Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27287
(A) (C)
(D)(B)
Anlagen zum Stenografischen Bericht
Anlage 1
Liste der entschuldigten Abgeordneten
Anlage 2
Neuabdruck der Antwort
des Parl. Staatssekretärs Hans-Joachim Otto auf die
Frage des Abgeordneten Oliver Krischer (BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN) (218. Sitzung) (Drucksache 17/12162,
Frage 36):
Wann wird die Bundesregierung dem Deutschen Bundes-
tag den nach § 3 des Energieleitungsausbaugesetzes, EnLAG,
seit dem 1. Oktober 2012 fälligen Fortschrittsbericht zum
Ausbau der Höchstspannungsnetze vorlegen, vor dem Hinter-
grund, dass die Bundesnetzagentur die Prüfung des Netzent-
wicklungsplans inzwischen abgeschlossen hat, was die Bun-
desregierung in ihrer Antwort auf meine mündliche Frage 79,
Plenarprotokoll 17/210, als Grund für die Verzögerung ange-
geben hat, und was sind die Gründe für die weitere Verspä-
tung?
Der Bericht wurde mit Schreiben vom 4. Dezember
2012 an den Deutschen Bundestag übersandt.
Anlage 3
Erklärungen nach § 31 GO
zur namentlichen Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung zu dem Antrag: Fortsetzung
der Beteiligung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte an dem Einsatz der Internationalen Si-
cherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan
(International Security Assistance Force, ISAF)
unter Führung der NATO auf Grundlage der
Resolution 1386 (2001) und folgender Resolutio-
nen, zuletzt Resolution 2069 (2012) vom 9. Ok-
tober 2012 des Sicherheitsrates der Vereinten
Nationen (Tagesordnungspunkt 7)
Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Die Entscheidung des Parlamentes über den Ein-
satz von Soldatinnen und Soldaten in Krisengebieten
und bei kriegerischen Auseinandersetzungen übertragen
jedem Abgeordneten eine besonders hohe Verantwor-
tung. Denn mit dieser Entscheidung ist unmittelbar eine
Entscheidung über Menschenleben verbunden. Nach
sehr gründlicher Abwägung zu den Zielen, den Risiken
und der geplanten Vorgehensweise dieses Einsatzes habe
ich mich entschieden, mich bei der Entscheidung zu ei-
ner Fortsetzung des ISAF-Mandates zu enthalten.
Einerseits stimme ich den genannten Zielen des Ein-
satzes zu einer Befriedung Afghanistans ausdrücklich
zu. Und ich weiß, dass nach jahrelangen kriegerischen
Auseinandersetzungen der Aufbau einer Zivilgesell-
schaft viel Einsatz, auch Risikoübernahme und vor allem
Zeit erfordert. An dieser Stelle sage ich ausdrücklich
Dank den Soldatinnen und Soldaten, die bereit sind, die
mit dem Einsatz in Afghanistan verbundenen erhebli-
chen Risiken zu tragen. Aber der Einsatz hat sich auch
gelohnt. Es gab beim zivilen Aufbau erkennbare Fort-
schritte. Schulen wurden errichtet, Brunnen angelegt,
Straßen gebaut. Die Zivilgesellschaft und vor allem
Frauen genießen heute in vielen Regionen einen ganz
Abgeordnete(r)
entschuldigt bis
einschließlich
Brase, Willi SPD 31.01.2013
Canel, Sylvia FDP 31.01.2013
Dittrich, Heidrun DIE LINKE 31.01.2013
Heil, Hubertus SPD 31.01.2013
Dr. Hendricks, Barbara SPD 31.01.2013
Humme, Christel SPD 31.01.2013
Kindler, Sven-Christian BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
31.01.2013
Klein-Schmeink, Maria BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
31.01.2013
Kudla, Bettina CDU/CSU 31.01.2013
Menzner, Dorothée DIE LINKE 31.01.2013
Ostendorff, Friedrich BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
31.01.2013
Remmers, Ingrid DIE LINKE 31.01.2013
Scharfenberg, Elisabeth BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
31.01.2013
Schlecht, Michael DIE LINKE 31.01.2013
Schmidt (Eisleben),
Silvia
SPD 31.01.2013
Schreiner, Ottmar SPD 31.01.2013
Sendker, Reinhold CDU/CSU 31.01.2013
Dr. Tackmann, Kirsten DIE LINKE 31.01.2013
Thönnes, Franz SPD 31.01.2013
Wagenknecht, Sahra DIE LINKE 31.01.2013
Widmann-Mauz,
Annette
CDU/CSU 31.01.2013
Ziegler, Dagmar SPD 31.01.2013
Anlagen
27288 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
anderen Schutz und haben ganz andere Möglichkeiten,
als sie es unter der Herrschaft von Extremisten erfahren
haben und erwarten könnten. Unter militärischem Schutz
gerade auch der Bundeswehr arbeiten demokratische
Nichtregierungsorganisation am Aufbau demokratischer
Strukturen in Afghanistan. Ohne diesen Schutz ausländi-
scher Streitkräfte hätten diese Projekte nicht umgesetzt
werden können. Und wir wissen, ein schneller und unge-
ordneter Abzug dieser Truppen würde zivile Helfer im
Land gefährden und potenziell das Engagement dieser
Menschen vor Ort unmöglich machen.
Andererseits haben die ausländischen Truppen und
auch die Bundeswehr bzw. die Bundesregierung sich nie
wirklich klar und unmissverständlich allein diesen Zie-
len des zivilen Aufbaus verpflichtet und alle Maßnah-
men und Aktionen strikt an diesen Zielen ausgerichtet.
Dabei geht es mir nicht um die bloße Anzahl der nach
Afghanistan gesandten Soldatinnen und Soldaten. Es
geht mir um die Umsetzung konkreter Ziele. Der vorlie-
gende Antrag der Bundesregierung enthält nur wenig
Konkretes zur zivilen Zukunft des Landes. Die Bundes-
regierung müsste klar benennen, welche Projekte sie im
Zuge der Entwicklungszusammenarbeit fördern will,
und sie muss ihre Zusagen aus der Geberkonferenz 2012
in Tokio einhalten. Es fehlen ein klares Bekenntnis der
Bundesregierung, sich gegenüber den ISAF-Partnern für
eine Beendigung von nicht mit dem Völkerrecht verein-
baren gezielten Tötungen einzusetzen, und die unmiss-
verständliche Aussage, dass sich die Bundeswehr nicht
an solchen Aktionen beteiligt. Bei jedem militärischen
Einsatz ist die klare Ausrichtung der Maßnahmen auf ei-
nen zivilen Aufbau unabdingbar, im Prinzip erfüllt der
vorgelegte Antrag der Bundesregierung diese Anforde-
rungen nicht.
Mit meiner Enthaltung zum vorliegenden Antrag der
Bundesregierung will ich meine Zustimmung zu den
Zielen, zu vielen Projekten und der Vorgehensweise der
Bundeswehr ausdrücken, gleichzeitig aber meiner Kritik
an der Nichteinhaltung von unabdingbaren Vorausset-
zungen für eine Entsendung von Einsatztruppen Aus-
druck verleihen.
Ute Koczy (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit die-
sem Mandat will die Bundesregierung den Abzug der
ISAF-Truppen aus Afghanistan bis Ende 2014 vorberei-
ten. Damit tritt das deutsche Engagement in eine neue
Phase ein. Ich werde mich zu diesem Mandat enthalten,
das ich aus vielen Gründen für nicht zustimmungsfähig
halte. So kritisiere ich, dass keine konzipierte und glaub-
hafte Abzugsplanung vorliegt, dass immer noch keine
unabhängige Evaluation des deutschen Engagements in
Afghanistan stattfindet und es bis heute keine Agenda
bis 2014 und danach gibt.
Die schwierigste Situation erleben jedoch jetzt die
Menschen in Afghanistan. Niemand kann vorhersehen,
wie die verschiedenen Akteure in Afghanistan und der
Region auf einen Truppenabzug reagieren werden. Die
Sicherheitslage bleibt schwierig, die regierungsfeindli-
chen Kräfte bleiben gefährlich und bedrohen die Bevöl-
kerung, vielfach tödlich. Mir ist daher mit meinem
Votum das politische Signal wichtig, dass es weiterhin
eine internationale Verantwortung gibt, den Menschen in
Afghanistan nach den langen Jahren des Krieges den
Weg zu einer Entwicklung in Frieden zu ermöglichen.
Der Einsatz in Afghanistan ist immer noch großen
Gefahren ausgesetzt. Ich möchte an dieser Stelle meinen
Dank und meine Wertschätzung ausdrücken für all dieje-
nigen, die als zivile Helferinnen und Helfer, als Soldatin-
nen und Soldaten, in Verbindung mit ihren Familienan-
gehörigen, Aufgaben in Afghanistan erfüllen. Dieses
Mandat fordert in Afghanistan mitunter den höchsten
Einsatz, und das darf nie vergessen werden.
In Afghanistan findet eine Zeitenwende statt. Die
kommenden zwei Jahre sind eine Phase des Übergangs,
in der die Beendigung des ISAF-Engagements vollzogen
werden soll. Ziel ist es, dass die afghanische Regierung
in der Lage ist, die Sicherheitsverantwortung landesweit
und so vollständig wie möglich wahrzunehmen. Daher
verändert sich auch das Mandat für Afghanistan, wenn
die deutschen Truppen verringert werden. Unglaubwür-
dig ist jedoch, dass bis zum 28. Februar 2014 immer
noch mindestens 3 300 deutsche Soldatinnen und Solda-
ten in Afghanistan stationiert sein werden. Zweifel, dass
ein wirklicher Abzug mit dieser großen Zahl bis Ende
2014 damit möglich wird, sind begründet.
Die Transition ist für Afghanistan ein extremes Ri-
siko, aber hoffentlich auch mit Chancen verbunden. Der
damit verbundene Abzug stellt jedoch auch die interna-
tionale Gemeinschaft und Deutschland vor komplexe
Aufgaben. Auch schwinden mit einer abnehmenden
Zahl an Soldatinnen und Soldaten die mediale Aufmerk-
samkeit und die politische Bereitschaft, sich den weiter
bestehenden Problemen intensiv zu widmen.
Wir dürfen die Menschen in Afghanistan aber nicht
alleinlassen. In Deutschland muss energisch dafür einge-
treten werden, dass die angekündigte langfristige Unter-
stützung im zivilen und im entwicklungspolitischen Be-
reich tatsächlich verwirklicht wird. Deutschland muss zu
seinen Versprechen und seiner Verantwortung für Afgha-
nistan stehen. Daher ist es ein fatales Signal, wenn die
Bundesregierung die Mittel für den zivilen Aufbau um
10 Millionen Euro für 2013 gekürzt hat. Dabei hatte sie
noch auf der Tokio-Konferenz 2012 versprochen,
430 Millionen Euro bis 2015 jährlich bereitzustellen.
Hier zeigt sich die Brüchigkeit der geleisteten Verspre-
chen auf internationaler Ebene.
Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Den Antrag zum Kriegseinsatz der Bundeswehr
in Afghanistan lehne ich ab.
Seit mehr als elf Jahren führt Deutschland inzwischen
Krieg in Afghanistan. Zehntausende Menschen, ganz
überwiegend Zivilisten, sind getötet und verletzt wor-
den. Zwei Drittel der deutschen Bevölkerung lehnen den
Krieg ab. Er ist nicht zu gewinnen. Trotzdem soll er fort-
gesetzt werden, zunächst bis März nächsten Jahres mit
bis zu 4 400 Soldaten. Dann soll das Mandat erneut ver-
längert werden, mindestens bis Ende 2014. Tausende
Menschen werden wieder Opfer sein, meist afghanische
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27289
(A) (C)
(D)(B)
Zivilisten, Polizisten und Soldaten, aber auch Nato-Sol-
daten.
Die Versicherungen der Bundesregierung bezüglich
einer fortschreitenden Verbesserung der Sicherheitslage
der Bevölkerung sind trügerisch. Aktuelle Auswertun-
gen internationaler Organisationen zeichnen ein anderes
Bild. Sie gehen davon aus, dass die afghanischen Sicher-
heitskräfte überfordert und unvorbereitet auf den Über-
gang sind. Dafür spricht auch die hohe Zahl der im letz-
ten Jahr getöteten afghanischen Sicherheitskräfte, über
3 000. Und die Zahl der Opfer unter der Zivilbevölke-
rung ist im letzten halben Jahr wieder gestiegen.
Weiter Krieg führen, ist der falsche Weg. Die offen-
sive Aufstandsbekämpfung durch die ISAF-Truppen
führt unweigerlich zu weiterer Eskalation. Wertvolle
Zeit wird vertan. Anstatt Kommandounternehmen und
gezielte Tötungen einzustellen und mit den Aufständi-
schen über Waffenstillstand und die Erhaltung des bisher
Erreichten zu verhandeln, wird weitergemacht bis zum
bitteren Ende in der Hoffnung, es werde noch alles gut
und sicher in Afghanistan. Völkerrechtswidrige gezielte
Tötungen von „feindlichen Kämpfern“ durch Spezialein-
heiten oder bewaffnete Drohnen werden intensiviert. Im
deutschen Verantwortungsbereich wurden Kampfdroh-
nen mit Tötungsauftrag stationiert. Aufgrund welcher
Informationen die Todeslisten erstellt werden, ist un-
durchsichtig und nicht überprüfbar. Den gezielten Tö-
tungen fallen häufig am Krieg völlig Unbeteiligte oder
zu Unrecht Denunzierte zum Opfer. Die Bundesregie-
rung behauptet, die Bundeswehr beteilige sich nicht an
solchen Tötungen. Sie hat aber eingeräumt, sie könne
nicht ausschließen, dass Informationen, die sie für Aktio-
nen zur Gefangennahme liefert, nicht doch zum Auffül-
len der Tötungslisten für Drohnen oder Special Forces
der Alliierten genutzt werden. Die Folge sind immer
neuer Hass, Gewalt und Krieg, und Verhandlungen kom-
men nicht zustande. Ohne Verhandlungen, Vereinbarun-
gen und Waffenstillstandsabkommen mit den Aufständi-
schen wird es nichts mit mehr Sicherheit, auch nicht bis
Ende 2014.
Und viel schlimmer noch: Als Konsequenz für die
Zeit danach droht erneut ein fürchterlicher Bürgerkrieg –
oder doch die Verlängerung des NATO-Kampfeinsatzes
und Krieges.
Dann wird es ein neues „Schutzmandat“ mit Kampf-
auftrag geben. Auch das ISAF-Mandat war ursprünglich
lediglich ein Mandat zum Schutz der Zivilbevölkerung
und der Regierung in Kabul – anders als das Mandat
Enduring Freedom. Es wurde zum Kriegsmandat von
heute umgedeutet.
Ein Weiter-so darf es nicht geben. Der Krieg in Af-
ghanistan muss unverzüglich beendet werden. Die Alter-
nativen sind Verhandlungen mit allen Beteiligten, auch
den Aufständischen, und Waffenstillstandsabkommen,
vielleicht zunächst regionale wie in dem Verantwor-
tungsbereich der Bundeswehr.
Deshalb stimme ich mit Nein.
Anlage 4
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Dr. Tobias Lindner, Tabea
Rößner und Josef Philip Winkler (alle BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen Ab-
stimmung über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
truppe in Afghanistan (International Security
Assistance Force, ISAF) unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolution 1386
(2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-
solution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
ordnungspunkt 7)
Auf der Londoner Afghanistan-Konferenz 2010 ha-
ben die an ISAF beteiligten Nationen die Beendigung
des Einsatzes bis Ende 2014 beschlossen. Die afghani-
schen Sicherheitskräfte sollen dazu befähigt werden,
selbst für die Sicherheit in Afghanistan zu sorgen. Wir
wollen, dass Deutschland bis dahin weiterhin einen Bei-
trag dazu leistet, die afghanischen Sicherheitskräfte aus-
zubilden.
Die Entscheidung, den ISAF-Militäreinsatz zu been-
den, ist richtig. Mit seinem Ende wird dem politischen
Prozess endlich Vorrang gegeben. Denn nur politisches
und ziviles Engagement kann der afghanischen Bevölke-
rung eine wahrhaft nachhaltige Perspektive bieten.
Nur zivile Aufbauhilfe kann zum Aufbau von Verwal-
tungsstrukturen, eines Justiz-, Bildungs- oder auch Ge-
sundheitssystems beitragen. Nur durch die zivilen
Anstrengungen kann sich eine nachhaltige Wirtschafts-
perspektive entwickeln. Die zivile Aufbaustrategie darf
militärischen Zielsetzungen nicht untergeordnet werden.
Unsere Erwartung in ein neues ISAF-Mandat ist, dass
es einen eindeutigen und entschlossenen Weg in Rich-
tung der Beendigung des Einsatzes Ende 2014 darlegt.
Der nun vorgelegte Antrag der Bundesregierung wird
diesem Anspruch jedoch nicht gerecht. Im Besonderen
betrifft dies die Mandatsobergrenze, die auf 4 400 Solda-
tinnen und Soldaten festgelegt wurde. In der Begrün-
dung wird bis zum Mandatsende eine Reduktion der
Truppenzahl auf 3 300 in Aussicht gestellt. Wenn am
1. März 2014 noch mehr als 3 000 Soldatinnen und Sol-
daten in Afghanistan stehen, scheint uns ein vollständi-
ger Abzug der Bundeswehr bis Ende 2014 nur schwer
durchführbar.
Zur geplanten Folgemission ab 2015 fehlen konkrete
Informationen. In der Begründung des Mandats wird le-
diglich darauf hingewiesen, dass eine Folgemission mit
deutlich geringerem Personalansatz geplant werde. Was
dies genau bedeutet, ist jedoch unklar. Mit der durch die
Bundesregierung vorgelegten Entwicklung der Kontin-
gentgröße ist zu befürchten, dass auch ab 2015 eine vier-
stellige Zahl von Soldatinnen und Soldaten der Bundes-
wehr in Afghanistan verbleiben soll. Aus unserer Sicht
erzeugt das vorgelegte Mandat eine Pfadabhängigkeit
für die Folgemission, die wir nicht mittragen wollen.
27290 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Gleichzeitig sehen wir, dass Deutschland durch sei-
nen Einsatz in Afghanistan eine Schutzverantwortung
für die afghanische Bevölkerung übernommen hat. Die-
ser Verantwortung müssen wir sowohl mit unserem zivi-
len als auch militärischen Engagement weiter gerecht
werden. Unser Ziel ist es, das militärische Engagement
rasch und entschlossen zu reduzieren. Ein sofortiger Ab-
zug würde aus unserer Sicht nicht nur bereits Erreichtes,
sondern auch die Zukunft der afghanischen Kinder,
Frauen und Männer in existenzieller Art und Weise ge-
fährden.
Wir haben uns in der Summe dazu entschieden, uns
bei der Abstimmung über die Fortsetzung des ISAF-
Mandates der Bundeswehr zu enthalten. Dies ist eine
Gewissensentscheidung.
Der Entschließungsantrag unserer Fraktion findet un-
sere Unterstützung und legt unsere Position im Hinblick
auf den Afghanistan-Einsatz näher dar.
Anlage 5
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Agnes Brugger, Katja
Dörner, Dr. Anton Hofreiter, Sylvia Kotting-
Uhl, Agnes Krumwiede, Monika Lazar, Lisa
Paus, Ulrich Schneider, Dr. Gerhard Schick und
Dorothea Steiner (alle BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN) zur namentlichen Abstimmung über die
Beschlussempfehlung zu dem Antrag: Fortset-
zung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an dem Einsatz der Internationalen
Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanis-
tan (International Security Assistance Force,
ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage
der Resolution 1386 (2001) und folgender
Resolutionen, zuletzt Resolution 2069 (2012)
vom 9. Oktober 2012 des Sicherheitsrates der
Vereinten Nationen (Tagesordnungspunkt 7)
Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundes-
wehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, die
Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen ha-
ben, und fordert wie kaum eine andere das Gewissen und
Herz der Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Dem
Engagement der in Afghanistan eingesetzten zivilen
Helferinnen und Helfer, Soldatinnen und Soldaten sowie
ihren Familienangehörigen gilt unser großer Dank und
unsere Wertschätzung.
Das vorliegende Mandat versagt dabei, den vollstän-
digen Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan vorzube-
reiten. Die Politik der Bundesregierung und das ISAF-
Mandat schreiben das Primat des Militärischen vor dem
Zivilen weiter fort. Nach wie vor finden in Afghanistan
durch ISAF-Nationen verübte gezielte Tötungen durch
Kommandoaktionen und Drohnenangriffe statt, die eine
Verhandlungslösung konterkarieren. Wir stimmen gegen
einen solchen Militäreinsatz, der zur Gewalteskalation
beiträgt und kontraproduktiv für die Schaffung von Frie-
den in Afghanistan ist.
Strategie der Aufstandsbekämpfung schmälert Chan-
cen auf Frieden: Seit über einem Jahrzehnt beteiligt sich
die Bundeswehr am ISAF-Einsatz in Afghanistan. Noch
immer ist die Sicherheitslage sehr angespannt, unbere-
chenbar und besorgniserregend. Die vergangenen Jahre
waren geprägt von gewaltsamen Auseinandersetzungen
zwischen ISAF-Truppen und afghanischen Sicherheits-
kräften auf der einen Seite und Taliban und anderen
Aufständischen auf der anderen. Für die meisten zivilen
Opfer sind die Anschläge der Aufständischen verant-
wortlich. Aber auch die Strategie der offensiven Auf-
standsbekämpfung durch die ISAF-Truppen hat zu einer
zunehmenden Eskalation beigetragen. Die vor allem von
den USA und anderen ISAF-Nationen weiter durch-
geführten massiven gezielten Tötungen mit zahlreichen
zivilen Opfern in Afghanistan und Pakistan tragen nach
wie vor maßgeblich zur Eskalation der Gewalt bei. Der
Einsatz von bewaffneten Drohnen fordert zahlreiche
zivile Opfer, zerstört den Rückhalt in der afghanischen
Bevölkerung und fördert die Radikalisierung und den
Zulauf bei den Aufständischen. So werden die Bemü-
hungen um eine Verhandlungslösung, die Stabilisierung
der Sicherheitslage und der Erfolg des Transitions-
prozesses in Afghanistan massiv konterkariert. Die Stra-
tegie, mit militärischen Mitteln den Frieden in Afghanis-
tan erzwingen zu wollen, ist gescheitert.
Keine glaubwürdige Abzugsplanung: Das vorlie-
gende Mandat ist weit davon entfernt, die Voraussetzun-
gen für einen geordneten und glaubwürdigen Abzug der
Bundeswehr bis 2014 aus Afghanistan zu schaffen. Es
sieht weiterhin eine Obergrenze von 4 400 Soldatinnen
und Soldaten vor und stellt selbst bei positiver Entwick-
lung der Sicherheitslage bis März 2014 immer noch
3 300 deutsche Einsatzkräfte zur Verfügung. Mit einem
Abzugsmandat hat eine solche Kontingentplanung nichts
zu tun. Die Bundesregierung stellt damit den selbst
angekündigten und international vereinbarten Abzug in-
frage, der unter diesen Bedingungen nur noch schwer
durchführbar scheint. In der NATO beteiligt sich die
Bundesregierung bereits an der Planung einer ISAF-
Nachfolgemission. Weder über den geplanten Umfang
einer möglichen deutschen militärischen Beteiligung
noch über die Strategie und die völkerrechtliche Grund-
lage eines solchen Einsatzes gibt es vonseiten der Bun-
desregierung Aufklärung. Wenn wir wollen, dass die
Bundeswehr bis 2014 abzieht, brauchen wir hierzu be-
reits jetzt ein Mandat, das die Voraussetzungen für einen
geordneten Abzugsprozess im nächsten Mandatszeit-
raum schafft. Es steht aber im Gegenteil zu befürchten,
dass die Pläne der Bundesregierung darauf angelegt
sind, Vorfestlegungen in Bezug auf eine Nachfolgemis-
sion zu schaffen und eine vierstellige Zahl von Bundes-
wehrangehörigen auch nach 2014 in Afghanistan zu sta-
tionieren. Dieses Verfahren ist nicht nur intransparent,
sondern hat mit Mandatswahrheit und -klarheit gegen-
über Parlament und Öffentlichkeit nichts zu tun.
Versöhnung und Wiederaufbau verlässlich unterstüt-
zen: Für einen nachhaltigen Frieden in Afghanistan muss
ein breiter Versöhnungsprozess stattfinden und der wirt-
schaftliche und institutionelle Wiederaufbau des Landes
vorangetrieben werden. Menschenrechtsverletzungen,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27291
(A) (C)
(D)(B)
ungeachtet von welcher Seite, müssen aufgedeckt und
aufgearbeitet werden. Nur so gibt es eine Chance, dass
der Versöhnungsprozess in der nach wie vor traumati-
sierten und zerrissenen afghanischen Gesellschaft gelin-
gen kann. Ein Waffenstillstand alleine reicht nicht aus,
um Frieden zu schaffen. Auch wenn dies im von Krieg
und Gewaltherrschaft geprägten Afghanistan schwierig
ist und schmerzhafte Kompromisse abverlangt, müssen
alle Möglichkeiten genutzt werden, um ein größtmögli-
ches Maß an Gerechtigkeit walten zu lassen. Diese mit
einem echten Versöhnungsprozess verbundenen Heraus-
forderungen werden von dem vorliegenden Mandat und
der Afghanistan-Politik der Bundesregierung nicht ange-
gangen. Wiederaufbau und Versöhnung gehören ins Zen-
trum der Afghanistan-Politik. Doch die Unterstützung
bei der Entwicklung grundlegender Staatsstrukturen und
einer funktionierenden Verwaltung wird weiterhin ver-
nachlässigt. Darüber hinaus fehlt es an einem Gesamt-
konzept und einer sinnvollen Schwerpunktlegung für die
wirtschaftliche Entwicklung Afghanistans. Diese muss
sich an den Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung
und den Gegebenheiten vor Ort orientieren. Der für die
afghanische Wirtschaft zentrale landwirtschaftliche Sek-
tor und die Modernisierung des afghanischen Bildungs-
systems müssen dabei im Vordergrund stehen. Ein weite-
rer wichtiger Schwerpunkt im Rahmen des zivilen
Wiederaufbaus ist die Stärkung der Zivilgesellschaft.
Der Weg zu einem nachhaltigen Frieden in Afghanis-
tan ist noch lang und steinig und erfordert eine langfris-
tige und verlässliche Unterstützung durch die internatio-
nale Gemeinschaft. Das vorliegende Mandat bleibt eine
Antwort auf die Frage schuldig, wie das deutsche Enga-
gement für den Aufbau in Afghanistan in einem ange-
messenen Umfang fortgesetzt werden kann und lässt an-
ders als das Vorgängermandat die Höhe der Mittel für
den zivilen Wiederaufbau offen. Die Bundesregierung
hat ihre Versprechen diesbezüglich schon gebrochen:
Nur ein halbes Jahr nach ihren Zusagen auf der Geber-
konferenz in Tokio wurden die Mittel des Afghanistan-
Stabilitätspakts um 10 Millionen gekürzt. Dem zukünfti-
gen deutschen Engagement fehlt eine überzeugende und
umfassende Gesamtstrategie für den Aufbau Afghanis-
tans.
Wir lehnen die Strategie der offensiven Aufstandsbe-
kämpfung und die weiter fortgesetzten völkerrechtswid-
rigen gezielten Tötungen ab. Sie stehen einer friedlichen
Lösung des Konfliktes durch Verhandlungen entgegen.
Wir fordern Mandatswahrheit und -klarheit in der Frage
des Abzugs und sagen Nein zu einem Mandat, das sich
einer realistischen und geordneten Abzugsplanung bis
Ende 2014 verweigert. Unser Votum richtet sich nicht
gegen die in Afghanistan eingesetzten Soldatinnen und
Soldaten, sondern gegen die falsche Afghanistan-Politik
der Bundesregierung.
Anlage 6
Erklärung nach § 31 GO
der Abgeordneten Omid Nouripour, Marieluise
Beck (Bremen), Cornelia Behm, Hans-Josef
Fell, Priska Hinz (Herborn), Tom Koenigs,
Nicole Maisch, Jerzy Montag, Manuel Sarrazin,
Markus Tressel und Daniela Wagner (alle
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN) zur namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung zu
dem Antrag: Fortsetzung der Beteiligung be-
waffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz
der Internationalen Sicherheitsunterstützungs-
truppe in Afghanistan (International Security
Assistance Force, ISAF) unter Führung der
NATO auf Grundlage der Resolution 1386
(2001) und folgender Resolutionen, zuletzt Re-
solution 2069 (2012) vom 9. Oktober 2012 des
Sicherheitsrates der Vereinten Nationen (Tages-
ordnungspunkt 7)
Nur eine politische Lösung kann verhindern, dass Af-
ghanistan nach dem Abzug der internationalen Truppen
in einen neuen, blutigen Bürgerkrieg zurückfällt. Die
Bundesregierung und die internationale Gemeinschaft
müssen daher ihre Anstrengungen erhöhen, um den Ver-
handlungs- und Reintegrationsprozess in Afghanistan zu
unterstützen und eine Friedenslösung unter Einbezie-
hung der beteiligten Nachbarstaaten zu erzielen.
Deutschland muss sich dafür einsetzen, dass die erreich-
ten Fortschritte insbesondere bei Menschenrechten ins-
besondere für Frauen und Mädchen im Rahmen der Ver-
handlungen nicht ausgehöhlt werden.
Der zivile Aufbau in Afghanistan erfordert ein lang-
fristiges Engagement der internationalen Gemeinschaft
und verlässliche Zusagen für Hilfen und Unterstützungs-
leistungen auch über das Jahr 2014 hinaus. Hierzu ge-
hört, die im Juli 2012 auf der Geberkonferenz in Tokio
gemachte Zusage einzuhalten, bis einschließlich 2015
jährlich 430 Millionen Euro für den zivilen Aufbau be-
reitzustellen. Die Bundesregierung belässt es jedoch bei
vagen Zusagen und hat sich im Rahmen der letzten
Haushaltsverhandlungen von verbindlichen Mittelzusa-
gen für Afghanistan verabschiedet. Dies ist ein herber
Rückschlag für die afghanische Zivilbevölkerung.
Um der Verantwortung Deutschlands für die Men-
schen in Afghanistan endlich gerecht zu werden, muss
die Bundesregierung bindende Verpflichtungen ausspre-
chen. Darüber hinaus braucht es vor allem eine umfas-
sende Agenda für den zivilen Aufbau, die das deutsche
Engagement im politischen und entwicklungspolitischen
Bereich für die Zeit nach 2014 für Afghanistan verläss-
lich festlegt. Dies ist auch erforderlich, da in Afghanis-
tan die Befürchtung zunimmt, dass mit dem militäri-
schen Abzug auch die meisten Aufbauhelferinnen und
-helfer das Land verlassen werden.
Im militärischen Engagement setzen Partnernationen
weiter auf kontraproduktive „gezielte Tötungen“. Die
Bundesregierung muss sich im Rahmen von ISAF und
gegenüber den Partnern dafür einsetzen, dass dieses fal-
sche Vorgehen beendet wird. Sie muss außerdem sicher-
stellen, dass sich die Bundeswehr nicht an solchen Ak-
tionen beteiligt.
Es ist zu kritisieren, dass die Bundesregierung hin-
sichtlich ihrer Abzugsplanung im Ungefähren bleibt. Die
enormen logistischen und sicherheitspolitischen Heraus-
27292 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
forderungen müssen endlich nachvollziehbar ausbuch-
stabiert werden, um verlässlich und transparent darzule-
gen, wie der zugesagte Abzug sämtlicher Truppen mit
einem Kampfauftrag bis Ende 2014 in verantwortbarer
Art und Weise realisiert werden soll.
Die Bundesregierung muss sich in diesem Zusam-
menhang auch dafür einsetzen, dass die afghanischen
Ortskräfte, die für die Bundeswehr unter anderem als
Dolmetscher, Fahrer und Arbeiter tätig waren und nun
Repressalien durch die Taliban befürchten, nicht ihrem
Schicksal überlassen werden, und sie muss ihnen ein
großzügiges Aufnahmeangebot machen.
Trotz unserer Kritik an der unzureichenden und teil-
weise fehlgeleiteten Afghanistan-Strategie der Bundes-
regierung stimmen wir dem Mandat zur Verlängerung
des Afghanistan-Einsatzes der Bundeswehr bis zum
28. Februar 2014 zu. Dies ist eine schwere Gewissens-
entscheidung.
Mit dem Engagement der internationalen Gemein-
schaft haben wir eine Schutzverantwortung für die
Menschen in Afghanistan übernommen. Wir fühlen uns
weiterhin verpflichtet, sie nicht alleine zu lassen. Zu-
stimmung bedeutet auch, dass wir Mitverantwortung
übernehmen für den schwierigen, oft lebensgefährlichen
Einsatz der Soldatinnen und Soldaten und der zivilen
Aufbauhelferinnen und Aufbauhelfer.
Ein sofortiger militärischer Abzug würde die Men-
schen in Afghanistan in einem neu eskalierenden Bür-
gerkrieg alleine zurücklassen und die gesamte Region
destabilisieren. Die Polizei und die Armee Afghanistans
sind noch nicht in der Lage, verlässlich für die Sicherheit
im Land zu sorgen. Expertinnen und Experten sowie
Vertreterinnen und Vertreter der Zivilgesellschaft aus
Afghanistan machen immer wieder deutlich, dass des-
wegen eine – wenn auch befristete – militärische Präsenz
internationaler Truppen notwendig ist.
Anlage 7
Erklärungen nach § 31 GO
zur Abstimmung über den Entwurf eines Geset-
zes zur Reform der elterlichen Sorge nicht mit-
einander verheirateter Eltern (Tagesordnungs-
punkt 11 a)
Sylvia Canel (FDP): Eheliche und nichteheliche
Kinder haben einen Anspruch darauf, dass ihre Väter
und Mütter gleichermaßen Verantwortung über ihr Le-
ben übernehmen. Deshalb sollen die bisher geltenden
Rechte von ledigen Vätern deutlich verbessert werden.
Das ist nicht nur meine persönliche Auffassung, sondern
auch die klare politische Haltung der FDP-Bundestags-
fraktion.
Die Stärkung des Sorgerechts insbesondere bei außer-
ehelich geborenen Kindern ist aus meiner Sicht bereits
von Geburt an sicherzustellen. Denn beide Elternteile,
unabhängig von dem Familienstand, sind dazu verpflich-
tet, im Sinne des Kindeswohls zu handeln. Dies kann nur
gewährleistet werden, wenn künftig die Väter das Recht
bekommen, ihre Fürsorge und Sorgepflicht bereits von
Geburt an ausüben zu können.
Bereits 2009 hat der Europäische Gerichtshof für Men-
schenrechte die Sorgerechtsregelungen, die in Deutsch-
land vorherrschen, als menschenrechtswidrig deklariert.
Die Begründung beruft sich auf die Unterscheidung zwi-
schen ehelichen und nichtehelichen Neugeborenen. Dem-
zufolge werden Neugeborene von nicht verheirateten
Paaren deutlich benachteiligt, da es keine klare Regelung
des gemeinsamen Sorgerechts gibt. Der Europäische Ge-
richtshof für Menschenrechte erstellte jedoch einen kla-
ren Forderungskatalog bezüglich der Neuregelung des
gemeinsamen Sorgerechts bei nicht verheirateten Eltern-
paaren.
Beispielhaft sei in diesem Zusammenhang auch auf
die UN-Kinderrechtskonvention verwiesen. Hier heißt
es, dass alle Kinder das Recht besitzen, von beiden El-
ternteilen gleichermaßen erzogen zu werden, unabhän-
gig von dem Familienstand der Eltern.
Die Neuregelung des gemeinsamen Sorgerechts von
nichtehelichen Neugeborenen wird durch den vorliegen-
den Gesetzentwurf vereinfacht und nimmt Rücksicht auf
die moderne Form der Beziehung. Dementsprechend
soll ein Vater, der seine Vaterschaft bereits anerkennt,
auch das Recht bekommen, sich um sein Kind zu sorgen
und zu kümmern. Sollte es zum Streit der Elternteile
kommen, wird ein Gericht im Sinne des Kindeswohls
entscheiden. Jedoch sollte meiner Ansicht nach der Vater
dieses Recht bereits mit der Geburt des Kindes erhalten.
Einen anderen Weg erachte ich als eine Diskriminierung
des Kindsvaters.
Vor diesem Hintergrund soll die Reform der elterli-
chen Sorge nicht miteinander verheirateter Eltern weiter
vorangebracht werden und um einen Punkt erweitert
werden. Väter sollen bereits von Geburt das Recht erhal-
ten, sich ihrer Verantwortung zu stellen und sich glei-
chermaßen um das Kind zu kümmern. Diese Forderung
ist zum Wohle des Kindes.
Thomas Jarzombek (CDU/CSU): Bei der heutigen
Abstimmung des Bundestages zum Gesetz zur Reform
der elterlichen Sorge nicht miteinander verheirateter El-
tern – Bundestagsdrucksache 17/11048 – stimme ich
heute mit Nein.
Es ist richtig, die Rechte der Väter zu stärken; inso-
fern ist der heute vorliegende Gesetzentwurf eine Ver-
besserung in der Sache. Dennoch halte ich dabei die
zwangsweise Einschaltung eines Gerichtes, um auch Vä-
tern das Sorgerecht zuzusprechen, für falsch.
Art. 3 des Grundgesetzes lautet wie folgt:
(1) Alle Menschen sind vor dem Gesetz
gleich.
(2) Männer und Frauen sind gleichberech-
tigt. Der Staat fördert die tatsächliche
Durchsetzung der Gleichberechtigung von
Frauen und Männern und wirkt auf die Be-
seitigung bestehender Nachteile hin.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27293
(A) (C)
(D)(B)
Dieser zentrale Gleichheitsgrundsatz des Grundgeset-
zes muss auch beim Sorgerecht gelten. So halte ich es
für geboten, dass Mutter und Vater das gemeinsame Sor-
gerecht bei der Geburt eines Kindes erhalten, unabhän-
gig davon, ob sie verheiratet sind oder nicht. Ein Verfah-
ren, bei dem der Vater seine Rechte erst beantragen und
einen Gerichtsbeschluss herbeiführen muss, halte ich für
falsch. Dies gilt umso mehr, wenn dies zu einer mögli-
cherweise sehr schwierigen familienrechtlichen Aus-
einandersetzung und Entscheidung führt.
Das häufig vorgetragene Argument von Kollegen,
dieses Gesetz würde ohnehin nur in – wenigen – stritti-
gen Fällen greifen, halte ich für ein sehr schwaches Ar-
gument. Denn gerade für die problematischen und stritti-
gen Fälle ist das Gesetz ja da; bei einem Einvernehmen
wird es ohnehin nicht zum Tragen kommen.
Aus Sicht des Kindes halte ich es für wichtig, dass so-
wohl Mutter wie auch Vater Verantwortung übernehmen
– das erwarte ich von beiden Elternteilen – und dass
diese dazu auch tragfähige gemeinsame Lösungen ent-
wickeln.
Es gibt darüber hinaus Fälle, in denen eine Ausnahme
angezeigt ist, insbesondere wenn Gewalt ausgeübt wird
oder wurde oder das Kindeswohl beeinträchtigt werden
könnte. Hierfür wäre eine entsprechende Regelung wün-
schenswert; ansonsten sollte das Gesetz von einem ge-
meinsamen Sorgerecht ausgehen.
Anlage 8
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Modernisierung des Außenwirtschaftsrechts
(Tagesordnungspunkt 13)
Erich G. Fritz (CDU/CSU): In zweiter und dritter Le-
sung beraten wir heute eine Novelle des Außenwirt-
schaftsgesetzes. Sie führt zu einer erheblichen Vereinfa-
chung und Entschlackung des aus dem Jahre 1962
stammenden deutschen Außenwirtschaftsrechts.
Mit der vorliegenden Überarbeitung erfüllen wir eine
Vereinbarung aus dem Koalitionsvertrag vom 26. Okto-
ber 2009. Ich freue mich, dass in den abschließenden
Ausschussberatungen eine sehr weitgehende Überein-
stimmung zwischen den Fraktionen zu erkennen war und
dass die Notwendigkeit und die Art der Überarbeitung
viel Zustimmung gefunden hat.
Ich habe es bereits in meiner letzten Rede versichert
und wiederhole es gerne: Das Außenwirtschaftsgesetz
genießt weltweit einen hervorragenden Ruf und wird
daher seine bewährten Grundstrukturen, insbesondere
den Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit, beibehal-
ten. Doch es wurde Zeit für eine Modernisierung.
Das Außenwirtschaftsgesetz ist vor 50 Jahren in Kraft
getreten. Seither hat sich, wie wir alle wissen, im
Rechtsrahmen der Außenwirtschaft national, europäisch
und international einiges geändert, und die Kontroll-
und Genehmigungspraxis in Deutschland wurde immer
weiter entwickelt. Die Europäische Union hat Zustän-
digkeiten im Außenhandel übernommen und in ihrem
Zuständigkeitsbereich einen gemeinsamen Exportkon-
trollmechanismus aufgebaut. Auch deshalb sind das Au-
ßenwirtschaftsgesetz, AWG, und die Außenwirtschafts-
verordnung, AWV, häufig geändert worden.
AWG und AWV glichen bisher einem Flickenteppich.
Sie waren unübersichtlich und wenig nutzerfreundlich.
Selbst Juristen und Experten haben teilweise Schwierig-
keiten, sich in diesem Dschungel von 50 Paragrafen
noch zurechtzufinden. Nach der Novelle sollen es nur
noch 28 Bestimmungen sein. Im Interesse der Expor-
teure, insbesondere der kleinen und mittelständischen
Unternehmen in Deutschland, die oft nicht über eine ei-
gene Rechtsabteilung verfügen, müssen die Regelungen
gestrafft und verständlicher formuliert werden, auch für
Nicht-Juristen. Die Neufassung ist also eine notwendige
Anpassung, und ich gratuliere der Bundesregierung zu
ihrer Entscheidung, das Außenwirtschaftsrecht zu novel-
lieren. Um es noch einmal plastisch zusammenzufassen:
Das AWG stammt aus einer Zeit vor dem Binnenmarkt,
natürlich auch vor dem Lissabon-Vertrag. Das BAFA hat
sich in dieser Zeit ebenso entwickelt wie die Expertise
der Unternehmen im Umgang mit den nötigen Verfah-
ren. Die Hauptzollämter haben ihre Fähigkeiten enorm
entwickelt. Die Compliance-Regeln in den Unternehmen
haben den Grad innerbetrieblicher Selbstkontrolle erheb-
lich ausgeweitet. Fahndungsmöglichkeiten wurden unter
anderem durch Aufbau und Entwicklung des Zollkrimi-
nalinstitutes ausgebaut. Die Dual-Use-Verordnung der
Europäischen Union ist heute unmittelbar geltendes
Recht in Deutschland. Der Gemeinsame Standpunkt der
EU wie die fortgeschriebenen Exportrichtlinien der Bun-
desregierung binden Regierungshandeln. Wir haben ein
sehr hohes Niveau der Ausfuhrkontrolle erreicht, das
seine Wirkung entfalten kann. Dual-Use-Güter sind im
normalen Handelsverkehr unter Kontrolle. Der Staat
kommt seiner Verpflichtung nach, und die Exporteure
können damit umgehen.
Wir dürfen aber auch den Güterhandel nicht nur unter
dem Gesichtspunkt der doppelt verwendbaren Güter be-
trachten, sondern müssen auch an die Millionen von Pro-
dukten denken, die das Verfahren durchlaufen, ohne je-
mals in die Gefahr zu geraten, im weitesten Sinne
militärisch verwendet zu werden. Deshalb war ein An-
spruch an die Überarbeitung auch, die Regelungen klar,
überschaubar und eindeutig zu machen. Solche An-
sprüche wurden auch von der Rechtsprechung immer
wieder an den Gesetzgeber gestellt.
Die dafür notwendigen Veränderungen liefern auch
modernere Definitionen für ein besseres sprachliches
Verständnis. Das AWG wird an die moderne Terminolo-
gie angepasst. Es erhält so eine zeitgemäße Sprache und
wird mit den europarechtlich etablierten Begriffen in
Einklang gebracht. Da das nationale und das europäische
Recht eng verzahnt sind, werden so Widersprüche besei-
tigt. Viele Begrifflichkeiten waren schlicht veraltet. Dies
ist nicht verwunderlich, wenn man sich vor Augen führt,
dass viele der Definitionen aus der Zeit vor der Wieder-
vereinigung und vor der Dual-Use-Verordnung – erstma-
liges Inkrafttreten 1994, grundlegende Überarbeitung
27294 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
2009 – stammen. Es ist also an der Zeit, den Definitions-
katalog zu überarbeiten. Einige Begriffe entfallen ganz,
und einige werden sprachlich vereinfacht.
„Fremde Wirtschaftsgebiete“, um ein Beispiel zu nen-
nen, hat der Teilung Deutschlands Rechnung getragen.
Künftig sollen die Begriffe „In- und Ausland“ verwendet
werden.
Auch sollen AWG und AWV besser und übersicht-
licher strukturiert werden. Ein Beispiel: Die außenwirt-
schaftsrechtlichen Einfuhrverfahrensvorschriften finden
sich derzeit sowohl im AWG als auch in der AWV. Im
Interesse der Übersichtlichkeit werden sie nunmehr ein-
heitlich in der AWV geregelt und damit an die Ausfuhr-
verfahrensvorschriften angeglichen.
Sie sehen, es geht hier nicht um eine grundlegende
Änderung der Inhalte, etwa um laxere Ausfuhrbestim-
mungen, wie teils fälschlicherweise in der Presse be-
hauptet und skandalisiert, sondern vor allem um eine
Anpassung an die moderne Begrifflichkeit und eine
schlankere Fassung der Bestimmungen, die gleichzeitig
eine Präzisierung ist, weil viele Rechtsvorschriften nicht
mehr mühsam aus jeweils anderen Gesetzen abgeleitet
werden müssen, sondern sich eindeutig im AWG finden.
Vergleicht man Außenwirtschaftsgesetz alt und neu, so
wird klar, dass sich in der Sache nur wenig ändert.
Ich war sehr enttäuscht, dass Teile der Opposition ab-
sichtlich, zumindest aber durch Nachlässigkeit falsche
Behauptungen über laxere Rüstungskontrollen durch das
neue AWG verbreitet haben, die explizit nicht vorgese-
hen sind.
Denn das AWG geht weit über Rüstung hinaus, und
der Bereich Rüstung innerhalb des AWG bleibt völlig
unberührt von der Überarbeitung. Ich sage es noch ein-
mal: Die Überarbeitung des Außenwirtschaftsrechts
sieht keinerlei Erleichterungen für den Export von Rüs-
tungsgütern vor. Insofern ist es gelinde gesagt verwun-
derlich, wenn das Magazin Der Spiegel in seiner Aus-
gabe vom 16. Juli 2012, Ausgabe 29/2012, Seite 16, mit
dem irreführenden Titel „Rüstungsexporte: Deutsche
Waffen für die Welt“ behauptet, die Bundesregierung
wolle mit der Gesetzesnovellierung „den Export von
Waffen und Rüstungsgütern vereinfachen“. Davon kann
keine Rede sein. Kriegswaffenkontrollgesetz, Rüstungs-
exportrichtlinien der Bundesregierung und der Gemein-
same Standpunkt verändern sich nicht.
Es bleibt zu hoffen, dass man sich zwischenzeitlich
ernsthaft mit dem Inhalt des Entwurfs vertraut gemacht
hat. Denn die Inhalte der bestehenden Verbote und Ge-
nehmigungsinhalte bleiben dieselben. Die vorliegende
Gesetzesmodernisierung führt nicht dazu, dass sich Rüs-
tungsgüter aus Deutschland leichter exportieren lassen.
Was in der Tat entfällt, sind überholte Ermächtigungs-
grundlagen, die seit Inkrafttreten des Gesetzes schlicht
nie genutzt wurden. Gerne gebe ich Ihnen ein Beispiel:
Nach § 17 AWG können Rechtsgeschäfte über die Ver-
breitung ausländischer Filme und anderer audiovisueller
Werke beschränkt werden, um die deutsche Filmwirt-
schaft zu schützen. Die Beschränkungen hatten keinen
außenwirtschaftsrechtlichen, sondern einen industrie-
politischen Hintergrund. Von der Ermächtigungsgrund-
lage wurde noch nie Gebrauch gemacht. Sie ist auch
nicht nötig.
Wichtige Grundlagen, wie beispielsweise der soge-
nannte Einzeleingriff, §§ 6, 7 AWG-Novelle, bleiben er-
halten. Nach wie vor können also Lieferungen, die nach
dem geltenden Recht legal wären, durch einen Ein-
zeleingriff gemäß § 6, ehemals § 2 Abs. 2 AWG, unter-
sagt werden, um bestimmte Gefahren abzuwenden, zum
Beispiel für die auswärtigen Beziehungen Deutschlands.
Die Voraussetzungen einer solchen Ausfuhrbeschrän-
kung in Form eines Verwaltungsakts soll durch die Ge-
setzesnovelle auch für den Seeverkehr außerhalb des
deutschen Küstenmeers konkretisiert werden, § 7 AWG-
Novelle.
Zusätzlich zu der Anpassung an die moderne Termi-
nologie sind einige inhaltliche Änderungen im Bereich
der Straf- und Bußgeldbewehrungen vorgesehen, die ich
Ihnen gerne noch einmal erläutere:
Bislang fiel es schwer, zwischen dem Tatbestand ei-
ner Ordnungswidrigkeit und dem einer Straftat zu unter-
scheiden. Die bisherigen Straf- und Bußgeldbewehrun-
gen sind schwer verständlich, weil sie an unbestimmte
Rechtsbegriffe anknüpfen. Verstöße gegen bestimmte Ge-
nehmigungserfordernisse werden zu Straftaten, wenn sie
geeignet sind, die „auswärtigen Beziehungen der Bun-
desrepublik Deutschland“ erheblich zu gefährden, § 34
Abs. 2 AWG Dies ist eine schwammige Formulierung.
Die Rechtsprechung hat die Bestimmungen aus gutem
Grund kritisiert: Es sei für den Adressaten schwer er-
kennbar, wann er sich strafbar machen könne, weil nicht
immer klar sei, in welchen Fällen das Auswärtige Amt
diesen Tatbestand bescheinige. Deshalb seien die gelten-
den Straf- und Bußgeldbewehrungen „am Rande der
Verfassungswidrigkeit“.
Ich halte es daher für richtig, dass die Novelle auf un-
bestimmte Rechtsbegriffe in der Zukunft verzichten soll.
Die Straf- und Bußgeldbewehrungen werden in der No-
velle klarer als bisher am Grad der Vorwerfbarkeit aus-
gerichtet. Mit anderen Worten, vorsätzliche Verstöße ge-
gen bestimmte Verbote und Genehmigungserfordernisse,
die bisher als Ordnungswidrigkeiten behandelt werden,
sollen zukünftig als Straftaten bewertet werden.
Auch hier bietet sich ein kurzes Beispiel zum besse-
ren Verständnis an: Die ungenehmigte Ausfuhr von Waf-
fen wird als Straftat geahndet. Das ist bisher so, und das
wird auch so bleiben. Nach dem vorliegenden Gesetz-
entwurf wird aber auch die ungenehmigte Ausfuhr zivi-
ler Güter, die für militärische Zwecke missbraucht wer-
den können, eine Straftat, wenn der Täter vorsätzlich
handelt, § 18 AWG-Novelle. Damit ist die klare Bot-
schaft verbunden: Wer sich bewusst über das Außenwirt-
schaftsrecht hinwegsetzt, handelt nicht nur ordnungs-
widrig, er macht sich vielmehr strafbar.
Eine Ahndung von Ordnungswidrigkeiten als Straf-
taten soll hingegen nicht mehr möglich sein. Der Ge-
setzentwurf – mit Ausnahme von Verstößen gegen Waf-
fenembargos – verzichtet auf eine Strafbewehrung
fahrlässigen Handelns, das heißt von Verstößen gegen
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27295
(A) (C)
(D)(B)
die erforderliche Sorgfalt. Der Grund hierfür ist ein-
leuchtend: Mitarbeiter exportierender Unternehmen sol-
len nicht kriminalisiert werden, wenn sie sich rechtstreu
verhalten wollen, ihnen aber versehentlich ein Arbeits-
fehler unterläuft. Gerade bei Unternehmen, die automati-
sierte Kontrollverfahren eingerichtet haben, kann es zu
versehentlichen Verstößen im Bereich der Ordnungswid-
rigkeiten kommen. In diesen Fällen ist die Verhängung
eines Bußgeldes gegen das Unternehmen die angemes-
sene Sanktion.
Nach dem Struck‘schen Gesetz, dass kein Gesetz den
Bundestag so verlässt, wie es ihn erreicht hat, wurde
auch diese Vorlage der Bundesregierung im Wirtschafts-
ausschuss verändert. Wir haben im § 22 einen Absatz 4
eingefügt, der die Möglichkeit eröffnet, von der Verfol-
gung einer Ordnungswidrigkeit abzusehen, wenn ein
Verstoß im Wege der Eigenkontrolle aufgedeckt und der
zuständigen Behörde angezeigt wurde sowie angemes-
sene Maßnahmen zur Verhinderung eines Verstoßes aus
gleichem Grund getroffen werden. Für Unternehmen
entsteht so der Anreiz, durch firmeninterne Compliance-
Maßnahmen und freiwillige Meldungen an die Behörden
zur Aufdeckung und Behebung von Verstößen beizutra-
gen. Wir waren dabei natürlich der Meinung, dass genau
dieser Sachverhalt von den Behörden überprüft werden
kann. Gerade für kleinere Unternehmen kann diese Re-
gelung aber vereinfachend wirken und dabei das Kon-
trollniveau sogar erhöhen.
Nicht unerwähnt bleiben sollte auch, dass Verstöße
gegen Waffenembargos verschärft werden. Eine Liefe-
rung von Rüstungsgütern in ein Embargoland, oder die
Vermittlung eines solchen Geschäfts wird als Verbrechen
bestraft. Festzuhalten ist: Die Strafbewehrungen für vor-
sätzliche Verstöße gegen das Außenwirtschaftsrecht
werden deutlich verschärft.
Erlauben Sie mir, auch kurz auf den Bereich der Ge-
setzesnovelle einzugehen, der die Überarbeitung der
AWV betrifft. Ich meine die Genehmigungserfordernisse
für Güter mit doppeltem Verwendungszweck, den soge-
nannten Dual-Use-Bereich. Gemeint sind damit Export-
güter, die für zivile, gegebenenfalls aber auch für militä-
rische Zwecke eingesetzt werden können.
Meine Damen und Herren, sehr verehrte Kollegen
von der Opposition, es handelt sich um deutsche Sonder-
vorschriften aus einer Zeit, als es noch keine vergleich-
baren Bestimmungen im europäischen Recht gab. Mitt-
lerweile sind sie durch korrespondierende europäische
Vorschriften überlagert. Das Nebeneinander der europäi-
schen und deutschen Genehmigungserfordernisse mit
weitgehend identischem Regelungsgehalt führt nicht zu
einer verbesserten Exportkontrolle, sondern nur zu einer
bürokratischen Belastung der Unternehmen und zu Wett-
bewerbsnachteilen gegenüber ihren europäischen Kon-
kurrenten.
Lassen Sie mich Ihnen ein Beispiel geben: Welche
Dual-Use-Güter gelistet sind, ist im deutschen Recht in
der Ausfuhrliste geregelt. Diese erfasst neben den europa-
weit gelisteten Gütern auch Güter, die nur in Deutsch-
land gelistet sind – sogenannte 900er-Listenpositionen –:
Häufig sind die nationalen Listungen auf Einzelfallent-
scheidungen – durch Einzeleingriff gemäß § 2 Abs. 2
AWG – zurückzuführen. Viele dieser gelisteten Güter
sind veraltet bzw. haben ihre Praxisrelevanz verloren.
Aus diesem Grund wird die deutsche Güterliste gekürzt.
Zudem wird auf die Wiedergabe der Güter der Dual-
Use-Verordnung verzichtet; denn diese Güter sind ohne-
hin von der vorrangig geltenden EG-Dual-Use-Güter-
VO erfasst.
Sie sehen also, dass die vorliegende Novelle deutlich
in die Klasse der Weiterentwicklung effizienten Regie-
rens in Deutschland einzuordnen ist. Dies hat im Übri-
gen auch deutlich die überwiegend positive Resonanz
von Fachleuten aus Wirtschaft und Wissenschaft wäh-
rend der öffentlichen Anhörung des Wirtschaftsaus-
schusses am 10. Dezember ergeben.
Auch Fachmagazine finden positive Worte für die
Novelle: So lobt der DIHK die Erleichterung für deutsche
Unternehmen. Die AW-Prax spricht von „übersichtlicheren
und für den Nutzer freundlicheren“ Vorschriften, die je-
doch „keineswegs dazu führen, dass sich insbesondere
Rüstungsexporte einfacher gestalten als bisher“ – ver-
gleiche AW-Prax, August 2012, Seite 255. Im Gegenteil,
mit der AWG-Novelle sorgt die Bundesregierung für
klare Regeln sowie fairen Wettbewerb für die export-
orientierte deutsche Wirtschaft, die ich gerne zu unter-
stützen bereit bin.
Ich bedanke mich bei den Mitberichterstattern, den
Mitarbeitern des BMWi sowie bei den Sachverständi-
gen, die durch ihre Beiträge und Diskussionen wesent-
lich zu einem gemeinsamen Verständnis und einem gu-
ten Ergebnis beigetragen haben.
Andreas G. Lämmel (CDU/CSU): Die Novelle des
Außenwirtschaftsgesetzes, AWG, ist ein wichtiger
Schritt zur Stärkung des Exportstandortes Deutschland,
insbesondere für unsere kleineren und mittleren Unter-
nehmen. Um es gleich vorwegzunehmen: Es geht nicht
um die Lockerung der Regeln für Rüstungsexporte. Dies
ist eine unseriöse Behauptung. Die Novelle sieht keiner-
lei Erleichterungen für den Export von Rüstungsgütern
vor. Die unter Rot-Grün beschlossenen „Politischen
Grundsätze der Bundesregierung für den Export von
Kriegswaffen und sonstigen Rüstungsgütern“ aus dem
Jahr 2000 gelten unverändert.
Wir aktualisieren heute ein Gesetz aus dem Jahr 1962.
Das AWG und die Außenwirtschaftsverordnung, AWV,
wurden in den vergangenen Jahrzehnten sehr häufig ge-
ändert und gleichen einem Flickenteppich; eine separate
Überarbeitung der AWV erfolgt noch.
Wir führen das bewährte deutsche Außenwirtschafts-
recht fort, es ist aber ein zentrales Anliegen der christ-
lich-liberalen Koalition: das Außenwirtschaftsrecht ver-
einfachen, Rechtssicherheit für Anwender gewährleisten
und deutsche Sondervorschriften aufheben, um deutsche
Exporteure gegenüber ihren europäischen Konkurrenten
nicht zu benachteiligen, Stichwort „level playing field“.
Der Grundsatz der Außenwirtschaftsfreiheit bleibt erhal-
ten. In der Anhörung des Wirtschaftsausschusses be-
27296 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
scheinigten alle Experten dem neuen Gesetz, ein sehr
modernes und praktikables zu sein.
Es geht also um eine Vereinfachung und eine über-
sichtlichere Gestaltung des AWG. Wir nehmen eine Neu-
strukturierung und Verschlankung vor, heben überholte
Vorschriften auf, neben der Anpassung an europarechtli-
che Vorgaben ist die sprachliche Vereinfachung ein we-
sentliches Ziel. Die Anzahl der Paragrafen wird fast hal-
biert.
Insbesondere im EU-Recht ist eine Anpassung an die
Entwicklung seit 1962 (!) dringend geboten. In dieser
Zeit hat die EU beträchtliche Kompetenzen gewonnen,
die Stichworte lauten „Binnenmarkt“, „Kapitalmarkt“,
„gemeinsame Handelspolitik“ etc. Wir nehmen eine Ver-
einfachung und Abschaffung bestimmter Begriffe vor.
So ist beispielsweise der Begriff „fremde Wirtschaftsge-
biete“ als Bezeichnung für die ehemalige DDR nicht
mehr notwendig. Aus „Datenverarbeitungsprogrammen“
wird der gängige Begriff „Software“.
Die Stellungnahme der Nationalen Normenkontrollra-
tes, NKR, gibt uns recht: „Gleichwohl leistet das Rege-
lungsvorhaben einen wichtigen Beitrag zur Rechts- und
Verwaltungsvereinfachung. Im Rahmen seines gesetzli-
chen Prüfauftrags begrüßt der Nationale Normenkon-
trollrat das Regelungsvorhaben.“
Weiterhin fassen wir die Straf- und Bußgeldvorschrif-
ten neu. Vorsätzliche Verstöße, zum Beispiel gegen Waf-
fenembargos sollen künftig härter geahndet werden. An-
dere fahrlässige Verstöße sollen dagegen nicht mehr als
Straftat, sondern nur noch als Ordnungswidrigkeit ge-
ahndet werden. Nationale Sondervorschriften zu den
Dual-Use-Gütern schaffen wir ab. Sie sind unnötig, da
hier bereits eine Regelung im EU-Recht existiert. Die
bisherigen Bestimmungen sehen – in anderen EU-Län-
dern nicht geltende – zusätzliche Genehmigungserfor-
dernisse für Dual-Use-Güter innerhalb der EU vor. Sie
stammen aus einer Zeit, als es noch keine einheitlichen
europäischen Regelungen gab. Die inzwischen einge-
führte EG-Dual-Use-Verordnung regelt nunmehr die ein-
heitliche und umfassende Kontrolle von Dual-Use-Gü-
tern durch alle EU-Mitgliedstaaten. Damit haben die
deutschen Sondervorschriften ihre Bedeutung verloren,
zumal sie einen nicht unerheblichen bürokratischen Auf-
wand für die betroffenen Unternehmen verursachen und
damit einen Wettbewerbsnachteil gegenüber anderen eu-
ropäischen Unternehmen darstellten.
Ein wesentliches Ergebnis der parlamentarischen Be-
ratung ist die Neuregelung der Selbstanzeige. Es gibt
künftig die Möglichkeit einer „Selbstanzeige“ von Un-
ternehmen bei einem fahrlässigen Verstoß gegen Melde-
pflichten bei Ausfuhren in § 22 Abs. 4 (neu) AWG. In
diesem Fall finden keine weiteren Sanktionen im Ord-
nungswidrigkeitenrecht statt, die nicht bei Straftatbe-
ständen gilt.
Voraussetzungen sind einfach. Der Verstoß muss im
Wege der Eigenkontrolle innerhalb des Unternehmens
aufgedeckt und der Behörde angezeigt werden. Es sind
Maßnahmen zur Verhinderung eines weiteren Verstoßes
aus dem gleichem Grund zu treffen. Beim Status quo in
der Verwaltungspraxis könnten bereits kleine Formfeh-
ler, die im Zuge des firmeninternen Compliance-Ma-
nagements aufgedeckt und gemeldet werden, Anlass für
weitreichende Prüfungen und langwierige, potenziell ko-
stenträchtige Verfahren – drohende Ordnungsgelder von
bis zu 500 000 Euro pro Verstoß – sein. Dies wider-
spricht zunehmenden Compliance-Bestrebungen, die ge-
rade einen Anreiz für die Unternehmen schaffen sollen,
durch firmeninterne Maßnahmen und freiwillige Mel-
dungen an die Behörden zur Aufdeckung und Behebung
von Fehlern beizutragen. Dadurch werden auch die
staatlichen Stellen entlastet, und wir setzen gezielte An-
reize für die Selbstkontrolle innerhalb der Unternehmen.
Ich komme also zu dem Fazit, dass wir hier beträchtli-
che Erleichterungen gerade für kleinere und mittlere Un-
ternehmen beschließen, die über keine eigene Rechtsab-
teilung verfügen oder teure Anwaltskanzleien bezahlen
können. Dies wurde auch in der Anhörung des Wirt-
schaftsausschusses bestätigt. Wir erreichen eine
Entschlackung und Modernisierung des Außenwirt-
schaftsrechts. Wir schaffen Erleichterungen und Rechts-
sicherheit gerade für den Mittelstand. Die Neufassung
der Außenwirtschaftsverordnung muss nun zügig erfol-
gen, um das Gesetzeswerk zu komplettieren
Diesem Gesetz kann man nur zustimmen.
Rolf Hempelmann (SPD): Die Bundesregierung hat
uns einen Gesetzentwurf zur Modernisierung des Au-
ßenwirtschaftsrechts vorgelegt, mit welchem sie das Au-
ßenwirtschaftsgesetz vereinfachen und vor allem moder-
nisieren will. Unbenommen, die Anzahl der Vorschriften
wurde verringert, die Grundstruktur blieb.
Wie die Sachverständigenanhörung zum Außenwirt-
schaftsrecht Anfang Dezember ergab, ist jedoch die
Handhabung des Gesetzes nicht verbessert worden. Das
Außenwirtschaftsgesetz bleibt nach Aussage der Wirt-
schaft hinreichend kompliziert, und die Erwartungen der
Wirtschaft sind daher eher gedämpft.
Grundsätzlich eröffnet eine Modernisierung des Au-
ßenwirtschaftsgesetzes die Chance, die Vorgaben aus
dem EU-Verhaltenskodex und der gemeinsamen Posi-
tion in deutsches Recht zu übernehmen und so das Ge-
setz an zivilgesellschaftliche und europäische Entwick-
lungen anzupassen. Hierbei geht es insbesondere um die
Kriterien aus den „Politischen Grundsätzen der Bundes-
regierung für den Export von Kriegswaffen und sonsti-
gen Rüstungsgütern“ und aus dem Gemeinsamen Stand-
punkt des Rates vom 8. Dezember 2008 betreffend
gemeinsame Regeln für die Kontrolle der Ausfuhr von
Militärtechnologie und Militärgütern.
Zwar gelten diese Kriterien schon jetzt verbindlich,
sind aber nicht gesetzlich geregelt. Ihr eigener Sachver-
ständiger sagte in der Anhörung, „unter dem Gesichts-
punkt der Bestimmtheit gesehen …, hätte das dann viel-
leicht einen höheren Stellenwert“, und bezog sich auf die
Einbeziehung dieser Kriterien. Kriterien wie zum Bei-
spiel die Beachtung von Menschenrechten in Empfän-
gerländern deutscher Rüstungsgüter sowie die Förde-
rung von Frieden und Freiheit in der Welt hätten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27297
(A) (C)
(D)(B)
Gesetzesrang. Und in anderen europäischen Ländern ist
es kein Problem, die Regelungen aus dem Gemeinsamen
Standpunkt in innerstaatliche Gesetze aufzunehmen.
Bisher lehnten die Bundesregierung und die sie stüt-
zenden Koalitionsfraktionen die Aufnahme der Vorga-
ben aus den Politischen Grundsätzen und dem Gemein-
samen Standpunkt mit der Begründung ab, dies würde
das Außenwirtschaftsgesetz überfrachten. Die SPD hat
im Ausschuss für Wirtschaft und Technologie einen Vor-
schlag gemacht, wie die Kriterien aus den Politischen
Grundsätzen und dem Gemeinsamen Standpunkt in das
Außenwirtschaftsgesetz integriert werden könnten. Die-
sen Änderungsvorschlag haben Sie mit der Mehrheit der
Koalitionsfraktionen aus fadenscheinigen Gründen ab-
gelehnt: Die Kriterien würden ja schon verbindlich gel-
ten, war ein Argument. Außerdem würde ein solcher
Verweis – so verstehe ich Ihre Anmerkungen im Wirt-
schaftsausschuss – für alle Güter, die unter das Außen-
wirtschaftsgesetz fallen, gelten. Sie haben sich nicht
ausreichend mit unserer Intention und der Gesetzessyste-
matik beschäftigt. Das Außenwirtschaftsrecht gilt für
alle Außenwirtschaftsgüter, die keine Kriegswaffen nach
dem Kriegswaffenkontrollgesetz sind, somit auch für an-
dere Rüstungsgüter und Dual-Use-Güter. Auf diese Gü-
ter kann und sollte ein solcher Verweis beschränkt wer-
den. Einen anderen Vorschlag, wie die Kriterien ins
Gesetz aufgenommen werden könnten, sind Sie bislang
schuldig geblieben. Wir fordern Sie jetzt noch einmal
auf – das können Sie auch in unserem Entschließungsan-
trag lesen –, diese Kriterien in das Außenwirtschaftsge-
setz aufzunehmen.
Kommen wir zu einem weiteren Punkt: Einzelne Rüs-
tungsexportentscheidungen der Bundesregierung haben
in der vergangenen Zeit wiederholt Diskussionen und
Kritik ausgelöst. Dabei zeigt sich auch, dass es an einer
entsprechenden parlamentarischen Beteiligung und
Transparenz fehlt, die gerade der Bedeutung und Brisanz
der Entscheidungen angemessen wäre. Darüber hinaus
werden Rüstungsexportberichte verspätet vorgelegt, der
Bericht für 2010 zum Beispiel lag erst circa zwei Jahre
später vor. Dies ist nicht haltbar. Die SPD fordert eine
feste Frist zur Vorlage des Rüstungsexportberichts.
Diese Forderung ist nicht neu. Anfang 2012 hat die
SPD-Bundestagsfraktion diese Forderung mit anderen in
einen Antrag gegossen. Bei der Erarbeitung der Novelle
zum Außenwirtschaftsgesetz hätte man durchaus darauf
stoßen können. Darüber hinaus fordern wir inhaltliche
Vorgaben für den Rüstungsexportbericht im Gesetz. Im
Gegensatz zu Deutschland ist das woanders in Europa,
wie zum Beispiel in Spanien, durchaus üblich.
Kommen wir zu den tatsächlichen Ausfuhren: Bei
Exporten wird vermerkt, dass und welche Exportgeneh-
migung vorliegt. Es besteht derzeit aber keine Übersicht
über die Höhe der real getätigten Exporte. Dabei geht es
um das Ausschöpfen von Exportgenehmigungen. Die
SPD-Bundestagsfraktion fordert daher eine gesetzlich
verankerte Informationspflicht der Unternehmen über
getätigte Exporte, welche es der Bundesregierung er-
möglicht, für alle Rüstungsgüter Zahlen über tatsächli-
che Ausfuhren vorzulegen. Eine solche Erhebung vorzu-
nehmen, ist auf europäischer Ebene schon angeregt
worden und wird zum Beispiel in Schweden seit Jahren
praktiziert.
Schließlich sind der Entschlackung die deutschen
Sondervorschriften zur Ausfuhr von Dual-Use-Gütern
zum Opfer gefallen. Begründet wird diese Aufhebung
mit der Geltung der europäischen Dual-Use-Verordnung,
dem bürokratischen Aufwand für die betroffenen Unter-
nehmen und dem Wettbewerbsnachteil gegenüber Wett-
bewerbern aus anderen Mitgliedstaaten. Nur, warum
bleiben sie aber auf europäischer Ebene untätig? Die
SPD-Bundestagsfraktion sieht eine große Aufgabe darin,
in Europa auf politischer und operationeller Ebene ver-
stärkt und innereuropäisch zusammenzuarbeiten. Sie
nutzen Europa nur als Grund zur Aufhebung der Sonder-
vorschriften und bleiben ansonsten untätig.
Die SPD-Bundestagsfraktion hat einen Entschlie-
ßungsantrag eingebracht. Darin fordern wir die Bundes-
regierung auf, ihren Gesetzentwurf zum Außenwirt-
schaftsrecht noch einmal zu überarbeiten. Die
wichtigsten Gründe habe ich schon genannt. Die SPD-
Bundestagsfraktion wird dem Gesetzentwurf, so wie er
derzeit vorliegt, nicht zustimmen.
Ulla Lötzer (DIE LINKE): Würde es im vorliegenden
Gesetzentwurf zur Modernisierung des Außenwirt-
schaftsrechts allein um die „Entschlackung“ und sprach-
liche Verbesserungen sowie die Anpassung an europäi-
sche Entwicklungen gehen, könnten wir dem Entwurf
möglicherweise zustimmen. Aber wie oft steckt der Teu-
fel im Detail. Zwar hat die die Fülle der Änderungen
nicht die Grundstruktur des Außenwirtschaftsgesetzes,
AWG, geändert. Aber hier liegt das Problem und setzt
unsere Kritik an. Denn wie bislang wird der Export von
Dual-Use-Gütern und Rüstungs- und Kriegswaffen nicht
ausreichend reguliert, begrenzt und damit verhindert.
Uns ist klar, dass das AWG einen viel breiteren Gel-
tungsbereich als Rüstungsexporte und Dual-Use-Güter
umfasst. Fakt ist jedoch auch, dass das AWG und seine
zugehörige Verordnung sowie das Kriegswaffenkontroll-
gesetz die zentralen Gesetze sind, die deutsche Rüs-
tungsexporte im weiteren Sinne maßgeblich ermögli-
chen. Der vorgelegte Gesetzentwurf erleichtert in der
Summe nun sogar den Export von Rüstungs- und Dual-
Use-Gütern.
Bisher gültige Restriktionen, die nach deutschem
Recht vorgeschrieben waren, aber nach europäischem
Recht nicht sind, entfallen. Beispielsweise kann laut al-
tem AWG die Ausfuhr von Gütern beschränkt werden,
die für die Entwicklung, Erzeugung oder den Einsatz
von Waffen, Munitionen oder Kriegsgerät nützlich sind.
Künftig soll dies nur noch für Güter gelten, die aus-
drücklich für die Entwicklung, Erzeugung oder den Ein-
satz von Waffen, Munitionen und Rüstungsgütern vorge-
sehen sind. Das heißt, die Güter müssen explizit für
diese Zwecke bestimmt sein. Damit wird zum einen eine
deutlich größere Bandbreite von Gütern abgedeckt. Zum
anderen wird der Exporteur aus der Verantwortung für
die spätere Verwendung seiner Güter schlicht entlassen.
27298 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Ebenso sollen nach der Novelle des AWG die ohnehin
weitreichenden und intransparenten Genehmigungen
ohne Befristung erteilt werden. Die Befristung wäre
zwar auch nach neuem Recht noch möglich, aber eben
nicht länger zwingend notwendig. Entsprechend könnten
Lieferungen für transnationale Rüstungskoproduktionen
nun ohne zeitliches Limit genehmigt werden. Die Folge
wäre ein maßgeblicher Kontrollverlust bei der Ausfuhr
der betroffenen Güter.
Schließlich sieht der Gesetzentwurf bei den Straf- und
Bußgeldvorschriften zwar einige Verschärfungen, aber
zugleich auch Erleichterungen vor. So muss etwa einem
Exporteur von Rüstungsgütern künftig nachgewiesen
werden, dass er vorsätzlich gegen die geltenden Gesetze
gehandelt hat. Fahrlässige Verstöße gegen das AWG
werden nur noch als Ordnungswidrigkeiten geahndet.
Lediglich leichtfertige Verstöße gegen ein Waffen-
embargo werden noch strafbewehrt.
Im Gegenzug hat es die Koalition völlig versäumt, in
die Novelle des AWG dringend notwendige Grenzen für
den Export von Rüstungsgütern mit aufzunehmen. Im
Entschließungsantrag der SPD wird in diesem Sinne die
Aufnahme der „Politischen Grundsätze der Bundesregie-
rung für den Export von Kriegswaffen und sonstigen
Rüstungsgütern“ angemahnt.
Aber wie schon in der Debatte im Wirtschaftsaus-
schuss angemerkt, würde dies nicht zur wirklichen Re-
duktion oder zu dem Stopp der Rüstungsexporte in
Kriegs- und Krisengebiete führen. Machen wir uns
nichts vor: Die politischen Grundsätze sind allesamt un-
verbindliche Absichtserklärungen ohne praktische Kon-
sequenz. Nach wie vor erhalten deshalb Diktaturen und
Regierungen, die schwere Menschenrechtsverletzungen
zu verantworten haben, relativ problemlos Rüstungs-
güter aus deutscher Produktion, wenn es denn dem au-
ßenpolitischen Interesse entspricht. Und so erreicht der
Export dieser Güter jedes Jahr ein neues Hoch. Deutsche
Waffen und zugehörige Güter finden sich weltweit in
steigenden Größenordnungen in allen Kriegs- und Kri-
sengebieten.
Die Interessen der deutschen Rüstungsindustrie auf
dem schwer umkämpften Markt geben den Takt vor,
nicht die Menschenrechte, insbesondere der Erhalt von
Frieden. Daran werden auch die leider zahmen Forde-
rungen der SPD nichts ändern, sollten sie ins AWG auf-
genommen werden. Sie sind politische Kosmetik und
dem schlechten Gewissen geschuldet – nicht mehr und
nicht weniger.
Aus diesen Gründen lehnen wir den vorliegenden Ge-
setzentwurf der Bundesregierung ab und können den
Entschließungsantrag der SPD ebenso wenig mittragen.
Von beiden Seiten wurde explizit versäumt, über klare
Verbote des Exports von Rüstungsexporten und entspre-
chende Dual-Use-Güter die bisher für unzählige Men-
schen tödliche deutsche Genehmigungspraxis bei Waffen-
ausfuhren nachdrücklich und wirksam zu unterbinden.
Katja Keul (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute
Morgen haben wir noch darüber diskutiert, was man
alles bei Rüstungsexporten ändern muss, und schon am
gleichen Abend bietet sich eine Gelegenheit, die neu ge-
wonnenen Erkenntnisse in Taten umzusetzen. Wir soll-
ten den Gesetzentwurf an den Ausschuss zurücküber-
weisen und gründlich überarbeiten. Das würde dann
auch zu den Verlautbarungen passen, mit denen einige
Abgeordnete der Koalition neuerdings öffentlich von
sich reden machen.
Neben den Kollegen Stinner, Polenz und Kiesewetter
hat nun auch der Kollege Djir-Sarai von der FDP
Reformbedarf und mehr Transparenz bei der Rüstungs-
exportkontrolle gefordert. Er kündigt noch in dieser
Legislaturperiode einen Vorstoß für mehr Transparenz
an. Hier wäre jetzt die Gelegenheit. Komisch nur, dass
davon in diesem Gesetzentwurf nichts zu finden ist. Da-
bei wäre das Außenwirtschaftsgesetz die richtige Stelle,
um transparente Verfahren gesetzlich zu verankern.
Zeitnahe Unterrichtung über Rüstungsexporte? Ein-
bindung des Bundestages bei sensiblen Exporten? Oder
gar eine gesetzliche Bindung an menschenrechtliche
Kriterien? Von alldem keine Spur. Nichts davon findet
sich in Ihrem Gesetzentwurf. Einen Änderungsantrag,
der darauf abzielte, den „Gemeinsamen Standpunkt der
EU zu Rüstungsexporten“ in das Gesetz zu integrieren,
haben Sie mit Ihrer Mehrheit im Ausschuss abgeschmet-
tert. Wie passt ein solches Verhalten mit Ihren öffentli-
chen Äußerungen zusammen? Sie versprechen etwas
und tun dann das genaue Gegenteil. Die Österreicher
haben es uns gerade vorgemacht und den Gemeinsamen
Standpunkt der EU in Sachen Rüstungsexporte in ihr
nationales Außenwirtschaftsgesetz übernommen.
Die formaljuristischen Bedenken aus dem deutschen
Wirtschaftsministerium sind nicht wirklich überzeugend.
Warum soll bei uns nicht möglich sein, was in anderen
europäischen Ländern längst gemacht wird? Dem Ent-
schließungsantrag der SPD stimmen wir daher gerne zu.
Wir wollen, dass Parlament und Öffentlichkeit künftig
vierteljährlich umfassend unterrichtet werden. Endver-
bleibskontrolle soll bei uns auch tatsächliche Kontrolle
vor Ort bedeuten und nicht nur ein Ehrenwort des Ver-
käufers umfassen. Neben dem Gemeinsamen Standpunkt
muss auch die Rüstungsexportrichtlinie gesetzlich
verankert werden. Menschenrechtskriterien sollen so
künftig verbindlich bei der Entscheidung berücksichtigt
werden.
Die Bundesregierung macht sich offensichtlich nur
Sorgen um die Nöte der Rüstungsindustrie und möchte
daher bewusst keine transparenten Verfahren. Deren
Strukturprobleme sind virulent: Die Staatsverschuldung
steigt, und die Einkaufslisten der westlichen Verteidi-
gungsminister werden kürzer. Die Interessenten der
Rüstungsindustrie kommen daher zunehmend aus Nicht-
NATO- oder Nicht-EU-Staaten. Allein mit den eigenen
Mitteln aus den westlichen Verteidigungsbudgets könnte
die europäische Rüstungsindustrie niemals ausgelastet
werden. Auch 20 Jahre nach dem Ende des Ost-West-
Konflikts sind die Überkapazitäten viel zu groß. Um die
heimische Rüstungsindustrie trotz knapper Kassen am
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27299
(A) (C)
(D)(B)
Leben erhalten zu können, werden daher Exportwünsche
der Firmen immer großzügiger beschieden.
Dabei ist auch das wieder einmal eine denkbar kurz-
sichtige Politik – nicht nur aus friedenspolitischer Sicht,
sondern auch aus der Perspektive der exportierenden
Industrie.
Es führt kein Weg daran vorbei, die europäische – und
mit ihr die deutsche – Rüstungsindustrie umfassend
umzubauen. Es muss nicht jeder Staat die ganze Ferti-
gungskette von militärischem Equipment vorhalten.
Solch ein antiquiertes Souveränitätsverständnis muss
endlich überwunden werden. Brauchen wir wirklich
schon allein in Deutschland zwei große Hersteller für ge-
panzerte Fahrzeuge? Wir brauchen stattdessen eine euro-
päische Definition von Kernfähigkeiten, das heißt, wir
müssen definieren, was militärisch gebraucht wird und
was davon auch tatsächlich selbst entwickelt und her-
gestellt werden muss. Wenn das geklärt ist, gilt es, den
übrigen Betreibern konsequent Hilfestellung beim
Umbau auf eine zivile Produktion zu leisten. Viele der
jetzigen Rüstungsbetriebe verfügen bereits über zivile
Sparten, die sie ausbauen könnten.
Selbst Gewerkschaften wie die IG Metall haben sich
hierüber bereits differenzierte Gedanken gemacht. Die
80 000 betroffenen Arbeitnehmer müssen deswegen
noch lange nicht auf der Straße stehen. Indem die Bun-
desregierung aber stattdessen weiterhin auf großzügige
Exportgenehmigungen setzt und sich einer restriktiven
Genehmigungspraxis verweigert, gibt sie der Rüstungs-
industrie falsche Anreize. Das Problem Ihres Gesetzes
ist weniger das, was darin steht, als das, was nicht darin
steht. Die Konkretisierung der Straftatbestände ist zwar
durchaus begrüßenswert, die eigentliche Chance der Ge-
setzesnovellierung ist damit allerdings nicht genutzt
worden.
Hans-Joachim Otto, Parl. Staatssekretär beim Bun-
desminister für Wirtschaft und Technologie: Mit der
Novellierung des Außenwirtschaftsrechts wird eine
wichtige Zusage aus dem Koalitionsvertrag eingelöst.
Unser Außenwirtschaftsrecht wird besser, indem die
ausgesprochen komplexen Vorschriften vereinfacht wer-
den. Dabei bleibt das hohe Kontrollniveau unangetastet.
Deutschland ist eine Exportnation, und deshalb ist das
Außenwirtschaftsrecht für uns so bedeutsam. Wir sind
weltweit drittgrößter Exporteur von Waren. Deshalb ste-
hen wir in einer besonderen Verantwortung: Kritische
Güter dürfen nicht in falsche Hände gelangen. Eine ef-
fektive Exportkontrolle setzt aber auch voraus, dass die
Vorschriften verständlich sind. Wir dürfen unsere
Exportunternehmen nicht mit unnötig komplizierten
Vorschriften belasten, sondern wir müssen dafür sorgen,
dass unsere hohen Standards in einen möglichst ver-
ständlichen Rechtsrahmen gefasst werden.
Warum brauchen wir diese Novelle? Unser Außen-
wirtschaftsrecht ist bereits 1961 in Kraft getreten.
Seitdem hat sich Europa kontinuierlich verändert. Die
EU-Mitgliedstaaten haben ein gemeinsames EU-Export-
kontrollrecht geschaffen.
Aufgrund der Kompetenzverteilung zwischen der
Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten müssen
unsere exportierenden Unternehmen daher sowohl euro-
päisches als auch nationales Recht beachten. Das trägt
zur Komplexität der Materie bei. Zu einer effektiven
Exportkontrolle gehört auch, dass das Exportkontroll-
system bei Bedarf an neue außen- und sicherheitspoliti-
sche Gefährdungen angepasst wird. Das war und ist ein
besonderes Anliegen des deutschen Gesetzgebers. Des-
halb wurde das Außenwirtschaftsgesetz seit 1961 etwa
60-mal geändert. Diese stetigen Überarbeitungen hatten
ihren Preis: Unser Außenwirtschaftsrecht ist besonders
unübersichtlich und schwer verständlich geworden.
Das ändert sich jetzt. Mit der Novelle wird das AWG
vereinfacht und übersichtlicher gestaltet. Die Experten
haben dies in der Anhörung am 10. Dezember letzten
Jahres bestätigt: Dieses Ziel erreichen wir, ohne die
hohen Standards anzutasten.
Worin besteht also diese Vereinfachung? Nach dem
Entwurf wird das AWG massiv gekürzt. Es entfallen ei-
nige Beschränkungsmöglichkeiten, die ausschließlich
industriepolitisch motiviert waren. Es bleibt bei den
klassischen außenwirtschaftsrechtlichen Beschränkun-
gen. Diese bleiben unangetastet. Die Novelle führt daher
nicht zu einer Vereinfachung beim Export von Rüstungs-
gütern. Das spricht auch gegen den Entschließungs-
antrag der SPD-Fraktion. Dieser würde das Gesetz nur
unangemessen aufblähen und neue bürokratische Anfor-
derungen einführen. Mit den Zielen der Novelle, ein ein-
faches Außenwirtschaftsrecht zu schaffen, hat das nichts
zu tun. Zudem wird die Achtung der Menschenrechte
schon nach geltendem Recht bei der Genehmigungs-
erteilung zwingend geprüft. Weiter wird das gesamte
Außenwirtschaftsrecht sprachlich überarbeitet. Es werden
Wertungswidersprüche zwischen dem europäischen Recht
und dem deutschen Außenwirtschaftsrecht beseitigt.
Schließlich möchte ich noch auf wichtige materiell-
rechtliche Änderungen hinweisen. Mit der Novelle
werden auch alle Straf- und Bußgeldbewehrungen über-
arbeitet. Es bestehen Zweifel, ob die Strafbewehrungen
nach dem geltenden AWG hinreichend bestimmt sind.
Das hat die Rechtsprechung kritisiert. Zudem ist die
Abgrenzung zwischen Straftaten und Ordnungswidrig-
keiten sehr schwierig.
Der Gesetzentwurf differenziert hier klar nach dem
Grad der Vorwerfbarkeit: Vorsätzliche Verstöße gegen
wesentliche Genehmigungserfordernisse oder Verbote
sind immer Straftaten. Fahrlässig begangene Verstöße
sind mit wenigen Ausnahmen Ordnungswidrigkeiten.
Mit dieser Anpassung ist eine klare Botschaft verbun-
den: Wer sich bewusst über das Außenwirtschaftsrecht
hinwegsetzt, wird bestraft. Das führt bei Vorsatztaten zu
einer Strafverschärfung im Vergleich zum Status quo.
Bei fahrlässigen Verstößen sieht der Entwurf dagegen
eine Erleichterung vor: Wenn dem Mitarbeiter eines
exportierenden Unternehmens versehentlich ein Fehler
unterläuft, wird er nicht kriminalisiert. Solche Mitarbei-
ter wollen sich eigentlich rechtstreu verhalten. In diesen
Fällen ist ein Bußgeld die angemessene Sanktion.
27300 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Lassen Sie mich zusammenfassen. Der Schwerpunkt
der Novelle liegt auf der Rechtsbereinigung und Verein-
fachung. Zudem gibt es eine deutliche Abgrenzung
zwischen strafbarem und ordnungswidrigem Verhalten.
Damit tragen wir zur Klarheit und Übersichtlichkeit des
Gesetzes bei – im Interesse unserer Exportunternehmen
und damit im Interesse Deutschlands.
Anlage 9
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Reisen für alle – Für
einen sozialen Tourismus (Tagesordnungs-
punkt 14)
Marlene Mortler (CDU/CSU): Ihr Antrag weist zu
Recht darauf hin, dass die Teilhabe aller Bevölkerungs-
kreise am Tourismus erklärtes Ziel der Bundesregierung
ist. In den Tourismuspolitischen Leitlinien der Bundes-
regierung vom Dezember 2008 heißt es: „Auch Men-
schen mit gesundheitlichen, sozialen oder finanziellen
Einschränkungen sollen reisen können“. Das ist auch un-
ser erklärtes Ziel. Es stimmt auch, dass die Bundesrepu-
blik sich grundsätzlich für einen nachhaltigen sozialen
Tourismus im Sinne der UNWTO-Menschenrechtskon-
vention einsetzt, die das Recht auf direkten und persön-
lichen Zugang zur Entdeckung und zu dem Genuss der
Ressourcen des Planeten für alle Bewohner der Welt ge-
währleisten soll. Hier ist aber eher die Reisefreiheit ge-
meint.
Ich gebe Ihnen recht, dass vielen Menschen das Geld
fürs Reisen fehlt. Das beste Mittel dagegen ist eine ver-
nünftige Wirtschaftspolitik, damit genügend Geld im
Lohnbeutel ist.
Wir sind auf gutem Weg: Gestern ging über den Ti-
cker: Tarifgehälter 2012 deutlich um 2,7 Prozent gestie-
gen. So weit so gut. Ehrlich gesagt fühle ich mich aller-
dings ein wenig wie vor 14 Tagen: Damals haben wir an
eben dieser Stelle einen Antrag Ihrer Fraktion zum
Thema Schulspeisung für alle debattiert. Der Dissens
zwischen uns von damals ist der von heute.
Sie tischen munter wünschenswerte Wohltaten auf.
Der Bund soll zahlen und koordinieren. Wir müssen uns
aber nicht nur fragen, was wünschenswert ist, sondern
auch: Was ist machbar? Und vor allem: Was leistet un-
sere Bundesregierung auf diesem Gebiet bereits? Eini-
ges! Und das, obwohl sie nach dem Grundgesetz nur den
Rahmen festlegen darf. Denn, wie Sie wissen bzw. wis-
sen sollten, fällt der Tourismus in die Zuständigkeiten
der Bundesländer. Deshalb richten sich Ihre Forderun-
gen an die falsche Adresse.
Zunächst zu Ihrer Forderung, die Bundesregierung
solle Mitglied in der Internationalen Organisation für
Sozialtourismus, IOST, werden und dort aktiv mitarbei-
ten: Die Forderung von Ihnen ist nicht neu. Wir haben
Sie bereits am 24. Februar 2011 hier an dieser Stelle de-
battiert. Damals wie heute lehne ich sie ab. Warum?
Erstens. Ein möglicher Nutzen einer Mitgliedschaft
Deutschlands in der bisher relativ unbekannten Interna-
tionalen Organisation für Sozialtourismus ist nur schwer
erkennbar. So sind zum Beispiel Praxisbeispiele anderer
Staaten oder Perspektiven des Sozialtourismus auf euro-
päischer Ebene schon Gegenstand des Projektes Calypso
der Europäischen Kommission, auf das auch ausdrück-
lich auf der Internetseite der IOST hingewiesen wird. In
dieser Studie konnte nicht belegt werden, wie die darge-
stellten Praktiken oder daraus abgeleitete mögliche euro-
päische Programme sich wirtschaftlich auswirken. Die
geplante Ausgestaltung von Calypso lässt die Entste-
hung eines Subventionswettlaufs zwischen den Mit-
gliedstaaten befürchten mit der Gefahr, dass sich fi-
nanziell selbst tragende Angebotsstrukturen zugunsten
subventionsabhängiger Strukturen verdrängt würden.
Eine solche mögliche Entwicklung lehnen wir ab.
Zweitens. Die Bundesregierung hat zu Recht darauf
hingewiesen, dass es sich auch haushaltspolitisch nicht
rechtfertigen ließe, mit staatlichen Mitteln den Urlaub
bestimmter Bevölkerungsgruppen in anderen Mitglied-
staaten zu finanzieren.
Drittens. In der Mitgliederliste der IOST finden sich
keine Regierungen, lediglich Ministerien einzelner Län-
der. Aus Deutschland ist das Bundes Forum Kinder- und
Jugendreisen dabei, das mit Mitteln des Kinder- und Ju-
gendplans des Bundes gefördert wird.
Sie fordern Reisezuschüsse für Hartz-IV-Empfänger.
Es ist bekannt, dass Hartz-IV-Empfänger nach der Er-
reichbarkeits-Anordnung keinen Anspruch auf Urlaub
haben. Diese dürfen nur verreisen, wenn die Arbeits-
agentur zustimmt; denn Arbeitslose müssen für kurzfris-
tige Jobangebote zur Verfügung stehen. Zuschüsse zum
Urlaub stehen Hartz-IV-Empfängern nicht zu. Kinder
von Hartz-IV-Empfängern brauchen allerdings auf Klas-
senfahrten nicht zu verzichten. Grundsätzlich ist die
Unterstützung von Klassenfahrten Sache der Schulträ-
ger; aber nach einer Reihe von Vorschriften wie SGB II,
SGB III, BKGG, AsylbLG und auch für Familien mit ge-
ringem Einkommen gibt es Zuschüsse für mehrtätige
Klassenfahrten.
Die Bundesregierung fördert zudem in erheblichem
Umfang den Bau und die Einrichtung von Familienferi-
enstätten, Jugendbildungs- und Begegnungsstätten, Ju-
gendherbergen, die internationale Jugendarbeit im Rahmen
des Kinder- und Jugendplans des Bundes sowie zum
Beispiel den gezielten bilateralen Jugendaustausch über
das Deutsch-Französische Jugendwerk und das Deutsch-
Polnische Jugendwerk. Es ist sogar vorgesehen, das
Budget für das DFJW für dieses Jahr um 1 Million Euro
zu erhöhen.
Darüber hinaus fördert der Bund Projekte der Natio-
nalen Koordinierungsstelle Tourismus für Alle, NatKo,
und der Arbeitsgemeinschaft Behinderung und Medien,
abm.
Hier möchte ich gern auf das Projekt „Zukunfts-
projekt Kinder- und Jugendtourismus in Deutschland“
hinweisen. Dieses wurde auf Initiative der christlich-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27301
(A) (C)
(D)(B)
liberalen Bundestagsfraktionen auf Betreiben des Bundes-
wirtschaftsministeriums gerade auf den Weg gebracht.
Auch die Länder engagieren sich: Sie unterstützen ge-
ringverdienende Familien bei der Finanzierung gemein-
samer Ferien zum Beispiel in gemeinnützigen Familien-
ferienstätten durch Individualzuschüsse. Ich verweise an
dieser Stelle auf neue vorbildliche Programme der Länder
Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt sowie „Familien-
begegnung mit Bildung“, die Ferien für Familien, Sozial-
hilfeempfänger anbieten, die nur sehr wenig oder nichts
kosten und in die auch Hartz-IV-Empfänger einbezogen
werden.
Auf lokaler Ebene gibt es weitere Programme zur
Kinder- und Jugenderholung zum Beispiel in Ferien-
lagern, die über Jugendämter aus öffentlichen Mitteln
finanziert werden, Unterstützung gibt es auch von freien
Trägern und den Kirchen.
Reisen lässt sich nicht von oben nach unten diktieren.
Welche Möglichkeiten gibt es, preisgünstiges Reisen
weiter zu fördern?
Wir müssen uns nicht nur um mehr Zuschüsse küm-
mern, sondern sollten dafür sorgen, dass das Angebot für
günstige Quartiere und Reisen erweitert wird. Auch das
ist aber Landessache bzw. eine kommunale Angelegen-
heit: An diese Stelle appelliere ich, den Investoren preis-
günstig Grundstücke oder vernünftige Liegenschaften
zur Verfügung zu stellen oder eigene Grundstücke fürs
Campen, wie zum Beispiel in Frankreich. Kommunen
müssen Angebote vorhalten.
Ich weiß, dass es zurzeit mehrere private Investoren
gibt, die Platz zum Bauen von Hotels suchen. Dazu ge-
hört aber ebenso die Bereitschaft des einheimischen
Gast- und Hotelgewerbes, neue Hotels zuzulassen. Ich
kenne aus der Praxis in Bayern durchaus Beispiele, wo
neue Investoren bei den Einheimischen auf Granit gebis-
sen haben.
Was Ihre Forderung nach der Erhebung von statisti-
schen Reisedaten zum Sozialtourismus betrifft, bin ich
der Ansicht: Man sollte Daten erheben, die nicht nur den
Sozialtourismus, sondern die gesamte demografische
Entwicklung mit Blick auf das Reiseverhalten insgesamt
im Fokus haben und die von Ihnen genannten Personen-
gruppen um die der Migranten erweitern.
Aus den oben genannten Gründen ist Ihr Antrag ins-
gesamt abzulehnen.
Ingbert Liebing (CDU/CSU): Der vorliegende An-
trag kritisiert die Bundesregierung für die mangelnde
Förderung eines sozialen Tourismus’ in Deutschland.
Die Fraktion der Linken fordert, dass sich die Bundesre-
gierung in diesem Bereich mehr engagiert und ein Pro-
gramm zur Durchsetzung eines sozialen Tourismus’ vor-
legt.
Für die CDU/CSU-Fraktion ist die Teilhabe aller Be-
völkerungsgruppen am Tourismus ein wichtiges Thema.
Dies bezieht sich unter anderem auf Menschen aller Al-
tersgruppen, Personen mit geringem Einkommen oder
Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Für all
diese Gruppen bietet Tourismus einen wichtigen Zugang
zu Erholung, Bildung und dem Kennenlernen anderer
Umgebungen. Dies ist uns durchaus bewusst, und so ist
die umfassende Teilhabe aller Menschen an touristischen
Angeboten erklärtes Ziel der Bundesregierung. Und zu
diesem Ziel stehen auch wir als CDU/CSU-Fraktion. Mit
ihrem Antrag verliert die Linke dagegen aus den Augen,
wie vielfältig „Tourismus für alle“ in Deutschland be-
reits durch die Bundesregierung gefördert wird.
Zunächst möchte ich auf eine generelle inhaltliche
Schwäche des Antrags eingehen. Die Linke fordert die
„Stärkung von Verantwortung und Kompetenzen des
Bundes für einen sozialen Tourismus“. Gesetzlich ist
aber festgelegt, dass Tourismusförderung primär eine
Kompetenz der Länder ist. Ebenso wird die Wiederauf-
nahme der Landesförderung für Familienreisen gefor-
dert. Hier ist die Bundesregierung jedoch klar der fal-
sche Adressat. Die Fraktion der Linken sollte sich
zunächst einmal über die Kompetenzaufteilung der Bun-
desrepublik informieren, bevor sie solche Forderungen
stellt.
Eine weitere konkrete Forderung bezieht sich auf die
Bereitstellung von Mitteln im Rahmen der Regelbedarfs-
sätze. Die Regelsätze im SGB II sind jedoch rechtssicher
ausgestattet, vom Bundesverfassungsgericht bestätigt.
Darüber hinausgehende Wohltaten zu versprechen, mag
für die Linken attraktiv sein – verantwortungsvoll ist das
nicht angesichts der notwendigen Haushaltskonsolidie-
rung, der Schuldenbremse, aber auch angesichts des Ge-
bots sozialer Gerechtigkeit. Je mehr wir für SGB-II-
Bezieher bieten, umso mehr empfinden dies die Gering-
verdiener, die knapp über der Einkommensgrenze lie-
gen, also sozial ungerecht.
Zudem wird der Kinder- und Jugendtourismus bereits
in umfassender Weise durch die Bundesregierung unter-
stützt. Das Jahr 2013 steht im Zeichen des von der Deut-
schen Zentrale für Tourismus ausgerufenen Themenjah-
res „Junges Reiseland Deutschland“. Für 2013 wird
allein die DZT mit 28,275 Millionen Euro durch die
Bundesregierung gefördert. Denn gerade für Kinder und
Jugendliche haben Reisen eine große soziale und päda-
gogische Bedeutung.
So werden viele Projekte gefördert: Für Jugendbil-
dungs- und Jugendbegegnungsstätten stehen auch in die-
sem Jahr wieder 3 Millionen Euro zur Verfügung. Im
Rahmen des Kinder- und Jugendplans stellt die Bundes-
regierung für die Internationale Jugendarbeit 17,9 Mil-
lionen Euro bereit. Ebenso erhält das Deutsch-Französi-
sche Jugendwerk im Jahr 2013 Fördermittel in der Höhe
von 11,226 Millionen Euro. Auch im 2012 begonnenen
„Zukunftsprojekt Kinder- und Jugendtourismus in
Deutschland“, dessen Trägerschaft das Deutsche Ju-
gendherbergswerk innehat, fördert das BMWi die Ange-
bote sowohl gemeinnütziger als auch kommerzieller An-
bieter. Hier liegt das Gesamtbudget bei 325 000 Euro,
Eigenanteil DJH 32 500 Euro.
Positives Beispiel für die Förderung gemeinsamer
Urlaube mit der gesamten Familie ist auch die Bundes-
arbeitsgemeinschaft Familienerholung. Seit den 50er-
Jahren werden in rund 120 Familienerholungsstätten in
27302 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
ganz Deutschland kostengünstige Urlaubsangebote ge-
macht. Dabei richtet sich die Förderung unter anderem
auch an alleinerziehende Elternteile, kinderreiche Fami-
lien oder solche mit behinderten oder pflegebedürftigen
Angehörigen. Diese gehören unter anderem zu den Be-
völkerungskreisen, deren Förderung die Linke im vorlie-
genden Antrag fordert.
Doch auch außerhalb des Kinder- und Jugendtouris-
mus’ setzt sich die Bundesregierung für eine verbesserte
Teilhabe an touristischen Angeboten ein. Besonders
durch barrierefreie Angebote können große Teile der Be-
völkerung profitieren. Obwohl es hier schon viele posi-
tive Beispiele gibt, müssen die Angebote noch ausge-
weitet und verbessert werden. Dies geschieht zum
Beispiel durch das Projekt „Tourismus für alle: Entwick-
lungen und Vermarktung barrierefreier Angebote und
Dienstleistungen in Deutschland“, welches die Bundes-
regierung mit fast 500 000 Euro unterstützt. Zentrales
Anliegen dieses Projektes ist es, den barrierefreien Tou-
rismus zu erleichtern und die Teilhabe von Menschen
mit Mobilitätseinschränkungen zu verbessern. Dies soll
etwa durch einheitliche Qualitätsmerkmale oder die Sen-
sibilisierung von Mitarbeitern geschehen.
Zuletzt möchte ich auch auf die vielfältigen Urlaubs-
formen hinweisen, die außerhalb der direkten Förderung
der Bundesregierung günstigen, aber attraktiven Urlaub
ermöglichen. Gerade in ländlichen Räumen werden be-
sonders Familien, aber auch Senioren, Geringverdienern
oder Menschen mit körperlichen Einschränkungen her-
vorragende Urlaubsangebote gemacht.
Ein letzter Punkt, der gegen diesen Antrag spricht und
den ich besonders hervorheben möchte, betrifft die er-
neut geforderte Mitgliedschaft in der International Orga-
nisation of Social Tourism. Dieses Thema hatten wir erst
vor zwei Jahren im Plenum auf der Tagesordnung und
haben es sowohl hier als auch in den Ausschüssen inten-
siv diskutiert. Schließlich wurde der dazugehörige An-
trag aus gutem Grund abgelehnt. Neben allgemeinen for-
malen Bedenken, nach denen die Beteiligung der
Bundesrepublik in einer vornehmlich von Nichtregie-
rungsorganisationen geprägten Organisation eher frag-
würdig ist, sprach vor allem die umfassende Förderung,
die die Bundesregierung in diesem Bereich schon vor-
nimmt, gegen die Mitgliedschaft. Diese wäre nicht ziel-
führend gewesen. Warum die Linke diesen bereits inten-
siv diskutierten Punkt innerhalb so kurzer Zeit erneut auf
die Tagesordnung setzt, ist mir nicht klar. Er spricht klar
gegen den vorliegenden Antrag.
Es ist offensichtlich, dass der vorliegende Antrag der
Fraktion der Linken wenig hilfreich ist. Nicht nur, dass
der Antrag die gesetzlich festgelegte Kompetenzauftei-
lung von Bund und Ländern ignoriert; auch kommende
Generationen werden uns dankbar sein, dass wir lang-
fristig die Belastung durch einen ausgeglichenen Haus-
halt gering halten, anstatt diesen durch Urlaubsförderung
weiter hinauszuschieben.
Die vielfältigen Angebote und Projekte, die die Bun-
desregierung mit initiiert hat und fördert, zeigen deut-
lich, wie sehr sie sich für den umfassenden Zugang aller
Bevölkerungskreise zu touristischen Angeboten einsetzt.
Dieses Engagement wird zusätzlich von einer großen
Zahl an Initiativen der Länder und Kommunen komple-
mentiert.
Eine letze Anmerkung möchte ich aber gerade an die
Adresse der Antragssteller der Fraktion Die Linke anfü-
gen: Sie schreiben von einem Recht auf Tourismus. Als
direkte Nachfolger der SED ist dies eine unglaubliche
Dreistigkeit. Sie stehen in der Tradition derer, die ihr
Volk in der damaligen DDR mit Mauer und Stacheldraht
eingesperrt haben, in einem Land, in dem es kein Recht
auf Tourismus und kein freies Reisen gab. Und Sie reden
heute von einem solchen „Recht auf Tourismus“? Mit
dieser Vergangenheit ist die Fraktion der Linken die al-
lerletzte, die solche Forderungen stellen darf.
Gabriele Hiller-Ohm (SPD): Wir haben heute erneut
die Gelegenheit, über ein wichtiges Thema zu sprechen.
Sind Reisen und Urlaub für alle erschwinglich? Dabei
geht es um die zentrale Frage, ob alle Menschen Chan-
cen auf Teilhabe in unserer Gesellschaft erhalten. So bit-
ter wie es ist: Dass wir in dieser Frage von der Regie-
rung und den Koalitionsfraktionen keine Initiative
erwarten können, dürfte in diesem Hause niemanden
mehr überraschen. Erst gestern hat das Kabinett ent-
schieden, den vierten Armuts- und Reichtumsbericht,
auf den wir seit etlichen Monaten vergeblich warten,
noch weiter hinauszuzögern und – ich nehme an – den
Bericht noch stärker zu verwässern. Schwarz-Gelb will
offensichtlich keine offene Debatte über die Entwick-
lung von Arm und Reich in diesem Land. Beschämend
ist das.
Die Fraktion die Linke hat uns einen Antrag vorge-
legt, der besagt: Alle Menschen sollen am Tourismus
teilhaben können. Dafür setzt sich die SPD seit langem
ein. Wir haben 2009 in den Tourismuspolitischen Leitli-
nien der Bundesregierung festgelegt: „Auch Menschen
mit gesundheitlichen, sozialen und finanziellen Ein-
schränkungen sollen reisen können.“ Die SPD-Fraktion
hat in dieser Wahlperiode mehrere Initiativen für die
Teilhabe am Tourismus ins Parlament gebracht. Vor al-
lem Menschen mit Behinderungen finden noch viele
Barrieren vor, die ihnen das Reisen unmöglich machen.
Das müssen wir gemeinsam mit den Ländern und
Kommunen ändern. Weg mit den Barrieren – reißen wir
sie ein! Wir haben 2011 einen umfangreichen Maßnah-
menkatalog für barrierefreien Tourismus in Deutschland
vorgelegt. Schwarz-Gelb hat diesen leider abgelehnt.
Teilhabe am Tourismus ist aber auch eine Frage von
Arm oder Reich. Fest steht: Wir sind weit davon ent-
fernt, dass sich jede Familie, Alleinerziehende mit Kin-
dern und jeder Rentner eine Urlaubsreise leisten kann.
Deshalb ist es richtig, Menschen, die aus eigener Tasche
keinen Urlaub stemmen können, zu unterstützen. Wir
wissen alle: Besonders Kinder und Heranwachsende
profitieren von Reisen in ihrer Persönlichkeitsentwick-
lung. Für Familien, die besonders wenig zum Leben
haben und auf Arbeitslosengeld I oder Sozialhilfe ange-
wiesen sind, springt der Staat für mehrtägige Klassen-
fahrten der Kinder und Jugendlichen ein. So ist gesi-
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chert, dass die Kinder nicht außen vor bleiben, wenn ihre
Klasse verreist.
Die SPD hat in den Hartz-IV-Verhandlungen Anfang
2011 erreicht, dass auch eintägige Schulausflüge finan-
ziert werden. Ebenso haben wir uns im Vermittlungsaus-
schuss erfolgreich dafür eingesetzt, dass vom Bildungs-
und Teilhabepaket auch Kinder aus Familien profitieren,
die Kinderzuschlag und Wohngeld beziehen. Dadurch
haben rund 500 000 Kinder und Jugendliche zusätzlich
Anspruch auf die monatlichen 10 Euro, die auch für Fe-
rienfreizeiten angespart werden können. CDU/CSU und
FDP wollten das verhindern. Gut, dass Schwarz-Gelb im
Bundesrat nicht mehr an der SPD vorbeikommt, schon
gar nicht mehr nach dem tollen Wahlsieg von Stephan
Weil in Niedersachsen.
Wir haben auch die Berechnung der Regelsätze von
Arbeitslosengeld II, Sozialhilfe und Grundsicherung im
Alter kritisiert. Frau von der Leyen rechnet zum Beispiel
bei der dem Regelsatz zugrunde liegenden Auswertung
der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe die Ausga-
ben für Beherbergungskosten einfach heraus. Auch
durch andere „Tricks“ vermindert die Sozialministerin
den Regelsatz künstlich. Verstecken, Tricksen, Aussit-
zen – so sieht das Programm der Regierung Merkel aus.
Die Linke spricht in ihrem Antrag die Finanzierung
von Familienerholung und damit eine traurige Bilanz an:
Mittlerweile haben sechs der sechzehn Bundesländer die
Zuschüsse eingestellt. Dies sind vor allem Länder, wo
Schwarz-Gelb noch regiert oder bis vor kurzem in Ver-
antwortung war. 2011 haben CDU und FDP die Landes-
zuschüsse auch in meinem Bundesland, Schleswig-Hol-
stein, gestrichen. Nun führt die SPD die Regierung im
schönen Norden. Ich hoffe, dass sich der Wind damit
zwischen Nord- und Ostsee dreht und Reisen für Fami-
lien mit geringem Einkommen wieder vom Land unter-
stützt werden.
Die Debatte zeigt aber auch: Es muss genügend preis-
werte Urlaubsangebote geben. Diese stellen zum Beispiel
das Jugendherbergswerk, die Bundesarbeitsgemeinschaft
Familienerholung, Gewerkschaften, Sozialverbände, Kir-
chen, Naturfreunde und viele andere Einrichtungen be-
reit. Die Linke fordert hier zu Recht mehr Investitionen.
Denn viele Unterkünfte leiden unter einem Renovie-
rungsstau. Dieser verstärkt sich noch, wenn die staatliche
Förderung, so wie jetzt, zurückgefahren wird.
Sehr geehrte Mitglieder der Regierungskoalition, ge-
nau das haben Sie zu verantworten. Sie haben im Haus-
halt 2013 die Mittel für Jugendherbergen, Jugendbil-
dungs- und Begegnungsstätten um 1,5 Millionen Euro
auf nur noch 3 Millionen Euro gekürzt. Damit brechen in
vielen Häusern weitere Mittel weg. Sanierungen, Erwei-
terungen, Neubauten müssen damit verschoben werden
oder bleiben ganz auf der Strecke. Die SPD hat sich im
Haushaltsausschuss mit einem Antrag gegen die Kür-
zungen gestellt. Den haben CDU/CSU und FDP abgebü-
gelt – zulasten der Jugendherbergen und anderer Ein-
richtungen. Das ist der falsche Weg.
Der Antrag der Fraktion Die Linke geht dagegen in
die richtige Richtung. Einige der Forderungen sind aller-
dings fragwürdig. Sie fordern, das Thema Sozialtouris-
mus in alle touristischen Aus- und Weiterbildungen auf-
zunehmen. Ich glaube nicht, dass dies unbedingt in den
Lehrplan angehender Köche oder Restaurantfachfrauen
gehören muss. Auch Ihre erneute Forderung, dass deut-
sche Behörden in der Internationalen Organisation für
Sozialtourismus, kurz ISTO, mitarbeiten sollen, halten
wir nicht für stichhaltig, da kaum andere staatliche Stel-
len Mitglied der ISTO sind. Zudem ist Deutschland mit
dem BundesForum Kinder- und Jugendreisen bereits gut
vertreten. Alle Menschen müssen sich einen Urlaub leis-
ten können. Das muss unser Anspruch sein.
Das Kernproblem, das diese Regierung nicht löst, ist
doch, dass die Einkommen der Menschen zu niedrig
sind. Wir brauchen endlich einen flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlohn und eine höhere Tarifbindung,
indem die Tarifverträge leichter allgemeinverbindlich
werden können. Das sichert gute Löhne. Davon will
Schwarz-Gelb aber nichts wissen. CDU/CSU und FDP
haben kein Interesse, allen Bürgerinnen und Bürgern
Teilhabechancen zu gewähren. Das müssen die Men-
schen wissen, wenn Sie am 22. September 2013 zur
Wahl gehen.
Jens Ackermann (FDP): Reisen für alle; für einen
sozialen Tourismus. – Wer da nicht sofort an 40 Jahre
FDGB-Heime und Ernteeinsätze unter dem Deckmantel
der netten Feriengestaltung denkt, der hat die DDR nicht
erlebt oder verdrängt. In ihrem Antrag fordern die Linken
dann auch, wie man es von ihnen gewohnt ist, eine ganze
Reihe von Maßnahmen auf nationaler, europäischer und
gar internationaler Ebene – egal ob es realistisch ist oder
einfach nur schön klingt. Natürlich sei es jedem Bürger
unseres Landes vergönnt, zu reisen oder in den Urlaub zu
fahren. Doch jeder, vor allem jede junge Familie weiß,
dass Urlaub nun mal nicht alltäglich, sondern etwas Be-
sonderes ist. Auch Familien aus der sogenannten Mittel-
schicht können nicht jederzeit in den Urlaub reisen; denn
auch sie haben zuerst andere, wichtigere – grundlegen-
dere – finanzielle Verpflichtungen.
Dann stellt sich mir auch noch die Frage, wo für die
Linken Urlaub oder Reisen anfängt. Reicht es nicht
manchmal, mit der S-Bahn raus an den Müggelsee zu
fahren? Muss man denn immer die Ferne als das einzige
Reiseerlebnis anpreisen? Ich glaube jedes Kind erinnert
sich mehr an die lustigen und schönen Momente mit lie-
ben Menschen – egal wo diese stattfanden.
Für mich und meine Fraktion steht es aber natürlich
außer Frage, dass den Menschen die Möglichkeit gege-
ben werden sollte, frei zu entscheiden, was sie mit ihrer
Freizeit anfangen wollen. Dazu haben wir auch bis heute
einen sehr wichtigen Beitrag geleistet. 2012 waren so
viele Menschen in Deutschland erwerbstätig wie noch
nie zuvor. Mit durchschnittlich 416 000 mehr Erwerbstä-
tigen als 2011 konnte der Rekord aus dem vorangegan-
genen Jahr nochmals gebrochen werden. Zudem gab es
im vergangenen Jahr mit durchschnittlich 2,897 Millio-
nen so wenige Arbeitslose wie seit über 20 Jahren nicht
mehr. Die teilweise verheerende Arbeitsmarktsituation
in vergleichbaren europäischen Ländern zeigt, wie ro-
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bust der deutsche Arbeitsmarkt mittlerweile ist. Nur so
kann Teilhabe für alle geschaffen werden. So werden die
Rentenkassen aufgefüllt und am Ende haben alle etwas
davon.
Wir wollen keine Fördermittel oder Geldgeschenke
mit der Gießkanne verteilen. Wir möchten, dass alle
Menschen in unserem Land in Lohn und Brot stehen und
sich damit ihre Freizeit selbst so gestalten, wie sie es
gerne möchten und für richtig halten. Es soll auch tat-
sächlich Bürgerinnen und Bürger geben, die nicht gerne
reisen.
Dass noch in diesem Jahr alle mehr im Geldbeutel ha-
ben werden und sich dafür vielleicht auch so etwas wie
einen Ausflug oder eine kleine Reise leisten können, da-
rauf sind wir stolz. So haben wir als christlich-liberale
Koalition beschlossen, den steuerlichen Grundfreibetrag
in zwei Stufen 2013 und 2014 um insgesamt 350 Euro
anzuheben. Parallel dazu soll die kalte Progression abge-
mildert werden, indem der Tarifverlauf so angepasst
wird, dass die Steuersätze erst bei einem höheren
Einkommen greifen. Damit hat unsere Koalition Entlas-
tungen von 6,1 Milliarden Euro auf den Weg gebracht.
Dieses Projekt wird leider zulasten der kleineren und
mittleren Einkommen von Rot-Grün im Bundesrat
blockiert. Die Praxisgebühr wurde abgeschafft. Die Pa-
tienten und damit genau jene Familien werden im Jahr
um bis zu 160 Euro entlastet. Das Arbeitslosengeld II
steigt. Der Regelbedarf steigt auf 382 Euro. Das alles
sind Schritte, um soziale Annäherung zu schaffen – nicht
die Forderung nach einem sozialen Tourismus. Den
brauchen wir dann nämlich nicht. Wir blicken trotz der
Krisenmeldungen aus Europa und der Welt auf eine po-
sitive Entwicklung in Deutschland und so soll es unserer
Meinung nach auch weitergehen.
Ich möchte jetzt noch auf eine der Forderungen aus
ihrem Forderungskatalog eingehen, liebe Linksfraktion.
Es gibt seit 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket, das
schon jetzt ein- oder mehrtägige Klassenreisen von Kin-
dern unterstützt, sodass es zukünftig nahezu jedem Kind
möglich sein sollte, an einer Klassenfahrt teilzunehmen.
Im Übrigen hatte die Linke zehn Legislaturperioden
Zeit, all diese Maßnahmen vorzubereiten. Leider hat sie
diese Zeit, wie so oft, nicht genutzt, um Wohlstand und
Freiheit zu mehren – ganz im Gegenteil.
Kornelia Möller (DIE LINKE): Unser Antrag ist ein
Plädoyer für mehr Solidarität im Tourismus, und zwar
national wie auch international. Der aktuelle EU-Sozial-
bericht gibt erneut Anlass, das Thema Solidarität ganz
oben auf die Agenda der Politik zu setzen. In Europa
driften arme und reiche Länder immer weiter auseinan-
der, und die Krisenbewältigungspolitik der Bundesregie-
rung reißt diese Kluft noch weiter auf. Und auch im ei-
genen Land besteht ein großes Solidaritätsdefizit.
Deswegen musste der Armuts- und Reichtumsbericht
der Bundesregierung auch weichgespült werden.
Im Tourismus vertieft und verfestigt sich eine Zwei-
klassengesellschaft als Folge des Auseinanderdriftens
der Einkommen. Diese Entwicklung wollen wir nicht
hinnehmen.
Die Tourismuspolitik der Koalition ist gekennzeich-
net durch einseitige ökonomische und Gewinnausrich-
tung, durch Marktgläubigkeit, durch Entsolidarisierung,
durch schlechte Arbeits- und Einkommensbedingungen
für viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in der
Branche und eine tiefe soziale Spaltung des inländischen
touristischen Kundenpotenzials. Die vorliegenden Fak-
ten sprechen eine klare Sprache: In Deutschland ist ein
großer Teil der Bevölkerung vom Tourismus ausge-
schlossen.
Die Tourismuspolitik der Bundesregierung ist euro-
pafeindlich, vor allem, wenn es um sozialen Tourismus
geht. Das zeigte bereits die Debatte zum Antrag der
Linksfraktion zur Mitarbeit im Rahmen der Internationa-
len Sozialtouristik-Organisation, ISTO. Bei Merkel und
Co. dominierten nationaler Egoismus, wenn sie die Mit-
arbeit im Rahmen der EU-Initiative Calypso strikt ableh-
nen, wenn sie das zweifellos erhebliche touristische
Potenzial der Bundesrepublik und die Erfahrungen auf
diesem Gebiet nicht in den Dienst der Verbesserung des
europäischen Sozialtourismus stellen wollen. Die Argu-
mente sind teilweise haarsträubend: Frau Mortler, Vor-
sitzende der CDU/CSU-Fraktionsarbeitsgruppe Touris-
mus, wollte zum Beispiel verhindern, „dass deutsche
Steuerzahler den Urlaub beispielsweise dänischer Rent-
ner in Spanien finanzieren“. Das ist völlig aus der Luft
gegriffener Unsinn. Da werden Gespenster an die Wand
gemalt, um Solidarität zu verhindern. Noch abenteuerli-
cher ist das Argument, dass es sich bei einem öffentlich
geförderten Urlauberaustausch über Ländergrenzen hin-
weg „um Ausgrenzung“ handelt und sich die „betroffe-
nen Menschen als Reisende zweiter Klasse fühlen müss-
ten“. Liebe Frau Mortler, was glauben Sie, wie sich jene
Menschen in unserem Land fühlen, denen jegliches Rei-
sen, Urlaub überhaupt, aufgrund ihrer sozialen Situation
verwehrt sind? Bei solcher Geisteshaltung ist es nicht
verwunderlich, dass dem Vorschlag des EU-Industrie-
kommissars Tajani von 2012, zwecks besserer Auslas-
tung von Urlaubsunterkünften in der Nebensaison Rei-
sen für Seniorinnen und Senioren mit öffentlichen
Mitteln zu subventionieren, von deutscher Seite sofort
eine Abfuhr erteilt wurde, und dies, obwohl Tajanis Vor-
stoß in erster Linie auf höhere Steuereinnahmen zielte.
Wir meinen: Bei allen großen und wichtigen europäi-
schen Sozialtourismusinitiativen sollte Deutschland mit
seinem Potenzial nicht länger abseits stehen.
Und ist es nicht ein Armutszeugnis, wenn die deut-
sche Reisebranche zwölf Jahre brauchte, um den Globa-
len Ethik-Kodex der Welttourismusorganisation zu un-
terschreiben, der die Förderung des Sozialtourismus
ausdrücklich fordert?
Solidarität darf kein Lippenbekenntnis sein. Notwen-
dig sind konkrete politische Weichenstellungen. Genau
darauf zielt unser Antrag. Er beinhaltet einen ganzen
Komplex von Maßnahmen für einen sozialen und solida-
rischen Tourismus und bildet deshalb ein scharfes
Kontrastprogramm zur gegenwärtigen schwarz-gelben
Tourismuspolitik. Wir erinnern Sie von den Regierungs-
parteien damit an ihre eigenen tourismuspolitischen
Leitlinien, an den Vorsatz, dass auch Menschen mit ge-
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sundheitlichen, sozialen und finanziellen Einschränkun-
gen reisen können sollen – ein Versprechen, das Sie bis-
her nicht eingelöst haben.
Die Linksfraktion fordert ein ausreichendes Budget
für Erholungsurlaub für Bedarfsgemeinschaften und Fa-
milien mit Kindern im Rahmen der Regelbedarfssätze
des SGB II sowie des SGB XII und die Aufstockung von
öffentlichen Mitteln für die Finanzierung von Projekten
des sozialen Tourismus. Das ist überfällig.
Einen Schwerpunkt sehen wir in der verstärkten öf-
fentlichen Förderung des Familienurlaubs sowie von
Reisen Alleinerziehender mit Kindern. Das Niveau ver-
gangener Jahre muss wieder erreicht werden. Denn die
Reiseintensität von Familien ist innerhalb von 20 Jahren
um 11 Prozent zurückgegangen. 2010 verreiste nur noch
gut jede zweite Familie für mindestens fünf Tage. Wir
halten die Wiederaufnahme und Erweiterung der
Landesförderung für Familienreisen in verschiedenen
Bundesländern für dringend notwendig und plädieren
auch dafür, den Zugang zu diesen Reisen zu vereinfa-
chen, zu entbürokratisieren und weitgehend zu verein-
heitlichen. Vielfach scheitert gefördertes Reisen an büro-
kratischen Barrieren.
Mit der stärkeren Förderung von Familienreisen wird
unsere Gesellschaft nicht nur kinderfreundlicher. Auch
der Umsatz der Branche mit der touristischen Kernziel-
gruppe Familien kann wieder erhöht werden. In vielen
Fällen bringt mehr Solidarität im Tourismus der Branche
und auch den Kommunen einen Zuwachs an Einnahmen
und sichert vor allem Arbeitsplätze. Das belegen auch
Fakten aus dem internationalen Sozialtourismus.
Vielfältige Erfahrungen besitzt unser Land im geför-
derten Kinder- und Jugendtourismus. Aber die Möglich-
keiten sind bei weitem nicht ausgeschöpft. Deshalb
begrüßen wir das von der Regierung geförderte „Zu-
kunftsprojekt Kinder- und Jugendtourismus in Deutsch-
land“. Aber noch ist nicht erkennbar, ob gerade jenen
Gruppen damit eine besondere Förderung zuteil wird,
die bisher außen vor geblieben sind. Dabei muss ins
Bewusstsein gerufen werden, dass noch vor drei Jahren
Urlaubsreisen für mehr als ein Fünftel der Haushalte mit
Kindern unter 14 Jahren finanziell unerschwinglich wa-
ren. Aktuellere Zahlen kann ich Ihnen hierzu leider nicht
präsentieren, weil der Aufbau einer soliden Statistik zur
sozialen Struktur des Tourismus leider bisher versäumt
wurde – vielleicht sogar bewusst?
Wir setzen uns mit unserem Antrag dafür ein, auch
dieses Versäumnis aus der Welt zu schaffen. Tourismus
hat eine wichtige soziale Dimension, und für staatliche
Entscheidungen auf diesem Gebiet, die das Leben von
Millionen bestimmen, braucht man seriöse Fakten. Öko-
logische und soziale Nachhaltigkeit im Tourismus – ein-
geschlossen auch weitere Fortschritte bei der Barriere-
freiheit – kann, wie wir wissen, nicht dem Markt
überlassen bleiben, sondern braucht politische Gestal-
tung. Und als Teil einer solchen politischen Gestaltung
betrachten wir das von der Linksfraktion vorgeschlagene
Fünfjahresprogramm für sozialen Tourismus, das die
Bundesregierung dem Bundestag vorlegen soll. Wohl-
bemerkt: Die Bundesregierung soll dieses Programm
vorlegen. Damit dürfte wohl ausgeschlossen sein, dass
es sich um die Rückkehr zu FDGB-Reisen handelt, wie
es in einigen gehässigen Kommentaren bereits hieß – ob-
gleich Frau Merkel die positiven Auswirkungen der
FDGB-Reisen kennen sollte.
Für alle anderen möchte ich hier auf einen großen
Unterschied im Vergleich zwischen FDGB-Feriendienst
und den heutigen kümmerlichen Ansätzen eines Sozial-
tourismus in der Bundesrepublik hinweisen: Weil soziale
Gerechtigkeit, Erholung, Bildung, Reproduktion des
Arbeitsvermögens als oberste Prinzipien der Ferienpoli-
tik des FDGB galten und die Reisen erschwinglich und
preislich stabil waren – und deshalb so begehrt und von
Millionen Menschen genutzt –, hat ihre Bereitstellung
die damaligen ökonomischen Möglichkeiten überschrit-
ten. Die heutige Bundesrepublik als ein reiches Land
besitzt diese ökonomischen Möglichkeiten; trotzdem
sind Millionen Menschen, darunter ein Drittel Kinder,
von Urlaubsreisen ausgeschlossen. Diesen fundamenta-
len Unterschied kann man auch mit Diffamierungen
nicht überdecken.
Ich hätte mir als Kind eine FDGB-Reise gewünscht.
Dazu kam es aber nicht, weil ich im Westen geboren und
aufgewachsen bin.
Markus Tressel (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wir
haben heute wieder ein außerordentlich wichtiges
Thema auf der Tagesordnung, den Sozialtourismus. Tou-
rismus an sich hat ja viele, auch soziale, Aufgaben, die
man ihm auf den ersten Blick nicht immer direkt zu-
schreibt. Deswegen ist es gut und richtig, dass wir dieses
Thema heute noch einmal intensiv beleuchten.
Für uns Deutsche hat das Reisen bekanntermaßen ei-
nen hohen Stellenwert, und gerade in Zeiten steigenden
Stresses – wir haben ja zuletzt in dieser Woche zur
Kenntnis nehmen müssen, dass Stress und Burnout sich
immer weiter verbreiten – ist es wichtig, dass Erholung,
Abstand vom Alltag und auch Naturerlebnis nicht zu
weit in den Hintergrund geraten.
Dennoch geht auch in diesem Bereich die Schere zwi-
schen denjenigen, die sich das leisten können, und denje-
nigen, die keine Chance darauf haben, immer weiter auf.
Für viele Menschen ist Tourismus, das heißt das Verrei-
sen und das Abschalten in einer anderen als der gewohn-
ten Atmosphäre nur ein unerreichbarer Wunschtraum.
Meines Erachtens brauchen wir deshalb nicht nur aus
sozialen, sondern auch aus ökonomischen und gesund-
heitspolitischen Gründen in diesem Land eine Debatte
über einen Bereich des Tourismus, der bisher in
Deutschland ein Schattendasein führte, ganz im Gegen-
teil zu anderen europäischen Nachbarstaaten.
Der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss
hat am 13./14. September 2006 eine Stellungnahme zum
„Sozialtourismus in Europa“ beschlossen. Darin finden
sich einige äußerst interessante Ansätze; zwei davon
möchte ich in diesem Zusammenhang noch einmal her-
vorheben und zitieren. Ich habe die gleichen Punkte
schon einmal angesprochen, als wir über den Beitritt der
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Bundesrepublik zur OITS, der Sozialtourismusorganisa-
tion, debattiert haben.
Erstens. Unter Punkt 4.2.2.1 wird die Agence Natio-
nale pour les Chèques-Vacances, ANCV, mit einem Ge-
schäftsvolumen von circa 1 Milliarde Euro beschrieben.
Dieses Beispiel sollte uns ein Vorbild sein. Weiter heißt
es – daraus möchte ich direkt zitieren –: „Sozial und
wirtschaftlich ist das Programm eindeutig rentabel, denn
einerseits konnten dadurch viele ältere Menschen erst-
mals in Urlaub fahren, andere Städte und Gegebenheiten
kennenlernen, gleichberechtigte soziale Kontakte knüp-
fen und ihren körperlichen Zustand verbessern, wobei
eine vernünftige Qualität und die Akzeptanz durch die
Nutzer gewährleistet ist; und andererseits werden für je-
den in das Programm investierten Euro 1,70 Euro wieder
eingenommen.“
Zweitens. Es heißt in den Empfehlungen unter Punkt
9.3: „Den Touristikunternehmen sei empfohlen, sich ent-
schlossen an den Sozialtourismusaktivitäten zu beteili-
gen. Der Sozialtourismus vertritt Werte, die mit einer
korrekten Unternehmensführung, mit Wettbewerbsfähig-
keit und Rentabilität vereinbar sind …“.
Ich glaube, dass diese Stellungnahme deutlich macht,
dass wir hier eben nicht über ein Randthema sprechen.
Und ein Bereich, der uns dabei ganz besonders am Her-
zen liegen muss, ist der Kinder- und Jugendtourismus.
Reisen bildet, und Reisen trägt zu einer positiven Per-
sönlichkeitsentwicklung bei. Für Kinder und Jugend-
liche gilt das besonders. Hier eine Teilhabe aller Kinder
und Jugendlichen zu gewährleisten, muss unser Ziel
sein. Wir können es uns nicht mehr erlauben, ganze ge-
sellschaftliche Gruppen bzw. deren Kinder davon auszu-
schließen.
Für circa 2,2 Millionen Kinder und Jugendliche be-
steht die Gefahr, aus sozialen Gründen nicht an Reisen,
Klassenfahrten, Freizeiten und anderen Angeboten teil-
nehmen zu können. Es gibt in Deutschland zwar mit
82,2 Prozent eine auch im internationalen Vergleich
hohe Urlaubsreiseintensität bei Jugendlichen zwischen
14 und 17 Jahren. Jugendliche aus einkommensschwa-
chen Familien nehmen mit 70,4 Prozent allerdings deut-
lich weniger am Tourismus teil.
Das größte Problem dabei: Öffentlich geförderte Kin-
der- und Jugendreisen sind dabei sowohl im Kontext von
Kinder- und Jugenderholung als auch bezogen auf die
internationale Jugendarbeit seit den 90er-Jahren rückläu-
fig. Der Staat zieht sich dabei sukzessive aus der Verant-
wortung: Staatliche Förderungen im Kinder- und Ju-
gendreisebereich sind um bis zu 30 Prozent gesunken.
Die Zahl der Kinder- und Jugenderholungen hat sich in
den Jahren 2000 bis 2004 um 23 Prozent reduziert.
So besteht nicht nur die Gefahr, dass Kinder- und Ju-
gendreisen teurer werden. Nein, es besteht auch die Ge-
fahr, dass sich die soziale Schere weiter öffnet. Deshalb
muss sich die öffentliche Hand wieder stärker engagie-
ren, gerade bei den geförderten Kinder- und Jugenderho-
lungen.
Ein schöner Nebeneffekt davon könnte sein, dass man
auch die innerdeutsche Reiseaktivität von Jugendlichen
steigern könnte. Nicht nur unter sozialen Aspekten wäre
es deshalb sinnvoll, durchaus auch einmal die eigene Re-
gion oder das europäische Umfeld in den Blick zu neh-
men.
Ich weiß, dass nicht alles, was wünschenswert wäre,
auch immer ad hoc durchsetzbar ist. Dennoch müssen
wir den Weg beschreiten, hier endlich Bewegung auch in
Richtung des Sozialtourismus zu bekommen. Wir müs-
sen endlich aus sozialen, gesundheitspolitischen und am
Ende auch ökonomischen Gründen den Menschen ein
Angebot zur Erholung machen, die das normalerweise
nicht so einfach finanziell bewerkstelligen können. Da-
für brauchen wir einen gesellschaftlichen Wandel und
auch die Bereitschaft, das Notwendige zu erkennen. Die
Debatte hat jetzt erst begonnen. Ich hoffe, wir können sie
unaufgeregt und vor allem zielorientiert führen.
Anlage 10
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
zusätzlichen Förderung von Kindern unter drei
Jahren in Tageseinrichtungen und in Kinderta-
gespflege (Tagesordnungspunkt 15)
Andreas Mattfeldt (CDU/CSU): Die Tatsache, dass
wir in Windeseile das heute zu debattierende Gesetz ein-
bringen und behandeln müssen, verdanken wir Ihnen,
liebe Kolleginnen und Kollegen von Rot-Grün, und das,
obwohl eben nicht der Bund für den Kitaausbau zustän-
dig ist, sondern Länder und Kommunen. Ihre Blockade
im Bundesrat erstaunt mich zutiefst, da es bereits, das
wissen sie genau, eine Einigung darüber gab, dass der
Bund erneut weiteres Geld für den Kitaausbau und die
Bewirtschaftungskosten bereitgestellt hat. Denn bei un-
serer christlich-liberalen Koalition hat gerade die Schaf-
fung von Kitaplätzen und die damit verbundene Unter-
stützung der Kommunen besondere Priorität. Als
Kaufmann habe ich einmal gelernt: Verträge müssen ein-
gehalten werden.
Doch für Sie von Rot-Grün scheint Vertragstreue an-
scheinend nicht zu gelten, und ich frage mich: Wo ist die
Verlässlichkeit Ihrer großen Volkspartei geblieben? Sie
sagen mit Ihrer Blockade des Fiskalvertragsgesetzes im
Bundesrat Nein zum Kinderbetreuungsausbau, Sie sagen
Nein zur Entlastung der Kommunen und Nein zur Unter-
stützung für Eltern mit kleinen Kindern! Respekt, meine
Damen und Herren! Eine derartige Haltung erfordert
durchaus Charakter. Sie haben für mich mit dieser Blocka-
dehaltung einmal mehr Ihr wahres Gesicht gezeigt. Sie
haben damit einmal mehr gezeigt, worum es Ihnen wirk-
lich geht – nämlich darum, Politik auf dem Rücken der
Familien und damit gegen Familien zu machen.
Es geht Ihnen nicht darum, den gemeinsam vereinbar-
ten Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz für Kinder unter
drei Jahren umzusetzen. Es geht Ihnen nicht darum, die
Kommunen zu entlasten. Es geht Ihnen nicht darum, die
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27307
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Eltern mit kleinen Kindern zu unterstützen. Nein, es geht
Ihnen einzig und allein darum, zu blockieren. Dafür habe
ich kein Verständnis, und dafür haben auch die Men-
schen in unserem Land kein Verständnis.
Die heutige Debatte zeigt, dass ihre Blockadehaltung
im Bundesrat ja nun nichts Neues ist, und wir haben
diese schon vor der Landtagswahl in Niedersachsen erle-
ben dürfen. Wenn es das ist, was wir und die Menschen
in Deutschland in den kommenden Monaten von Rot-
Grün erwarten dürfen, dann kann ich nur sagen: So
macht man keine seriöse Politik.
Wir, die christlich-liberale Koalition, machen konstruk-
tive Politik für die Menschen, für die Kommunen und
für die Eltern mit kleinen Kindern, die eben einen Be-
treuungsplatz dringend brauchen. Deshalb hat das Fami-
lienministerium von Kristina Schröder unter Hochdruck
einen Gesetzentwurf erarbeitet, damit wir den verein-
barten Ausbau der Kindertagesbetreuung trotz Ihrer
Blockade umsetzen können. Wir lassen uns durch Ihre
taktischen Spielchen nicht vom richtigen Weg abbrin-
gen.
Wir sind überzeugt davon, dass wir die Kommunen in
diesem Bereich entlasten müssen, und deshalb stellt der
Bund zusätzlich zu den schon 2007 zugesagten 4 Mil-
liarden Euro für Kitabau und Betriebskosten weitere
580,5 Millionen Euro für Investitionskosten sowie wei-
tere 75 Millionen Euro jährlich für Betriebskosten zur
Verfügung. Sie sehen, wir reden nicht nur – so wie Sie,
verehrte Kollegen von den Dagegen-Parteien –, sondern
wir handeln und geben das Geld. Man kann schon fast
den Eindruck haben, wir tragen den Ländern das Geld
geradezu noch hinterher, damit diejenigen Eltern, die ihr
Kind in einer Einrichtung betreuen lassen wollen, ab Au-
gust dieses Jahres auch die Möglichkeit dazu haben.
Rot-Grün blockiert ja nicht nur den Kitaausbau, nein,
Sie blockieren auch das Steuerabkommen mit der
Schweiz und die Entlastung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer durch Anpassungen der Steuerprogres-
sion. Sie stellen sich so offen gegen die Arbeitnehmer-
schaft in diesem Land. Offensichtlich ist Ihnen Ihre
Blockadehaltung so viel wert, dass Sie im Fall des Steuer-
abkommens mit der Schweiz freiwillig auf Milliarden-
einnahmen verzichten wollen. Aberwitzig ist allerdings,
dass Sie sich sogleich auf die Fahnen schreiben, dass der
Haushalt konsolidiert werden muss. Lustiger und un-
glaubwürdiger geht’s nimmer. Mit Ihrer Blockade dieses
Gesetzes demonstrieren Sie einmal mehr, dass Sie nicht
mit Geld umgehen können.
Die Menschen erwarten keine taktischen Spielchen,
sondern sie erwarten von uns zu Recht Problemlösun-
gen, und die bieten wir von der christlich-liberalen Koali-
tion den Menschen in unserem Land. Wir sind diejeni-
gen, die die Kommunen entlasten und ihnen dadurch
Spielräume für Investitionen, wie zum Beispiel in Frei-
bäder, Bibliotheken oder Schulen, geben. Wir sind die-
jenigen, die den Eltern eine Wahlfreiheit in der Kinder-
betreuung ermöglichen. Wir sind diejenigen, die Eltern
einen Betreuungsplatz für ihre kleinen Kinder bieten.
Damit sind wir diejenigen, bei denen es zuerst um die
Menschen in unserem Land – nicht wie bei Ihnen aus-
schließlich um die Partei – geht.
Norbert Geis (CDU/CSU): Bund, Länder und Kom-
munen hatten sich auf dem Krippengipfel 2007 auf
750 000 Kitaplätze geeinigt. Dies entspricht einem
durchschnittlichen Versorgungsgrad von 35 Prozent.
Durchschnittlich heißt, dass es in den Städten einen hö-
heren Bedarf geben kann als auf dem Land. Einigkeit be-
stand aber damals darin, dass im Durchschnitt dieser
Versorgungsgrad von 35 Prozent zur Erfüllung des Be-
darfs ausreichen wird.
Damals wurde weiter vereinbart, dass dieses Ziel von
750 000 Kitaplätzen bis zum 1. August 2013 erreicht
sein soll. Einig war man sich auch darüber, dass Bund,
Länder und Gemeinden zu je einem Drittel die Kosten
für den bedarfsgerechten Ausbau zu übernehmen haben.
Diese Kosten für den Ausbau wurden damals mit
12 Milliarden Euro kalkuliert. Also entfielen auf den
Bund 4 Milliarden Euro, die er auch unverzüglich zur
Verfügung gestellt hat. Bereits 2007 hat der Bund das
Sondervermögen „Kinderbetreuungsausbau“ aufgelegt.
In einer Verwaltungsvereinbarung wurde geregelt, dass
das Geld des Bundes an das einzelne Land in Höhe der
jeweiligen Quote weitergeleitet wird. Die Länder sollten
dann das Geld des Bundes zusammen mit dem von ihnen
zu erbringenden Anteil an die Kommunen aufteilen.
Es besteht kein Zweifel, dass der Bund keine verfas-
sungsmäßige Verpflichtung hat, sich an dem bedarfsge-
rechten Ausbau der Kita zu beteiligen. Der Bund sah
sich jedoch aufgrund des gesamten politischen Interesses
am Ausbau der Kita verpflichtet, seinen Eindrittelanteil
für den Ausbau der Tageseinrichtungen und Kinderta-
gespflege zu erbringen.
Gerade in der jetzt ansetzenden Diskussion, in der
man versucht, dem Bund für Säumnisse der Länder die
Schuld in die Schuhe zu schieben, ist es gut, festzuhal-
ten, dass alle drei Partner aufgrund von damaligen Erhe-
bungen auf dem Kindergipfel der Auffassung waren, der
Ausbau von Kindertagesplätzen für 35 Prozent der Kin-
der vom 1. bis zum 3. Lebensjahr sei ausreichend. Auch
der Stichtag 1. August 2013 wurde einvernehmlich fest-
gelegt. Wahr ist schließlich auch, dass die Länder trotz
dieses Stichtages nur sehr zögerlich ans Werk gegangen
sind. Die Ausnahme bildet Bayern. Bayern hat die Be-
treuungsquote in den letzten fünf Jahren verdreifacht.
Dies war möglich, weil Bayern sofort aus Landesmitteln
680 Millionen Euro bereitgestellt hat. Kein Bundesland
hat bisher in einem derart hohen Umfang eigene Landes-
mittel investiert. Das Gesamtvolumen bis 2013 wird auf
1,2 Milliarden Euro geschätzt, zwei Drittel vom Land,
ein Drittel vom Bund. Die Vervielfachung der Quote war
natürlich auch deshalb möglich, weil die bayerischen
Kommunen eine hervorragende Arbeit geleistet haben.
Der Vorwurf also, der Bund habe nicht alles getan,
um den Bedarf zu sichern, entbehrt jeder Grundlage. Es
sind die Länder und teilweise wohl auch die Kommunen,
die bisher ihren Verpflichtungen nicht nachgekommen
sind. Jede Stadt, jede Gemeinde muss selbst ermitteln,
wie hoch der Bedarf an U-3-Plätzen ist. Die Kommunen
27308 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
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müssen die Plätze zur Verfügung stellen, doch nicht der
Bund. Der Bund ist am Ende nur Zahlmeister. Er kann
doch den Kommunen nicht vorschreiben, wie viele
Plätze bereitzustellen sind. Dazu ist der Bund aus verfas-
sungsrechtlichen, aber auch aus praktischen Gründen
nicht in der Lage, weil die Gemeinden viel eher die Er-
hebungen dafür machen können als der Bund.
Dieses Versäumnis von einem großen Teil der Kom-
munen ist auch der Grund dafür, dass bislang keine
Transparenz herrscht, wie viele Plätze wirklich ge-
braucht werden. Die Erhebungen hätten längst gemacht
und der Bedarf hätte längst festgestellt werden müssen.
Auf einmal regt sich nun die Besorgnis, dass
750 000 Plätze nicht ausreichen könnten. Auch den
Durchschnittsbedarf von 35 Prozent, von dem 2007 noch
ausgegangen werden konnte, hat man auf 39 Prozent
nach oben korrigiert. Deshalb haben die Länder und der
Bund ja auch vereinbart, für weitere 30 000 Plätze Geld
bereitzustellen. Wiederum hat der Bund sofort reagiert.
Er hat sofort 580 Millionen Euro in den Haushalt einge-
stellt. Jetzt hätte man eigentlich erwarten dürfen, dass
die Länder nicht lange fackeln, sondern zugreifen. Weit
gefehlt. Die Länder haben mit der Ablehnung des Fiskal-
vertragsumsetzungsgesetzes im Bundesrat die Auszah-
lung der 580 Millionen Euro gestoppt.
Statt sich an die eigene Brust zu klopfen, wird nun
dem Bund wieder die Schuld in die Schuhe geschoben.
Der Bund aber hat wiederum sehr schnell gehandelt.
Durch den besonderen Einsatz der Ministerin ist es ge-
lungen, in kürzester Frist diesen Gesetzentwurf zur zu-
sätzlichen Förderung von Kindern unter drei Jahren in
Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege vorzule-
gen und damit die 50 Millionen Euro bereitzustellen.
Wertvolle Zeit durch das Verhalten der Länder wurde
zwar vergeudet, aber es ist immer noch Zeit genug.
Diese christliche-liberale Koalition hat alles getan,
um den Rechtsanspruch zum 1. August 2013 zu erfüllen.
Gelingt dies da und dort nicht, liegt es nicht am Bund,
sondern an den Ländern und Kommunen. Wo es Aus-
bauhemmnisse gibt, hilft der Bund. Er kann sich aber
nicht über die Länderhoheit und die kommunale Pla-
nungshoheit und die örtliche Zuständigkeit der Kommu-
nen hinwegsetzen.
Am Geld wird jedenfalls der rechtzeitige Ausbau
nicht scheitern. Zu den 580 Millionen Euro kommt für
die Kommunen und die Träger der Kitas ein Programm
der KfW für verbilligte Kredite für den Kitaausbau.
Hinzu kommen das Programm Kindertagespflege und
das neue Programm zur Förderung betrieblicher Kindes-
betreuung. Dazu kommt die Erhöhung des Betriebskos-
tenzuschusses von 75 Millionen jährlich für die zusätzli-
chen 30 000 Kitaplätze.
Wer angesichts dieser Anstrengungen der Koalition
und der Familienministerin dem Bund Versäumnisse
vorwirft, der muss sich selbst den Vorwurf der Polemik
gefallen lassen.
Dagmar Ziegler (SPD): Heute beraten wir einen Ge-
setzentwurf, der Ländern und Kommunen beim Kitaaus-
bau zusätzlich unter die Arme greift. Das ist höchste
Zeit. Die Bundesregierung hat den Kitaausbau in den
letzten Jahren blockiert. Der Gesetzentwurf kommt nicht
wegen, sondern trotz unserer Bundesregierung.
Über Jahre haben Länder und Kommunen laut und
vernehmlich um Hilfe gerufen. Denn ihnen stand und
steht immer noch das Wasser bis zum Hals. Die Annah-
men, die den Beschlüssen des Krippengipfels von 2007
zugrunde lagen, sind von der Wirklichkeit überholt wor-
den. Noch mehr Eltern als damals angenommen, wollen
für ihr Kind einen Kitaplatz bekommen. Das hat der
14. Kinder- und Jugendbericht gestern nochmal deutlich
belegt.
Deshalb brauchen Länder und Kommunen zusätzliche
Unterstützung durch den Bund. Sie können die gewal-
tige Kraftanstrengung des Kitaausbaus und der Erfüllung
des Rechtanspruchs ab August dieses Jahres allein nicht
bewältigen.
Doch all diese Hilferufe haben sowohl die zuständige
Ministerin Schröder als auch Bundeskanzlerin Merkel
geflissentlich überhört. Die Bundesregierung hat ihre
Zeit lieber damit vertan, eine wirkungsvolle Quote für
Frauen zu verhindern und das bildungsfeindliche und
rückwärtsgewandte Betreuungsgeld einzuführen.
Ohne das Engagement der Länder würde der Bund
immer noch blockieren. Es ist nur den SPD-Ministerprä-
sidenten Kurt Beck und Olaf Scholz zu verdanken, dass
wir heute zusätzliche Kitamittel beschließen können. Sie
haben einen zusätzlichen Bundeszuschuss bei den Fis-
kalpaktverhandlungen im letzten Jahr zum Thema ge-
macht, und sie haben ihre Zustimmung zum Fiskalpakt
davon abhängig gemacht, dass der Bund beim Ausbau
der Betreuungsinfrastruktur noch mal eine Schippe oben
draufpackt. Der Gesetzentwurf, den wir heute beschlie-
ßen wollen, setzt nun diese Vereinbarung zwischen Län-
dern und Bund um. Und selbst die haben Sie noch zu
hintertreiben versucht.
Die Bundesregierung hat den Ländern bei den Fiskal-
paktverhandlungen eine unbürokratische und schnelle
Umsetzung versprochen und sich nicht daran gehalten.
Mit kleinlichen Nachforderungen haben Sie, Ministerin
Schröder, die Umsetzung um weitere Monate verzögert.
Jetzt müssen Sie endlich dafür sorgen, dass das Geld
dort ankommt, wo es am dringendsten gebraucht wird,
nämlich vor Ort. Wir erwarten von der Bundesregierung
jetzt endlich zügiges und professionelles Handeln. Kein
Verschleppen und Verzögern mehr! Werden Sie Ihrer
Verantwortung für den Kitaausbau endlich mal gerecht!
Aber Geld ist bekanntlich nicht alles im Leben. Es
gibt noch viele andere Maßnahmen, die Sie auch an-
packen müssten – es aber nicht tun:
Überall in Deutschland werden die Klagen über feh-
lende pädagogische Fachkräfte immer lauter. Die SPD-
Bundestagsfraktion fordert schon seit Jahren, dass sich
die Bundesregierung mit Ländern und Kommunen in ei-
nem Krippengipfel an einen Tisch setzt und konkrete
Schritte zur Forcierung des Krippenausbaus vereinbart.
Und wir fordern – ebenfalls seit Jahren – eine Fachkräfte-
offensive, um zusätzliche Menschen für den Beruf der
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27309
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Erzieherin oder des Erziehers zu gewinnen und zu be-
geistern.
Die Zeit drängt. Die Bundesregierung muss jetzt in
enger Zusammenarbeit mit Ländern, Kommunen und
Trägern eine bundesweite Fachkräfteinitiative starten,
um den steigenden Bedarf an Erzieherinnen und Erzie-
hern zu decken. Außerdem wird der wachsende Fach-
kräftebedarf nur zu decken sein, wenn die Arbeitsbedin-
gungen im Erzieherberuf verbessert werden.
SPD-geführte Länder machen vor, wie es geht: Ham-
burg ist es gelungen, den Rechtsanspruch für Kinder un-
ter drei Jahren bereits um ein Jahr vorzuziehen. Er wirkt
dort schon seit dem 1. August 2012.
Nordrhein-Westfalen hat nach der Regierungsüber-
nahme durch Hannelore Kraft schnell einen Krippengip-
fel einberufen, nachdem die CDU-geführte Vorgängerre-
gierung den Krippenausbau verschlafen hatte. Das rot-
grün geführte Land unterstützt gezielt notleidende Kom-
munen, damit auch sie den Ausbau schaffen.
In Niedersachsen hingegen sieht es hier im wahrsten
Sinne des Wortes schwarz aus. Selbst CDU-Bürgermeis-
ter beklagen die mangelnde finanzielle Beteiligung des
Landes beim Krippenausbau. Das wird sich unter dem
neuen Ministerpräsidenten Stefan Weil jetzt endlich und
zügig ändern.
In der letzten Legislaturperiode hat die SPD durch-
gesetzt, dass Finanzhilfen in Milliardenhöhe für den
Krippenausbau bereitgestellt werden. Denn wir haben
gesehen, dass der Ausbau von Bildung und Betreuung
eine entscheidende gesamtgesellschaftliche Aufgabe dar-
stellt.
Ob für unsere Kinder und Jugendlichen gute Kita-
und Ganztagsschulplätze vorhanden sind, entscheidet
über ihre Zukunft. Denn gute Kitas und Ganztagsschulen
eröffnen bessere Bildungschancen, sind Orte der Integra-
tion und ermöglichen Eltern, Beruf und Familie zu ver-
einbaren und deshalb selbst für sich zu sorgen. Sie sind
die beste Armutsprävention und außerdem die Bildungs-
institutionen, in denen die Fachkräfte entwickelt werden,
die auch die deutsche Wirtschaft doch so dringend
braucht.
Ohne den damaligen Bundesfinanzminister Steinbrück
wäre der Krippenausbau nicht möglich gewesen. Es war
Peer Steinbrück, der 2007 4 Milliarden Euro in ein Son-
dervermögen für den Krippenausbau überführt und für
einen jährlichen Bundeszuschuss zu den laufenden Kos-
ten des Kitabetriebs vor Ort gesorgt hat.
Diesen Weg werden wir in Regierungsverantwortung
konsequent fortsetzen. Wir werden Ihr bildungsfeind-
liches Betreuungsgeld sofort abschaffen und die dadurch
frei werdenden Mittel vollständig in den Kitausbau ste-
cken. Damit sollen die Kommunen noch mehr Plätze
schaffen können, die Öffnungszeiten der Einrichtungen
verlängern und für eine bessere Betreuungsqualität sor-
gen können. Denn nur gute Kitas sind in der Lage, un-
sere Kinder optimal zu fördern und ihre Talente zu ent-
decken und zu fördern. Die 16. Legislaturperiode war
die Zeit des quantitativen Kitaausbaus unter Finanz-
minister Peer Steinbrück. Die 17. Legislaturperiode ist
die Zeit des Nichtstuns unter Bundeskanzlerin Merkel.
Die 18. Legislaturperiode wird die Zeit der Qualitäts-
offensive unter Bundeskanzler Peer Steinbrück werden.
Eine SPD-regierte Bundesregierung wird das Thema
Ausbau von Kitas und Ganztagsschulen aus der Abstell-
kammer holen, wohin Schwarz-Gelb es verdammt hat.
Bei uns wird der Ausbau der Bildungsinfrastruktur ganz
oben auf der Tagesordnung stehen. Denn wir haben uns
ein ambitioniertes Ziel gesetzt. Wir wollen, dass jedes
Kind und jeder Jugendliche ab 2020 einen Rechtsan-
spruch auf Ganztagskitas und Ganztagsschulen hat, da-
mit alle Kinder und Jugendlichen in Deutschland gleiche
Bildungschancen haben und auch die Benachteiligten
wieder berechtigte Hoffnung auf sozialen Aufstieg be-
kommen.
Dafür lohnt es sich zu kämpfen. Und genau das wer-
den wir in den nächsten Monaten tun. Ich freue mich auf
die Auseinandersetzung um die beste Zukunft für unser
Land.
Miriam Gruß (FDP): Für den benötigten Ausbau der
Infrastruktur der Kinderbetreuung wurde bisher von kei-
ner anderen Bundesregierung so viel investiert. Bund,
Länder und Kommunen haben sich geeinigt: Es werden
12 Milliarden Euro für dieses wichtige, gesamtgesell-
schaftliche Ziel ausgegeben. 4 Milliarden Euro davon
werden vom Bund getragen. Mit dem heutigen Gesetz-
entwurf werden nun nochmals 580,5 Millionen Euro
vom Bund nachgelegt. Zu unserem Teil der Verantwor-
tung stehen wir, wie auch zu dem Rechtsanspruch auf
Betreuung für unter dreijährige Kinder, der am 1. August
2013 in Kraft treten wird. Dazu stehen wir; denn wir
wissen: Eine gute und verlässliche Familienpolitik ermu-
tigt Paare dazu, Kinder zu bekommen. Dafür bedarf es
dreier Komponenten:
Die erste Komponente besteht aus den Rahmenbedin-
gungen. Das sind sowohl die rechtlichen, wie beispiels-
weise der Rechtsanspruch, als auch die Infrastruktur-
bedingungen, zum Beispiel Kitas, Horte, Tagesmütter
und Tagesväter.
Die zweite Komponente besteht aus den finanziellen
Unterstützungen. Deutschland liegt hier laut internatio-
nalen Vergleichen in der weltweiten Spitzengruppe.
Schließlich die dritte Komponente: Das ist das, was
die Ministerin „Zeit für Familie“ genannt hat. Hier sind
die Vereinbarkeit von Familie und Beruf, ein verlässli-
ches Umfeld und ein sicherer Arbeitsplatz besonders
wichtig. Denn uns allen ist bewusst, dass Unsicherheit
über den Arbeitsplatz oft zur Folge hat, dass viele
Menschen mit dem Kinderwunsch warten. Einige davon
warten dann zu lange. Meiner Meinung nach kann nie-
mand bestreiten, dass die gute Konjunkturlage der letz-
ten drei Jahre unter Schwarz-Gelb zu mehr Verlässlich-
keit und Sicherheit am Arbeitsmarkt und dadurch zu
mehr Sicherheit für Familienplanungen geführt hat.
27310 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
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Heute geht es um die zusätzlichen 580,5 Millionen
Euro, die der Bund bereitstellt, und um die Frage, warum
wir dieses schon beschlossene Finanzpaket heute noch
einmal in den Bundestag einbringen müssen. Die
Antwort darauf lautet: Wir müssen das tun, weil die
Bundesländer nur langsam und schleppend ihren Teil der
Verantwortung wahrgenommen haben. Es hat sich
herausgestellt, dass einige Länder die 4 Milliarden Euro
nur äußerst zögerlich abgerufen haben. Auch hat sich
gezeigt, dass diese mit der Umsetzung des Kitabaupro-
gramms und den dafür vorgegebenen zeitlichen Vorga-
ben nicht Schritt halten.
In diesem Zusammenhang darf man schon einmal da-
rauf hinweisen, dass das grün-rote Baden-Württemberg
mit 61,7 Prozent, Stand 6. Dezember 2012, das Schluss-
licht beim Mittelabruf bildet. Der Bund steht zu seinem
Teil der Verantwortung. Wir fordern hier die rot-grünen
Regierungen dieser Länder ausdrücklich dazu auf, auch
ihren Teil beizutragen.
Der Fiskalpakt wurde von den Ländern abgelehnt.
Dieser beinhaltete auch die zusätzlichen 580,5 Millionen
Euro für den Kitaausbau. Deswegen müssen wir heute
den Ländern das Geld quasi hinterhertragen. Diese feh-
lende Wahrnehmung der beim Krippengipfel 2007 ein-
stimmig beschlossenen Strategie ärgert mich umso mehr,
als die Länder äußerst genau darauf achten, dass der
Bund sich nicht in ihre Kompetenzen einmischt. Wenn
etwa ein Vorschlag für schärfere Berichtspflichten ge-
macht wird, gibt es einen lauten Aufschrei. Aber die
Eltern der Kinder erwarten von den Landesfürsten keine
taktischen Spielchen, sondern die Umsetzung dessen,
was sie selbst mit beschlossen haben.
Dass wir das vereinbarte Ziel von 750 000 Plätzen für
Kinder unter drei Jahren noch nicht erreicht haben, ist
uns bewusst. Wir haben aufgrund des ermittelten Be-
darfs trotzdem 30 000 Plätze zusätzlich vorgesehen und
wissen doch auch, dass in einigen Regionen auch das
nicht ausreichen wird. Es bedarf deshalb auch noch in
den nächsten Jahren erheblicher Anstrengungen, um hier
eine Wahlfreiheit zwischen den verschiedenen Möglich-
keiten zu erreichen.
Es ärgert mich, dass von einigen Ländervertretern und
der Opposition Zahlen von 100 000 oder 150 000 noch
fehlenden Plätzen in den Raum geworfen werden. Es ist
wahr: Wir haben alle zusammen die Bedarfsquote noch
nicht erfüllt; aber jeder – Bund, Länder und Kommunen –
muss sich selbst die Frage stellen: Was tue ich, um den
Ausbau zu beschleunigen?
Hier vermisse ich beispielsweise von der Landesre-
gierung Initiativen zur Entrümpelung der Landesbauord-
nungen, damit der Ausbau nicht durch überzogene
Standards bei der Höhe von Kleiderhaken und Toiletten-
becken verzögert wird. Auch fehlen mir hier Initiativen
der Landesregierungen, die es ermöglichen, die EU-
Hygieneverordnungen in der Tagespflege großzügig aus-
zulegen. Die Länder besitzen hier einen großen Spiel-
raum, welchen sie auch nutzen sollten. Mit unserem
Antrag zur Stärkung der Tagespflege haben wir unseren
Beitrag geleistet, aber auch hier liegt vieles in der Zu-
ständigkeit der Länder. Es ist die Aufgabe der Länder,
hier aktiv zu werden.
Eines kann ich Ihnen aus eigener Erfahrung versi-
chern: Die Eltern wollen nicht hören, wessen Schuld es
ist, wenn der Ausbau der Betreuungskapazität in ihrer
Kommune noch nicht ausreichend ist, sondern sie möch-
ten wissen, was von Bund, Ländern und Kommunen
getan wird, um eine Lösung dafür zu finden. Die rechtli-
chen Rahmenbedingungen werden vom Bund gesetzt; er
gibt auch das Geld, sie auszufüllen. Die Länder und
Kommunen sind in der Pflicht, die Umsetzung vor Ort
zu organisieren.
Diana Golze (DIE LINKE): Seit Jahren geistert das
Wort „Wahlfreiheit“ umher, wenn das Thema Kinderta-
gesbetreuung auf der Tagesordnung steht. Für einen Teil
dieser „Wahlfreiheit“ hat sich die Bundesregierung über
Monate hinweg eine Schlammschlacht geliefert und vor-
bei an der mehrheitlichen Meinung in der Bevölkerung,
der Fachwelt und entgegen des derzeitigen Standes der
frühkindlichen Forschung eine „Kitafernhalteprämie“
beschlossen. Milliarden wurden in die Hand genommen
und Lieblingsprojekte einzelner Kabinettsmitglieder zur
Verhandlungsmasse gemacht, nur um zu erhalten, was
kaum noch jemand möchte: ein Familienbild, dass Kin-
dererziehung zur Privatsache macht und die öffentliche
Verantwortung hierfür auf die Zahlung eines Taschen-
geldes reduziert. Die Rede ist natürlich von der hitzigen
Debatte um die Einführung des Betreuungsgeldes – der
Leistung, die für die größte Mogelpackung in Sachen
moderner Familienpolitik steht.
Seit Jahren umstritten und trotzdem mit einer Verbis-
senheit umgesetzt, die man sich auch bei der anderen
Seite dieser „Wahlfreiheit“ – der Kinderbetreuung in öf-
fentlicher Verantwortung – immer noch nur wünschen
kann. Hier treibt das Engagement der Bundesregierung
indes andere Blüten. Neue Unwörter wie „Kitaplatz-
Sharing“ und „Erzieheraustausch“ machen klar, in wel-
chem Dilemma wir in Sachen Kindertagesbetreuung bis
heute stecken. Alte Vorurteile halten sich beharrlich, und
wo sie nicht mehr zu halten sind, werden sie mit
Kampfreden einer ansonsten schweigenden Ministerin
Schröder kleingeredet. Statt endlich das zu tun, was ihr
eigentlicher Job ist, wird immer und immer wieder der
gleiche Sprechzettel hervorgeholt, nämlich dass der
Bund seinen Beitrag in Form des einmal zur Verfügung
gestellten Sondervermögens für den Kitaausbau bereits
geleistet hat, dass nun alle anderen dran seien in der
Wahrnehmung ihrer Verantwortung.
Ich sage Ihnen, Frau Ministerin: Das Maß an Ignoranz
der Verantwortung des Bundes ist voll. Seit Jahren wird
das viel zu schleppend verlaufende Ausbautempo schön-
geredet, das Fehlen einer Bedarfsplanung ist an der Ta-
gesordnung und an den daraus resultierenden falschen
Ausbauzielen wird festgehalten. Hilferufe der kommu-
nalen Spitzenverbände werden so lange in die Schublade
gelegt, bis man die Diskussion endlich da hat, wo man
sie schon immer haben wollte: fernab von einer Debatte
um die Qualität von Kindertagesbetreuung, von dem be-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27311
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stehenden Fachkräftemangel und von den schwierigen
Arbeitsbedingungen in der Kindertagespflege. Das, was
uns nun erneut in Form eines Gesetzentwurfes vorgelegt
wurde, überbietet jede bisher da gewesene Augenwi-
scherei.
Die durch Ihren Vorschlag zu schaffenden 30 000
Plätze reichen nicht im Ansatz aus, um in die Nähe der
220 000 fehlenden Plätze zu kommen – von der Erfül-
lung eines Rechtsanspruches ganz zu schweigen. Sie lie-
fern auch diesmal keine Lösung dafür, dass trotz dieser
Aufstockung und langfristigen Beteiligung des Bundes
an den Gesamtkosten der überwiegende Teil der dauer-
haften Kosten an den Kommunen hängen bleibt. Es kann
nicht sein, dass die Erfüllung eines vom Bund geschaffe-
nen Rechtsanspruches und damit der qualitative und
quantitative Ausbau der Kinderbetreuung davon abhän-
gen soll, wie voll oder wie leer die Kasse der jeweiligen
Kommune ist.
Die Linke bleibt darum bei ihrer Forderung nach ei-
nem Spitzentreffen zwischen den verantwortlichen Ak-
teuren aus Bund, Ländern und Kommunen unter Beteili-
gung der wissenschaftlichen Fachwelt. Ein solcher
Krippengipfel ist dringend nötig, um den tatsächlichen
Stand des Betreuungsausbaus und des Ausbaubedarfes
zu ermitteln und endlich ehrlich sofortige Maßnahmen
zwischen Bund, Ländern und Kommunen zu verabreden.
Wenn Sie, Frau Ministerin, daraus auch noch ein regel-
mäßig tagendes Gremium mit dem Auftrag, die Umset-
zung des Ausbaus zu begleiten und im Bedarfsfall umge-
hend notwendige Lösungsvorschläge zu erarbeiten,
schaffen würden, dann können Sie auch wieder davon
reden, dass der Bund seine Verantwortung wahrnimmt.
So aber ist auch dieser Gesetzentwurf ein Tropfen auf
den heißen Stein, der mit unnötig repressiven Fristen den
Ländern und Kommunen einmal mehr die Pistole auf die
Brust setzt und damit für uns nicht zustimmungsfähig
ist.
Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Heute
stimmen wir über einen Gesetzentwurf ab, der Finanz-
mittel in Höhe von 580 Millionen Euro für 30 000 zu-
sätzliche U-3-Plätze bringen wird. Die Beratungen in
den Ausschüssen haben es uns schon verraten: Dieser
Gesetzentwurf wird eine breite Mehrheit finden. Und
auch im Bundesrat – der morgen über den Gesetzentwurf
beschließt – ist nicht mit Widerstand zu rechnen. Denn
jetzt darf es nur noch ein Ziel geben: Die zusätzlichen
Mittel müssen so schnell wie möglich dahin, wo sie be-
nötigt werden: in die Kommunen, in die Kitas.
Dass dieses Geld erst jetzt auf den Weg gebracht
wird, dass wertvolle Zeit mit Blick auf den Rechtsan-
spruch auf einen U-3-Platz, der ab dem 1. August be-
steht, verplempert wurde, ist keinem parteitaktischen
Kalkül der Bundesländer im Bundesrat zu verdanken.
Das wollen uns zwar die Koalitionsfraktionen weisma-
chen, aber Fakt ist, dass die Verantwortung einzig und
allein bei der Bundesregierung liegt. Bis Dezember letz-
ten Jahres waren die Regelungen über die zusätzlichen
Kitamittel Bestandteil des Gesetzentwurfs zur inner-
staatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags. Der Bundes-
rat hat dem Gesetzentwurf zur Umsetzung des Fiskalver-
trags nicht zugestimmt, weil die Bundesregierung sich
nicht an die Zusage gehalten hat, die sie den Ländern zur
Neufestlegung der Entflechtungsmittel gegeben hat. Mit
dem Kitaausbau hat die Kritik der Bundesländer über-
haupt nichts zu tun.
Dasselbe Schwarze-Peter-Spiel hat Ministerin
Schröder übrigens auch bei den zusätzlichen Kitamillio-
nen versucht. Einigungen, die im August zwischen dem
Familienministerium und den Ländern erzielt wurden,
fanden keinen Niederschlag in dem Gesetzentwurf, den
die Bundesregierung im Oktober vorgelegt hat. Erst hat
Ministerin Schröder versucht, die Länder mit monatli-
chen Berichtspflichten über die Verwendung der Mittel
zu drangsalieren. Dann hat sie viel zu lange eine Eini-
gung über die Auszahlung der zugesagten Betriebsmittel
in Höhe von 75 Millionen Euro jährlich blockiert, und
das, nachdem sie selbst seit Jahren keinen müden Cent
zusätzlich für den Kitaausbau beim Finanzminister aus-
verhandeln konnte.
Daher, liebe Kolleginnen und Kollegen von den
Koalitionsfraktionen, hören Sie endlich auf, den Bundes-
ländern oder gar der Opposition die Schuld für die ver-
zögerte Auszahlung der Mittel in die Schuhe zu schie-
ben. Das ist der Sache nicht dienlich und interessiert die
Eltern, die einen Kitaplatz für ihr Kind brauchen, so-
wieso nicht.
Die zusätzlichen Mittel sind ein wichtiger Schritt und
für viele Kommunen sicherlich der letzte Rettungsanker.
Aber auch mit diesen zusätzlichen 580 Millionen Euro
kann die Erfüllung des Rechtsanspruchs nicht überall si-
chergestellt werden. In vielen Kommunen, die in den
letzten Jahren in den U-3-Ausbau investiert, aber einen
deutlich höheren Bedarf als die ursprünglich avisierten
35 bzw. jetzt 39 Prozent haben, werden Eltern mit ihrem
Wunsch nach Vereinbarkeit von Familie und Beruf trotz-
dem keinen Kitaplatz finden. Deshalb halten wir Grünen
ein Sonderprogramm, das sich gerade an Kommunen mit
besonders hohen Bedarfen richtet, für dringend geboten.
Die Kommunen fordern nicht nur die Beteiligung des
Bundes und der Länder an eventuellen Schadenersatzan-
sprüchen, die Eltern wohl aufgrund fehlender Kitaplätze
einklagen könnten. Ich halte diese Forderung für nicht
zielführend, weil wir jetzt in den Ausbau und nicht spä-
ter in den Schadenersatz für nicht erfolgten Ausbau in-
vestieren müssen. Die Kommunen rechnen aber auch da-
mit, dass die Anzahl der Kinder in den Gruppen erhöht
und damit zentrale Qualitätsstandards gesenkt werden.
Das darf auf keinen Fall passieren.
Es reicht nicht, wie wir es von der Ministerin kennen,
auf die Bedeutung hoher Qualitätsstandards hinzuwei-
sen. Der Bund muss auch handeln. Er ist auch bei der
Frage der Qualität in der Pflicht und sollte sich seiner
Verantwortung endlich stellen.
27312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
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Anlage 11
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags
(Tagesordnungspunkt 17)
Norbert Barthle (CDU/CSU): Wir verabschieden
heute im Bundestag zum zweiten Mal das Fiskalver-
tragsumsetzungsgesetz. Es ist äußerst ärgerlich, dass der
Bundesrat dem Gesetz im ersten Anlauf nicht zuge-
stimmt hat. Ich möchte daran erinnern: Auch die Länder
haben im vergangenen Sommer den Fiskalvertrag ratifi-
ziert. Auch die Länder haben daher die gesamtstaatliche
Verantwortung, die durch die Ratifizierung notwendig
gewordenen Folgerechtsänderungen mitzutragen.
Es ist manchmal schon schwer erträglich, wie die
Ländermehrheit derzeit immer wieder Rosinenpickerei
betreibt. Ich gehe davon aus, dass das Gesetz für die zu-
sätzlichen Mittel für den Kitaausbau ohne Probleme den
Bundesrat passieren wird. Dann aber das Gesetz zur in-
nerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags als Faust-
pfand für taktische Spielchen im Bundesrat zu nutzen,
wäre mehr als unangemessen. Das werden auch die
Bürgerinnen und Bürger im Land so sehen. Ich bin daher
sehr gespannt auf die erneute Entscheidung des Bundes-
rates zu diesem Gesetz.
Der Fiskalvertrag ist das zentrale Instrument, um dem
Prinzip der Solidität europaweit zu besserer Geltung zu
verhelfen. Die Bedeutung der Verpflichtung für die Un-
terzeichnerstaaten, Schuldenbremsen nach deutschem
Vorbild umzusetzen und ihre Einhaltung zu kontrollie-
ren, kann gar nicht stark genug gewürdigt werden.
Deutschland hat mit der im Zuge der Föderalismusre-
form II eingeführten deutschen Schuldenbremse und der
parallelen Einrichtung des Stabilitätsrats zentrale Vorga-
ben des Fiskalvertrags bereits jetzt erfüllt. Mit dem
Fiskalvertragsumsetzungsgesetz regeln wir die zusätz-
lich notwendigen rechtlichen Ergänzungen zur inner-
staatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags und des refor-
mierten Stabilitäts- und Wachstumspakts. So wird die
zulässige Obergrenze für das strukturelle gesamtstaatli-
che Finanzierungsdefizit von maximal 0,5 Prozent des
BIP im Haushaltsgrundsätzegesetz festgeschrieben. Mit
der Änderung des Sanktionszahlungs-Aufteilungsgeset-
zes wird die innerstaatliche Aufteilung der mit der
Reform des Stabilitäts- und Wachstumspakts neu einge-
führten Sanktionen zur Sicherung der Haushaltsdisziplin
geregelt.
Der Stabilitätsrat wird zudem damit beauftragt, die
Einhaltung der strukturellen gesamtstaatlichen Defizit-
obergrenze zu überwachen. Zur Unterstützung des Stabi-
litätsrates bei dieser Aufgabe wird ein unabhängiger
Beirat eingerichtet. Mit der Überwachung der gesamt-
staatlichen Regeln durch den Stabilitätsrat und seinen
unabhängigen Beirat trägt Deutschland den Anforderun-
gen des Fiskalvertrags und der von der Europäischen
Kommission vorgelegten gemeinsamen Grundsätze
– auch hinsichtlich der darin geforderten starken Rolle
unabhängiger Institutionen – vollständig Rechnung.
Durch die Kombination von Stabilitätsrat und unabhän-
gigem Beirat wird ein optimales Institutionengefüge zur
Überwachung der Einhaltung der Vorgaben des Fiskal-
vertrags geschaffen.
Im Rahmen des heute zu verabschiedenden Gesetzes
schreiben wir auch fest, dass das Guthaben auf dem so-
genannten Kontrollkonto der Schuldenregel am Ende
des Jahres 2015 auf null gesetzt wird. Die Koalition hat
immer gesagt, dass die Überschüsse im Kontrollkonto
nicht über die Dauer des Übergangszeitraumes hinaus
Wirkung entfalten sollen. Sobald die Schuldenbremse ab
2016 in den Regelbetrieb übergeht, starten wir daher nun
mit einem sauberen Kontrollkonto.
Dies ist ein sehr wichtiges Signal insbesondere ge-
genüber den europäischen Partnern, die ähnliche Schul-
denbremsen national verankern müssen. Und auch den
Bundesländern sollte diese Regelung ein Ansporn sein,
selbst rechtzeitig für eine wasserdichte Umsetzung der
grundgesetzlichen Verpflichtungen zu sorgen. Da liegt in
manchen Ländern noch einiges im Argen.
Das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz ist ein wichti-
ges Gesetz. Wir erleben derzeit in Europa, dass Ver-
trauen langsam, aber sicher zurückkehrt. Gerade jetzt
dürfen wir mit unseren Anstrengungen zu Strukturrefor-
men, Haushaltskonsolidierung und einer Stärkung des
institutionellen Rahmens der Währungsunion nicht
nachlassen. Wir sind in einer kritischen Phase der
Krisenbewältigung, nämlich in der Phase, zu beweisen,
dass wir es nicht nur kurzfristig, sondern auch dauerhaft
ernst meinen mit allen Reformzusagen.
Deutschland muss dabei mit gutem Beispiel vorange-
hen, um den Umsetzungsdruck auch in allen anderen
Ländern aufrechtzuerhalten. Der Fiskalvertrag ist seit
1. Januar 2013 in Kraft. Wir müssen nun schleunigst alle
notwendigen gesetzlichen Anpassungen verabschieden.
Wir riskieren sonst nicht nur eine große Blamage gegen-
über unseren Partnern. Wir riskieren auch den Verlust
von Glaubwürdigkeit, die in dieser Phase der Stabilisie-
rung und Konsolidierung im Euro-Raum so dringend
notwendig ist. Ich appelliere an alle, sich dieser gesamt-
staatlichen und europäischen Verantwortung bewusst zu
sein. Das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz ist kein Ge-
setz für politische Spielchen. Ich bitte daher um eine
breite Zustimmung des Deutschen Bundestages.
Bartholomäus Kalb (CDU/CSU): Nach der verfas-
sungsrechtlichen Verankerung der Schuldenbremse und
der Schaffung des Stabilitätsrats gehen wir mit dem Fis-
kalpakt den nächsten Schritt hin zu einer nachhaltigen
Haushaltspolitik und zu tragfähigen Staatsfinanzen. Mit
dem Fiskalvertragsumsetzungsgesetz werden die da-
rüber hinaus notwendigen rechtlichen Ergänzungen zur
innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags und des
reformierten Stabilitäts- und Wachstumspakts geregelt.
Bereits in diesem Jahr wird der Bund trotz Fälligwer-
dens zweier weiterer ESM-Raten die erst ab 2016 durch
die Schuldenbremse vorgegebene Grenze für die struktu-
relle Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts unterschreiten. Das ist drei Jahre früher
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27313
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als verfassungsrechtlich vorgeschrieben. Wir sind damit
für die europäische Schuldenregel gut aufgestellt.
Um Deutschland zukunftsfest zu machen, müssen wir
den Weg der wachstumsorientierten Haushaltskonsoli-
dierung konsequent fortsetzen. Nur nachhaltiges Wachs-
tum schafft Vertrauen und Verlässlichkeit. Wachstum ist
dann stabil und zukunftsgerichtet, wenn es auf solide
Finanzen aufbaut. Denn diese geben uns und den nach-
kommenden Generationen die notwendigen Handlungs-
spielräume für eine gute Zukunft Deutschlands. Die
Herausforderungen liegen auf der Hand: Haushaltskon-
solidierung, Stärkung der Infrastrukturinvestitionen und
Verbesserung der Finanzkraft der Kommunen.
Trotz steigender Einnahmen haben wir im Bundes-
haushalt 2013 die Ausgabenseite begrenzt. Gegenüber
dem Beginn der Legislaturperiode konnten wir die Aus-
gaben nominal absenken. Damit kommt auch der für
2014 angestrebte strukturelle Haushaltsausgleich in
greifbare Nähe. Diese konsequente Konsolidierung wird
auch wieder mehr Spielräume schaffen zur Gestaltung
freier Zukunft. Konsolidierung heißt Zukunftssicherung.
Deutschland braucht eine leistungsfähige Verkehrsin-
frastruktur. Ausreichende und qualitativ hochwertige
Verkehrswege sind die Lebensadern unserer Volkswirt-
schaft und sichern ein Höchstmaß an gesellschaftlicher
Mobilität.
Um die Leistungsfähigkeit unserer Verkehrswege zu
sichern und das weiter ansteigende Verkehrsaufkommen
bewältigen zu können, sind erhebliche Investitionen not-
wendig. Zwar konnten im aktuellen Bundeshaushalt Ge-
samtinvestitionen für die Verkehrswege von jährlich
über 10 Milliarden Euro und damit über dem Niveau der
Vorjahre verankert werden. Diese Mittel reichen aber
immer noch nicht, um alle Projekte in unserem Land zu
finanzieren, die dringend realisiert werden müssten.
Auch die Zusatzmilliarde aus dem „Infrastrukturbe-
schleunigungsprogramm“ von Anfang 2012 sowie die
zusätzliche Dreiviertelmilliarde Euro für den Bundes-
haushalt 2013 versetzt den Bund allenfalls in die Lage,
einen Teil des gewaltigen Finanzierungsbedarfs zu de-
cken. Wir müssen mehr Finanzmittel für den Erhalt und
die Modernisierung der Verkehrsinfrastruktur bereitstel-
len.
Zu einer überzeugenden Haushaltskonsolidierung ge-
hört auch, die Kommunen zu unterstützen, damit sie ihre
Aufgaben erfüllen und ihre Haushalte ebenfalls konsoli-
dieren können.
Die christlich-liberale Koalition hat Anfang Novem-
ber den Weg für die größte finanzielle Entlastung der
Kommunen in der Geschichte der Bundesrepublik
Deutschland freigemacht. Durch die Übernahme der
Nettoausgaben der Grundsicherung im Alter und bei Er-
werbsminderung entlastet der Bund die Kommunen al-
lein im Zeitraum 2012 bis 2016 um rund 18,5 Milliarden
Euro.
Wir müssen die Kommunen aber noch weiter entlas-
ten. Eine alternde Gesellschaft mit einem stetig wach-
senden Anteil an Menschen mit Behinderung überfordert
die kommunal finanzierten Daseinsvorsorgeleistungen.
Die bevorstehenden Herausforderungen haben sich zu
einer gesamtgesellschaftlichen Aufgabe entwickelt. Be-
hinderung ist ein Lebensrisiko, das jeden Menschen je-
derzeit treffen kann. Wir müssen die Eingliederungshilfe
für Menschen mit Behinderung zu einer zeitgemäßen
und zukunftsorientierten Hilfe weiterentwickeln, die den
behinderten Menschen und seine Bedürfnisse in den
Mittelpunkt stellt und ihn in die Gesellschaft gut inte-
griert.
Die Umsetzung der Eingliederungshilfereform sollte
in einem eigenen Bundesleistungsgesetz erfolgen, um
Menschen mit Behinderung aus dem „Fürsorgesystem“
herauszuführen. Ich begrüße die im Rahmen der inner-
staatlichen Umsetzung der neuen Vorgaben des Fiskal-
vertrages erzielte Einigung zwischen Bund und Ländern,
die Vorschriften zur Eingliederungshilfe durch ein Bun-
desleistungsgesetz abzulösen. Als gesamtgesellschaftli-
che Aufgabe muss sich der Bund künftig an den Kosten
für die Eingliederungshilfe angemessen beteiligen. Die
dafür notwendigen finanziellen Spielräume müssen wir
im Rahmen der Haushaltskonsolidierung erarbeiten.
Carsten Schneider (Erfurt) (SPD): Erst vor zwei
Monaten haben wir über den gleichen Entwurf dieses
Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalver-
trags gesprochen. Das Gesetz hat kurz vor Weihnachten
– weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit – keine
Zustimmung im Bundesrat gefunden, und auch die SPD-
Bundestagsfraktion hat das Gesetz damals abgelehnt.
Mit dem Gesetz sollen in Deutschland die Vorausset-
zungen für die nationale Anwendung des Fiskalvertrages
geschaffen werden. Man muss daran erinnern, dass Fi-
nanzminister Schäuble und auch die Bundeskanzlerin
noch vor einem Jahr, nach der Aushandlung des Vertra-
ges, erzählt haben, Deutschland sei quasi das Vorbild für
diesen Vertrag und erfülle mit seiner Schuldenbremse
bereits alle Vorgaben. Dass das nicht zutreffend ist, se-
hen wir an diesem Umsetzungsgesetz.
Es gibt aber auch noch ein anderes Problem. Der Ver-
trag über Stabilität, Koordinierung und Steuerung in der
Wirtschafts- und Währungsunion wurde als völkerrecht-
licher Vertrag geschlossen. Wenn schon eine Einigung
im Wege der Primärrechtsänderung nicht möglich gewe-
sen ist, wäre doch wenigstens eine Regelung im Rahmen
des europäischen Sekundärrechts deutlich besser gewe-
sen. Einerseits ist der Vertrag in seiner jetzigen Kon-
struktion weniger wirkungsvoll, da lediglich die Einfüh-
rung von nationalen Schuldenregeln vorgeschrieben
wird, die Einhaltung dieser selbstgewählten nationalen
Regeln durch den Vertrag ist aber nicht sichergestellt.
Auch das Zustandekommen des Vertrages aus natio-
naler Perspektive ist ein Problem. Wie beim ESM hat
auch bei dieser Vereinbarung die Bundesregierung es
versäumt, die nationalen Gesetzgeber rechtzeitig und
umfassend einzubeziehen. Schließlich konterkariert die
Vorgabe des Vertrages unsere verfassungsrechtliche
Schuldenregel. Während durch das Ergebnis der Födera-
lismuskommission II eine Schuldenregel in Höhe von
0,35 Prozent/BIP für den Bund ab 2016 und eine Null-
verschuldungsregel für die Länder ab 2020 eingeführt
27314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
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wurde, entsteht nun durch den neuen Vertrag eine ge-
samtstaatliche Begrenzung des strukturellen Defizits in
Höhe von 0,5 Prozent des BIP bereits ab 2013. Wenn die
Bundesregierung solche weitreichenden Vertragsver-
handlungen auf zwischenstaatlicher Ebene führt, muss
sie die nationalen Haushaltsgesetzgeber nicht nur infor-
mieren, sondern in die Verhandlungen mit einbeziehen.
Das hat die Bundesregierung unterlassen und damit in
eklatanter Weise gegen das Grundgesetz verstoßen, wie
ihr das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom
19. Juni 2012 bescheinigt hat.
Warum brauchen wir nun also ein Umsetzungsgesetz,
bzw. welche Defizite weist die deutsche Schuldenregel
gegenüber den Vorgaben des Fiskalvertrages auf? Die
EU-Kommission hat für eine möglichst einheitliche Ein-
führung der Schuldenregeln in den Teilnehmerstaaten
des Fiskalvertrages am 20. Juni 2012 gemeinsame
Grundsätze veröffentlicht. Dabei gilt ein wesentlicher
Grundsatz der Rolle und Unabhängigkeit der für die
Überwachung zuständigen Institutionen. Die Kommis-
sion hält darin fest, dass für die Glaubwürdigkeit und
Transparenz der Schuldenregeln – „Korrekturmechanis-
men“, wie sie technisch genannt werden – wesentlich ist,
dass die Überwachung durch unabhängige oder funktio-
nal autonome Stellen erfolgt. Für diese Stellen müssen
nationale Rechtsvorschriften erlassen werden, die ihnen
ein hohes Maß an funktionaler Autonomie gewähren,
einschließlich eines gesetzlich verankerten Status’, der
die Freiheit von Einflussnahme sichert, die Benennungs-
verfahren festlegt und angemessene Ressourcen und ei-
nen zur Erfüllung ihres Auftrags angemessenen Zugang
zu Informationen garantiert.
Die Kommission verfolgt hiermit ein Modell, das in
den vergangenen Jahren in vielen Ländern innerhalb und
außerhalb Europas in der einen oder anderen Form um-
gesetzt worden ist – oft als „Fiscal Council“ bezeichnet –
und das in der ökonomischen Literatur und in internatio-
nalen Organisationen wie der OECD viele Befürworter
hat. Deutschland als entschiedener Befürworter der Ein-
führung und Überwachung einer Fiskal- bzw. Schulden-
regel sollte sich dieser Entwicklung nicht verschließen.
Die Bundesregierung will mit ihrem Gesetzentwurf
zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalpaktes keine
neue Institution schaffen, sondern die Rolle des Stabili-
tätsrates stärken und ihm einen sogenannten Unabhängi-
gen Beirat beistellen. Dieser Vorschlag genügt den An-
forderungen nicht, und auch andere Länder sind in
diesem Bereich viel weiter. Dies hat auch die Anhörung
gezeigt, die der Haushaltausschuss anlässlich der Bera-
tungen zum ersten Gesetzentwurf am 19. November
letzten Jahres unter Beteiligung internationaler Experten
durchgeführt hat. So haben Schweden und die Nieder-
lande inzwischen renommierte Institutionen etabliert,
die eine unabhängige Beratung und objektive Betrach-
tung der Fiskalpolitik sicherstellen. Die USA haben das
Congressional Budget Office sogar schon 1975 geschaf-
fen. In Großbritannien hat die aktuelle Regierungskoali-
tion aus Konservativen und Liberalen ein solches Fiscal
Council eingerichtet, nur in Deutschland verweigert sich
die Regierungskoalition diesen Fortschritten.
Auch in einem aktuellen Bericht des Internationalen
Währungsfonds vom November 2012 über die Ausge-
staltungen nationaler Fiskalregeln wird deutlich, dass
Deutschland nicht über unabhängige Einrichtungen zur
Überwachung der Einhaltung der eigenen Schulden-
bremse verfügt. Von „funktioneller Eigenständigkeit ge-
genüber den Haushaltsbehörden des Mitgliedstaates“
kann beim Stabilitätsrat nicht ernsthaft die Rede sein.
Denn dem Stabilitätsrat gehören die Länderfinanzminis-
ter und der Bundesfinanzminister an. Eine Institution,
die aus den für die Haushaltsbehörden verantwortlichen
Ministern besteht, kann nicht glaubwürdig für sich eine
funktionale Eigenständigkeit gegenüber eben diesen
Haushaltsbehörden behaupten.
Die von der Bundesregierung als Argument angeführ-
ten gesetzlichen Regelungen über die Beschlussfassung
können diesen Konstruktionsmangel ebenso wenig hei-
len wie die Beigabe eines unabhängigen Beirats. Ein un-
abhängiges Beratergremium macht aus einer abhängigen
keine unabhängige Institution.
Auch ist der Vorschlag der Koalitionsfraktion nicht in
Einklang zu bringen mit dem bereits auf europäischer
Ebene bestehenden Gesetzespaket „Sixpack“ und dem
gerade in der Verhandlung steckendem „Twopack“.
Beide setzen voraus – ich zitiere –, dass die europäi-
schen Mitgliedstaaten über „einen unabhängigen Rat für
Finanzpolitik“ verfügen, „dessen funktionelle Eigen-
ständigkeit gegenüber den Haushaltsbehörden des Mit-
gliedstaats gegeben und dessen Aufgabe es ist, die Um-
setzung der nationalen Haushaltsregeln zu überwachen“.
Es gibt keinerlei Regelung zu Amtszeit, Ernennung
und Entlassung oder Amtsausstattung. In dem Beirat
sind lediglich die drei Mitglieder, die von Bundesbank,
Sachverständigenrat und Forschungsinstitutsverbund der
Gemeinschaftsdiagnose benannt werden, als unabhängig
zu bezeichnen; die anderen sechs Mitglieder werden von
den Vertretern der staatlichen Ebenen und Sozialver-
sicherungen benannt, deren Haushaltsgebaren kontrol-
liert werden soll. Bei diesem Verhältnis von 3 : 6 von ei-
nem unabhängigen Beirat zu sprechen, ist ein Witz. Eine
solche Regelung würde Deutschland einem anderen
Land in Europa nicht durchgehen lassen.
Mit diesen wesentlichen Abweichungen von den ver-
bindlichen Grundsätzen der EU-Kommission zur Ausge-
staltung der nationalen Schuldenregeln tragen deshalb
auch die Bundesregierung und die sie tragenden Koali-
tionsfraktionen das Klagerisiko vor dem EuGH. Die
SPD ist der festen Überzeugung, dass weder der Stabili-
tätsrat noch ein sogenannter unabhängiger Beirat als
Gremium dienen kann, um die Finanzpolitik der Regie-
rung auszuwerten. Dazu braucht es eine andere Rege-
lung, und deshalb schlagen wir die Einrichtung eines
Nationalen Rates für Haushalts- und Finanzpolitik vor.
Wir haben dafür einen ausführlichen Änderungsantrag in
die Beratungen eingebracht.
Gleichzeitig entstünde durch die Einrichtung dieses
nationalen Rates mit einem entsprechenden Sekretariat,
organisiert als Arbeitsstab beim Deutschen Bundestag,
auch die notwendige Verbesserung der Ausstattung des
Parlamentes um den gestiegenen Anforderungen, nicht
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27315
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zuletzt durch die seit 2008 anhaltende Finanzkrise,
sowie den neuen gesetzlichen Beteiligungsrechten und
-pflichten, die teilweise nach höchstrichterlicher Recht-
sprechung verankert wurden, gerecht werden zu können.
Die öffentliche Anhörung des Haushaltsausschusses
hat zu dieser Frage den Nachholbedarf des Bundestages
gegenüber den Parlamenten anderer westlicher Demo-
kratien deutlich belegt.
Wir begrüßen dagegen, dass die Koalitionsfraktionen
mit einer Ergänzung in dem heute vorliegenden Gesetz-
entwurf inzwischen den durch einen willkürlich gewähl-
ten Ausgangspunkt für den Abbaupfad des strukturellen
Defizits im Bundeshaushalt entstandenen Positivsaldo
auf dem Kontrollkonto der Schuldenbremse löschen wol-
len. Schließlich würde durch eine mögliche Inanspruch-
nahme dieses Saldos in Form von zusätzlichen Verschul-
dungsmöglichkeiten, die sich nach Berechnungen der
Bundesbank bis zum Jahr 2015 auf 50 Milliarden Euro
summieren werden, die Glaubwürdigkeit der noch jungen
verfassungsrechtlichen Schuldenregel gefährdet. Mit die-
ser Änderung der Koalitionsfraktionen wird nun endlich
auf die anhaltende Kritik der SPD-Bundestagsfraktion
seit mehr als zwei Jahren, die aber auch von Sachverstän-
digenrat, der Bundesbank, und dem Bundesrechnungshof
unterstützt wurde, eingegangen.
Gleichwohl wird durch diese Änderung nicht die Ur-
sache, nämlich der willkürlich gewählte Abbaupfad, kor-
rigiert. Damit hält sich die Koalition eine Hintertür für
die unterjährige Nutzung dieser Verschuldungsspiel-
räume im Haushaltsvollzug oder auch bei Nachtrags-
haushalten offen, wie auch die Bundesbank in ihrer Stel-
lungnahme zur schon genannten Anhörung kritisiert.
Politisches Wunschdenken darf keinen Einfluss mehr
auf unsere Finanz- und Haushaltsplanung haben. In
Richtung der Regierungskoalition sage ich dazu: Das
muss man aber auch wollen. Leider bekomme ich immer
mehr den Eindruck, dass Sie sich nicht trauen, ihre Poli-
tik unabhängiger und ehrlicher Analysen auszusetzen.
Weil Sie sich unserem Vorschlag für eine Verbesse-
rung der Arbeitsfähigkeit des Bundestages gerade im
Haushaltsausschuss offenbar aus Angst vor der Unbill
der Exekutive verweigern – obwohl Sie dem Anliegen
nach eigenem Bekunden bei den Beratungen grundsätz-
lich zustimmen –, lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
Dr. Florian Toncar (FDP): Wenn wir heute das Ge-
setz zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags
verabschieden, lohnt sich ein Rückblick auf das Jahr
2009, in dem eine der wichtigsten Reformen in Deutsch-
land, das Einfügen der Schuldenbremse in das Grundge-
setz, im Deutschen Bundestag beschlossen wurde. Das
war mitten in der Finanzkrise mutig. Ich glaube, das ist
nicht nur Anlass, stolz auf unser Land zu sein, sondern
durchaus auch Anlass, stolz auf das politische System in
Deutschland zu sein, das früher als viele andere erkannt
hat, dass zu viele Schulden eine Gefahr für Staaten und
für Gesellschaften darstellen können. Wir können stolz
darauf sein, dass Deutschland sich früher als andere Län-
der dafür entschieden hat, etwas dagegen zu tun.
Die christlich-liberale Koalition hat seit dem Jahr
2010 gewaltige Anstrengungen unternommen, um den
Haushalt zu konsolidieren. In der Krise stand eher das
Geldausgeben im Vordergrund. Damals sind immerhin
80 Milliarden Euro für Konjunkturprogramme ausgege-
ben worden. Es hat sich gezeigt, dass viele dieser Ausga-
ben durchaus richtig waren; dennoch mussten die da-
durch entstandenen Schulden in den Folgejahren wieder
ausgeglichen werden, um die Haushalte zu konsolidie-
ren. Eine der politischen Leistungen der christlich-libe-
ralen Koalition ist es, intelligent gespart zu haben; denn
Einsparen ist immer schwerer als Ausgeben.
Einsparen und gleichzeitig in die Zukunft zu investie-
ren, ist dabei die eigentliche politische Leistung. Die ha-
ben wir als Koalition erbracht. Das Ergebnis kann sich
sehen lassen. Bereits im abgelaufenen Jahr 2012 wurde
die Zielmarke der Schuldenbremse in Deutschland ein-
gehalten: 0,32 Prozent Neuverschuldung beim Bund.
Dieses Ziel haben wir vier Jahre früher erreicht, als das
Grundgesetz es von uns verlangt. Darauf sind wir stolz.
Ich glaube, vor drei, vier Jahren hätte es niemand für
möglich gehalten, dass wir das bereits im Jahr 2012 er-
reichen würden. Das ist eine gute Nachricht, insbeson-
dere für die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland.
Das haben wir geschafft, obwohl wir neue Schwer-
punkte gesetzt und investiert haben – im Bereich Bil-
dung und Forschung beispielsweise haben wir 12 Mil-
liarden Euro mehr ausgegeben –, obwohl wir die
Kommunen um annähernd 20 Milliarden Euro entlastet
haben und obwohl wir mit dem ESM infolge der Staats-
schuldenkrise eine Verpflichtung übernommen haben,
die uns bisher 17 Milliarden Euro gekostet hat. Trotz all
dieser Sonderbelastungen haben wir es geschafft, den
Haushalt weitgehend zu konsolidieren. Jedenfalls sind
wir auf einem sehr guten Weg.
Das Volumen, um das wir die Neuverschuldung
schneller gesenkt haben, als es das Grundgesetz von uns
verlangt, wurde auf einem sogenannten Kontrollkonto
gebucht: Wenn der Bund in einem Jahr weniger Schul-
den macht als erlaubt, darf er in den folgenden Jahren et-
was mehr Schulden machen. Ein Vorwurf der Opposi-
tion lautete immer, die Koalition würde sich so eine
„Kriegskasse“ für das Wahljahr 2013 anlegen, um dann
noch einmal richtig Geld auszugeben, um Wahlpro-
gramme finanzieren zu können. Angekommen im Jahr
2013, muss die Opposition nun einräumen, dass die Aus-
gaben konstant geblieben sind und die Schulden weiter
abgebaut werden. Wenn dieser Gesetzentwurf heute nun
beschlossen wird, dann wird das Kontrollkonto, das die
Opposition für eine Wahlkampfkasse gehalten hat, voll-
ständig gelöscht. Unsere Sparerfolge dürfen also in den
kommenden Jahren nicht durch neue Ausgaben zu-
nichtegemacht werden. Das ist eine sinnvolle Regelung
und zeigt auch, dass Verschwörungstheorien oft einfach
nur Verschwörungstheorien sind.
Mit dem Fiskalpakt hat die christlich-liberale Bundes-
regierung es geschafft, diese Politik der Konsolidierung
und der finanziellen Stabilität auf Europa zu übertragen.
Lange galt eine Neuverschuldungsgrenze von 3 Prozent
in Europa, die mit dem Maastricht-Vertrag festgelegt
wurde. Es war eine rot-grüne Bundesregierung, die diese
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europaweite Verschuldungsgrenze maßgeblich mit ein-
gerissen hat, indem sie sich selber nicht daran gehalten
hat. Das musste repariert werden. Die christlich-liberale
Koalition ist das angegangen. Das Wort „Fiskalpakt“ ist
letzten Endes nur ein Begriff dafür, dass es uns, dieser
Regierung, zusammen mit unseren europäischen Part-
nern gelungen ist, die Fehlentscheidungen von damals
zu korrigieren und in Europa wieder strenge Regeln ge-
gen Verschuldung einzuführen, damit Staaten nicht wie-
der in die Situation kommen, in der sich einige Länder
Europas zurzeit befinden. Dieser Fiskalpakt ist ein gro-
ßer europapolitischer Erfolg der Bundesregierung. Er
enthält strenge Regeln, klare Sanktionen und auch ein
Bekenntnis zum Abbau der bestehenden Staatsverschul-
dung.
Das wird jetzt mit diesem Gesetz ins deutsche Recht
umgesetzt, sofern das erforderlich ist. Im Haushalts-
grundsätzegesetz wird noch einmal klargestellt, dass ne-
ben der Schuldenobergrenze von 0,35 Prozent die etwas
anders berechnete Grenze nach dem Fiskalpakt gilt,
nämlich 0,5 Prozent. Der sogenannte Stabilitätsrat über-
wacht die Einhaltung des Fiskalpakts, damit das transpa-
rent und unabhängig geschieht.
Ein besonders wichtiger Punkt sind die Strafzahlun-
gen der Länder. Der Bund hat sich im Rahmen eines
Kompromisses – um einen für Deutschland und Europa
elementar wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung,
nämlich den Fiskalpakt, zu retten – auch den Ländern
gegenüber verpflichtet, deren Strafzahlungen mit zu
übernehmen, wenn sie dazu beitragen, dass Deutschland
gegen den Fiskalpakt verstößt. Das war meines Erach-
tens eine sehr großzügige Geste des Bundes, mit der er
noch einmal gezeigt hat, dass ihm außenpolitische und
europapolitische Interessen sowie finanzielle Stabilität
wichtiger sind als das Klein-Klein um Zuständigkeiten
in unserem Föderalismus und die parteitaktischen Schar-
mützel von Rot-Grün. Dafür muss man denen, die das
verhandelt haben, ein großes Kompliment machen.
Wenn der Fiskalpakt daran gescheitert wäre, wäre das
für Deutschland und Europa unverantwortlich gewesen.
Ich fasse zusammen: Europa denkt um – solide Finan-
zen statt Strohfeuer, ausgeglichene Haushalte als binden-
des Ziel für alle. Das ist ein Beitrag zur Lösung dieser
Krise und auch ein Beitrag für eine stabile Währungs-
union in der Zukunft. Mit der heutigen Verabschiedung
des Gesetzes sorgt Deutschland für noch mehr finan-
zielle Solidität.
Dr. Gesine Lötzsch (DIE LINKE): Die Koalitions-
fraktionen CDU/CSU und FDP haben erneut einen
Gesetzentwurf zur innerstaatlichen Umsetzung des
Fiskalvertrags vorgelegt. Dieser entspricht im Kern
dem Gesetzentwurf der Bundesregierung Drucksache
17/10976.
Die Linke, die SPD und der Bundesrat haben im De-
zember 2012 ihre Zustimmung verweigert. Wir sind der
Auffassung, dass der Fiskalvertrag nicht zur Stabilisie-
rung des Euro führt. Der Vertrag soll vielmehr genutzt
werden, um die Kosten der Finanzkrise auf die Bürgerin-
nen und Bürger abzuwälzen. Das lehnen wir ab.
Im März 2012 haben 25 EU-Regierungen den Fiskal-
vertrag unterzeichnet. In diesem Vertrag ist eine Ober-
grenze für das jährliche strukturelle Defizit von höchs-
tens 0,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts festgelegt.
Das ist auch der wichtigste Punkt des neuen Entwurfes
zur Umsetzung des Fiskalvertrages. Diese Regelung
lehnen wir ab. Sie ist ökonomischer Unsinn. Sie schränkt
die Handlungsfähigkeit der EU-Staaten dramatisch ein.
Griechenland ist ein trauriges Beispiel dafür, dass
Kürzungspolitik nicht der Ausweg aus der Krise ist.
Ferner ist vorgesehen, dass der Stabilitätsrat damit
beauftragt wird, die Einhaltung dieser Defizitgrenze zu
überwachen. Zur Unterstützung des Stabilitätsrates soll
ein unabhängiger Beirat eingerichtet werden. Meine
Erfahrung mit unabhängigen Beiräten ist, dass sie in der
Regel nicht unabhängig sind.
Zudem soll mit der Änderung des Sanktionszah-
lungs-Aufteilungsgesetzes die innerstaatliche Aufteilung
der Sanktionen zur „Sicherung der Haushaltsdisziplin“
geregelt werden. Jeder, der es wissen will, weiß, dass das
Problem nicht die fehlende Haushaltsdisziplin der
Regierungen ist.
Der Fiskalvertrag soll die EU angeblich in eine Stabi-
litätsunion umwandeln und auf diese Weise dazu beitra-
gen, die Euro-Krise zu überwinden. Dies wird jedoch
nicht gelingen: Die Euro-Krise wurde nicht dadurch aus-
gelöst, dass die Staaten über ihre Verhältnisse gelebt
bzw. eine zu laxe Ausgabenpolitik betrieben hätten. Die
hohe Verschuldung einiger Mitgliedstaaten ist vielmehr
auf die Finanzkrise zurückzuführen, in der die Staaten
Banken, die sich verspekuliert hatten, mit Milliarden-
summen gerettet haben. Zur Abwehr der darauffolgen-
den Wirtschaftskrise mussten weitere Milliarden aufge-
bracht werden. Allein in Deutschland wurden über
335 Milliarden Euro aufgewandt, um die Krisenauswir-
kungen zu bekämpfen.
Anstatt nun endlich die Finanzmärkte wirksam zu
regulieren, werden mit dem Fiskalvertrag die Vertrags-
staaten „diszipliniert“, das heißt zu einer strikten
Kürzungspolitik gezwungen. Dies löst die Euro-Krise
nicht, sondern verschärft sie. Der Finanzsektor hat bis
heute noch keinen substanziellen Beitrag dazu geleistet,
seinen Anteil an der Verschuldung zu finanzieren. Selbst
die geplante Finanztransaktionsteuer wird in keiner
Weise die Schäden, die die Banken verursacht haben,
decken können. Wir brauchen eine Zwangsanleihe auf
große Vermögen, wie es das Deutsche Institut für Wirt-
schaftsforschung vorgeschlagen hat. Die Einnahmen aus
dieser Anleihe würden den Fiskalvertrag sofort überflüs-
sig machen.
Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN): Ein weiteres Mal diskutieren wir heute über ein
Gesetz zur Umsetzung des Fiskalvertrags. Dabei könnte
längst alles klar sein: Der Bundestag hatte ein entspre-
chendes Gesetz ja bereits Ende 2012 beschlossen. Die
Länder haben das Gesetz im Bundesrat allerdings blo-
ckiert. Das war leider folgerichtig, weil die Bundesregie-
rung ihre eigenen Zusagen nicht eingehalten hat. Bis
Jahresende wurde keine Neuregelung der sogenannten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27317
(A) (C)
(D)(B)
Entflechtungsmittel auf den Weg gebracht, wie es die
Bundesregierung den Ländern versprochen hatte. Die
Bundesregierung hat hoch gepokert und verloren, weil
sich die Länder das zu Recht nicht haben bieten lassen.
Gesetzesverabschiedung im Schnelldurchlauf: Es ist
schon verwunderlich, wie eilig es die Bundesregierung
letztes Jahr hatte, das vorliegende Gesetz zu verabschie-
den. Für die abschließende Beratung gab es nicht einmal
eine eigene Debatte, das Gesetz wurde hier im Bundes-
tag zusammen mit dem Haushalt für 2013 behandelt. Es
konnte gar nicht schnell genug gehen, weil die Fiskal-
vertragsumsetzung noch im selben Jahr festgezurrt wer-
den sollte, im Bundestag wie im Bundesrat. Budget Of-
fice wurde wegen Zeitdruck nicht diskutiert.
Etwas mehr Zeit hätte den Beratungen allerdings gut-
getan. Im Raum stand beispielsweise der Vorschlag, das
unabhängige Kontrollgremium, das laut Fiskalvertrag
die Einhaltung der Fiskalregeln überwachen soll, zur
Einführung einer Institution wie dem Budget Office in
den USA zu nutzen. So eine Institution wäre nicht nur
unabhängiger als ein Beirat für den bestehenden Stabili-
tätsrat; sie könnte durch wissenschaftliche Expertise und
unabhängige Beratung auch die Rolle des Parlaments
stärken. Für diese Idee sollte es auch in den Reihen der
Koalition Sympathien geben. Umso ärgerlicher, dass wir
durch das damalige hastige Verfahren nicht wirklich da-
rüber beraten konnten. Ich würde mir im Interesse des
gesamten Hauses wünschen, dass wir an diesem Punkt
vielleicht doch noch zusammenfinden.
Forderungen der Länder ernst nehmen: Das Fiskal-
vertragsumsetzungsgesetz werden wir heute ein zweites
Mal beschließen, und ich hoffe, dass die Koalition aus
der letzten Panne gelernt hat. Noch ist das Gesetz für die
Entflechtungsmittel nicht in den Bundestag eingebracht
worden. Wünschenswert wäre jetzt ein paralleles Verfah-
ren gewesen, um weitere Konflikte zwischen Bundesre-
gierung und Ländern zu vermeiden. Wir werden sehen,
ob diese Beschlussfassung von Erfolg gekrönt ist oder
ob eine dritte Runde notwendig wird. Ich hoffe, diese
Peinlichkeit bleibt uns erspart.
Anlage 12
Zu Protokoll gegebene Rede
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-
tion im Wahlrecht (Tagesordnungspunkt 25)
Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE): Der vorliegende Ge-
setzentwurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist eine
gute Grundlage für erfolgversprechende Beratungen in
den Ausschüssen und ein Ergebnis, das pauschalen
Wahlrechtsausschluss beendet. Momentan haben wir ei-
nen Diskriminierungstatbestand, der eines der grundle-
gendsten Bürgerrechte – das Wahlrecht – betrifft. Ich
meine: Er muss noch vor der diesjährigen Bundestags-
wahl beseitigt werden.
Die Behindertenbewegung fordert das seit Monaten.
Initiiert von der Monitoringstelle des Deutschen Institu-
tes für Menschenrechte sprachen sich 22 Verbände über
den Deutschen Behindertenrat für die sofortige Strei-
chung von Abs. 2 und 3 in § 13 Wahlgesetz aus.
Die Koalition aus CDU, CSU und FDP hat eine große
Chance vertan, bei der Änderung des Bundeswahlgeset-
zes diese Verbändeposition aufzugreifen. Damit vergab
sie auch eine Chance, die Interessenvertretungen von
Menschen mit Behinderungen als Partner und politische
Mitgestalter auf Augenhöhe öffentlich zu würdigen. Das
widerspricht ihrer Selbstverpflichtung aus der Ratifizie-
rung der UN-Konvention, Art. 4, Abs. a: „Die Vertrags-
staaten verpflichten sich … alle geeigneten Gesetzge-
bungs-, Verwaltungs- und sonstigen Maßnahmen zur
Umsetzung der in diesem Übereinkommen anerkannten
Rechte zu treffen.“ Zu diesen anerkannten Rechten ge-
hört nach Art. 29 ausdrücklich die Teilhabe am politi-
schen und öffentlichen Leben.
Bis heute fehlen verlässliche Zahlen, wie viele Men-
schen nicht wählen dürfen, weil eine Betreuung „in allen
Angelegenheiten“ bestellt wurde. Von 1,2 Millionen
Menschen in Betreuung sollen es, geschätzt, zwischen
15 000 und 20 000 sein. Doch geht es weniger um die
Zahl der Betroffenen. Schon ein Einziger genügte, um
das Grundsatzproblem aufzuwerfen: Dürfen Gesetze
oder Richter, Menschen mit Behinderungen zu Nicht-
staatsbürgern erklären – ihnen das Wahlrecht entziehen –,
obgleich im Betreuungsrecht ihre Staatsbürgerlichkeit
ausdrücklich vorausgesetzt ist? Bleibt das Wahlrecht all-
gemein, wenn es pauschal eingeschränkt werden darf,
ohne dass eine individuelle Straftat vorliegt, die zum
Entzug aller staatsbürgerlichen Rechte führt? Wir haben
die absurde Situation, dass Straftäter ohne Behinderung
in Deutschland wählen dürfen, soweit ihnen das Wahl-
recht nicht per Richterspruch aberkannt wurde, während
Straftätern mit Behinderung, untergebracht in der foren-
sischen Psychiatrie, das Wahlrecht entzogen ist. Das ist
ein Diskriminierungstatbestand, der sofort aufzuheben
ist.
Ich erinnere noch einmal an die Forderung der Frak-
tion Die Linke, endlich die Antidiskriminierungsricht-
linie der Europäischen Union zu ratifizieren. Fast ein
Viertel der Anfragen in der Antidiskriminierungsstelle
des Bundes kommen von Menschen, die sich wegen ei-
ner Behinderung benachteiligt fühlen. Jeder fünfte Deut-
sche verbindet nach einer Forsa-Umfrage mit dem Wort
„Behinderung“ auch die Tatbestände „Benachteiligung“
und „Diskriminierung“. Das muss alarmieren.
Gestern gedachten wir der Opfer der „Euthanasie“-
Morde. Die Vorstufe zu diesen menschenverachtenden
Morden war die gewohnheitsmäßige und gesetzliche
Diskriminierung. Wer „Euthanasie“ unumkehrbar un-
möglich machen will, muss sorgsam jede noch so kleine
Diskriminierung infolge einer Behinderung ahnden und
gesellschaftlich ächten. Deshalb plädiere ich auch ener-
gisch für eine Aufhebung des Wahlrechtsausschlusses
innerhalb des Wahlrechtes und nicht im Betreuungs-
recht, wie es von einigen Kollegen ins Gespräch ge-
bracht wurde. Das deutsche Betreuungsrecht berührt zu
Recht das Wahlrecht bisher nicht. Das Wahlrecht als
Staatsbürgerrecht schlechthin gehört nicht in einen
27318 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
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Rechtskreis, der ausdrücklich vom Defizit eines Men-
schen ausgeht. Das Hohe Haus wird sich sehr bald mit
dem Betreuungsrecht im Lichte der UN-Konvention be-
fassen müssen. Dann geht es aber um die volle Hand-
lungs- und Geschäftsfähigkeit jedes Menschen. Davon
ist unser dem Vormundschaftsgedanken nach wie vor
verpflichtetes Betreuungsrecht noch weit entfernt. Es
entspricht nicht dem Behinderungsbegriff der UN-Be-
hindertenrechtskonvention.
Dieser Konvention entspräche ein umfassendes As-
sistenzrecht, das den Anspruch jedes Menschen mit Be-
hinderung auf bedarfsgerechte Assistenz einkommens-
und vermögensunabhängig regelt und zugleich den Be-
ruf des Assistenten gesetzlich bestimmt. Das Vorsorge-
recht geht da in die richtige Richtung. Auch die Bundes-
wahlordnung schreibt den Anspruch der Unterstützung
bei der Wahl schon heute fest.
Wir sind auch deshalb gegen eine Regelung des
Wahlrechtsausschlusses innerhalb des Betreuungsrech-
tes, weil dieses im Sinne des BGB auf die „natürliche
Einsichtsfähigkeit“ abstellt. Praktisch wird jedoch schon
jetzt nicht von dieser natürlichen Einsichtsfähigkeit aus-
gegangen. Menschen mit Vorsorgevollmacht dürfen sich
bei der Wahl vertreten lassen, selbst wenn sie dement
sind. Aber Demente ohne Vorsorgevollmacht dürfen
nicht wählen. Jede Wählerin und jeder Wähler müsste
eigentlich überprüft werden, ob er natürlich einsichts-
fähig ist oder nicht. Es geht beim Wahlrecht eben nicht
um ein natürlich-physiologisches Vermögen. Es geht um
politische Meinung, selbst als Ahnung oder als Gefühl
oder aus früherer Gewohnheit. Diese kann jeder Mensch
entwickeln, auch wenn er viele Lebensangelegenheiten
nicht selbst regeln kann.
Energisch spricht sich die Linke gegen den Vorschlag
aus Koalitionskreisen aus, dass ein Richter, eine Richte-
rin über die Aberkennung des Wahlrechts entscheiden
soll. Herr Minister Friedrich stellt dabei auf die „richter-
liche Überzeugungsbildung“ ab. Ob ein Mensch jedoch
seine staatsbürgerlichen Rechte wahrnehmen kann, ist
eine praktische Frage. Erst wenn der Wahlakt ausgeübt
wurde, wird sich erwiesen haben, welche Politik ein
Wähler, eine Wählerin für sich einsichtig fand. Wer den
Wahlakt nicht mehr bewältigt, wählt eben nicht. Wer den
Wahlakt nicht versteht, gibt eben eine ungültige Stimme
ab. Nichtwahl und ungültige Wahl lässt das Wahlrecht
ausdrücklich zu, egal ob ich mit oder ohne Behinderung
nicht oder ungültig wähle.
Es geht um die Allgemeinheit der Wahl. Der Staats-
bürger will das Recht nicht als Privileg, meinte einst He-
gel. Nach unserem Verständnis des Staatsbürgerrechts
könnte der § 13 des Bundeswahlgesetzes sogar komplett
entfallen. Wird nicht von der Einsichtsfähigkeit ausge-
gangen, wäre es juristisch sogar konsequent, das Wahl-
recht an keine Altersgrenze zu koppeln, also jegliche Al-
tersbegrenzung aufzuheben.
Doch diese Debatte würde die dringliche – jetzt mög-
liche – Gesetzesänderung nur verzögern. Deshalb werde
ich meiner Fraktion empfehlen, dem Gesetzentwurf zu-
zustimmen. Auch im Interesse einer breiten öffentlichen
Debatte über notwendige Anforderungen für die politi-
sche Teilhabe von Menschen mit Behinderung im Bun-
destagswahljahr. Menschen mit Behinderungen brau-
chen barrierefreie Wahllokale, Wahlunterlagen in
leichter Sprache, Wahlschablonen und andere Leitsys-
teme – und eine Wahlwerbung, die für jeden Menschen
mit Beeinträchtigung zugänglich und verständlich ist.
Anlage 13
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur
Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch
und anderer Gesetze (Tagesordnungspunkt 31)
Heike Brehmer (CDU/CSU): Zwei Jahre Bildungs-
und Teilhabepaket bedeuten zwei Jahre „Mitmachen
möglich machen“. Das Bildungs- und Teilhabepaket bie-
tet Kindern und Jugendlichen aus Geringverdienerfami-
lien seit zwei Jahren eine Chance, an Bildungsangeboten
und Aktivitäten mit Gleichaltrigen teilzunehmen. Dazu
gehören Angebote aus den Bereichen Sport, Musik und
Kultur ebenso wie das warme Mittagessen in der Schule,
der Kita oder im Hort.
Mit dem Bildungs- und Teilhabepaket haben wir erst-
mals seit der Einführung der Hartz-IV-Gesetze im Jahr
2005 bedürftigen Kindern und Jugendlichen eine Chance
gegeben, an Bildungs- und Freizeitangeboten teilzuneh-
men. Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der SPD
und der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, dies haben Sie
versäumt, als Sie seinerzeit in der Regierungsverantwor-
tung waren und die Hartz-IV-Gesetze auf den Weg ge-
bracht haben.
Der CDU/CSU liegt das Thema Bildung besonders
am Herzen; denn Bildung ist der Schlüssel zum Eintritt
ins spätere Erwerbsleben, zu beruflichem Erfolg und
Wohlstand. Vor rund einem Jahr, im März 2012, habe ich
in diesem Hohen Hause ebenfalls zum Thema Bildungs-
und Teilhabepaket gesprochen. Damals habe ich aus den
Erfahrungen in meinem Wahlkreis Harz berichtet. In
meinem Wahlkreis wird das Bildungs- und Teilhabepaket
sehr gut von den betroffenen Familien angenommen.
Inzwischen ist ein weiteres Jahr in der Umsetzung des
Teilhabepakets vergangen. Die Praxis der vergangenen
zwei Jahre hat gezeigt: Das Bildungspaket wird gut an-
genommen, die derzeitigen Regelungen führten aber an
einigen Stellen zu einem erhöhten Verwaltungsaufwand.
Das liegt zum Teil daran, dass wir es beim Bildungs- und
Teilhabepaket mit Sachleistungen zu tun haben. Sach-
leistungen erfordern oftmals einen höheren Verwaltungs-
aufwand als Geldleistungen.
Als wir 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket einge-
führt haben, haben wir uns ganz bewusst für das Sach-
leistungsprinzip entschieden. Die Leistungen sollen dort
ankommen, wo sie hingehören: zu den Kindern und Ju-
gendlichen aus den bedürftigen Familien.
Nach zwei Jahren Praxiserfahrung wollen wir für die
betroffenen Familien auf der einen Seite und für Träger
und Leistungserbringer auf der anderen Seite die Umset-
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zung des Teilhabepakets erleichtern. Wir wollen Büro-
kratie abbauen und die Inanspruchnahme erleichtern.
Darauf haben sich die Vertreter von Bund, Ländern
und kommunalen Spitzenverbänden im Vorfeld des vier-
ten Runden Tisches zum Bildungs- und Teilhabepaket
im Herbst 2012 verständigt. Im Anschluss daran hat die
Bund-Länder-AG „Bildung und Teilhabe“ einen Vor-
schlag erarbeitet, den die Arbeits- und Sozialminister auf
ihrer gemeinsamen Konferenz im November 2012 auf-
gegriffen haben.
Die Länder haben sich einstimmig auf die folgenden
Punkte zur Verwaltungsvereinfachung geeinigt: Veraus-
lagte Geldmittel sollen im Nachhinein erstattet werden
können, wenn Leistungen nicht rechtzeitig erbracht wer-
den konnten, wie zum Beispiel vor einem Klassenaus-
flug. Bei der Teilhabe soll es die Möglichkeit geben,
Mittel für Teilhabeangebote im Bewilligungszeitraum
anzusparen, auch rückwirkend. Bei der Schülerbeförde-
rung soll der Eigenanteil künftig in der Regel bei 5 Euro
angesetzt werden. Die Möglichkeit einer Geldleistung
für anstehende Klassenfahrten bedeutet keine grundle-
gende Abkehr vom Sachleistungsprinzip. Unter be-
stimmten Voraussetzungen soll es möglich sein, die Teil-
habeleistung von 10 Euro pro Monat nicht nur für die
Bereiche Sport, Musik, Kultur usw., sondern in Ausnah-
mefällen auch für Ausrüstungsgegenstände in diesen Be-
reichen verwenden zu können. Es soll in Zukunft mög-
lich sein, dass die Träger mit den Leistungserbringern
auch im SGB XII pauschal abrechnen können.
Nach den anfänglichen Anlaufschwierigkeiten des
Bildungs- und Teilhabepakets hat unsere Ministerin Frau
Dr. von der Leyen reagiert und die Runden Tische ins
Leben gerufen, welche seitdem regelmäßig stattfinden.
Sie bieten den politischen und gesellschaftlichen Akteu-
ren die Möglichkeit, ihre Erfahrungen rund ums Bil-
dungspaket auszutauschen.
Dieser Austausch ist wichtig; denn die kommunalen
Träger vor Ort sind es, die das Bildungs- und Teilhabe-
paket vor Ort umsetzen. Jobcenter und Arbeitsagenturen
leisten ebenso wie Landkreise und kreisfreie Städte eine
hervorragende Arbeit, so auch in meinem Wahlkreis
Harz. Hier ist das örtliche Jobcenter – die Kommunale
Beschäftigungsagentur KoBa – zuständig. Die Mitarbei-
terinnen und Mitarbeiter der KoBa zeigen sich bei der
Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets sehr enga-
giert und leisten eine hervorragende Arbeit.
Das Jobcenter leistet einen großen Beitrag im Bereich
Öffentlichkeitsarbeit und Kommunikation im Landkreis
Harz und ist ein zuverlässiger Ansprechpartner für die
Betroffenen. Auch die Vereine aus den Bereichen Sport,
Kultur und weiteren Freizeitangeboten profitieren vom
Bildungs- und Teilhabepaket.
In dieser Woche verlieh der Deutsche Olympische
Sportbund gemeinsam mit dem Bundespräsidenten die
Auszeichnung „Sterne des Sports“ an engagierte Sport-
vereine in ganz Deutschland.
Der Präsident des Kreissportbundes Harz, Herr Rühe,
berichtete mir, dass das Bildungs- und Teilhabepaket
nach wie vor sehr gut angenommen wird. Viele Sport-
vereine im Harz profitieren von den Möglichkeiten der
Vereinsmitgliedschaft für Kinder aus sozial schwächeren
Familien. Das bereichert die Gemeinschaft unter den
Kindern, aber auch die Vereinslandschaft.
Wir in der christlich-liberalen Koalition wollen allen
Kindern und Jugendlichen aus bedürftigen Familien
auch in Zukunft eine Chance auf Bildung und Teilhabe
ermöglichen. Aus diesem Grund begrüßen wir die Vor-
schläge von Bund, Ländern und kommunalen Spitzen-
verbänden, den Verwaltungsaufwand beim Bildungspa-
ket zu vereinfachen.
Wir wollen die Inanspruchnahme des Bildungspakets
für Eltern und Kinder erleichtern. Wir wollen die kom-
munalen Träger und Leistungserbringer von unnötigem
bürokratischem Aufwand entlasten.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Opposi-
tion, ich appelliere an Sie, dem Gesetzentwurf zuzustim-
men, welchen die Bund-Länder-AG im konstruktiven
Miteinander vorbereitet haben.
Paul Lehrieder (CDU/CSU): Ich denke, wir sind uns
alle einig, dass Kinder unsere Zukunft sind, der Grund-
pfeiler unserer Gesellschaft. Sie kennzeichnen den Weg,
den unsere Gesellschaft künftig gehen wird. Wohin die-
ser Weg führt, hängt entscheidend davon ab, welche
Chancen wir jungen Menschen eröffnen und welche
Möglichkeiten wir ihnen bieten. Was gibt es Schlimme-
res für Kinder, als nicht mit ihren Klassenkameraden am
Schulausflug teilnehmen zu können, weil den Eltern
hierzu schlichtweg die finanziellen Mittel fehlen?
Die unionsgeführte Bundesregierung hat dafür ge-
sorgt, dass Kinder die schmerzliche Erfahrung, nicht da-
bei sein zu können, künftig nicht mehr machen müssen.
Das Bildungs- und Teilhabepaket wurde durch das Ge-
setz zur Ermittlung von Regelbedarfen und zur Ände-
rung des Zweiten und Zwölften Buches Sozialgesetz-
buch eingeführt. Die Änderungen sind am 1. April 2011
rückwirkend zum 1. Januar 2011 in Kraft getreten.
Neben der infolge des Bundesverfassungsgerichtsur-
teils vom 9. Februar 2010 notwendig gewordenen Neu-
bemessung der Regelleistungen für Kinder und Jugendli-
che verfolgt das Gesetz das Ziel, ein gleichberechtigtes
Maß an Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft und den
gleichberechtigten Zugang zu Bildung im schulischen
und außerschulischen Bereich für Kinder aus besonders
förderungsbedürftigen Haushalten sicherzustellen. Das
Bildungspaket gibt 2,5 Millionen bedürftigen Kindern
aus Geringverdienerfamilien bessere Zukunftschancen.
Das Bildungspaket leistet einen wichtigen Beitrag, damit
Kinder aus ärmeren Familien am gesellschaftlichen Le-
ben teilhaben können und bessere Bildungschancen ha-
ben.
Eltern, die auf Hartz IV oder Wohngeld angewiesen
sind, können für ihre Kinder ein staatlich subventionier-
tes Mittagessen in der Schule, einen monatlichen Zu-
schuss für den Sportverein oder Nachhilfe beantragen.
Ganze 1,6 Milliarden Euro wurden hierfür vom Bund
bereitgestellt. Neben dem Mittagessen, dem Zuschuss
zum Sportverein sowie der Lernförderung gehören auch
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die Teilnahme an Ausflügen, Schulbedarf sowie Schü-
lerbeförderung zum breiten Leistungsspektrum des Bil-
dungspakets. Nach anfänglichen Anlaufschwierigkeiten
ist das Bildungs- und Teilhabepaket – entgegen der weit-
läufigen Meinung – nunmehr auch sehr gut angenom-
men worden. Zwar ist die Antragsquote von 62 Prozent
aus dem März des vergangenen Jahres noch nicht ausrei-
chend und durchaus noch ausbaufähig – jedoch schon
ein beachtlicher Schritt. Die aktuellen Zahlen müssen
jetzt abgewartet und entsprechend bewertet werden.
In meinem Wahlkreis Würzburg beispielsweise sind
die Ausgaben im SGB-II-Bereich 2012 gegenüber dem
Vorjahr um etwa 50 Prozent gestiegen. Insbesondere bei
den Leistungen für eine notwendige Lernförderung und
der Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der
Gemeinschaft waren sogar Steigerungen von über
100 Prozent zu verzeichnen. Man kann also mit Recht
behaupten, dass sich das Bildungs- und Teilhabepaket in
Würzburg etabliert hat, was aber auch an der guten In-
formationsweitergabe der Schulen und Kindertagesein-
richtungen hin zu den Eltern liegt.
Wir machen auch keinen Hehl daraus, dass die Ver-
gabe der Mittel aus dem Bildungspaket noch nicht rei-
bungslos verläuft. So wird beispielsweise der enorme
Verwaltungsaufwand vielfach als eine der Haupthürden
für die Inanspruchnahme angeführt. Daher begrüßen wir
die vom Bundesrat durch den Entwurf eines Gesetzes
zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und
anderer Gesetze eingebrachten Änderungen. Diese sind
auch das Ergebnis der sogenannten Runden Tische mit
den Ländern und kommunalen Spitzenverbänden, die in
regelmäßigen Abständen tagen, das Programm bewerten
und begleiten und damit schnell auf Beschwerden und
Schwierigkeiten eingehen können.
In Anbetracht der Erfahrungen bei der Anwendung
des Bildungs- und Teilhabepaketes sollen einige Maß-
nahmen auf den Weg gebracht werden, die zu Vereinfa-
chungen auf Verwaltungsebene führen, um die Inan-
spruchnahme des Paketes zu erleichtern. Einigkeit
konnte demnach auf folgende Verwaltungsvereinfachun-
gen erzielt werden:
So wird beispielsweise der Eigenanteil im Rahmen
der Schülerbeförderung künftig in der Regel auf 5 Euro
festgesetzt; eine abweichende Festsetzung bleibt jedoch
möglich.
Zudem wird unter bestimmten Voraussetzungen die
Teilhabeleistung von bis zu 10 Euro im Monat nicht nur
für Verwendungszwecke im Bereich Sport, Spiel, Kultur
und Freizeit, sondern in Ausnahmefällen auch für benö-
tigte Ausrüstungsgegenstände verwendet werden kön-
nen.
Den kommunalen Trägern soll die Möglichkeit einge-
räumt werden, Mittel für Klassenfahrten auch als für den
unmittelbaren Zweck nachgewiesene Geldleistungen zu
erbringen.
Ungeachtet des Sach- und Dienstleistungsprinzips
sollen verauslagte Geldmittel auch nachträglich erstattet
werden können, wenn Leistungen zum Beispiel vor ei-
nem Klassenausflug nicht rechtzeitig erbracht werden
konnten.
Im Bereich der Teilhabe soll es ermöglicht werden,
Mittel für Freizeiten und andere Teilhabeangebote im
Bewilligungszeitraum auch rückwirkend anzusparen.
Schließlich sollen die Träger mit den Leistungsanbie-
tern auch im SGB XII pauschal abrechnen können.
Ich bin überzeugt, dass der vorliegende Gesetzent-
wurf einen wesentlichen Beitrag zur Vereinfachung und
gezielten Optimierung des Verwaltungsaufwands beim
Bildungs- und Teilhabepaket leisten wird und die Inan-
spruchnahme sowie Akzeptanz noch weiter steigern
wird.
Angelika Krüger-Leißner (SPD): Wir sind uns ei-
nig, dass alle Kinder und Jugendliche in unserem Land
das Recht auf Bildung und soziokulturelle Teilhabe ha-
ben. Dieses Recht ist uns Verpflichtung und Ansporn zu-
gleich. Die finanziellen Möglichkeiten der Eltern dürfen
nicht ausschlaggebend dafür sein, in welchem Umfang
die Kinder und Jugendlichen dieses Recht wahrnehmen
können.
Mit dem Urteil vom 9. Februar 2010 hat das Bundes-
verfassungsgericht den Gesetzgeber verpflichtet, die Re-
gelbedarfe neu zu bemessen. Dabei hat uns das Bundes-
verfassungsgericht ins Stammbuch geschrieben, die
Sicherung des soziokulturellen Existenzminimums und
die Teilhabe an Bildung für alle Kinder in unserem Land
ins Augenmerk zu nehmen.
Im Zusammenhang mit dem Gesetz zur Ermittlung
der Regelbedarfe vom 24. März 2011 und den langen so-
wie umfangreichen Verhandlungen wurde rückwirkend
zum 1. Januar 2011 das Bildungs- und Teilhabepaket
eingeführt. Die gesetzlichen Regelungen sehen vor, dass
die Leistungen zur Deckung der genannten Bedarfe fast
ausschließlich durch Sach- und Dienstleistungen er-
bracht werden. Die Bundesregierung hat sich seinerzeit
dagegen entschieden, die Bedarfe unbürokratisch über
eine Anpassung der Regelsätze zu decken. Dies wurde
und wird zu Recht durch Expertinnen und Experten so-
wie Verbände kritisiert.
Schon zu Beginn war klar, dass das Bildungs- und
Teilhabepaket zwar gut gemeint war, aber zu einem er-
heblichen sowie unberechtigten Verwaltungsaufwand
führen wird. Darauf hatten auch Vertreter der Praxis und
der Länder verwiesen. Die Umsetzung hat die örtlichen
Akteure und Träger enorm belastet und unnötig Ressour-
cen gebunden.
Die geringe Inanspruchnahme der Mittel aus dem Bil-
dungs- und Teilhabepaket untermauert diese Einschät-
zung. Wenngleich sich in 2012 der Mittelabfluss gegen-
über 2011 verbessert hat, kann uns das Ergebnis bei
weitem nicht zufriedenstellen; es bleibt hinter den Er-
wartungen zurück.
Die hohen bürokratischen Hürden stellen eine erheb-
liche Hemmschwelle dar, schrecken viele Anspruchsbe-
rechtigte ab und haben die Teilhabechancen der Kinder
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und Jugendlichen in unserem Land nicht wesentlich ver-
bessert.
Dass der Bund eine erhebliche Summe Geld für die
Teilhabe von Kindern und Jugendlichen an Bildung und
am gesellschaftlichen Leben, im sportlichen wie kreati-
ven Bereich, zur Verfügung stellt, aber viel zu wenig bei
den Kindern ankommt, darf uns nicht ruhen lassen, nach
besseren Lösungen zu suchen.
Die Probleme wurden von vielen Seiten angespro-
chen und erkannt. Es freut mich, dass sich der Bund und
die Länder mit den kommunalen Spitzenverbänden auf
einen Verbesserungskatalog einigten und den nun vorlie-
genden Gesetzentwurf entwickelt haben.
Die vorliegenden Verbesserungen sind unstrittig so-
wie kostenneutral und betreffen einige zentrale Leistun-
gen im Bildungs- und Teilhabepaket. Lassen Sie mich
drei der Verbesserungen besonders betonen:
Erstens die Schülerbeförderung. Die Praxis hat ge-
zeigt, dass die Ermittlung des durch die Schülerinnen
und Schüler zu tragenden zumutbaren Eigenanteils an
der Schülerbeförderung äußerst kompliziert war. Daher
ist es ein Gebot der verwaltungspraktischen Handhab-
barkeit, für den Regelfall einen Wert ansetzen zu kön-
nen, der eine gleichmäßige und rechtssichere Handha-
bung ermöglicht.
Aus der Erfahrung der Verwaltungspraxis der kom-
munalen Träger ergibt sich dabei ein Durchschnittswert
von 5 Euro monatlich. Dennoch bleibt für Fälle, die auf-
grund persönlicher oder örtlicher Verhältnisse von der
Regel abweichen, die Möglichkeit gegeben, den Eigen-
anteil individuell zu ermitteln.
Zweitens Unterstützung für Sport und Kultur. Die
Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben in der Ge-
meinschaft wird derzeit in der Gestalt gefördert, dass für
Angebote im Bereich Sport, Spiel, Kultur und Gesellig-
keit die Zahlung eines Mitgliedsbeitrags übernommen
wird. Gleiches gilt für Angebote im kreativen und künst-
lerischen Bereich, bei dem derzeit nur die Vergütung für
die pädagogische Leistung zu übernehmen ist.
Oftmals scheitert die Teilnahme an diesen Angeboten
aber nicht an den Honorarkosten für den Unterricht oder
an den Mitgliedsbeiträgen, da diese Angebote häufig eh-
renamtlich organisiert sind und zum Teil kostenlos zur
Verfügung stehen. Oftmals führt das Fehlen benötigter
Ausrüstung, wie zum Beispiel Musikinstrumente oder
sportbezogene Schutzkleidung, dazu, dass Kindern und
Jugendlichen die Teilhabe am sozialen und kulturellen
Leben verwehrt ist.
Mit der vorgeschlagenen Verbesserung, auch die eben
angesprochene Ausrüstung nun zu fördern, wird die Un-
terstützung für Kinder und Jugendliche im kulturellen
und sportlichen Bereich praxisnaher gestaltet und die
Teilhabe somit deutlich erleichtert.
Das dritte Beispiel betrifft die Unterstützung für
Schul- und Kitafahrten: Für Schul- und Kitafahrten so-
wie für Ausflüge ist alternativ neben der Sach- und
Dienstleistung nun auch die Geldleistung möglich, wie
es nach früherer Praxis in der Sozialhilfe möglich war.
Ich bin mir sicher, dass für die Unterstützung bei Schul-
und Kitafahrten die kommunalen Träger von der Mög-
lichkeit der Geldleistung zukünftig regen Gebrauch ma-
chen werden, weil diese verwaltungstechnisch viel weni-
ger umständlich ist.
Diese drei Beispiele zeigen sehr deutlich, wie man
bisher mit komplizierten bürokratischen Regelungen
Anspruchsberechtigte abgeschreckt und von der Inan-
spruchnahme der Leistungen aus dem Bildungs- und
Teilhabepaket abgehalten hat. Mit den angesprochenen
Änderungen wird sich das nun merklich verbessern.
Der vorliegende Gesetzentwurf bringt viele Verbesse-
rungen. Dennoch kann er nicht darüber hinwegtäuschen,
dass weiterer Verbesserungsbedarf besteht, um ein gleich-
berechtigtes Maß an Teilhabe am gesellschaftlichen Le-
ben und einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung zu
ermöglichen.
Viele Vertreter aus der Praxis und einige Länderver-
treter haben weitere Schritte aufgezeigt. Dieses Bil-
dungs- und Teilhabepaket und die damit unnötigerweise
einhergehende Bürokratie wären überhaupt nicht nötig,
wenn die Gewährleistung der soziokulturellen Teilhabe
für Kinder und Jugendliche über die Anpassung der Re-
gelsätze erfolgt wäre.
Wir können die Chancengleichheit der Kinder und Ju-
gendlichen in unserem Land mit dieser gesetzlichen Re-
gelung lediglich ein Stück verbessern. Das unterschrei-
ben wir dann auch. Wir würden aber gerne mehr tun.
Unsere Vorschläge zum Ausbau der Bildungs- und
Betreuungsinfrastruktur liegen auf dem Tisch. Sie sollen
den Kindern und Jugendlichen echte Zukunftschancen
und mehr Bildungsgerechtigkeit geben. Wir werden sie
umsetzen, wenn nicht jetzt, dann im Herbst dieses Jah-
res.
Pascal Kober (FDP): Dem vorausgegangen war das
Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das die rot-grüne
Gesetzgebung als verfassungswidrig beurteilt hatte und
den Gesetzgeber aufgefordert hatte, die Regelsätze für
Kinder und Jugendliche erstmals eigenständig zu be-
rechnen. Diese christlich-liberale Bundesregierung hatte
sich dann dazu entschlossen, die Leistungen für Bildung
und Teilhabe von Kindern zentral durch die Jobcenter
administrieren zu lassen.
Dem hat sich die Opposition im Bundesrat verwei-
gert, und so wurde im Vermittlungsverfahren auf Druck
von SPD und Grünen festgelegt, dass die Leistungen von
den Kommunen erbracht werden sollen. Dies hatten
auch die Kommunen begrüßt.
Es hätte der Opposition schon damals klar sein müs-
sen, dass dies zu einer sehr unterschiedlichen Umset-
zung des Bildungspakets vor Ort führt. Die Kommunen
waren unterschiedlich gut auf diese neue Aufgabe vorbe-
reitet.
Die Grünen haben sich dann am Ende dem Kompro-
miss verweigert und nicht zugestimmt. Das hatte aber
nichts mit dem Bildungs- und Teilhabepaket zu tun.
Denn am 21. Februar 2011 haben sie einen einstimmigen
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Beschluss in ihrem Parteirat getroffen. Darin heißt es:
„Gleichwohl haben wir in den langen Verhandlungen bis
zum gestrigen Abend wichtige Änderungen erreicht: Das
Bildungs- und Teilhabepaket wird von den Kommunen
organisiert und nicht von den Jobcentern, wie sich dies
die Arbeitsministerin vorstellte. Hier haben wir überbor-
dende Bürokratie verhindert. … Und die Kommunen ha-
ben eine hohe Gestaltungsmöglichkeit bei der konkreten
Umsetzung der Leistungen vor Ort.“
Das, was sie in den vergangenen Monaten immer wie-
der am Bildungspaket kritisieren, die Bürokratie und den
hohen Verwaltungsaufwand, das haben sie selbst mit ver-
ursacht. Dies halte ich bei der derzeitigen Betrachtung
des Bildungspakets für wichtig zu erwähnen.
Diese christlich-liberale Bundesregierung hat sich
beim Thema Bildungspaket nicht auf die Position zu-
rückgezogen, dass die Kommunen sich jetzt um alles
Weitere kümmern müssten.
Ministerin von der Leyen hat schon sehr bald nach In-
krafttreten des Gesetzes begonnen, durch runde Tische,
an denen Bund, Länder und Kommunen beteiligt waren,
Startschwierigkeiten zu beheben und insgesamt Verbes-
serungen vorzunehmen. Ergebnis dieser Gespräche, bei
denen es nicht um ideologische Fragen, sondern ganz
konkret um Verbesserungen am Bildungs- und Teilhabe-
paket ging, damit die Kinder und Jugendlichen noch
mehr davon profitieren können, ist der heute zu bera-
tende Gesetzentwurf.
Es ist eine große Leistung dieser Ministerin und der
Regierungskoalition, die sehr unterschiedlichen Interes-
sen der Länder im Rahmen der Gespräche zu diesem von
allen getragenen Gesetzentwurf vereint zu haben. So
wird nun klargestellt, dass mit den 10 Euro monatlich,
die für Mitgliedsbeiträge verwendet werden können,
auch Ausrüstungsgegenstände bezahlt werden können.
Zudem wird es nach dem Gesetzentwurf möglich
sein, in begründeten Fällen bereits vom Berechtigten
verauslagte Mittel nachträglich zu erstatten. Dies macht
das Verfahren deutlich einfacher. Um die Teilnahme an
Klassenfahrten weiter zu erleichtern, wird zudem die
Möglichkeit geschaffen, hierfür auch Geldleistungen zur
Verfügung zu stellen.
Bei Schülerfahrkarten, die auch privat genutzt wer-
den, haben wir uns darauf verständigt, dass ein Eigenan-
teil von mindestens 5 Euro erbracht werden muss. Dieser
begründet sich aus der Auswertung von empirischen Da-
ten zum Mobilitätsverhalten von Schülerinnen und
Schülern.
Wir haben mit dem Bildungs- und Teilhabepaket ei-
nen neuen Weg bei der Unterstützung von Kindern und
Jugendlichen, deren Eltern Arbeitslosengeld II beziehen,
beschritten. Auf diesem Weg sind Probleme entstanden,
die wir alle so nicht erwartet hatten; manche hatten ja,
wie vorhin beschrieben, auch keine erwartet. Dennoch
halte ich das Bildungs- und Teilhabepaket für eine gute
Leistung dieser christlich-liberalen Regierungskoalition
und bin mir sicher, dass alle im Rückblick von einigen
Jahren zu diesem Schluss kommen werden.
Auch wenn wir uns manches in der Ausgestaltung an-
ders gewünscht hätten, gehen wir jetzt die bestehenden
Probleme an. Die neuen Zahlen zur Inanspruchnahme
und der Akzeptanz des Bildungspakets werden voraus-
sichtlich im April erscheinen. Ich bin mir sicher, dass
wir dabei weiterhin eine deutliche Zunahme der Inan-
spruchnahme verzeichnen werden und die Akzeptanz
der Leistungen weiter zunimmt.
Mit dem Gesetzentwurf werden wir dies unterstützen.
Diana Golze (DIE LINKE): Im Februar 2010 er-
zwang das Bundesverfassungsgericht eine Neuermitt-
lung der Regelbedarfe für die Leistungen zur Sicherung
des Existenzminimums. In dem hierzu erlassenen Urteil
stellte das Gericht fest, dass die bis dahin geltende
Ausgestaltung nicht mit dem Grundgesetz vereinbar ist.
Insbesondere der Bedarf von in Bedarfsgemeinschaften
lebenden Minderjährigen stand auf dem Prüfstand. Be-
mängelt wurde hier vor allem, dass der Gesetzgeber es
versäumt hat, die besonderen Bedürfnisse von Kindern
im Regelsatz abzubilden. „Kinder sind keine kleinen
Erwachsenen“ ist eine der zentralen Aussagen in dem
Urteil. Entscheidend ist, dass die Richter feststellten: Es
geht nicht nur um die Sicherung des physischen Exis-
tenzminimums, sondern auch um das soziokulturelle
Existenzminimum. Die Neuermittlung dieses Existenz-
minimums wurde dem Gesetzgeber aufgetragen.
Die Antwort der Bundesregierung war insbesondere
für Kinder ernüchternd. Es ist kein Geheimnis, dass die
Fraktion Die Linke die von Frau von der Leyen vorge-
legte Neuberechnung der Grundsicherung für unzurei-
chend erachtet und in ihr einen neuerlichen Verfassungs-
bruch sieht. Es ist auch nicht neu, dass wir die
Einführung des Bildungs- und Teilhabepaketes für einen
Etikettenschwindel halten. Dieses Paket ist im Grundan-
satz falsch, und dies aus verschiedenen, für die Fraktion
Die Linke aber grundlegenden Gründen.
Wir können und werden keinem Gesetzentwurf zu-
stimmen können, der Eltern unter den Generalverdacht
stellt, zusätzliche Geldleistungen nicht zum Wohl ihrer
Kinder zu verwenden, sondern für andere Zwecke. Die
unerträglichen Vorwürfe, dass davon Flachbildschirme
gekauft würden oder das Geld ohnehin in diverse
Genussmittel umgesetzt wird, sind mir nur zu gut im
Gedächtnis. Unter dieser vorurteilsvollen und herablas-
senden Herangehensweise traf die Regierung fast folge-
richtig die Grundsatzentscheidung, die Bedarfe nicht au-
tomatisch als Teil der regelmäßigen Geldleistungen
abzudecken, sondern sie erstens beantragungspflichtig
zu machen und zweitens in erster Linie als Sach- oder
Dienstleistung zu gewähren.
Die Folgen sind bekannt. Das Antragserfordernis und
die hohen bürokratischen Hürden erschwerten die Inan-
spruchnahme der Leistungen und verhinderten somit,
dass Kindern das zugutekommt, was ihnen per Gesetz
zusteht. Unterschiedliche Bedürfnisse von Kindern in
ländlichen Räumen und Kindern, die in Ballungszentren
aufwachsen, sind nicht berücksichtigt. Das hat nicht nur
Auswirkungen auf die Unterstützungsleistungen, die
Kinder für den schulischen Alltag benötigen, sondern
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27323
(A) (C)
(D)(B)
insbesondere für den Freizeitbereich. Darüber hinaus
werden nur bestimmte Bildungs- und Teilhabeangebote
finanziert. Ich stelle mir manchmal die Gesichter der
Abgeordneten vor, die selbst minderjährige Kinder ha-
ben. Was würden diese Kolleginnen und Kollegen wohl
sagen, wenn ihnen der Bundestagspräsident etwa erklärt,
welche Freizeitaktivitäten ihrer Kinder förderungswür-
dig sind – etwa: Mitgliedschaft im Kampfsportverein –
und welche nicht, etwa: eigenständige Lektüre. Die
Linke – und nicht nur wir – hält dies für einen problema-
tischen Eingriff in die Entscheidungsfreiheit der Eltern
und Kinder. Die nun vorgeschlagene Neuregelung ändert
genau daran nichts.
Sie ändert auch nichts daran, dass Verwaltungsauf-
wand und veranschlagte Leistungen in keinem Verhält-
nis zueinander stehen. Noch immer betragen die durch
das beibehaltene Antragsverfahren entstehenden Verwal-
tungskosten ein Sechstel des Leistungsvolumens. Die
Linke bleibt dabei: Verfügbare Mittel müssen den Leis-
tungsberechtigten zugutekommen, statt sie dafür zu ver-
wenden, Verwaltungen an den Tropf zu legen.
Das Problem dieses Entwurfes ist, dass Sie die grund-
sätzlichen Entscheidungen nicht infrage stellen. Statt-
dessen versuchen Sie, ein im Grundsatz falsches System
zu optimieren und den bürokratischen Irrsinn auf ein ge-
ringeres Ausmaß zu reduzieren. Dies ist innerhalb der
bestehenden Konzeption nicht einmal zu kritisieren,
lenkt aber von der eigentlichen Aufgabe ab, der wir uns
gemeinsam stellen sollten: Die Förderung der Bildung
und Teilhabe von jungen Menschen ist grundlegend an-
ders zu organisieren: durch höhere Regelbedarfe, durch
einschlägige Mehrbedarfe – Schulbedarfe, Klassenfahr-
ten und Ausflüge – und ein hochwertiges und unentgelt-
liches Angebot an Dienstleistungen für möglichst alle
Kinder und Jugendlichen wie Schulverpflegung, Schüle-
rinnen- und Schülerbeförderung und Lernförderung.
Wir werden auch in diese Debatte unsere Vorschläge
zur Neugestaltung eines Regelsatzes, der die Leistungen
des Bildungs- und Teilhabepaketes so weit wie möglich
beinhaltet, einbringen. Und selbstverständlich werden
unserer Kritik auch Vorschläge für die Neugestaltung der
Dienst- und Sachleistungen, die dieses Paket enthält,
folgen. Auch wenn sich mein Optimismus darüber in
Grenzen hält, dass die Regierung diesen folgt, kann ich
Ihnen versprechen, dass wir in unserem Fordern nicht
nachlassen werden.
Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Wohl
keine andere Sozialleistung in der Geschichte der Bun-
desrepublik Deutschland ist so bürokratisch wie das Bil-
dungs- und Teilhabepaket. Ein aufwendiges Antragsver-
fahren mit einer Fülle von Arbeitshilfen, Anträgen,
Zusatzfragebögen, Nachweisen, Verträgen und Beschei-
den führt zu einem enormen Missverhältnis zwischen
Aufwand und Ertrag. Aufgrund unbestimmter Rechtsbe-
griffe belasten etliche Widersprüche und Verfahren au-
ßerdem die Sozialgerichte und frustrieren Antragstelle-
rinnen und Antragsteller sowie Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter in Schulen, Vereinen sowie Behörden glei-
chermaßen.
Auch der Deutsche Verein für öffentliche und private
Fürsorge stellt in seinen Zweiten Empfehlungen zur Um-
setzung der Leistungen für Bildung und Teilhabe vom
25. September 2012 fest, dass Leistungsträger und -er-
bringer trotz eines Jahres Umsetzungserfahrung den ho-
hen Verwaltungsaufwand beklagen. So würden insbe-
sondere die Erbringung von Sachleistungen sowie die
gesetzlichen Anspruchsvoraussetzungen die Umsetzung
administrativ aufwendig machen.
Das Präsidium des Deutschen Landkreistages hat am
1./2. Oktober 2012 gesetzliche Änderungsvorschläge zur
Reduzierung des Verwaltungsaufwands für das Bil-
dungs- und Teilhabepaket verabschiedet. Darin werden
insbesondere die komplexen Gesetzesformulierungen als
Ursache für den unverhältnismäßig hohen bürokrati-
schen Aufwand angesehen.
Der nun vorliegende Gesetzentwurf des Bundesrates
bezieht sich in Teilen auf die genannten Änderungsvor-
schläge zur Vereinfachung des Antrags- und Verwal-
tungsverfahrens. Auch wenn uns die Vorschläge nicht
weit genug gehen – siehe auch Antrag der Grünenbun-
destagsfraktion „Das Bildungs- und Teilhabepaket –
Leistungen für Kinder und Jugendliche unbürokratisch,
zielgenau und bedarfsgerecht erbringen“, Drucksache
17/8149 –, können wir den hier vorgeschlagenen Ände-
rungen nur zustimmen. Einzig bei der Eigenbeteiligung
bei der Schülerbeförderung vertreten wir eine andere
Position.
Insgesamt offenbaren die immer wieder genannten
Änderungsvorschläge, mit welchen Schwierigkeiten die
Umsetzung des Bildungs- und Teilhabepakets durch
Sachleistungen behaftet ist. Nicht umsonst kommen nun
die Forderungen von verschiedensten Seiten, Teile der
Leistungen auch als Geldleistung gewähren zu können.
Zu den einzelnen Aspekten. Der Gesetzentwurf sieht
vor, dass der Eigenbetrag bei der Schülerbeförderung,
der aus dem Regelbedarf gezahlt werden muss, auf re-
gelmäßig 5 Euro festgeschrieben werden soll, und zwar
für alle Altersklassen. Der Deutsche Landkreistag hinge-
gen stellt fest, dass die anzurechnenden Anteile aus dem
Kinderregelbedarf bei der Schülerbeförderung Bagatell-
beträge sind, die bei der Leistungserbringung und -ab-
rechnung zusätzlichen Aufwand auslösen, der in keinem
angemessenen Verhältnis zum Ertrag steht. Daher sollte
die Anrechnung des Regelsatzanteils für Verkehr bei der
Schülerbeförderung in allen Rechtskreisen – SGB II,
SGB XII und BKGG – entfallen. Diese Position des
Deutschen Landkreistages teilen wir.
Forderungen zur Umwidmung der Teilhabepauschale
auch für andere Verwendungszwecke werden von uns
ebenso begrüßt wie Forderungen, Ausflüge und Klassen-
fahrten auch als Geldleistung zu ermöglichen. Es ist
sinnvoll, das Gesamtteilhabebudget rückwirkend zu er-
bringen sowie bei Rückerstattungen Geldleistungen zu
ermöglichen. Es wäre schön, wenn sich Union und FDP
anders als in der Antwort auf unsere Kleine Anfrage
ernsthaft mit diesen Vorschlägen auseinandersetzen wür-
den.
27324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
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Anlage 14
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung des Antrags: Überlebenshilfe in
der Drogenpolitik – Situation der Substitution
von Opiatabhängigen verbessern – Substitu-
tionsbehandlung im Strafvollzug gewährleisten
(Zusatztagesordnungspunkt 9)
Karin Maag (CDU/CSU): 2009 hat der Deutsche
Bundestag rechtliche Voraussetzungen für die diamor-
phingestützte Behandlung Opiatabhängiger geschaffen
und diese Therapieoption in die Regelversorgung über-
führt. Seitdem ist viel geschehen: Es gibt zum Beispiel
ein erstes diamorphinhaltiges Fertigarzneimittel, die Bun-
desärztekammer hat ihre Substitutionsrichtlinien ebenso
überarbeitet wie der GBA die Richtlinie Methoden ver-
tragsärztlicher Versorgung, und es gibt GKV-relevante
Abrechnungspositionen für die diamorphingestützte Be-
handlung Schwerstopiatabhängiger. Das Ergebnis dieser
vielfältigen Bemühungen ist, dass sich diese Therapie-
option für Opiatabhängige mittlerweile fest im Angebot
der Regelversorgung etabliert hat.
Weil Behandlungsqualität wichtig ist, hat das BMG in
Absprache mit den Bundesländern 2008 mit der PRE-
MOS-Studie die langfristige Situation evaluiert. Die Stu-
die stellt fest, dass die Substitutionstherapie in Deutsch-
land effektiv ist und die allgemeinen primären Ziele
überwiegend erreicht. Auch die IMPROVE-Studie be-
legt, dass Suchtmediziner, Patienten und Opiatkonsu-
menten die opiatgestützte Substitution als wertvoll und
wirksam ansehen.
Der Antrag der SPD weist nun zu Recht darauf hin,
dass für die Ausgestaltung der Substitutionsbehandlung
Opiatabhängiger insbesondere mit Bezug auf die betäu-
bungsmittelrechtlichen Rahmenbedingungen ein grund-
sätzlicher Zielkonflikt bedeutsam ist. Einerseits soll die
substitutionsmedizinische Versorgung der Opiatabhängi-
gen so unbürokratisch wie möglich und auf hohem Qua-
litätsniveau angeboten und aufrechterhalten werden. An-
dererseits soll den berechtigten Sicherheitsinteressen,
insbesondere hinsichtlich der Verhinderung von Abzwei-
gung und Missbrauch der Betäubungsmittel, Rechnung
getragen werden. Vor diesem Hintergrund fordern Sie,
vor allem vom Ziel der Abstinenz Abstand zu nehmen
und generell die Strafbarkeit in diesem Zusammenhang
zu überprüfen. Wie überhaupt der Komplex Konsiliar-,
Mitgabe- und Take-Home-Regelungen einer Prüfung un-
terzogen, die Anzahl der substituierenden Ärzte erhöht
und die wissenschaftliche Forschung intensiviert werden
soll.
Hinsichtlich der Substitutionsbehandlung in Freiheit
haben wir bereits im Koalitionsvertrag festgehalten, dass
eine verantwortungsvolle Drogenpolitik Prävention,
Therapie, Hilfe zum Ausstieg und damit auch den An-
satz der Schadensminderung und die Bekämpfung der
Drogenkriminalität in den Mittelpunkt stellt. Das heißt
aber nicht, dass § 5 Abs. 1 Nr. 1 Betäubungsmittelver-
schreibungsverordnung und § 29 Abs. 1 Nr. 1 Betäu-
bungsmittelgesetz jetzt revidiert werden müssten. Das
Ziel der Substitution ist in § 5 Abs. 1 Nr. 1 bis 3 Betäu-
bungsmittelverschreibungsverordnung, BtMVV, fest-
gelegt. Danach ist Substitution die Behandlung der
Opiatabhängigkeit mit dem Ziel der schrittweisen Wie-
derherstellung der Betäubungsmittelabstinenz, einschließ-
lich der Besserung und Stabilisierung des Gesundheits-
zustandes. Daneben kann auch Ziel die Unterstützung
der Behandlung einer neben der Opiatabhängigkeit be-
stehenden schweren Erkrankung oder die Verringerung
der Risiken einer Opiatabhängigkeit während einer
Schwangerschaft und nach der Geburt sein.
Die Autoren der PREMOS-Studie weisen zum Bei-
spiel auch darauf hin, dass eine hohe Abstinenzorientie-
rung in den Substitutionspraxen einen zweigeteilten Ein-
fluss auf den Substitutionsverlauf hat. Neben den in der
Frage genannten Effekten sind in Einrichtungen mit ho-
her Abstinenzorientierung mehr Patienten mit hohem
Schweregrad abstinent, der konkomitante Drogenge-
brauch ist geringer und der Wert der mit dem Drogen-
konsum einhergehenden Probleme – Addiction Severity
Index, ASI – ist besser als in Einrichtungen mit einer
niedrigen Abstinenzorientierung. Der Behandlungsplan
sollte deshalb in erster Linie auf die schrittweise Herstel-
lung der Betäubungsmittelabstinenz ausgerichtet sein,
auch wenn in der Praxis eine dauerhafte Abstinenz nur
bei einer geringen Zahl von Patienten, derzeit circa
8 Prozent, erreicht werden kann. Daneben gibt es zahl-
reiche Zwischen- und Nebenziele, die ebenfalls mit der
Substitution angestrebt werden können. Vor diesem Hin-
tergrund sehe ich aktuell noch keinen weiteren Reform-
bedarf.
Konsiliar-, Mitgabe und Take-Home-Regelungen sind
vor allem, worauf der Antrag zu Recht hinweist, im
Kontext der Sicherheit der Allgemeinheit zu bewerten.
Substitutionsmedikamente haben einen eigenen Markt
und sind gefährlich für Dritte. Die aktuellen gesetzlichen
Vorgaben sind geeignet, den oben genannten Ausgleich
herbeizuführen.
Mit der 23. Betäubungsmittelrechts-Änderungsver-
ordnung wurde im § 5 Abs. 8 Satz 1 bis 3 BtMVV die
sogenannte Zwei-Tages-Verschreibung verankert. Der
behandelnde Arzt darf Patienten, denen ansonsten ein
Substitutionsmittel zur unmittelbaren Verabreichung über-
lassen wird, in Fällen, in denen die Kontinuität der Subs-
titutionsbehandlung nicht anderweitig gewährleistet
werden kann, ein Substitutionsmittel in der bis zu zwei
Tagen benötigten Menge verschreiben und ihnen dessen
eigenverantwortliche Einnahme erlauben, sobald der
Verlauf der Behandlung dies zulässt, Risiken der Selbst-
und Fremdgefährdung soweit wie möglich ausgeschlos-
sen sind sowie die Sicherheit und Kontrolle des Betäu-
bungsmittelverkehrs nicht beeinträchtigt werden. Mit
dieser Regelung wurde bereits dem besonderen ärztli-
chen Anliegen, Versorgungsmöglichkeit insbesondere an
Wochenenden zu schaffen, entsprochen.
Diese neue Verschreibungsmöglichkeit wurde in das
Take-Home eingebettet, das die Voraussetzungen für die
bis zu sieben Tage mögliche Take-Home-Verschreibung
sowie für die sogenannte Auslandsverschreibung, das
heißt für den Substitutionsmittelbedarf von bis zu 30 Ta-
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gen, beschreibt. Nach den Bestimmungen der BtMVV
ist darüber hinaus die ärztliche Mitgabe eines Substituti-
onsmedikamentes bisher bis auf eine Ausnahmeregelung
nicht gestattet. Diese Ausnahmebestimmung ist den
pharmakologischen Besonderheiten der Stoffe Codein
und Dihydrocodein geschuldet. Eine Abgabe über diese
Ausnahmeregelung hinaus würde einen Verstoß gegen
§ 43 des Arzneimittelgesetzes darstellen, wonach die
Abgabe von Arzneimitteln – in diesem Fall: den Substi-
tutionsmitteln – der Apotheke vorbehalten ist. Ich selbst
habe mich um einen Ausgleich der Interessen von Apo-
theken und behandelnden Ärzten bemüht. Generell das
Dispensierverbot zu lockern, halte ich für nicht ange-
zeigt.
Ergänzend sei darauf hingewiesen, dass sich nach der
IMPROVE-Befragung tatsächlich 47 Prozent der befrag-
ten, aktiv substituierenden Ärzte ein weniger restriktives
Vorgehen sowie juristische Unterstützung statt Sanktio-
nen wünschen. Die Studie belegt aber auch, dass die
Ärzte erhebliche Bedenken in Bezug auf Missbrauch
und unerlaubte Weitergabe der Substitutionsmedika-
mente durch die Patienten haben; 49 Prozent der Ärzte
bezeichnen dies als erhebliches Problem, weitere 17 Pro-
zent als besonders schwerwiegendes Problem.
Ähnliches gilt für den Missbrauch der Substitutions-
mittel durch die Patienten. Die IMPROVE-Studie weist
explizit darauf hin, dass die Aussagen der Patienten, von
denen 23 Prozent angaben, das Substitut schon einmal
verkauft oder weitergegeben zu haben, diese Befürch-
tungen der Ärzte begründet erscheinen lassen. Diese
Fakten machen deutlich, dass die für die Substitutions-
therapie relevanten betäubungsmittelrechtlichen Vor-
schriften einzuhalten sind: So sind zum Beispiel Doku-
mentationsvorschriften notwendig, um die Kontrolle und
Sicherheit des BtM-Verkehrs wahren zu können und dies
für die Aufsichtsbehörden auch nachvollziehbar zu ma-
chen. Meine Gespräche mit den Staatsanwaltschaften
haben auch ergeben, dass diese in der Regel ein praxis-
orientiertes Miteinander mit den ihnen bekannten substi-
tuierenden Ärzten pflegen, sodass Fehlverhalten mit Fin-
gerspitzengefühl angegangen wird.
Hinsichtlich der Behandlungsmöglichkeiten in länd-
lichen Räumen gilt, dass die Arbeitsgemeinschaft der
obersten Landesgesundheitsbehörden im November
2011 die AG Suchthilfe der AOLG gebeten hat, die Er-
gebnisse der PREMOS-Studie auszuwerten, gegebenen-
falls fachspezifischen Handlungs- und Forschungsbedarf
für die Weiterentwicklung der Rahmenbedingungen der
Substitutionsbehandlung in den Ländern zu benennen
und hierüber im November 2012 zu berichten. Welche
Schlüsse nun gezogen werden, entzieht sich meiner
Kenntnis.
Darüber hinaus gibt es ja auch Positives zu berichten.
Ich kann aber berichten: In meiner Heimatstadt Stuttgart
wird nach langer Standortsuche Mitte 2014 ein suchtme-
dizinisches Schwerpunktzentrum eröffnen, das unter an-
derem die Substitution mit Diarmorphin anbietet. Am
Standort wird auch die Drogenberatungsstelle „release“
ihr Angebot offerieren – übrigens nach langer Suche für
einen geeigneten Standort und gegen die Stimmen der
Grünen im Gemeinderat.
Soweit der Antrag auf Mängel im Strafvollzug ein-
geht, gilt, dass seit der Föderalismusreform 2006 die
Zuständigkeit bei den Ländern liegt. Schon aus verfas-
sungsrechtlichen Gründen ist uns damit jede Einfluss-
nahme versagt. Ich schlage vor, dass Sie als Vertreter der
Opposition Ihre Änderungswünsche im Bundesrat an die
Länder herantragen.
Angelika Graf (Rosenheim) (SPD): Sucht ist eine
Krankheit, und es gibt leider viele Menschen, die unter
dieser Krankheit leiden. Sie sind aus eigenem Willen oft
nicht in der Lage, diese Krankheit zu überwinden. Man-
cher leidet unter ihr ein Leben lang und kann sie nicht
besiegen. Ein Junkie hatte früher kein langes Leben.
Seit den 1990er-Jahren wird in Deutschland im Um-
gang mit Opiatabhängigen vermehrt der Ansatz der
Schadensreduzierung und Überlebenshilfe durch Substi-
tution verfolgt. Dies hat sich erfreulicherweise – auch
dank rot-grüner Regierungspolitik – zu einer eigenstän-
digen Säule der Drogenpolitik entwickelt. Dabei folgt
die Politik der Erkenntnis, dass Strafverfolgung und
Strafe nicht zur Heilung der Sucht oder zu einer Stabili-
sierung der Süchtigen führen.
Opiatabhängigen, die schon mehrere Entzugsversu-
che gemacht haben und trotz intensiver eigener Bemü-
hungen nicht von der Droge weggekommen sind, wird
durch die Substitution ein Weg gezeigt, um aus der
Sucht herauszukommen oder notfalls mit der Sucht zu
leben. Die Effektivität der Maßnahme im Hinblick auf
die Reduktion von Kriminalität und Sterberaten sowie
Belastungen für die Allgemeinheit und eine bessere the-
rapeutische Haltequote ist in der Wissenschaft unstreitig
– das wurde erst vor einiger Zeit bekräftigt durch die Er-
gebnisse der von der Bundesregierung in Auftrag gege-
benen PREMOS-Studie. Wir haben diese Studie auch im
Gesundheitsausschuss diskutiert.
Gerade weil wir mit der Substitutionsbehandlung ei-
nen guten Beitrag für die Überlebenshilfe, aber auch für
den Abbau der Beschaffungskriminalität leisten, sehe ich
mit großer Sorge die Entwicklung der letzten Jahre. So
beobachten wir – auch das belegt die PREMOS-Studie –
verstärkt starke regionale Unterschiede bei der Praxis
der Überlebenshilfe und auch erhebliche Schnittstellen-
problematiken zwischen den zahlreichen Akteuren im
Bereich der Substitutionsbehandlung. Suchtmediziner
schildern die Mauern, an die sie immer wieder stoßen:
Manche davon sind ideologisch begründet, wobei die
Argumente nicht neu sind. Wir haben sie schon ganz frü-
her bei der Einführung der Methadonsubstitution gehört.
In den letzten Monaten wurde deutlich, dass im Bereich
der Diamorphinversorgung die Regelungen häufig so
ausgelegt werden, dass lediglich die Modellprojekte ver-
stetigt und kaum eine Verbesserung der Versorgung er-
reicht werden konnten. Ich hoffe sehr, dass die neuen
Regelungen des G-BA zu unbürokratischeren Lösungen
führen werden. Vielleicht können dann auch die Teile
der Union, für die Substitution Teufelszeug ist, ihren
ideologischen Widerstand beenden.
27326 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
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(D)(B)
Denn man muss feststellen: Die Bundesregierung tut
nichts, um die Situation zu verbessern. Dies macht mir
vor allem auch wegen der abnehmenden Zahl von Subs-
titutionsärzten große Sorgen. Sie ist neben der man-
gelnden Attraktivität der Fachrichtung innerhalb der
Ärzteschaft durch die besondere Altersstruktur der subs-
tituierenden Fach- und Hausärzte zu erklären. Ich
fürchte, der anstehende Generationswechsel wird hier
große Versorgungsprobleme mit sich bringen. Dies ist
ein generelles Problem in Deutschland, dem wir uns stel-
len müssen.
Daneben beunruhigen mich noch einige weitere Pro-
bleme. So haben wir bezüglich der Quantität von Substi-
tutionsbehandlungsangeboten in Deutschland ein Nord-
Süd- und ein West-Ost-Gefälle. Gerade in ländlichen
Regionen bestehen erhebliche Versorgungsdefizite. Oft
sind die Entfernungen groß, Arzt und Patient trennen zig
Kilometer. Die nächste Substitutionspraxis ist oft 50 Ki-
lometer weit entfernt. Wir müssen feststellen, dass Ärz-
tinnen und Ärzte mit weiten Wegen insbesondere in
ländlichen Regionen, zum Beispiel in Schwaben oder
Niederbayern, wegen der Mitgabe- und Take-home-Re-
gelungen gerichtlichen Verfahren ausgesetzt sind, die
nicht selten in einer Verurteilung und dem Entzug der
Approbation enden. Vermeidbare juristische Unklarhei-
ten erschweren die Versorgung von opiatabhängigen Pa-
tienten, die Ärzte bewegen sich in einer Grauzone. Die
Folge: Immer mehr Substitutionsärzte schmeißen hin.
Damit verschärft sich jedoch das Problem für den Süch-
tigen einerseits und die substituierenden Kollegen im
weiten Umfeld andererseits. Denn zu denen sind die
Wege dann noch weiter, und die Erhöhung der Anzahl
der Patienten führt zu einer Überlastung der Praxis. Die
sozialtherapeutische Begleitung, die so notwendig wäre,
kann nicht mehr in der gewünschten Qualität geleistet
werden. Ein Teufelskreis!
Dazu soll nun auch noch eine neue EBM-Struktur
kommen, die substituierenden Hausärzten Pauschalen
streichen oder kürzen will. Ich erwarte auch von der
Bundesregierung, dass sie hier die besondere Situation
der substituierenden Allgemeinmediziner erkennt und
ihren Einfluss entsprechend geltend macht.
Aus den genannten Gründen wollen wir mit unserem
Antrag anregen, die rechtlichen Rahmenbedingungen
der Substitutionsbehandlung von Opiatabhängigen zu re-
formieren. Denn sie stehen seit 2010 in Konflikt mit dem
Stand medizinischer Wissenschaft und der Richtlinie zur
Substitutionsbehandlung der Bundesärztekammer aus
2010 und verursachen immer häufiger eine unnötige Kri-
minalisierung von substituierenden Ärztinnen und Ärz-
ten. Sowohl das sogenannte Abstinenzparadigma in der
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung als auch
die stets im Hintergrund schwebenden Strafandrohungen
in § 29 Abs. 1 Nr. 1 Betäubungsmittelgesetz müssen
dringend überprüft werden. Sie sorgen immer wieder für
unklare rechtliche Situationen und eine uneinheitliche
Rechtsprechung in Deutschland. Dadurch schrecken sie
junge Ärztinnen und Ärzte ab, eine entsprechende sucht-
medizinische Fortbildung zu machen oder als Suchtme-
diziner Substitutionsbehandlungen durchzuführen. Wir
brauchen diese Suchtmediziner aber, wenn wir ange-
sichts der wachsenden Anzahl von Süchtigen die Bera-
tungsstrukturen insgesamt verbessern wollen.
Ein weiteres Problem, das die PREMOS-Studie aus-
gemacht hat, möchte ich hier auch noch anführen: Die
Situation in Haftanstalten. Ich habe selbst verschiedene
Justizvollzugsanstalten besucht, sowohl in Berlin als
auch in Bayern. Obwohl die Richtlinien der Bundesärzte-
kammer zur Durchführung der substitutionsgestützten
Behandlung Opiatabhängiger die Sicherstellung der Be-
handlung ausdrücklich auch bei einer Inhaftierung ver-
langen, ist insbesondere im Maßregel- und Strafvollzug
die Möglichkeit zur Substitutionsbehandlung oftmals
nicht gewährleistet. „Lediglich etwa 500 bis 700 der ge-
schätzten 10 000 bis 15 000 infrage kommenden Gefan-
genen befinden sich in einer dauerhaften Substitutions-
behandlung“, so der Drogenbericht der Bundesregierung
aus dem Jahr 2009. Die Anzahl der Infizierten mit HIV
und Hepatitis bei Strafgefangenen ist fast um den Faktor
100 höher als außerhalb von Gefängnissen. Und es gibt
kein Gefängnis, in dem nicht auch Drogen gehandelt
werden. Die Gefahr einer Infektion für Opiatabhängige
ist deshalb groß. Auch in diesem Bereich gibt es bei den
Bundesländern höchst unterschiedliche Vorschriften und
Bedingungen. Dadurch kann die Substitutionsbehand-
lung von Opiatabhängigen in Haft nicht überall gewähr-
leistet sein. Deshalb ist es aus meiner Sicht wichtig, dass
die Bundesregierung im Sinne der Forderungen der Ärzte-
kammer auf die Länder zugeht und sie auffordert, die
Versorgung von opiatabhängigen Inhaftierten zu verbes-
sern.
Die amtierende Bundesregierung hat diese Studie in
Auftrag gegeben, die uns auf diese Missstände hinweist.
Daher wäre es nur konsequent, wenn Sie als die diese
Bundesregierung tragenden Parteien den Antrag ernst-
haft prüfen und ihn im weiteren parlamentarischen Ver-
fahren unterstützen würden.
Christine Aschenberg-Dugnus (FDP): Der von
der SPD-Fraktion vorgelegte Antrag thematisiert ein
wichtiges Anliegen. Grundsätzlich halte ich das Konzept
des Ineinandergreifens von Prävention, Beratung und
Therapie, Überlebenshilfen und Repression für den rich-
tigen Ansatz moderner Drogenpolitik. Dieses Säulenmo-
dell spiegelt die Vielfalt der Anforderungen an Staat und
Gesellschaft im Umgang mit Drogen wider.
Im Kontext der Überlebenshilfe spielt die Substitu-
tion von Opiatabhängigen eine zentrale Rolle. Die Subs-
titutionstherapie hat sich bewährt als wirksames Instru-
ment, den Abhängigen in überschaubarer Zeit in einen
Zustand dauerhafter Abstinenz zu bringen oder im Rah-
men einer Dauersubstitution zumindest eine spürbare
Schadensminimierung einzuleiten. Mit einer Substitu-
tionstherapie kann man den Gesundheitszustand und die
soziale Situation der Patienten deutlich verbessern.
Die PREMOS-Studie gibt einen sehr guten Überblick
darüber, wie die Situation von Substitutionspatienten
insgesamt ist. Und liefert wichtige Erkenntnisse hin-
sichtlich Mortalität, Morbidität, Lebensqualität, Delin-
quenz, stabiler Substitution und Beikonsum.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27327
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Insgesamt muss man festhalten, dass die Substitution
von Opiatabhängigen in Deutschland im internationalen
Vergleich recht gut funktioniert: Insbesondere was Mor-
talität angeht, steht Deutschland nicht schlecht da. Die
PREMOS-Studie spricht von einem „überaus niedrigen
durchschnittlichen jährlichen standardisierten Mortali-
tätsrisiko von 1,15 Prozent“. Der Anteil der Patienten,
die im Rahmen einer regelhaft beendeten Therapie als
abstinent galten oder sich in abstinenzorientierter Thera-
pie befanden, ist positiv zu bewerten, auch wenn natür-
lich weitere Verbesserungen erstrebenswert sind.
Erreicht werden muss ein möglichst stabiler Substitu-
tionsverlauf ohne Unterbrechungen und ohne Abbrüche.
Das ist die Grundlage dafür, einem suchtkranken Men-
schen die Möglichkeit zu eröffnen, wieder gesund zu
werden und in ein geregeltes, nicht von Sucht und Dro-
genbeschaffung bestimmtes Leben zurückzukehren.
Der vorliegende Antrag thematisiert einen Bereich, in
dem es ohne Zweifel Optimierungsbedarf gibt: Grund-
sätzlich teile ich das Anliegen, Substitutionsbehandlun-
gen auch für opiatabhängige Strafgefangene und für
Opiatabhängige im Maßregelvollzug sicherzustellen.
Denn auch Strafgefangenen muss man die Möglichkeit
eröffnen, gesund zu werden und in ein geregeltes, nicht
von Sucht und Drogenbeschaffung bestimmtes Leben
zurückzukehren. Während bei Opiatabhängigen in Frei-
heit zwar der Umgang mit Mitgabe- und Take-home-Re-
gelungen ein Dauerthema ist, die Substitution an sich
aber vollzogen wird, scheitert eine Substitution opiat-
abhängiger Strafgefangener und Opiatabhängiger im
Maßregelvollzug jedoch oft einfach daran, dass es vor
Ort keine geeigneten Ärztinnen und Ärzte gibt.
Insgesamt, das skizziert der Antrag, gibt es einen fa-
cettenreichen Handlungsbedarf, um die Substitution im
Allgemeinen wie im Besonderen zu verbessern. Doch ob
der SPD-Antrag zu einer Verbesserung der Situation füh-
ren würde, bleibt fraglich, zumal wesentlicher Hand-
lungsbedarf im Bereich der Länder liegt und nicht beim
Bund. Die christlich-liberale Koalition hat das Thema
Substitution auf der Tagesordnung, wird sich intensiv
damit befassen und die notwendigen Optimierungen ein-
leiten.
Frank Tempel (DIE LINKE): Die gegenwärtige Sub-
stitutionslage in Deutschland ist nicht zufriedenstellend.
Dabei ist die Substitutionstherapie, also die Versorgung
von Opiatabhängigen mit einem Ersatzstoff, nachweis-
lich die wirksamste Methode, den Betroffenen eine
Rückkehr ins gesellschaftliche Leben zu ermöglichen
und sie, wenn möglich, von ihrer Suchterkrankung zu
heilen. Sie wirkt der drogenassoziierten Kriminalität
entgegen, und eine gesundheitsökonomische Studie hat
ergeben, dass die volkswirtschaftlichen Einsparungen
pro Patient im Jahr bei 7 800 Euro liegen.
Die Infrastruktur zur Substitutionstherapie muss wei-
ter ausgebaut werden. Wie im Antrag der SPD richtig
benannt wurde, ist besonders die Versorgung von Substi-
tuierenden im ländlichen Raum äußerst prekär. Die
Anzahl der Substituierenden liegt in Deutschland bei
76 200 Personen – Stand 2011. Dem gegenüber standen
im selben Jahr 2 703 substituierende Ärztinnen und
Ärzte sowie 8 122 Ärztinnen und Ärzte mit suchtthera-
peutischer Qualifikation.
So wird es den Patientinnen und Patienten und den
Ärztinnen und Ärzten sehr schwer gemacht, die Substi-
tutionsbehandlung erfolgreich durchzuführen. Zudem
werden immer wieder Fälle bekannt, bei denen sich Sub-
stitutionsärzte vor Gericht für die mehrtätige Mitgabe
des Substitutionsmittels, beispielsweise Methadon, an
ihre Patientinnen und Patienten verantworten müssen.
Beim Landgericht Lüneburg wurden bereits zwei Ärzte
zu Haftstrafen verurteilt. Und auch in Niedersachsen gab
es 2008 mehrere Verfahren gegen Substitutionsärzte.
Grund dafür ist der strenge Rechtsrahmen der Substituti-
onsbehandlung, dessen Grundzüge aus den 80er- und
90er-Jahren stammen. Die Take-home-Regelung von
sieben Tagen sollte daher ausgeweitet werden.
Ein weiteres Problem ist die sogenannte Einnahme
unter Sicht. Sie sorgt dafür, dass Patientinnen und
Patienten gezwungen werden, teilweise in der Öffent-
lichkeit, beispielsweise in der Apotheke, das Substitu-
tionsmittel einzunehmen. Diese Praxis hat für Patientin-
nen und Patienten oftmals einen demütigenden
Charakter. Die Einnahme des Substitutionsmittels „unter
Sicht“ sollte daher nicht die Regel, sondern die Aus-
nahme darstellen.
Auch die sachlichen und personellen Mindestvoraus-
setzungen für Substitutionseinrichtungen sind zu hoch
angesetzt. Die Richtlinien der Bundesärztekammer,
BÄK, von 2010 müssen daher ihren Niederschlag in der
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung, BtMVV,
finden. Des Weiteren muss endlich Rechtssicherheit für
Substitutionsärzte bei der Auslegung der Rechtsvor-
schriften zur Substitution hergestellt werden. Erfreulich
ist, dass am 17. Januar dieses Jahres der Gemeinsame
Bundesausschuss verschiedene Änderungen bei den
Diamorphin-Richtlinien beschlossen hat. „Einrichtungen
können über die Anzahl der notwendigen Arztstellen
bedarfsorientierter entscheiden und Räumlichkeiten rea-
litätsnah gestalten“, schrieb der Gemeinsame Bundes-
ausschuss in der Presseerklärung vom selben Tag.
Ebenso sollten die Vorschläge des 115. Deutschen
Ärztetages zur Substitutionsbehandlung einbezogen
werden. Diese fordern unter anderem, dass der Gesetz-
geber die betäubungsmittelrechtlichen Vorgaben an den
Stand der medizinischen Wissenschaft anpasst. In den
EU-Ländern, in denen ebenso die Substitutionsbehand-
lung ermöglicht wurde, ist diese pragmatischer geregelt
worden und hatte nicht zu einer unkontrollierten
Behandlungsszenerie geführt.
Außerdem muss der rechtliche Rahmen dafür
geschaffen werden, dass es nicht den Bundesländern ob-
liegt, eine bestehende Substitution bei einem Haftantritt
zu beenden. In einem offenen Brief der Deutschen
AIDS-Hilfe, DAH, an die bayrische Justizministerin
vom April 2012 wurde sehr deutlich formuliert, dass
Bayern gegen die Richtlinien der Bundesärztekammer
sowie gegen das Bayerische Strafvollzugsgesetz, nach
dem Gefangene die gleiche Gesundheitsversorgung er-
halten müssen wie in Freiheit, verstößt. Hintergrund des
27328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
offenen Briefes waren zwei aktuelle Beschlüsse des
Landgerichts Augsburg, mit denen zwei Anträge auf
Substitutionsbehandlung in der JVA Kaisheim abgelehnt
wurden. Wie die DAH betonte, wiesen die Beschlüsse
zahlreiche fachliche Fehler auf. Die Deutsche Gesell-
schaft für Suchtmedizin, DGS, erklärt zu den beiden Ur-
teilen: „Die Urteilsbegründung entspricht nicht dem
Stand des medizinischen Wissens und verletzt das Recht
des Patienten auf eine angemessene Behandlung.“ Der
erzwungene Abbruch einer Substitution bei Haftantritt
erhöht die „Gesundheits- und Lebensgefahren des
Patienten erheblich“, so die DGS.
Erforderlich sind rechtliche Rahmenbedingungen, die
Substitutionsärzte nicht abschrecken, Opiatabhängigen
eine flächendeckende Versorgung mit freier Arztwahl er-
möglichen, einer normalen Lebensführung nicht von
vorneherein im Wege stehen sowie den fließenden Über-
gang der Substitution auch in der Haft ermöglichen.
Wir unterstützen daher das Anliegen der SPD-Frak-
tion, die Versorgungsqualität bei der Substitutions-
behandlung zu verbessern, und hoffen, dass es spätestens
zu Beginn der neuen Legislaturperiode zu grundlegen-
den Änderungen der rechtlichen Rahmenbedingungen
zur Substitutionspraxis kommt. Nur dadurch können wir
die Anzahl der praktizierenden Substitutionsärzte erhö-
hen und den Abhängigen ausreichend helfen.
Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Vor genau zwei Wochen haben wir hier an dieser Stelle
schon einmal über die Drogenpolitik gestritten. Ich habe
seinerzeit darauf hingewiesen, dass das realitätsblinde
„Weiter so“ angesichts der erheblichen negativen Aus-
wirkungen der jetzigen Drogenpolitik ein Ende haben
muss.
Das in dem Antrag der SPD thematisierte Problem in
der Substitutionsbehandlung ist ein Beleg dafür, dass die
herrschende Drogenpolitik erhebliches menschliches
Leiden in Kauf nimmt. Denn was ist die Ursache dafür,
dass die Versorgung von Opiatabhängigen nicht überall
im notwendigen Umfang und ausreichender Qualität ge-
währleistet ist?
Was ist die Ursache dafür, dass Ärzte, die eine Substi-
tutionsbehandlung anbieten, zumindest gefühlt mit ei-
nem Bein im Gefängnis stehen? Und was ist die Ursache
dafür, dass in vielen deutschen Haftanstalten keine Sub-
stitutionsbehandlung angeboten wird?
Es sind die geltenden rechtlichen Regelungen in der
Betäubungsmittel-Verschreibungsverordnung und die
ideologisch begründete repressive Haltung mancher vor
allem süddeutscher Haftanstalten und Landesregierun-
gen. Ein kurzer Blick in die Betäubungsmittel-Verschrei-
bungsverordnung zeigt doch, welcher Geist da domi-
niert. Da geht es nicht vorrangig darum, eine gute
Versorgungsqualität für die betroffenen Patientinnen und
Patienten sicherzustellen, sondern da manifestiert sich
ganz klar eine repressiv ausgerichtete Drogenideologie.
In dieser Verordnung wird den Ärztinnen und Ärzten
die Indikation und Kontraindikation der Behandlung
vorgegeben. Es werden ihnen die Art der Medikation,
die Dosierung sowie die Applikation des Arzneimittels
vorgeschrieben.
Es werden die Behandlungs- und Verschreibungsfre-
quenz, die Art der Begleitbehandlung, der Behandlungs-
abbruch bei Non-Compliance detailliert vom Staat be-
stimmt. Und sogar das Behandlungsziel, die Abstinenz,
schreibt die Betäubungsmittel-Verschreibungsverord-
nung den Ärztinnen und Ärzten vor.
Kennen Sie irgendeine andere chronische Erkran-
kung, bei der der Staat derart massiv in die ärztliche
Therapiefreiheit eingreift und Patienten die Heilung
quasi staatlich vorschreibt?
Dass es die herrschende Drogenpolitik zu ihrer Legi-
timation nicht eben so genau mit den Fakten nimmt,
sieht man auch beim Thema Substitutionsbehandlung.
So steht beispielsweise wörtlich in einem nur wenige
Monate alten Bürgerschaftsantrag der Hamburger CDU:
„Mit dem Ziel der Ausstiegsorientierung ist eine zeitlich
unbegrenzte Behandlungsdauer nicht vereinbar. Es kann
weder im Sinne der Substituierten noch im Interesse der
sozialen Sicherungssysteme sein, die Behandlung man-
cher Opiatabhängiger jahrzehntelang vorzunehmen.“
Abgesehen davon, dass diese Formulierung ein gehö-
riges Ausmaß an Unmenschlichkeit offenbart, ist die
Formulierung auch schlicht falsch. Die PREMOS-Studie
zur Substitutionsbehandlung hat deutlich gezeigt, dass
auf längere Sicht nur ein ganz kleiner Teil der Patientin-
nen und Patienten jemals die Abstinenz erreicht. Um es
genau zu sagen: Nach sechs Jahren Behandlung waren
gerade einmal 8 Prozent der Patientinnen und Patienten
abstinent oder zumindest in einer abstinenzorientierten
Therapie ohne Substitution. Die übrigen befanden sich
noch in einer Substitutionsbehandlung, hatten die Be-
handlung abgebrochen oder waren verstorben.
Die Autoren der Studie schreiben ferner: „Die Risiken
einer sehr langfristigen bzw. lebenslangen Substitution
sind geringer als ständige Rückfälle mit dem Risiko ei-
ner weiteren Progression des Krankheitsbildes.“
Diese Fakten sprechen übrigens nicht gegen die Sub-
stitutionsbehandlung. Aber sie sprechen dafür, an die
Stelle ideologischer Vorgaben zur Abstinenz, zur Mitgabe
des Substitutionsmittels oder der Verschreibung sowie al-
ler anderen detaillierten staatlichen Vorgaben zur Be-
handlung dieser schweren chronischen Erkrankung end-
lich den aktuellen Stand der medizinischen Wissenschaft
treten zu lassen. Dafür sind die Behandlungsleitlinien und
Richtlinien der Bundesärztekammer völlig ausreichend.
Der § 5 der Betäubungsmittel-Verschreibungsverord-
nung ist daher aus unserer Sicht verzichtbar.
Noch schlimmere Auswirkungen als in der Freiheit
hat die herrschende Politik übrigens im Strafvollzug.
Etwa 20 bis 30 Prozent der in Deutschland inhaftierten
Menschen sind intravenöse Drogenkonsumenten. Den-
noch – auf diesen Umstand weist auch der SPD-Antrag
hin – bekommen nur 500 bis 700 der bis zu 15 000 in-
frage kommenden Inhaftierten eine entsprechende Be-
handlung.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27329
(A) (C)
(D)(B)
Im von CSU und FDP regierten Bayern ist die Situa-
tion besonders dramatisch. Hier ist die Behandlung nur
in einer einzigen Haftanstalt möglich und in der Regel
auch nur für Inhaftierte, die eine Freiheitsstrafe von we-
niger als drei Monaten verbüßen. Dort herrscht mit Billi-
gung des Justizministeriums in vielen Haftanstalten die
mittelalterliche Vorstellung, Opiatabhängigkeit sei keine
Krankheit und Substitution nur eine überflüssige Beloh-
nung für Drogenkonsum.
Vor diesem Hintergrund begrüßen wir den vorliegen-
den Antrag der SPD. Wir müssen endlich wegkommen
von der repressiv orientierten Drogenpolitik. Ziel muss
es sein, den opiatabhängigen Patientinnen und Patienten
eine optimale gesundheitliche Versorgung zukommen zu
lassen und ihnen so die Chance auf Linderung ihrer Ab-
hängigkeitserkrankung zu eröffnen. Dabei helfen uns
keine weltfremden Abstinenzideologien, sondern nur
kooperative und patientenorientierte Versorgungsstruk-
turen.
Anlage 15
Zu Protokoll gegebene Reden
zur Beratung:
– Antrag der Fraktionen der CDU/CSU, SPD,
FDP und Bündnis 90/Die Grünen: EU-weite
Regelungen zur Durchführung von klini-
schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln –
Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
sicherstellen; hier: Stellungnahme des Deut-
schen Bundestages nach Art. 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenhei-
ten der Europäischen Union
– Antrag der Fraktion Die Linke: EU-weite
Regelungen zur Durchführung von klini-
schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln –
Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer
sicherstellen; hier: Stellungnahme des Deut-
schen Bundestages nach Art. 23 Absatz 3 des
Grundgesetzes i. V. m. § 9 des Gesetzes über
die Zusammenarbeit von Bundesregierung
und Deutschem Bundestag in Angelegenhei-
ten der Europäischen Union
(Zusatztagesordnungspunkte 10 a und b)
Rudolf Henke (CDU/CSU): Die klinische Prüfung
von Arzneimitteln am Menschen ist eine notwendige
Voraussetzung für die Erforschung, Entwicklung und
Zulassung neuer Medikamente. Erkenntnisse, die in kli-
nischen Studien gewonnen werden, sind für die Weiter-
entwicklung moderner Arzneimitteltherapie von überra-
gender Bedeutung.
Im Vordergrund muss bei Arzneimittelstudien jedoch
die Patientensicherheit stehen. Ein hohes Schutzniveau
an Qualität, Wirksamkeit und Unbedenklichkeit ist für
die Probanden und Patienten unverzichtbar.
Unsere strengen rechtlichen Regelungen für die For-
schung am Menschen leiten sich aus der grundgesetzlich
geschützten Würde des Menschen ab. So muss eine kli-
nische Studie freiwillig sein. Nicht notwendige oder
willkürliche Maßnahmen sind strengstens zu unterlas-
sen; im Vorfeld hat eine gründliche Aufklärung stattzu-
finden.
Erstmals festgelegt im Nürnberger Kodex von 1947,
sind diese Anforderungen für eine ethisch verantwort-
bare Forschung am Menschen Teil der Deklaration von
Helsinki des Weltärztebundes. Diese ethischen Grund-
sätze für die medizinische Forschung haben nach ihrer
Veröffentlichung Eingang in die deutsche Gesetzgebung
und das Berufsrecht gefunden. Sie stellen die Konse-
quenz aus dem Unrecht medizinischer Experimente dar,
welche zur Zeit des Nationalsozialismus an den Opfern
von Konzentrationslagern durchgeführt wurden.
Der deutsche Gesetzgeber hat die stete Pflicht, Ände-
rungen in den rechtlichen Grundlagen zu humanmedizi-
nischer Forschung kritisch zu hinterfragen – gerade vor
dem Hintergrund der historischen Erfahrung in unserem
Land. Deshalb müssen wir bei jeder gesetzlichen Ände-
rung darauf achten, dass das hohe Schutzniveau für Teil-
nehmer an klinischen Studien erhalten bleibt.
Wir beraten heute einen fraktionsübergreifenden An-
trag über EU-weite Regelungen zur Durchführung von
klinischen Prüfungen mit Humanarzneimitteln. Grund-
lage des Antrages ist der Vorschlag einer Verordnung des
Europäischen Parlaments und des Rates über klinische
Prüfungen mit Humanarzneimitteln und zur Aufhebung
der Richtlinie 2001/20/EG, Ratsdokument 1275/12, wel-
chen die EU-Kommission am 17. Juli 2012 vorgelegt
hat.
Die bislang geltende Richtlinie 2001/20/EG ist in
Deutschland im Jahre 2004 mit der 12. AMG-Novelle
sowie der Verordnung über die Anwendung der Guten
Klinischen Praxis bei der Durchführung von klinischen
Prüfungen mit Arzneimitteln zur Anwendung am Men-
schen, GCP-Verordnung, in deutsches Recht umgesetzt
worden.
Unsere gesetzlichen Vorgaben haben sich in der Pra-
xis bewährt. Dies gilt für das eingangs erwähnte hohe
Schutzniveau von Probanden und Patienten, die Beteili-
gung der Ethikkommissionen am Genehmigungsverfah-
ren, aber auch für die Möglichkeiten der Initiatoren und
Sponsoren klinischer Arzneimittelforschung. Diese gute
Praxis ist uns vonseiten der Ärzteschaft, vom Arbeits-
kreis Medizinischer Ethik-Kommissionen, aber auch
vom Verband Forschender Arzneimittelhersteller viel-
fach bestätigt worden.
Mit der Vorlage des EU-Verordnungsvorschlages soll
die bislang geltende Richtlinie modernisiert werden. Ziel
ist ein in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich geltender
Rechtsrahmen für die Anforderungen an klinische Prü-
fungen mit Humanarzneimitteln.
Dieses Ziel einer weiteren Vereinheitlichung der kli-
nischen Prüfungen in der EU erkennt der Antrag in
seinem Wortlaut durchaus an. Damit darf aber keine
Minderung der Rolle und des Stellenwerts der Ethik-
27330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
kommissionen verbunden sein. Ich komme darauf zu-
rück.
Tatsächlich betrachten wir wichtige Punkte des Ver-
ordnungsvorschlags mit großer Sorge. Lassen Sie mich
dies an drei ausgewählten Punkten unseres Antrages
deutlich machen:
Erstens die Regelungen zum Schutz von Prüfungsteil-
nehmern. Die Deklaration von Helsinki fordert in Art. 6,
dass „in der medizinischen Forschung am Menschen …
das Wohlergehen der einzelnen Versuchsperson Vorrang
vor allen anderen Interessen haben“ muss.
Und weiter: „Einige Forschungspopulationen sind be-
sonders vulnerabel und benötigen besonderen Schutz.
Dazu gehören Personen, die nicht in der Lage sind,
selbst ihre Zustimmung zu erteilen oder zu verweigern
oder für die Ausübung von Zwang oder eine unzulässige
Beeinflussung anfällig sein können.“
Im Widerspruch dazu wird im Verordnungsentwurf
– Art. 31, Art. 32 – der Schutz vor fremdnütziger For-
schung insbesondere bei Minderjährigen und Notfallpa-
tienten gegenüber den bisherigen Regelungen der EU-
Richtlinie und des Arzneimittelgesetzes jedoch verrin-
gert. So muss der Widerspruch von widerspruchsfähigen
Minderjährigen und erwachsenen Nichteinwilligungsfä-
higen gegen die Teilnahme oder Fortsetzung einer Arz-
neimittelprüfung nicht beachtet werden. Eine Öffnungs-
klausel, um die Schutzvorkehrungen für besonders
vulnerable Personengruppen an die unterschiedlichen
mitgliedstaatlichen Anforderungen anzupassen, ist eben-
falls nicht vorgesehen.
Unser heute zu beschließender Antrag stellt darüber
hinaus klar, dass eine Instrumentalisierung von Patien-
tinnen und Patienten nicht mit den Grundrechten der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention sowie der Charta
der Grundrechte der EU vereinbar wäre.
Zweitens die fehlende Berücksichtigung von Ethik-
kommissionen bei der Bewertung von Anträgen auf Ge-
nehmigung klinischer Prüfungen und wesentlicher Än-
derungen. Bei der Forschung am Menschen sind
Ethikkommissionen international anerkannter Schutz-
standard. Die Deklaration von Helsinki sieht dazu in
Art. 15 vor, dass „das Studienprotokoll … vor Studien-
beginn zur Beratung, Stellungnahme, Orientierung und
Zustimmung einer Forschungsethik-Kommission vorzu-
legen“ ist. Und weiter heißt es: „Diese Ethik-Kommis-
sion muss von dem Forscher und dem Sponsor unabhän-
gig und von jeder anderen unzulässigen Beeinflussung
unabhängig sein. Sie muss den Gesetzen und Rechtsvor-
schriften des Landes oder der Länder, in dem oder denen
die Forschung durchgeführt werden soll, sowie den
maßgeblichen internationalen Normen und Standards
Rechnung tragen, die jedoch den in dieser Deklaration
niedergelegten Schutz von Versuchspersonen nicht ab-
schwächen oder aufheben dürfen. Die Ethik-Kommis-
sion muss das Recht haben, laufende Studien zu beauf-
sichtigen. Der Forscher muss der Ethik-Kommission
begleitende Informationen vorlegen, insbesondere Infor-
mationen über jede Art schwerer unerwünschter Ereig-
nisse.“ Zitat Ende.
Vor dem Hintergrund dieser wichtigen Funktionen so-
wie einer Bewertung der Studie unter einem individuel-
len Nutzen-Risiko-Verhältnis ist es mithin nicht nach-
vollziehbar, weshalb der Verordnungsvorschlag nicht
länger das zustimmende Votum einer unabhängigen, in-
terdisziplinär besetzten Ethikkommission verpflichtend
vorsieht. Eine Ablehnung durch die beauftragte Ethik-
Kommission muss auch in Zukunft zu einer Versagung
der Genehmigung einer Studie führen.
Während noch in der aktuell gültigen EU-Richtlinie
klar vorgegeben ist, dass „der Sponsor … mit der klini-
schen Prüfung erst beginnen [kann], wenn die Ethik-
Kommission eine befürwortende Stellungnahme abgege-
ben hat“, Art. 9 Abs. 1 UAbs. 2 Satz 1 der Richtlinie
2001/20/EG, taucht diese Formulierung im Verordnungs-
entwurf nicht mehr auf. Hier muss im laufenden Gesetz-
gebungsverfahren dringend eine Änderung erreicht wer-
den.
Drittens. Ebenfalls stark kritikwürdig ist das vorgese-
hene Verfahren zur Auswahl des berichterstattenden
Mitgliedstaates und zur Zusammenarbeit der betroffenen
Mitgliedstaaten. So obliegt es zukünftig allein dem
Sponsor, den berichterstattenden Mitgliedstaat zu benen-
nen. Die betroffenen Mitgliedstaaten können zukünftig
bei der Bewertung von Anträgen nur noch Anmerkungen
übermitteln.
Hier wollen wir erreichen, dass der berichterstattende
Mitgliedstaat nach objektiven Kriterien festgelegt und
effektiv an der Nutzen-Risiko-Bewertung beteiligt wird.
Dazu gehört eine ausreichende Konsultationsfrist, vor
deren Ablauf der berichterstattende Mitgliedstaat nicht
entscheiden darf, ebenso wie eine Pflicht des berichter-
stattenden Mitgliedstaates, eingegangene Anmerkungen
zu dokumentieren und gegebenenfalls zu begründen,
warum er von den Hinweisen eines betroffenen Mit-
gliedstaates abweicht. Des Weiteren sollte die künftige
Verordnung Opt-out-Klauseln zugunsten eines in der na-
tionalen Umsetzung höheren als im europäischen
Rechtsrahmen vorgesehenen Schutzniveaus enthalten.
Trotz unserer strengen Regelungen mit einem hohen
Schutzniveau für Studienteilnehmer ist Deutschland bei
der Anzahl klinischer Studienprojekte führend in Eu-
ropa. Die in Deutschland seit 2004 geltende Rechtslage
bewerten die Arzneimittelhersteller positiv, wie der Ver-
band Forschender Arzneimittelhersteller in einer Stel-
lungnahme hervorhebt.
Keineswegs haben unsere bewährten deutschen Rege-
lungen zu einem Rückgang klinischer Arzneimittelprü-
fungen in Deutschland geführt; diese sind vielmehr seit
2009 in der Summe stabil.
Das in Deutschland bestehende und grundrechtlich
gebotene Niveau zum Schutz der Prüfungsteilnehmer ist
kein Hindernis für erfolgreiche Forschungsvorhaben; es
ist eine Grundvoraussetzung. Die international aner-
kannten ethischen Grundsätze für die Forschung am
Menschen dürfen deshalb auch in Zukunft nicht infrage
gestellt werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27331
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Stephan Stracke (CDU/CSU): Aus Sicht der Patien-
ten in Deutschland sind zwei Dinge wichtig:
Erstens. Sie wollen, dass ihnen ein bezahlbares Ge-
sundheitssystem auf hohem Niveau zur Verfügung steht.
In diesem Punkt hat die christlich-liberale Koalition in
dieser Legislaturperiode große Fortschritte erzielt. So re-
den wir in der gesetzlichen Krankenversicherung nicht
mehr über Defizite, sondern von Überschüssen, die auch
in den nächsten Jahren noch tragen.
Zweitens. Die Patienten wollen an Innovationen teil-
haben. Dazu gehört auch, dass neue wirksame und si-
chere Arzneimittel möglichst frühzeitig bei uns zugelas-
sen werden. Als Mittel dazu bedarf es auch klinischer
Prüfungen.
Klinische Prüfungen erfolgen in nicht unerheblicher
Zahl als multinationale Prüfungen in mehreren Staaten.
Damit diese Prüfungen sicher durchgeführt werden
können, braucht es einen verlässlichen Rahmen für die
pharmazeutischen Unternehmen, aber auch einen ver-
lässlichen Rahmen für die Prüfungsteilnehmer. Diesen
Rahmen stellt in Deutschland das Arzneimittelgesetz
dar. Dieses beruht auf einer europäischen Richtlinie zur
Durchführung klinischer Prüfungen, die aber den Mit-
gliedstaaten Spielraum bei der Umsetzung lässt. Eine
weitere Vereinheitlichung der gesetzlichen Regelungen
zur Schaffung eines noch verlässlicheren Rahmens ist
deshalb anerkannt.
Diese Vereinheitlichung darf aber nicht zulasten der
Prüfungsteilnehmer gehen. Für Prüfungsteilnehmer be-
stehen bei klinischen Prüfungen immer zwei Interessen.
Das Schutzinteresse und das Chanceninteresse. Diese
müssen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden.
Das Schutzinteresse besteht, weil bei Neu- oder Wei-
terentwicklungen von Arzneimitteln immer auch ein
Stück weit Neuland betreten wird. Dementsprechend
sind sie trotz aller Anstrengungen zur Verminderung von
Risiken mit gewissen Unsicherheiten für die Prüfungs-
teilnehmer verbunden. Dem gegenüber steht aber die
Chance, erstmals Zugang zu einem neuen, womöglich
wirksamen Medikament zu erhalten. Außerdem leisten
die Prüfungsteilnehmer auch einen ganz wichtigen Bei-
trag für die Gesellschaft. Denn mit ihrer Teilnahme tra-
gen sie dazu bei, dass mit höherer Wahrscheinlichkeit
vorhergesagt werden kann, für welche Patienten ein
neues Arzneimittel geeignet ist und welchen Nutzen es
hat.
Die Entscheidung über eine Teilnahme ist also nicht
einfach, und wir können sie keinem Menschen abneh-
men. Aber wir können die Menschen in ihrer Entschei-
dung bestmöglich unterstützen. Deshalb bestehen in
Deutschland weitreichende gesetzliche Bestimmungen,
die dem Schutzinteresse Rechnung tragen. Denn nur mit
dem Wissen um diese Regelungen kann eine wirklich
freie Entscheidung über die Teilnahme an einer klini-
schen Prüfung getroffen werden.
So bestimmt das Arzneimittelgesetz unter anderem,
dass klinische Prüfungen grundsätzlich nur an volljähri-
gen, einwilligungsfähigen Prüfungsteilnehmern zulässig
sind. Für Minderjährige und nichteinwilligungsfähige
Erwachsene gelten dagegen enge Grenzen. So dürfen
zum Beispiel bei Minderjährigen nur minimale Risiken
und Belastungen mit der Forschung verbunden sein. In
Deutschland ist Einhaltung dieser Regelungen unabding-
bare Voraussetzung; denn die Fürsorge für die Prüfungs-
teilnehmer hat für uns oberste Priorität.
Aus diesem Grund regelt das Arzneimittelgesetz
auch, dass eine klinische Prüfung nur begonnen werden
darf, wenn die zuständige Ethikkommission diese zu-
stimmend bewertet hat. Den Ethikkommissionen kom-
men somit ganz wichtige und entscheidende Aufgaben
zu: Sie prüfen die wissenschaftliche Qualität, die recht-
liche Zulässigkeit und die Vertretbarkeit des Vorhabens.
Auf diese Weise wahren sie die Rechte, das Wohlerge-
hen und die Sicherheit der Prüfungsteilnehmer.
Im Juli letzten Jahres hat die Europäische Kommis-
sion den Vorschlag für eine Verordnung über klinische
Prüfungen mit Humanarzneimitteln vorgelegt, die die
bestehende Richtlinie ablösen soll. Mit dem Vorschlag
verfolgt die Kommission zwei grundsätzliche Anliegen:
Erstens, die Voraussetzungen klinischer Prüfungen mit
Arzneimitteln am Menschen weiterzuentwickeln, und
zweitens, das Verfahren der Genehmigung einer klini-
schen Prüfung in den Mitgliedstaaten zu harmonisieren.
Beides seien wichtige Faktoren für die Attraktivität der
Europäischen Union als Standort für klinische For-
schung. Gerade für Deutschland als größtem Forschungs-
standort in Europa mit circa 30 Prozent Anteil an den
durchgeführten klinischen Prüfungen ist dies immens
wichtig. Daher begrüßen wir diese Anliegen ausdrück-
lich.
Allerdings weicht der Verordnungsvorschlag in we-
sentlichen Punkten von dem Schutzniveau des Arznei-
mittelgesetzes für die Prüfungsteilnehmer ab. Dies kann
aus deutscher Sicht keinesfalls akzeptiert werden. Es ist
wichtig, dass das bestehende Schutzniveau insbesondere
hinsichtlich der Minderjährigen und nicht Einwilli-
gungsfähigen weiter Bestand hat.
Probleme bereitet der Verordnungsvorschlag auch
hinsichtlich der Einbeziehung von Ethikkommissionen
bei der Bewertung von Anträgen auf Durchführung von
klinischen Prüfungen. Die bestehende EU-Richtlinie
enthält die ausdrückliche Regelung, dass der Sponsor
mit der klinischen Prüfung erst beginnen kann, wenn die
Ethikkommission eine befürwortende Stellungnahme
abgegeben hat. Diese Regelung sieht der Verordnungs-
vorschlag nun jedoch nicht mehr vor. Ethikkommissio-
nen leisten tagtäglich mit ihrer Arbeit einen Beitrag zur
Qualitätssicherung und zur Rechtssicherheit bei klini-
schen Prüfungen. Es ist daher befremdlich und realitäts-
fern, dass die Ethikkommissionen im Verordnungsvor-
schlag mit keinem Wort mehr erwähnt werden. Durch
die Nichtaufnahme der Ethikkommissionen schadet der
Verordnungsvorschlag dem Ansehen der medizinischen
Forschung. Denn das Vertrauen der Öffentlichkeit in kli-
nische Prüfungen gründet sich in höchstem Maße auf die
durch die unabhängigen Ethikkommissionen abgesi-
cherte ethische und rechtliche Vertretbarkeit.
Mit unserer parteiübergreifenden Stellungnahme wei-
sen wir als Deutscher Bundestag auf diese Unzulänglich-
27332 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
keiten hin. Schon im Titel des Antrages machen wir un-
missverständlich deutlich, worum es uns geht: den
Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer bei der
Durchführung von klinischen Prüfungen sicherzustellen.
So fordern wir, dass das in Deutschland bestehende
grundrechtlich gebotene Schutzniveau für Prüfungsteil-
nehmer in den Verordnungsvorschlag aufgenommen
werden muss. Das Schutzniveau muss in allen Mitglied-
staaten gleich gestaltet sein. Ein mögliches Opt-out,
nach dem der betroffene Staat entscheiden könnte, nicht
an der klinischen Prüfung teilzunehmen, ist nicht ausrei-
chend. Wir wollen unser hohes Schutzniveau verankert
sehen und uns nicht auf ein Absenken auf ein niedrigeres
Niveau einlassen. Das zustimmende Votum einer Ethik-
kommission muss weiterhin Voraussetzung für den Be-
ginn einer klinischen Prüfung sein. Aus unserer Sicht ist
nur so der Schutz der Prüfungsteilnehmer, insbesondere
auch der besonders vulnerablen Personengruppen, um-
fassend zu gewährleisten.
Zum Schluss möchte ich noch deutlich machen, dass
die besten Regelungen nichts nützen, wenn das dahinter-
stehende Verfahren untauglich ist. So brauchen wir auch
praktikable Regelungen für die Genehmigung der
Prüfung. Hierzu gehört, dass die betroffenen Mitglied-
staaten ausreichend in das Genehmigungsverfahren ein-
bezogen werden. Das derzeit geltende freiwillige Har-
monisierungsverfahren bietet dafür eine gute Grundlage.
Zudem sind die derzeit im Verordnungsentwurf vorgese-
henen Fristen zur Entscheidung über die Genehmigung
zu kurz. Sie lassen eine angemessene Bewertung kom-
plexer klinischer Prüfungen und der mit ihnen verbunde-
nen Risiken nicht mehr zu. Daher fordern wir, prakti-
kable Fristen in der Verordnung zu verankern.
Ich wünsche der Bundesregierung bei ihren Verhand-
lungen auf EU-Ebene die nötige Durchsetzungskraft, um
diese und die weiteren Forderungen unserer Stellung-
nahme durchsetzen zu können.
Dr. Marlies Volkmer (SPD): Es freut mich außeror-
dentlich, dass wir heute einen fraktionsübergreifenden
Entschließungsantrag beraten, der sich deutlich für den
Schutz der Teilnehmerinnen und Teilnehmer an klini-
schen Prüfungen mit Humanarzneimitteln einsetzt.
Als die EU-Kommission im Juli letzten Jahres ihren
Vorschlag einer Verordnung des Europäischen Parla-
ments und des Rates über klinische Prüfungen mit
Humanarzneimitteln und zur Aufhebung der Richtlinie
2001/20/EG vorlegte, erklang ein lauter Protest vonsei-
ten der Medizin, der Wissenschaft und von den Patien-
tenschützern – zu Recht, wie ich meine.
Das erklärte Ziel der neuen Verordnung war es, einen
in allen EU-Mitgliedstaaten einheitlich geltenden
Rechtsrahmen für die Genehmigung klinischer Prüfun-
gen zu schaffen. Die Mitgliedstaaten hatten die bislang
geltende Richtlinie 2001/20/EG sehr unterschiedlich
umgesetzt, was die Durchführung einer klinischen Prü-
fung in mehr als einem Mitgliedstaat erschwert. Das
neue Verfahren soll das Genehmigungsverfahren schnel-
ler, einfacher und kostengünstiger machen und so die
Attraktivität der Europäischen Union als Standort für
klinische Forschung steigern.
Diese Absicht ist durchaus zu begrüßen. Klinische
Forschung zur Entwicklung neuer Arzneimittel und zur
weiteren Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten
von Krankheiten ist richtig und notwendig. Jedoch
drohen die geplanten Änderungen das in Deutschland
bestehende Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und
Teilnehmer an klinischen Prüfungen herabzusetzen und
verletzen grundlegende ethische Prinzipien.
Bei der Umsetzung der heute geltenden Richtlinie mit
der zwölften Arzneimittelgesetznovelle im Jahr 2004
und der GCP-Verordnung hat die SPD-geführte Bundes-
regierung von ihrem Umsetzungsspielraum Gebrauch
gemacht. Wir haben zum Schutz von besonders vulnera-
blen Patientengruppen wie Minderjährigen oder einwilli-
gungsunfähigen Erwachsenen deutliche Grenzen einge-
zogen. Diese strengen deutschen Regelungen haben
dabei keineswegs zu einem Rückgang klinischer Arznei-
mittelprüfungen bei uns geführt. Im Gegenteil, Deutsch-
land ist einer derjenigen Mitgliedstaaten mit den meisten
Anträgen auf Genehmigung einer klinischen Prüfung.
Der vorgelegte Verordnungsentwurf senkt jedoch das
Schutzniveau für die Teilnehmerinnen und Teilnehmer
an klinischen Prüfungen. So sieht er vor, dass nicht ein-
willigungsfähige Erwachsene ohne vorherige Informa-
tion und ohne potenziellen Eigen- oder Gruppennutzen
in eine klinische Prüfung einbezogen werden können.
Auch der Widerspruch von Minderjährigen zur Teil-
nahme oder Fortsetzung einer Arzneimittelprüfung muss
nicht mehr beachtet werden. Eine Öffnungsklausel,
damit Staaten Schutzvorkehrungen für besonders vulne-
rable Personengruppen einfügen können, ist in der
Verordnung nicht vorgesehen. Diese Änderungen bedeu-
ten eine Instrumentalisierung von Patientinnen und
Patienten, die nicht mit den Grundrechten gemäß der Eu-
ropäischen Menschenrechtskonvention sowie der Charta
der Grundrechte der Europäischen Union vereinbar ist.
Weiterhin sieht der Verordnungsentwurf nicht länger
das Votum einer unabhängigen, interdisziplinär besetz-
ten Ethikkommission vor. Heute müssen geplante For-
schungsvorhaben vor Studienbeginn einer mit Experten
und Laien besetzten Ethikkommission zur Beratung,
Stellungnahme, Orientierung und Zustimmung vorgelegt
werden. Dieses Verfahren ist für den Schutz der Teilneh-
merinnen und Teilnehmer an Studien unabdingbar.
Auch die Bewertungs- und Genehmigungsfristen sol-
len deutlich verkürzt werden, sodass eine angemessene
Bewertung der Risiken und Belastungen für die Studien-
teilnehmer sowie des wissenschaftlichen Nutzens der
klinischen Prüfung fast unmöglich werden. Hinzu
kommt, dass erlaubt werden soll, bestimmte schwerwie-
gende unerwartete Ereignisse aus der Meldepflicht
herauszunehmen. Dadurch verzerrt sich jedoch das Risi-
koprofil der klinischen Prüfung, und es kann zu gefährli-
chen Fehleinschätzungen über Risiken kommen.
Zuletzt ist vorgesehen, dass allein der Sponsor einer
klinischen Prüfung den Mitgliedstaat bestimmen darf, in
welchem die Bewertung von Anträgen zur Genehmi-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27333
(A) (C)
(D)(B)
gung stattfindet. Auch falls größere Teile der Untersu-
chung in anderen EU-Staaten stattfinden, haben diese
fast keine Einflussmöglichkeiten und Mitspracherechte.
Daher ist es richtig, dass sich Ärzte, Forscher und Pati-
entenverbände vehement gegen diese Änderungen aus-
gesprochen haben.
Die Fraktionen des Deutschen Bundestages setzen
sich mit diesem Antrag dafür ein, dass das in Deutsch-
land bestehende und grundrechtlich gebotene Schutzni-
veau für Prüfungsteilnehmerinnen und -teilnehmer in
den Verordnungsvorschlag aufgenommen wird. Dabei
sind insbesondere Minderjährige sowie nicht einwilli-
gungsfähige Erwachsene besonders zu berücksichtigen.
Es darf keine Verschiebung bei der Nutzen-Risiko-Ab-
wägung zwischen individuellem Nutzen und dem Nut-
zen für die öffentliche Gesundheit zulasten der Prü-
fungsteilnehmerinnen und Prüfungsteilnehmer geben.
Wir fordern, dass die unabhängigen, interdisziplinär
besetzten Ethikkommissionen weiterhin in das Geneh-
migungsverfahren einbezogen werden. Es bleibt dabei,
dass eine Genehmigung für eine klinische Prüfung nur
dann erteilt wird, wenn die Ethikkommission die Anfor-
derungen zum Schutz der Prüfungsteilnehmerinnen und
Prüfungsteilnehmer und die ärztliche Vertretbarkeit
zustimmend bewertet hat. Dazu wird ihr auch weiterhin
eine praktikable Frist eingeräumt. Schwerwiegende
unerwünschte Ereignisse, die während der klinischen
Prüfung auftreten, müssen zudem auch zukünftig aus-
nahmslos gemeldet werden.
Wir wollen, dass der berichterstattende Mitgliedstaat
nicht der Wahl des Sponsors überlassen wird; stattdessen
wird der Berichterstatter nach einem festgelegten, nach-
vollziehbaren und transparenten Verfahren bestimmt,
das bei klinischen Prüfungen in mehreren Ländern auch
die übrigen betroffenen Mitgliedstaaten ausreichend ein-
bezieht.
Mit unserem einheitlichen Votum für diesen Ent-
schließungsantrag setzen wir ein deutliches Zeichen. Die
Bundesregierung kann mit einem klaren Auftrag in die
weiteren Verhandlungen gehen.
Der Deutsche Bundestag spricht sich mit einer
Stimme für den Schutz der Teilnehmerinnen und Teil-
nehmer an klinischen Prüfungen aus. Dadurch honorie-
ren wir den wichtigen Beitrag, den diese Menschen zur
Entwicklung neuer Arzneimittel und zur Verbesserung
bestehender Therapien leisten.
Jens Ackermann (FDP): Für die Bürgerinnen und
Bürger ist die Qualität der klinischen Prüfungen von ho-
her Wichtigkeit, da sie von einer optimalen medizini-
schen Versorgung profitieren sollen. Die Rahmenbedin-
gungen hierfür muss die Politik vorgeben.
Am 17. Juli 2012 veröffentlichte die Kommission ei-
nen Verordnungsvorschlag über klinische Prüfungen mit
Humanarzneimitteln. Ziel der Verordnung ist die Schaf-
fung eines einheitlichen Rechtsrahmens, um damit eine
durchgängige Harmonisierung der Anforderungen an kli-
nische Prüfungen mit Humanarzneimitteln zu erzielen.
Nach der Evaluierung der Richtlinie von 2001 stellte die
Kommission fest, dass die Umsetzung in den einzelnen
Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ist; insbesondere
bei der Durchführung multinationaler klinischer Prüfun-
gen gibt es Probleme. Klinische Prüfungen mit Patien-
tinnen und Patienten und Probandinnen und Probanden
sind notwendig, um die Wirksamkeit und Sicherheit von
Medikamenten und medizinischen Interventionen zu
überprüfen.
Die von der Kommission benannten Probleme im
Verordnungsentwurf treffen auf Deutschland nicht zu;
darin sind sich alle Beteiligten einig. Der Gesetzgeber
hat die Richtlinie 2004 mit dem Zwölften Gesetz zur Än-
derung des Arzneimittelgesetzes und der Verordnung
über die Anwendung der Guten Klinischen Praxis bei
der Durchführung von klinischen Prüfungen mit Arznei-
mitteln zur Anwendung am Menschen, der sogenannten
GCP-Verordnung, umgesetzt. Dabei hat die damalige
Regierung von der Möglichkeit des Umsetzungspiel-
raums Gebrauch gemacht, um die Probandinnen und
Probanden stärker als auf europäischer Ebene vorgesehen
zu schützen. Dies ist besonders bei vulnerablen Personen-
gruppen wie Minderjährigen oder nicht einwilligungs-
fähigen Erwachsenen erkennbar. Hier hat der Gesetzge-
ber richtigerweise damals Grenzen gezogen.
Der Gesetzgeber hat festgelegt, dass sowohl die Auf-
klärung als auch die Behandlung nur ein Arzt durchfüh-
ren darf. Die Sicherheit der Bürgerinnen und Bürger
muss oberste Priorität haben.
In Deutschland besteht also seit der Umsetzung der
Richtlinie im Jahr 2004 ein bewährter Rechtsrahmen so-
wohl für die Probanden als auch für die Sponsoren, die
man in dieser Debatte auch nicht außer Acht lassen darf.
Der Sponsor, der auch für den organisatorischen Ablauf
zuständig ist, trägt die volle Verantwortung sowie das
unternehmerische Risiko. Es ist also bei den hohen An-
forderungen geboten, hier passende Bürokratiehürden
anzubieten.
Der von der Kommission ausgeführte Reformbedarf
der Richtlinie ist auf Deutschland nicht übertragbar. Wir
haben keinen Rückgang an klinischen Prüfungen nach
der Umsetzung der Richtlinie verzeichnen können. Im
Gegenteil: In Deutschland wurden seit der Umsetzung
2004 vergleichsweise sehr viele Anträge auf Genehmi-
gung einer klinischen Prüfung gestellt.
Wir haben fraktionsübergreifend innerhalb des Gre-
miums große Bedenken zum Verordnungsentwurf der
Kommission geäußert. Diese spiegeln sich im heute zu
beratenden Antrag wieder.
Die Wünsche aus Europa sind ja schön und gut. Je-
doch haben wir an dieser Stelle weitergehende Regelun-
gen, die wir nicht aufgeben dürfen. Vielmehr muss es in
unserem Interesse sein, die vorliegende Verordnung zu
verbessern.
Ich freue mich sehr, dass wir als Regierungsfraktio-
nen zusammen mit der Opposition und in guter Zusam-
menarbeit mit dem Bundesministerium für Gesundheit
Vorschläge zur Verbesserung der Richtlinie vorlegen
konnten, die unsere Bedenken zum Verordnungsentwurf
aufzeigten. Es kommt schließlich auf das Ergebnis an:
27334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013
(A) (C)
(D)(B)
Der Schutz der Probandinnen und Probanden ist und
bleibt oberstes Gebot.
Die Regelungen in Deutschland haben sich bewährt,
einerseits für die Probandinnen und Probanden mit ho-
hen Sicherheitsforderungen, andererseits auch für die
Sponsoren, die in Deutschland sehr gute Bedingungen
für klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln vorfin-
den. Hier benötigen wir auch praktikable Fristen für die
Genehmigungen.
Der Vorschlag der Kommission hat aus unserer Sicht
entscheidende Mängel: Die Regelungen bieten den Pro-
bandinnen und Probanden keinen ausreichenden Schutz;
besonders gilt dies für Minderjährige. Hier fordern wir
Nachbesserungen insbesondere für Minderjährige und
nicht einwillungsfähige Erwachsene. Diese sollen, wenn
sie dazu in der Lage sind, mit angehört werden. Das heißt:
Man benötigt dann neben der Entscheidung des gesetzli-
chen Vertreters auch die Zustimmung des Probanden.
Gegenüber klinischen Prüfungen an Kindern brauchen
wir gesonderte Regelungen. Prüfungen mit kranken Kin-
dern müssen an besondere Bedingungen geknüpft sein.
Das heißt: minimale Risiken, minimale Belastungen.
Generell müssen die Aufklärung sowie die Behand-
lung von einem Arzt durchgeführt werden. Die klini-
schen Prüfungen dürfen auch nur beginnen, wenn die
vorhersehbaren Risiken und Belastungen von Ärzten als
vertretbar eingeschätzt werden. Genauso muss die Ethik-
kommission unabhängig und interdisziplinär besetzt
werden, da dieses Gremium über die Genehmigung kli-
nischer Prüfungen entscheidet.
Stark zu kritisieren ist auch die Tatsache, dass nun al-
lein der Sponsor das Berichtsland des Mitgliedstaates
bestimmen sollte. Hier fordern wir, dass der berichtende
Mitgliedstaat in einem transparenten Verfahren bestimmt
wird. Zudem muss der Sponsor einen gesetzlichen Ver-
treter in einem Mitgliedsland der EU haben: ein sehr
wichtiger Schritt, um Rechtssicherheit gewährleisten zu
können. Deshalb sollte für eine lückenlose Dokumenta-
tion der Antrag auch möglichst in englischer Sprache
eingereicht werden.
Die Mitgliedstaaten sind im Kommissionsvorschlag
zur Einrichtung eines Entschädigungsmechnismus ver-
pflichtet. Hier fordern wir, dass den Mitgliedstaaten ein
gewisser Spielraum für die Absicherung der Probandin-
nen und Probanden eingeräumt wird.
Es ist also, wie Sie sehen, noch viel Änderungsbedarf
vorhanden. Diesem Bedarf wird der vorliegende Antrag
gerecht.
Ich fasse für Sie noch einmal die Kernforderungen
des interfraktionellen Antrages zusammen. Wir fordern:
verbesserte Schutzregeln besonders für Minderjährige
und nicht einwillungsfähige Erwachsene und eine unab-
hängig und interdisziplinär besetzte Ethikkommission,
die über die Genehmigungen klinischer Prüfungen ent-
scheidet. Die Wahl für das berichterstattende Land muss
in einem festgelegten, nachvollziehbaren und transpa-
renten Verfahren erfolgen und nicht durch den Sponsor.
Wir fordern weiter, dass der Prüfplan und die Prüf-
informationen für eine EU-weit einheitliche Fassung
möglichst in englischer Sprache einzureichen sind und
praktikable Fristen über die Genehmigung klinischer
Prüfungen. Der wichtigste Punkt: Es darf keine Risiko-
verschiebung zulasten der Probanden geben.
Ich hoffe im Interesse der Patientinnen und Patienten
sowie der Probandinnen und Probanden sehr, dass die
Bundesregierung sich mit unseren Forderungen in den
weiteren Verhandlungen zur Verordnung durchsetzen
wird.
Birgitt Bender (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Der
Verordnungsvorschlag der EU-Kommission, die Rege-
lungen für klinische Arzneimittelprüfungen zu verein-
heitlichen, hat erhebliche Mängel. Diese müssen in den
Verhandlungen der Mitgliedstaaten und vom Europäi-
schen Parlament im Gesetzgebungsverfahren behoben
werden. Ohne Änderungen könnte es beispielsweise
sein, dass nicht einwilligungsfähige Patientinnen und
Patienten nicht nur minimale, sondern größere Risiken
zu tragen hätten, ohne dass ein Nutzen für sie zu erwar-
ten ist. Das ist aus meiner Sicht nicht mit der Europäi-
schen Menschenrechtskonvention sowie der Charta der
Grundrechte der EU vereinbar.
Wir sind uns in Bundestag und Bundesrat einig, dass
wir uns am geltenden deutschen Arzneimittelrecht orien-
tieren sollten. Dieses legt deutlich höhere Schutzstan-
dards, insbesondere für Kinder und nicht einwilligungs-
fähige Erwachsene, fest, als von der EU-Kommission
geplant. Ebenso unverzichtbar ist, dass eine Zustimmung
einer unabhängigen interdisziplinären Ethikkommission
Voraussetzung für die Durchführung solcher Studien ist.
Die bestehende Richtlinie 2001/20/EG wurde in
Deutschland 2004 unter Rot-Grün in nationales Recht
umgesetzt. Dabei haben wir bestehende Umsetzungs-
spielräume genutzt. Für eine der Regelungen wurden wir
damals deutlich kritisiert: dass wir unter der Vorausset-
zung, dass nur minimale Risiken und minimale Belas-
tungen zu erwarten sind, bei Minderjährigen klinische
Prüfungen auch dann erlaubt haben, wenn kein eigener
Nutzen, sondern nur ein Gruppennutzen zu erwarten ist.
Heute wären manche – die damals ein absolutes Verbot
forderten – froh, wenn eine solche Regelung in allen
Forschungsbereichen gelten würde.
Union und FDP haben die 12. AMG-Novelle damals
abgelehnt. So falsch konnte das, was damals beschlossen
wurde, aber doch nicht sein, wenn wir alle heute so posi-
tiv auf die dortigen Regelungen Bezug nehmen. Es ist
uns damals gelungen, Regelungen zu verabschieden, die
sich sowohl hinsichtlich des Schutzes von Teilnehmerin-
nen und Teilnehmern an klinischen Prüfungen als auch
aus der Sicht der Sponsoren klinischer Arzneimittel-
forschung bewährt haben. Dies lässt sich auch daran ab-
lesen, dass es in Deutschland – im Gegensatz zur EU-
weiten Entwicklung – nicht zu einem Rückgang von
Arzneimittelstudien gekommen ist.
Wie bereits gesagt, es gibt keine inhaltlichen Diffe-
renzen; alle im Bundestag vertretenen Fraktionen sind
sich einig. Dennoch liegen uns nun zwei wortidentische
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 219. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 31. Januar 2013 27335
(A) (C)
(D)(B)
Anträge vor. Dass die Union keine Anträge gemeinsam
mit der Linken stellt, ist ihre Entscheidung. Schwer
nachvollziehen kann ich jedoch, dass dies auch für bio-
ethische Fragestellungen gilt. Bei strittigen Bioethik-
themen kooperieren wir quer durch alle Fraktionen.
Aber wenn wir uns einig sind, darf dies nicht sein. Da
fehlt mir das Verständnis.
Der Bundesrat fordert in seiner Stellungnahme, dass
auch die damals von uns Grünen eingebrachte Vorgabe
der angemessenen Einbeziehung von Frauen in klinische
Arzneimittelstudien in die EU-Verordnung aufgenom-
men werden solle. Das kann ich nur unterstützen. Aber
dies reicht nicht aus. Bereits unter Rot-Grün wollten wir
mehr. Wir Grünen setzen uns dafür ein, dass in die EU-
Verordnung Regelungen aufgenommen werden, die ge-
schlechtsspezifische Auswertungen nicht nur möglich
machen, sondern auch sicherstellen, dass diese tatsäch-
lich durchgeführt werden. Erst dann kann in Zukunft ge-
währleistet werden, dass Frauen die richtige Arzneimit-
teltherapie erhalten.
Wir halten aus gutem Grund die Einbeziehung der
Ethikkommissionen hoch; aber wir hören auch, dass es
vor Ort große Unterschiede bei der Professionalität gibt.
Hier wünsche ich mir, dass die Bundesländer, bei denen
die Regelungskompetenzen größtenteils liegen, gemein-
sam an einer Optimierung arbeiten.
219. Sitzung
Inhaltsverzeichnis
TOP 7 Bundeswehreinsatz in Afghanistan (ISAF)
TOP 4 Rüstungsexportpolitik
TOP 40 Überweisungen im vereinfachten Verfahren
TOP 41, ZP 2, 3 Abschließende Beratungen ohne Aussprache
ZP 4 Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses
ZP 5 Aktuelle Stunde zur Ausrüstung der Bundeswehr mit bewaffneten Drohnen
TOP 3 Private Altersvorsorge
TOP 6, ZP 6 Soziale und ökologische Unternehmensverantwortung
TOP 5, ZP 7, 8 Justizkostenrecht
TOP 16 Sahel-Region
TOP 9 Krebsregister
TOP 10 Sport in der Auswärtigen Kulturpolitik
TOP 11 Sorgerecht nicht miteinander verheirateter Eltern
TOP 12 Soziale Sicherung in der Entwicklungspolitik
TOP 13 Außenwirtschaftsrecht
TOP 14 Sozialer Tourismus
TOP 15 Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen
TOP 25 Behindertenrecht im Wahlrecht
TOP 17 Innerstaatliche Umsetzung des Fiskalvertrags
TOP 18 Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften
TOP 19 Nutzung von Konfliktmineralien
TOP 20 Telekommunikationsrecht
TOP 21 Ökologischer Landbau
TOP 24 Versicherungsrechtliche Vorschriften
TOP 23 Uranmunition
TOP 26 Schutz des Erbrechts nichtehelicher Kinder
TOP 27 Bergrecht
TOP 28 Rechte des leiblichen, nicht rechtlichen Vaters
ZP 9 Drogenpolitik
TOP 29 Urheberrecht
TOP 30 Aus- und Weiterbildung in der Altenpflege
TOP 31 SGB II (Bildungs- und Teilhabepaket)
TOP 32 Menschen mit Behinderung im Arbeitsleben
ZP 10 Klinische Prüfungen mit Humanarzneimitteln
Anlagen