reiseintensität von Familien ist innerhalb von 20 Jahren
        um 11 Prozent zurückgegangen. 2010 verreiste nur noch
        gut jede zweite Familie für mindestens fünf Tage. Wir
        halten die Wiederaufnahme und Erweiterung der
        Landesförderung für Familienreisen in verschiedenen
        Bundesländern für dringend notwendig und plädieren
        auch dafür, den Zugang zu diesen Reisen zu vereinfa-
        chen, zu entbürokratisieren und weitgehend zu verein-
        heitlichen. Vielfach scheitert gefördertes Reisen an büro-
        kratischen Barrieren.
        Mit der stärkeren Förderung von Familienreisen wird
        unsere Gesellschaft nicht nur kinderfreundlicher. Auch
        der Umsatz der Branche mit der touristischen Kernziel-
        gruppe Familien kann wieder erhöht werden. In vielen
        Fällen bringt mehr Solidarität im Tourismus der Branche
        und auch den Kommunen einen Zuwachs an Einnahmen
        und sichert vor allem Arbeitsplätze. Das belegen auch
        Fakten aus dem internationalen Sozialtourismus.
        Vielfältige Erfahrungen besitzt unser Land im geför-
        derten Kinder- und Jugendtourismus. Aber die Möglich-
        keiten sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Deshalb
        begrüßen wir das von der Regierung geförderte „Zu-
        kunftsprojekt Kinder- und Jugendtourismus in Deutsch-
        land“. Aber noch ist nicht erkennbar, ob gerade jenen
        Gruppen damit eine besondere Förderung zuteil wird,
        die bisher außen vor geblieben sind. Dabei muss ins
        Bewusstsein gerufen werden, dass noch vor drei Jahren
        Urlaubsreisen für mehr als ein Fünftel der Haushalte mit
        Kindern unter 14 Jahren finanziell unerschwinglich wa-
        ren. Aktuellere Zahlen kann ich Ihnen hierzu leider nicht
        präsentieren, weil der Aufbau einer soliden Statistik zur
        sozialen Struktur des Tourismus leider bisher versäumt
        wurde – vielleicht sogar bewusst?
        Wir setzen uns mit unserem Antrag dafür ein, auch
        dieses Versäumnis aus der Welt zu schaffen. Tourismus
        hat eine wichtige soziale Dimension, und für staatliche
        Entscheidungen auf diesem Gebiet, die das Leben von
        Millionen bestimmen, braucht man seriöse Fakten. Öko-
        logische und soziale Nachhaltigkeit im Tourismus – ein-
        geschlossen auch weitere Fortschritte bei der Barriere-
        freiheit – kann, wie wir wissen, nicht dem Markt
        überlassen bleiben, sondern braucht politische Gestal-
        tung. Und als Teil einer solchen politischen Gestaltung
        betrachten wir das von der Linksfraktion vorgeschlagene
        Fünfjahresprogramm für sozialen Tourismus, das die
        Bundesregierung dem Bundestag vorlegen soll. Wohl-
        bemerkt: Die Bundesregierung soll dieses Programm
        vorlegen. Damit dürfte wohl ausgeschlossen sein, dass
        es sich um die Rückkehr zu FDGB-Reisen handelt, wie
        es in einigen gehässigen Kommentaren bereits hieß – ob-
        gleich Frau Merkel die positiven Auswirkungen der
        FDGB-Reisen kennen sollte.
        Für alle anderen möchte ich hier auf einen großen
        Unterschied im Vergleich zwischen FDGB-Feriendienst
        und den heutigen kümmerlichen Ansätzen eines Sozial-
        tourismus in der Bundesrepublik hinweisen: Weil soziale
        Gerechtigkeit, Erholung, Bildung, Reproduktion des
        Arbeitsvermögens als oberste Prinzipien der Ferienpoli-
        tik des FDGB galten und die Reisen erschwinglich und
        preislich stabil waren – und deshalb so begehrt und von
        Millionen Menschen genutzt –, hat ihre Bereitstellung
        die damaligen ökonomischen Möglichkeiten überschrit-
        ten. Die heutige Bundesrepublik als ein reiches Land
        besitzt diese ökonomischen Möglichkeiten; trotzdem
        sind Millionen Menschen, darunter ein Drittel Kinder,
        von Urlaubsreisen ausgeschlossen. Diesen fundamenta-
        len Unterschied kann man auch mit Diffamierungen
        nicht überdecken.
        Ich hätte mir als Kind eine FDGB-Reise gewünscht.
        Dazu kam es aber nicht, weil ich im Westen geboren und
        aufgewachsen bin.
        Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
        haben heute wieder ein außerordentlich wichtiges
        Thema auf der Tagesordnung, den Sozialtourismus. Tou-
        rismus an sich hat ja viele, auch soziale, Aufgaben, die
        man ihm auf den ersten Blick nicht immer direkt zu-
        schreibt. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir dieses
        Thema heute noch einmal intensiv beleuchten.
        Für uns Deutsche hat das Reisen bekanntermaßen ei-
        nen hohen Stellenwert, und gerade in Zeiten steigenden
        Stresses – wir haben ja zuletzt in dieser Woche zur
        Kenntnis nehmen müssen, dass Stress und Burnout sich
        immer weiter verbreiten – ist es wichtig, dass Erholung,
        Abstand vom Alltag und auch Naturerlebnis nicht zu
        weit in den Hintergrund geraten.
        Dennoch geht auch in diesem Bereich die Schere zwi-
        schen denjenigen, die sich das leisten können, und denje-
        nigen, die keine Chance darauf haben, immer weiter auf.
        Für viele Menschen ist Tourismus, das heißt das Verrei-
        sen und das Abschalten in einer anderen als der gewohn-
        ten Atmosphäre nur ein unerreichbarer Wunschtraum.
        Meines Erachtens brauchen wir deshalb nicht nur aus
        sozialen, sondern auch aus ökonomischen und gesund-
        heitspolitischen Gründen in diesem Land eine Debatte
        über einen Bereich des Tourismus, der bisher in
        Deutschland ein Schattendasein führte, ganz im Gegen-
        teil zu anderen europäischen Nachbarstaaten.
        Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss
        hat am 13./14. September 2006 eine Stellungnahme zum
        „Sozialtourismus in Europa“ beschlossen. Darin finden
        sich einige äußerst interessante Ansätze; zwei davon
        möchte ich in diesem Zusammenhang noch einmal her-
        vorheben und zitieren. Ich habe die gleichen Punkte
        schon einmal angesprochen, als wir über den Beitritt der
        27306 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Bundesrepublik zur OITS, der Sozialtourismusorganisa-
        tion, debattiert haben.
        Erstens. Unter Punkt 4.2.2.1 wird die Agence Natio-
        nale pour les Chèques-Vacances, ANCV, mit einem Ge-
        schäftsvolumen von circa 1 Milliarde Euro beschrieben.
        Dieses Beispiel sollte uns ein Vorbild sein. Weiter heißt
        es – daraus möchte ich direkt zitieren –: „Sozial und
        wirtschaftlich ist das Programm eindeutig rentabel, denn
        einerseits konnten dadurch viele ältere Menschen erst-
        mals in Urlaub fahren, andere Städte und Gegebenheiten
        kennenlernen, gleichberechtigte soziale Kontakte knüp-
        fen und ihren körperlichen Zustand verbessern, wobei
        eine vernünftige Qualität und die Akzeptanz durch die
        Nutzer gewährleistet ist; und andererseits werden für je-
        den in das Programm investierten Euro 1,70 Euro wieder
        eingenommen.“
        Zweitens. Es heißt in den Empfehlungen unter Punkt
        9.3: „Den Touristikunternehmen sei empfohlen, sich ent-
        schlossen an den Sozialtourismusaktivitäten zu beteili-
        gen. Der Sozialtourismus vertritt Werte, die mit einer
        korrekten Unternehmensführung, mit Wettbewerbsfähig-
        keit und Rentabilität vereinbar sind …“.
        Ich glaube, dass diese Stellungnahme deutlich macht,
        dass wir hier eben nicht über ein Randthema sprechen.
        Und ein Bereich, der uns dabei ganz besonders am Her-
        zen liegen muss, ist der Kinder- und Jugendtourismus.
        Reisen bildet, und Reisen trägt zu einer positiven Per-
        sönlichkeitsentwicklung bei. Für Kinder und Jugend-
        liche gilt das besonders. Hier eine Teilhabe aller Kinder
        und Jugendlichen zu gewährleisten, muss unser Ziel
        sein. Wir können es uns nicht mehr erlauben, ganze ge-
        sellschaftliche Gruppen bzw. deren Kinder davon auszu-
        schließen.
        Für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche be-
        steht die Gefahr, aus sozialen Gründen nicht an Reisen,
        Klassenfahrten, Freizeiten und anderen Angeboten teil-
        nehmen zu können. Es gibt in Deutschland zwar mit
        82,2 Prozent eine auch im internationalen Vergleich
        hohe Urlaubsreiseintensität bei Jugendlichen zwischen
        14 und 17 Jahren. Jugendliche aus einkommensschwa-
        chen Familien nehmen mit 70,4 Prozent allerdings deut-
        lich weniger am Tourismus teil.
        Das größte Problem dabei: Öffentlich geförderte Kin-
        der- und Jugendreisen sind dabei sowohl im Kontext von
        Kinder- und Jugenderholung als auch bezogen auf die
        internationale Jugendarbeit seit den 90er-Jahren rückläu-
        fig. Der Staat zieht sich dabei sukzessive aus der Verant-
        wortung: Staatliche Förderungen im Kinder- und Ju-
        gendreisebereich sind um bis zu 30 Prozent gesunken.
        Die Zahl der Kinder- und Jugenderholungen hat sich in
        den Jahren 2000 bis 2004 um 23 Prozent reduziert.
        So besteht nicht nur die Gefahr, dass Kinder- und Ju-
        gendreisen teurer werden. Nein, es besteht auch die Ge-
        fahr, dass sich die soziale Schere weiter öffnet. Deshalb
        muss sich die öffentliche Hand wieder stärker engagie-
        ren, gerade bei den geförderten Kinder- und Jugenderho-
        lungen.
        Ein schöner Nebeneffekt davon könnte sein, dass man
        auch die innerdeutsche Reiseaktivität von Jugendlichen
        steigern könnte. Nicht nur unter sozialen Aspekten wäre
        es deshalb sinnvoll, durchaus auch einmal die eigene Re-
        gion oder das europäische Umfeld in den Blick zu neh-
        men.
        Ich weiß, dass nicht alles, was wünschenswert wäre,
        auch immer ad hoc durchsetzbar ist. Dennoch müssen
        wir den Weg beschreiten, hier endlich Bewegung auch in
        Richtung des Sozialtourismus zu bekommen. Wir müs-
        sen endlich aus sozialen, gesundheitspolitischen und am
        Ende auch ökonomischen Gründen den Menschen ein
        Angebot zur Erholung machen, die das normalerweise
        nicht so einfach finanziell bewerkstelligen können. Da-
        für brauchen wir einen gesellschaftlichen Wandel und
        auch die Bereitschaft, das Notwendige zu erkennen. Die
        Debatte hat jetzt erst begonnen. Ich hoffe, wir können sie
        unaufgeregt und vor allem zielorientiert führen.
        Anlage 10
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        zusätzlichen Förderung von Kindern unter drei
        Jahren in Tageseinrichtungen und in Kinderta-
        gespflege (Tagesordnungspunkt 15)
        Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Die Tatsache, dass
        wir in Windeseile das heute zu debattierende Gesetz ein-
        bringen und behandeln müssen, verdanken wir Ihnen,
        liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, und das,
        obwohl eben nicht der Bund für den Kitaausbau zustän-
        dig ist, sondern Länder und Kommunen. Ihre Blockade
        im Bundesrat erstaunt mich zutiefst, da es bereits, das
        wissen sie genau, eine Einigung darüber gab, dass der
        Bund erneut weiteres Geld für den Kitaausbau und die
        Bewirtschaftungskosten bereitgestellt hat. Denn bei un-
        serer christlich-liberalen Koalition hat gerade die Schaf-
        fung von Kitaplätzen und die damit verbundene Unter-
        stützung der Kommunen besondere Priorität. Als
        Kaufmann habe ich einmal gelernt: Verträge müssen ein-
        gehalten werden.
        Doch für Sie von Rot-Grün scheint Vertragstreue an-
        scheinend nicht zu gelten, und ich frage mich: Wo ist die
        Verlässlichkeit Ihrer großen Volkspartei geblieben? Sie
        sagen mit Ihrer Blockade des Fiskalvertragsgesetzes im
        Bundesrat Nein zum Kinderbetreuungsausbau, Sie sagen
        Nein zur Entlastung der Kommunen und Nein zur Unter-
        stützung für Eltern mit kleinen Kindern! Respekt, meine
        Damen und Herren! Eine derartige Haltung erfordert
        durchaus Charakter. Sie haben für mich mit dieser Blocka-
        dehaltung einmal mehr Ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie
        haben damit einmal mehr gezeigt, worum es Ihnen wirk-
        lich geht – nämlich darum, Politik auf dem Rücken der
        Familien und damit gegen Familien zu machen.
        Es geht Ihnen nicht darum, den gemeinsam vereinbar-
        ten Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter
        drei Jahren umzusetzen. Es geht Ihnen nicht darum, die
        Kommunen zu entlasten. Es geht Ihnen nicht darum, die
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27307
        (A) (C)
        (D)(B)
        Eltern mit kleinen Kindern zu unterstützen. Nein, es geht
        Ihnen einzig und allein darum, zu blockieren. Dafür habe
        ich kein Verständnis, und dafür haben auch die Men-
        schen in unserem Land kein Verständnis.
        Die heutige Debatte zeigt, dass ihre Blockadehaltung
        im Bundesrat ja nun nichts Neues ist, und wir haben
        diese schon vor der Landtagswahl in Niedersachsen erle-
        ben dürfen. Wenn es das ist, was wir und die Menschen
        in Deutschland in den kommenden Monaten von Rot-
        Grün erwarten dürfen, dann kann ich nur sagen: So
        macht man keine seriöse Politik.
        Wir, die christlich-liberale Koalition, machen konstruk-
        tive Politik für die Menschen, für die Kommunen und
        für die Eltern mit kleinen Kindern, die eben einen Be-
        treuungsplatz dringend brauchen. Deshalb hat das Fami-
        lienministerium von Kristina Schröder unter Hochdruck
        einen Gesetzentwurf erarbeitet, damit wir den verein-
        barten Ausbau der Kindertagesbetreuung trotz Ihrer
        Blockade umsetzen können. Wir lassen uns durch Ihre
        taktischen Spielchen nicht vom richtigen Weg abbrin-
        gen.
        Wir sind überzeugt davon, dass wir die Kommunen in
        diesem Bereich entlasten müssen, und deshalb stellt der
        Bund zusätzlich zu den schon 2007 zugesagten 4 Mil-
        liarden Euro für Kitabau und Betriebskosten weitere
        580,5 Millionen Euro für Investitionskosten sowie wei-
        tere 75 Millionen Euro jährlich für Betriebskosten zur
        Verfügung. Sie sehen, wir reden nicht nur – so wie Sie,
        verehrte Kollegen von den Dagegen-Parteien –, sondern
        wir handeln und geben das Geld. Man kann schon fast
        den Eindruck haben, wir tragen den Ländern das Geld
        geradezu noch hinterher, damit diejenigen Eltern, die ihr
        Kind in einer Einrichtung betreuen lassen wollen, ab Au-
        gust dieses Jahres auch die Möglichkeit dazu haben.
        Rot-Grün blockiert ja nicht nur den Kitaausbau, nein,
        Sie blockieren auch das Steuerabkommen mit der
        Schweiz und die Entlastung der Arbeitnehmerinnen und
        Arbeitnehmer durch Anpassungen der Steuerprogres-
        sion. Sie stellen sich so offen gegen die Arbeitnehmer-
        schaft in diesem Land. Offensichtlich ist Ihnen Ihre
        Blockadehaltung so viel wert, dass Sie im Fall des Steuer-
        abkommens mit der Schweiz freiwillig auf Milliarden-
        einnahmen verzichten wollen. Aberwitzig ist allerdings,
        dass Sie sich sogleich auf die Fahnen schreiben, dass der
        Haushalt konsolidiert werden muss. Lustiger und un-
        glaubwürdiger geht’s nimmer. Mit Ihrer Blockade dieses
        Gesetzes demonstrieren Sie einmal mehr, dass Sie nicht
        mit Geld umgehen können.
        Die Menschen erwarten keine taktischen Spielchen,
        sondern sie erwarten von uns zu Recht Problemlösun-
        gen, und die bieten wir von der christlich-liberalen Koali-
        tion den Menschen in unserem Land. Wir sind diejeni-
        gen, die die Kommunen entlasten und ihnen dadurch
        Spielräume für Investitionen, wie zum Beispiel in Frei-
        bäder, Bibliotheken oder Schulen, geben. Wir sind die-
        jenigen, die den Eltern eine Wahlfreiheit in der Kinder-
        betreuung ermöglichen. Wir sind diejenigen, die Eltern
        einen Betreuungsplatz für ihre kleinen Kinder bieten.
        Damit sind wir diejenigen, bei denen es zuerst um die
        Menschen in unserem Land – nicht wie bei Ihnen aus-
        schließlich um die Partei – geht.
        Norbert Geis (CDU/CSU): Bund, Länder und Kom-
        munen hatten sich auf dem Krippengipfel 2007 auf
        750 000 Kitaplätze geeinigt. Dies entspricht einem
        durchschnittlichen Versorgungsgrad von 35 Prozent.
        Durchschnittlich heißt, dass es in den Städten einen hö-
        heren Bedarf geben kann als auf dem Land. Einigkeit be-
        stand aber damals darin, dass im Durchschnitt dieser
        Versorgungsgrad von 35 Prozent zur Erfüllung des Be-
        darfs ausreichen wird.
        Damals wurde weiter vereinbart, dass dieses Ziel von
        750 000 Kitaplätzen bis zum 1. August 2013 erreicht
        sein soll. Einig war man sich auch darüber, dass Bund,
        Länder und Gemeinden zu je einem Drittel die Kosten
        für den bedarfsgerechten Ausbau zu übernehmen haben.
        Diese Kosten für den Ausbau wurden damals mit
        12 Milliarden Euro kalkuliert. Also entfielen auf den
        Bund 4 Milliarden Euro, die er auch unverzüglich zur
        Verfügung gestellt hat. Bereits 2007 hat der Bund das
        Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ aufgelegt.
        In einer Verwaltungsvereinbarung wurde geregelt, dass
        das Geld des Bundes an das einzelne Land in Höhe der
        jeweiligen Quote weitergeleitet wird. Die Länder sollten
        dann das Geld des Bundes zusammen mit dem von ihnen
        zu erbringenden Anteil an die Kommunen aufteilen.
        Es besteht kein Zweifel, dass der Bund keine verfas-
        sungsmäßige Verpflichtung hat, sich an dem bedarfsge-
        rechten Ausbau der Kita zu beteiligen. Der Bund sah
        sich jedoch aufgrund des gesamten politischen Interesses
        am Ausbau der Kita verpflichtet, seinen Eindrittelanteil
        für den Ausbau der Tageseinrichtungen und Kinderta-
        gespflege zu erbringen.
        Gerade in der jetzt ansetzenden Diskussion, in der
        man versucht, dem Bund für Säumnisse der Länder die
        Schuld in die Schuhe zu schieben, ist es gut, festzuhal-
        ten, dass alle drei Partner aufgrund von damaligen Erhe-
        bungen auf dem Kindergipfel der Auffassung waren, der
        Ausbau von Kindertagesplätzen für 35 Prozent der Kin-
        der vom 1. bis zum 3. Lebensjahr sei ausreichend. Auch
        der Stichtag 1. August 2013 wurde einvernehmlich fest-
        gelegt. Wahr ist schließlich auch, dass die Länder trotz
        dieses Stichtages nur sehr zögerlich ans Werk gegangen
        sind. Die Ausnahme bildet Bayern. Bayern hat die Be-
        treuungsquote in den letzten fünf Jahren verdreifacht.
        Dies war möglich, weil Bayern sofort aus Landesmitteln
        680 Millionen Euro bereitgestellt hat. Kein Bundesland
        hat bisher in einem derart hohen Umfang eigene Landes-
        mittel investiert. Das Gesamtvolumen bis 2013 wird auf
        1,2 Milliarden Euro geschätzt, zwei Drittel vom Land,
        ein Drittel vom Bund. Die Vervielfachung der Quote war
        natürlich auch deshalb möglich, weil die bayerischen
        Kommunen eine hervorragende Arbeit geleistet haben.
        Der Vorwurf also, der Bund habe nicht alles getan,
        um den Bedarf zu sichern, entbehrt jeder Grundlage. Es
        sind die Länder und teilweise wohl auch die Kommunen,
        die bisher ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen
        sind. Jede Stadt, jede Gemeinde muss selbst ermitteln,
        wie hoch der Bedarf an U-3-Plätzen ist. Die Kommunen
        27308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        müssen die Plätze zur Verfügung stellen, doch nicht der
        Bund. Der Bund ist am Ende nur Zahlmeister. Er kann
        doch den Kommunen nicht vorschreiben, wie viele
        Plätze bereitzustellen sind. Dazu ist der Bund aus verfas-
        sungsrechtlichen, aber auch aus praktischen Gründen
        nicht in der Lage, weil die Gemeinden viel eher die Er-
        hebungen dafür machen können als der Bund.
        Dieses Versäumnis von einem großen Teil der Kom-
        munen ist auch der Grund dafür, dass bislang keine
        Transparenz herrscht, wie viele Plätze wirklich ge-
        braucht werden. Die Erhebungen hätten längst gemacht
        und der Bedarf hätte längst festgestellt werden müssen.
        Auf einmal regt sich nun die Besorgnis, dass
        750 000 Plätze nicht ausreichen könnten. Auch den
        Durchschnittsbedarf von 35 Prozent, von dem 2007 noch
        ausgegangen werden konnte, hat man auf 39 Prozent
        nach oben korrigiert. Deshalb haben die Länder und der
        Bund ja auch vereinbart, für weitere 30 000 Plätze Geld
        bereitzustellen. Wiederum hat der Bund sofort reagiert.
        Er hat sofort 580 Millionen Euro in den Haushalt einge-
        stellt. Jetzt hätte man eigentlich erwarten dürfen, dass
        die Länder nicht lange fackeln, sondern zugreifen. Weit
        gefehlt. Die Länder haben mit der Ablehnung des Fiskal-
        vertragsumsetzungsgesetzes im Bundesrat die Auszah-
        lung der 580 Millionen Euro gestoppt.
        Statt sich an die eigene Brust zu klopfen, wird nun
        dem Bund wieder die Schuld in die Schuhe geschoben.
        Der Bund aber hat wiederum sehr schnell gehandelt.
        Durch den besonderen Einsatz der Ministerin ist es ge-
        lungen, in kürzester Frist diesen Gesetzentwurf zur zu-
        sätzlichen Förderung von Kindern unter drei Jahren in
        Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege vorzule-
        gen und damit die 50 Millionen Euro bereitzustellen.
        Wertvolle Zeit durch das Verhalten der Länder wurde
        zwar vergeudet, aber es ist immer noch Zeit genug.
        Diese christliche-liberale Koalition hat alles getan,
        um den Rechtsanspruch zum 1. August 2013 zu erfüllen.
        Gelingt dies da und dort nicht, liegt es nicht am Bund,
        sondern an den Ländern und Kommunen. Wo es Aus-
        bauhemmnisse gibt, hilft der Bund. Er kann sich aber
        nicht über die Länderhoheit und die kommunale Pla-
        nungshoheit und die örtliche Zuständigkeit der Kommu-
        nen hinwegsetzen.
        Am Geld wird jedenfalls der rechtzeitige Ausbau
        nicht scheitern. Zu den 580 Millionen Euro kommt für
        die Kommunen und die Träger der Kitas ein Programm
        der KfW für verbilligte Kredite für den Kitaausbau.
        Hinzu kommen das Programm Kindertagespflege und
        das neue Programm zur Förderung betrieblicher Kindes-
        betreuung. Dazu kommt die Erhöhung des Betriebskos-
        tenzuschusses von 75 Millionen jährlich für die zusätzli-
        chen 30 000 Kitaplätze.
        Wer angesichts dieser Anstrengungen der Koalition
        und der Familienministerin dem Bund Versäumnisse
        vorwirft, der muss sich selbst den Vorwurf der Polemik
        gefallen lassen.
        Dagmar Ziegler (SPD): Heute beraten wir einen Ge-
        setzentwurf, der Ländern und Kommunen beim Kitaaus-
        bau zusätzlich unter die Arme greift. Das ist höchste
        Zeit. Die Bundesregierung hat den Kitaausbau in den
        letzten Jahren blockiert. Der Gesetzentwurf kommt nicht
        wegen, sondern trotz unserer Bundesregierung.
        Über Jahre haben Länder und Kommunen laut und
        vernehmlich um Hilfe gerufen. Denn ihnen stand und
        steht immer noch das Wasser bis zum Hals. Die Annah-
        men, die den Beschlüssen des Krippengipfels von 2007
        zugrunde lagen, sind von der Wirklichkeit überholt wor-
        den. Noch mehr Eltern als damals angenommen, wollen
        für ihr Kind einen Kitaplatz bekommen. Das hat der
        14. Kinder- und Jugendbericht gestern nochmal deutlich
        belegt.
        Deshalb brauchen Länder und Kommunen zusätzliche
        Unterstützung durch den Bund. Sie können die gewal-
        tige Kraftanstrengung des Kitaausbaus und der Erfüllung
        des Rechtanspruchs ab August dieses Jahres allein nicht
        bewältigen.
        Doch all diese Hilferufe haben sowohl die zuständige
        Ministerin Schröder als auch Bundeskanzlerin Merkel
        geflissentlich überhört. Die Bundesregierung hat ihre
        Zeit lieber damit vertan, eine wirkungsvolle Quote für
        Frauen zu verhindern und das bildungsfeindliche und
        rückwärtsgewandte Betreuungsgeld einzuführen.
        Ohne das Engagement der Länder würde der Bund
        immer noch blockieren. Es ist nur den SPD-Ministerprä-
        sidenten Kurt Beck und Olaf Scholz zu verdanken, dass
        wir heute zusätzliche Kitamittel beschließen können. Sie
        haben einen zusätzlichen Bundeszuschuss bei den Fis-
        kalpaktverhandlungen im letzten Jahr zum Thema ge-
        macht, und sie haben ihre Zustimmung zum Fiskalpakt
        davon abhängig gemacht, dass der Bund beim Ausbau
        der Betreuungsinfrastruktur noch mal eine Schippe oben
        draufpackt. Der Gesetzentwurf, den wir heute beschlie-
        ßen wollen, setzt nun diese Vereinbarung zwischen Län-
        dern und Bund um. Und selbst die haben Sie noch zu
        hintertreiben versucht.
        Die Bundesregierung hat den Ländern bei den Fiskal-
        paktverhandlungen eine unbürokratische und schnelle
        Umsetzung versprochen und sich nicht daran gehalten.
        Mit kleinlichen Nachforderungen haben Sie, Ministerin
        Schröder, die Umsetzung um weitere Monate verzögert.
        Jetzt müssen Sie endlich dafür sorgen, dass das Geld
        dort ankommt, wo es am dringendsten gebraucht wird,
        nämlich vor Ort. Wir erwarten von der Bundesregierung
        jetzt endlich zügiges und professionelles Handeln. Kein
        Verschleppen und Verzögern mehr! Werden Sie Ihrer
        Verantwortung für den Kitaausbau endlich mal gerecht!
        Aber Geld ist bekanntlich nicht alles im Leben. Es
        gibt noch viele andere Maßnahmen, die Sie auch an-
        packen müssten – es aber nicht tun:
        Überall in Deutschland werden die Klagen über feh-
        lende pädagogische Fachkräfte immer lauter. Die SPD-
        Bundestagsfraktion fordert schon seit Jahren, dass sich
        die Bundesregierung mit Ländern und Kommunen in ei-
        nem Krippengipfel an einen Tisch setzt und konkrete
        Schritte zur Forcierung des Krippenausbaus vereinbart.
        Und wir fordern – ebenfalls seit Jahren – eine Fachkräfte-
        offensive, um zusätzliche Menschen für den Beruf der
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27309
        (A) (C)
        (D)(B)
        Erzieherin oder des Erziehers zu gewinnen und zu be-
        geistern.
        Die Zeit drängt. Die Bundesregierung muss jetzt in
        enger Zusammenarbeit mit Ländern, Kommunen und
        Trägern eine bundesweite Fachkräfteinitiative starten,
        um den steigenden Bedarf an Erzieherinnen und Erzie-
        hern zu decken. Außerdem wird der wachsende Fach-
        kräftebedarf nur zu decken sein, wenn die Arbeitsbedin-
        gungen im Erzieherberuf verbessert werden.
        SPD-geführte Länder machen vor, wie es geht: Ham-
        burg ist es gelungen, den Rechtsanspruch für Kinder un-
        ter drei Jahren bereits um ein Jahr vorzuziehen. Er wirkt
        dort schon seit dem 1. August 2012.
        Nordrhein-Westfalen hat nach der Regierungsüber-
        nahme durch Hannelore Kraft schnell einen Krippengip-
        fel einberufen, nachdem die CDU-geführte Vorgängerre-
        gierung den Krippenausbau verschlafen hatte. Das rot-
        grün geführte Land unterstützt gezielt notleidende Kom-
        munen, damit auch sie den Ausbau schaffen.
        In Niedersachsen hingegen sieht es hier im wahrsten
        Sinne des Wortes schwarz aus. Selbst CDU-Bürgermeis-
        ter beklagen die mangelnde finanzielle Beteiligung des
        Landes beim Krippenausbau. Das wird sich unter dem
        neuen Ministerpräsidenten Stefan Weil jetzt endlich und
        zügig ändern.
        In der letzten Legislaturperiode hat die SPD durch-
        gesetzt, dass Finanzhilfen in Milliardenhöhe für den
        Krippenausbau bereitgestellt werden. Denn wir haben
        gesehen, dass der Ausbau von Bildung und Betreuung
        eine entscheidende gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar-
        stellt.
        Ob für unsere Kinder und Jugendlichen gute Kita-
        und Ganztagsschulplätze vorhanden sind, entscheidet
        über ihre Zukunft. Denn gute Kitas und Ganztagsschulen
        eröffnen bessere Bildungschancen, sind Orte der Integra-
        tion und ermöglichen Eltern, Beruf und Familie zu ver-
        einbaren und deshalb selbst für sich zu sorgen. Sie sind
        die beste Armutsprävention und außerdem die Bildungs-
        institutionen, in denen die Fachkräfte entwickelt werden,
        die auch die deutsche Wirtschaft doch so dringend
        braucht.
        Ohne den damaligen Bundesfinanzminister Steinbrück
        wäre der Krippenausbau nicht möglich gewesen. Es war
        Peer Steinbrück, der 2007 4 Milliarden Euro in ein Son-
        dervermögen für den Krippenausbau überführt und für
        einen jährlichen Bundeszuschuss zu den laufenden Kos-
        ten des Kitabetriebs vor Ort gesorgt hat.
        Diesen Weg werden wir in Regierungsverantwortung
        konsequent fortsetzen. Wir werden Ihr bildungsfeind-
        liches Betreuungsgeld sofort abschaffen und die dadurch
        frei werdenden Mittel vollständig in den Kitausbau ste-
        cken. Damit sollen die Kommunen noch mehr Plätze
        schaffen können, die Öffnungszeiten der Einrichtungen
        verlängern und für eine bessere Betreuungsqualität sor-
        gen können. Denn nur gute Kitas sind in der Lage, un-
        sere Kinder optimal zu fördern und ihre Talente zu ent-
        decken und zu fördern. Die 16. Legislaturperiode war
        die Zeit des quantitativen Kitaausbaus unter Finanz-
        minister Peer Steinbrück. Die 17. Legislaturperiode ist
        die Zeit des Nichtstuns unter Bundeskanzlerin Merkel.
        Die 18. Legislaturperiode wird die Zeit der Qualitäts-
        offensive unter Bundeskanzler Peer Steinbrück werden.
        Eine SPD-regierte Bundesregierung wird das Thema
        Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen aus der Abstell-
        kammer holen, wohin Schwarz-Gelb es verdammt hat.
        Bei uns wird der Ausbau der Bildungsinfrastruktur ganz
        oben auf der Tagesordnung stehen. Denn wir haben uns
        ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Wir wollen, dass jedes
        Kind und jeder Jugendliche ab 2020 einen Rechtsan-
        spruch auf Ganztagskitas und Ganztagsschulen hat, da-
        mit alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland gleiche
        Bildungschancen haben und auch die Benachteiligten
        wieder berechtigte Hoffnung auf sozialen Aufstieg be-
        kommen.
        Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Und genau das wer-
        den wir in den nächsten Monaten tun. Ich freue mich auf
        die Auseinandersetzung um die beste Zukunft für unser
        Land.
        Miriam Gruß (FDP): Für den benötigten Ausbau der
        Infrastruktur der Kinderbetreuung wurde bisher von kei-
        ner anderen Bundesregierung so viel investiert. Bund,
        Länder und Kommunen haben sich geeinigt: Es werden
        12 Milliarden Euro für dieses wichtige, gesamtgesell-
        schaftliche Ziel ausgegeben. 4 Milliarden Euro davon
        werden vom Bund getragen. Mit dem heutigen Gesetz-
        entwurf werden nun nochmals 580,5 Millionen Euro
        vom Bund nachgelegt. Zu unserem Teil der Verantwor-
        tung stehen wir, wie auch zu dem Rechtsanspruch auf
        Betreuung für unter dreijährige Kinder, der am 1. August
        2013 in Kraft treten wird. Dazu stehen wir; denn wir
        wissen: Eine gute und verlässliche Familienpolitik ermu-
        tigt Paare dazu, Kinder zu bekommen. Dafür bedarf es
        dreier Komponenten:
        Die erste Komponente besteht aus den Rahmenbedin-
        gungen. Das sind sowohl die rechtlichen, wie beispiels-
        weise der Rechtsanspruch, als auch die Infrastruktur-
        bedingungen, zum Beispiel Kitas, Horte, Tagesmütter
        und Tagesväter.
        Die zweite Komponente besteht aus den finanziellen
        Unterstützungen. Deutschland liegt hier laut internatio-
        nalen Vergleichen in der weltweiten Spitzengruppe.
        Schließlich die dritte Komponente: Das ist das, was
        die Ministerin „Zeit für Familie“ genannt hat. Hier sind
        die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein verlässli-
        ches Umfeld und ein sicherer Arbeitsplatz besonders
        wichtig. Denn uns allen ist bewusst, dass Unsicherheit
        über den Arbeitsplatz oft zur Folge hat, dass viele
        Menschen mit dem Kinderwunsch warten. Einige davon
        warten dann zu lange. Meiner Meinung nach kann nie-
        mand bestreiten, dass die gute Konjunkturlage der letz-
        ten drei Jahre unter Schwarz-Gelb zu mehr Verlässlich-
        keit und Sicherheit am Arbeitsmarkt und dadurch zu
        mehr Sicherheit für Familienplanungen geführt hat.
        27310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Heute geht es um die zusätzlichen 580,5 Millionen
        Euro, die der Bund bereitstellt, und um die Frage, warum
        wir dieses schon beschlossene Finanzpaket heute noch
        einmal in den Bundestag einbringen müssen. Die
        Antwort darauf lautet: Wir müssen das tun, weil die
        Bundesländer nur langsam und schleppend ihren Teil der
        Verantwortung wahrgenommen haben. Es hat sich
        herausgestellt, dass einige Länder die 4 Milliarden Euro
        nur äußerst zögerlich abgerufen haben. Auch hat sich
        gezeigt, dass diese mit der Umsetzung des Kitabaupro-
        gramms und den dafür vorgegebenen zeitlichen Vorga-
        ben nicht Schritt halten.
        In diesem Zusammenhang darf man schon einmal da-
        rauf hinweisen, dass das grün-rote Baden-Württemberg
        mit 61,7 Prozent, Stand 6. Dezember 2012, das Schluss-
        licht beim Mittelabruf bildet. Der Bund steht zu seinem
        Teil der Verantwortung. Wir fordern hier die rot-grünen
        Regierungen dieser Länder ausdrücklich dazu auf, auch
        ihren Teil beizutragen.
        Der Fiskalpakt wurde von den Ländern abgelehnt.
        Dieser beinhaltete auch die zusätzlichen 580,5 Millionen
        Euro für den Kitaausbau. Deswegen müssen wir heute
        den Ländern das Geld quasi hinterhertragen. Diese feh-
        lende Wahrnehmung der beim Krippengipfel 2007 ein-
        stimmig beschlossenen Strategie ärgert mich umso mehr,
        als die Länder äußerst genau darauf achten, dass der
        Bund sich nicht in ihre Kompetenzen einmischt. Wenn
        etwa ein Vorschlag für schärfere Berichtspflichten ge-
        macht wird, gibt es einen lauten Aufschrei. Aber die
        Eltern der Kinder erwarten von den Landesfürsten keine
        taktischen Spielchen, sondern die Umsetzung dessen,
        was sie selbst mit beschlossen haben.
        Dass wir das vereinbarte Ziel von 750 000 Plätzen für
        Kinder unter drei Jahren noch nicht erreicht haben, ist
        uns bewusst. Wir haben aufgrund des ermittelten Be-
        darfs trotzdem 30 000 Plätze zusätzlich vorgesehen und
        wissen doch auch, dass in einigen Regionen auch das
        nicht ausreichen wird. Es bedarf deshalb auch noch in
        den nächsten Jahren erheblicher Anstrengungen, um hier
        eine Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Möglich-
        keiten zu erreichen.
        Es ärgert mich, dass von einigen Ländervertretern und
        der Opposition Zahlen von 100 000 oder 150 000 noch
        fehlenden Plätzen in den Raum geworfen werden. Es ist
        wahr: Wir haben alle zusammen die Bedarfsquote noch
        nicht erfüllt; aber jeder – Bund, Länder und Kommunen –
        muss sich selbst die Frage stellen: Was tue ich, um den
        Ausbau zu beschleunigen?
        Hier vermisse ich beispielsweise von der Landesre-
        gierung Initiativen zur Entrümpelung der Landesbauord-
        nungen, damit der Ausbau nicht durch überzogene
        Standards bei der Höhe von Kleiderhaken und Toiletten-
        becken verzögert wird. Auch fehlen mir hier Initiativen
        der Landesregierungen, die es ermöglichen, die EU-
        Hygieneverordnungen in der Tagespflege großzügig aus-
        zulegen. Die Länder besitzen hier einen großen Spiel-
        raum, welchen sie auch nutzen sollten. Mit unserem
        Antrag zur Stärkung der Tagespflege haben wir unseren
        Beitrag geleistet, aber auch hier liegt vieles in der Zu-
        ständigkeit der Länder. Es ist die Aufgabe der Länder,
        hier aktiv zu werden.
        Eines kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung versi-
        chern: Die Eltern wollen nicht hören, wessen Schuld es
        ist, wenn der Ausbau der Betreuungskapazität in ihrer
        Kommune noch nicht ausreichend ist, sondern sie möch-
        ten wissen, was von Bund, Ländern und Kommunen
        getan wird, um eine Lösung dafür zu finden. Die rechtli-
        chen Rahmenbedingungen werden vom Bund gesetzt; er
        gibt auch das Geld, sie auszufüllen. Die Länder und
        Kommunen sind in der Pflicht, die Umsetzung vor Ort
        zu organisieren.
        Diana Golze (DIE LINKE): Seit Jahren geistert das
        Wort „Wahlfreiheit“ umher, wenn das Thema Kinderta-
        gesbetreuung auf der Tagesordnung steht. Für einen Teil
        dieser „Wahlfreiheit“ hat sich die Bundesregierung über
        Monate hinweg eine Schlammschlacht geliefert und vor-
        bei an der mehrheitlichen Meinung in der Bevölkerung,
        der Fachwelt und entgegen des derzeitigen Standes der
        frühkindlichen Forschung eine „Kitafernhalteprämie“
        beschlossen. Milliarden wurden in die Hand genommen
        und Lieblingsprojekte einzelner Kabinettsmitglieder zur
        Verhandlungsmasse gemacht, nur um zu erhalten, was
        kaum noch jemand möchte: ein Familienbild, dass Kin-
        dererziehung zur Privatsache macht und die öffentliche
        Verantwortung hierfür auf die Zahlung eines Taschen-
        geldes reduziert. Die Rede ist natürlich von der hitzigen
        Debatte um die Einführung des Betreuungsgeldes – der
        Leistung, die für die größte Mogelpackung in Sachen
        moderner Familienpolitik steht.
        Seit Jahren umstritten und trotzdem mit einer Verbis-
        senheit umgesetzt, die man sich auch bei der anderen
        Seite dieser „Wahlfreiheit“ – der Kinderbetreuung in öf-
        fentlicher Verantwortung – immer noch nur wünschen
        kann. Hier treibt das Engagement der Bundesregierung
        indes andere Blüten. Neue Unwörter wie „Kitaplatz-
        Sharing“ und „Erzieheraustausch“ machen klar, in wel-
        chem Dilemma wir in Sachen Kindertagesbetreuung bis
        heute stecken. Alte Vorurteile halten sich beharrlich, und
        wo sie nicht mehr zu halten sind, werden sie mit
        Kampfreden einer ansonsten schweigenden Ministerin
        Schröder kleingeredet. Statt endlich das zu tun, was ihr
        eigentlicher Job ist, wird immer und immer wieder der
        gleiche Sprechzettel hervorgeholt, nämlich dass der
        Bund seinen Beitrag in Form des einmal zur Verfügung
        gestellten Sondervermögens für den Kitaausbau bereits
        geleistet hat, dass nun alle anderen dran seien in der
        Wahrnehmung ihrer Verantwortung.
        Ich sage Ihnen, Frau Ministerin: Das Maß an Ignoranz
        der Verantwortung des Bundes ist voll. Seit Jahren wird
        das viel zu schleppend verlaufende Ausbautempo schön-
        geredet, das Fehlen einer Bedarfsplanung ist an der Ta-
        gesordnung und an den daraus resultierenden falschen
        Ausbauzielen wird festgehalten. Hilferufe der kommu-
        nalen Spitzenverbände werden so lange in die Schublade
        gelegt, bis man die Diskussion endlich da hat, wo man
        sie schon immer haben wollte: fernab von einer Debatte
        um die Qualität von Kindertagesbetreuung, von dem be-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27311
        (A) (C)
        (D)(B)
        stehenden Fachkräftemangel und von den schwierigen
        Arbeitsbedingungen in der Kindertagespflege. Das, was
        uns nun erneut in Form eines Gesetzentwurfes vorgelegt
        wurde, überbietet jede bisher da gewesene Augenwi-
        scherei.
        Die durch Ihren Vorschlag zu schaffenden 30 000
        Plätze reichen nicht im Ansatz aus, um in die Nähe der
        220 000 fehlenden Plätze zu kommen – von der Erfül-
        lung eines Rechtsanspruches ganz zu schweigen. Sie lie-
        fern auch diesmal keine Lösung dafür, dass trotz dieser
        Aufstockung und langfristigen Beteiligung des Bundes
        an den Gesamtkosten der überwiegende Teil der dauer-
        haften Kosten an den Kommunen hängen bleibt. Es kann
        nicht sein, dass die Erfüllung eines vom Bund geschaffe-
        nen Rechtsanspruches und damit der qualitative und
        quantitative Ausbau der Kinderbetreuung davon abhän-
        gen soll, wie voll oder wie leer die Kasse der jeweiligen
        Kommune ist.
        Die Linke bleibt darum bei ihrer Forderung nach ei-
        nem Spitzentreffen zwischen den verantwortlichen Ak-
        teuren aus Bund, Ländern und Kommunen unter Beteili-
        gung der wissenschaftlichen Fachwelt. Ein solcher
        Krippengipfel ist dringend nötig, um den tatsächlichen
        Stand des Betreuungsausbaus und des Ausbaubedarfes
        zu ermitteln und endlich ehrlich sofortige Maßnahmen
        zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu verabreden.
        Wenn Sie, Frau Ministerin, daraus auch noch ein regel-
        mäßig tagendes Gremium mit dem Auftrag, die Umset-
        zung des Ausbaus zu begleiten und im Bedarfsfall umge-
        hend notwendige Lösungsvorschläge zu erarbeiten,
        schaffen würden, dann können Sie auch wieder davon
        reden, dass der Bund seine Verantwortung wahrnimmt.
        So aber ist auch dieser Gesetzentwurf ein Tropfen auf
        den heißen Stein, der mit unnötig repressiven Fristen den
        Ländern und Kommunen einmal mehr die Pistole auf die
        Brust setzt und damit für uns nicht zustimmungsfähig
        ist.
        Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute
        stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, der Finanz-
        mittel in Höhe von 580 Millionen Euro für 30 000 zu-
        sätzliche U-3-Plätze bringen wird. Die Beratungen in
        den Ausschüssen haben es uns schon verraten: Dieser
        Gesetzentwurf wird eine breite Mehrheit finden. Und
        auch im Bundesrat – der morgen über den Gesetzentwurf
        beschließt – ist nicht mit Widerstand zu rechnen. Denn
        jetzt darf es nur noch ein Ziel geben: Die zusätzlichen
        Mittel müssen so schnell wie möglich dahin, wo sie be-
        nötigt werden: in die Kommunen, in die Kitas.
        Dass dieses Geld erst jetzt auf den Weg gebracht
        wird, dass wertvolle Zeit mit Blick auf den Rechtsan-
        spruch auf einen U-3-Platz, der ab dem 1. August be-
        steht, verplempert wurde, ist keinem parteitaktischen
        Kalkül der Bundesländer im Bundesrat zu verdanken.
        Das wollen uns zwar die Koalitionsfraktionen weisma-
        chen, aber Fakt ist, dass die Verantwortung einzig und
        allein bei der Bundesregierung liegt. Bis Dezember letz-
        ten Jahres waren die Regelungen über die zusätzlichen
        Kitamittel Bestandteil des Gesetzentwurfs zur inner-
        staatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags. Der Bundes-
        rat hat dem Gesetzentwurf zur Umsetzung des Fiskalver-
        trags nicht zugestimmt, weil die Bundesregierung sich
        nicht an die Zusage gehalten hat, die sie den Ländern zur
        Neufestlegung der Entflechtungsmittel gegeben hat. Mit
        dem Kitaausbau hat die Kritik der Bundesländer über-
        haupt nichts zu tun.
        Dasselbe Schwarze-Peter-Spiel hat Ministerin
        Schröder übrigens auch bei den zusätzlichen Kitamillio-
        nen versucht. Einigungen, die im August zwischen dem
        Familienministerium und den Ländern erzielt wurden,
        fanden keinen Niederschlag in dem Gesetzentwurf, den
        die Bundesregierung im Oktober vorgelegt hat. Erst hat
        Ministerin Schröder versucht, die Länder mit monatli-
        chen Berichtspflichten über die Verwendung der Mittel
        zu drangsalieren. Dann hat sie viel zu lange eine Eini-
        gung über die Auszahlung der zugesagten Betriebsmittel
        in Höhe von 75 Millionen Euro jährlich blockiert, und
        das, nachdem sie selbst seit Jahren keinen müden Cent
        zusätzlich für den Kitaausbau beim Finanzminister aus-
        verhandeln konnte.
        Daher, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
        Koalitionsfraktionen, hören Sie endlich auf, den Bundes-
        ländern oder gar der Opposition die Schuld für die ver-
        zögerte Auszahlung der Mittel in die Schuhe zu schie-
        ben. Das ist der Sache nicht dienlich und interessiert die
        Eltern, die einen Kitaplatz für ihr Kind brauchen, so-
        wieso nicht.
        Die zusätzlichen Mittel sind ein wichtiger Schritt und
        für viele Kommunen sicherlich der letzte Rettungsanker.
        Aber auch mit diesen zusätzlichen 580 Millionen Euro
        kann die Erfüllung des Rechtsanspruchs nicht überall si-
        chergestellt werden. In vielen Kommunen, die in den
        letzten Jahren in den U-3-Ausbau investiert, aber einen
        deutlich höheren Bedarf als die ursprünglich avisierten
        35 bzw. jetzt 39 Prozent haben, werden Eltern mit ihrem
        Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf trotz-
        dem keinen Kitaplatz finden. Deshalb halten wir Grünen
        ein Sonderprogramm, das sich gerade an Kommunen mit
        besonders hohen Bedarfen richtet, für dringend geboten.
        Die Kommunen fordern nicht nur die Beteiligung des
        Bundes und der Länder an eventuellen Schadenersatzan-
        sprüchen, die Eltern wohl aufgrund fehlender Kitaplätze
        einklagen könnten. Ich halte diese Forderung für nicht
        zielführend, weil wir jetzt in den Ausbau und nicht spä-
        ter in den Schadenersatz für nicht erfolgten Ausbau in-
        vestieren müssen. Die Kommunen rechnen aber auch da-
        mit, dass die Anzahl der Kinder in den Gruppen erhöht
        und damit zentrale Qualitätsstandards gesenkt werden.
        Das darf auf keinen Fall passieren.
        Es reicht nicht, wie wir es von der Ministerin kennen,
        auf die Bedeutung hoher Qualitätsstandards hinzuwei-
        sen. Der Bund muss auch handeln. Er ist auch bei der
        Frage der Qualität in der Pflicht und sollte sich seiner
        Verantwortung endlich stellen.
        27312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 11
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags
        (Tagesordnungspunkt 17)
        Norbert Barthle (CDU/CSU): Wir verabschieden
        heute im Bundestag zum zweiten Mal das Fiskalver-
        tragsumsetzungsgesetz. Es ist äußerst ärgerlich, dass der
        Bundesrat dem Gesetz im ersten Anlauf nicht zuge-
        stimmt hat. Ich möchte daran erinnern: Auch die Länder
        haben im vergangenen Sommer den Fiskalvertrag ratifi-
        ziert. Auch die Länder haben daher die gesamtstaatliche
        Verantwortung, die durch die Ratifizierung notwendig
        gewordenen Folgerechtsänderungen mitzutragen.
        Es ist manchmal schon schwer erträglich, wie die
        Ländermehrheit derzeit immer wieder Rosinenpickerei
        betreibt. Ich gehe davon aus, dass das Gesetz für die zu-
        sätzlichen Mittel für den Kitaausbau ohne Probleme den
        Bundesrat passieren wird. Dann aber das Gesetz zur in-
        nerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags als Faust-
        pfand für taktische Spielchen im Bundesrat zu nutzen,
        wäre mehr als unangemessen. Das werden auch die
        Bürgerinnen und Bürger im Land so sehen. Ich bin daher
        sehr gespannt auf die erneute Entscheidung des Bundes-
        rates zu diesem Gesetz.
        Der Fiskalvertrag ist das zentrale Instrument, um dem
        Prinzip der Solidität europaweit zu besserer Geltung zu
        verhelfen. Die Bedeutung der Verpflichtung für die Un-
        terzeichnerstaaten, Schuldenbremsen nach deutschem
        Vorbild umzusetzen und ihre Einhaltung zu kontrollie-
        ren, kann gar nicht stark genug gewürdigt werden.
        Deutschland hat mit der im Zuge der Föderalismusre-
        form II eingeführten deutschen Schuldenbremse und der
        parallelen Einrichtung des Stabilitätsrats zentrale Vorga-
        ben des Fiskalvertrags bereits jetzt erfüllt. Mit dem
        Fiskalvertragsumsetzungsgesetz regeln wir die zusätz-
        lich notwendigen rechtlichen Ergänzungen zur inner-
        staatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags und des refor-
        mierten Stabilitäts- und Wachstumspakts. So wird die
        zulässige Obergrenze für das strukturelle gesamtstaatli-
        che Finanzierungsdefizit von maximal 0,5 Prozent des
        BIP im Haushaltsgrundsätzegesetz festgeschrieben. Mit
        der Änderung des Sanktionszahlungs-Aufteilungsgeset-
        zes wird die innerstaatliche Aufteilung der mit der
        Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts neu einge-
        führten Sanktionen zur Sicherung der Haushaltsdisziplin
        geregelt.
        Der Stabilitätsrat wird zudem damit beauftragt, die
        Einhaltung der strukturellen gesamtstaatlichen Defizit-
        obergrenze zu überwachen. Zur Unterstützung des Stabi-
        litätsrates bei dieser Aufgabe wird ein unabhängiger
        Beirat eingerichtet. Mit der Überwachung der gesamt-
        staatlichen Regeln durch den Stabilitätsrat und seinen
        unabhängigen Beirat trägt Deutschland den Anforderun-
        gen des Fiskalvertrags und der von der Europäischen
        Kommission vorgelegten gemeinsamen Grundsätze
        – auch hinsichtlich der darin geforderten starken Rolle
        unabhängiger Institutionen – vollständig Rechnung.
        Durch die Kombination von Stabilitätsrat und unabhän-
        gigem Beirat wird ein optimales Institutionengefüge zur
        Überwachung der Einhaltung der Vorgaben des Fiskal-
        vertrags geschaffen.
        Im Rahmen des heute zu verabschiedenden Gesetzes
        schreiben wir auch fest, dass das Guthaben auf dem so-
        genannten Kontrollkonto der Schuldenregel am Ende
        des Jahres 2015 auf null gesetzt wird. Die Koalition hat
        immer gesagt, dass die Überschüsse im Kontrollkonto
        nicht über die Dauer des Übergangszeitraumes hinaus
        Wirkung entfalten sollen. Sobald die Schuldenbremse ab
        2016 in den Regelbetrieb übergeht, starten wir daher nun
        mit einem sauberen Kontrollkonto.
        Dies ist ein sehr wichtiges Signal insbesondere ge-
        genüber den europäischen Partnern, die ähnliche Schul-
        denbremsen national verankern müssen. Und auch den
        Bundesländern sollte diese Regelung ein Ansporn sein,
        selbst rechtzeitig für eine wasserdichte Umsetzung der
        grundgesetzlichen Verpflichtungen zu sorgen. Da liegt in
        manchen Ländern noch einiges im Argen.
        Das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz ist ein wichti-
        ges Gesetz. Wir erleben derzeit in Europa, dass Ver-
        trauen langsam, aber sicher zurückkehrt. Gerade jetzt
        dürfen wir mit unseren Anstrengungen zu Strukturrefor-
        men, Haushaltskonsolidierung und einer Stärkung des
        institutionellen Rahmens der Währungsunion nicht
        nachlassen. Wir sind in einer kritischen Phase der
        Krisenbewältigung, nämlich in der Phase, zu beweisen,
        dass wir es nicht nur kurzfristig, sondern auch dauerhaft
        ernst meinen mit allen Reformzusagen.
        Deutschland muss dabei mit gutem Beispiel vorange-
        hen, um den Umsetzungsdruck auch in allen anderen
        Ländern aufrechtzuerhalten. Der Fiskalvertrag ist seit
        1. Januar 2013 in Kraft. Wir müssen nun schleunigst alle
        notwendigen gesetzlichen Anpassungen verabschieden.
        Wir riskieren sonst nicht nur eine große Blamage gegen-
        über unseren Partnern. Wir riskieren auch den Verlust
        von Glaubwürdigkeit, die in dieser Phase der Stabilisie-
        rung und Konsolidierung im Euro-Raum so dringend
        notwendig ist. Ich appelliere an alle, sich dieser gesamt-
        staatlichen und europäischen Verantwortung bewusst zu
        sein. Das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz ist kein Ge-
        setz für politische Spielchen. Ich bitte daher um eine
        breite Zustimmung des Deutschen Bundestages.
        Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Nach der verfas-
        sungsrechtlichen Verankerung der Schuldenbremse und
        der Schaffung des Stabilitätsrats gehen wir mit dem Fis-
        kalpakt den nächsten Schritt hin zu einer nachhaltigen
        Haushaltspolitik und zu tragfähigen Staatsfinanzen. Mit
        dem Fiskalvertragsumsetzungsgesetz werden die da-
        rüber hinaus notwendigen rechtlichen Ergänzungen zur
        innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags und des
        reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakts geregelt.
        Bereits in diesem Jahr wird der Bund trotz Fälligwer-
        dens zweier weiterer ESM-Raten die erst ab 2016 durch
        die Schuldenbremse vorgegebene Grenze für die struktu-
        relle Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Brutto-
        inlandsprodukts unterschreiten. Das ist drei Jahre früher
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27313
        (A) (C)
        (D)(B)
        als verfassungsrechtlich vorgeschrieben. Wir sind damit
        für die europäische Schuldenregel gut aufgestellt.
        Um Deutschland zukunftsfest zu machen, müssen wir
        den Weg der wachstumsorientierten Haushaltskonsoli-
        dierung konsequent fortsetzen. Nur nachhaltiges Wachs-
        tum schafft Vertrauen und Verlässlichkeit. Wachstum ist
        dann stabil und zukunftsgerichtet, wenn es auf solide
        Finanzen aufbaut. Denn diese geben uns und den nach-
        kommenden Generationen die notwendigen Handlungs-
        spielräume für eine gute Zukunft Deutschlands. Die
        Herausforderungen liegen auf der Hand: Haushaltskon-
        solidierung, Stärkung der Infrastrukturinvestitionen und
        Verbesserung der Finanzkraft der Kommunen.
        Trotz steigender Einnahmen haben wir im Bundes-
        haushalt 2013 die Ausgabenseite begrenzt. Gegenüber
        dem Beginn der Legislaturperiode konnten wir die Aus-
        gaben nominal absenken. Damit kommt auch der für
        2014 angestrebte strukturelle Haushaltsausgleich in
        greifbare Nähe. Diese konsequente Konsolidierung wird
        auch wieder mehr Spielräume schaffen zur Gestaltung
        freier Zukunft. Konsolidierung heißt Zukunftssicherung.
        Deutschland braucht eine leistungsfähige Verkehrsin-
        frastruktur. Ausreichende und qualitativ hochwertige
        Verkehrswege sind die Lebensadern unserer Volkswirt-
        schaft und sichern ein Höchstmaß an gesellschaftlicher
        Mobilität.
        Um die Leistungsfähigkeit unserer Verkehrswege zu
        sichern und das weiter ansteigende Verkehrsaufkommen
        bewältigen zu können, sind erhebliche Investitionen not-
        wendig. Zwar konnten im aktuellen Bundeshaushalt Ge-
        samtinvestitionen für die Verkehrswege von jährlich
        über 10 Milliarden Euro und damit über dem Niveau der
        Vorjahre verankert werden. Diese Mittel reichen aber
        immer noch nicht, um alle Projekte in unserem Land zu
        finanzieren, die dringend realisiert werden müssten.
        Auch die Zusatzmilliarde aus dem „Infrastrukturbe-
        schleunigungsprogramm“ von Anfang 2012 sowie die
        zusätzliche Dreiviertelmilliarde Euro für den Bundes-
        haushalt 2013 versetzt den Bund allenfalls in die Lage,
        einen Teil des gewaltigen Finanzierungsbedarfs zu de-
        cken. Wir müssen mehr Finanzmittel für den Erhalt und
        die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur bereitstel-
        len.
        Zu einer überzeugenden Haushaltskonsolidierung ge-
        hört auch, die Kommunen zu unterstützen, damit sie ihre
        Aufgaben erfüllen und ihre Haushalte ebenfalls konsoli-
        dieren können.
        Die christlich-liberale Koalition hat Anfang Novem-
        ber den Weg für die größte finanzielle Entlastung der
        Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik
        Deutschland freigemacht. Durch die Übernahme der
        Nettoausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Er-
        werbsminderung entlastet der Bund die Kommunen al-
        lein im Zeitraum 2012 bis 2016 um rund 18,5 Milliarden
        Euro.
        Wir müssen die Kommunen aber noch weiter entlas-
        ten. Eine alternde Gesellschaft mit einem stetig wach-
        senden Anteil an Menschen mit Behinderung überfordert
        die kommunal finanzierten Daseinsvorsorgeleistungen.
        Die bevorstehenden Herausforderungen haben sich zu
        einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe entwickelt. Be-
        hinderung ist ein Lebensrisiko, das jeden Menschen je-
        derzeit treffen kann. Wir müssen die Eingliederungshilfe
        für Menschen mit Behinderung zu einer zeitgemäßen
        und zukunftsorientierten Hilfe weiterentwickeln, die den
        behinderten Menschen und seine Bedürfnisse in den
        Mittelpunkt stellt und ihn in die Gesellschaft gut inte-
        griert.
        Die Umsetzung der Eingliederungshilfereform sollte
        in einem eigenen Bundesleistungsgesetz erfolgen, um
        Menschen mit Behinderung aus dem „Fürsorgesystem“
        herauszuführen. Ich begrüße die im Rahmen der inner-
        staatlichen Umsetzung der neuen Vorgaben des Fiskal-
        vertrages erzielte Einigung zwischen Bund und Ländern,
        die Vorschriften zur Eingliederungshilfe durch ein Bun-
        desleistungsgesetz abzulösen. Als gesamtgesellschaftli-
        che Aufgabe muss sich der Bund künftig an den Kosten
        für die Eingliederungshilfe angemessen beteiligen. Die
        dafür notwendigen finanziellen Spielräume müssen wir
        im Rahmen der Haushaltskonsolidierung erarbeiten.
        Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Erst vor zwei
        Monaten haben wir über den gleichen Entwurf dieses
        Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalver-
        trags gesprochen. Das Gesetz hat kurz vor Weihnachten
        – weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit – keine
        Zustimmung im Bundesrat gefunden, und auch die SPD-
        Bundestagsfraktion hat das Gesetz damals abgelehnt.
        Mit dem Gesetz sollen in Deutschland die Vorausset-
        zungen für die nationale Anwendung des Fiskalvertrages
        geschaffen werden. Man muss daran erinnern, dass Fi-
        nanzminister Schäuble und auch die Bundeskanzlerin
        noch vor einem Jahr, nach der Aushandlung des Vertra-
        ges, erzählt haben, Deutschland sei quasi das Vorbild für
        diesen Vertrag und erfülle mit seiner Schuldenbremse
        bereits alle Vorgaben. Dass das nicht zutreffend ist, se-
        hen wir an diesem Umsetzungsgesetz.
        Es gibt aber auch noch ein anderes Problem. Der Ver-
        trag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der
        Wirtschafts- und Währungsunion wurde als völkerrecht-
        licher Vertrag geschlossen. Wenn schon eine Einigung
        im Wege der Primärrechtsänderung nicht möglich gewe-
        sen ist, wäre doch wenigstens eine Regelung im Rahmen
        des europäischen Sekundärrechts deutlich besser gewe-
        sen. Einerseits ist der Vertrag in seiner jetzigen Kon-
        struktion weniger wirkungsvoll, da lediglich die Einfüh-
        rung von nationalen Schuldenregeln vorgeschrieben
        wird, die Einhaltung dieser selbstgewählten nationalen
        Regeln durch den Vertrag ist aber nicht sichergestellt.
        Auch das Zustandekommen des Vertrages aus natio-
        naler Perspektive ist ein Problem. Wie beim ESM hat
        auch bei dieser Vereinbarung die Bundesregierung es
        versäumt, die nationalen Gesetzgeber rechtzeitig und
        umfassend einzubeziehen. Schließlich konterkariert die
        Vorgabe des Vertrages unsere verfassungsrechtliche
        Schuldenregel. Während durch das Ergebnis der Födera-
        lismuskommission II eine Schuldenregel in Höhe von
        0,35 Prozent/BIP für den Bund ab 2016 und eine Null-
        verschuldungsregel für die Länder ab 2020 eingeführt
        27314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        wurde, entsteht nun durch den neuen Vertrag eine ge-
        samtstaatliche Begrenzung des strukturellen Defizits in
        Höhe von 0,5 Prozent des BIP bereits ab 2013. Wenn die
        Bundesregierung solche weitreichenden Vertragsver-
        handlungen auf zwischenstaatlicher Ebene führt, muss
        sie die nationalen Haushaltsgesetzgeber nicht nur infor-
        mieren, sondern in die Verhandlungen mit einbeziehen.
        Das hat die Bundesregierung unterlassen und damit in
        eklatanter Weise gegen das Grundgesetz verstoßen, wie
        ihr das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
        19. Juni 2012 bescheinigt hat.
        Warum brauchen wir nun also ein Umsetzungsgesetz,
        bzw. welche Defizite weist die deutsche Schuldenregel
        gegenüber den Vorgaben des Fiskalvertrages auf? Die
        EU-Kommission hat für eine möglichst einheitliche Ein-
        führung der Schuldenregeln in den Teilnehmerstaaten
        des Fiskalvertrages am 20. Juni 2012 gemeinsame
        Grundsätze veröffentlicht. Dabei gilt ein wesentlicher
        Grundsatz der Rolle und Unabhängigkeit der für die
        Überwachung zuständigen Institutionen. Die Kommis-
        sion hält darin fest, dass für die Glaubwürdigkeit und
        Transparenz der Schuldenregeln – „Korrekturmechanis-
        men“, wie sie technisch genannt werden – wesentlich ist,
        dass die Überwachung durch unabhängige oder funktio-
        nal autonome Stellen erfolgt. Für diese Stellen müssen
        nationale Rechtsvorschriften erlassen werden, die ihnen
        ein hohes Maß an funktionaler Autonomie gewähren,
        einschließlich eines gesetzlich verankerten Status’, der
        die Freiheit von Einflussnahme sichert, die Benennungs-
        verfahren festlegt und angemessene Ressourcen und ei-
        nen zur Erfüllung ihres Auftrags angemessenen Zugang
        zu Informationen garantiert.
        Die Kommission verfolgt hiermit ein Modell, das in
        den vergangenen Jahren in vielen Ländern innerhalb und
        außerhalb Europas in der einen oder anderen Form um-
        gesetzt worden ist – oft als „Fiscal Council“ bezeichnet –
        und das in der ökonomischen Literatur und in internatio-
        nalen Organisationen wie der OECD viele Befürworter
        hat. Deutschland als entschiedener Befürworter der Ein-
        führung und Überwachung einer Fiskal- bzw. Schulden-
        regel sollte sich dieser Entwicklung nicht verschließen.
        Die Bundesregierung will mit ihrem Gesetzentwurf
        zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalpaktes keine
        neue Institution schaffen, sondern die Rolle des Stabili-
        tätsrates stärken und ihm einen sogenannten Unabhängi-
        gen Beirat beistellen. Dieser Vorschlag genügt den An-
        forderungen nicht, und auch andere Länder sind in
        diesem Bereich viel weiter. Dies hat auch die Anhörung
        gezeigt, die der Haushaltausschuss anlässlich der Bera-
        tungen zum ersten Gesetzentwurf am 19. November
        letzten Jahres unter Beteiligung internationaler Experten
        durchgeführt hat. So haben Schweden und die Nieder-
        lande inzwischen renommierte Institutionen etabliert,
        die eine unabhängige Beratung und objektive Betrach-
        tung der Fiskalpolitik sicherstellen. Die USA haben das
        Congressional Budget Office sogar schon 1975 geschaf-
        fen. In Großbritannien hat die aktuelle Regierungskoali-
        tion aus Konservativen und Liberalen ein solches Fiscal
        Council eingerichtet, nur in Deutschland verweigert sich
        die Regierungskoalition diesen Fortschritten.
        Auch in einem aktuellen Bericht des Internationalen
        Währungsfonds vom November 2012 über die Ausge-
        staltungen nationaler Fiskalregeln wird deutlich, dass
        Deutschland nicht über unabhängige Einrichtungen zur
        Überwachung der Einhaltung der eigenen Schulden-
        bremse verfügt. Von „funktioneller Eigenständigkeit ge-
        genüber den Haushaltsbehörden des Mitgliedstaates“
        kann beim Stabilitätsrat nicht ernsthaft die Rede sein.
        Denn dem Stabilitätsrat gehören die Länderfinanzminis-
        ter und der Bundesfinanzminister an. Eine Institution,
        die aus den für die Haushaltsbehörden verantwortlichen
        Ministern besteht, kann nicht glaubwürdig für sich eine
        funktionale Eigenständigkeit gegenüber eben diesen
        Haushaltsbehörden behaupten.
        Die von der Bundesregierung als Argument angeführ-
        ten gesetzlichen Regelungen über die Beschlussfassung
        können diesen Konstruktionsmangel ebenso wenig hei-
        len wie die Beigabe eines unabhängigen Beirats. Ein un-
        abhängiges Beratergremium macht aus einer abhängigen
        keine unabhängige Institution.
        Auch ist der Vorschlag der Koalitionsfraktion nicht in
        Einklang zu bringen mit dem bereits auf europäischer
        Ebene bestehenden Gesetzespaket „Sixpack“ und dem
        gerade in der Verhandlung steckendem „Twopack“.
        Beide setzen voraus – ich zitiere –, dass die europäi-
        schen Mitgliedstaaten über „einen unabhängigen Rat für
        Finanzpolitik“ verfügen, „dessen funktionelle Eigen-
        ständigkeit gegenüber den Haushaltsbehörden des Mit-
        gliedstaats gegeben und dessen Aufgabe es ist, die Um-
        setzung der nationalen Haushaltsregeln zu überwachen“.
        Es gibt keinerlei Regelung zu Amtszeit, Ernennung
        und Entlassung oder Amtsausstattung. In dem Beirat
        sind lediglich die drei Mitglieder, die von Bundesbank,
        Sachverständigenrat und Forschungsinstitutsverbund der
        Gemeinschaftsdiagnose benannt werden, als unabhängig
        zu bezeichnen; die anderen sechs Mitglieder werden von
        den Vertretern der staatlichen Ebenen und Sozialver-
        sicherungen benannt, deren Haushaltsgebaren kontrol-
        liert werden soll. Bei diesem Verhältnis von 3 : 6 von ei-
        nem unabhängigen Beirat zu sprechen, ist ein Witz. Eine
        solche Regelung würde Deutschland einem anderen
        Land in Europa nicht durchgehen lassen.
        Mit diesen wesentlichen Abweichungen von den ver-
        bindlichen Grundsätzen der EU-Kommission zur Ausge-
        staltung der nationalen Schuldenregeln tragen deshalb
        auch die Bundesregierung und die sie tragenden Koali-
        tionsfraktionen das Klagerisiko vor dem EuGH. Die
        SPD ist der festen Überzeugung, dass weder der Stabili-
        tätsrat noch ein sogenannter unabhängiger Beirat als
        Gremium dienen kann, um die Finanzpolitik der Regie-
        rung auszuwerten. Dazu braucht es eine andere Rege-
        lung, und deshalb schlagen wir die Einrichtung eines
        Nationalen Rates für Haushalts- und Finanzpolitik vor.
        Wir haben dafür einen ausführlichen Änderungsantrag in
        die Beratungen eingebracht.
        Gleichzeitig entstünde durch die Einrichtung dieses
        nationalen Rates mit einem entsprechenden Sekretariat,
        organisiert als Arbeitsstab beim Deutschen Bundestag,
        auch die notwendige Verbesserung der Ausstattung des
        Parlamentes um den gestiegenen Anforderungen, nicht
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27315
        (A) (C)
        (D)(B)
        zuletzt durch die seit 2008 anhaltende Finanzkrise,
        sowie den neuen gesetzlichen Beteiligungsrechten und
        -pflichten, die teilweise nach höchstrichterlicher Recht-
        sprechung verankert wurden, gerecht werden zu können.
        Die öffentliche Anhörung des Haushaltsausschusses
        hat zu dieser Frage den Nachholbedarf des Bundestages
        gegenüber den Parlamenten anderer westlicher Demo-
        kratien deutlich belegt.
        Wir begrüßen dagegen, dass die Koalitionsfraktionen
        mit einer Ergänzung in dem heute vorliegenden Gesetz-
        entwurf inzwischen den durch einen willkürlich gewähl-
        ten Ausgangspunkt für den Abbaupfad des strukturellen
        Defizits im Bundeshaushalt entstandenen Positivsaldo
        auf dem Kontrollkonto der Schuldenbremse löschen wol-
        len. Schließlich würde durch eine mögliche Inanspruch-
        nahme dieses Saldos in Form von zusätzlichen Verschul-
        dungsmöglichkeiten, die sich nach Berechnungen der
        Bundesbank bis zum Jahr 2015 auf 50 Milliarden Euro
        summieren werden, die Glaubwürdigkeit der noch jungen
        verfassungsrechtlichen Schuldenregel gefährdet. Mit die-
        ser Änderung der Koalitionsfraktionen wird nun endlich
        auf die anhaltende Kritik der SPD-Bundestagsfraktion
        seit mehr als zwei Jahren, die aber auch von Sachverstän-
        digenrat, der Bundesbank, und dem Bundesrechnungshof
        unterstützt wurde, eingegangen.
        Gleichwohl wird durch diese Änderung nicht die Ur-
        sache, nämlich der willkürlich gewählte Abbaupfad, kor-
        rigiert. Damit hält sich die Koalition eine Hintertür für
        die unterjährige Nutzung dieser Verschuldungsspiel-
        räume im Haushaltsvollzug oder auch bei Nachtrags-
        haushalten offen, wie auch die Bundesbank in ihrer Stel-
        lungnahme zur schon genannten Anhörung kritisiert.
        Politisches Wunschdenken darf keinen Einfluss mehr
        auf unsere Finanz- und Haushaltsplanung haben. In
        Richtung der Regierungskoalition sage ich dazu: Das
        muss man aber auch wollen. Leider bekomme ich immer
        mehr den Eindruck, dass Sie sich nicht trauen, ihre Poli-
        tik unabhängiger und ehrlicher Analysen auszusetzen.
        Weil Sie sich unserem Vorschlag für eine Verbesse-
        rung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages gerade im
        Haushaltsausschuss offenbar aus Angst vor der Unbill
        der Exekutive verweigern – obwohl Sie dem Anliegen
        nach eigenem Bekunden bei den Beratungen grundsätz-
        lich zustimmen –, lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
        Dr. Florian Toncar (FDP): Wenn wir heute das Ge-
        setz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags
        verabschieden, lohnt sich ein Rückblick auf das Jahr
        2009, in dem eine der wichtigsten Reformen in Deutsch-
        land, das Einfügen der Schuldenbremse in das Grundge-
        setz, im Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Das
        war mitten in der Finanzkrise mutig. Ich glaube, das ist
        nicht nur Anlass, stolz auf unser Land zu sein, sondern
        durchaus auch Anlass, stolz auf das politische System in
        Deutschland zu sein, das früher als viele andere erkannt
        hat, dass zu viele Schulden eine Gefahr für Staaten und
        für Gesellschaften darstellen können. Wir können stolz
        darauf sein, dass Deutschland sich früher als andere Län-
        der dafür entschieden hat, etwas dagegen zu tun.
        Die christlich-liberale Koalition hat seit dem Jahr
        2010 gewaltige Anstrengungen unternommen, um den
        Haushalt zu konsolidieren. In der Krise stand eher das
        Geldausgeben im Vordergrund. Damals sind immerhin
        80 Milliarden Euro für Konjunkturprogramme ausgege-
        ben worden. Es hat sich gezeigt, dass viele dieser Ausga-
        ben durchaus richtig waren; dennoch mussten die da-
        durch entstandenen Schulden in den Folgejahren wieder
        ausgeglichen werden, um die Haushalte zu konsolidie-
        ren. Eine der politischen Leistungen der christlich-libe-
        ralen Koalition ist es, intelligent gespart zu haben; denn
        Einsparen ist immer schwerer als Ausgeben.
        Einsparen und gleichzeitig in die Zukunft zu investie-
        ren, ist dabei die eigentliche politische Leistung. Die ha-
        ben wir als Koalition erbracht. Das Ergebnis kann sich
        sehen lassen. Bereits im abgelaufenen Jahr 2012 wurde
        die Zielmarke der Schuldenbremse in Deutschland ein-
        gehalten: 0,32 Prozent Neuverschuldung beim Bund.
        Dieses Ziel haben wir vier Jahre früher erreicht, als das
        Grundgesetz es von uns verlangt. Darauf sind wir stolz.
        Ich glaube, vor drei, vier Jahren hätte es niemand für
        möglich gehalten, dass wir das bereits im Jahr 2012 er-
        reichen würden. Das ist eine gute Nachricht, insbeson-
        dere für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
        Das haben wir geschafft, obwohl wir neue Schwer-
        punkte gesetzt und investiert haben – im Bereich Bil-
        dung und Forschung beispielsweise haben wir 12 Mil-
        liarden Euro mehr ausgegeben –, obwohl wir die
        Kommunen um annähernd 20 Milliarden Euro entlastet
        haben und obwohl wir mit dem ESM infolge der Staats-
        schuldenkrise eine Verpflichtung übernommen haben,
        die uns bisher 17 Milliarden Euro gekostet hat. Trotz all
        dieser Sonderbelastungen haben wir es geschafft, den
        Haushalt weitgehend zu konsolidieren. Jedenfalls sind
        wir auf einem sehr guten Weg.
        Das Volumen, um das wir die Neuverschuldung
        schneller gesenkt haben, als es das Grundgesetz von uns
        verlangt, wurde auf einem sogenannten Kontrollkonto
        gebucht: Wenn der Bund in einem Jahr weniger Schul-
        den macht als erlaubt, darf er in den folgenden Jahren et-
        was mehr Schulden machen. Ein Vorwurf der Opposi-
        tion lautete immer, die Koalition würde sich so eine
        „Kriegskasse“ für das Wahljahr 2013 anlegen, um dann
        noch einmal richtig Geld auszugeben, um Wahlpro-
        gramme finanzieren zu können. Angekommen im Jahr
        2013, muss die Opposition nun einräumen, dass die Aus-
        gaben konstant geblieben sind und die Schulden weiter
        abgebaut werden. Wenn dieser Gesetzentwurf heute nun
        beschlossen wird, dann wird das Kontrollkonto, das die
        Opposition für eine Wahlkampfkasse gehalten hat, voll-
        ständig gelöscht. Unsere Sparerfolge dürfen also in den
        kommenden Jahren nicht durch neue Ausgaben zu-
        nichtegemacht werden. Das ist eine sinnvolle Regelung
        und zeigt auch, dass Verschwörungstheorien oft einfach
        nur Verschwörungstheorien sind.
        Mit dem Fiskalpakt hat die christlich-liberale Bundes-
        regierung es geschafft, diese Politik der Konsolidierung
        und der finanziellen Stabilität auf Europa zu übertragen.
        Lange galt eine Neuverschuldungsgrenze von 3 Prozent
        in Europa, die mit dem Maastricht-Vertrag festgelegt
        wurde. Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die diese
        27316 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        europaweite Verschuldungsgrenze maßgeblich mit ein-
        gerissen hat, indem sie sich selber nicht daran gehalten
        hat. Das musste repariert werden. Die christlich-liberale
        Koalition ist das angegangen. Das Wort „Fiskalpakt“ ist
        letzten Endes nur ein Begriff dafür, dass es uns, dieser
        Regierung, zusammen mit unseren europäischen Part-
        nern gelungen ist, die Fehlentscheidungen von damals
        zu korrigieren und in Europa wieder strenge Regeln ge-
        gen Verschuldung einzuführen, damit Staaten nicht wie-
        der in die Situation kommen, in der sich einige Länder
        Europas zurzeit befinden. Dieser Fiskalpakt ist ein gro-
        ßer europapolitischer Erfolg der Bundesregierung. Er
        enthält strenge Regeln, klare Sanktionen und auch ein
        Bekenntnis zum Abbau der bestehenden Staatsverschul-
        dung.
        Das wird jetzt mit diesem Gesetz ins deutsche Recht
        umgesetzt, sofern das erforderlich ist. Im Haushalts-
        grundsätzegesetz wird noch einmal klargestellt, dass ne-
        ben der Schuldenobergrenze von 0,35 Prozent die etwas
        anders berechnete Grenze nach dem Fiskalpakt gilt,
        nämlich 0,5 Prozent. Der sogenannte Stabilitätsrat über-
        wacht die Einhaltung des Fiskalpakts, damit das transpa-
        rent und unabhängig geschieht.
        Ein besonders wichtiger Punkt sind die Strafzahlun-
        gen der Länder. Der Bund hat sich im Rahmen eines
        Kompromisses – um einen für Deutschland und Europa
        elementar wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung,
        nämlich den Fiskalpakt, zu retten – auch den Ländern
        gegenüber verpflichtet, deren Strafzahlungen mit zu
        übernehmen, wenn sie dazu beitragen, dass Deutschland
        gegen den Fiskalpakt verstößt. Das war meines Erach-
        tens eine sehr großzügige Geste des Bundes, mit der er
        noch einmal gezeigt hat, dass ihm außenpolitische und
        europapolitische Interessen sowie finanzielle Stabilität
        wichtiger sind als das Klein-Klein um Zuständigkeiten
        in unserem Föderalismus und die parteitaktischen Schar-
        mützel von Rot-Grün. Dafür muss man denen, die das
        verhandelt haben, ein großes Kompliment machen.
        Wenn der Fiskalpakt daran gescheitert wäre, wäre das
        für Deutschland und Europa unverantwortlich gewesen.
        Ich fasse zusammen: Europa denkt um – solide Finan-
        zen statt Strohfeuer, ausgeglichene Haushalte als binden-
        des Ziel für alle. Das ist ein Beitrag zur Lösung dieser
        Krise und auch ein Beitrag für eine stabile Währungs-
        union in der Zukunft. Mit der heutigen Verabschiedung
        des Gesetzes sorgt Deutschland für noch mehr finan-
        zielle Solidität.
        Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Die Koalitions-
        fraktionen CDU/CSU und FDP haben erneut einen
        Gesetzentwurf zur innerstaatlichen Umsetzung des
        Fiskalvertrags vorgelegt. Dieser entspricht im Kern
        dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Drucksache
        17/10976.
        Die Linke, die SPD und der Bundesrat haben im De-
        zember 2012 ihre Zustimmung verweigert. Wir sind der
        Auffassung, dass der Fiskalvertrag nicht zur Stabilisie-
        rung des Euro führt. Der Vertrag soll vielmehr genutzt
        werden, um die Kosten der Finanzkrise auf die Bürgerin-
        nen und Bürger abzuwälzen. Das lehnen wir ab.
        Im März 2012 haben 25 EU-Regierungen den Fiskal-
        vertrag unterzeichnet. In diesem Vertrag ist eine Ober-
        grenze für das jährliche strukturelle Defizit von höchs-
        tens 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts festgelegt.
        Das ist auch der wichtigste Punkt des neuen Entwurfes
        zur Umsetzung des Fiskalvertrages. Diese Regelung
        lehnen wir ab. Sie ist ökonomischer Unsinn. Sie schränkt
        die Handlungsfähigkeit der EU-Staaten dramatisch ein.
        Griechenland ist ein trauriges Beispiel dafür, dass
        Kürzungspolitik nicht der Ausweg aus der Krise ist.
        Ferner ist vorgesehen, dass der Stabilitätsrat damit
        beauftragt wird, die Einhaltung dieser Defizitgrenze zu
        überwachen. Zur Unterstützung des Stabilitätsrates soll
        ein unabhängiger Beirat eingerichtet werden. Meine
        Erfahrung mit unabhängigen Beiräten ist, dass sie in der
        Regel nicht unabhängig sind.
        Zudem soll mit der Änderung des Sanktionszah-
        lungs-Aufteilungsgesetzes die innerstaatliche Aufteilung
        der Sanktionen zur „Sicherung der Haushaltsdisziplin“
        geregelt werden. Jeder, der es wissen will, weiß, dass das
        Problem nicht die fehlende Haushaltsdisziplin der
        Regierungen ist.
        Der Fiskalvertrag soll die EU angeblich in eine Stabi-
        litätsunion umwandeln und auf diese Weise dazu beitra-
        gen, die Euro-Krise zu überwinden. Dies wird jedoch
        nicht gelingen: Die Euro-Krise wurde nicht dadurch aus-
        gelöst, dass die Staaten über ihre Verhältnisse gelebt
        bzw. eine zu laxe Ausgabenpolitik betrieben hätten. Die
        hohe Verschuldung einiger Mitgliedstaaten ist vielmehr
        auf die Finanzkrise zurückzuführen, in der die Staaten
        Banken, die sich verspekuliert hatten, mit Milliarden-
        summen gerettet haben. Zur Abwehr der darauffolgen-
        den Wirtschaftskrise mussten weitere Milliarden aufge-
        bracht werden. Allein in Deutschland wurden über
        335 Milliarden Euro aufgewandt, um die Krisenauswir-
        kungen zu bekämpfen.
        Anstatt nun endlich die Finanzmärkte wirksam zu
        regulieren, werden mit dem Fiskalvertrag die Vertrags-
        staaten „diszipliniert“, das heißt zu einer strikten
        Kürzungspolitik gezwungen. Dies löst die Euro-Krise
        nicht, sondern verschärft sie. Der Finanzsektor hat bis
        heute noch keinen substanziellen Beitrag dazu geleistet,
        seinen Anteil an der Verschuldung zu finanzieren. Selbst
        die geplante Finanztransaktionsteuer wird in keiner
        Weise die Schäden, die die Banken verursacht haben,
        decken können. Wir brauchen eine Zwangsanleihe auf
        große Vermögen, wie es das Deutsche Institut für Wirt-
        schaftsforschung vorgeschlagen hat. Die Einnahmen aus
        dieser Anleihe würden den Fiskalvertrag sofort überflüs-
        sig machen.
        Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
        NEN): Ein weiteres Mal diskutieren wir heute über ein
        Gesetz zur Umsetzung des Fiskalvertrags. Dabei könnte
        längst alles klar sein: Der Bundestag hatte ein entspre-
        chendes Gesetz ja bereits Ende 2012 beschlossen. Die
        Länder haben das Gesetz im Bundesrat allerdings blo-
        ckiert. Das war leider folgerichtig, weil die Bundesregie-
        rung ihre eigenen Zusagen nicht eingehalten hat. Bis
        Jahresende wurde keine Neuregelung der sogenannten
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27317
        (A) (C)
        (D)(B)
        Entflechtungsmittel auf den Weg gebracht, wie es die
        Bundesregierung den Ländern versprochen hatte. Die
        Bundesregierung hat hoch gepokert und verloren, weil
        sich die Länder das zu Recht nicht haben bieten lassen.
        Gesetzesverabschiedung im Schnelldurchlauf: Es ist
        schon verwunderlich, wie eilig es die Bundesregierung
        letztes Jahr hatte, das vorliegende Gesetz zu verabschie-
        den. Für die abschließende Beratung gab es nicht einmal
        eine eigene Debatte, das Gesetz wurde hier im Bundes-
        tag zusammen mit dem Haushalt für 2013 behandelt. Es
        konnte gar nicht schnell genug gehen, weil die Fiskal-
        vertragsumsetzung noch im selben Jahr festgezurrt wer-
        den sollte, im Bundestag wie im Bundesrat. Budget Of-
        fice wurde wegen Zeitdruck nicht diskutiert.
        Etwas mehr Zeit hätte den Beratungen allerdings gut-
        getan. Im Raum stand beispielsweise der Vorschlag, das
        unabhängige Kontrollgremium, das laut Fiskalvertrag
        die Einhaltung der Fiskalregeln überwachen soll, zur
        Einführung einer Institution wie dem Budget Office in
        den USA zu nutzen. So eine Institution wäre nicht nur
        unabhängiger als ein Beirat für den bestehenden Stabili-
        tätsrat; sie könnte durch wissenschaftliche Expertise und
        unabhängige Beratung auch die Rolle des Parlaments
        stärken. Für diese Idee sollte es auch in den Reihen der
        Koalition Sympathien geben. Umso ärgerlicher, dass wir
        durch das damalige hastige Verfahren nicht wirklich da-
        rüber beraten konnten. Ich würde mir im Interesse des
        gesamten Hauses wünschen, dass wir an diesem Punkt
        vielleicht doch noch zusammenfinden.
        Forderungen der Länder ernst nehmen: Das Fiskal-
        vertragsumsetzungsgesetz werden wir heute ein zweites
        Mal beschließen, und ich hoffe, dass die Koalition aus
        der letzten Panne gelernt hat. Noch ist das Gesetz für die
        Entflechtungsmittel nicht in den Bundestag eingebracht
        worden. Wünschenswert wäre jetzt ein paralleles Verfah-
        ren gewesen, um weitere Konflikte zwischen Bundesre-
        gierung und Ländern zu vermeiden. Wir werden sehen,
        ob diese Beschlussfassung von Erfolg gekrönt ist oder
        ob eine dritte Runde notwendig wird. Ich hoffe, diese
        Peinlichkeit bleibt uns erspart.
        Anlage 12
        Zu Protokoll gegebene Rede
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-
        tion im Wahlrecht (Tagesordnungspunkt 25)
        Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-
        setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist eine
        gute Grundlage für erfolgversprechende Beratungen in
        den Ausschüssen und ein Ergebnis, das pauschalen
        Wahlrechtsausschluss beendet. Momentan haben wir ei-
        nen Diskriminierungstatbestand, der eines der grundle-
        gendsten Bürgerrechte – das Wahlrecht – betrifft. Ich
        meine: Er muss noch vor der diesjährigen Bundestags-
        wahl beseitigt werden.
        Die Behindertenbewegung fordert das seit Monaten.
        Initiiert von der Monitoringstelle des Deutschen Institu-
        tes für Menschenrechte sprachen sich 22 Verbände über
        den Deutschen Behindertenrat für die sofortige Strei-
        chung von Abs. 2 und 3 in § 13 Wahlgesetz aus.
        Die Koalition aus CDU, CSU und FDP hat eine große
        Chance vertan, bei der Änderung des Bundeswahlgeset-
        zes diese Verbändeposition aufzugreifen. Damit vergab
        sie auch eine Chance, die Interessenvertretungen von
        Menschen mit Behinderungen als Partner und politische
        Mitgestalter auf Augenhöhe öffentlich zu würdigen. Das
        widerspricht ihrer Selbstverpflichtung aus der Ratifizie-
        rung der UN-Konvention, Art. 4, Abs. a: „Die Vertrags-
        staaten verpflichten sich … alle geeigneten Gesetzge-
        bungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur
        Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten
        Rechte zu treffen.“ Zu diesen anerkannten Rechten ge-
        hört nach Art. 29 ausdrücklich die Teilhabe am politi-
        schen und öffentlichen Leben.
        Bis heute fehlen verlässliche Zahlen, wie viele Men-
        schen nicht wählen dürfen, weil eine Betreuung „in allen
        Angelegenheiten“ bestellt wurde. Von 1,2 Millionen
        Menschen in Betreuung sollen es, geschätzt, zwischen
        15 000 und 20 000 sein. Doch geht es weniger um die
        Zahl der Betroffenen. Schon ein Einziger genügte, um
        das Grundsatzproblem aufzuwerfen: Dürfen Gesetze
        oder Richter, Menschen mit Behinderungen zu Nicht-
        staatsbürgern erklären – ihnen das Wahlrecht entziehen –,
        obgleich im Betreuungsrecht ihre Staatsbürgerlichkeit
        ausdrücklich vorausgesetzt ist? Bleibt das Wahlrecht all-
        gemein, wenn es pauschal eingeschränkt werden darf,
        ohne dass eine individuelle Straftat vorliegt, die zum
        Entzug aller staatsbürgerlichen Rechte führt? Wir haben
        die absurde Situation, dass Straftäter ohne Behinderung
        in Deutschland wählen dürfen, soweit ihnen das Wahl-
        recht nicht per Richterspruch aberkannt wurde, während
        Straftätern mit Behinderung, untergebracht in der foren-
        sischen Psychiatrie, das Wahlrecht entzogen ist. Das ist
        ein Diskriminierungstatbestand, der sofort aufzuheben
        ist.
        Ich erinnere noch einmal an die Forderung der Frak-
        tion Die Linke, endlich die Antidiskriminierungsricht-
        linie der Europäischen Union zu ratifizieren. Fast ein
        Viertel der Anfragen in der Antidiskriminierungsstelle
        des Bundes kommen von Menschen, die sich wegen ei-
        ner Behinderung benachteiligt fühlen. Jeder fünfte Deut-
        sche verbindet nach einer Forsa-Umfrage mit dem Wort
        „Behinderung“ auch die Tatbestände „Benachteiligung“
        und „Diskriminierung“. Das muss alarmieren.
        Gestern gedachten wir der Opfer der „Euthanasie“-
        Morde. Die Vorstufe zu diesen menschenverachtenden
        Morden war die gewohnheitsmäßige und gesetzliche
        Diskriminierung. Wer „Euthanasie“ unumkehrbar un-
        möglich machen will, muss sorgsam jede noch so kleine
        Diskriminierung infolge einer Behinderung ahnden und
        gesellschaftlich ächten. Deshalb plädiere ich auch ener-
        gisch für eine Aufhebung des Wahlrechtsausschlusses
        innerhalb des Wahlrechtes und nicht im Betreuungs-
        recht, wie es von einigen Kollegen ins Gespräch ge-
        bracht wurde. Das deutsche Betreuungsrecht berührt zu
        Recht das Wahlrecht bisher nicht. Das Wahlrecht als
        Staatsbürgerrecht schlechthin gehört nicht in einen
        27318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Rechtskreis, der ausdrücklich vom Defizit eines Men-
        schen ausgeht. Das Hohe Haus wird sich sehr bald mit
        dem Betreuungsrecht im Lichte der UN-Konvention be-
        fassen müssen. Dann geht es aber um die volle Hand-
        lungs- und Geschäftsfähigkeit jedes Menschen. Davon
        ist unser dem Vormundschaftsgedanken nach wie vor
        verpflichtetes Betreuungsrecht noch weit entfernt. Es
        entspricht nicht dem Behinderungsbegriff der UN-Be-
        hindertenrechtskonvention.
        Dieser Konvention entspräche ein umfassendes As-
        sistenzrecht, das den Anspruch jedes Menschen mit Be-
        hinderung auf bedarfsgerechte Assistenz einkommens-
        und vermögensunabhängig regelt und zugleich den Be-
        ruf des Assistenten gesetzlich bestimmt. Das Vorsorge-
        recht geht da in die richtige Richtung. Auch die Bundes-
        wahlordnung schreibt den Anspruch der Unterstützung
        bei der Wahl schon heute fest.
        Wir sind auch deshalb gegen eine Regelung des
        Wahlrechtsausschlusses innerhalb des Betreuungsrech-
        tes, weil dieses im Sinne des BGB auf die „natürliche
        Einsichtsfähigkeit“ abstellt. Praktisch wird jedoch schon
        jetzt nicht von dieser natürlichen Einsichtsfähigkeit aus-
        gegangen. Menschen mit Vorsorgevollmacht dürfen sich
        bei der Wahl vertreten lassen, selbst wenn sie dement
        sind. Aber Demente ohne Vorsorgevollmacht dürfen
        nicht wählen. Jede Wählerin und jeder Wähler müsste
        eigentlich überprüft werden, ob er natürlich einsichts-
        fähig ist oder nicht. Es geht beim Wahlrecht eben nicht
        um ein natürlich-physiologisches Vermögen. Es geht um
        politische Meinung, selbst als Ahnung oder als Gefühl
        oder aus früherer Gewohnheit. Diese kann jeder Mensch
        entwickeln, auch wenn er viele Lebensangelegenheiten
        nicht selbst regeln kann.
        Energisch spricht sich die Linke gegen den Vorschlag
        aus Koalitionskreisen aus, dass ein Richter, eine Richte-
        rin über die Aberkennung des Wahlrechts entscheiden
        soll. Herr Minister Friedrich stellt dabei auf die „richter-
        liche Überzeugungsbildung“ ab. Ob ein Mensch jedoch
        seine staatsbürgerlichen Rechte wahrnehmen kann, ist
        eine praktische Frage. Erst wenn der Wahlakt ausgeübt
        wurde, wird sich erwiesen haben, welche Politik ein
        Wähler, eine Wählerin für sich einsichtig fand. Wer den
        Wahlakt nicht mehr bewältigt, wählt eben nicht. Wer den
        Wahlakt nicht versteht, gibt eben eine ungültige Stimme
        ab. Nichtwahl und ungültige Wahl lässt das Wahlrecht
        ausdrücklich zu, egal ob ich mit oder ohne Behinderung
        nicht oder ungültig wähle.
        Es geht um die Allgemeinheit der Wahl. Der Staats-
        bürger will das Recht nicht als Privileg, meinte einst He-
        gel. Nach unserem Verständnis des Staatsbürgerrechts
        könnte der § 13 des Bundeswahlgesetzes sogar komplett
        entfallen. Wird nicht von der Einsichtsfähigkeit ausge-
        gangen, wäre es juristisch sogar konsequent, das Wahl-
        recht an keine Altersgrenze zu koppeln, also jegliche Al-
        tersbegrenzung aufzuheben.
        Doch diese Debatte würde die dringliche – jetzt mög-
        liche – Gesetzesänderung nur verzögern. Deshalb werde
        ich meiner Fraktion empfehlen, dem Gesetzentwurf zu-
        zustimmen. Auch im Interesse einer breiten öffentlichen
        Debatte über notwendige Anforderungen für die politi-
        sche Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Bun-
        destagswahljahr. Menschen mit Behinderungen brau-
        chen barrierefreie Wahllokale, Wahlunterlagen in
        leichter Sprache, Wahlschablonen und andere Leitsys-
        teme – und eine Wahlwerbung, die für jeden Menschen
        mit Beeinträchtigung zugänglich und verständlich ist.
        Anlage 13
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
        Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
        und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 31)
        Heike Brehmer (CDU/CSU): Zwei Jahre Bildungs-
        und Teilhabepaket bedeuten zwei Jahre „Mitmachen
        möglich machen“. Das Bildungs- und Teilhabepaket bie-
        tet Kindern und Jugendlichen aus Geringverdienerfami-
        lien seit zwei Jahren eine Chance, an Bildungsangeboten
        und Aktivitäten mit Gleichaltrigen teilzunehmen. Dazu
        gehören Angebote aus den Bereichen Sport, Musik und
        Kultur ebenso wie das warme Mittagessen in der Schule,
        der Kita oder im Hort.
        Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erst-
        mals seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze im Jahr
        2005 bedürftigen Kindern und Jugendlichen eine Chance
        gegeben, an Bildungs- und Freizeitangeboten teilzuneh-
        men. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD
        und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dies haben Sie
        versäumt, als Sie seinerzeit in der Regierungsverantwor-
        tung waren und die Hartz-IV-Gesetze auf den Weg ge-
        bracht haben.
        Der CDU/CSU liegt das Thema Bildung besonders
        am Herzen; denn Bildung ist der Schlüssel zum Eintritt
        ins spätere Erwerbsleben, zu beruflichem Erfolg und
        Wohlstand. Vor rund einem Jahr, im März 2012, habe ich
        in diesem Hohen Hause ebenfalls zum Thema Bildungs-
        und Teilhabepaket gesprochen. Damals habe ich aus den
        Erfahrungen in meinem Wahlkreis Harz berichtet. In
        meinem Wahlkreis wird das Bildungs- und Teilhabepaket
        sehr gut von den betroffenen Familien angenommen.
        Inzwischen ist ein weiteres Jahr in der Umsetzung des
        Teilhabepakets vergangen. Die Praxis der vergangenen
        zwei Jahre hat gezeigt: Das Bildungspaket wird gut an-
        genommen, die derzeitigen Regelungen führten aber an
        einigen Stellen zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand.
        Das liegt zum Teil daran, dass wir es beim Bildungs- und
        Teilhabepaket mit Sachleistungen zu tun haben. Sach-
        leistungen erfordern oftmals einen höheren Verwaltungs-
        aufwand als Geldleistungen.
        Als wir 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket einge-
        führt haben, haben wir uns ganz bewusst für das Sach-
        leistungsprinzip entschieden. Die Leistungen sollen dort
        ankommen, wo sie hingehören: zu den Kindern und Ju-
        gendlichen aus den bedürftigen Familien.
        Nach zwei Jahren Praxiserfahrung wollen wir für die
        betroffenen Familien auf der einen Seite und für Träger
        und Leistungserbringer auf der anderen Seite die Umset-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27319
        (A) (C)
        (D)(B)
        zung des Teilhabepakets erleichtern. Wir wollen Büro-
        kratie abbauen und die Inanspruchnahme erleichtern.
        Darauf haben sich die Vertreter von Bund, Ländern
        und kommunalen Spitzenverbänden im Vorfeld des vier-
        ten Runden Tisches zum Bildungs- und Teilhabepaket
        im Herbst 2012 verständigt. Im Anschluss daran hat die
        Bund-Länder-AG „Bildung und Teilhabe“ einen Vor-
        schlag erarbeitet, den die Arbeits- und Sozialminister auf
        ihrer gemeinsamen Konferenz im November 2012 auf-
        gegriffen haben.
        Die Länder haben sich einstimmig auf die folgenden
        Punkte zur Verwaltungsvereinfachung geeinigt: Veraus-
        lagte Geldmittel sollen im Nachhinein erstattet werden
        können, wenn Leistungen nicht rechtzeitig erbracht wer-
        den konnten, wie zum Beispiel vor einem Klassenaus-
        flug. Bei der Teilhabe soll es die Möglichkeit geben,
        Mittel für Teilhabeangebote im Bewilligungszeitraum
        anzusparen, auch rückwirkend. Bei der Schülerbeförde-
        rung soll der Eigenanteil künftig in der Regel bei 5 Euro
        angesetzt werden. Die Möglichkeit einer Geldleistung
        für anstehende Klassenfahrten bedeutet keine grundle-
        gende Abkehr vom Sachleistungsprinzip. Unter be-
        stimmten Voraussetzungen soll es möglich sein, die Teil-
        habeleistung von 10 Euro pro Monat nicht nur für die
        Bereiche Sport, Musik, Kultur usw., sondern in Ausnah-
        mefällen auch für Ausrüstungsgegenstände in diesen Be-
        reichen verwenden zu können. Es soll in Zukunft mög-
        lich sein, dass die Träger mit den Leistungserbringern
        auch im SGB XII pauschal abrechnen können.
        Nach den anfänglichen Anlaufschwierigkeiten des
        Bildungs- und Teilhabepakets hat unsere Ministerin Frau
        Dr. von der Leyen reagiert und die Runden Tische ins
        Leben gerufen, welche seitdem regelmäßig stattfinden.
        Sie bieten den politischen und gesellschaftlichen Akteu-
        ren die Möglichkeit, ihre Erfahrungen rund ums Bil-
        dungspaket auszutauschen.
        Dieser Austausch ist wichtig; denn die kommunalen
        Träger vor Ort sind es, die das Bildungs- und Teilhabe-
        paket vor Ort umsetzen. Jobcenter und Arbeitsagenturen
        leisten ebenso wie Landkreise und kreisfreie Städte eine
        hervorragende Arbeit, so auch in meinem Wahlkreis
        Harz. Hier ist das örtliche Jobcenter – die Kommunale
        Beschäftigungsagentur KoBa – zuständig. Die Mitarbei-
        terinnen und Mitarbeiter der KoBa zeigen sich bei der
        Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets sehr enga-
        giert und leisten eine hervorragende Arbeit.
        Das Jobcenter leistet einen großen Beitrag im Bereich
        Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation im Landkreis
        Harz und ist ein zuverlässiger Ansprechpartner für die
        Betroffenen. Auch die Vereine aus den Bereichen Sport,
        Kultur und weiteren Freizeitangeboten profitieren vom
        Bildungs- und Teilhabepaket.
        In dieser Woche verlieh der Deutsche Olympische
        Sportbund gemeinsam mit dem Bundespräsidenten die
        Auszeichnung „Sterne des Sports“ an engagierte Sport-
        vereine in ganz Deutschland.
        Der Präsident des Kreissportbundes Harz, Herr Rühe,
        berichtete mir, dass das Bildungs- und Teilhabepaket
        nach wie vor sehr gut angenommen wird. Viele Sport-
        vereine im Harz profitieren von den Möglichkeiten der
        Vereinsmitgliedschaft für Kinder aus sozial schwächeren
        Familien. Das bereichert die Gemeinschaft unter den
        Kindern, aber auch die Vereinslandschaft.
        Wir in der christlich-liberalen Koalition wollen allen
        Kindern und Jugendlichen aus bedürftigen Familien
        auch in Zukunft eine Chance auf Bildung und Teilhabe
        ermöglichen. Aus diesem Grund begrüßen wir die Vor-
        schläge von Bund, Ländern und kommunalen Spitzen-
        verbänden, den Verwaltungsaufwand beim Bildungspa-
        ket zu vereinfachen.
        Wir wollen die Inanspruchnahme des Bildungspakets
        für Eltern und Kinder erleichtern. Wir wollen die kom-
        munalen Träger und Leistungserbringer von unnötigem
        bürokratischem Aufwand entlasten.
        Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
        tion, ich appelliere an Sie, dem Gesetzentwurf zuzustim-
        men, welchen die Bund-Länder-AG im konstruktiven
        Miteinander vorbereitet haben.
        Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich denke, wir sind uns
        alle einig, dass Kinder unsere Zukunft sind, der Grund-
        pfeiler unserer Gesellschaft. Sie kennzeichnen den Weg,
        den unsere Gesellschaft künftig gehen wird. Wohin die-
        ser Weg führt, hängt entscheidend davon ab, welche
        Chancen wir jungen Menschen eröffnen und welche
        Möglichkeiten wir ihnen bieten. Was gibt es Schlimme-
        res für Kinder, als nicht mit ihren Klassenkameraden am
        Schulausflug teilnehmen zu können, weil den Eltern
        hierzu schlichtweg die finanziellen Mittel fehlen?
        Die unionsgeführte Bundesregierung hat dafür ge-
        sorgt, dass Kinder die schmerzliche Erfahrung, nicht da-
        bei sein zu können, künftig nicht mehr machen müssen.
        Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde durch das Ge-
        setz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Ände-
        rung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz-
        buch eingeführt. Die Änderungen sind am 1. April 2011
        rückwirkend zum 1. Januar 2011 in Kraft getreten.
        Neben der infolge des Bundesverfassungsgerichtsur-
        teils vom 9. Februar 2010 notwendig gewordenen Neu-
        bemessung der Regelleistungen für Kinder und Jugendli-
        che verfolgt das Gesetz das Ziel, ein gleichberechtigtes
        Maß an Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und den
        gleichberechtigten Zugang zu Bildung im schulischen
        und außerschulischen Bereich für Kinder aus besonders
        förderungsbedürftigen Haushalten sicherzustellen. Das
        Bildungspaket gibt 2,5 Millionen bedürftigen Kindern
        aus Geringverdienerfamilien bessere Zukunftschancen.
        Das Bildungspaket leistet einen wichtigen Beitrag, damit
        Kinder aus ärmeren Familien am gesellschaftlichen Le-
        ben teilhaben können und bessere Bildungschancen ha-
        ben.
        Eltern, die auf Hartz IV oder Wohngeld angewiesen
        sind, können für ihre Kinder ein staatlich subventionier-
        tes Mittagessen in der Schule, einen monatlichen Zu-
        schuss für den Sportverein oder Nachhilfe beantragen.
        Ganze 1,6 Milliarden Euro wurden hierfür vom Bund
        bereitgestellt. Neben dem Mittagessen, dem Zuschuss
        zum Sportverein sowie der Lernförderung gehören auch
        27320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        die Teilnahme an Ausflügen, Schulbedarf sowie Schü-
        lerbeförderung zum breiten Leistungsspektrum des Bil-
        dungspakets. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten
        ist das Bildungs- und Teilhabepaket – entgegen der weit-
        läufigen Meinung – nunmehr auch sehr gut angenom-
        men worden. Zwar ist die Antragsquote von 62 Prozent
        aus dem März des vergangenen Jahres noch nicht ausrei-
        chend und durchaus noch ausbaufähig – jedoch schon
        ein beachtlicher Schritt. Die aktuellen Zahlen müssen
        jetzt abgewartet und entsprechend bewertet werden.
        In meinem Wahlkreis Würzburg beispielsweise sind
        die Ausgaben im SGB-II-Bereich 2012 gegenüber dem
        Vorjahr um etwa 50 Prozent gestiegen. Insbesondere bei
        den Leistungen für eine notwendige Lernförderung und
        der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der
        Gemeinschaft waren sogar Steigerungen von über
        100 Prozent zu verzeichnen. Man kann also mit Recht
        behaupten, dass sich das Bildungs- und Teilhabepaket in
        Würzburg etabliert hat, was aber auch an der guten In-
        formationsweitergabe der Schulen und Kindertagesein-
        richtungen hin zu den Eltern liegt.
        Wir machen auch keinen Hehl daraus, dass die Ver-
        gabe der Mittel aus dem Bildungspaket noch nicht rei-
        bungslos verläuft. So wird beispielsweise der enorme
        Verwaltungsaufwand vielfach als eine der Haupthürden
        für die Inanspruchnahme angeführt. Daher begrüßen wir
        die vom Bundesrat durch den Entwurf eines Gesetzes
        zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und
        anderer Gesetze eingebrachten Änderungen. Diese sind
        auch das Ergebnis der sogenannten Runden Tische mit
        den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden, die in
        regelmäßigen Abständen tagen, das Programm bewerten
        und begleiten und damit schnell auf Beschwerden und
        Schwierigkeiten eingehen können.
        In Anbetracht der Erfahrungen bei der Anwendung
        des Bildungs- und Teilhabepaketes sollen einige Maß-
        nahmen auf den Weg gebracht werden, die zu Vereinfa-
        chungen auf Verwaltungsebene führen, um die Inan-
        spruchnahme des Paketes zu erleichtern. Einigkeit
        konnte demnach auf folgende Verwaltungsvereinfachun-
        gen erzielt werden:
        So wird beispielsweise der Eigenanteil im Rahmen
        der Schülerbeförderung künftig in der Regel auf 5 Euro
        festgesetzt; eine abweichende Festsetzung bleibt jedoch
        möglich.
        Zudem wird unter bestimmten Voraussetzungen die
        Teilhabeleistung von bis zu 10 Euro im Monat nicht nur
        für Verwendungszwecke im Bereich Sport, Spiel, Kultur
        und Freizeit, sondern in Ausnahmefällen auch für benö-
        tigte Ausrüstungsgegenstände verwendet werden kön-
        nen.
        Den kommunalen Trägern soll die Möglichkeit einge-
        räumt werden, Mittel für Klassenfahrten auch als für den
        unmittelbaren Zweck nachgewiesene Geldleistungen zu
        erbringen.
        Ungeachtet des Sach- und Dienstleistungsprinzips
        sollen verauslagte Geldmittel auch nachträglich erstattet
        werden können, wenn Leistungen zum Beispiel vor ei-
        nem Klassenausflug nicht rechtzeitig erbracht werden
        konnten.
        Im Bereich der Teilhabe soll es ermöglicht werden,
        Mittel für Freizeiten und andere Teilhabeangebote im
        Bewilligungszeitraum auch rückwirkend anzusparen.
        Schließlich sollen die Träger mit den Leistungsanbie-
        tern auch im SGB XII pauschal abrechnen können.
        Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Gesetzent-
        wurf einen wesentlichen Beitrag zur Vereinfachung und
        gezielten Optimierung des Verwaltungsaufwands beim
        Bildungs- und Teilhabepaket leisten wird und die Inan-
        spruchnahme sowie Akzeptanz noch weiter steigern
        wird.
        Angelika Krüger-Leißner (SPD): Wir sind uns ei-
        nig, dass alle Kinder und Jugendliche in unserem Land
        das Recht auf Bildung und soziokulturelle Teilhabe ha-
        ben. Dieses Recht ist uns Verpflichtung und Ansporn zu-
        gleich. Die finanziellen Möglichkeiten der Eltern dürfen
        nicht ausschlaggebend dafür sein, in welchem Umfang
        die Kinder und Jugendlichen dieses Recht wahrnehmen
        können.
        Mit dem Urteil vom 9. Februar 2010 hat das Bundes-
        verfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, die Re-
        gelbedarfe neu zu bemessen. Dabei hat uns das Bundes-
        verfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben, die
        Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums und
        die Teilhabe an Bildung für alle Kinder in unserem Land
        ins Augenmerk zu nehmen.
        Im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Ermittlung
        der Regelbedarfe vom 24. März 2011 und den langen so-
        wie umfangreichen Verhandlungen wurde rückwirkend
        zum 1. Januar 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket
        eingeführt. Die gesetzlichen Regelungen sehen vor, dass
        die Leistungen zur Deckung der genannten Bedarfe fast
        ausschließlich durch Sach- und Dienstleistungen er-
        bracht werden. Die Bundesregierung hat sich seinerzeit
        dagegen entschieden, die Bedarfe unbürokratisch über
        eine Anpassung der Regelsätze zu decken. Dies wurde
        und wird zu Recht durch Expertinnen und Experten so-
        wie Verbände kritisiert.
        Schon zu Beginn war klar, dass das Bildungs- und
        Teilhabepaket zwar gut gemeint war, aber zu einem er-
        heblichen sowie unberechtigten Verwaltungsaufwand
        führen wird. Darauf hatten auch Vertreter der Praxis und
        der Länder verwiesen. Die Umsetzung hat die örtlichen
        Akteure und Träger enorm belastet und unnötig Ressour-
        cen gebunden.
        Die geringe Inanspruchnahme der Mittel aus dem Bil-
        dungs- und Teilhabepaket untermauert diese Einschät-
        zung. Wenngleich sich in 2012 der Mittelabfluss gegen-
        über 2011 verbessert hat, kann uns das Ergebnis bei
        weitem nicht zufriedenstellen; es bleibt hinter den Er-
        wartungen zurück.
        Die hohen bürokratischen Hürden stellen eine erheb-
        liche Hemmschwelle dar, schrecken viele Anspruchsbe-
        rechtigte ab und haben die Teilhabechancen der Kinder
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27321
        (A) (C)
        (D)(B)
        und Jugendlichen in unserem Land nicht wesentlich ver-
        bessert.
        Dass der Bund eine erhebliche Summe Geld für die
        Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an Bildung und
        am gesellschaftlichen Leben, im sportlichen wie kreati-
        ven Bereich, zur Verfügung stellt, aber viel zu wenig bei
        den Kindern ankommt, darf uns nicht ruhen lassen, nach
        besseren Lösungen zu suchen.
        Die Probleme wurden von vielen Seiten angespro-
        chen und erkannt. Es freut mich, dass sich der Bund und
        die Länder mit den kommunalen Spitzenverbänden auf
        einen Verbesserungskatalog einigten und den nun vorlie-
        genden Gesetzentwurf entwickelt haben.
        Die vorliegenden Verbesserungen sind unstrittig so-
        wie kostenneutral und betreffen einige zentrale Leistun-
        gen im Bildungs- und Teilhabepaket. Lassen Sie mich
        drei der Verbesserungen besonders betonen:
        Erstens die Schülerbeförderung. Die Praxis hat ge-
        zeigt, dass die Ermittlung des durch die Schülerinnen
        und Schüler zu tragenden zumutbaren Eigenanteils an
        der Schülerbeförderung äußerst kompliziert war. Daher
        ist es ein Gebot der verwaltungspraktischen Handhab-
        barkeit, für den Regelfall einen Wert ansetzen zu kön-
        nen, der eine gleichmäßige und rechtssichere Handha-
        bung ermöglicht.
        Aus der Erfahrung der Verwaltungspraxis der kom-
        munalen Träger ergibt sich dabei ein Durchschnittswert
        von 5 Euro monatlich. Dennoch bleibt für Fälle, die auf-
        grund persönlicher oder örtlicher Verhältnisse von der
        Regel abweichen, die Möglichkeit gegeben, den Eigen-
        anteil individuell zu ermitteln.
        Zweitens Unterstützung für Sport und Kultur. Die
        Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Ge-
        meinschaft wird derzeit in der Gestalt gefördert, dass für
        Angebote im Bereich Sport, Spiel, Kultur und Gesellig-
        keit die Zahlung eines Mitgliedsbeitrags übernommen
        wird. Gleiches gilt für Angebote im kreativen und künst-
        lerischen Bereich, bei dem derzeit nur die Vergütung für
        die pädagogische Leistung zu übernehmen ist.
        Oftmals scheitert die Teilnahme an diesen Angeboten
        aber nicht an den Honorarkosten für den Unterricht oder
        an den Mitgliedsbeiträgen, da diese Angebote häufig eh-
        renamtlich organisiert sind und zum Teil kostenlos zur
        Verfügung stehen. Oftmals führt das Fehlen benötigter
        Ausrüstung, wie zum Beispiel Musikinstrumente oder
        sportbezogene Schutzkleidung, dazu, dass Kindern und
        Jugendlichen die Teilhabe am sozialen und kulturellen
        Leben verwehrt ist.
        Mit der vorgeschlagenen Verbesserung, auch die eben
        angesprochene Ausrüstung nun zu fördern, wird die Un-
        terstützung für Kinder und Jugendliche im kulturellen
        und sportlichen Bereich praxisnaher gestaltet und die
        Teilhabe somit deutlich erleichtert.
        Das dritte Beispiel betrifft die Unterstützung für
        Schul- und Kitafahrten: Für Schul- und Kitafahrten so-
        wie für Ausflüge ist alternativ neben der Sach- und
        Dienstleistung nun auch die Geldleistung möglich, wie
        es nach früherer Praxis in der Sozialhilfe möglich war.
        Ich bin mir sicher, dass für die Unterstützung bei Schul-
        und Kitafahrten die kommunalen Träger von der Mög-
        lichkeit der Geldleistung zukünftig regen Gebrauch ma-
        chen werden, weil diese verwaltungstechnisch viel weni-
        ger umständlich ist.
        Diese drei Beispiele zeigen sehr deutlich, wie man
        bisher mit komplizierten bürokratischen Regelungen
        Anspruchsberechtigte abgeschreckt und von der Inan-
        spruchnahme der Leistungen aus dem Bildungs- und
        Teilhabepaket abgehalten hat. Mit den angesprochenen
        Änderungen wird sich das nun merklich verbessern.
        Der vorliegende Gesetzentwurf bringt viele Verbesse-
        rungen. Dennoch kann er nicht darüber hinwegtäuschen,
        dass weiterer Verbesserungsbedarf besteht, um ein gleich-
        berechtigtes Maß an Teilhabe am gesellschaftlichen Le-
        ben und einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu
        ermöglichen.
        Viele Vertreter aus der Praxis und einige Länderver-
        treter haben weitere Schritte aufgezeigt. Dieses Bil-
        dungs- und Teilhabepaket und die damit unnötigerweise
        einhergehende Bürokratie wären überhaupt nicht nötig,
        wenn die Gewährleistung der soziokulturellen Teilhabe
        für Kinder und Jugendliche über die Anpassung der Re-
        gelsätze erfolgt wäre.
        Wir können die Chancengleichheit der Kinder und Ju-
        gendlichen in unserem Land mit dieser gesetzlichen Re-
        gelung lediglich ein Stück verbessern. Das unterschrei-
        ben wir dann auch. Wir würden aber gerne mehr tun.
        Unsere Vorschläge zum Ausbau der Bildungs- und
        Betreuungsinfrastruktur liegen auf dem Tisch. Sie sollen
        den Kindern und Jugendlichen echte Zukunftschancen
        und mehr Bildungsgerechtigkeit geben. Wir werden sie
        umsetzen, wenn nicht jetzt, dann im Herbst dieses Jah-
        res.
        Pascal Kober (FDP): Dem vorausgegangen war das
        Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die rot-grüne
        Gesetzgebung als verfassungswidrig beurteilt hatte und
        den Gesetzgeber aufgefordert hatte, die Regelsätze für
        Kinder und Jugendliche erstmals eigenständig zu be-
        rechnen. Diese christlich-liberale Bundesregierung hatte
        sich dann dazu entschlossen, die Leistungen für Bildung
        und Teilhabe von Kindern zentral durch die Jobcenter
        administrieren zu lassen.
        Dem hat sich die Opposition im Bundesrat verwei-
        gert, und so wurde im Vermittlungsverfahren auf Druck
        von SPD und Grünen festgelegt, dass die Leistungen von
        den Kommunen erbracht werden sollen. Dies hatten
        auch die Kommunen begrüßt.
        Es hätte der Opposition schon damals klar sein müs-
        sen, dass dies zu einer sehr unterschiedlichen Umset-
        zung des Bildungspakets vor Ort führt. Die Kommunen
        waren unterschiedlich gut auf diese neue Aufgabe vorbe-
        reitet.
        Die Grünen haben sich dann am Ende dem Kompro-
        miss verweigert und nicht zugestimmt. Das hatte aber
        nichts mit dem Bildungs- und Teilhabepaket zu tun.
        Denn am 21. Februar 2011 haben sie einen einstimmigen
        27322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Beschluss in ihrem Parteirat getroffen. Darin heißt es:
        „Gleichwohl haben wir in den langen Verhandlungen bis
        zum gestrigen Abend wichtige Änderungen erreicht: Das
        Bildungs- und Teilhabepaket wird von den Kommunen
        organisiert und nicht von den Jobcentern, wie sich dies
        die Arbeitsministerin vorstellte. Hier haben wir überbor-
        dende Bürokratie verhindert. … Und die Kommunen ha-
        ben eine hohe Gestaltungsmöglichkeit bei der konkreten
        Umsetzung der Leistungen vor Ort.“
        Das, was sie in den vergangenen Monaten immer wie-
        der am Bildungspaket kritisieren, die Bürokratie und den
        hohen Verwaltungsaufwand, das haben sie selbst mit ver-
        ursacht. Dies halte ich bei der derzeitigen Betrachtung
        des Bildungspakets für wichtig zu erwähnen.
        Diese christlich-liberale Bundesregierung hat sich
        beim Thema Bildungspaket nicht auf die Position zu-
        rückgezogen, dass die Kommunen sich jetzt um alles
        Weitere kümmern müssten.
        Ministerin von der Leyen hat schon sehr bald nach In-
        krafttreten des Gesetzes begonnen, durch runde Tische,
        an denen Bund, Länder und Kommunen beteiligt waren,
        Startschwierigkeiten zu beheben und insgesamt Verbes-
        serungen vorzunehmen. Ergebnis dieser Gespräche, bei
        denen es nicht um ideologische Fragen, sondern ganz
        konkret um Verbesserungen am Bildungs- und Teilhabe-
        paket ging, damit die Kinder und Jugendlichen noch
        mehr davon profitieren können, ist der heute zu bera-
        tende Gesetzentwurf.
        Es ist eine große Leistung dieser Ministerin und der
        Regierungskoalition, die sehr unterschiedlichen Interes-
        sen der Länder im Rahmen der Gespräche zu diesem von
        allen getragenen Gesetzentwurf vereint zu haben. So
        wird nun klargestellt, dass mit den 10 Euro monatlich,
        die für Mitgliedsbeiträge verwendet werden können,
        auch Ausrüstungsgegenstände bezahlt werden können.
        Zudem wird es nach dem Gesetzentwurf möglich
        sein, in begründeten Fällen bereits vom Berechtigten
        verauslagte Mittel nachträglich zu erstatten. Dies macht
        das Verfahren deutlich einfacher. Um die Teilnahme an
        Klassenfahrten weiter zu erleichtern, wird zudem die
        Möglichkeit geschaffen, hierfür auch Geldleistungen zur
        Verfügung zu stellen.
        Bei Schülerfahrkarten, die auch privat genutzt wer-
        den, haben wir uns darauf verständigt, dass ein Eigenan-
        teil von mindestens 5 Euro erbracht werden muss. Dieser
        begründet sich aus der Auswertung von empirischen Da-
        ten zum Mobilitätsverhalten von Schülerinnen und
        Schülern.
        Wir haben mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ei-
        nen neuen Weg bei der Unterstützung von Kindern und
        Jugendlichen, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen,
        beschritten. Auf diesem Weg sind Probleme entstanden,
        die wir alle so nicht erwartet hatten; manche hatten ja,
        wie vorhin beschrieben, auch keine erwartet. Dennoch
        halte ich das Bildungs- und Teilhabepaket für eine gute
        Leistung dieser christlich-liberalen Regierungskoalition
        und bin mir sicher, dass alle im Rückblick von einigen
        Jahren zu diesem Schluss kommen werden.
        Auch wenn wir uns manches in der Ausgestaltung an-
        ders gewünscht hätten, gehen wir jetzt die bestehenden
        Probleme an. Die neuen Zahlen zur Inanspruchnahme
        und der Akzeptanz des Bildungspakets werden voraus-
        sichtlich im April erscheinen. Ich bin mir sicher, dass
        wir dabei weiterhin eine deutliche Zunahme der Inan-
        spruchnahme verzeichnen werden und die Akzeptanz
        der Leistungen weiter zunimmt.
        Mit dem Gesetzentwurf werden wir dies unterstützen.
        Diana Golze (DIE LINKE): Im Februar 2010 er-
        zwang das Bundesverfassungsgericht eine Neuermitt-
        lung der Regelbedarfe für die Leistungen zur Sicherung
        des Existenzminimums. In dem hierzu erlassenen Urteil
        stellte das Gericht fest, dass die bis dahin geltende
        Ausgestaltung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
        Insbesondere der Bedarf von in Bedarfsgemeinschaften
        lebenden Minderjährigen stand auf dem Prüfstand. Be-
        mängelt wurde hier vor allem, dass der Gesetzgeber es
        versäumt hat, die besonderen Bedürfnisse von Kindern
        im Regelsatz abzubilden. „Kinder sind keine kleinen
        Erwachsenen“ ist eine der zentralen Aussagen in dem
        Urteil. Entscheidend ist, dass die Richter feststellten: Es
        geht nicht nur um die Sicherung des physischen Exis-
        tenzminimums, sondern auch um das soziokulturelle
        Existenzminimum. Die Neuermittlung dieses Existenz-
        minimums wurde dem Gesetzgeber aufgetragen.
        Die Antwort der Bundesregierung war insbesondere
        für Kinder ernüchternd. Es ist kein Geheimnis, dass die
        Fraktion Die Linke die von Frau von der Leyen vorge-
        legte Neuberechnung der Grundsicherung für unzurei-
        chend erachtet und in ihr einen neuerlichen Verfassungs-
        bruch sieht. Es ist auch nicht neu, dass wir die
        Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes für einen
        Etikettenschwindel halten. Dieses Paket ist im Grundan-
        satz falsch, und dies aus verschiedenen, für die Fraktion
        Die Linke aber grundlegenden Gründen.
        Wir können und werden keinem Gesetzentwurf zu-
        stimmen können, der Eltern unter den Generalverdacht
        stellt, zusätzliche Geldleistungen nicht zum Wohl ihrer
        Kinder zu verwenden, sondern für andere Zwecke. Die
        unerträglichen Vorwürfe, dass davon Flachbildschirme
        gekauft würden oder das Geld ohnehin in diverse
        Genussmittel umgesetzt wird, sind mir nur zu gut im
        Gedächtnis. Unter dieser vorurteilsvollen und herablas-
        senden Herangehensweise traf die Regierung fast folge-
        richtig die Grundsatzentscheidung, die Bedarfe nicht au-
        tomatisch als Teil der regelmäßigen Geldleistungen
        abzudecken, sondern sie erstens beantragungspflichtig
        zu machen und zweitens in erster Linie als Sach- oder
        Dienstleistung zu gewähren.
        Die Folgen sind bekannt. Das Antragserfordernis und
        die hohen bürokratischen Hürden erschwerten die Inan-
        spruchnahme der Leistungen und verhinderten somit,
        dass Kindern das zugutekommt, was ihnen per Gesetz
        zusteht. Unterschiedliche Bedürfnisse von Kindern in
        ländlichen Räumen und Kindern, die in Ballungszentren
        aufwachsen, sind nicht berücksichtigt. Das hat nicht nur
        Auswirkungen auf die Unterstützungsleistungen, die
        Kinder für den schulischen Alltag benötigen, sondern
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27323
        (A) (C)
        (D)(B)
        insbesondere für den Freizeitbereich. Darüber hinaus
        werden nur bestimmte Bildungs- und Teilhabeangebote
        finanziert. Ich stelle mir manchmal die Gesichter der
        Abgeordneten vor, die selbst minderjährige Kinder ha-
        ben. Was würden diese Kolleginnen und Kollegen wohl
        sagen, wenn ihnen der Bundestagspräsident etwa erklärt,
        welche Freizeitaktivitäten ihrer Kinder förderungswür-
        dig sind – etwa: Mitgliedschaft im Kampfsportverein –
        und welche nicht, etwa: eigenständige Lektüre. Die
        Linke – und nicht nur wir – hält dies für einen problema-
        tischen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der Eltern
        und Kinder. Die nun vorgeschlagene Neuregelung ändert
        genau daran nichts.
        Sie ändert auch nichts daran, dass Verwaltungsauf-
        wand und veranschlagte Leistungen in keinem Verhält-
        nis zueinander stehen. Noch immer betragen die durch
        das beibehaltene Antragsverfahren entstehenden Verwal-
        tungskosten ein Sechstel des Leistungsvolumens. Die
        Linke bleibt dabei: Verfügbare Mittel müssen den Leis-
        tungsberechtigten zugutekommen, statt sie dafür zu ver-
        wenden, Verwaltungen an den Tropf zu legen.
        Das Problem dieses Entwurfes ist, dass Sie die grund-
        sätzlichen Entscheidungen nicht infrage stellen. Statt-
        dessen versuchen Sie, ein im Grundsatz falsches System
        zu optimieren und den bürokratischen Irrsinn auf ein ge-
        ringeres Ausmaß zu reduzieren. Dies ist innerhalb der
        bestehenden Konzeption nicht einmal zu kritisieren,
        lenkt aber von der eigentlichen Aufgabe ab, der wir uns
        gemeinsam stellen sollten: Die Förderung der Bildung
        und Teilhabe von jungen Menschen ist grundlegend an-
        ders zu organisieren: durch höhere Regelbedarfe, durch
        einschlägige Mehrbedarfe – Schulbedarfe, Klassenfahr-
        ten und Ausflüge – und ein hochwertiges und unentgelt-
        liches Angebot an Dienstleistungen für möglichst alle
        Kinder und Jugendlichen wie Schulverpflegung, Schüle-
        rinnen- und Schülerbeförderung und Lernförderung.
        Wir werden auch in diese Debatte unsere Vorschläge
        zur Neugestaltung eines Regelsatzes, der die Leistungen
        des Bildungs- und Teilhabepaketes so weit wie möglich
        beinhaltet, einbringen. Und selbstverständlich werden
        unserer Kritik auch Vorschläge für die Neugestaltung der
        Dienst- und Sachleistungen, die dieses Paket enthält,
        folgen. Auch wenn sich mein Optimismus darüber in
        Grenzen hält, dass die Regierung diesen folgt, kann ich
        Ihnen versprechen, dass wir in unserem Fordern nicht
        nachlassen werden.
        Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wohl
        keine andere Sozialleistung in der Geschichte der Bun-
        desrepublik Deutschland ist so bürokratisch wie das Bil-
        dungs- und Teilhabepaket. Ein aufwendiges Antragsver-
        fahren mit einer Fülle von Arbeitshilfen, Anträgen,
        Zusatzfragebögen, Nachweisen, Verträgen und Beschei-
        den führt zu einem enormen Missverhältnis zwischen
        Aufwand und Ertrag. Aufgrund unbestimmter Rechtsbe-
        griffe belasten etliche Widersprüche und Verfahren au-
        ßerdem die Sozialgerichte und frustrieren Antragstelle-
        rinnen und Antragsteller sowie Mitarbeiterinnen und
        Mitarbeiter in Schulen, Vereinen sowie Behörden glei-
        chermaßen.
        Auch der Deutsche Verein für öffentliche und private
        Fürsorge stellt in seinen Zweiten Empfehlungen zur Um-
        setzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe vom
        25. September 2012 fest, dass Leistungsträger und -er-
        bringer trotz eines Jahres Umsetzungserfahrung den ho-
        hen Verwaltungsaufwand beklagen. So würden insbe-
        sondere die Erbringung von Sachleistungen sowie die
        gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen die Umsetzung
        administrativ aufwendig machen.
        Das Präsidium des Deutschen Landkreistages hat am
        1./2. Oktober 2012 gesetzliche Änderungsvorschläge zur
        Reduzierung des Verwaltungsaufwands für das Bil-
        dungs- und Teilhabepaket verabschiedet. Darin werden
        insbesondere die komplexen Gesetzesformulierungen als
        Ursache für den unverhältnismäßig hohen bürokrati-
        schen Aufwand angesehen.
        Der nun vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
        bezieht sich in Teilen auf die genannten Änderungsvor-
        schläge zur Vereinfachung des Antrags- und Verwal-
        tungsverfahrens. Auch wenn uns die Vorschläge nicht
        weit genug gehen – siehe auch Antrag der Grünenbun-
        destagsfraktion „Das Bildungs- und Teilhabepaket –
        Leistungen für Kinder und Jugendliche unbürokratisch,
        zielgenau und bedarfsgerecht erbringen“, Drucksache
        17/8149 –, können wir den hier vorgeschlagenen Ände-
        rungen nur zustimmen. Einzig bei der Eigenbeteiligung
        bei der Schülerbeförderung vertreten wir eine andere
        Position.
        Insgesamt offenbaren die immer wieder genannten
        Änderungsvorschläge, mit welchen Schwierigkeiten die
        Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets durch
        Sachleistungen behaftet ist. Nicht umsonst kommen nun
        die Forderungen von verschiedensten Seiten, Teile der
        Leistungen auch als Geldleistung gewähren zu können.
        Zu den einzelnen Aspekten. Der Gesetzentwurf sieht
        vor, dass der Eigenbetrag bei der Schülerbeförderung,
        der aus dem Regelbedarf gezahlt werden muss, auf re-
        gelmäßig 5 Euro festgeschrieben werden soll, und zwar
        für alle Altersklassen. Der Deutsche Landkreistag hinge-
        gen stellt fest, dass die anzurechnenden Anteile aus dem
        Kinderregelbedarf bei der Schülerbeförderung Bagatell-
        beträge sind, die bei der Leistungserbringung und -ab-
        rechnung zusätzlichen Aufwand auslösen, der in keinem
        angemessenen Verhältnis zum Ertrag steht. Daher sollte
        die Anrechnung des Regelsatzanteils für Verkehr bei der
        Schülerbeförderung in allen Rechtskreisen – SGB II,
        SGB XII und BKGG – entfallen. Diese Position des
        Deutschen Landkreistages teilen wir.
        Forderungen zur Umwidmung der Teilhabepauschale
        auch für andere Verwendungszwecke werden von uns
        ebenso begrüßt wie Forderungen, Ausflüge und Klassen-
        fahrten auch als Geldleistung zu ermöglichen. Es ist
        sinnvoll, das Gesamtteilhabebudget rückwirkend zu er-
        bringen sowie bei Rückerstattungen Geldleistungen zu
        ermöglichen. Es wäre schön, wenn sich Union und FDP
        anders als in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage
        ernsthaft mit diesen Vorschlägen auseinandersetzen wür-
        den.
        27324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anlage 14
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung des Antrags: Überlebenshilfe in
        der Drogenpolitik – Situation der Substitution
        von Opiatabhängigen verbessern – Substitu-
        tionsbehandlung im Strafvollzug gewährleisten
        (Zusatztagesordnungspunkt 9)
        Karin Maag (CDU/CSU): 2009 hat der Deutsche
        Bundestag rechtliche Voraussetzungen für die diamor-
        phingestützte Behandlung Opiatabhängiger geschaffen
        und diese Therapieoption in die Regelversorgung über-
        führt. Seitdem ist viel geschehen: Es gibt zum Beispiel
        ein erstes diamorphinhaltiges Fertigarzneimittel, die Bun-
        desärztekammer hat ihre Substitutionsrichtlinien ebenso
        überarbeitet wie der GBA die Richtlinie Methoden ver-
        tragsärztlicher Versorgung, und es gibt GKV-relevante
        Abrechnungspositionen für die diamorphingestützte Be-
        handlung Schwerstopiatabhängiger. Das Ergebnis dieser
        vielfältigen Bemühungen ist, dass sich diese Therapie-
        option für Opiatabhängige mittlerweile fest im Angebot
        der Regelversorgung etabliert hat.
        Weil Behandlungsqualität wichtig ist, hat das BMG in
        Absprache mit den Bundesländern 2008 mit der PRE-
        MOS-Studie die langfristige Situation evaluiert. Die Stu-
        die stellt fest, dass die Substitutionstherapie in Deutsch-
        land effektiv ist und die allgemeinen primären Ziele
        überwiegend erreicht. Auch die IMPROVE-Studie be-
        legt, dass Suchtmediziner, Patienten und Opiatkonsu-
        menten die opiatgestützte Substitution als wertvoll und
        wirksam ansehen.
        Der Antrag der SPD weist nun zu Recht darauf hin,
        dass für die Ausgestaltung der Substitutionsbehandlung
        Opiatabhängiger insbesondere mit Bezug auf die betäu-
        bungsmittelrechtlichen Rahmenbedingungen ein grund-
        sätzlicher Zielkonflikt bedeutsam ist. Einerseits soll die
        substitutionsmedizinische Versorgung der Opiatabhängi-
        gen so unbürokratisch wie möglich und auf hohem Qua-
        litätsniveau angeboten und aufrechterhalten werden. An-
        dererseits soll den berechtigten Sicherheitsinteressen,
        insbesondere hinsichtlich der Verhinderung von Abzwei-
        gung und Missbrauch der Betäubungsmittel, Rechnung
        getragen werden. Vor diesem Hintergrund fordern Sie,
        vor allem vom Ziel der Abstinenz Abstand zu nehmen
        und generell die Strafbarkeit in diesem Zusammenhang
        zu überprüfen. Wie überhaupt der Komplex Konsiliar-,
        Mitgabe- und Take-Home-Regelungen einer Prüfung un-
        terzogen, die Anzahl der substituierenden Ärzte erhöht
        und die wissenschaftliche Forschung intensiviert werden
        soll.
        Hinsichtlich der Substitutionsbehandlung in Freiheit
        haben wir bereits im Koalitionsvertrag festgehalten, dass
        eine verantwortungsvolle Drogenpolitik Prävention,
        Therapie, Hilfe zum Ausstieg und damit auch den An-
        satz der Schadensminderung und die Bekämpfung der
        Drogenkriminalität in den Mittelpunkt stellt. Das heißt
        aber nicht, dass § 5 Abs. 1 Nr. 1 Betäubungsmittelver-
        schreibungsverordnung und § 29 Abs. 1 Nr. 1 Betäu-
        bungsmittelgesetz jetzt revidiert werden müssten. Das
        Ziel der Substitution ist in § 5 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Betäu-
        bungsmittelverschreibungsverordnung, BtMVV, fest-
        gelegt. Danach ist Substitution die Behandlung der
        Opiatabhängigkeit mit dem Ziel der schrittweisen Wie-
        derherstellung der Betäubungsmittelabstinenz, einschließ-
        lich der Besserung und Stabilisierung des Gesundheits-
        zustandes. Daneben kann auch Ziel die Unterstützung
        der Behandlung einer neben der Opiatabhängigkeit be-
        stehenden schweren Erkrankung oder die Verringerung
        der Risiken einer Opiatabhängigkeit während einer
        Schwangerschaft und nach der Geburt sein.
        Die Autoren der PREMOS-Studie weisen zum Bei-
        spiel auch darauf hin, dass eine hohe Abstinenzorientie-
        rung in den Substitutionspraxen einen zweigeteilten Ein-
        fluss auf den Substitutionsverlauf hat. Neben den in der
        Frage genannten Effekten sind in Einrichtungen mit ho-
        her Abstinenzorientierung mehr Patienten mit hohem
        Schweregrad abstinent, der konkomitante Drogenge-
        brauch ist geringer und der Wert der mit dem Drogen-
        konsum einhergehenden Probleme – Addiction Severity
        Index, ASI – ist besser als in Einrichtungen mit einer
        niedrigen Abstinenzorientierung. Der Behandlungsplan
        sollte deshalb in erster Linie auf die schrittweise Herstel-
        lung der Betäubungsmittelabstinenz ausgerichtet sein,
        auch wenn in der Praxis eine dauerhafte Abstinenz nur
        bei einer geringen Zahl von Patienten, derzeit circa
        8 Prozent, erreicht werden kann. Daneben gibt es zahl-
        reiche Zwischen- und Nebenziele, die ebenfalls mit der
        Substitution angestrebt werden können. Vor diesem Hin-
        tergrund sehe ich aktuell noch keinen weiteren Reform-
        bedarf.
        Konsiliar-, Mitgabe und Take-Home-Regelungen sind
        vor allem, worauf der Antrag zu Recht hinweist, im
        Kontext der Sicherheit der Allgemeinheit zu bewerten.
        Substitutionsmedikamente haben einen eigenen Markt
        und sind gefährlich für Dritte. Die aktuellen gesetzlichen
        Vorgaben sind geeignet, den oben genannten Ausgleich
        herbeizuführen.
        Mit der 23. Betäubungsmittelrechts-Änderungsver-
        ordnung wurde im § 5 Abs. 8 Satz 1 bis 3 BtMVV die
        sogenannte Zwei-Tages-Verschreibung verankert. Der
        behandelnde Arzt darf Patienten, denen ansonsten ein
        Substitutionsmittel zur unmittelbaren Verabreichung über-
        lassen wird, in Fällen, in denen die Kontinuität der Subs-
        titutionsbehandlung nicht anderweitig gewährleistet
        werden kann, ein Substitutionsmittel in der bis zu zwei
        Tagen benötigten Menge verschreiben und ihnen dessen
        eigenverantwortliche Einnahme erlauben, sobald der
        Verlauf der Behandlung dies zulässt, Risiken der Selbst-
        und Fremdgefährdung soweit wie möglich ausgeschlos-
        sen sind sowie die Sicherheit und Kontrolle des Betäu-
        bungsmittelverkehrs nicht beeinträchtigt werden. Mit
        dieser Regelung wurde bereits dem besonderen ärztli-
        chen Anliegen, Versorgungsmöglichkeit insbesondere an
        Wochenenden zu schaffen, entsprochen.
        Diese neue Verschreibungsmöglichkeit wurde in das
        Take-Home eingebettet, das die Voraussetzungen für die
        bis zu sieben Tage mögliche Take-Home-Verschreibung
        sowie für die sogenannte Auslandsverschreibung, das
        heißt für den Substitutionsmittelbedarf von bis zu 30 Ta-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27325
        (A) (C)
        (D)(B)
        gen, beschreibt. Nach den Bestimmungen der BtMVV
        ist darüber hinaus die ärztliche Mitgabe eines Substituti-
        onsmedikamentes bisher bis auf eine Ausnahmeregelung
        nicht gestattet. Diese Ausnahmebestimmung ist den
        pharmakologischen Besonderheiten der Stoffe Codein
        und Dihydrocodein geschuldet. Eine Abgabe über diese
        Ausnahmeregelung hinaus würde einen Verstoß gegen
        § 43 des Arzneimittelgesetzes darstellen, wonach die
        Abgabe von Arzneimitteln – in diesem Fall: den Substi-
        tutionsmitteln – der Apotheke vorbehalten ist. Ich selbst
        habe mich um einen Ausgleich der Interessen von Apo-
        theken und behandelnden Ärzten bemüht. Generell das
        Dispensierverbot zu lockern, halte ich für nicht ange-
        zeigt.
        Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich nach der
        IMPROVE-Befragung tatsächlich 47 Prozent der befrag-
        ten, aktiv substituierenden Ärzte ein weniger restriktives
        Vorgehen sowie juristische Unterstützung statt Sanktio-
        nen wünschen. Die Studie belegt aber auch, dass die
        Ärzte erhebliche Bedenken in Bezug auf Missbrauch
        und unerlaubte Weitergabe der Substitutionsmedika-
        mente durch die Patienten haben; 49 Prozent der Ärzte
        bezeichnen dies als erhebliches Problem, weitere 17 Pro-
        zent als besonders schwerwiegendes Problem.
        Ähnliches gilt für den Missbrauch der Substitutions-
        mittel durch die Patienten. Die IMPROVE-Studie weist
        explizit darauf hin, dass die Aussagen der Patienten, von
        denen 23 Prozent angaben, das Substitut schon einmal
        verkauft oder weitergegeben zu haben, diese Befürch-
        tungen der Ärzte begründet erscheinen lassen. Diese
        Fakten machen deutlich, dass die für die Substitutions-
        therapie relevanten betäubungsmittelrechtlichen Vor-
        schriften einzuhalten sind: So sind zum Beispiel Doku-
        mentationsvorschriften notwendig, um die Kontrolle und
        Sicherheit des BtM-Verkehrs wahren zu können und dies
        für die Aufsichtsbehörden auch nachvollziehbar zu ma-
        chen. Meine Gespräche mit den Staatsanwaltschaften
        haben auch ergeben, dass diese in der Regel ein praxis-
        orientiertes Miteinander mit den ihnen bekannten substi-
        tuierenden Ärzten pflegen, sodass Fehlverhalten mit Fin-
        gerspitzengefühl angegangen wird.
        Hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten in länd-
        lichen Räumen gilt, dass die Arbeitsgemeinschaft der
        obersten Landesgesundheitsbehörden im November
        2011 die AG Suchthilfe der AOLG gebeten hat, die Er-
        gebnisse der PREMOS-Studie auszuwerten, gegebenen-
        falls fachspezifischen Handlungs- und Forschungsbedarf
        für die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen der
        Substitutionsbehandlung in den Ländern zu benennen
        und hierüber im November 2012 zu berichten. Welche
        Schlüsse nun gezogen werden, entzieht sich meiner
        Kenntnis.
        Darüber hinaus gibt es ja auch Positives zu berichten.
        Ich kann aber berichten: In meiner Heimatstadt Stuttgart
        wird nach langer Standortsuche Mitte 2014 ein suchtme-
        dizinisches Schwerpunktzentrum eröffnen, das unter an-
        derem die Substitution mit Diarmorphin anbietet. Am
        Standort wird auch die Drogenberatungsstelle „release“
        ihr Angebot offerieren – übrigens nach langer Suche für
        einen geeigneten Standort und gegen die Stimmen der
        Grünen im Gemeinderat.
        Soweit der Antrag auf Mängel im Strafvollzug ein-
        geht, gilt, dass seit der Föderalismusreform 2006 die
        Zuständigkeit bei den Ländern liegt. Schon aus verfas-
        sungsrechtlichen Gründen ist uns damit jede Einfluss-
        nahme versagt. Ich schlage vor, dass Sie als Vertreter der
        Opposition Ihre Änderungswünsche im Bundesrat an die
        Länder herantragen.
        Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Sucht ist eine
        Krankheit, und es gibt leider viele Menschen, die unter
        dieser Krankheit leiden. Sie sind aus eigenem Willen oft
        nicht in der Lage, diese Krankheit zu überwinden. Man-
        cher leidet unter ihr ein Leben lang und kann sie nicht
        besiegen. Ein Junkie hatte früher kein langes Leben.
        Seit den 1990er-Jahren wird in Deutschland im Um-
        gang mit Opiatabhängigen vermehrt der Ansatz der
        Schadensreduzierung und Überlebenshilfe durch Substi-
        tution verfolgt. Dies hat sich erfreulicherweise – auch
        dank rot-grüner Regierungspolitik – zu einer eigenstän-
        digen Säule der Drogenpolitik entwickelt. Dabei folgt
        die Politik der Erkenntnis, dass Strafverfolgung und
        Strafe nicht zur Heilung der Sucht oder zu einer Stabili-
        sierung der Süchtigen führen.
        Opiatabhängigen, die schon mehrere Entzugsversu-
        che gemacht haben und trotz intensiver eigener Bemü-
        hungen nicht von der Droge weggekommen sind, wird
        durch die Substitution ein Weg gezeigt, um aus der
        Sucht herauszukommen oder notfalls mit der Sucht zu
        leben. Die Effektivität der Maßnahme im Hinblick auf
        die Reduktion von Kriminalität und Sterberaten sowie
        Belastungen für die Allgemeinheit und eine bessere the-
        rapeutische Haltequote ist in der Wissenschaft unstreitig
        – das wurde erst vor einiger Zeit bekräftigt durch die Er-
        gebnisse der von der Bundesregierung in Auftrag gege-
        benen PREMOS-Studie. Wir haben diese Studie auch im
        Gesundheitsausschuss diskutiert.
        Gerade weil wir mit der Substitutionsbehandlung ei-
        nen guten Beitrag für die Überlebenshilfe, aber auch für
        den Abbau der Beschaffungskriminalität leisten, sehe ich
        mit großer Sorge die Entwicklung der letzten Jahre. So
        beobachten wir – auch das belegt die PREMOS-Studie –
        verstärkt starke regionale Unterschiede bei der Praxis
        der Überlebenshilfe und auch erhebliche Schnittstellen-
        problematiken zwischen den zahlreichen Akteuren im
        Bereich der Substitutionsbehandlung. Suchtmediziner
        schildern die Mauern, an die sie immer wieder stoßen:
        Manche davon sind ideologisch begründet, wobei die
        Argumente nicht neu sind. Wir haben sie schon ganz frü-
        her bei der Einführung der Methadonsubstitution gehört.
        In den letzten Monaten wurde deutlich, dass im Bereich
        der Diamorphinversorgung die Regelungen häufig so
        ausgelegt werden, dass lediglich die Modellprojekte ver-
        stetigt und kaum eine Verbesserung der Versorgung er-
        reicht werden konnten. Ich hoffe sehr, dass die neuen
        Regelungen des G-BA zu unbürokratischeren Lösungen
        führen werden. Vielleicht können dann auch die Teile
        der Union, für die Substitution Teufelszeug ist, ihren
        ideologischen Widerstand beenden.
        27326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Denn man muss feststellen: Die Bundesregierung tut
        nichts, um die Situation zu verbessern. Dies macht mir
        vor allem auch wegen der abnehmenden Zahl von Subs-
        titutionsärzten große Sorgen. Sie ist neben der man-
        gelnden Attraktivität der Fachrichtung innerhalb der
        Ärzteschaft durch die besondere Altersstruktur der subs-
        tituierenden Fach- und Hausärzte zu erklären. Ich
        fürchte, der anstehende Generationswechsel wird hier
        große Versorgungsprobleme mit sich bringen. Dies ist
        ein generelles Problem in Deutschland, dem wir uns stel-
        len müssen.
        Daneben beunruhigen mich noch einige weitere Pro-
        bleme. So haben wir bezüglich der Quantität von Substi-
        tutionsbehandlungsangeboten in Deutschland ein Nord-
        Süd- und ein West-Ost-Gefälle. Gerade in ländlichen
        Regionen bestehen erhebliche Versorgungsdefizite. Oft
        sind die Entfernungen groß, Arzt und Patient trennen zig
        Kilometer. Die nächste Substitutionspraxis ist oft 50 Ki-
        lometer weit entfernt. Wir müssen feststellen, dass Ärz-
        tinnen und Ärzte mit weiten Wegen insbesondere in
        ländlichen Regionen, zum Beispiel in Schwaben oder
        Niederbayern, wegen der Mitgabe- und Take-home-Re-
        gelungen gerichtlichen Verfahren ausgesetzt sind, die
        nicht selten in einer Verurteilung und dem Entzug der
        Approbation enden. Vermeidbare juristische Unklarhei-
        ten erschweren die Versorgung von opiatabhängigen Pa-
        tienten, die Ärzte bewegen sich in einer Grauzone. Die
        Folge: Immer mehr Substitutionsärzte schmeißen hin.
        Damit verschärft sich jedoch das Problem für den Süch-
        tigen einerseits und die substituierenden Kollegen im
        weiten Umfeld andererseits. Denn zu denen sind die
        Wege dann noch weiter, und die Erhöhung der Anzahl
        der Patienten führt zu einer Überlastung der Praxis. Die
        sozialtherapeutische Begleitung, die so notwendig wäre,
        kann nicht mehr in der gewünschten Qualität geleistet
        werden. Ein Teufelskreis!
        Dazu soll nun auch noch eine neue EBM-Struktur
        kommen, die substituierenden Hausärzten Pauschalen
        streichen oder kürzen will. Ich erwarte auch von der
        Bundesregierung, dass sie hier die besondere Situation
        der substituierenden Allgemeinmediziner erkennt und
        ihren Einfluss entsprechend geltend macht.
        Aus den genannten Gründen wollen wir mit unserem
        Antrag anregen, die rechtlichen Rahmenbedingungen
        der Substitutionsbehandlung von Opiatabhängigen zu re-
        formieren. Denn sie stehen seit 2010 in Konflikt mit dem
        Stand medizinischer Wissenschaft und der Richtlinie zur
        Substitutionsbehandlung der Bundesärztekammer aus
        2010 und verursachen immer häufiger eine unnötige Kri-
        minalisierung von substituierenden Ärztinnen und Ärz-
        ten. Sowohl das sogenannte Abstinenzparadigma in der
        Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung als auch
        die stets im Hintergrund schwebenden Strafandrohungen
        in § 29 Abs. 1 Nr. 1 Betäubungsmittelgesetz müssen
        dringend überprüft werden. Sie sorgen immer wieder für
        unklare rechtliche Situationen und eine uneinheitliche
        Rechtsprechung in Deutschland. Dadurch schrecken sie
        junge Ärztinnen und Ärzte ab, eine entsprechende sucht-
        medizinische Fortbildung zu machen oder als Suchtme-
        diziner Substitutionsbehandlungen durchzuführen. Wir
        brauchen diese Suchtmediziner aber, wenn wir ange-
        sichts der wachsenden Anzahl von Süchtigen die Bera-
        tungsstrukturen insgesamt verbessern wollen.
        Ein weiteres Problem, das die PREMOS-Studie aus-
        gemacht hat, möchte ich hier auch noch anführen: Die
        Situation in Haftanstalten. Ich habe selbst verschiedene
        Justizvollzugsanstalten besucht, sowohl in Berlin als
        auch in Bayern. Obwohl die Richtlinien der Bundesärzte-
        kammer zur Durchführung der substitutionsgestützten
        Behandlung Opiatabhängiger die Sicherstellung der Be-
        handlung ausdrücklich auch bei einer Inhaftierung ver-
        langen, ist insbesondere im Maßregel- und Strafvollzug
        die Möglichkeit zur Substitutionsbehandlung oftmals
        nicht gewährleistet. „Lediglich etwa 500 bis 700 der ge-
        schätzten 10 000 bis 15 000 infrage kommenden Gefan-
        genen befinden sich in einer dauerhaften Substitutions-
        behandlung“, so der Drogenbericht der Bundesregierung
        aus dem Jahr 2009. Die Anzahl der Infizierten mit HIV
        und Hepatitis bei Strafgefangenen ist fast um den Faktor
        100 höher als außerhalb von Gefängnissen. Und es gibt
        kein Gefängnis, in dem nicht auch Drogen gehandelt
        werden. Die Gefahr einer Infektion für Opiatabhängige
        ist deshalb groß. Auch in diesem Bereich gibt es bei den
        Bundesländern höchst unterschiedliche Vorschriften und
        Bedingungen. Dadurch kann die Substitutionsbehand-
        lung von Opiatabhängigen in Haft nicht überall gewähr-
        leistet sein. Deshalb ist es aus meiner Sicht wichtig, dass
        die Bundesregierung im Sinne der Forderungen der Ärzte-
        kammer auf die Länder zugeht und sie auffordert, die
        Versorgung von opiatabhängigen Inhaftierten zu verbes-
        sern.
        Die amtierende Bundesregierung hat diese Studie in
        Auftrag gegeben, die uns auf diese Missstände hinweist.
        Daher wäre es nur konsequent, wenn Sie als die diese
        Bundesregierung tragenden Parteien den Antrag ernst-
        haft prüfen und ihn im weiteren parlamentarischen Ver-
        fahren unterstützen würden.
        Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Der von
        der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag thematisiert ein
        wichtiges Anliegen. Grundsätzlich halte ich das Konzept
        des Ineinandergreifens von Prävention, Beratung und
        Therapie, Überlebenshilfen und Repression für den rich-
        tigen Ansatz moderner Drogenpolitik. Dieses Säulenmo-
        dell spiegelt die Vielfalt der Anforderungen an Staat und
        Gesellschaft im Umgang mit Drogen wider.
        Im Kontext der Überlebenshilfe spielt die Substitu-
        tion von Opiatabhängigen eine zentrale Rolle. Die Subs-
        titutionstherapie hat sich bewährt als wirksames Instru-
        ment, den Abhängigen in überschaubarer Zeit in einen
        Zustand dauerhafter Abstinenz zu bringen oder im Rah-
        men einer Dauersubstitution zumindest eine spürbare
        Schadensminimierung einzuleiten. Mit einer Substitu-
        tionstherapie kann man den Gesundheitszustand und die
        soziale Situation der Patienten deutlich verbessern.
        Die PREMOS-Studie gibt einen sehr guten Überblick
        darüber, wie die Situation von Substitutionspatienten
        insgesamt ist. Und liefert wichtige Erkenntnisse hin-
        sichtlich Mortalität, Morbidität, Lebensqualität, Delin-
        quenz, stabiler Substitution und Beikonsum.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27327
        (A) (C)
        (D)(B)
        Insgesamt muss man festhalten, dass die Substitution
        von Opiatabhängigen in Deutschland im internationalen
        Vergleich recht gut funktioniert: Insbesondere was Mor-
        talität angeht, steht Deutschland nicht schlecht da. Die
        PREMOS-Studie spricht von einem „überaus niedrigen
        durchschnittlichen jährlichen standardisierten Mortali-
        tätsrisiko von 1,15 Prozent“. Der Anteil der Patienten,
        die im Rahmen einer regelhaft beendeten Therapie als
        abstinent galten oder sich in abstinenzorientierter Thera-
        pie befanden, ist positiv zu bewerten, auch wenn natür-
        lich weitere Verbesserungen erstrebenswert sind.
        Erreicht werden muss ein möglichst stabiler Substitu-
        tionsverlauf ohne Unterbrechungen und ohne Abbrüche.
        Das ist die Grundlage dafür, einem suchtkranken Men-
        schen die Möglichkeit zu eröffnen, wieder gesund zu
        werden und in ein geregeltes, nicht von Sucht und Dro-
        genbeschaffung bestimmtes Leben zurückzukehren.
        Der vorliegende Antrag thematisiert einen Bereich, in
        dem es ohne Zweifel Optimierungsbedarf gibt: Grund-
        sätzlich teile ich das Anliegen, Substitutionsbehandlun-
        gen auch für opiatabhängige Strafgefangene und für
        Opiatabhängige im Maßregelvollzug sicherzustellen.
        Denn auch Strafgefangenen muss man die Möglichkeit
        eröffnen, gesund zu werden und in ein geregeltes, nicht
        von Sucht und Drogenbeschaffung bestimmtes Leben
        zurückzukehren. Während bei Opiatabhängigen in Frei-
        heit zwar der Umgang mit Mitgabe- und Take-home-Re-
        gelungen ein Dauerthema ist, die Substitution an sich
        aber vollzogen wird, scheitert eine Substitution opiat-
        abhängiger Strafgefangener und Opiatabhängiger im
        Maßregelvollzug jedoch oft einfach daran, dass es vor
        Ort keine geeigneten Ärztinnen und Ärzte gibt.
        Insgesamt, das skizziert der Antrag, gibt es einen fa-
        cettenreichen Handlungsbedarf, um die Substitution im
        Allgemeinen wie im Besonderen zu verbessern. Doch ob
        der SPD-Antrag zu einer Verbesserung der Situation füh-
        ren würde, bleibt fraglich, zumal wesentlicher Hand-
        lungsbedarf im Bereich der Länder liegt und nicht beim
        Bund. Die christlich-liberale Koalition hat das Thema
        Substitution auf der Tagesordnung, wird sich intensiv
        damit befassen und die notwendigen Optimierungen ein-
        leiten.
        Frank Tempel (DIE LINKE): Die gegenwärtige Sub-
        stitutionslage in Deutschland ist nicht zufriedenstellend.
        Dabei ist die Substitutionstherapie, also die Versorgung
        von Opiatabhängigen mit einem Ersatzstoff, nachweis-
        lich die wirksamste Methode, den Betroffenen eine
        Rückkehr ins gesellschaftliche Leben zu ermöglichen
        und sie, wenn möglich, von ihrer Suchterkrankung zu
        heilen. Sie wirkt der drogenassoziierten Kriminalität
        entgegen, und eine gesundheitsökonomische Studie hat
        ergeben, dass die volkswirtschaftlichen Einsparungen
        pro Patient im Jahr bei 7 800 Euro liegen.
        Die Infrastruktur zur Substitutionstherapie muss wei-
        ter ausgebaut werden. Wie im Antrag der SPD richtig
        benannt wurde, ist besonders die Versorgung von Substi-
        tuierenden im ländlichen Raum äußerst prekär. Die
        Anzahl der Substituierenden liegt in Deutschland bei
        76 200 Personen – Stand 2011. Dem gegenüber standen
        im selben Jahr 2 703 substituierende Ärztinnen und
        Ärzte sowie 8 122 Ärztinnen und Ärzte mit suchtthera-
        peutischer Qualifikation.
        So wird es den Patientinnen und Patienten und den
        Ärztinnen und Ärzten sehr schwer gemacht, die Substi-
        tutionsbehandlung erfolgreich durchzuführen. Zudem
        werden immer wieder Fälle bekannt, bei denen sich Sub-
        stitutionsärzte vor Gericht für die mehrtätige Mitgabe
        des Substitutionsmittels, beispielsweise Methadon, an
        ihre Patientinnen und Patienten verantworten müssen.
        Beim Landgericht Lüneburg wurden bereits zwei Ärzte
        zu Haftstrafen verurteilt. Und auch in Niedersachsen gab
        es 2008 mehrere Verfahren gegen Substitutionsärzte.
        Grund dafür ist der strenge Rechtsrahmen der Substituti-
        onsbehandlung, dessen Grundzüge aus den 80er- und
        90er-Jahren stammen. Die Take-home-Regelung von
        sieben Tagen sollte daher ausgeweitet werden.
        Ein weiteres Problem ist die sogenannte Einnahme
        unter Sicht. Sie sorgt dafür, dass Patientinnen und
        Patienten gezwungen werden, teilweise in der Öffent-
        lichkeit, beispielsweise in der Apotheke, das Substitu-
        tionsmittel einzunehmen. Diese Praxis hat für Patientin-
        nen und Patienten oftmals einen demütigenden
        Charakter. Die Einnahme des Substitutionsmittels „unter
        Sicht“ sollte daher nicht die Regel, sondern die Aus-
        nahme darstellen.
        Auch die sachlichen und personellen Mindestvoraus-
        setzungen für Substitutionseinrichtungen sind zu hoch
        angesetzt. Die Richtlinien der Bundesärztekammer,
        BÄK, von 2010 müssen daher ihren Niederschlag in der
        Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, BtMVV,
        finden. Des Weiteren muss endlich Rechtssicherheit für
        Substitutionsärzte bei der Auslegung der Rechtsvor-
        schriften zur Substitution hergestellt werden. Erfreulich
        ist, dass am 17. Januar dieses Jahres der Gemeinsame
        Bundesausschuss verschiedene Änderungen bei den
        Diamorphin-Richtlinien beschlossen hat. „Einrichtungen
        können über die Anzahl der notwendigen Arztstellen
        bedarfsorientierter entscheiden und Räumlichkeiten rea-
        litätsnah gestalten“, schrieb der Gemeinsame Bundes-
        ausschuss in der Presseerklärung vom selben Tag.
        Ebenso sollten die Vorschläge des 115. Deutschen
        Ärztetages zur Substitutionsbehandlung einbezogen
        werden. Diese fordern unter anderem, dass der Gesetz-
        geber die betäubungsmittelrechtlichen Vorgaben an den
        Stand der medizinischen Wissenschaft anpasst. In den
        EU-Ländern, in denen ebenso die Substitutionsbehand-
        lung ermöglicht wurde, ist diese pragmatischer geregelt
        worden und hatte nicht zu einer unkontrollierten
        Behandlungsszenerie geführt.
        Außerdem muss der rechtliche Rahmen dafür
        geschaffen werden, dass es nicht den Bundesländern ob-
        liegt, eine bestehende Substitution bei einem Haftantritt
        zu beenden. In einem offenen Brief der Deutschen
        AIDS-Hilfe, DAH, an die bayrische Justizministerin
        vom April 2012 wurde sehr deutlich formuliert, dass
        Bayern gegen die Richtlinien der Bundesärztekammer
        sowie gegen das Bayerische Strafvollzugsgesetz, nach
        dem Gefangene die gleiche Gesundheitsversorgung er-
        halten müssen wie in Freiheit, verstößt. Hintergrund des
        27328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        offenen Briefes waren zwei aktuelle Beschlüsse des
        Landgerichts Augsburg, mit denen zwei Anträge auf
        Substitutionsbehandlung in der JVA Kaisheim abgelehnt
        wurden. Wie die DAH betonte, wiesen die Beschlüsse
        zahlreiche fachliche Fehler auf. Die Deutsche Gesell-
        schaft für Suchtmedizin, DGS, erklärt zu den beiden Ur-
        teilen: „Die Urteilsbegründung entspricht nicht dem
        Stand des medizinischen Wissens und verletzt das Recht
        des Patienten auf eine angemessene Behandlung.“ Der
        erzwungene Abbruch einer Substitution bei Haftantritt
        erhöht die „Gesundheits- und Lebensgefahren des
        Patienten erheblich“, so die DGS.
        Erforderlich sind rechtliche Rahmenbedingungen, die
        Substitutionsärzte nicht abschrecken, Opiatabhängigen
        eine flächendeckende Versorgung mit freier Arztwahl er-
        möglichen, einer normalen Lebensführung nicht von
        vorneherein im Wege stehen sowie den fließenden Über-
        gang der Substitution auch in der Haft ermöglichen.
        Wir unterstützen daher das Anliegen der SPD-Frak-
        tion, die Versorgungsqualität bei der Substitutions-
        behandlung zu verbessern, und hoffen, dass es spätestens
        zu Beginn der neuen Legislaturperiode zu grundlegen-
        den Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen
        zur Substitutionspraxis kommt. Nur dadurch können wir
        die Anzahl der praktizierenden Substitutionsärzte erhö-
        hen und den Abhängigen ausreichend helfen.
        Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
        Vor genau zwei Wochen haben wir hier an dieser Stelle
        schon einmal über die Drogenpolitik gestritten. Ich habe
        seinerzeit darauf hingewiesen, dass das realitätsblinde
        „Weiter so“ angesichts der erheblichen negativen Aus-
        wirkungen der jetzigen Drogenpolitik ein Ende haben
        muss.
        Das in dem Antrag der SPD thematisierte Problem in
        der Substitutionsbehandlung ist ein Beleg dafür, dass die
        herrschende Drogenpolitik erhebliches menschliches
        Leiden in Kauf nimmt. Denn was ist die Ursache dafür,
        dass die Versorgung von Opiatabhängigen nicht überall
        im notwendigen Umfang und ausreichender Qualität ge-
        währleistet ist?
        Was ist die Ursache dafür, dass Ärzte, die eine Substi-
        tutionsbehandlung anbieten, zumindest gefühlt mit ei-
        nem Bein im Gefängnis stehen? Und was ist die Ursache
        dafür, dass in vielen deutschen Haftanstalten keine Sub-
        stitutionsbehandlung angeboten wird?
        Es sind die geltenden rechtlichen Regelungen in der
        Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung und die
        ideologisch begründete repressive Haltung mancher vor
        allem süddeutscher Haftanstalten und Landesregierun-
        gen. Ein kurzer Blick in die Betäubungsmittel-Verschrei-
        bungsverordnung zeigt doch, welcher Geist da domi-
        niert. Da geht es nicht vorrangig darum, eine gute
        Versorgungsqualität für die betroffenen Patientinnen und
        Patienten sicherzustellen, sondern da manifestiert sich
        ganz klar eine repressiv ausgerichtete Drogenideologie.
        In dieser Verordnung wird den Ärztinnen und Ärzten
        die Indikation und Kontraindikation der Behandlung
        vorgegeben. Es werden ihnen die Art der Medikation,
        die Dosierung sowie die Applikation des Arzneimittels
        vorgeschrieben.
        Es werden die Behandlungs- und Verschreibungsfre-
        quenz, die Art der Begleitbehandlung, der Behandlungs-
        abbruch bei Non-Compliance detailliert vom Staat be-
        stimmt. Und sogar das Behandlungsziel, die Abstinenz,
        schreibt die Betäubungsmittel-Verschreibungsverord-
        nung den Ärztinnen und Ärzten vor.
        Kennen Sie irgendeine andere chronische Erkran-
        kung, bei der der Staat derart massiv in die ärztliche
        Therapiefreiheit eingreift und Patienten die Heilung
        quasi staatlich vorschreibt?
        Dass es die herrschende Drogenpolitik zu ihrer Legi-
        timation nicht eben so genau mit den Fakten nimmt,
        sieht man auch beim Thema Substitutionsbehandlung.
        So steht beispielsweise wörtlich in einem nur wenige
        Monate alten Bürgerschaftsantrag der Hamburger CDU:
        „Mit dem Ziel der Ausstiegsorientierung ist eine zeitlich
        unbegrenzte Behandlungsdauer nicht vereinbar. Es kann
        weder im Sinne der Substituierten noch im Interesse der
        sozialen Sicherungssysteme sein, die Behandlung man-
        cher Opiatabhängiger jahrzehntelang vorzunehmen.“
        Abgesehen davon, dass diese Formulierung ein gehö-
        riges Ausmaß an Unmenschlichkeit offenbart, ist die
        Formulierung auch schlicht falsch. Die PREMOS-Studie
        zur Substitutionsbehandlung hat deutlich gezeigt, dass
        auf längere Sicht nur ein ganz kleiner Teil der Patientin-
        nen und Patienten jemals die Abstinenz erreicht. Um es
        genau zu sagen: Nach sechs Jahren Behandlung waren
        gerade einmal 8 Prozent der Patientinnen und Patienten
        abstinent oder zumindest in einer abstinenzorientierten
        Therapie ohne Substitution. Die übrigen befanden sich
        noch in einer Substitutionsbehandlung, hatten die Be-
        handlung abgebrochen oder waren verstorben.
        Die Autoren der Studie schreiben ferner: „Die Risiken
        einer sehr langfristigen bzw. lebenslangen Substitution
        sind geringer als ständige Rückfälle mit dem Risiko ei-
        ner weiteren Progression des Krankheitsbildes.“
        Diese Fakten sprechen übrigens nicht gegen die Sub-
        stitutionsbehandlung. Aber sie sprechen dafür, an die
        Stelle ideologischer Vorgaben zur Abstinenz, zur Mitgabe
        des Substitutionsmittels oder der Verschreibung sowie al-
        ler anderen detaillierten staatlichen Vorgaben zur Be-
        handlung dieser schweren chronischen Erkrankung end-
        lich den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft
        treten zu lassen. Dafür sind die Behandlungsleitlinien und
        Richtlinien der Bundesärztekammer völlig ausreichend.
        Der § 5 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverord-
        nung ist daher aus unserer Sicht verzichtbar.
        Noch schlimmere Auswirkungen als in der Freiheit
        hat die herrschende Politik übrigens im Strafvollzug.
        Etwa 20 bis 30 Prozent der in Deutschland inhaftierten
        Menschen sind intravenöse Drogenkonsumenten. Den-
        noch – auf diesen Umstand weist auch der SPD-Antrag
        hin – bekommen nur 500 bis 700 der bis zu 15 000 in-
        frage kommenden Inhaftierten eine entsprechende Be-
        handlung.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27329
        (A) (C)
        (D)(B)
        Im von CSU und FDP regierten Bayern ist die Situa-
        tion besonders dramatisch. Hier ist die Behandlung nur
        in einer einzigen Haftanstalt möglich und in der Regel
        auch nur für Inhaftierte, die eine Freiheitsstrafe von we-
        niger als drei Monaten verbüßen. Dort herrscht mit Billi-
        gung des Justizministeriums in vielen Haftanstalten die
        mittelalterliche Vorstellung, Opiatabhängigkeit sei keine
        Krankheit und Substitution nur eine überflüssige Beloh-
        nung für Drogenkonsum.
        Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den vorliegen-
        den Antrag der SPD. Wir müssen endlich wegkommen
        von der repressiv orientierten Drogenpolitik. Ziel muss
        es sein, den opiatabhängigen Patientinnen und Patienten
        eine optimale gesundheitliche Versorgung zukommen zu
        lassen und ihnen so die Chance auf Linderung ihrer Ab-
        hängigkeitserkrankung zu eröffnen. Dabei helfen uns
        keine weltfremden Abstinenzideologien, sondern nur
        kooperative und patientenorientierte Versorgungsstruk-
        turen.
        Anlage 15
        Zu Protokoll gegebene Reden
        zur Beratung:
        – Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD,
        FDP und Bündnis 90/Die Grünen: EU-weite
        Regelungen zur Durchführung von klini-
        schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln –
        Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
        sicherstellen; hier: Stellungnahme des Deut-
        schen Bundestages nach Art. 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
        die Zusammenarbeit von Bundesregierung
        und Deutschem Bundestag in Angelegenhei-
        ten der Europäischen Union
        – Antrag der Fraktion Die Linke: EU-weite
        Regelungen zur Durchführung von klini-
        schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln –
        Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
        sicherstellen; hier: Stellungnahme des Deut-
        schen Bundestages nach Art. 23 Absatz 3 des
        Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
        die Zusammenarbeit von Bundesregierung
        und Deutschem Bundestag in Angelegenhei-
        ten der Europäischen Union
        (Zusatztagesordnungspunkte 10 a und b)
        Rudolf Henke (CDU/CSU): Die klinische Prüfung
        von Arzneimitteln am Menschen ist eine notwendige
        Voraussetzung für die Erforschung, Entwicklung und
        Zulassung neuer Medikamente. Erkenntnisse, die in kli-
        nischen Studien gewonnen werden, sind für die Weiter-
        entwicklung moderner Arzneimitteltherapie von überra-
        gender Bedeutung.
        Im Vordergrund muss bei Arzneimittelstudien jedoch
        die Patientensicherheit stehen. Ein hohes Schutzniveau
        an Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ist für
        die Probanden und Patienten unverzichtbar.
        Unsere strengen rechtlichen Regelungen für die For-
        schung am Menschen leiten sich aus der grundgesetzlich
        geschützten Würde des Menschen ab. So muss eine kli-
        nische Studie freiwillig sein. Nicht notwendige oder
        willkürliche Maßnahmen sind strengstens zu unterlas-
        sen; im Vorfeld hat eine gründliche Aufklärung stattzu-
        finden.
        Erstmals festgelegt im Nürnberger Kodex von 1947,
        sind diese Anforderungen für eine ethisch verantwort-
        bare Forschung am Menschen Teil der Deklaration von
        Helsinki des Weltärztebundes. Diese ethischen Grund-
        sätze für die medizinische Forschung haben nach ihrer
        Veröffentlichung Eingang in die deutsche Gesetzgebung
        und das Berufsrecht gefunden. Sie stellen die Konse-
        quenz aus dem Unrecht medizinischer Experimente dar,
        welche zur Zeit des Nationalsozialismus an den Opfern
        von Konzentrationslagern durchgeführt wurden.
        Der deutsche Gesetzgeber hat die stete Pflicht, Ände-
        rungen in den rechtlichen Grundlagen zu humanmedizi-
        nischer Forschung kritisch zu hinterfragen – gerade vor
        dem Hintergrund der historischen Erfahrung in unserem
        Land. Deshalb müssen wir bei jeder gesetzlichen Ände-
        rung darauf achten, dass das hohe Schutzniveau für Teil-
        nehmer an klinischen Studien erhalten bleibt.
        Wir beraten heute einen fraktionsübergreifenden An-
        trag über EU-weite Regelungen zur Durchführung von
        klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln. Grund-
        lage des Antrages ist der Vorschlag einer Verordnung des
        Europäischen Parlaments und des Rates über klinische
        Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung
        der Richtlinie 2001/20/EG, Ratsdokument 1275/12, wel-
        chen die EU-Kommission am 17. Juli 2012 vorgelegt
        hat.
        Die bislang geltende Richtlinie 2001/20/EG ist in
        Deutschland im Jahre 2004 mit der 12. AMG-Novelle
        sowie der Verordnung über die Anwendung der Guten
        Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen
        Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Men-
        schen, GCP-Verordnung, in deutsches Recht umgesetzt
        worden.
        Unsere gesetzlichen Vorgaben haben sich in der Pra-
        xis bewährt. Dies gilt für das eingangs erwähnte hohe
        Schutzniveau von Probanden und Patienten, die Beteili-
        gung der Ethikkommissionen am Genehmigungsverfah-
        ren, aber auch für die Möglichkeiten der Initiatoren und
        Sponsoren klinischer Arzneimittelforschung. Diese gute
        Praxis ist uns vonseiten der Ärzteschaft, vom Arbeits-
        kreis Medizinischer Ethik-Kommissionen, aber auch
        vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller viel-
        fach bestätigt worden.
        Mit der Vorlage des EU-Verordnungsvorschlages soll
        die bislang geltende Richtlinie modernisiert werden. Ziel
        ist ein in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich geltender
        Rechtsrahmen für die Anforderungen an klinische Prü-
        fungen mit Humanarzneimitteln.
        Dieses Ziel einer weiteren Vereinheitlichung der kli-
        nischen Prüfungen in der EU erkennt der Antrag in
        seinem Wortlaut durchaus an. Damit darf aber keine
        Minderung der Rolle und des Stellenwerts der Ethik-
        27330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        kommissionen verbunden sein. Ich komme darauf zu-
        rück.
        Tatsächlich betrachten wir wichtige Punkte des Ver-
        ordnungsvorschlags mit großer Sorge. Lassen Sie mich
        dies an drei ausgewählten Punkten unseres Antrages
        deutlich machen:
        Erstens die Regelungen zum Schutz von Prüfungsteil-
        nehmern. Die Deklaration von Helsinki fordert in Art. 6,
        dass „in der medizinischen Forschung am Menschen …
        das Wohlergehen der einzelnen Versuchsperson Vorrang
        vor allen anderen Interessen haben“ muss.
        Und weiter: „Einige Forschungspopulationen sind be-
        sonders vulnerabel und benötigen besonderen Schutz.
        Dazu gehören Personen, die nicht in der Lage sind,
        selbst ihre Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern
        oder für die Ausübung von Zwang oder eine unzulässige
        Beeinflussung anfällig sein können.“
        Im Widerspruch dazu wird im Verordnungsentwurf
        – Art. 31, Art. 32 – der Schutz vor fremdnütziger For-
        schung insbesondere bei Minderjährigen und Notfallpa-
        tienten gegenüber den bisherigen Regelungen der EU-
        Richtlinie und des Arzneimittelgesetzes jedoch verrin-
        gert. So muss der Widerspruch von widerspruchsfähigen
        Minderjährigen und erwachsenen Nichteinwilligungsfä-
        higen gegen die Teilnahme oder Fortsetzung einer Arz-
        neimittelprüfung nicht beachtet werden. Eine Öffnungs-
        klausel, um die Schutzvorkehrungen für besonders
        vulnerable Personengruppen an die unterschiedlichen
        mitgliedstaatlichen Anforderungen anzupassen, ist eben-
        falls nicht vorgesehen.
        Unser heute zu beschließender Antrag stellt darüber
        hinaus klar, dass eine Instrumentalisierung von Patien-
        tinnen und Patienten nicht mit den Grundrechten der Eu-
        ropäischen Menschenrechtskonvention sowie der Charta
        der Grundrechte der EU vereinbar wäre.
        Zweitens die fehlende Berücksichtigung von Ethik-
        kommissionen bei der Bewertung von Anträgen auf Ge-
        nehmigung klinischer Prüfungen und wesentlicher Än-
        derungen. Bei der Forschung am Menschen sind
        Ethikkommissionen international anerkannter Schutz-
        standard. Die Deklaration von Helsinki sieht dazu in
        Art. 15 vor, dass „das Studienprotokoll … vor Studien-
        beginn zur Beratung, Stellungnahme, Orientierung und
        Zustimmung einer Forschungsethik-Kommission vorzu-
        legen“ ist. Und weiter heißt es: „Diese Ethik-Kommis-
        sion muss von dem Forscher und dem Sponsor unabhän-
        gig und von jeder anderen unzulässigen Beeinflussung
        unabhängig sein. Sie muss den Gesetzen und Rechtsvor-
        schriften des Landes oder der Länder, in dem oder denen
        die Forschung durchgeführt werden soll, sowie den
        maßgeblichen internationalen Normen und Standards
        Rechnung tragen, die jedoch den in dieser Deklaration
        niedergelegten Schutz von Versuchspersonen nicht ab-
        schwächen oder aufheben dürfen. Die Ethik-Kommis-
        sion muss das Recht haben, laufende Studien zu beauf-
        sichtigen. Der Forscher muss der Ethik-Kommission
        begleitende Informationen vorlegen, insbesondere Infor-
        mationen über jede Art schwerer unerwünschter Ereig-
        nisse.“ Zitat Ende.
        Vor dem Hintergrund dieser wichtigen Funktionen so-
        wie einer Bewertung der Studie unter einem individuel-
        len Nutzen-Risiko-Verhältnis ist es mithin nicht nach-
        vollziehbar, weshalb der Verordnungsvorschlag nicht
        länger das zustimmende Votum einer unabhängigen, in-
        terdisziplinär besetzten Ethikkommission verpflichtend
        vorsieht. Eine Ablehnung durch die beauftragte Ethik-
        Kommission muss auch in Zukunft zu einer Versagung
        der Genehmigung einer Studie führen.
        Während noch in der aktuell gültigen EU-Richtlinie
        klar vorgegeben ist, dass „der Sponsor … mit der klini-
        schen Prüfung erst beginnen [kann], wenn die Ethik-
        Kommission eine befürwortende Stellungnahme abgege-
        ben hat“, Art. 9 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 der Richtlinie
        2001/20/EG, taucht diese Formulierung im Verordnungs-
        entwurf nicht mehr auf. Hier muss im laufenden Gesetz-
        gebungsverfahren dringend eine Änderung erreicht wer-
        den.
        Drittens. Ebenfalls stark kritikwürdig ist das vorgese-
        hene Verfahren zur Auswahl des berichterstattenden
        Mitgliedstaates und zur Zusammenarbeit der betroffenen
        Mitgliedstaaten. So obliegt es zukünftig allein dem
        Sponsor, den berichterstattenden Mitgliedstaat zu benen-
        nen. Die betroffenen Mitgliedstaaten können zukünftig
        bei der Bewertung von Anträgen nur noch Anmerkungen
        übermitteln.
        Hier wollen wir erreichen, dass der berichterstattende
        Mitgliedstaat nach objektiven Kriterien festgelegt und
        effektiv an der Nutzen-Risiko-Bewertung beteiligt wird.
        Dazu gehört eine ausreichende Konsultationsfrist, vor
        deren Ablauf der berichterstattende Mitgliedstaat nicht
        entscheiden darf, ebenso wie eine Pflicht des berichter-
        stattenden Mitgliedstaates, eingegangene Anmerkungen
        zu dokumentieren und gegebenenfalls zu begründen,
        warum er von den Hinweisen eines betroffenen Mit-
        gliedstaates abweicht. Des Weiteren sollte die künftige
        Verordnung Opt-out-Klauseln zugunsten eines in der na-
        tionalen Umsetzung höheren als im europäischen
        Rechtsrahmen vorgesehenen Schutzniveaus enthalten.
        Trotz unserer strengen Regelungen mit einem hohen
        Schutzniveau für Studienteilnehmer ist Deutschland bei
        der Anzahl klinischer Studienprojekte führend in Eu-
        ropa. Die in Deutschland seit 2004 geltende Rechtslage
        bewerten die Arzneimittelhersteller positiv, wie der Ver-
        band Forschender Arzneimittelhersteller in einer Stel-
        lungnahme hervorhebt.
        Keineswegs haben unsere bewährten deutschen Rege-
        lungen zu einem Rückgang klinischer Arzneimittelprü-
        fungen in Deutschland geführt; diese sind vielmehr seit
        2009 in der Summe stabil.
        Das in Deutschland bestehende und grundrechtlich
        gebotene Niveau zum Schutz der Prüfungsteilnehmer ist
        kein Hindernis für erfolgreiche Forschungsvorhaben; es
        ist eine Grundvoraussetzung. Die international aner-
        kannten ethischen Grundsätze für die Forschung am
        Menschen dürfen deshalb auch in Zukunft nicht infrage
        gestellt werden.
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27331
        (A) (C)
        (D)(B)
        Stephan Stracke (CDU/CSU): Aus Sicht der Patien-
        ten in Deutschland sind zwei Dinge wichtig:
        Erstens. Sie wollen, dass ihnen ein bezahlbares Ge-
        sundheitssystem auf hohem Niveau zur Verfügung steht.
        In diesem Punkt hat die christlich-liberale Koalition in
        dieser Legislaturperiode große Fortschritte erzielt. So re-
        den wir in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht
        mehr über Defizite, sondern von Überschüssen, die auch
        in den nächsten Jahren noch tragen.
        Zweitens. Die Patienten wollen an Innovationen teil-
        haben. Dazu gehört auch, dass neue wirksame und si-
        chere Arzneimittel möglichst frühzeitig bei uns zugelas-
        sen werden. Als Mittel dazu bedarf es auch klinischer
        Prüfungen.
        Klinische Prüfungen erfolgen in nicht unerheblicher
        Zahl als multinationale Prüfungen in mehreren Staaten.
        Damit diese Prüfungen sicher durchgeführt werden
        können, braucht es einen verlässlichen Rahmen für die
        pharmazeutischen Unternehmen, aber auch einen ver-
        lässlichen Rahmen für die Prüfungsteilnehmer. Diesen
        Rahmen stellt in Deutschland das Arzneimittelgesetz
        dar. Dieses beruht auf einer europäischen Richtlinie zur
        Durchführung klinischer Prüfungen, die aber den Mit-
        gliedstaaten Spielraum bei der Umsetzung lässt. Eine
        weitere Vereinheitlichung der gesetzlichen Regelungen
        zur Schaffung eines noch verlässlicheren Rahmens ist
        deshalb anerkannt.
        Diese Vereinheitlichung darf aber nicht zulasten der
        Prüfungsteilnehmer gehen. Für Prüfungsteilnehmer be-
        stehen bei klinischen Prüfungen immer zwei Interessen.
        Das Schutzinteresse und das Chanceninteresse. Diese
        müssen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.
        Das Schutzinteresse besteht, weil bei Neu- oder Wei-
        terentwicklungen von Arzneimitteln immer auch ein
        Stück weit Neuland betreten wird. Dementsprechend
        sind sie trotz aller Anstrengungen zur Verminderung von
        Risiken mit gewissen Unsicherheiten für die Prüfungs-
        teilnehmer verbunden. Dem gegenüber steht aber die
        Chance, erstmals Zugang zu einem neuen, womöglich
        wirksamen Medikament zu erhalten. Außerdem leisten
        die Prüfungsteilnehmer auch einen ganz wichtigen Bei-
        trag für die Gesellschaft. Denn mit ihrer Teilnahme tra-
        gen sie dazu bei, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit
        vorhergesagt werden kann, für welche Patienten ein
        neues Arzneimittel geeignet ist und welchen Nutzen es
        hat.
        Die Entscheidung über eine Teilnahme ist also nicht
        einfach, und wir können sie keinem Menschen abneh-
        men. Aber wir können die Menschen in ihrer Entschei-
        dung bestmöglich unterstützen. Deshalb bestehen in
        Deutschland weitreichende gesetzliche Bestimmungen,
        die dem Schutzinteresse Rechnung tragen. Denn nur mit
        dem Wissen um diese Regelungen kann eine wirklich
        freie Entscheidung über die Teilnahme an einer klini-
        schen Prüfung getroffen werden.
        So bestimmt das Arzneimittelgesetz unter anderem,
        dass klinische Prüfungen grundsätzlich nur an volljähri-
        gen, einwilligungsfähigen Prüfungsteilnehmern zulässig
        sind. Für Minderjährige und nichteinwilligungsfähige
        Erwachsene gelten dagegen enge Grenzen. So dürfen
        zum Beispiel bei Minderjährigen nur minimale Risiken
        und Belastungen mit der Forschung verbunden sein. In
        Deutschland ist Einhaltung dieser Regelungen unabding-
        bare Voraussetzung; denn die Fürsorge für die Prüfungs-
        teilnehmer hat für uns oberste Priorität.
        Aus diesem Grund regelt das Arzneimittelgesetz
        auch, dass eine klinische Prüfung nur begonnen werden
        darf, wenn die zuständige Ethikkommission diese zu-
        stimmend bewertet hat. Den Ethikkommissionen kom-
        men somit ganz wichtige und entscheidende Aufgaben
        zu: Sie prüfen die wissenschaftliche Qualität, die recht-
        liche Zulässigkeit und die Vertretbarkeit des Vorhabens.
        Auf diese Weise wahren sie die Rechte, das Wohlerge-
        hen und die Sicherheit der Prüfungsteilnehmer.
        Im Juli letzten Jahres hat die Europäische Kommis-
        sion den Vorschlag für eine Verordnung über klinische
        Prüfungen mit Humanarzneimitteln vorgelegt, die die
        bestehende Richtlinie ablösen soll. Mit dem Vorschlag
        verfolgt die Kommission zwei grundsätzliche Anliegen:
        Erstens, die Voraussetzungen klinischer Prüfungen mit
        Arzneimitteln am Menschen weiterzuentwickeln, und
        zweitens, das Verfahren der Genehmigung einer klini-
        schen Prüfung in den Mitgliedstaaten zu harmonisieren.
        Beides seien wichtige Faktoren für die Attraktivität der
        Europäischen Union als Standort für klinische For-
        schung. Gerade für Deutschland als größtem Forschungs-
        standort in Europa mit circa 30 Prozent Anteil an den
        durchgeführten klinischen Prüfungen ist dies immens
        wichtig. Daher begrüßen wir diese Anliegen ausdrück-
        lich.
        Allerdings weicht der Verordnungsvorschlag in we-
        sentlichen Punkten von dem Schutzniveau des Arznei-
        mittelgesetzes für die Prüfungsteilnehmer ab. Dies kann
        aus deutscher Sicht keinesfalls akzeptiert werden. Es ist
        wichtig, dass das bestehende Schutzniveau insbesondere
        hinsichtlich der Minderjährigen und nicht Einwilli-
        gungsfähigen weiter Bestand hat.
        Probleme bereitet der Verordnungsvorschlag auch
        hinsichtlich der Einbeziehung von Ethikkommissionen
        bei der Bewertung von Anträgen auf Durchführung von
        klinischen Prüfungen. Die bestehende EU-Richtlinie
        enthält die ausdrückliche Regelung, dass der Sponsor
        mit der klinischen Prüfung erst beginnen kann, wenn die
        Ethikkommission eine befürwortende Stellungnahme
        abgegeben hat. Diese Regelung sieht der Verordnungs-
        vorschlag nun jedoch nicht mehr vor. Ethikkommissio-
        nen leisten tagtäglich mit ihrer Arbeit einen Beitrag zur
        Qualitätssicherung und zur Rechtssicherheit bei klini-
        schen Prüfungen. Es ist daher befremdlich und realitäts-
        fern, dass die Ethikkommissionen im Verordnungsvor-
        schlag mit keinem Wort mehr erwähnt werden. Durch
        die Nichtaufnahme der Ethikkommissionen schadet der
        Verordnungsvorschlag dem Ansehen der medizinischen
        Forschung. Denn das Vertrauen der Öffentlichkeit in kli-
        nische Prüfungen gründet sich in höchstem Maße auf die
        durch die unabhängigen Ethikkommissionen abgesi-
        cherte ethische und rechtliche Vertretbarkeit.
        Mit unserer parteiübergreifenden Stellungnahme wei-
        sen wir als Deutscher Bundestag auf diese Unzulänglich-
        27332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        keiten hin. Schon im Titel des Antrages machen wir un-
        missverständlich deutlich, worum es uns geht: den
        Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der
        Durchführung von klinischen Prüfungen sicherzustellen.
        So fordern wir, dass das in Deutschland bestehende
        grundrechtlich gebotene Schutzniveau für Prüfungsteil-
        nehmer in den Verordnungsvorschlag aufgenommen
        werden muss. Das Schutzniveau muss in allen Mitglied-
        staaten gleich gestaltet sein. Ein mögliches Opt-out,
        nach dem der betroffene Staat entscheiden könnte, nicht
        an der klinischen Prüfung teilzunehmen, ist nicht ausrei-
        chend. Wir wollen unser hohes Schutzniveau verankert
        sehen und uns nicht auf ein Absenken auf ein niedrigeres
        Niveau einlassen. Das zustimmende Votum einer Ethik-
        kommission muss weiterhin Voraussetzung für den Be-
        ginn einer klinischen Prüfung sein. Aus unserer Sicht ist
        nur so der Schutz der Prüfungsteilnehmer, insbesondere
        auch der besonders vulnerablen Personengruppen, um-
        fassend zu gewährleisten.
        Zum Schluss möchte ich noch deutlich machen, dass
        die besten Regelungen nichts nützen, wenn das dahinter-
        stehende Verfahren untauglich ist. So brauchen wir auch
        praktikable Regelungen für die Genehmigung der
        Prüfung. Hierzu gehört, dass die betroffenen Mitglied-
        staaten ausreichend in das Genehmigungsverfahren ein-
        bezogen werden. Das derzeit geltende freiwillige Har-
        monisierungsverfahren bietet dafür eine gute Grundlage.
        Zudem sind die derzeit im Verordnungsentwurf vorgese-
        henen Fristen zur Entscheidung über die Genehmigung
        zu kurz. Sie lassen eine angemessene Bewertung kom-
        plexer klinischer Prüfungen und der mit ihnen verbunde-
        nen Risiken nicht mehr zu. Daher fordern wir, prakti-
        kable Fristen in der Verordnung zu verankern.
        Ich wünsche der Bundesregierung bei ihren Verhand-
        lungen auf EU-Ebene die nötige Durchsetzungskraft, um
        diese und die weiteren Forderungen unserer Stellung-
        nahme durchsetzen zu können.
        Dr. Marlies Volkmer (SPD): Es freut mich außeror-
        dentlich, dass wir heute einen fraktionsübergreifenden
        Entschließungsantrag beraten, der sich deutlich für den
        Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an klini-
        schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln einsetzt.
        Als die EU-Kommission im Juli letzten Jahres ihren
        Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parla-
        ments und des Rates über klinische Prüfungen mit
        Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie
        2001/20/EG vorlegte, erklang ein lauter Protest vonsei-
        ten der Medizin, der Wissenschaft und von den Patien-
        tenschützern – zu Recht, wie ich meine.
        Das erklärte Ziel der neuen Verordnung war es, einen
        in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich geltenden
        Rechtsrahmen für die Genehmigung klinischer Prüfun-
        gen zu schaffen. Die Mitgliedstaaten hatten die bislang
        geltende Richtlinie 2001/20/EG sehr unterschiedlich
        umgesetzt, was die Durchführung einer klinischen Prü-
        fung in mehr als einem Mitgliedstaat erschwert. Das
        neue Verfahren soll das Genehmigungsverfahren schnel-
        ler, einfacher und kostengünstiger machen und so die
        Attraktivität der Europäischen Union als Standort für
        klinische Forschung steigern.
        Diese Absicht ist durchaus zu begrüßen. Klinische
        Forschung zur Entwicklung neuer Arzneimittel und zur
        weiteren Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten
        von Krankheiten ist richtig und notwendig. Jedoch
        drohen die geplanten Änderungen das in Deutschland
        bestehende Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und
        Teilnehmer an klinischen Prüfungen herabzusetzen und
        verletzen grundlegende ethische Prinzipien.
        Bei der Umsetzung der heute geltenden Richtlinie mit
        der zwölften Arzneimittelgesetznovelle im Jahr 2004
        und der GCP-Verordnung hat die SPD-geführte Bundes-
        regierung von ihrem Umsetzungsspielraum Gebrauch
        gemacht. Wir haben zum Schutz von besonders vulnera-
        blen Patientengruppen wie Minderjährigen oder einwilli-
        gungsunfähigen Erwachsenen deutliche Grenzen einge-
        zogen. Diese strengen deutschen Regelungen haben
        dabei keineswegs zu einem Rückgang klinischer Arznei-
        mittelprüfungen bei uns geführt. Im Gegenteil, Deutsch-
        land ist einer derjenigen Mitgliedstaaten mit den meisten
        Anträgen auf Genehmigung einer klinischen Prüfung.
        Der vorgelegte Verordnungsentwurf senkt jedoch das
        Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
        an klinischen Prüfungen. So sieht er vor, dass nicht ein-
        willigungsfähige Erwachsene ohne vorherige Informa-
        tion und ohne potenziellen Eigen- oder Gruppennutzen
        in eine klinische Prüfung einbezogen werden können.
        Auch der Widerspruch von Minderjährigen zur Teil-
        nahme oder Fortsetzung einer Arzneimittelprüfung muss
        nicht mehr beachtet werden. Eine Öffnungsklausel,
        damit Staaten Schutzvorkehrungen für besonders vulne-
        rable Personengruppen einfügen können, ist in der
        Verordnung nicht vorgesehen. Diese Änderungen bedeu-
        ten eine Instrumentalisierung von Patientinnen und
        Patienten, die nicht mit den Grundrechten gemäß der Eu-
        ropäischen Menschenrechtskonvention sowie der Charta
        der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar ist.
        Weiterhin sieht der Verordnungsentwurf nicht länger
        das Votum einer unabhängigen, interdisziplinär besetz-
        ten Ethikkommission vor. Heute müssen geplante For-
        schungsvorhaben vor Studienbeginn einer mit Experten
        und Laien besetzten Ethikkommission zur Beratung,
        Stellungnahme, Orientierung und Zustimmung vorgelegt
        werden. Dieses Verfahren ist für den Schutz der Teilneh-
        merinnen und Teilnehmer an Studien unabdingbar.
        Auch die Bewertungs- und Genehmigungsfristen sol-
        len deutlich verkürzt werden, sodass eine angemessene
        Bewertung der Risiken und Belastungen für die Studien-
        teilnehmer sowie des wissenschaftlichen Nutzens der
        klinischen Prüfung fast unmöglich werden. Hinzu
        kommt, dass erlaubt werden soll, bestimmte schwerwie-
        gende unerwartete Ereignisse aus der Meldepflicht
        herauszunehmen. Dadurch verzerrt sich jedoch das Risi-
        koprofil der klinischen Prüfung, und es kann zu gefährli-
        chen Fehleinschätzungen über Risiken kommen.
        Zuletzt ist vorgesehen, dass allein der Sponsor einer
        klinischen Prüfung den Mitgliedstaat bestimmen darf, in
        welchem die Bewertung von Anträgen zur Genehmi-
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27333
        (A) (C)
        (D)(B)
        gung stattfindet. Auch falls größere Teile der Untersu-
        chung in anderen EU-Staaten stattfinden, haben diese
        fast keine Einflussmöglichkeiten und Mitspracherechte.
        Daher ist es richtig, dass sich Ärzte, Forscher und Pati-
        entenverbände vehement gegen diese Änderungen aus-
        gesprochen haben.
        Die Fraktionen des Deutschen Bundestages setzen
        sich mit diesem Antrag dafür ein, dass das in Deutsch-
        land bestehende und grundrechtlich gebotene Schutzni-
        veau für Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in
        den Verordnungsvorschlag aufgenommen wird. Dabei
        sind insbesondere Minderjährige sowie nicht einwilli-
        gungsfähige Erwachsene besonders zu berücksichtigen.
        Es darf keine Verschiebung bei der Nutzen-Risiko-Ab-
        wägung zwischen individuellem Nutzen und dem Nut-
        zen für die öffentliche Gesundheit zulasten der Prü-
        fungsteilnehmerinnen und Prüfungsteilnehmer geben.
        Wir fordern, dass die unabhängigen, interdisziplinär
        besetzten Ethikkommissionen weiterhin in das Geneh-
        migungsverfahren einbezogen werden. Es bleibt dabei,
        dass eine Genehmigung für eine klinische Prüfung nur
        dann erteilt wird, wenn die Ethikkommission die Anfor-
        derungen zum Schutz der Prüfungsteilnehmerinnen und
        Prüfungsteilnehmer und die ärztliche Vertretbarkeit
        zustimmend bewertet hat. Dazu wird ihr auch weiterhin
        eine praktikable Frist eingeräumt. Schwerwiegende
        unerwünschte Ereignisse, die während der klinischen
        Prüfung auftreten, müssen zudem auch zukünftig aus-
        nahmslos gemeldet werden.
        Wir wollen, dass der berichterstattende Mitgliedstaat
        nicht der Wahl des Sponsors überlassen wird; stattdessen
        wird der Berichterstatter nach einem festgelegten, nach-
        vollziehbaren und transparenten Verfahren bestimmt,
        das bei klinischen Prüfungen in mehreren Ländern auch
        die übrigen betroffenen Mitgliedstaaten ausreichend ein-
        bezieht.
        Mit unserem einheitlichen Votum für diesen Ent-
        schließungsantrag setzen wir ein deutliches Zeichen. Die
        Bundesregierung kann mit einem klaren Auftrag in die
        weiteren Verhandlungen gehen.
        Der Deutsche Bundestag spricht sich mit einer
        Stimme für den Schutz der Teilnehmerinnen und Teil-
        nehmer an klinischen Prüfungen aus. Dadurch honorie-
        ren wir den wichtigen Beitrag, den diese Menschen zur
        Entwicklung neuer Arzneimittel und zur Verbesserung
        bestehender Therapien leisten.
        Jens Ackermann (FDP): Für die Bürgerinnen und
        Bürger ist die Qualität der klinischen Prüfungen von ho-
        her Wichtigkeit, da sie von einer optimalen medizini-
        schen Versorgung profitieren sollen. Die Rahmenbedin-
        gungen hierfür muss die Politik vorgeben.
        Am 17. Juli 2012 veröffentlichte die Kommission ei-
        nen Verordnungsvorschlag über klinische Prüfungen mit
        Humanarzneimitteln. Ziel der Verordnung ist die Schaf-
        fung eines einheitlichen Rechtsrahmens, um damit eine
        durchgängige Harmonisierung der Anforderungen an kli-
        nische Prüfungen mit Humanarzneimitteln zu erzielen.
        Nach der Evaluierung der Richtlinie von 2001 stellte die
        Kommission fest, dass die Umsetzung in den einzelnen
        Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ist; insbesondere
        bei der Durchführung multinationaler klinischer Prüfun-
        gen gibt es Probleme. Klinische Prüfungen mit Patien-
        tinnen und Patienten und Probandinnen und Probanden
        sind notwendig, um die Wirksamkeit und Sicherheit von
        Medikamenten und medizinischen Interventionen zu
        überprüfen.
        Die von der Kommission benannten Probleme im
        Verordnungsentwurf treffen auf Deutschland nicht zu;
        darin sind sich alle Beteiligten einig. Der Gesetzgeber
        hat die Richtlinie 2004 mit dem Zwölften Gesetz zur Än-
        derung des Arzneimittelgesetzes und der Verordnung
        über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei
        der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arznei-
        mitteln zur Anwendung am Menschen, der sogenannten
        GCP-Verordnung, umgesetzt. Dabei hat die damalige
        Regierung von der Möglichkeit des Umsetzungspiel-
        raums Gebrauch gemacht, um die Probandinnen und
        Probanden stärker als auf europäischer Ebene vorgesehen
        zu schützen. Dies ist besonders bei vulnerablen Personen-
        gruppen wie Minderjährigen oder nicht einwilligungs-
        fähigen Erwachsenen erkennbar. Hier hat der Gesetzge-
        ber richtigerweise damals Grenzen gezogen.
        Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass sowohl die Auf-
        klärung als auch die Behandlung nur ein Arzt durchfüh-
        ren darf. Die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger
        muss oberste Priorität haben.
        In Deutschland besteht also seit der Umsetzung der
        Richtlinie im Jahr 2004 ein bewährter Rechtsrahmen so-
        wohl für die Probanden als auch für die Sponsoren, die
        man in dieser Debatte auch nicht außer Acht lassen darf.
        Der Sponsor, der auch für den organisatorischen Ablauf
        zuständig ist, trägt die volle Verantwortung sowie das
        unternehmerische Risiko. Es ist also bei den hohen An-
        forderungen geboten, hier passende Bürokratiehürden
        anzubieten.
        Der von der Kommission ausgeführte Reformbedarf
        der Richtlinie ist auf Deutschland nicht übertragbar. Wir
        haben keinen Rückgang an klinischen Prüfungen nach
        der Umsetzung der Richtlinie verzeichnen können. Im
        Gegenteil: In Deutschland wurden seit der Umsetzung
        2004 vergleichsweise sehr viele Anträge auf Genehmi-
        gung einer klinischen Prüfung gestellt.
        Wir haben fraktionsübergreifend innerhalb des Gre-
        miums große Bedenken zum Verordnungsentwurf der
        Kommission geäußert. Diese spiegeln sich im heute zu
        beratenden Antrag wieder.
        Die Wünsche aus Europa sind ja schön und gut. Je-
        doch haben wir an dieser Stelle weitergehende Regelun-
        gen, die wir nicht aufgeben dürfen. Vielmehr muss es in
        unserem Interesse sein, die vorliegende Verordnung zu
        verbessern.
        Ich freue mich sehr, dass wir als Regierungsfraktio-
        nen zusammen mit der Opposition und in guter Zusam-
        menarbeit mit dem Bundesministerium für Gesundheit
        Vorschläge zur Verbesserung der Richtlinie vorlegen
        konnten, die unsere Bedenken zum Verordnungsentwurf
        aufzeigten. Es kommt schließlich auf das Ergebnis an:
        27334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
        (A) (C)
        (D)(B)
        Der Schutz der Probandinnen und Probanden ist und
        bleibt oberstes Gebot.
        Die Regelungen in Deutschland haben sich bewährt,
        einerseits für die Probandinnen und Probanden mit ho-
        hen Sicherheitsforderungen, andererseits auch für die
        Sponsoren, die in Deutschland sehr gute Bedingungen
        für klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln vorfin-
        den. Hier benötigen wir auch praktikable Fristen für die
        Genehmigungen.
        Der Vorschlag der Kommission hat aus unserer Sicht
        entscheidende Mängel: Die Regelungen bieten den Pro-
        bandinnen und Probanden keinen ausreichenden Schutz;
        besonders gilt dies für Minderjährige. Hier fordern wir
        Nachbesserungen insbesondere für Minderjährige und
        nicht einwillungsfähige Erwachsene. Diese sollen, wenn
        sie dazu in der Lage sind, mit angehört werden. Das heißt:
        Man benötigt dann neben der Entscheidung des gesetzli-
        chen Vertreters auch die Zustimmung des Probanden.
        Gegenüber klinischen Prüfungen an Kindern brauchen
        wir gesonderte Regelungen. Prüfungen mit kranken Kin-
        dern müssen an besondere Bedingungen geknüpft sein.
        Das heißt: minimale Risiken, minimale Belastungen.
        Generell müssen die Aufklärung sowie die Behand-
        lung von einem Arzt durchgeführt werden. Die klini-
        schen Prüfungen dürfen auch nur beginnen, wenn die
        vorhersehbaren Risiken und Belastungen von Ärzten als
        vertretbar eingeschätzt werden. Genauso muss die Ethik-
        kommission unabhängig und interdisziplinär besetzt
        werden, da dieses Gremium über die Genehmigung kli-
        nischer Prüfungen entscheidet.
        Stark zu kritisieren ist auch die Tatsache, dass nun al-
        lein der Sponsor das Berichtsland des Mitgliedstaates
        bestimmen sollte. Hier fordern wir, dass der berichtende
        Mitgliedstaat in einem transparenten Verfahren bestimmt
        wird. Zudem muss der Sponsor einen gesetzlichen Ver-
        treter in einem Mitgliedsland der EU haben: ein sehr
        wichtiger Schritt, um Rechtssicherheit gewährleisten zu
        können. Deshalb sollte für eine lückenlose Dokumenta-
        tion der Antrag auch möglichst in englischer Sprache
        eingereicht werden.
        Die Mitgliedstaaten sind im Kommissionsvorschlag
        zur Einrichtung eines Entschädigungsmechnismus ver-
        pflichtet. Hier fordern wir, dass den Mitgliedstaaten ein
        gewisser Spielraum für die Absicherung der Probandin-
        nen und Probanden eingeräumt wird.
        Es ist also, wie Sie sehen, noch viel Änderungsbedarf
        vorhanden. Diesem Bedarf wird der vorliegende Antrag
        gerecht.
        Ich fasse für Sie noch einmal die Kernforderungen
        des interfraktionellen Antrages zusammen. Wir fordern:
        verbesserte Schutzregeln besonders für Minderjährige
        und nicht einwillungsfähige Erwachsene und eine unab-
        hängig und interdisziplinär besetzte Ethikkommission,
        die über die Genehmigungen klinischer Prüfungen ent-
        scheidet. Die Wahl für das berichterstattende Land muss
        in einem festgelegten, nachvollziehbaren und transpa-
        renten Verfahren erfolgen und nicht durch den Sponsor.
        Wir fordern weiter, dass der Prüfplan und die Prüf-
        informationen für eine EU-weit einheitliche Fassung
        möglichst in englischer Sprache einzureichen sind und
        praktikable Fristen über die Genehmigung klinischer
        Prüfungen. Der wichtigste Punkt: Es darf keine Risiko-
        verschiebung zulasten der Probanden geben.
        Ich hoffe im Interesse der Patientinnen und Patienten
        sowie der Probandinnen und Probanden sehr, dass die
        Bundesregierung sich mit unseren Forderungen in den
        weiteren Verhandlungen zur Verordnung durchsetzen
        wird.
        Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
        Verordnungsvorschlag der EU-Kommission, die Rege-
        lungen für klinische Arzneimittelprüfungen zu verein-
        heitlichen, hat erhebliche Mängel. Diese müssen in den
        Verhandlungen der Mitgliedstaaten und vom Europäi-
        schen Parlament im Gesetzgebungsverfahren behoben
        werden. Ohne Änderungen könnte es beispielsweise
        sein, dass nicht einwilligungsfähige Patientinnen und
        Patienten nicht nur minimale, sondern größere Risiken
        zu tragen hätten, ohne dass ein Nutzen für sie zu erwar-
        ten ist. Das ist aus meiner Sicht nicht mit der Europäi-
        schen Menschenrechtskonvention sowie der Charta der
        Grundrechte der EU vereinbar.
        Wir sind uns in Bundestag und Bundesrat einig, dass
        wir uns am geltenden deutschen Arzneimittelrecht orien-
        tieren sollten. Dieses legt deutlich höhere Schutzstan-
        dards, insbesondere für Kinder und nicht einwilligungs-
        fähige Erwachsene, fest, als von der EU-Kommission
        geplant. Ebenso unverzichtbar ist, dass eine Zustimmung
        einer unabhängigen interdisziplinären Ethikkommission
        Voraussetzung für die Durchführung solcher Studien ist.
        Die bestehende Richtlinie 2001/20/EG wurde in
        Deutschland 2004 unter Rot-Grün in nationales Recht
        umgesetzt. Dabei haben wir bestehende Umsetzungs-
        spielräume genutzt. Für eine der Regelungen wurden wir
        damals deutlich kritisiert: dass wir unter der Vorausset-
        zung, dass nur minimale Risiken und minimale Belas-
        tungen zu erwarten sind, bei Minderjährigen klinische
        Prüfungen auch dann erlaubt haben, wenn kein eigener
        Nutzen, sondern nur ein Gruppennutzen zu erwarten ist.
        Heute wären manche – die damals ein absolutes Verbot
        forderten – froh, wenn eine solche Regelung in allen
        Forschungsbereichen gelten würde.
        Union und FDP haben die 12. AMG-Novelle damals
        abgelehnt. So falsch konnte das, was damals beschlossen
        wurde, aber doch nicht sein, wenn wir alle heute so posi-
        tiv auf die dortigen Regelungen Bezug nehmen. Es ist
        uns damals gelungen, Regelungen zu verabschieden, die
        sich sowohl hinsichtlich des Schutzes von Teilnehmerin-
        nen und Teilnehmern an klinischen Prüfungen als auch
        aus der Sicht der Sponsoren klinischer Arzneimittel-
        forschung bewährt haben. Dies lässt sich auch daran ab-
        lesen, dass es in Deutschland – im Gegensatz zur EU-
        weiten Entwicklung – nicht zu einem Rückgang von
        Arzneimittelstudien gekommen ist.
        Wie bereits gesagt, es gibt keine inhaltlichen Diffe-
        renzen; alle im Bundestag vertretenen Fraktionen sind
        sich einig. Dennoch liegen uns nun zwei wortidentische
        Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27335
        (A) (C)
        (D)(B)
        Anträge vor. Dass die Union keine Anträge gemeinsam
        mit der Linken stellt, ist ihre Entscheidung. Schwer
        nachvollziehen kann ich jedoch, dass dies auch für bio-
        ethische Fragestellungen gilt. Bei strittigen Bioethik-
        themen kooperieren wir quer durch alle Fraktionen.
        Aber wenn wir uns einig sind, darf dies nicht sein. Da
        fehlt mir das Verständnis.
        Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme, dass
        auch die damals von uns Grünen eingebrachte Vorgabe
        der angemessenen Einbeziehung von Frauen in klinische
        Arzneimittelstudien in die EU-Verordnung aufgenom-
        men werden solle. Das kann ich nur unterstützen. Aber
        dies reicht nicht aus. Bereits unter Rot-Grün wollten wir
        mehr. Wir Grünen setzen uns dafür ein, dass in die EU-
        Verordnung Regelungen aufgenommen werden, die ge-
        schlechtsspezifische Auswertungen nicht nur möglich
        machen, sondern auch sicherstellen, dass diese tatsäch-
        lich durchgeführt werden. Erst dann kann in Zukunft ge-
        währleistet werden, dass Frauen die richtige Arzneimit-
        teltherapie erhalten.
        Wir halten aus gutem Grund die Einbeziehung der
        Ethikkommissionen hoch; aber wir hören auch, dass es
        vor Ort große Unterschiede bei der Professionalität gibt.
        Hier wünsche ich mir, dass die Bundesländer, bei denen
        die Regelungskompetenzen größtenteils liegen, gemein-
        sam an einer Optimierung arbeiten.
        219. Sitzung
        Inhaltsverzeichnis
        TOP 7 Bundeswehreinsatz in Afghanistan (ISAF)
        TOP 4 Rüstungsexportpolitik
        TOP 40 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
        TOP 41, ZP 2, 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
        ZP 4 Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
        ZP 5 Aktuelle Stunde zur Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen
        TOP 3 Private Altersvorsorge
        TOP 6, ZP 6 Soziale und ökologische Unternehmensverantwortung
        TOP 5, ZP 7, 8 Justizkostenrecht
        TOP 16 Sahel-Region
        TOP 9 Krebsregister
        TOP 10 Sport in der Auswärtigen Kulturpolitik
        TOP 11 Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern
        TOP 12 Soziale Sicherung in der Entwicklungspolitik
        TOP 13 Außenwirtschaftsrecht
        TOP 14 Sozialer Tourismus
        TOP 15 Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen
        TOP 25 Behindertenrecht im Wahlrecht
        TOP 17 Innerstaatliche Umsetzung des Fiskalvertrags
        TOP 18 Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften
        TOP 19 Nutzung von Konfliktmineralien
        TOP 20 Telekommunikationsrecht
        TOP 21 Ökologischer Landbau
        TOP 24 Versicherungsrechtliche Vorschriften
        TOP 23 Uranmunition
        TOP 26 Schutz des Erbrechts nichtehelicher Kinder
        TOP 27 Bergrecht
        TOP 28 Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters
        ZP 9 Drogenpolitik
        TOP 29 Urheberrecht
        TOP 30 Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege
        TOP 31 SGB II (Bildungs- und Teilhabepaket)
        TOP 32 Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben
        ZP 10 Klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln
        Anlagen