Protokoll:
17217

insert_drive_file

Metadaten
  • date_rangeWahlperiode: 17

  • date_rangeSitzungsnummer: 217

  • date_rangeDatum: 17. Januar 2013

  • access_timeStartuhrzeit der Sitzung: 09:00 Uhr

  • av_timerEnduhrzeit der Sitzung: 22:48 Uhr

  • account_circleMdBs dieser Rede
  • tocInhaltsverzeichnis
    Plenarprotokoll 17/217 Deutscher Bundestag Stenografischer Bericht 217. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 I n h a l t : Glückwünsche zum Geburtstag der Abgeord- neten Dr. Rosemarie Hein, Marlene Rupprecht (Tuchenbach), Lena Strothmann, Sylvia Kotting-Uhl, Klaus Hagemann, Staatsminister Bernd Neumann, Bernd Scheelen, Friedrich Ostendorff, Norbert Geis und Dr. Gregor Gysi . . . . . . . . . . . . . . . Begrüßung der neuen Abgeordneten Susanne Kieckbusch und Hagen Reinhold . . . . . . . . Absetzung des Tagesordnungspunktes 24 . . . Erweiterung und Abwicklung der Tagesord- nung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachträgliche Ausschussüberweisungen . . . . Begrüßung des Direktors beim Deutschen Bundestag, Herrn Dr. Horst Risse . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 9: a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den Bundesminister für Wirtschaft und Technologie: Jahreswirtschaftsbericht 2013 – Wettbewerbsfähigkeit – Schlüs- sel für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und Europa . . . . . . . . . . . . b) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahreswirtschaftsbericht 2013 der Bun- desregierung (Drucksache 17/12070) . . . . . . . . . . . . . . . c) Unterrichtung durch die Bundesregierung: Jahresgutachten 2012/13 des Sachver- ständigenrates zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (Drucksache 17/11440) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Rösler, Bundesminister BMWi . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hubertus Heil (Peine) (SPD) . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . Dr. Michael Fuchs (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Hermann Otto Solms (FDP) . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Schlecht (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU) . . . . Wolfgang Tiefensee (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Martin Lindner (Berlin) (FDP) . . . . . . . . Matthias W. Birkwald (DIE LINKE) . . . . Ernst Hinsken (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Heinz Riesenhuber (CDU/CSU) . . . . . . . Tagesordnungspunkt 10: Antrag der Abgeordneten Peer Steinbrück, Joachim Poß, Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick, Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer Abge- ordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Ein neuer Anlauf zur Bändi- gung der Finanzmärkte – Für eine starke europäische Bankenunion zur Beendigung der Staatshaftung bei Bankenkrisen (Drucksache 17/11878) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit 26745 B 26745 D 26745 D 26745 D 26747 A 26747 A 26747 B 26747 B 26747 C 26747 D 26750 D 26752 B 26754 C 26756 B 26758 C 26760 A 26762 B 26762 C 26762 D 26764 D 26766 D 26767 C 26769 C 26771 B 26773 A Inhaltsverzeichnis II Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 Zusatztagesordnungspunkt 3: Antrag der Abgeordneten Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter Aumer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger Krestel, weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der FDP: Schärfere und effektivere Re- gulierung der Finanzmärkte fortsetzen (Drucksache 17/12060) . . . . . . . . . . . . . . . . . Peer Steinbrück (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister BMF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Gerhard Schick (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus-Peter Flosbach (CDU/CSU) . . . . . . . . . Manfred Zöllmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Björn Sänger (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Axel Troost (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . Peter Aumer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Brinkhaus (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 34: a) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes über die Statistik der Bevölkerungs- bewegung und die Fortschreibung des Bevölkerungsstandes (Bevölkerungssta- tistikgesetz – BevStatG) (Drucksache 17/9219) . . . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Paul Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grundgesetzes (Artikel 35 und 87 a) (Drucksache 17/11591) . . . . . . . . . . . . . . . c) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zu dem Vertrag vom 12. Januar 2012 zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande über die Zusammenarbeit bei der Bekämpfung des grenzüber- schreitenden Missbrauchs bei Sozial- versicherungsleistungen und -beiträgen durch Erwerbstätigkeit und bei Leis- tungen der Grundsicherung für Arbeit- suchende sowie von nicht angemeldeter Erwerbstätigkeit und illegaler grenz- überschreitender Leiharbeit (Deutsch- Niederländischer Vertrag zur Bekämp- fung grenzüberschreitender Schwarz- arbeit) (Drucksache 17/12015) . . . . . . . . . . . . . . d) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur Änderung des Holzhan- dels-Sicherungs-Gesetzes (Drucksache 17/12033) . . . . . . . . . . . . . . e) Erste Beratung des von der Bundesregie- rung eingebrachten Entwurfs eines Geset- zes zur Änderung jagdrechtlicher Vor- schriften (Drucksache 17/12046) . . . . . . . . . . . . . . f) Antrag der Abgeordneten Tom Koenigs, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Nationale Stelle zur Verhütung von Folter stärken (Drucksache 17/11207) . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 4: a) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zu dem Abkommen vom 21. September 2011 zwischen der Bun- desrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fas- sung vom 5. April 2012 (Drucksachen 17/10059, 17/11093, 17/11096, 17/11635, 17/11693, 17/11840) . . . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur Änderung und Vereinfa- chung der Unternehmensbesteuerung und des steuerlichen Reisekostenrechts (Drucksachen 17/10774, 17/11180, 17/11189, 17/11217, 17/11634, 17/11694, 17/11841) Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . c) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zum Abbau der kalten Progres- sion (Drucksachen 17/8683, 17/9201, 17/9202, 17/9644, 17/9672, 17/11842) . . . . . . . . . . Dr. Michael Meister (CDU/CSU) . . . . . . . . . d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem 26773 A 26773 B 26776 C 26780 A 26781 A 26782 D 26785 A 26786 C 26787 B 26788 B 26789 C 26790 D 26791 C 26794 B 26794 B 26794 B 26794 C 26794 C 26794 D 26795 A 26795 B 26795 D 26796 A 26796 C 26796 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 III Gesetz zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden (Drucksachen 17/6074, 17/6251, 17/6358, 17/6360, 17/6584, 17/7544, 17/11843) . . . Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) . . . . . . e) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschusses nach Artikel 77 des Grund- gesetzes (Vermittlungsausschuss) zu dem Jahressteuergesetz 2013 (Drucksachen 17/10000, 17/10604, 17/11190, 17/11191, 17/11220, 17/11633, 17/11692, 17/11844) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Oppermann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Namentliche Abstimmung . . . . . . . . . . . . . . . Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 5: Vereinbarte Debatte: zu steuerpolitischen Beschlüssen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Grosse-Brömer (CDU/CSU) . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Patrick Döring (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Barbara Höll (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Volker Beck (Köln) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zusatztagesordnungspunkt 1: Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktio- nen der CDU/CSU und FDP: Steuerbe- schlüsse der SPD sowie Steuererhöhungs- pläne des SPD-Kanzlerkandidaten und ihre Auswirkungen auf Wachstum und Be- schäftigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. h. c. Hans Michelbach (CDU/CSU) . . . . . Joachim Poß (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Volker Wissing (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Herbert Behrens (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Olav Gutting (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Carsten Sieling (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Daniel Volk (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lothar Binding (Heidelberg) (SPD) . . . . . . . . Christian Freiherr von Stetten (CDU/CSU) . . Franz Obermeier (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Norbert Schindler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 11: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Bildung, Forschung und Tech- nikfolgenabschätzung – zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe Schummer, Albert Rupprecht (Weiden), Michael Kretschmer, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heiner Kamp, Dr. Martin Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Das deutsche Berufs- bildungssystem – Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräfte- mangel – zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter Bartels, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion der SPD: Jugendli- che haben ein Recht auf Ausbildung – zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Perspektiven für 1,5 Millionen junge Menschen ohne Be- rufsabschluss schaffen – Ausbildung für alle garantieren – zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring, Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Mit Dual- Plus mehr Jugendlichen und Betrieben die Teilnahme an der dualen Ausbil- dung ermöglichen (Drucksachen 17/10986, 17/10116, 17/10856, 17/9586, 17/12089) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Annette Schavan, Bundesministerin BMBF . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Willi Brase (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Kai Gehring (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Feist (CDU/CSU) . . . . . . . . . 26797 B 26797 C 26798 A 26798 A 26799 A 26800 D 26799 A 26799 B 26803 A 26803 D 26805 A 26806 B 26807 D 26810 A 26810 C 26811 B 26812 B 26812 D 26813 A 26813 B 26814 B 26815 B 26817 A 26818 A 26819 C 26820 D 26822 A 26823 B 26824 C 26825 D 26826 C 26828 A 26828 B 26829 C 26831 B 26832 C 26834 A 26834 D IV Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD) . . . . . . . Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Heiner Kamp (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Agnes Alpers (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Uwe Schummer (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Sylvia Canel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Albert Rupprecht (Weiden) (CDU/CSU) . . . . Ewa Klamt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 12: Antrag der Abgeordneten Karin Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Für alle Kinder und Jugendlichen eine hochwertige und unentgeltliche Ver- pflegung in Schulen und Kindertagesstät- ten gewährleisten (Drucksache 17/11880) . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Mechthild Heil (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Petra Crone (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Hans-Michael Goldmann (FDP) . . . . . . . . . . Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Marlene Mortler (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Marianne Schieder (Schwandorf) (SPD) . . . . Rainer Erdel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Rainer Erdel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Carola Stauche (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 13: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur zusätzlichen Förderung von Kindern unter drei Jahren in Tagesein- richtungen und in Kindertagespflege (Drucksache 17/12057) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Detlef Scheele, Senator (Hamburg) . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Katja Dörner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dorothee Bär (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . Caren Marks (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nicole Bracht-Bendt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) . . Tagesordnungspunkt 14: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Thilo Hoppe, Hans-Christian Ströbele, Ingrid Hönlinger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: EU – La- teinamerika: Partnerschaft für eine so- zial-ökologische Transformation (Drucksachen 17/11838, 17/12093) . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für wirtschaftliche Zusam- menarbeit und Entwicklung zu dem An- trag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Friedensdialog in Kolumbien aktiv unterstützen (Drucksachen 17/11839, 17/12094) . . . . . c) Beschlussempfehlung und Bericht des Auswärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Sozialen Fortschritt und regio- nale Integration in Lateinamerika un- terstützen (Drucksachen 17/3214, 17/12087) . . . . . . d) Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: CELAC-EU-Gipfel in Santiago de Chile – Neue Zusammenarbeit mit neuen Partnern (Drucksache 17/12061) . . . . . . . . . . . . . . Hans-Werner Ehrenberg (FDP) . . . . . . . . . . . Dr. Sascha Raabe (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Anette Hübinger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Heike Hänsel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 15: Zweite und dritte Beratung des von den Frak- tionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme (Drucksachen 17/11513, 17/12086) . . . . . . . . 26836 A 26837 A 26837 C 26838 C 26839 C 26839 D 26840 A 26841 B 26842 C 26843 C 26843 D 26845 C 26847 A 26848 B 26850 A 26851 C 26853 B 26854 D 26855 A 26855 B 26856 C 26858 B 26858 B 26859 D 26861 B 26862 B 26863 B 26864 C 26865 C 26866 D 26867 C 26868 D 26869 A 26869 A 26869 B 26869 B 26870 C 26872 B 26874 C 26875 D 26877 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 V Stephan Thomae (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Sonja Steffen (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Thomas Silberhorn (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Jörn Wunderlich (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Rudolf Henke (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 16: Antrag der Abgeordneten Carsten Schneider (Erfurt), Uwe Beckmeyer, Klaus Brandner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Privatkundengeschäft der Finanz- agentur Deutschland GmbH fortsetzen (Drucksache 17/12062) . . . . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . Alexander Funk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Harald Koch (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Otto Fricke (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Bettina Hagedorn (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 17: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur innerstaatlichen Umset- zung des Fiskalvertrags (Drucksache 17/12058) . . . . . . . . . . . . . . . . . Antje Tillmann (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Carsten Schneider (Erfurt) (SPD) . . . . . . . . . . Dr. Florian Toncar (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bartholomäus Kalb (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Johannes Kahrs (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 18: a) Antrag der Abgeordneten Michael Gerdes, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Starke Forschung für die Energiewende (Drucksache 17/11201) . . . . . . . . . . . . . . . b) Antrag der Abgeordneten Sylvia Kotting- Uhl, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Energiefor- schung konsequent am Atomausstiegs- beschluss des Deutschen Bundestages ausrichten (Drucksache 17/11688) . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 19: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Kultur und Medien: zu dem Vor- schlag für eine Verordnung des Europäi- schen Parlaments und des Rates zur Einrichtung des Programms Kreatives Europa – KOM(2011) 785 endg.; Ratsdok. 17186/11 – hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesregierung gemäß Artikel 23 Ab- satz 2 des Grundgesetzes (Drucksachen 17/8227 Nr. A.51, 17/11107) Tagesordnungspunkt 20: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Frank Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Legalisierung von Cannabis durch Einführung von Cannabis-Clubs (Drucksachen 17/7196, 17/11556) . . . . . . b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Gesund- heitliche Risiken des Drogengebrauchs verringern – Drugchecking ermöglichen (Drucksachen 17/2050, 17/11911) . . . . . . Christine Aschenberg-Dugnus (FDP) . . . . . . Angelika Graf (Rosenheim) (SPD) . . . . . . . . Karin Maag (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Frank Tempel (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 21: Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes (Drucksache 17/12059) . . . . . . . . . . . . . . . . . 26877 C 26878 C 26880 A 26881 C 26882 C 26883 D 26885 C 26887 A 26887 A 26887 D 26889 A 26889 D 26891 A 26891 D 26892 D 26894 A 26894 A 26895 C 26896 C 26897 D 26898 C 26900 A 26901 A 26901 B 26901 C 26902 A 26902 A 26902 B 26903 C 26905 A 26906 C 26907 D 26908 D VI Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 Tagesordnungspunkt 22: Antrag der Abgeordneten Ulrich Schneider, Katja Dörner, Sven-Christian Kindler, weite- rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Eigenständige Jugendpolitik – Selbstbestimmt durch Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und Emanzipation (Drucksache 17/11376) . . . . . . . . . . . . . . . . . in Verbindung mit Zusatztagesordnungspunkt 6: Antrag der Abgeordneten Stefan Schwartze, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Abgeordne- ter und der Fraktion der SPD: Mit einer eigenständigen Jugendpolitik Freiräume schaffen, Chancen eröffnen, Rückhalt ge- ben (Drucksache 17/12063) . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 23: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbeugung vor und Bekämpfung von Tierseuchen (Tiergesundheitsgesetz – Tier- GesG) (Drucksache 17/12032) . . . . . . . . . . . . . . . . . Alois Gerig (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD) . . . . . . . . . . . Dr. Christel Happach-Kasan (FDP) . . . . . . . Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE) . . . . . . Friedrich Ostendorff (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 26: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Verkehr, Bau und Stadtentwick- lung zu dem Antrag der Abgeordneten Steffen Bilger, Peter Götz, Armin Schuster (Weil am Rhein), weiterer Abgeordneter und der Frak- tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Werner Simmling, Birgit Homburger, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDP: Projektbeiratsbeschluss bei der Rheintalbahn umsetzen (Drucksachen 17/11652, 17/11932) . . . . . . . . Steffen Bilger (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Lange (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Ute Kumpf (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Werner Simmling (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Karin Binder (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Harald Ebner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 25: Antrag der Abgeordneten Ralph Lenkert, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Durch Humanarzneimittel bedingte Um- weltbelastung reduzieren (Drucksache 17/11897) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ingbert Liebing (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . Waltraud Wolff (Wolmirstedt) (SPD) . . . . . . Horst Meierhofer (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Ralph Lenkert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 28: a) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit – zu dem Antrag der Abgeordneten Jens Spahn, Dietrich Monstadt, Michael Grosse-Brömer, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz Lanfermann, Jens Ackermann, Rainer Brüderle und der Fraktion der FDP: Revision der eu- ropäischen Medizinprodukte-Richtli- nien: Vertrauen wieder herstellen – Patientensicherheit bei Medizinpro- dukten muss erste Priorität sein – zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink, weiterer Ab- geordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Sicherheit, Wirksamkeit und gesundheitlichen Nutzen von Medizinprodukten bes- ser gewährleisten (Drucksachen 17/11830, 17/8920, 17/12088) b) Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschusses für Gesundheit zu dem An- trag der Abgeordneten Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD: Mehr Sicherheit bei Medizin- produkten (Drucksachen 17/9932, 17/11312) . . . . . . in Verbindung mit 26909 A 26909 A 26909 B 26909 C 26910 C 26911 C 26912 C 26913 C 26914 B 26914 B 26915 C 26916 B 26917 C 26918 A 26919 A 26920 B 26920 B 26922 B 26923 A 26924 A 26925 A 26925 D 26926 A Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 VII Zusatztagesordnungspunkt 7: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Abgeordneten Harald Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Opfer des Brustimplantate-Skandals unterstützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizinischer Notwendigkeit (Drucksachen 17/8581, 17/12092) . . . . . . . . . Dietrich Monstadt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Dr. Marlies Volkmer (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Jens Ackermann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Harald Weinberg (DIE LINKE) . . . . . . . . . . Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 27: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- schusses für Arbeit und Soziales zu dem An- trag der Abgeordneten Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke, Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Für eine an- gemessene Praxis bei Anträgen auf Kinder- geldabzweigung durch die Sozialhilfeträger (Drucksachen 17/10863, 17/11748) . . . . . . . . Maria Michalk (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Hiller-Ohm (SPD) . . . . . . . . . . . . . Pascal Kober (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Markus Kurth (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 30: Erste Beratung des von der Bundesregierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung personenstandsrechtlicher Vor- schriften (Personenstandsrechts-Ände- rungsgesetz – PStRÄndG) (Drucksache 17/10489) . . . . . . . . . . . . . . . . . Helmut Brandt (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Gabriele Fograscher (SPD) . . . . . . . . . . . . . Manuel Höferlin (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Ulla Jelpke (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Konstantin von Notz (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin BMFSFJ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 29: a) Antrag der Abgeordneten Eva Bulling- Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber, weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE: Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-Emissionshandels (Drucksachen 17/12064, 17/9780) . . . . . . b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeordneten Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, Bettina Herlitzius, weiteren Abge- ordneten und der Fraktion BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzgesetzes (Drucksachen 17/156, 17/9780) . . . . . . . . Jens Koeppen (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Dr. Michael Paul (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Ute Vogt (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Eva Bulling-Schröter (DIE LINKE) . . . . . . . Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 31: Antrag der Abgeordneten Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa Paus, weiterer Abgeord- neter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Auf europäischer Ebene ein be- trugssicheres, transparentes und bürokra- tiearmes Mehrwertsteuersystem schaffen (Drucksache 17/12065) . . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Kolbe (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Sabine Bätzing-Lichtenthäler (SPD) . . . . . . Holger Krestel (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Richard Pitterle (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 32: a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens Petermann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung des Grund- gesetzes – Herstellung der institutionel- len Unabhängigkeit der Justiz (Drucksache 17/11701) . . . . . . . . . . . . . . b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens Petermann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Herstellung der institutio- nellen Unabhängigkeit der Justiz (Drucksache 17/11703) . . . . . . . . . . . . . . 26926 A 26926 B 26928 C 26929 C 26930 D 26931 D 26933 B 26933 C 26935 B 26936 B 26937 A 26938 C 26939 C 26939 C 26940 C 26942 A 26942 C 26943 A 26943 D 26944 C 26944 D 26945 A 26945 D 26947 B 26948 A 26948 C 26949 B 26950 B 26950 B 26951 B 26952 A 26952 D 26953 C 26955 B 26955 B VIII Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU/CSU) Dr. Edgar Franke (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Marco Buschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Jens Petermann (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Tagesordnungspunkt 33: Beschlussempfehlung und Bericht des Aus- wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Ab- geordneten Omid Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND- NIS 90/DIE GRÜNEN: Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr entwi- ckeln – Unterrichtung und Evaluation ver- bessern (Drucksachen 17/5099, 17/8697) . . . . . . . . . . Roderich Kiesewetter (CDU/CSU) . . . . . . . . Dr. Wolfgang Götzer (CDU/CSU) . . . . . . . . Johannes Pflug (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Rainer Stinner (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Inge Höger (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . . Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nächste Sitzung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Berichtigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten . . . . . Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Thomas Oppermann (SPD) zur Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zu dem Abkommen vom 21. September 2011 zwischen der Bundesrepublik und der Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zu- sammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012 (Zusatztagesordnungspunkt 4 a) . . . . . . Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) zur Beschlussemp- fehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur steuerlichen Förderung von ener- getischen Sanierungsmaßnahmen an Wohnge- bäuden (Zusatztagesordnungspunkt 4 d) . . . . Anlage 4 Erklärung des Abgeordneten Thomas Oppermann (SPD) zur Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Jahressteu- ergesetz 2013 (Zusatztagesordnungspunkt 4 e) Anlage 5 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Jahressteuer- gesetz 2013 (Zusatztagesordnungspunkt 4 e) Michael Kauch (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU) . . . . . . . Patrick Meinhardt (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Burkhardt Müller-Sönksen (FDP) . . . . . . . . Marina Schuster (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . Manfred Todtenhausen (FDP) . . . . . . . . . . . Marcus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU) Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Inge Höger und Ulla Jelpke (alle DIE LINKE) zur namentlichen Abstim- mung über die Beschlussempfehlung des Ver- mittlungsausschusses zu dem Jahressteuerge- setz 2013 (Zusatztagesordnungspunkt 4 e) . . . . Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Frank Heinrich, Dr. Stefan Kaufmann, Jürgen Klimke, Dr. Rolf Koschorrek, Dr. Jan-Marco Luczak, Jens Spahn, Sabine Weiss (Wesel I), Elisabeth Winkelmeier-Becker, Dagmar G. Wöhrl und Dr. Matthias Zimmer (alle CDU/CSU) zur na- mentlichen Abstimmung über die Beschluss- empfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Jahressteuergesetz 2013 (Zusatztages- ordnungspunkt 4 e) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christine Aschenberg-Dugnus, Florian Bernschneider, Sebastian Blumenthal, Claudia Bögel, Nicole Bracht-Bendt, Klaus Breil, Angelika Brunkhorst, Marco Buschmann, Reiner Deutschmann, Rainer Erdel, Jörg van Essen, Otto Fricke, Hans-Michael Goldmann, Miriam Gruß, Manuel Höferlin, Heiner Kamp, Pascal Kober, Sebastian Körber, Harald Leibrecht, Dr. Erwin Lotter, Oliver Luksic, Horst Meierhofer, Gabriele Molitor, 26955 C 26956 C 26957 A 26957 D 26959 A 26960 C 26960 C 26961 D 26962 C 26964 A 26964 D 26965 C 26966 C 26966 B 26967 A 26967 C 26968 A 26968 C 26969 C 26969 D 26970 B 26970 D 26971 B 26971 C 26971 D 26972 A 26972 B Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 IX Petra Müller (Aachen), Dr. Martin Neumann (Lausitz), Gisela Piltz, Jörg von Polheim, Dr. Christiane Ratjen-Damerau, Dr. Birgit Reinemund, Christoph Schnurr, Jimmy Schulz, Judith Skudelny, Joachim Spatz, Stephan Thomae, Serkan Tören, Johannes Vogel (Lüdenscheid) und Dr. Daniel Volk (alle FDP) zur namentlichen Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermitt- lungsausschusses zu dem Jahressteuergesetz 2013 (Zusatztagesordnungspunkt 4 e) . . . . . . Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags (Tagesord- nungspunkt 17) Roland Claus (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: – Antrag: Starke Forschung für die Energie- wende – Antrag: Energieforschung konsequent am Atomausstiegsbeschluss des Deutschen Bundestages ausrichten (Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b) Thomas Bareiß (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU) . . . . . . . . Michael Gerdes (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . Klaus Breil (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Dr. Petra Sitte (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung: Beschlussempfehlung und Bericht zu dem Vorschlag: für eine Verordnung des Europäi- schen Parlaments und des Rates zur Einrich- tung des Programms Kreatives Europa (Ta- gesordnungspunkt 19) Christoph Poland (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Marco Wanderwitz (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Siegmund Ehrmann (SPD) . . . . . . . . . . . . . . Reiner Deutschmann (FDP) . . . . . . . . . . . . . Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE) . . . . . Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes (Tagesord- nungspunkt 21) Robert Hochbaum (CDU/CSU) . . . . . . . . . . Lars Klingbeil (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christoph Schnurr (FDP) . . . . . . . . . . . . . . . Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE) . . . . . . . . Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär BMVg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Eigenständige Jugendpolitik – Selbstbe- stimmt durch Freiheit, Gerechtigkeit, De- mokratie und Emanzipation – Mit einer eigenständigen Jugendpolitik Freiräume schaffen, Chancen eröffnen, Rückhalt geben (Tagesordnungspunkt 22 und Zusatztagesord- nungspunkt 6) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . Norbert Geis (CDU/CSU) . . . . . . . . . . . . . . Sönke Rix (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Stefan Schwartze (SPD) . . . . . . . . . . . . . . . . Florian Bernschneider (FDP) . . . . . . . . . . . Diana Golze (DIE LINKE) . . . . . . . . . . . . . . Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Anlage 14 Amtliche Mitteilungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26972 C 26973 B 26973 D 26974 D 26976 B 26977 A 26977 C 26978 B 26979 B 26980 A 26981 B 26982 B 26983 B 26984 B 26985 B 26986 A 26987 B 26987 D 26988 C 26989 B 26990 D 26992 A 26993 C 26994 D 26995 B 26996 C 26997 A 26997 C Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26745 (A) (C) (D)(B) 217. Sitzung Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 Beginn: 9.00 Uhr
  • folderAnlagen
    Berichtigung 216. Sitzung, Seite 26687 B, erster Absatz, der zehnte Satz ist wie folgt zu lesen: „Ab März wird die Luft- frachtkontrolle verändert sein.“ Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26967 (A) (C) (D)(B) Anlagen zum Stenografischen Bericht Anlage 1 Liste der entschuldigten Abgeordneten Anlage 2 Erklärung des Abgeordneten Thomas Oppermann (SPD) zur Beschlussempfehlung des Vermittlungsaus- schusses zum Gesetz zu dem Abkommen vom 21. September 2011 zwischen der Bundesrepu- blik und der Schweizerischen Eidgenossen- schaft über Zusammenarbeit in den Bereichen Steuern und Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012 (Zusatztagesordnungspunkt 4 a) Als Berichterstatter des Bundestages zu den abschlie- ßenden Verhandlungen des Vermittlungsausschusses am 12. Dezember 2012 mache ich darauf aufmerksam, dass der Vermittlungsausschuss eine Begleiterklärung abge- geben hat. Diese gebe ich nachfolgend zur Kenntnis: Der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bun- desrat fordert die Bundesregierung auf, die Verhandlun- gen mit der Schweizer Regierung wieder aufzunehmen, um ein gerechtes Steuerabkommen mit der Schweiz ab- zuschließen. Ein Steuerabkommen mit der Schweiz darf die Steu- erbetrüger der vergangenen Jahrzehnte nicht belohnen, daher lehnt der Vermittlungsausschuss von Bundestag und Bundesrat das von dem Bundesminister der Finan- zen im Auftrag der Bundesregierung ausgehandelte vor- liegende Steuerabkommen ab. Bund und Länder sind sich einig, dass in Deutschland ehrlich und gerecht Steu- ern gezahlt werden müssen. Durch das Abkommen dürfen Steuerhinterzieher nicht bessergestellt werden als ehrliche Steuerzahler. Aus Gründen der Steuergerechtigkeit muss daher eine Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Aigner, Ilse CDU/CSU 17.01.2013 Beck (Reutlingen), Ernst-Reinhard CDU/CSU 17.01.2013 Dr. Böhmer, Maria CDU/CSU 17.01.2013 Brehmer, Heike CDU/CSU 17.01.2013 Dağdelen, Sevim DIE LINKE 17.01.2013 Dr. Dehm, Diether DIE LINKE 17.01.2013 Dobrindt, Alexander CDU/CSU 17.01.2013 Ernst, Klaus DIE LINKE 17.01.2013 Evers-Meyer, Karin SPD 17.01.2013 Dr. Friedrich, Hans-Peter CDU/CSU 17.01.2013 Gabriel, Sigmar SPD 17.01.2013 Dr. Gauweiler, Peter CDU/CSU 17.01.2013 Groth, Annette DIE LINKE 17.01.2013 Hasselfeldt, Gerda CDU/CSU 17.01.2013 Humme, Christel SPD 17.01.2013 Laurischk, Sibylle FDP 17.01.2013 Maurer, Ulrich DIE LINKE 17.01.2013 Dr. Middelberg, Mathias CDU/CSU 17.01.2013 Möhring, Cornelia DIE LINKE 17.01.2013 Möller, Kornelia DIE LINKE 17.01.2013 Müller (Köln), Kerstin BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.01.2013 Ortel, Holger SPD 17.01.2013 Ploetz, Yvonne DIE LINKE 17.01.2013 Pronold, Florian SPD 17.01.2013 Dr. Ratjen-Damerau, Christiane FDP 17.01.2013 Roth (Augsburg), Claudia BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.01.2013 Schmidt (Eisleben), Silvia SPD 17.01.2013 Schreiner, Ottmar SPD 17.01.2013 Dr. Schwanholz, Martin SPD 17.01.2013 Steinbach, Erika CDU/CSU 17.01.2013 Stier, Dieter CDU/CSU 17.01.2013 Trittin, Jürgen BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN 17.01.2013 Vogler, Kathrin DIE LINKE 17.01.2013 Abgeordnete(r) entschuldigt bis einschließlich Anlagen 26968 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) höhere Belastung derjenigen erfolgen, die sich in der Vergangenheit besonders hartnäckig ihren steuerlichen Verpflichtungen entzogen haben. Eine anonyme Amnestie ist abzulehnen. Die Besteue- rung in der Zukunft muss in Einklang stehen mit den eu- ropäischen und transatlantischen Bemühungen um einen automatischen Informationsaustausch. Anlage 3 Erklärung des Abgeordneten Stefan Müller (Erlangen) (CDU/CSU) zur Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zum Gesetz zur steu- erlichen Förderung von energetischen Sanie- rungsmaßnahmen an Wohngebäuden (Zusatz- tagesordnungspunkt 4d) Als Berichterstatter des Bundestages zu den abschlie- ßenden Verhandlungen des Vermittlungsausschusses am 12. Dezember 2012 mache ich darauf aufmerksam, dass der Vermittlungsausschuss eine Begleiterklärung und die Bundesregierung eine Protokollerklärung abgegeben ha- ben. Diese gebe ich nachfolgend zur Kenntnis: Begleiterklärung des Vermittlungsausschusses Der Vermittlungsausschuss fordert die Bundesregie- rung auf, zur Förderung von energetischen Sanierungs- maßnahmen an Wohngebäuden 1. sicherzustellen, dass für die Jahre 2013 bis 2017 die KfW Bankengruppe mindestens jeweils 1,5 Milliar- den Euro für Zinsverbilligungen und Zuschüsse für die Förderung von energetischen Sanierungen zur Verfügung stellt, – Fortführung bestehender Programme – 2. sicherzustellen, dass darüber hinaus die KfW Ban- kengruppe für die Jahre 2013 bis 2017 Mittel für die energetische Sanierung von selbstgenutztem und ver- mietetem Wohnraum mindestens in einer Gesamt- höhe von 1 Milliarde Euro jährlich zur Verfügung stellt. Selbstgenutzter Wohnraum soll durch Zu- schüsse gefördert werden; der Zuschussbetrag soll bis zu 30 Prozent der gedeckelten Aufwendungen be- tragen; er soll vor Beginn der Maßnahmen ausge- zahlt werden. Es sollen sowohl Einzel- als auch Ge- samtmaßnahmen berücksichtigt werden, mit denen nach dem 31. Dezember 2012 begonnen wird. För- derfähig sollen nur Maßnahmen sein, durch die min- destens der Standard KfW-Effizienzhaus 70 erreicht wird, die Förderhöhe soll nach zu erreichendem Standard gestaffelt werden. Durch die Förderung von vermietetem Wohnraum durch Zuschüsse oder Zins- verbilligungen sollen die von den Mieterinnen und Mietern zu tragenden umlagefähigen Kosten sinken und bzw. oder Contracting-Modelle wirtschaftlich er- möglicht werden, bei denen den Mieterinnen und Mietern keine zusätzlichen Kosten für die Wärmelie- ferung entstehen. – Aufstockung bestehender sowie zusätzliche Pro- gramme – Protokollerklärung der Bundesregierung zum Gesetz zur Änderung des Energiewirtschafts- gesetzes (ehemals Gesetz zur steuerlichen Förderung von energetischen Sanierungsmaßnahmen an Wohnge- bäuden) Staatsminister von Klaeden erklärt, dass die Bundes- regierung zur Förderung von energetischen Sanierungs- maßnahmen an Wohngebäuden ein neues KfW-Programm auflegt. Die KfW soll für die Jahre 2013 bis 2020 Mittel für die energetische Sanierung von selbstgenutztem und ge- gebenenfalls vermietetem Wohnraum 300 Millionen Euro jährlich zur Verfügung stellen. Selbstgenutzter Wohnraum soll durch Zuschüsse gefördert werden. Es sollen sowohl Einzel- als auch Gesamtmaßnahmen be- rücksichtigt werden, mit denen nach dem 31. Dezember 2012 begonnen wird. Förderfähig sollen nur Maßnah- men sein, durch die mindestens der Standard KfW-Effi- zienzhaus 55 erreicht wird; die Förderhöhe soll nach zu erreichendem Standard gestaffelt werden. Anlage 4 Erklärung des Abgeordneten Thomas Oppermann (SPD) zur Beschlussempfehlung des Vermittlungs- ausschusses zu dem Jahressteuergesetz 2013 (Zusatztagesordnungspunkt 4 e) Als Berichterstatter des Bundestages zu den abschlie- ßenden Verhandlungen des Vermittlungsausschusses am 12. Dezember 2012 mache ich darauf aufmerksam, dass der Vermittlungsausschuss zwei Begleiterklärungen ab- gegeben hat. Diese gebe ich nachfolgend zur Kenntnis: Begleiterklärung des Vermittlungsausschusses: Jahressteuergesetz 2013 – „Steuerliche Behandlung von Streubesitzerträgen“: Mit seinem Urteil vom 20. Oktober in der Rechts- sache C-284/09 hat der Europäische Gerichtshof, EuGH, entschieden, dass die Abgeltungswirkung des Steuerab- zugs nach § 32 KStG für Dividendenzahlungen an be- stimmte ausländische Körperschaften gegen die Kapital- verkehrsfreiheit des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union, AEUV, und des Abkommens über den Europäischen Wirtschaftsraum, EWR-Abkommen, verstößt. Aufgrund dieses Urteils besteht dringender Hand- lungsbedarf, die nationalen Rechtsvorschriften an das europäische Recht anzupassen. Dabei hat der Gesetzgeber die Wahl zwischen zwei grundlegenden Richtungsentscheidungen: 1. Deutschland gewährt die Steuerbefreiung für Divi- denden entsprechend § 8 b Abs. 1 KStG auch für ausländische Gesellschaften. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26969 (A) (C) (D)(B) 2. Die inländische Steuerbefreiung für Streubesitzer- träge – § 8 b Abs. 1 und Abs. 2 KStG – wird aufge- hoben. Für die Vergangenheit kommt Deutschland nicht um- hin, die Erstattung der einbehaltenen Kapitalertragsteuer an die ausländischen Anteilseigner zu gewähren. Dies hat erhebliche Steuermindereinnahmen zur Folge. Dem trägt der Koalitionsantrag für die Vergangenheit dadurch Rechnung, dass durch das österreichische Modell die Er- stattungen ins Ausland reduziert werden. Dennoch ist eine Besteuerung des Streubesitzes unter dem Gesichts- punkt der Haushaltskonsolidierung nicht zu vermeiden. Bei der Erarbeitung einer Regelung sollen insbeson- dere auch die folgenden Gesichtspunkte berücksichtigt und nach Lösungen für besondere Belastungseffekte gesucht und der Begriff des Streubesitzes noch genauer definiert werden: – Kaskadeneffekte bei Ausschüttungen über mehrere Beteiligungsebenen, – Verbundstrukturen, in denen zentrale Unternehmen bestimmte Funktionen für einen Unternehmens- verbund übernehmen, und – Business Angels und Start-ups, wenn sich der Inves- tor von seinem Engagement trennt. Eine solche Regelung soll zusammen mit den Ländern Hessen und Rheinland-Pfalz erarbeitet und im Gesetz zur Umsetzung des EuGH-Urteils vom 20. Okto- ber 2011 in der Rechtssache C-284/09 umgesetzt wer- den. Dieses Gesetzgebungsverfahren sollte nach Mög- lichkeit bis spätestens März 2013 abgeschlossen sein. Begleiterklärung des Vermittlungsausschusses: Jahressteuergesetz 2013 – „Investmentsteuerreform“: Die Finanzministerkonferenz hat am 1. Juni 2012 den Bericht einer von ihr am 3. März 2011 eingesetzten Bund-Länder-Arbeitsgruppe zur Neukonzeption der In- vestmentbesteuerung als Grundlage für ein einfaches und aufkommenssicheres Investmentbesteuerungssys- tem angesehen. Es sollte jedoch zunächst unter anderem noch geprüft werden, ob die drohende Europarechtswid- rigkeit auf andere Weise beseitigt werden kann. Die Prü- fung durch das Bundesministerium der Finanzen und die Länder hat gezeigt, dass eine grundlegende Neukonzep- tion der Investmentbesteuerung der richtige Weg ist, um die drohenden finanziellen Ausfälle in Milliardenhöhe zu vermeiden. Vor diesem Hintergrund soll eine Gesetzgebung zur Neukonzeption des Investmentsteuerrechts erfolgen. Dieser Gesetzentwurf setzt die Vorschläge der Bund-/ Länderarbeitsgruppe zur Neukonzeption der Investment- besteuerung unter Berücksichtigung des vom Bundes- ministerium der Finanzen in Auftrag zu gebenden Gut- achtens zur Auswirkung der Reformvorschläge auf die Kapitalmärkte und die Altersversorgungssysteme um. Die Vorschläge sehen unter anderem vor, zwei voneinan- der unabhängige Besteuerungssysteme für Publikums- fonds und für Spezialfonds zu schaffen. Im anonymen Massengeschäft der Publikumsfonds sind dabei stärkere Vereinfachungen erforderlich als bei den Spezialfonds, die in der Mehrzahl nur einen Anleger oder maximal 100 Anleger haben. In beiden Systemen ist es eines der wichtigsten Ziele der Reform, das deutsche Besteue- rungsrecht auf inländische Dividenden und Immobilien- erträge zu sichern und europarechtliche Zweifel am gegenwärtigen System zu beseitigen. Die Bundesregierung wird gebeten, zu Beginn der neuen Legislaturperiode einen Gesetzentwurf zur Invest- mentsteuerreform vorzulegen. Die Änderungen des Investmentsteuerrechts sollen schnellstmöglich in Kraft treten. Bis dahin ist es wichtig, weitere Steuerausfälle durch Gestaltungen zu vermeiden. Die vom Bundesrat am 6. Juli 2012 geforderten Änderungen zur Ausschüttungs- reihenfolge und zum Werbungskostenabzug haben kei- nen direkten Bezug zur Neukonzeption und sind noch in dieser Legislaturperiode umzusetzen. Anlage 5 Erklärungen nach § 31 GO zur namentlichen Abstimmung über die Be- schlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Jahressteuergesetz 2013 (Zusatztages- ordnungspunkt 4e) Michael Kauch (FDP): Die rot-grüne Mehrheit im Vermittlungsausschuss hat das für mich wichtige gesell- schaftspolitische Ziel der Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit Steuererhöhungen für den Mittelstand und damit die Belastung von Arbeitsplätzen verbunden. Dies empfinde ich in höchstem Maße als un- glücklich. Der Gesamtvorschlag des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz hat unabhängig von der Frage, wie eingetragene Lebenspartnerschaften besteuert wer- den, erhebliche Schwächen. Die von der FDP seit lan- gem geforderte Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ist gestrichen. Die Verkürzung hätte einen wesentlichen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten können. Bei der Grunderwerbsteuer soll es künftig eine Benachteiligung der Privatwirtschaft gegenüber öffentlichen Körper- schaften geben. Bei der Erbschaftsteuer sollen die Er- leichterungen bei der Unternehmensnachfolge zum Nachteil von Familienunternehmen geändert werden. Insgesamt belastet das Vermittlungsergebnis die Bürge- rinnen und Bürger sowie den Mittelstand mit rund einer halben Milliarde Euro zusätzlich. Dennoch habe ich mich in einer Abwägungsentschei- dung entschieden, trotz dieser Verschlechterungen dem Vermittlungsergebnis zum Jahressteuergesetz zuzustim- men. Denn die steuerrechtliche Gleichstellung von ein- getragenen Lebenspartnerschaften ist für mich ein über- ragendes Ziel, das im Koalitionsvertrag enthalten ist und dessen Umsetzung vom Koalitionspartner bisher verhin- dert wird. Dr. Jan-Marco Luczak (CDU/CSU): Zur Frage der steuerlichen Gleichstellung von eingetragenen Lebens- 26970 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) partnerschaften insbesondere beim Ehegattensplitting habe ich mich in der Öffentlichkeit und auch beim Bun- desparteitag der CDU in meinem Redebeitrag klar posi- tioniert: Ich trete ausdrücklich und mit allem Nachdruck für eine steuerliche Gleichstellung ein. Denn Menschen in eingetragenen Lebenspartner- schaften übernehmen dauerhaft und in gegenseitigem Vertrauen und Zuneigung Verantwortung füreinander. In diesen Beziehungen werden insofern Werte gelebt, die tragend für unser Gemeinwesen sind und die daher unsere Unterstützung verdienen. Das Institut der Lebenspart- nerschaft verbindet diese Paare in gleicher Weise wie Eheleute in wechselseitigen Fürsorge- und Einstands- pflichten. Ich bin der Auffassung, dass aus gleichen Pflichten auch gleiche Rechte folgen müssen. Ich bin si- cher, dass auch das Bundesverfassungsgericht dies so sehen und den derzeitigen Ausschluss eingetragener Lebenspartnerschaften vom Splittingverfahren als ver- fassungswidrig verwerfen wird. Ich glaube, dass der Deutsche Bundestag als Gesetzgeber seinen Auftrag zu politischer Gestaltung ernst- und wahrnehmen und daher nicht die zu erwartende Entscheidung des Gerichts ab- warten sollte. An dieser Auffassung halte ich – auch nach der Dis- kussion und dem Abstimmungsergebnis auf dem Bun- desparteitag der CDU – ausdrücklich fest und werbe weiter mit vielen Kollegen in meiner Fraktion für dieses Ziel. Dessen ungeachtet werde ich beim Jahressteuergesetz 2013 heute mit meiner Fraktion stimmen. Darin liegt in keiner Weise eine Abkehr von meiner Überzeugung. Ich möchte mich allerdings nicht zum Spielball von tak- tischen und parteipolitisch motivierten Manövern der Opposition machen lassen. Die heute beantragte na- mentliche Abstimmung hat aber genau das zum Ziel: Die zum Thema steuerliche Gleichstellung in den letzten Monaten im Bundestag erfolgten Abstimmungen haben gezeigt, dass es derzeit keine politische Mehrheit hierfür gibt. Auch wenn ich dies persönlich bedaure, ist es daher sinnlos, das Thema dennoch immer wieder auf die Tage- sordnung zu setzen. Daran wird deutlich, dass ganz of- fensichtlich Druck auf diejenigen in meiner Fraktion ausgeübt werden soll, die sich öffentlich für eine steuerliche Gleichstellung ausgesprochen haben. Es wird wie auch an vielen anderen Stellen der Versuch unter- nommen, die christlich-liberale Koalition als nicht ge- schlossen, gar als nicht handlungsfähig darzustellen. Das ist das eigentliche Ziel der namentlichen Abstimmung, nicht die Sache selbst. Für dieses parteipolitisch motivierte Manöver lasse ich mich als Mitglied der CDU/CSU-Fraktion nicht instru- mentalisieren. Patrick Meinhardt (FDP): Es ist wirklich nicht mehr erträglich, wie Rot-Grün mit der so wichtigen steu- erlichen Gleichstellung eingetragener Lebenspartner- schaften als „strategischer Masse“ umgeht. Selbstver- ständlich würde ich sofort der Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften im Steuerrecht zu- stimmen, wie ich das im Deutschen Bundestag auch schon bei der letzten Abstimmung im vergangenen Ok- tober getan habe. Die FDP hatte schon im Koalitionsvertrag durchge- setzt, dass gleichheitswidrige Benachteiligungen einge- tragener Lebenspartnerschaften im Steuerrecht abzu- bauen sind. Dabei sind wir Liberale als Motor in der Koalition mit der Union ein gutes Stück vorangekom- men. Im steuerlichen Bereich haben wir die volle Gleichstellung bei der Erbschaftsteuer und Grunder- werbsteuer erreicht. Dem vorliegenden Gesamtvorschlag des Vermitt- lungsausschusses zum Jahressteuergesetz kann ich aber unter keinen Umständen zustimmen. Die von der FDP seit langem geforderte Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ist gestrichen. Die Verkür- zung hätte einen wesentlichen Beitrag zum Bürokratie- abbau leisten können. Bei der Grunderwerbsteuer sollen Regelungen sicher- stellen, dass zukünftig auch bei Konzernumstrukturie- rung immer Grunderwerbsteuer fällig wird. Gleichzeitig sollen aber Umstrukturierungen öffentlicher Gebietskör- perschaften grunderwerbsteuerfrei möglich sein. Dies ist eine eklatante Benachteiligung der Privatwirtschaft ge- genüber öffentlichen Körperschaften. Bei der Erbschaftsteuer sollen die Erleichterungen bei der Unternehmensnachfolge zum Nachteil von Familien- unternehmen geändert werden. Ich setzte mich für eine Erbschaftsteuer ein, die die Unternehmensnachfolge im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen nicht gefährdet. Insgesamt belastet das durch Rot-Grün erzwungene Vermittlungsergebnis die Bürgerinnen und Bürger sowie den Mittelstand mit rund 500 Millionen Euro zusätzlich. Ich werde mich auch weiterhin konsequent für eine steuerrechtliche Gleichstellung von eingetragenen Le- benspartnerschaften einsetzen. Ich bin aber nicht bereit, dafür den von SPD und Grünen geforderten Steuererhö- hungen zuzustimmen. Die Verknüpfung des für mich wichtigen gesell- schaftspolitischen Ziels der Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit Steuererhöhungen für den Mittelstand und damit die Belastung von Arbeitsplätzen empfinde ich in höchstem Maße als unseriös! Burkhardt Müller-Sönksen (FDP): Der im Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz 2013 enthaltenen Gleichstellung eingetragener Lebenspartner- schaften im Steuerrecht stimme ich ausdrücklich zu. Die FDP hatte schon im Koalitionsvertrag durchge- setzt, dass gleichheitswidrige Benachteiligungen einge- tragener Lebenspartnerschaften im Steuerrecht abzu- bauen sind. Dabei sind wir in der Koalition mit der Union ein gutes Stück vorangekommen. Im steuerlichen Bereich haben wir die volle Gleichstellung bei der Erb- schaftsteuer und Grunderwerbsteuer erreicht. Dem Ge- samtvorschlag des Vermittlungsausschusses zum Jahres- steuergesetz kann ich aber nicht zustimmen: Die von der FDP seit langem geforderte Verkürzung der Aufbewah- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26971 (A) (C) (D)(B) rungsfristen ist gestrichen. Die Verkürzung hätte einen wesentlichen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten können. Bei der Grunderwerbsteuer sollen Regelungen sicher- stellen, dass zukünftig auch bei Konzernumstrukturie- rung immer Grunderwerbsteuer fällig wird. Gleichzeitig sollen aber Umstrukturierungen öffentlicher Gebietskör- perschaften grunderwerbsteuerfrei möglich sein. Dies ist eine eklatante Benachteiligung der Privatwirtschaft ge- genüber öffentlichen Körperschaften. Bei der Erbschaft- steuer sollen die Erleichterungen bei der Unternehmens- nachfolge zum Nachteil von Familienunternehmen geändert werden. Ich setzte mich für eine Erbschaft- steuer ein, die die Unternehmensnachfolge im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen nicht gefährdet. Insge- samt belastet das Vermittlungsergebnis die Bürgerinnen und Bürger sowie den Mittelstand mit rund einer halben Milliarde Euro zusätzlich. Ich werde mich auch weiterhin für eine steuerrecht- liche Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartner- schaften einsetzen und habe dieses in den letzten Jahren aktiv getan. Ich bin aber nicht bereit, dafür meine markt- wirtschaftlichen Grundüberzeugungen aufzugeben und den von SPD und Grünen geforderten Steuererhöhungen zuzustimmen. Die Verknüpfung des für mich wichtigen gesell- schaftspolitischen Ziels der Gleichstellung eingetragener Lebenspartnerschaften mit Steuererhöhungen für den Mittelstand und einer weiteren Benachteiligung des pri- vaten Sektors empfinde ich in höchstem Maße als unse- riös. Marina Schuster (FDP): Der im Ergebnis des Ver- mittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz 2013 ent- haltenen Gleichstellung eingetragener Lebenspartner- schaften im Steuerrecht stimme ich zu. Die FDP hatte schon im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass gleich- heitswidrige Benachteiligungen eingetragener Le- benspartnerschaften im Steuerrecht abzubauen sind. Da- bei sind wir in der Koalition mit der Union ein gutes Stück vorangekommen. Im steuerlichen Bereich haben wir die volle Gleichstellung bei der Erbschaftsteuer und der Grunderwerbsteuer erreicht. Dem Gesamtvorschlag des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz kann ich aber nicht zustimmen: Die von der FDP seit langem geforderte Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ist gestrichen. Die Verkürzung hätte einen wesentlichen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten können. Bei der Grunderwerbsteuer sollen Rege- lungen sicherstellen, dass zukünftig auch bei Kon- zernumstrukturierung immer Grunderwerbsteuer fällig wird. Gleichzeitig sollen aber Umstrukturierungen öf- fentlicher Gebietskörperschaften grunderwerbsteuerfrei möglich sein. Dies ist eine eklatante Benachteiligung der Privatwirtschaft gegenüber öffentlichen Körperschaften, Bei der Erbschaftsteuer sollen die Erleichterungen bei der Unternehmensnachfolge zum Nachteil von Familien- unternehmen geändert werden. Ich setzte mich für eine Erbschaftsteuer ein, die die Unternehmensnachfolge im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen nicht gefährdet. Insgesamt belastet das Vermittlungsergebnis die Bürge- rinnen und Bürger sowie den Mittelstand mit rund einer halben Milliarde Euro zusätzlich. Ich werde mich auch weiterhin für eine steuerrechtli- che Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartner- schaften einsetzen. Ich bin aber nicht bereit, den von SPD und Grünen geforderten Steuererhöhungen zuzu- stimmen. Die Verknüpfung des für mich wichtigen ge- sellschaftspolitischen Ziels der Gleichstellung eingetra- gener Lebenspartnerschaften mit Steuererhöhungen für den Mittelstand und damit die Belastung von Arbeits- plätzen empfinde ich in höchstem Maße als unseriös. Manfred Todtenhausen (FDP): Der im Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz 2013 enthaltenen Gleichstellung eingetragener Le- benspartnerschaften im Steuerrecht stimme ich zu. Die FDP hatte schon im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass gleichheitswidrige Benachteiligungen eingetragener Le- benspartnerschaften im Steuerrecht abzubauen sind. Da- bei sind wir in der Koalition mit der Union ein gutes Stück vorangekommen. Im steuerlichen Bereich haben wir die volle Gleichstellung bei der Erbschaftsteuer und Grunderwerbsteuer erreicht. Dem Gesamtvorschlag des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz kann ich aber nicht zustimmen: Die von der FDP seit langem geforderte Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ist gestrichen. Die Verkürzung hätte einen wesentlichen Beitrag zum Bürokratieabbau leisten können. Bei der Grunderwerbsteuer sollen Rege- lungen sicherstellen, dass zukünftig auch bei Kon- zernumstrukturierung immer Grunderwerbsteuer fällig wird. Gleichzeitig sollen aber Umstrukturierungen öf- fentlicher Gebietskörperschaften grunderwerbsteuerfrei möglich sein. Dies ist eine eklatante Benachteiligung der Privatwirtschaft gegenüber öffentlichen Körperschaften. Bei der Erbschaftsteuer sollen die Erleichterungen bei der Unternehmensnachfolge zum Nachteil von Familien- unternehmen geändert werden. Ich setzte mich für eine Erbschaftsteuer ein, die die Unternehmensnachfolge im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen nicht gefährdet. Insgesamt belastet das Vermittlungsergebnis die Bürge- rinnen und Bürger sowie den Mittelstand mit rund einer halben Milliarde Euro zusätzlich. Ich werde mich auch weiterhin für eine steuerrecht- liche Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartner- schaften einsetzen. Ich bin aber nicht bereit, dafür den von SPD und Grünen geforderten Steuererhöhungen zu- zustimmen. Die Verknüpfung des für mich wichtigen ge- sellschaftspolitischen Ziels der Gleichstellung eingetra- gener Lebenspartnerschaften mit Steuererhöhungen für den Mittelstand und der damit verbundenen Gefährdung von Arbeitsplätzen empfinde ich in höchstem Maße als unseriös. Markus Weinberg (Hamburg) (CDU/CSU): Zur Frage der steuerlichen Gleichstellung eingetragener Le- benspartnerschaften habe ich mich mehrfach in der Öf- fentlichkeit eindeutig positioniert. Daran halte auch ich uneingeschränkt fest; in keiner Weise kann das heutige Abstimmungsverhalten als eine 26972 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Abkehr von meiner Überzeugung gewertet werden. Viel- mehr ist dieses einzig und allein darauf zurückzuführen, dass ich das taktische Spiel der Opposition ablehne und mich davon nicht unter Druck setzen lasse. Mehrere Ab- stimmungen in den letzten Monaten haben gezeigt, dass es derzeit keine politische Mehrheit für die steuerliche Gleichstellung gibt, und es ist albern, das Thema immer wieder neu auf die Tagesordnung zu setzen. Ungeachtet dessen werde ich meine Meinung weiter- hin eindeutig innerhalb der Fraktion, der Partei und der Gesellschaft vertreten. Anlage 6 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Wolfgang Gehrcke, Inge Höger und Ulla Jelpke (alle DIE LINKE) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Jahressteuer- gesetz 2013 (Zusatztagesordnungspunkt 4e) Wir haben uns bei der Abstimmung über die steuerli- che Behandlung von Lebensgemeinschaften der Stimme enthalten. Wir sind grundsätzlich für die Abschaffung des Ehegattensplittings; deswegen wollen wir uns zu den vorliegenden Anträgen nicht auf dieses oder jenes festle- gen. Ein Antrag zur grundsätzlichen Abschaffung des Ehegattensplittings steht heute nicht zur Abstimmung. Wir wollen mit unserem Stimmverhalten und dieser Er- klärung noch einmal unsere Position deutlich machen. Da wir in unserem Abstimmungsverhalten zwei An- liegen in Deckungsgleichheit bringen wollen, nämlich die vollständige Gleichbehandlung aller geschlechtlich begründeten Lebensgemeinschaften und die Abschaf- fung des Ehegattensplittings, lag es für uns nahe, dies mit einer Stimmenthaltung in der heutigen Abstimmung zu unterstreichen. Anlage 7 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Ingrid Fischbach, Frank Heinrich, Dr. Stefan Kaufmann, Jürgen Klimke, Dr. Rolf Koschorrek, Dr. Jan-Marco Luczak, Jens Spahn, Sabine Weiss (Wesel I), Elisabeth Winkelmeier-Becker, Dagmar G. Wöhrl und Dr. Matthias Zimmer (alle CDU/ CSU) zur Abstimmung über die Beschlussemp- fehlung des Vermittlungsausschusses zu dem Jahressteuergesetz 2013 (Zusatztagesordnungs- punkt 4e) Zur Frage der steuerlichen Gleichstellung eingetrage- ner Lebenspartnerschaften haben wir uns mehrfach in der Öffentlichkeit, insbesondere durch Redebeiträge auf dem vergangenen Bundesparteitag der CDU, eindeutig positioniert. Daran halten wir uneingeschränkt fest; in keiner Weise kann das heutige Abstimmungsverhalten als eine Abkehr von unserer Überzeugung gewertet werden. Vielmehr ist dieses einzig und allein darauf zurückzu- führen, dass wir das taktische Spiel der Opposition ab- lehnen und uns davon nicht unter Druck setzen, lassen. Mehrere Abstimmungen in den letzten Monaten haben gezeigt, dass es derzeit keine politische Mehrheit für die steuerliche Gleichstellung gibt, und es ist albern, das Thema immer wieder neu auf die Tagesordnung zu set- zen. Ungeachtet dessen werden wir unsere Meinung wei- terhin eindeutig innerhalb der Fraktion, der Partei und der Gesellschaft vertreten. Anlage 8 Erklärung nach § 31 GO der Abgeordneten Christine Aschenberg- Dugnus, Florian Bernschneider, Sebastian Blumenthal, Claudia Bögel, Nicole Bracht-Bendt, Klaus Breil, Angelika Brunkhorst, Marco Buschmann, Reiner Deutschmann, Rainer Erdel, Jörg van Essen, Otto Fricke, Hans- Michael Goldmann, Miriam Gruß, Manuel Höferlin, Heiner Kamp, Pascal Kober, Sebastian Körber, Harald Leibrecht, Dr. Erwin Lotter, Oliver Luksic, Horst Meierhofer, Gabriele Molitor, Petra Müller (Aachen), Dr. Martin Neumann (Lausitz), Gisela Piltz, Jörg von Polheim, Dr. Christiane Ratjen- Damerau, Dr. Birgit Reinemund, Christoph Schnurr, Jimmy Schulz, Judith Skudelny, Joachim Spatz, Stephan Thomae, Serkan Tören, Johannes Vogel (Lüdenscheid) und Dr. Daniel Volk (alle FDP) zur Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Vermitt- lungsausschusses zu dem Jahressteuergesetz 2013 (Zusatztagesordnungspunkt 4e) Der im Ergebnis des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz 2013 enthaltenen Gleichstellung ein- getragener Lebenspartnerschaften im Steuerrecht stim- men wir zu. Die FDP hatte schon im Koalitionsvertrag durchgesetzt, dass gleichheitswidrige Benachteiligungen eingetragener Lebenspartnerschaften im Steuerrecht ab- zubauen sind. Dabei sind wir in der Koalition mit der Union ein gutes Stück vorangekommen. Im steuerlichen Bereich haben wir die volle Gleichstellung bei der Erb- schaftsteuer und Grunderwerbsteuer erreicht. Dem Gesamtvorschlag des Vermittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz können wir aber nicht zustim- men: Die von der FDP seit langem geforderte Verkürzung der Aufbewahrungsfristen ist gestrichen. Die Verkür- zung hätte einen wesentlichen Beitrag zum Bürokratie- abbau leisten können. Bei der Grunderwerbsteuer sollen Regelungen sicher- stellen, dass zukünftig auch bei Konzernumstrukturie- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26973 (A) (C) (D)(B) rungen immer Grunderwerbsteuer fällig wird. Gleichzeitig sollen aber Umstrukturierungen öffentlicher Gebietskör- perschaften grunderwerbsteuerfrei möglich sein. Dies ist eine eklatante Benachteiligung der Privatwirtschaft ge- genüber öffentlichen Körperschaften. Bei der Erbschaftsteuer sollen die Erleichterungen bei der Unternehmensnachfolge zum Nachteil von Familien- unternehmen geändert werden. Wir setzen uns für eine Erbschaftsteuer ein, die die Unternehmensnachfolge im Interesse des Erhalts von Arbeitsplätzen nicht gefährdet. Insgesamt belastet das Vermittlungsergebnis die Bür- gerinnen und Bürger sowie den Mittelstand mit rund ei- ner halben Milliarde Euro zusätzlich. Wir werden uns auch weiterhin für eine steuerrechtli- che Gleichstellung von eingetragenen Lebenspartner- schaften einsetzen. Wir sind aber nicht bereit, dafür den von SPD und Grünen geforderten Steuererhöhungen zu- zustimmen. Die Verknüpfung des für uns wichtigen ge- sellschaftspolitischen Ziels der Gleichstellung eingetra- gener Lebenspartnerschaften mit Steuererhöhungen für den Mittelstand und damit die Belastung von Arbeits- plätzen empfinden wir in höchstem Maße als unseriös. Anlage 9 Zu Protokoll gegebene Rede zur Beratung des Entwurfs eines Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrags (Tagesordnungspunkt 17) Roland Claus (DIE LINKE): Bei diesem Gesetzent- wurf handelt es sich um den zweiten Versuch, mit den Bundesländern zu einer Übereinkunft bei der Umsetzung des sogenannten Fiskalvertrages zu kommen. Der Fiskalvertrag ist ein europäisches Vertragswerk, das in Korrespondenz zum Europäischen Stabilitätsmechanis- mus die beteiligten Staaten zu einer restriktiven Aus- gabenpolitik verpflichtet. Da die Linke den ESM und den international verein- barten Fiskalpakt aus guten Gründen abgelehnt hat, ist es nur folgerichtig, auch dieses innerstaatliche, also den Bund, die deutschen Bundesländer und die Kommunen, betreffende Gesetz abzulehnen. Wir tun dies vor allem deshalb, weil eine so streng verordnete Sparpolitik in al- ler Regel der Binnenwirtschaft des Landes schadet und Konjunktureffekte von Investitionen damit ausbleiben. Mit dem Fiskalpakt hat die Bundesrepublik Deutsch- land faktisch den Euro-Ländern die in Deutschland ge- scheiterte Politik der Agenda 2010 übergestülpt. Welche verheerenden Folgen das hat, sieht man derzeit in Griechenland, wo nicht nur eine sozialpolitische Kata- strophe angerichtet wurde, sondern auch ein wirtschaftli- ches Desaster die Folge ist. Eine der Wirkungen ist der Rückgang deutscher Exporte in die Länder Südeuropas. Während den sozial Benachteiligten die Folgen der Bankenkrise aufgebürdet werden, werden die Verursa- cher der Krise an den Finanzmärkten, in den Groß- banken und in den unregulierten Investmentfonds nicht zur Verantwortung gezogen. Das hier vorliegende Gesetz beschreibt nun die Zwangsvorgaben in der Haushaltspolitik von Bund, Län- dern und Kommunen. Ausgangspunkt der gesetzlichen Regelung sei die Bewältigung der Staatsschuldenkrise. Schon das ist die falsche Diagnose, weil die enorm ange- wachsenen Staatsverschuldungen erst eine Folge der Krise von Banken und Finanzmärkten sind. Und wo die Diagnose falsch ist, kann die darauf eingehende Therapie nicht richtig sein. Das haben auch die Vertrete- rinnen und Vertreter einer ganzen Reihe von Bundeslän- dern erkannt und kritisiert. Schließlich werden mit diesen Gesetzespaketen nicht nur fiskal- und wirtschaftspolitische Fehler begangen, sondern auch sozialstaatliche Grundsätze beschädigt und letztlich demokratische Grundstrukturen der Gesell- schaft untergraben. Dem europäischen Integrations- prozess ist all dies abträglich. Wäre eine andere Politik zur Euro-Stabilisierung möglich? Aber sicher doch, so wie es in der Politik im- mer Alternativen gibt. Die Linke hat sich stets für eine andere Politik im Sinne europäischer Gemeinsamkeit eingesetzt. Dazu gehören unter anderem folgende Vor- schläge: wirksame Aufsicht und Kontrolle der interna- tionalen Finanzmärkte; Schattenbanken gehören nicht reguliert, sondern abgeschafft; eine Finanztransaktion- steuer ist überfällig; Heranziehen der Verursacher der Krise mittels einer europaweiten Abgabe auf höchste Vermögen (also nicht von Mittelständlern); Überwin- dung der Dominanz der Finanzmärkte gegenüber der Realwirtschaft; Entkopplung der Staatsfinanzierung von den privaten Kapitalmärkten; schrittweise Überwindung von Leistungsbilanzungleichgewichten, um eine Harmo- nisierung der Wirtschafts- und Sozialpolitik zu errei- chen; staatliche Förderung von Konjunkturprogrammen zur Belebung der Binnenkonjunktur; Überwindung der überbordenden Leih- und Zeitarbeit, bei der Menschen trotz Arbeit in der Armutsfalle bleiben. All diese Überlegungen wurden weder bei den zahl- reichen europäischen Gipfeltreffen noch im Agieren der Bundesregierung überhaupt auch nur ansatzweise erwogen. Die Linke sagt: Eine Stabilisierung der Euro-Zone ist nötig und wichtig. Aber mit diesem Gesetz kommt sie nicht. Anlage 10 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Starke Forschung für die Energiewende Energieforschung konsequent am Atomaus- stiegsbeschluss des Deutschen Bundestages ausrichten (Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b) Thomas Bareiß (CDU/CSU): Auch diese Debatte zeigt wieder einmal deutlich, dass die Grünen noch im- mer nicht von ihrem Lieblingsthema Kernenergie lassen können. Krampfhaft wird versucht, uns zu unterstellen, 26974 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) dass wir es nicht ernst meinen mit dem Ausstieg. Dabei spricht nicht nur das von uns auf den Weg gebrachte 6. Energieforschungsprogramm eine deutliche Sprache, sondern auch unsere anderen energiepolitischen Maß- nahmen: So beschließen wir fast im Monatstakt neue Gesetze und Programme für mehr Energieeffizienz, effi- zienteren Offshorewindenergieausbau, schnelleren Netzausbau oder auch eine starke Energieforschung zum Gelingen der Energiewende. Dies alles zeigt: Wir mei- nen es ernst mit dem Ausstieg. Und im Gegensatz zu Ihnen packen wir auch den Einstieg ins Zeitalter der Energieeffizienz und der Erneuerbaren engagiert an und haben dabei immer Bezahlbarkeit und Versorgungs- sicherheit im Blick. Die Energieforschung ist ein zentraler Baustein unse- rer Technologiestrategie und damit ein Garant für Wachstum und Wohlstand. Und eines muss allen klar sein: Die Energiewende kann nur mit neuen Ideen und Innovation gelingen. Dazu braucht es eine starke Forschung. Nur wenn wir weltweit führend bei der Ener- gieforschung sind, werden wir mit dem Umstieg Erfolg haben. Deshalb haben wir im Sommer 2011 das 6. Energie- forschungsprogramm verabschiedet und die Mittel für die Energieforschung auf 3,5 Milliarden Euro auf- gestockt. Die Schwerpunkte liegen auf den Schlüssel- themen der Energiewende: erneuerbare Energien, Ener- gieeffizienz, Speicher und Netze und keineswegs auf der Kernenergie, wie es die Grünen versuchen glaubhaft zu machen. Nach gut anderthalb Jahren zeigt die Resonanz deut- lich, dass unser Energieforschungsprogramm ein Erfolgsprogramm ist. So wurden in den Bereichen der erneuerbaren Energien und der Energieeffizienz allein innerhalb des ersten Jahres mehr als 900 neue Forschungsprojekte mit einem Gesamtfördervolumen von rund 550 Millionen Euro auf den Weg gebracht. Hinzu kamen rund 215 Millionen Euro, die die Wirt- schaft als Eigenmittel beigesteuert hat. Und auch die Zusammenarbeit zwischen den Ressorts funktioniert, entgegen dem Antrag der SPD, sehr gut. So wurden mit dem 6. Energieforschungsprogramm erst- mals ressortübergreifende Projekte vereinbart. Bundes- umweltministerium, Bundeswirtschaftsministerium so- wie das Bundesbildungsministerium haben erfolgreich Projekte, wie die Förderinitiativen „Speicher“ oder „Zu- kunftsfähige Stromnetze“, auf den Weg gebracht. Ein entscheidender Baustein zum Gelingen der Ener- giewende wird sein, ob es uns gelingt, Speichertechno- logien zur besseren Integration der erneuerbaren Ener- gien zu entwickeln und in den Energiemarkt zu integrieren. Dafür müssen sowohl bestehende Speicher- technologien gefördert als auch deren Entwicklung durch Forschung in Deutschland beschleunigt werden. Deshalb haben wir sowohl eine Reihe von Maßnah- men zur Förderung betriebsbereiter Energiespeicher- technologien, wie die Befreiung von Netzentgelten und der EEG-Umlage für neue Speichertechnologien, als auch die Förderinitiative „Speicher“ auf den Weg ge- bracht 200 Millionen Euro werden von Bundesumweltminis- terium, Bundeswirtschaftsministerium und Bundes- bildungsministerium für diese Initiative in der Summe zur Verfügung gestellt, um die Entwicklung neuer Spei- chertechnologien und Speicherkonzepte sowie die Verbesserung bestehender Techniken zu fördern. Mit ei- ner fünffachen Überzeichnung ist dieses Programm ein voller Erfolg und zeigt, dass wir die richtigen Prioritäten gesetzt haben. Zur besseren Integration der erneuerbaren Energien sind nicht nur Speicher, sondern auch leistungsfähige Stromnetze entscheidend. Der Ausbau der erneuerbaren Energien und der Stromnetze muss deshalb im Gleich- klang erfolgen. Hinzu kommen neue Anforderungen wie zeitliche und geografische Schwankungen bei der Ein- speisung aus erneuerbaren Energien oder ein immer grö- ßerer Abstand zwischen den Orten der Stromerzeugung und den Verbrauchsschwerpunkten. Dies erfordert neue Netztechnologien und Konzepte. Aus diesem Grund haben wir am 11. Januar 2013 die Förderinitiative „Zukunftsfähige Stromnetze“ auf den Weg gebracht, die beispielsweise neue Konzepte zur Netzplanung, intelligente Stromnetze sowie innovatives Lastmanagement fördert. Mit rund 150 Millionen Euro soll der Einstieg in das zukünftige Netz gefördert wer- den. Die Förderinitiativen „Speicher“ und „Netze“ sind nur ein Teil des umfassenden Energieforschungspro- gramms. Aber sie zeigen deutlich: Zukunftstechnologien sind für uns ein wesentlicher Bestandteil der Energie- wende. Gerade der Run auf diese Projekte macht deutlich, dass es Rot-Grün versäumt hat, in diese Tech- nologien zu investieren und Forschung dort anzureizen. Wir machen es richtig. Denn für uns gehört zum Gelin- gen der Energiewende nicht nur der Ausstieg, sondern auch der Einstieg, und der beginnt mit einer starken Energieforschung. Dr. Philipp Murmann (CDU/CSU): Erstens. Wir ha- ben viele wichtige Projekte für unser Land in dieser Le- gislaturperiode auf den Weg gebracht: die Stabilisierung Europas, die Konsolidierung unseres Haushaltes, die Ausrichtung unseres Landes auf Bildung und Forschung als eine der wichtigsten Prioritäten und die Stärkung un- serer Wettbewerbsfähigkeit und unseres Wirtschafts- standortes. Aber neben all diesen wichtigen Projekten ist eine der größten Herausforderungen in diesem Jahrhun- dert die Sicherstellung einer sicheren, bezahlbaren und umweltverträglichen Energieversorgung. Und dies gilt nicht nur für Deutschland, nein, dies gilt ebenso für Eu- ropa und sogar weltweit. Unsere Energiewende – und das auch im Gegensatz zu den bisherigen Träumereien einer Energiewende un- ter Rot-Grün – bedeutet einen unumkehrbaren und einen nachhaltigen Weg in das Zeitalter der erneuerbaren Energien. Denn nicht nur ökologische und soziale Krite- rien bedeuten Nachhaltigkeit. Nein, ein ebenso gewichti- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26975 (A) (C) (D)(B) ges Kriterium ist die Wirtschaftlichkeit der Energie- wende. Eine Energiewende, die nicht wirtschaftlich ist, wird auch nicht nachhaltig sein. Denn wir müssen den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht nur erhalten, nein, mit und durch die Energiewende müssen wir Deutschland noch wettbewerbsfähiger und innovativer machen und zwar nicht durch Subventionen – denn das wird ebenfalls nicht nachhaltig sein – , sondern durch In- vestitionen, durch marktwirtschaftliche Anreize und vor allem durch Innovationen und durch Forschung und Ent- wicklung. Zweitens. Unser langfristiges Ziel liegt im Jahr 2050. Innerhalb von nur vier Jahrzehnten bauen wir unsere Energieversorgung komplett um. Dazu gehören nicht nur erneuerbare Energien. Wir brauchen auch neue und ver- besserte Stromnetze. Wir brauchen mehr Energieeffi- zienz, und wir brauchen auch Energiespeicher. Ja, auch manche schnelle und kurzfristige Lösung ist wichtig. Aber die Energiewende insgesamt ist eine Generationen- aufgabe. Und hier brauchen wir langfristige Lösungs- strategien. Gerade deswegen setzen wir auf Grundlagen- forschung. Grundlagenforschung – und das wissen auch Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen der Opposition – ist eben kein 100-Meter-Lauf, sondern Grundlagenfor- schung ist ein Marathon. Drittens. Wichtig ist: Bei der Energieforschung brau- chen wir einen ganzheitlichen Ansatz. Wir fördern For- schung in den Bereichen erneuerbare Energien. Wir för- dern Forschung für Energieeffizienz, Forschung für intelligente Netze und Speicher. Aber zu einem ganz- heitlichen Ansatz gehören eben nicht nur technologische und naturwissenschaftliche Forschungsansätze, sondern ebenso sozialwissenschaftliche und volkswirtschaftliche Aspekte. Und um diese verschiedenen Bereiche zusam- menzubinden, hat die Bundesregierung einen neuen Dia- log angeregt, der inzwischen alle wissenschaftliche Be- reiche erfasst hat und der jetzt in einem übergreifenden Projekt zusammengefasst wird, das unter Mitwirkung al- ler wissenschaftlichen Akademien erfolgt. Der Titel die- ses Projektes lautet: „Energiesystem der Zukunft“. Was Sie, liebe Kollegen von der Opposition, noch in langen schriftlichen Ekstasen fordern, wird hier bereits begon- nen und umgesetzt. Ihre Anträge sind veraltet und über- holt. Die christlich-liberale Koalition ist Ihnen weit vo- raus. Wir reden nicht nur, wir handeln. Viertens. Lassen Sie mich auf einen weiteren Bereich kommen, der aus unserer Sicht ebenso zu einem ganz- heitlichen Forschungsansatz gehört und der national, aber auch international von größter Bedeutung ist: die nukleare Sicherheitsforschung. Nach den Ereignissen in Fukushima haben wir die Restrisiken der Kernenergie neu bewertet. Auf Basis der Empfehlungen der Ethik- kommission haben wir gemeinsam entschieden, zügiger als noch im September 2010 geplant aus der Kernenergie auszusteigen. Ende 2022 soll das letzte Kernkraftwerk vom Netz gehen. Aber die Sicherheit der Kernkraft- werke in Deutschland hat für uns weiterhin höchste Prio- rität. Bis zum Abschalten des letzten Kernkraftwerks in knapp zehn Jahren werden wir die Sicherheit der Kern- reaktoren auf dem allerneuesten Stand von Wissenschaft und Technik halten. Diesen Schutzauftrag nimmt die Koalition ernst. Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen, wollen den Ausstieg aus dieser Sicherheits- forschung. Das ist unverantwortlich. Und das ist mit uns nicht zu machen. Ich empfehle Ihnen stattdessen einen Blick zurück in die Vergangenheit. Unter der rot-grünen Bundesregie- rung hat eine Evaluierungskommission doch ganz klare Aussagen getroffen: „Die intensive Förderung der Reak- torsicherheitsforschung durch die Bundesregierung in den letzten Jahrzehnten hat entscheidend dazu beigetra- gen, dass deutsche Reaktoren zu den sichersten der Welt gehören.“ Ich sage es noch einmal: Die Sicherheit der Kernkraftwerke steht für uns an oberster Stelle. Da gibt es für uns keine Diskussionen. Deswegen stehen wir zur Sicherheitsforschung. Das ist kein Widerspruch zur Energiewende; das ist unsere staatspolitische Aufgabe gegenüber den Menschen in unserem Land. Ja, wir wol- len den Atomausstieg. Ja, wir wollen auch andere Staa- ten von der Energiewende Made in Germany überzeu- gen. Aber ich möchte auch, dass andere Länder, die noch nicht aus der Atomkraft aussteigen können – ich möchte, dass deren Reaktoren zumindest sicher sind. Und deut- sches Wissen aus der nuklearen Sicherheitsforschung kann dazu auch in den kommenden Jahren einen wichti- gen Beitrag leisten. Fünftens. Und dann sind Sie, liebe Grüne, sich auch nicht zu schade, ein weiteres Lieblingsgespenst zu be- schwören: die Fusionsforschung. Ihr grüner Versuch, die Fusionsforschung als Teil der Atomforschung zu denun- zieren, ist ebenso falsch wie irreführend. Sie betreiben hier reine Ideologie, und – umso schlimmer – das wissen Sie auch. Wir, die CDU/CSU-Fraktion, und die Mehrheit der Wissenschaftler sehen in der Fusionstechnologie eine wichtige Chance, eine Chance, dass wir sie eines Tages als sichere, saubere und bezahlbare Energiequelle nutzen können. Und wie hat es ein hochrangiger Wissen- schaftler kürzlich formuliert: Wir sind es der nächsten Ge- neration schuldig, zu prüfen, ob die Fusion eine mach- bare Option ist. Und wir dürfen diese Zukunftschance nicht leichtfertig zugunsten kurzfristiger Verlockungen verspielen. Allein schon die Beherrschung derart hoher Temperaturen kann uns ganz neue Möglichkeiten eröff- nen, zum Beispiel bei der Spaltung von Wasser zu Was- serstoff. Übrigens, meine lieben Kolleginnen und Kolle- gen von SPD und Bündnis90/Die Grünen, fanden nicht während Ihrer Koalition die ersten Verhandlungen zu dem Fusionsprojekt ITER statt? Unter Rot-Grün ist 2005 der Startschuss für den Bau von ITER gefallen. Und nun wollen Sie sich heimlich aus der Verantwortung stehlen? Sechstens. Aber es geht ja noch weiter. Sie wollen nicht nur einen internationalen Vertrag kündigen. Sie wollen auch aus Euratom austreten. Aber diese Verträge haben eine tiefe Vertrauensbasis aller Partner. Partner- schaften bedeuten auch Verantwortung. Gerade vor dem Hintergrund unserer Energiewende in Deutschland bietet Euratom die einzigartige Möglichkeit, mit unseren inter- nationalen Partnern über die Energieversorgung der Zu- kunft zu diskutieren. Und übrigens: Euratom bedeutet längst nicht nur Atomkraft. Das vorgesehene Budget für die Jahre 2012 und 2013 umfasst 2,5 Milliarden Euro. Etwas mehr als 2,2 Milliarden Euro davon fließen in die 26976 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Kernfusionsforschung. Das sind 86 Prozent des Budgets. Zur Realität gehört auch, dass fünf der sechs Gründungs- mitglieder von Euratom ihren Austritt aus der Atomener- gie bereits erklärt haben. Trotzdem bleiben sie Mitglied. Siebtens. Lassen sie mich zum Schluss aber noch ein- mal zur Energieforschung zurückkommen. Wir haben kürzlich das 6. Energieforschungsprogramm auf den Weg gebracht. Für den Zeitraum von 2011 bis 2014 in- vestieren wir 3,5 Milliarden Euro in Forschung und Ent- wicklung. Dafür ist die Förderung des Bundesministe- riums für Bildung und Forschung konsequent auf die Ausgestaltung der Energiewende als gesamtgesellschaft- liche Aufgabe ausgerichtet. Wir fördern Forschungsan- sätze aus den Gesellschafts- und Geisteswissenschaften mit über 28 Millionen Euro, die Initiative „Energiespei- cher“ mit rund 200 Millionen Euro Fördermitteln, die Photovoltaik mit circa 100 Millionen Euro. Und erst An- fang dieser Woche hat das Bundesministerium für Bil- dung und Forschung zusammen mit dem Wirtschafts- und dem Umweltministerium die Förderinitiative „Zu- kunftsfähige Stromnetze“ gestartet. Die Förderung dieser Initiative umfasst die Themenfelder Übertra- gungs- und Verteilungstechniken, Offshoreanbindungen, Netzplanung und -betriebsführung sowie Querschnitts- themen in diesem Bereich. Zusammen werden wir 150 Millionen Euro in Forschung und Entwicklung zu- kunftsfähiger Stromnetze investieren. Achtens. Und die Arbeiten an der „Landkarte der Energieforschung“ stehen in der finalen Phase. Wie be- reits im 6. Energieforschungsprogramm angekündigt, hat unser Bundesministerium für Bildung und Forschung diese Landkarte erarbeitet, wofür ich Ihnen recht herz- lich danken möchte. Die Forschungslandkarte wird Transparenz über unsere Energieforschungslandschaft herstellen. Sie wird aufweisen, wer wo mit welchen Mit- teln an welchen Energiethemen in Deutschland arbeitet. Dieses Wissen wird uns helfen die Forschung in Deutschland noch effizienter zu gestalten und sie ex- plizit auf die Anforderungen der Energiewende auszu- richten. Sie wird unsere Kräfte bündeln. Sie wird Unter- nehmen und Forschung zusammenführen. Sie wird uns bei unserem Marathonlauf helfen. Mit der Hightech-Strategie haben wir bereits die Wei- chen für die Erforschung einer sicheren und wirtschaftli- chen Energieversorgung der Zukunft gestellt. Nun kommt es darauf an, die gesteckten Ziele mit vereinten Kräften zu erreichen. Wir haben uns auf den Weg ge- macht. Kommen Sie mit. Gehen wir diesen Marathon gemeinsam an; für die Zukunft unserer Kinder und un- seres Landes. Michael Gerdes (SPD): Wir erleben in Deutschland derzeit eine energiepolitische Zäsur. Vor dem Hinter- grund der risikoträchtigen Atomkraft, des Klimaschutzes und knapper Ressourcen strebt unsere Gesellschaft ein ambitioniertes Ziel an: eine auf erneuerbaren Energien fußende Energieversorgung. Wir alle wollen, dass die Energiewende Wirklichkeit wird. Dabei könnte die Herausforderung kaum größer sein: Deutschland ist Europas stärkstes Industrieland und gleichzeitig der größte Energieverbraucher in der EU. Kurzum: Wir ha- ben uns den Umbau der kompletten Energieinfrastruktur vorgenommen. Dieses Ziel erfordert einerseits ein schlüssiges, gut koordiniertes Konzept. Andererseits brauchen wir eine starke, leistungsfähige und breit aufgestellte Forschungslandschaft. Wir brauchen alle klugen Köpfe, um neue Technologien, neue Materialien und neue Energiedienstleistungen zu entwickeln. Die Bundesregierung hat im August 2011 das 6. Ener- gieforschungsprogramm vorgelegt. Das ist im Grundsatz zu begrüßen. Der Tragweite und Bedeutung der Energie- wende wird das Programm allerdings nicht gerecht. Ins- besondere die hohen Ausgaben für die Atomforschung entsprechen nicht dem beschlossenen Ausstieg aus der Atomkraft. Das Programm teilt die Energieforschung auf mehrere Ressorts auf. Das führt dazu, dass für die Wissenschaft nur schwer zu erkennen ist, welches Ministerium den Hut auf hat und wer wann Forschungsgelder verteilt. Auch ist zu befürchten, dass die Ressortaufteilung Synergien verhindert und der ganzheitliche Blick auf die Umgestaltung der Energieversorgung fehlt. Insbesondere vermissen wir ein klares Bekenntnis zur Verbraucherforschung. Die Erforschung der sozialen Dimension der Energiewende muss intensiviert werden, zumal die Umsetzung der Energiewende maßgeblich von privaten Investitionsentscheidungen abhängt. Ak- zeptanz, Identifikation und thematische Sensibilisierung zur Änderung des Nutzerverhaltens, aber auch Aufklä- rung und Nachvollziehbarkeit technischer Neuerungen sind wesentliche Bedingungen für den dauerhaften Er- folg der Energiewende. Die steigenden Energiepreise sind für viele Familien zur Belastung geworden. Es ist Teil unserer sozialen Verantwortung, danach zu fragen, wie Energie bezahlbar bleibt. Die SPD-Fraktion fordert eine grundsätzliche Ausweitung der Energieforschungsaktivitäten. Dabei muss die gesamte Bandbreite der erneuerbaren Energien, der Effizienztechnologien und der Speichertechnologien bedacht werden. Das größte Problem des 6. Energieforschungspro- gramms ist seine finanzielle Ausstattung. Diesbezüglich vertraut Schwarz-Gelb auf das Sondervermögen „Ener- gie- und Klimafonds“. Diese Einnahmen sind aber nicht kalkulierbar. Im Januar 2012 war der Preis für die CO2- Zertifikate deutlich geringer als erwartet. Mindereinnah- men sind also nicht ausgeschlossen. Für die Forschung gibt es somit keine Planungssicherheit. Und auch im Haushalt 2013 hält die Bundesregierung am Energie- und Klimafonds fest. Das ist unverantwortlich und kurz- sichtig. Wir müssen uns fragen, welche Erkenntnisse die Bun- desregierung seit Inkrafttreten des Energieforschungs- programms gewonnen hat. Viel zu erfahren ist nicht. Wann wird dem Bundestag ein Zwischenbericht zur Energieforschung vorgelegt? Wie weit sind die Arbeiten an der im Programm versprochenen „Landkarte der Energieforschung“? Wann kommt das „Energietechnolo- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26977 (A) (C) (D)(B) gie-Radar“, welches über zukünftige Forschungsbedarfe Auskunft geben soll? Wenn die Energiewende mit all ihren Facetten gelin- gen soll, muss die Bundesregierung dringend nachlegen: Die Energieforschung braucht mehr Koordinierung und eine solide Finanzierung. Klaus Breil (FDP): In den vorliegenden Anträgen geht es um zwei gut bekannte Forderungen der Opposi- tion. Es geht zum einen um den Vorwurf, die Energiefor- schung in Deutschland wäre falsch ausgerichtet. Und es geht zum Zweiten um die Kündigung der deutschen Mit- gliedschaft bei der europäischen Atomgemeinschaft, kurz Euratom. Zum ersten Punkt. Mit dem 6. Energieforschungspro- gramm hat die Bundesregierung im Juli 2011, also nicht einmal ein Jahr nach Anpassung des Energiekonzeptes an die Lehren der Katastrophe von Fukushima, die Schwerpunkte für die Forschungsförderung der kom- menden Jahre festgelegt. Darin sind alle in den Anträgen angesprochenen Teilbereiche aufgelistet. Ich zitiere die Förderschwerpunkte des Programms: Energieeffizienz im Gebäudebereich und energieoptimiertes Bauen, Energie- effiziente Stadt und dezentrale Energiesysteme, Energie- effizienz in der Industrie, im Gewerbe, im Handel und bei Dienstleistungen, Energiespeicher für stationäre und mobile Anwendungen, Netze für die Stromversorgung der Zukunft, Kraftwerkstechnik und CCS-Technologien, Brennstoffzellen und Wasserstoff, Systemanalyse und Informationsverbreitung. In diesem Rahmen werden Maßnahmen auf den Weg gebracht, die entweder durch einzelne Ministerien oder mehrere Ministerien in Kooperation durchgeführt wer- den. Für die erste gemeinsame Forschungsinitiative Energie- speicher haben die Ressorts BMWi, BMU und BMBF im Sommer 2011 200 Millionen Euro bereitgestellt. Ein Teil der Summe geht an ein Projekt, das am 10. Januar dieses Jahres auf den Weg gebracht wurde. Mit dem Ver- bundprojekt ADELE-ING schafft das BMWi die Voraus- setzungen zur Errichtung einer Demonstrationsanlage eines adiabaten Druckluftspeichers. Beteiligt daran sind neben privaten Unternehmen auch die Forschungsein- richtungen DLR, Otto-von-Guericke-Universität Magde- burg und das Fraunhofer-Anwendungszentrum für Sys- temtechnik Ilmenau, IOSB. Die Forschungsaktivitäten der Bundesregierung wer- den stetig erweitert, zuletzt noch in dieser Woche durch die Förderinitiative „Zukunftsfähige Stromnetze“. Die Initiative hat ein Volumen von 150 Millionen Euro. Das ist nach der Forschungsinitiative Energiespeicher schon die zweite ressortübergreifende Maßnahme im Rahmen des Energieforschungsprogramms, und das innerhalb von nicht einmal zwei Jahren. Hier wird Tempo ge- macht. Den einzig positiven Punkt, den ich zwischen all den irrgeleiteten Forderungen im Antrag der Grünen finden konnte, war die Forderung nach einem Forschungsvor- haben zu Energiemärkten. In diesem Bereich nämlich haben Sie wirklich noch Nachholbedarf. Kommen wir zum zweiten Punkt, zudem Euratom- Vertrag. Der stammt aus dem Jahr 1957 und ist einer der Gründungsverträge der Europäischen Union. Er behan- delt unter anderem einheitliche Sicherheitsanforderun- gen beim Strahlenschutz und Kontrollmaßnahmen. Da- mit dient er in weiten Teilen der Sicherheitsvorsorge der Bevölkerung und dem Schutz ihrer Gesundheit. Dass der Euratom-Vertrag in Teilen der Öffentlichkeit als einseitiges Instrument zur Förderung der Kernenergie in der Europäischen Union angesehen wird, verdanken wir dem endlosen Wiederholen durch Anti-Atom-Akti- visten. Dabei regelt der Kernbereich des Vertrags die Überwachung von Kernmaterial in der Europäischen Union durch die Kommission. Er regelt eine gleich- berechtigte Versorgung mit Kernmaterial unter anderem für Medizin und Forschung und dient der Vereinheit- lichung des Strahlenschutzes im Interesse der Bevöl- kerung. In der Tat aber geht auch ein Teil aus der Ge- meinschaft in die Forschung der Kernfusion. Diese hocheffiziente und umweltfreundliche Technologie wäre aber kein Rückschritt in das von der Opposition verteu- felte Atomzeitalter – vielmehr könnte diese Form der Energiegewinnung eines Tages auch ein Teil zur Lösung unseres Entsorgungsproblems werden. Daher sind beide Anträge der Opposition abzulehnen. Dr. Petra Sitte (DIE LINKE): Immer neue Schreck- gespenster wurden an die Wand gemalt, um die Energie- wende zu diskreditieren: massenhafte Stromausfälle bei der Abschaltung der Kernmeiler etwa. In jüngster Zeit wird vor allem mit vermeintlich steigenden Stromprei- sen gegen den Umstieg auf erneuerbare Energien Stim- mung gemacht. Forschung und Wissen sind ein probates Mittel gegen Unkenntnis und Vorurteile – und zugleich entscheidende Hebel für eine sozialverträgliche Umset- zung der Energiewende. Der Forschungsverbund Erneu- erbare Energien rechnete jüngst vor, dass die Umstellung auf Erneuerbare bis 2050 rund 570 Milliarden Euro Ener- giekosten einsparen würden, allerdings unter der Voraus- setzung, dass die Forschungsanstrengungen nicht auf atomare und fossile Energien, sondern auf nachhaltige Technologien und Energieeinsparung fokussiert werden. Die Energiewende muss also schneller und konsequenter vorangetrieben werden, dann vermindert sie gesellschaft- liche Kosten. In diese Richtung sollte die Wissenschafts- förderung zielen. Das Energieforschungsprogramm der Bundesregierung bleibt jedoch weit hinter dem Erforder- lichen zurück. Dies sprechen die Kolleginnen und Kolle- gen der SPD in ihrem Antrag auch an. Sie kritisieren den Flickenteppich der Zuständigkeiten und eine fehlende Fachkräftestrategie. Sie greifen, das freut uns, das Thema der sozialen Innovationen und der Dienstleistungen auf. Allerdings bleibt der Antrag hier unkonkret. Insbesondere zur Ver- teilung der Kosten der Energiewende bzw. zur Bevorzu- gung der Industrie gegenüber den privaten Verbrauchern und zu notwendigen Fragen des Eigentums an Netzen und zur Dezentralisierung bzw. Rekommunalisierung 26978 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) wäre mehr Forschung angebracht. Dies versäumt die SPD jedoch in aller Deutlichkeit zu benennen. Vollends windelweich werden Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, jedoch an entscheidenden Knackpunkten. So konnten Sie sich offenbar nicht auf eine konkrete Position zur Atomforschung einigen. Es fehlen präzise Vorschläge zum Umgang mit ITER und den angeschlossenen deutschen Projekten sowie mit Euratom. Dabei macht die Fusionsforschung mit circa 130 Millionen Euro etwa ein Fünftel des gesamten Ener- gieforschungsprogrammes aus. Die Grünen sind hier deutlich präziser und wollen wie unsere Fraktion einen Ausstieg aus dem Bau des Kern- fusionsreaktors ITER und damit das Ende von Euratom in seiner derzeitigen Form. 90 Prozent der Euratom-För- derung fließen in den Bau des Kernfusionsreaktors ITER. Deutschland soll insgesamt mehr als 3 Milliarden Euro in das Projekt investieren. Wir sagen: Mit diesem Geld muss die Energiewende im Hier und Heute entwi- ckelt und erforscht werden, nicht ein Wolkenkuckucks- heim, das vielleicht in 40 oder 50 Jahren Strom liefert – vielleicht aber auch nicht. Beim Thema Kernfusion hat die SPD-Fraktion Entscheidungsbedarf, wie ich finde. In dem Antrag fehlt zudem eine Position zur Erfor- schung und Entwicklung von fossilen Kraftwerkstechno- logien und der CO2-Speicherung, CCS. Dabei wäre dazu angesichts der Kakofonie aus der Bundesregierung zu dem Thema eine Position wichtig. Allein die Projektför- derung in dem Bereich machte im vergangenen Jahr über 30 Millionen Euro aus. Forschungsministerin Schavan erklärte zwar im Sommer, CCS vorerst nicht weiter för- dern zu wollen. Allerdings gelte dies nur bis zur Schaf- fung entsprechender gesetzlicher Regelungen. Ohne neues Wissen über die soziale und die techni- sche Umsetzung der Energiewende werden wir diese komplexe Herausforderung nicht meistern. Wir brau- chen daher auch eine Energieforschungswende. Sylvia Kotting-Uhl (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Die Reaktorkatastrophe von Fukushima jährt sich in Kürze zum zweiten Mal. Dieser GAU hatte in Deutsch- land zur Folge, dass am 30. Juni 2011, also nur drei Monate später, fraktionsübergreifend im Deutschen Bundestag ein nun hoffentlich endgültiger Schlussstrich unter die Risikotechnologie Atomkraft gezogen wurde. Damit machte auch die derzeitige Bundesregierung end- lich den Weg frei für eine Energiewende hin zu erneuer- baren Energien, Energieeinsparungen und mehr Energie- effizienz. Deutschland steht nun vor der historischen Chance und epochalen Herausforderung, als erste der großen Industrienationen die Transformation in eine postnukleare und CO2-neutrale Energiewirtschaft zu meistern. Dazu braucht es allerdings einen klar geäußer- ten und erkennbaren Willen der Bundesregierung, eindeutige Entscheidungen, die das Ziel nicht konter- karieren, und kein Hin-und-Herschwanken, keine Zöger- lichkeiten und Rückwärtsschritte. Gerade das erleben wir aber: Hin-und-Herschwanken beim EEG, Zögerlich- keit bei Effizienzmaßnahmen und Kapazitätsmechanis- men, Rückwärtsschritte bei der Organisation des Netz- ausbaus. So werden Bürger und Investoren verunsichert und die Energiewende gefährdet. Die inkonsistente Haltung der Bundesregierung zeigt sich überdeutlich bereits bei der Energieforschung, deren Ausrichtung Gelingen oder Scheitern der Energiewende entscheidend beeinflusst. Steuergelder für die Energie- forschung müssen dahin fließen, wo die offenen Fragen der Energiewende sind: in Speicher- und Effizienztech- nologien, Lastmanagement und Nachfragesteuerung als wichtigste technologische Baustellen, aber auch in Fra- gen von Bürgerbeteiligung, Akzeptanz und gesellschaft- licher Energiekompetenz. Forschungspolitik ist in erster Linie Haushaltspolitik. Deshalb gibt der Weg des Geldes Auskunft über die Prioritätensetzung der Bundesregie- rung. Und siehe da: Auch nach dem parteiübergreifend beschlossenen Atomausstieg investiert die Bundesregie- rung unverändert rund ein Drittel ihres 2,7 Milliarden schweren Energieforschungsprogramms in atomare For- schung. Von diesen 900 Millionen geht nur ein Drittel in die weiterhin notwendige Sicherheits- und Endlagerfor- schung. Mindestens 600 Millionen fließen in atomare Forschung, deren Anwendung im Erfolgsfall den Wie- dereinstieg in atomare Großtechnologie bedeuten würde. Weitere deutsche Steuergelder werden über das EU- Forschungsrahmenprogramm bzw. Euratom für die europäische Atomforschung verwendet. Das unersätt- lichste Projekt ist der gemeinschaftliche Kernfusions- Versuchsreaktor ITER, der im französischen Cadarache gebaut werden soll und sich mittlerweile als Milliarden- grab entpuppt. Des Weiteren finanzieren wir über die EU die Erforschung von Transmutation und Reaktoren der vierten Generation, alles Technologien, die uns zurück ins atomare Zeitalter führen, sollten sie eines Tages zum Einsatz kommen. Bis 2050 müssen es die Industrienationen geschafft haben, mit einem wesentlich geringeren Energiebedarf auszukommen, und ihre Energieproduktion möglichst vollständig auf erneuerbare Energien umgestellt haben. Nur so können die Klimaschutzziele erreicht werden. Statt neuer nuklearer Großtechnologien bedarf es dazu effizienter, kostengünstiger und umweltverträglicher er- neuerbarer Energien in einem System der effizienten Energiebereitstellung und -nutzung. Die zahlreichen Forschungseinrichtungen in Deutsch- land haben die Möglichkeit einer Energiewende erst ermöglicht und sind für eine Neuausrichtung der deut- schen Energielandschaft gut gerüstet. Jetzt müssen aber auch die politischen Rahmenbedingungen konsequent am deutschen Atomausstiegsbeschluss ausgerichtet wer- den, sodass die in vielen Bereichen noch fehlende Grundlagen- und Anwendungsforschung für die Ener- giewende vorankommt. Die Bundesregierung muss die Energieforschungspolitik in Deutschland endlich neu justieren. Deshalb fordern wir in unserem Antrag, dass die noch nicht verausgabten öffentlichen Forschungsgel- der aus dem 6. Energieforschungsprogramm, die derzeit noch in die Erforschung von Kernfusion, Transmutation und Reaktoren der vierten Generation fließen, umgewid- met werden in die Bereiche erneuerbare Energien, Ener- gieeffizienz, Infrastruktur und gesellschaftliche Begleit- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26979 (A) (C) (D)(B) forschung. Künftige Energieforschungsprogramme müssen so ausgerichtet werden, dass öffentliche Mittel nicht mehr für Atomforschung vorgesehen werden, die bei Anwendung einen Wiedereinstieg in Atomtechnik bedeutet, sondern sollen stattdessen zum Gelingen der Energiewende eingesetzt werden. Auf EU-Ebene muss Deutschland seine finanzielle Beteiligung am ITER-Projekt aufkündigen. Der Kern- fusionsreaktor verschlingt Milliarden, und es steht in den Sternen, ob er jemals die versprochenen unendlichen Mengen an Energie produzieren wird. Und falls das doch eines Tages der Fall sein sollte, werden die erneu- erbaren Energien bis dahin unschlagbar billig sein und wird kein Bedarf an teurer Fusionsenergie mehr be- stehen. Die europäische Atomgemeinschaft Euratom muss dergestalt reformiert werden, dass die darin festgeschrie- bene Sonderrolle Kernenergie – Kernspaltung und Kernfusion – abgeschafft wird; insbesondere sollen alle Passagen des Euratom-Vertrages gestrichen werden, die Investitionen, Forschungsförderung und Genehmigungs- privilegien der Atomkraft begünstigen. Die frei werden- den Mittel sollen stattdessen außerhalb von Euratom für die Forschung und Entwicklung sowie für Kredit- vergünstigungen, unter anderem finanzielle Unterstüt- zung von erneuerbaren Energien, eingesetzt werden. Wenn diese Revision nicht möglich ist, muss Deutsch- land den Euratom-Vertrag einseitig aufkündigen. Die Bundesregierung muss die Grundlagen- und an- wendungsorientierte Forschung in den für die Energie- wende wichtigen Bereichen Energieeffizienz und Ein- sparung, erneuerbare Energien, ressourcen- und energiesparende Mobilität, Nachhaltigkeit und Dezentra- lisierung der Energieerzeugung, Speichersysteme für Wärme und Strom und Energiekompetenz der Bürgerin- nen und Bürger durch entsprechende Schwerpunkt- setzung ausbauen. Insgesamt muss nichttechnologischen Forschungsvorhaben eine stärkere Rolle als bisher zu- kommen. Wer es ernst meint mit der Energiewende und ihr Scheitern nicht billigend in Kauf nehmen will, muss sich für den Atomausstieg in der Energieforschung einsetzen. Deshalb stimmen Sie unserem Antrag zu. Anlage 11 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Beschlussempfehlung und des Berichts: zu dem Vorschlag für eine Verord- nung des Europäischen Parlaments und des Ra- tes zur Einrichtung des Programms Kreatives Europa (Tagesordnungspunkt 19) Christoph Poland (CDU/CSU): Das Programm zum Kreativen Europa hat schon einen längeren Weg hinter sich: das Fachgespräch im Ausschuss mit der An- hörung von Experten, den Antrag der EU-Kommission, die zahlreichen Verhandlungen von Staatsminister Neumann in Brüssel und kurz vor Weihnachten letzten Jahres die Abstimmung im EU-Kulturausschuss. Nun kommt es mit unserem Antrag und der Entschließung des Ausschusses zur Verhandlung im Deutschen Bun- destag. Uns war immer wichtig, dass bei den Verhandlungen zum Kreativen Europa berücksichtigt wird: Es soll keine einseitige Orientierung an den Wachstums- und Beschäfti- gungszielen der 2020-Strategie der EU geben und keine hauptsächlich ökonomische Betrachtung in der Programm- ausgestaltung. Die Betonung des Doppelcharakters von Kulturgütern als Wirtschaftsgut und Kulturgut liegt uns am Herzen. Gemeinsam mit vielen Akteuren, nicht zuletzt dem Deutschen Kulturrat und dem Bundesrat, haben wir hier einen Paradigmenwechsel ausgemacht, den wir sehr kri- tisch beurteilen. Mir ist wichtig, dass die drei Säulen „Kultur“, „Media“ und „Media Mundus“ ihr eigenes Profil behalten. Der finanzielle Rahmen soll bei 1,801 Milliarden Euro liegen. Und wir können alle gemeinsam nur hoffen, dass das bei den kommenden Beratungen von Rat, Kom- mission und Parlament so bleibt. Wir alle wissen um die Notwendigkeit, sparen zu müssen. Eine Stärkung der Kultur mit diesem Ansatz wäre ein wichtiges Signal. Die Kommission hat mit ihrem Schreiben an den Bundesrat vom November vergangenen Jahres festge- halten, dass der Aktionsbereich Kultur mit 30 Prozent der Mittel ausgestattet werden soll. Das begrüßen wir ausdrücklich. Umso negativer fallen Kürzungen unter Rot-Grün in NRW ins Gewicht, die wir gerade sehen. Das war unter der CDU-Regierung von Jürgen Rüttgers anders. Die Kommission hat ebenfalls festgehalten und be- tont, dass „der Kern des Vorschlages … der duale Cha- rakter sämtlicher Kulturgüter“ ist, „das heißt der Eigen- wert der Kultur einerseits und die wirtschaftliche Nutzung andererseits, die im Gleichgewicht stehen müs- sen“. Für mich ist es wichtig, dass ein Kulturprogramm nicht in erster Linie ein Konjunkturprogramm ist. Es ist ein großartiger Erfolg, dass die Kultur- und Kreativbran- che zu einem relevanten Wirtschaftsfaktor geworden ist. Profiterwartungen dürfen aber nicht alleiniger Maßstab für eine Antragstellung sein. In der Antwort der Bundesregierung auf die Kleine Anfrage der SPD zum Kreativen Europa wurden die Ziele für den Aktionsbereich Kultur definiert, und ich möchte sie hier betonen und hervorheben: Es geht um die „Förderung der Fähigkeit der europäischen Kultur- und Kreativsektoren, transnational zu arbeiten“, die „Stärkung der Finanzkraft der Kultur- und Kreativsekto- ren“, die „Unterstützung für transnationale politische Zusammenarbeit (insbesondere zur Erschließung neuer Publikumsschichten bzw. neuer Geschäftsmodelle)“ und die „Förderung der transnationalen Mobilität kultureller und kreativer Werke und Akteure“. Ich möchte mich ausdrücklich bei Kulturstaatsminis- ter Bernd Neumann bedanken, der auf der Ebene der Re- 26980 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) gierungsvertreter immer wieder – mit Rückendeckung durch den Ausschuss – unsere deutschen Interessen in Brüssel vorgebracht hat und an vielen Stellen in unserem Sinne Einfluss nehmen konnte. Bei meinen Gesprächen in Brüssel habe ich viel Lob für ihn gehört. Ich muss an dieser Stelle aber auch einmal die enga- gierte Rolle der Kulturausschussvorsitzenden im Euro- paparlament, Doris Pack, hervorheben, die sich wortge- wandt und deutlich an die Kommission gewandt hat, als es um die Durchsetzung auch unserer gemeinsamen deutschen Interessen bei der Änderung des Programm- entwurfes ging. Der Bericht der Europaabgeordneten Silvia Costa, die zum Kreativen Europa Berichterstatterin ist, liegt mitt- lerweile in seiner abgestimmten Version vor, und man kann sagen, dass die Kulturschaffenden in Europa auf ei- nen erfolgreichen Abschluss des Programms hoffen kön- nen. Lassen Sie mich also zusammenfassen: Das Kreative Europa fördert Künstler, die Grenzen überschreiten. Die Künstler gehen über Grenzen zwischen Staaten, Kultu- ren und Sprachen. Das ist für mich der Sinn des Pro- gramms „Kreatives Europa“. Marco Wanderwitz (CDU/CSU): „Wenn ich das Projekt der europäischen Einigung noch einmal anzuge- hen hätte, würde ich nicht bei der Wirtschaft anfangen, sondern bei der Kultur.“ Dieser Jean Monnet, einem der Gründerväter der Europäischen Gemeinschaften, oft als Vater Europas bezeichnet, zugeschriebene Satz ist häufig zitiert. Das heutige Ergebnis des jahrzehntelangen Prozesses der europäischen Einigung ist aber nun mehr als nur die Herausbildung eines europäischen Wirtschaftsraumes. Die Einführung des Euro als gemeinsame Währung war auch ein Symbol von großer Aussagekraft. Das eigentli- che Fundament der Einigung Europas besteht jedoch in seiner in mehr als 2 000 Jahren gewachsenen gemeinsa- men Kultur. Auf diesem gründet sich unser gemeinsa- mes Wertesystem. Mit der Förderung der kulturellen Vielfalt und des grenzüberschreitenden Dialogs setzen sich Deutschland und die Europäische Union aktiv dafür ein, dass der Kul- turraum Europa auch weiterhin mit Leben erfüllt wird. Am 23. November 2011 hat die Europäische Kom- mission ihren Vorschlag zur künftigen Gestaltung der Kultur- und Filmförderung vorgelegt. Das Dachpro- gramm „Kreatives Europa“ soll künftig aus drei Säulen bestehen. Neben den bisherigen Bereichen „Kultur“ und „Media“ wird es ein neues zusätzliches Element eines Bürgschaftsfonds geben, der Kredite an die Kultur- und Kreativwirtschaft befördern soll. Passgenaue Maßnah- men sollen der Branche helfen, in Zeiten von Globalisie- rung und Digitalisierung ihr Potenzial für Wirtschafts- wachstum, die Schaffung von Arbeitsplätzen und die soziale Inklusion zu optimieren. Sicher ist die Kulturförderung nicht Europas Haupt- aufgabe. Die europäische Kultur- und vor allem Filmför- derung aber ist eine wichtige Ergänzung unserer nationa- len Finanzierung. Mit dem Förderprogramm „Kreatives Europa“ werden auch in Deutschland zusätzliche Mittel für den Kunst-, Kultur- und Medienbereich zur Verfü- gung stehen. Davon profitiert neben den Kultur- und Medienschaf- fenden nicht zuletzt auch die Kultur- und Kreativwirt- schaft in Europa. Deren volkswirtschaftliche Relevanz beweisen zahlenmäßig die 131 Milliarden Euro Umsatz und 1 Million Beschäftigte. Sie liegt damit zwischen der chemischen Industrie und der Automobilwirtschaft. An dieser Stelle gebührt unserem Staatsminister Bernd Neumann für sein Wirken in den Verhandlungen in Straßburg großer Dank. Da für uns insbesondere im Bereich der Kulturförderung das Prinzip der Subsidiari- tät gilt, ist es ein großer Erfolg, dass uns auf nationaler Ebene mehr Mitsprache- und Entscheidungskompeten- zen verbleiben als im ursprünglichen Entwurf vorgese- hen. So werden die Mitwirkungsrechte für die Mitglied- staaten im Programmausschuss verbessert sowie eine Flexibilität bei der Organisation der Beratungsstellen zu- gestanden. Unsere nationale Maxime der identitäts- und gemein- schaftstiftenden Kraft der Kultur gilt ebenso auf europäi- scher Ebene, in Zeiten der Euro-Krise mehr denn je. Ins- besondere die kulturelle Bildung, die sich an die junge Generation wendet, ist ein, wenn nicht das wichtigste, Bindemittel im weiteren europäischen Einigungspro- zess. Die Potenziale der Kultur und Medien richtig zu nutzen, ist folglich eine Investition in die Zukunft eines geeinten Europas. Daher hat der Staatsminister in seiner Stellungnahme zu dem Programm „Kreatives Europa“ die offensichtli- chen Mängel an dem bisherigen Programmentwurf, nämlich die zu starke ökonomische Betrachtung der Kul- turförderung durch die EU, angemahnt. Im Mittelpunkt muss eine stärkere Verankerung der Doppelnatur kultu- reller Werke als Wirtschafts- und Kulturgut stehen. Ich erinnere an die Worte des Staatsministers: Kultur ist mehr als Kulturwirtschaft und Kultur ist mehr als sprachliche Vielfalt. Entsprechend haben wir in unserem Entschließungs- antrag die Förderung ausschließlich nichtgewinnorien- tierter, kleinerer Kulturprojekte betont und die Festle- gung von finanziellen Mindestanteilen für die einzelnen Säulen des Programms ebenso gefordert wie die Berück- sichtigung von quantitativen wie qualitativen Kriterien bei der Evaluierung des Programms. Eine starke Kon- zentration auf Großevents bzw. ein schleichender Pro- zess hin zu einer Kommerzialisierung der Kulturförde- rung darf nicht hingenommen werden. Der Ausschuss für Kultur und Medien hat seine Ent- schließung folglich auch bewusst vor den Beratungen des Europäischen Parlaments verabschiedet, um diese beeinflussen zu können. Mit Erfolg: Der Kulturaus- schuss des Europäischen Parlaments ist unserer Position in vielen Punkten gefolgt. Mit unserer Entschließung wissen wir denn auch die deutsche Kultur(verbände)landschaft hinter uns. Viele Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26981 (A) (C) (D)(B) aus der Branche geäußerte Befürchtungen über das Pro- gramm „Kreatives Europa“ haben wir in der Entschlie- ßung aufgegriffen. Ein positives Signal an die Kreativwirtschaft ist sicher der im Programm vorgesehene Aufwuchs des Budgets auf insgesamt 1,801 Milliarden Euro, eine Steigerung um 37 Prozent gegenüber dem derzeitigen Ausgabenniveau. Damit soll insbesondere der neue EU-Bürgschaftsfonds finanziert werden und den kleinen und mittleren Unter- nehmen der Kreativwirtschaft, für die die Kapitalbe- schaffung auf dem privaten Markt oftmals schwierig ist, der Zugang zu Krediten erleichtert werden. Allerdings bleiben die grundsätzlichen Haushaltsver- handlungen der Staats- und Regierungschefs in Brüssel abzuwarten, die Auswirkungen auf die Ausstattung des Programms „Kreatives Europa“ haben. Wir haben uns dem 1-Prozent-Ziel verpflichtet, wo- nach die Mitgliedstaaten nicht mehr als 1 Prozent ihres Haushalts an Brüssel abgeben. Das ist eine richtige Ent- scheidung. Die Verabschiedung der Inhalte des Programms ist nach den Plänen der EU-Kommission für die erste Jah- reshälfte 2013 vorgesehen. Wir bleiben optimistisch, dass die Kultur- und Medienförderung innerhalb des großen EU-Haushalts so ausgestattet wird, dass sie ihren Aufgaben jedenfalls in angemessener Art und Weise ge- recht werden kann. Siegmund Ehrmann (SPD): Zu Beginn will ich da- rauf hinweisen, dass die jetzt zu beratende Vorlage eine Stellungnahme von CDU/CSU und FDP zum Vorschlag der EU-Kommission für das Programm „Kreatives Europa“ ist. Daneben gibt es aber eine gemeinsame Stel- lungnahme von SPD, Grünen und Linken, die im Aus- schuss keine Mehrheit fand. Zwar sind wir uns in Be- wertung des Programms „Kreatives Europa“ einig. Die Koalition war bei wichtigen Punkten allerdings nicht be- reit, auf unsere Forderungen einzugehen, sodass wir uns nicht auf eine gemeinsame Stellungnahme einigen konn- ten. Ich bedauere das, zumal wir uns mit dem EU-Pro- grammentwurf „Kreatives Europa“ im Ausschuss für Kultur und Medien intensiv befasst haben. Wir haben uns in einem öffentlichen Expertengespräch intensiv mit den Positionen der EU-Kommission, des Deutschen Städtetages, der Länder, der Beratungsstellen Cultural Contact Point, CCP, und Media Desk sowie des Hauses der Kulturen der Welt in Berlin befasst. Das Haus der Kulturen der Welt war uns deshalb ein wichtiger Ge- sprächspartner, weil es über enorme Erfahrungen mit eu- ropäischen Kulturprogrammen verfügt. Um was geht es bei dem Programm „Kreatives Europa“? Die EU-Kommission unterbreitet damit einen Vorschlag, wie die Förderung von Kultur, Medien sowie Kultur- und Kreativwirtschaft durch die EU in der kom- menden Finanzperiode 2014 bis 2020 strukturell ausse- hen und finanziell ausgestattet sein soll. Sie schlägt unter anderem vor, die bisher existierenden Programme „Kul- tur“, „Media“ und „Media Mundus“ unter einem Dach zusammenzufassen und mit einem neuen Aktionsbereich zur Förderung der Kultur- und Kreativwirtschaft zu er- gänzen. Unter anderem soll eine Finanzfazilität geschaf- fen werden, die kleinen und mittleren Unternehmen der Kultur- und Kreativwirtschaft den Zugang zu Finanzie- rung erleichtert. Verbunden sein soll dies mit einem Auf- wuchs der Mittel. Auch wir begrüßen, dass die Programme „Kultur“ und „Media“ fortgeführt und die Mittel aufgestockt werden. Zugleich befürchten wir aber, dass das Profil dieser mittlerweile etablierten und zu einem Begriff gewordenen Programme darunter lei- den wird. Zudem fordern wir, dass die Mittel für die einzelnen Aktionsbereiche des Programms „Kreatives Europa“ festgeschrieben werden, damit nicht einseitig die Kultur- und Kreativwirtschaft gefördert, die Kulturförderung jedoch ins Leere läuft. Wir fordern zudem, dass die bis- herigen Betriebskostenzuschüsse für europäische Netz- werke von Kulturverbänden und -institutionen erhalten bleiben. Sie sind es, die mit ihrer Arbeit für ein europäi- sches Verständnis von Kultur werben und Europa als vielfältigen Kulturraum erlebbar machen. Wir wollen, dass im Aktionsbereich „Kultur“ eben nicht vorrangig gewinnorientierte Projekte gefördert werden. Wir for- dern darüber hinaus, dass die bestehenden Beratungs- strukturen für die Programme „Kultur“, „Media“ und „Media Mundus“, die bereits erwähnten CCP und „Me- dia Desk“ mit ihrem Know-how erhalten bleiben. Wir erwarten auch – und das ist uns der wichtigste Kritik- punkt –, dass die europäische Kulturförderung nicht pri- mär ökonomischen Zielen untergeordnet werden darf. So wichtig es ist, die Kultur- und Kreativwirtschaft zu för- dern, so wichtig war und bleibt es, in der Kultur gerade das, was sich nicht rechnet, zu schützen und zu fördern. Damit stellen wir uns nicht gegen die Kultur- und Kreativwirtschaft, ganz im Gegenteil. In unserem Kon- zept des Kreativpaktes, mit dem die SPD die Potenziale der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland för- dern will, beschreiben wir, wie Rahmenbedingungen für die Kultur- und Kreativwirtschaft verbessert werden können. Wir mahnen an, dass die öffentliche Kulturför- derung nicht dem Primat des Ökonomischen unterwor- fen werden kann und darf. Sie gibt Kunst und Kultur den geschützten Raum, der notwendig ist, um unsere Gesell- schaft mit künstlerischen und kreativen Impulsen zu reflektieren, zu hinterfragen und zu bereichern. Das muss auch im europäischen Kontext sichergestellt blei- ben, um die kulturelle Vielfalt erlebbar zu machen. Ganz sicher müssen Rahmenbedingungen für die Kultur- und Kreativwirtschaft auch in Europa verbessert werden, um die vorhandenen Potenziale zu stärken. Die Mitteilung der EU-Kommission „Die Kultur- und Kreativwirtschaft als Motor für Wachstum und Beschäftigung in der EU unterstützen“ vom Herbst 2012 macht dies sehr deutlich, deutlicher im Übrigen als dies aktuell in den Bemühun- gen der Bundesregierung zur Unterstützung der Kultur- und Kreativwirtschaft in Deutschland erkennbar ist. Gleichwohl brauchen wir eine europäische Kulturför- derung, die dem Anspruch eines gemeinsamen europäi- schen Kulturraumes verpflichtet bleibt. Mit dieser Bewertung stimmen wir mit vielen anderen Akteuren in Deutschland überein, wie das Expertengespräch im 26982 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Ausschuss für Kultur und Medien gezeigt hat. Auch der Bundesrat hat sich in seiner Stellungnahme an die EU- Kommission in dem von mir vorgetragenen Sinne ge- äußert. Neben den bereits zuvor genannten Kritikpunkten hat der Bundesrat auch die Ausgestaltung des Programms in Form einer Verordnung kritisiert. Hierin wird die Gefahr gesehen, dass die Mitgliedstaaten bei der Umsetzung des Programms unzureichend beteiligt werden könnten, eine Einschätzung, die wir und der zuständige Ausschuss im Europäischen Parlament teilen. Die Koalition war nicht bereit, diese Kritik anzuerkennen. Das ist bedauerlich, zumal wir uns, wie gesagt, in vielen Punkten einig waren und damit als Deutscher Bundestag über alle Fraktionen hinweg eine ähnlich kritische Haltung wie der Bundes- rat, das Europäische Parlament und viele andere Kultur- akteure hätten einnehmen können. Im Ergebnis ergeht eine Stellungnahme an die Europäische Kommission, die zwar generelle Bedenken gegen den Programmvor- schlag beinhaltet, wichtige Kritikpunkte jedoch vernach- lässigt. Voraussichtlich wird die irische Präsidentschaft die Verhandlungen über diesen Programmvorschlag abschließen. Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dafür einzusetzen, dass alle – auch die von der Opposi- tion, dem Bundesrat und vielen Kulturakteuren einge- brachten Kritikpunkte – in diese abschließenden Bera- tungen einfließen. Allen, vor allem den Kultur- und Kreativschaffenden, ist damit geholfen, wenn ein mög- lichst breiter Konsens über die zukünftigen Förderinstru- mente der EU besteht. Dass es diese Förderung für einen gemeinsamen Kulturraum Europa braucht, darüber sind sich alle einig. Europa ist zuallererst eine kulturelle Wer- tegemeinschaft. Europa darf sich nicht auf Fragen der Wirtschafts-, Währungs- und Finanzpolitik reduzieren. Das vom gegenseitigen Verständnis getragene Zusam- menwachsen Europas kann nur gelingen, wenn wir es schaffen, uns die reichhaltige und vielfältige Kulturland- schaft Europa gemeinsam zu erschließen. Reiner Deutschmann (FDP): Europa, gemeint ist damit die Europäische Union, ist in diesen Tagen kein unbelastetes Wort mehr. Die Finanz- und Schuldenkrise dominiert die Berichterstattungen, und es wird dadurch kaum wahrgenommen, wenn andere europäische Themen diskutiert werden. Dabei steht Europa heute für die Vielfalt unserer Kulturen, für die Verständigung der Menschen in Europa und für das friedliche Zusammen- leben von Nationen. Die europäische Einigung ist ein Geschenk, das gerade wir Deutschen nicht hoch genug schätzen können. Fakt ist: Europa ist für viele Bürgerinnen und Bürger leider sehr weit weg, die Berührungspunkte sind ver- meintlich überschaubar. Dies ist aber ein Irrtum. Viele europäische Programme und Initiativen beeinflussen im Positiven wie im Negativen unser tägliches Leben, von EU-Verordnungen über Richtlinien bis zu zahlreichen EU-Förderprogrammen. Straßen und weitere Infrastruk- turprojekte werden mit EU-Hilfe realisiert. Ein gemein- samer Rechtsrahmen wird abgesteckt und damit gleiche Bedingungen für alle Bürgerinnen und Bürger in der ganzen EU geschaffen. Aber hier liegt auch eines der großen Probleme; die Überregulierung aus Brüssel. Aus diesem Grund ist es auch für die nationale deutsche Politik wichtig, sich rechtzeitig und vor allem substan- ziell zu beteiligen und einzubringen. Was in Brüssel und Straßburg beschlossen wird, hat Auswirkungen auf unser aller Leben. Dass Europa mehr ist als die Summe seiner Schulden und seiner Ratings bei den großen Ratingagenturen, zei- gen die derzeitigen EU-Haushaltsverhandlungen ganz eindrücklich. Hier sieht man die Vielfalt an Themen, die durch die Europäische Union und ihre Institutionen be- gleitet und gestaltet werden. Gegenüber dem Haushalt 2007 bis 2013 wird der Haushalt 2014 bis 2020 um 5 Prozent aufwachsen auf dann 1,025 Billionen Euro. Das ist viel Geld. Daher ist es das gute Recht und die Pflicht der Politik, über diesen Haushalt ausführlich und sorgfältig zu beraten. Für den Zeitraum 2014 bis 2020 werden auch die Kultur- und Medienprogramme der Europäischen Union neu aufgelegt. Wir Liberale begrüßen dabei ausdrücklich die Zusammenführung der Programme „Kultur“, „Me- dia“ und „Media Mundus“ in einem einheitlichen Pro- gramm „Kreatives Europa“, führt dies doch zu einer Ver- schlankung des Verwaltungsapparates, zum Abbau von Bürokratie und zu besserer Übersichtlichkeit. Aber die- ser Umbau darf nicht zur Schwächung der europäischen Kultur- und Medienförderung führen. Deshalb haben die Koalitionsfraktionen von CDU/CSU und FDP das heute debattierte Programm „Kreatives Europa 2014–2020“ nicht nur zur Kenntnis genommen. Wir haben uns aktiv in die Debatte eingebracht und unsere Anmerkungen so- wie Wünsche verbindlich als Handlungsauftrag an die Bundesregierung für die Verhandlungen auf EU-Ebene weitergegeben. Wir Liberale bedauern sehr, dass es im Kulturaus- schuss trotz sehr großer inhaltlicher Nähe zu keinem fraktionsübergreifenden Entschließungsantrag gekom- men ist. Dennoch denke ich, dass die Opposition große Teile unseres Antrages ebenso mittragen kann, wenn auch einzelne Stellschrauben nicht ganz so gesetzt worden sind, wie es sich die Oppositionsfraktionen ge- wünscht hätten. Einig sind wir uns, so denke ich, dass der Stellenwert der Kultur innerhalb des Programms „Kreatives Europa“ nicht hinter die Wirkungen und das Gewicht der alten Kultur- und Medienprogramme zu- rückfallen darf. Inzwischen haben wir aus Brüssel posi- tive Signale erhalten, dass man sehr darauf achte, dass die Kultur ihren Stellenwert neben dem Medienteil des Programms erhalten kann. Wünschenswert wäre auch aus unserer Sicht, wenn finanzielle Mindestanteile für die jeweiligen Sparten in dem Programm festgeschrie- ben werden könnten. Dies dient dem Schutz der einzel- nen Programmteile und verhindert die Mittelverschie- bung in den einen oder anderen Teil, was Schieflagen zur Folge hätte. Ganz konkret sollten bewährte Werk- zeuge europäischer Kulturförderung wie die Europäi- sche Kulturhauptstadt oder die Cultural Contact Points nicht nur erhalten bleiben, sondern ständig weiterentwi- ckelt werden. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26983 (A) (C) (D)(B) Wichtig ist uns Liberalen, noch einmal festzustellen, dass die Kultur der Subsidiarität unterliegt. Ein Europa, das von der Vielfalt seiner Kulturen profitieren will, kann nicht zentralistischen Vorgaben unterworfen wer- den. Dies würde die gerade gewollten Unterschiede der einzelnen Kulturen und damit ihre Identität gefährden. Dies kann niemand in Europa wollen. Deswegen fordern wir die Bundesregierung auf, die Subsidiarität der Kultur auf EU-Ebene gebührend zu beachten und zu verteidigen und sich weiter für die Wahrung der Freiheit und der Staatsferne der Kultur einzusetzen. Ganz wichtig ist uns auch, festzuhalten, dass der Kultur in Europa eine identitätsstiftende Rolle innerhalb der europäischen Integration zukommt. In Zeiten der Krise wird deutlich, wie wichtig die Herausbildung einer eigenen europäischen Identität ist, die durch den inter- kulturellen Dialog, den leichteren Zugang zu Kultur und die Angebote der kulturellen Bildung unterstützt wird. Wir begrüßen ausdrücklich, dass diese Aspekte in dem Programm „Kreatives Europa“ enthalten sind. Der Kultur kommt eine doppelte Rolle als Wirt- schafts- und Kulturgut zu. Mit unserem Antrag wenden wir uns aber gegen eine hauptsächlich ökonomische Betrachtung der europäischen Kulturförderung. Wir for- dern deshalb, dass nur nicht gewinnorientierte Projekte durch die europäische Kulturförderung unterstützt wer- den sollen. Sorge macht uns die geplante Streichung der Be- triebskostenzuschüsse für europäische Netzwerke. Wir finden, dass die Kultur nicht durch die Neuausrichtung bzw. Verschlankung der europäischen Kulturförderung geschädigt werden darf. Die Netzwerke unterstützen maßgeblich das Zusammenwachsen Europas. Da die Finanzdecke dieser Netzwerke oftmals sehr dünn ist, würde der Wegfall der Zuschüsse ein erfolgreiches Instrument europäischer Integrationspolitik ernsthaft bedrohen. Hierauf sollte bei der Programmumstellung ein besonderes Augenmerk gelegt werden. Einen Hinweis möchte ich als ehemaliger Kommu- nalpolitiker zum Schluss noch loswerden. Kulturförde- rung findet natürlich nicht nur in Kulturprogrammen statt. Gerade die EU-Strukturförderung zum Beispiel durch EFRE-Mittel leistet einen großen Beitrag zum Er- halt und zum Ausbau der kulturellen Infrastruktur. Daher sollten die Programme für Strukturförderung mit den Kultur- und Kreativprogrammen enger abgestimmt wer- den, um den positiven Effekt der einzelnen Förderungen nochmals zu verstärken. Mit dem Programm „Kreatives Europa“ sind wir für die Jahre 2014 bis 2020 gut aufgestellt. Mit dem skiz- zierten Fine-Tuning kann es ein erfolgreiches Programm werden, zum Nutzen der Kultur und der Bürger in der Europäischen Union. Dr. Lukrezia Jochimsen (DIE LINKE): Das vorlie- gende Programm „Kreatives Europa“ spricht nicht die Sprache der Kultur. Es vollzieht einen klaren Paradig- menwechsel in der Förderpolitik der EU. Denn die bis- herige Zielsetzung hat sich dramatisch von der Kultur- förderung hin zu einer Wirtschaftsförderung verschoben. Standen bisher im Bereich Kultur das künstlerische Schaffen, der Erhalt und Schutz des kulturellen Erbes und der nichtkommerzielle Kulturaustausch im Vorder- grund, spricht die EU-Kommissarin für Bildung, Kultur, Mehrsprachigkeit und Jugend, Androulla Vassiliou, nun vom Beschäftigungspotenzial der Kultur- und Kreativ- branche, die EU-Fördermittel sollen helfen, neue Publi- kumsschichten zu erreichen und neue Märkte zu erobern. „Kreatives Europa“ – das heißt jetzt: Wettbewerbsfähig- keit stärken, durch Investition den Beitrag der Kultur- und Kreativbranche zum Wirtschaftswachstum erhöhen. Innovation, Beschäftigung und gar der soziale Zusammen- halt sollen so vorangetrieben werden. Das Programm „Kreatives Europa“ vermischt auf diese Weise Unglei- ches, nämlich ein Wirtschaftsförderungsprogramm für die Kultur- und Kreativindustrie einerseits und ein In- strument zur Förderung der kulturellen Zusammenarbeit in Europa andererseits. Das kann nicht funktionieren. Der Kultursektor funktioniert nach grundsätzlich ande- ren Regeln als der Wirtschaftssektor und wird auch nach anderen Kriterien beurteilt. Trotz der massiven Einwände gegen den Entwurf hat der Rat der Europäischen Union in den bisher vorge- nommenen zwei „allgemeinen Ausrichtungen“ des Pro- gramms nur einigen Kritikpunkten Rechnung getragen. So zum Beispiel gibt es eine stärkere Betonung des ide- ellen Werts und der Doppelnatur von Kulturgütern, auch werden die Einflussnahmemöglichkeiten der Mitglied- staaten bei der Durchführung des Programms gestärkt. Aber das bleiben leere Worte, wenn nicht erstens Kultur- förderung auf Non-Profit-Projekte beschränkt wird, zweitens qualitativ evaluiert und drittens die finanziellen Mindestanteile der Säulen „Kultur“ und „Media“ festge- schrieben werden. Die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch die Bundesregierung und alle Fraktionen dieses Hauses, will diese drei Punkte im Programm durchgesetzt sehen. Das steht zu Recht auch in der vorliegenden Beschlussemp- fehlung. Die Linke hat aber auch wesentliche Bedenken ge- genüber dieser Empfehlung. Wir halten es für vollkom- men inakzeptabel, dass die zur Verfügung stehenden Mittel im mehrjährigen Finanzrahmen auf 1 Prozent des EU-Bruttonationaleinkommens beschränkt werden sollen, wie es in der vorliegenden Beschlussfassung steht. Diese Grenze muss aus unserer Sicht aufgehoben werden. Zum anderen lehnen wir den in der Vorlage gemachten Bezug zu der Europa-Strategie 2020 ab, denn diese misst allein mit ökonomischen Maßstäben. Darum lehnt die Linke diese Beschlussempfehlung ab. Die vielgepriesene vorgesehene Mittelausstattung von 1,8 Milliarden Euro kann aus unserer Sicht nur ein Mini- mum sein. Zudem ist sie bisher allein vorgesehen und mitnichten von einem Beschluss bestätigt. Die EU- Haushaltsverhandlungen zum mehrjährigen Finanzrah- men 2014 bis 2020 dauern noch an, der endgültige Be- schluss des Verordnungsentwurfes ist erst im Februar 2013 möglich. Insofern stellt sich hier die Frage, wie re- levant unsere Vorschläge und Vorstellungen für das Pro- 26984 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) gramm „Kreatives Europa“ überhaupt sein können. Wir sollten nicht vergessen: Es ist gerade die deutsche Bun- desregierung, die im EU-Haushalt massive Kürzungen durchsetzen will und auf die Schuldenbremse pocht. Diese von Deutschland forcierten Einschnitte würden aber neben der EU-Regionalförderung auch die euro- päischen Kultur- und Bildungsprogramme treffen. Denn obwohl auf höchster Ebene immer die gemeinsamen kul- turellen Werte Europas beschworen werden, wird dann doch zuerst bei Kultur- und Bildungsförderung gespart. Wir fordern eine stärkere Beachtung der Kultur im Haushalt insgesamt. Was sind 1,8 Milliarden Euro, wenn es um mehr als 450 Millionen Menschen und 37 Länder geht? Darüber hinaus wird sich der Kreis der Teilneh- merländer in den nächsten Jahren um weitere Nachbar- staaten zum Beispiel aus der Balkanregion erweitern. Das heißt, das Geld wird für mehr als die bisherigen 37 Länder reichen müssen. Man kann hier auch so rech- nen: Beträgt der finanzielle Anteil des Bereichs Kultur im Programm „Kreatives Europa“ laut Mitteilung der EU-Kommission für die siebenjährige Laufzeit bis 2020 etwa 497 Millionen Euro, dann bedeutet das herunterge- rechnet auf ein Jahr und ein Land eine Summe von 2,6 Millionen Euro. Damit liegt man bei einem Bruchteil des Budgets eines großen Theaters. Und hier sind nur die 27 Kernländer der EU berechnet worden. Nimmt man die reale Teilnehmerzahl von 37 Ländern, dann ergibt diese Rechnung 1,91 Millionen Euro pro Jahr und Land. Das ist geradezu lächerlich. Das Programm „Kreatives Europa“ muss, um seinem Namen gerecht zu werden, sich klar gegen eine ökono- mische Sichtweise von Kultur und Kulturförderung aus- sprechen und mehr Mittel für Kultur garantieren. Es kann nur funktionieren, wenn es nicht als für sich ste- hend betrachtet wird – im Blick müssen gleichzeitig die EU-Strukturfonds bleiben; denn diese bisher finanziell wesentlich besser ausgestattete EU-Strukturförderung ergänzt die Kulturförderung. Und eines sollte in dieser Debatte nicht in Vergessenheit geraten: Kulturpolitik darf nicht auf Kulturförderprogramme reduziert werden. Notwendig ist es in einem Europa, das gegenwärtig durch nationale Strömungen und eine immer stärker werdende soziale Schieflage geprägt ist, auf die integra- tive Kraft der Kultur zu setzen. Auch wenn es kein Problem der Bundesrepublik Deutschland direkt ist, ist doch zu fragen: Was bietet das EU-Programm „Kreatives Europa“ den Katalanen und den Schotten, die in dieser Zeit auf ganz andere, neue Weise auf ihre Kultur als Identitätsstiftung innerhalb Europas setzen? Die Frage stellt sich, ob die Zeit über dieses EU-Programm nicht längst hinweggegangen ist. Agnes Krumwiede (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Kultur hat einen Wert an sich und muss keinen wirt- schaftlichen Zweck erfüllen. Es ist jedoch unbestritten, dass Kultur auch ein starker Wirtschaftsfaktor ist – in Deutschland liegt die Bruttowertschöpfung der Kultur- und Kreativwirtschaft in einer vergleichbaren Größen- ordnung mit den großen Industriesektoren Automobil und Maschinenbau. Nicht mit ökonomischen Parametern messbar ist, was Kultur für das Leben des Einzelnen, für den grenzüber- schreitenden Zusammenhalt und die Völkerverständi- gung bedeutet: Kunst und Kultur können elementare Identifikationspotenziale entfalten, die Europa noch mehr zusammenwachsen lassen. Kultur ist ein emotio- nales und ideelles Fundament für ein starkes Europa. Wir begrüßen daher, dass sich die Koalition im Forde- rungsteil ihres Entschließungsantrags gegen eine haupt- sächlich ökonomische Betrachtung der europäischen Kulturförderung ausspricht. In einigen zentralen Punkten hat sich die Koalition den Vorstellungen der Opposition angenähert: Dass Sie jetzt auch bei der Kulturförderung Non-Profit-Projekte mit aufgenommen haben, findet ebenso unsere Zustim- mung wie die Forderung, dass nicht nur quantitative, sondern auch qualitative Indikatoren bei der Evaluation berücksichtigt werden sollen. Jetzt komme ich allerdings zu den entscheidenden Punkten, die unsere Ablehnung Ihres Entschließungs- antrags begründen: 1,8 Milliarden Euro über einen Zeitraum von sieben Jahren soll die europäische Kultur- und Kreativbranche erhalten. Das entspricht einer Erhöhung von 37 Prozent im Vergleich zu den derzeitigen Ausgaben. Das ist ein verheißungsvolles Versprechen für die europäische Kul- turförderung. Aber kann es auch eingehalten werden? Der Streit um den Mehrjährigen Finanzrahmen der EU zeigt, dass momentan eher Budgetkürzungen angesagt sind. Um 10 Prozent soll der europäische Haushalt bis 2020 gekürzt werden. Gesunde Skepsis ist also dahin gehend angebracht, ob die Erhöhungen für den Kultur- bereich tatsächlich umgesetzt werden können. Anlass zum Zweifel gibt auch der Entschließungsan- trag der Koalition: Darin unterstützen Sie das Anliegen der Bundesregierung, die Mittel für das Programm „Kreatives Europa“ auf 1 Prozent des EU-Bruttonatio- naleinkommens zu begrenzen. Das heißt, wenn das Bruttonationaleinkommen sinkt, würde auch der Finanz- rahmen kleiner. Direkt davon betroffen wäre jedoch nicht das Finanzierungsinstrument, also die mit der Ver- waltung beauftragten Banken, sondern die Förderpro- gramme „Media“ und „Kultur“. Wir fordern von der Bundesregierung ein klares Bekenntnis, dass an den Förderlinien „Kultur“ und „Media“ nicht gespart wird. Wenn der Finanzrahmen nicht eingehalten werden kann, dann muss das neue Finanzierungsinstrument Kürzun- gen in Kauf nehmen, nicht die Förderlinien! Im Unterschied zum Entschließungsantrag der Oppo- sitionsfraktionen drückt sich Schwarz-Gelb vor einer Antwort, wie die im Programm geplante Streichung der Betriebskostenzuschüsse für europäische Netzwerke kompensiert werden kann. Wir dagegen setzen uns für adäquate Fördermaßnahmen ein; denn ohne kontinuier- liche Förderung der europäischen Netzwerke fehlt dem Programm ein wichtiges Verknüpfungs- und Kommuni- kationsinstrument. Gleichermaßen kritisch sehe ich, dass im Antrag der Koalition die Forderung fehlt, dass sich die Mitglied- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26985 (A) (C) (D)(B) staaten bei der Gestaltung des Programms weiterhin ein- bringen können; ich halte das Mitsprache- und Mitge- staltungsrecht der EU-Länder für eine notwendige Voraussetzung, damit Akzeptanz für und Identifikation mit dem Programm erhalten bleiben. Zusammengefasst lässt sich festhalten: Wir sind uns einig, dass das Programm „Kreatives Europa“ viel Potenzial verspricht zur Stärkung der europäischen Kul- turförderung, zur Bewahrung unserer kulturellen und sprachlichen Vielfalt. Die Zielsetzung des Programms finden wir richtig; es geht um die Förderung der Kultur- und Kreativbranche und um eine Intensivierung der Potenziale des digitalen Zeitalters. Im Detail jedoch muss möglichen Fehlentwicklungen vorgebeugt werden: Die neuen Finanzierungsinstru- mente müssen auch die Bedürfnisse von Kleinstunter- nehmen im Kulturbereich berücksichtigen. Außerdem darf sich die Zusammenführung der Programme „Kul- tur“ und „Media“ nicht nachteilig auf einen der beiden Bereiche auswirken. Und die Gefahr, dass sich das neue Programm zu einseitig auf Wirtschaftsförderung kon- zentriert, ist noch nicht gebannt. Auch weiterhin ist eine intensive Begleitung des Programms durch die Länder- parlamente notwendig. Umso wichtiger wäre gewesen, dass sich die Koali- tion in ihrem Entschließungsantrag eindeutig positioniert für flankierende Maßnahmen zur Stabilisierung des Finanzvolumens, für eine Kompensation der Betriebs- kostenzuschüsse für europäische Netzwerke und für ein weiteres Mitgestaltungsrecht der Mitgliedstaaten. Diese Chance haben Sie verpasst, wir werden Ihren Antrag daher ablehnen. Anlage 12 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung des Entwurfs eines Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes (Tagesordnungspunkt 21) Robert Hochbaum (CDU/CSU): Vertrauen, Hoch- achtung, Stolz und Dankbarkeit – diese vier Attribute verbinden unsere Bürgerinnen und Bürger hauptsächlich mit der Bundeswehr. Das ist das Ergebnis einer aktuellen Bevölkerungsumfrage des Sozialwissenschaftlichen In- stituts (der Bundeswehr). Demnach definieren drei von vier Bürgern ihre Haltung gegenüber den Streitkräften als „sehr positiv“ oder „eher positiv“. Eine weitere Umfrage durch Emnid stellte heraus, dass 86 Prozent der Bürgerinnen und Bürger der Ansicht sind, dass die Bundeswehr relevant für Deutschland ist. Diese Werte stimmen zuversichtlich. Sie zeigen, dass die Bundeswehr weiterhin in der Mitte der Gesellschaft verankert ist. Das ist besonders vor dem Hintergrund relevant, dass mit der Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 ein wichtiger gesetzlicher Anker weggefal- len ist. Durch den jährlichen Einzug von zuletzt ungefähr 50 000 jungen Männern war ein steter Austausch zwi- schen Bundeswehr und der sie tragenden Gesellschaft gewährleistet. Auch die Führungsphilosophie „Innere Führung“ in Verbindung mit dem Leitbild des „Staats- bürgers in Uniform“, also die Verknüpfung zwischen Gesellschaft und Militär, waren eng mit der Wehrpflicht verbunden. Auch deshalb war ich bis zum Schluss ein Verfechter der allgemeinen Wehrpflicht. Allerdings offenbart die zuvor genannte Zahl auch eine der größten Schwächen der zuletzt geltenden Einbe- rufungspraxis. So standen pro Jahr knapp doppelt so viele junge Männer zur Verfügung, wie letztendlich ein- berufen werden konnten. Durch Kriegsdienstverweige- rung und Ausmusterung wurde die Zahl derjenigen, die letztendlich für den Dienst in den Streitkräften infrage kamen, weiter reduziert. Das Argument der Wehrunge- rechtigkeit kann damit als stichhaltig gelten. Auch die zuletzt gültige Dauer von nur noch sechs Monaten wirft die Frage auf, inwiefern in dieser Zeit positive Effekte für den Wehrpflichtigen selbst sowie die Streitkräfte als Ganzes erzielt werden konnten. Somit war die Aussetzung der Wehrpflicht eine folge- richtige Entscheidung, die den Entwicklungen Rechnung trug und auch von mir – wenn auch schweren Herzens – mitbeschlossen wurde. Oberstes Ziel muss auch in Zukunft sein, dass die Bundeswehr ein integraler Bestandteil unserer Gesell- schaft bleibt. Natürlich sind auch die Berufssoldaten, Soldaten auf Zeit und die Freiwilligen Wehrdienstleis- tenden sowie ihre Angehörigen integrale Bestandteile der Gesellschaft. Während sie jedoch bewusst eine Ent- scheidung für die Bundeswehr treffen, waren damals die potenziellen Wehrpflichtigen dazu „gezwungen“, sich zumindest einmal intensiv mit dem Thema zu befassen, unabhängig davon, ob sie ausgemustert wurden oder den Dienst verweigerten. Damit die Umfragewerte, wie oben beschrieben, auch in Zukunft so positiv bleiben, ist es wichtig, dass sowohl wir als Parlament als auch die Bundeswehr selbst ihren Beitrag leisten, um in der Mitte der Gesellschaft vertre- ten zu bleiben. Mit dem nun vorliegenden Gesetzentwurf gehen wir folgerichtig einen letzten bzw. wesentlichen Schritt im Sinne des Freiwilligen Wehrdienstes. Wir regeln bzw. übernehmen diesen als besonderes staatsbürgerliches Engagement im bzw. in das Soldatengesetz. Damit schaffen wir eine einheitliche Grundlage für den Dienst aller Soldaten in den Streitkräften. Auch wenn der Frei- willige Wehrdienst weiterhin vom Dienst der Berufssol- daten und Soldaten auf Zeit abgegrenzt wird, so existiert in Zukunft nur noch ein Dienstrecht, nämlich das Solda- tengesetz. Dies trägt im Übrigen auch zur Entbürokrati- sierung bei. Der uns vom BMVg im Oktober vergangenen Jahres vorgelegte Erfahrungsbericht über ein Jahr Freiwilligen Wehrdienst zeigt uns, dass wir 2011 die richtige Ent- scheidung getroffen haben und uns seitdem auf einem guten Weg befinden. 26986 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) Die FWDLer sind hochmotiviert, weisen ein gutes Bildungsniveau auf und zeigen eine große Einsatzbereit- schaft. Das vorhandene Bewusstsein, etwas für sein Land zu tun, ist dabei besonders wertvoll. Es bildet das Fundament für die Verankerung in der Gesellschaft. Wir als CDU/CSU-Bundestagsfraktion stimmen mit dem im Bericht getroffenen Fazit, dass der „Freiwillige Wehrdienst in seiner jetzigen Form erhalten bleiben soll“, vollends überein. Aus diesem Grund sehen wir auch die Vereinheitlichung des Dienstrechtes als konse- quent an und befürworten dies. Wir würden uns freuen, wenn der Großteil des Hauses dem folgen könnte. Lars Klingbeil (SPD): Heute geht es eigentlich nur um eine Formalität. Wir übertragen die im Wehrrechts- änderungsgesetz 2011 beschlossenen Änderungen in das Soldatengesetz. Wir verankern den Freiwilligen Wehr- dienst im Soldatengesetz. Jedoch: Auch wenn es so einfach ist, möchte ich doch noch einmal auf die aktuelle Situation eingehen. Vor über zwei Jahren wurde beschlossen, die Bundeswehr erneut zu reformieren. Die Schuldenbremse war laut dem damaligen Minister der entscheidende Parameter der Reform. Die Reform, die eigentlich gemeinsam mit den Betroffenen gemacht werden sollte, wurde zu einer Reform nach Kassenlage. Es wurden kaum Interessen der Soldatinnen, Soldaten und Zivilbeschäftigten be- rücksichtigt. Es wurde außer Acht gelassen, dass diese Reform nur gelingen kann, wenn alle mitmachen. Statt jedoch die Betroffenen mitzunehmen, wurden sie im Un- klaren gelassen. Auch heute gibt es noch viele Fragezei- chen, darüber, ob sie in der Bundeswehr bleiben und, wenn ja, an welchem Standort. Auch die Abschaffung der Wehrpflicht kam viel zu undurchdacht. Bevor Attraktivitätsmaßnahmen oder ein Nachwuchsgewinnungskonzept geschrieben waren, fehlten schon die nächsten Rekruten. Genau diese wichtigen Bestandteile der Reform kann ich auch heute noch nicht richtig erkennen. Sie haben die Werbung für die Bundeswehr vernachlässigt. Dass dies fehlt, zeigen auch die hohen Abbrecherquoten bei den Freiwillig Wehrdienstleistenden. Diese liegen derzeit bei 30,4 Prozent, Tendenz steigend. Im Vergleich zu den Abbrechern bei sozialen Diensten ist dies eine erschre- ckende Bilanz. Die Frage, die wir uns bei einer solch hohen Zahl stel- len müssen, ist doch: Welche Vorstellungen haben die jungen Leute vom Dienst bei der Bundeswehr, welche Erwartungen haben sie, und wie werden sie im Vorfeld informiert? Bei dieser hohen Quote müssen wir davon ausgehen, dass sie auf die Anforderungen nicht genü- gend vorbereitet werden. Und dies wiederum kann nur damit zusammenhängen, dass es kein ausreichendes Konzept zur Nachwuchsgewinnung gibt. Nach über zwei Jahren Reform und anderthalb Jahren Freiwilligen Wehrdienst ist dies nicht mehr zu rechtfertigen. Sie müs- sen hier dringend evaluieren und nachbessern. Und bei der Gewinnung von neuen Köpfen für die Bundeswehr geht es auch nicht nur – und das sage ich auch immer wieder – darum, den Dienst für neue Solda- tinnen und Soldaten attraktiv zu machen, sondern darum, denjenigen, die schon so lange unserem Land dienen, zu zeigen, dass die Bundeswehr attraktiv ist. Denn sie sind es, die ihren Kindern, Verwandten und Bekannten sagen, dass es sich lohnt, in die Bundeswehr zu gehen. Wenn man sich allerdings die jüngste Studie des BundeswehrVerbandes ansieht, stellt man fest, dass so- gar zwei Drittel, also 63,6 Prozent der Aktiven bei der Bundeswehr, ihren Kindern, Verwandten und Bekannten davon abraten, sich für den Dienst bei der Bundeswehr zu entscheiden. Das ist ein erschreckendes Ergebnis. Wir müssen die Attraktivität erhöhen. Fehlende Beförderungsmöglichkeiten machen die Bundeswehr als Arbeitgeber unattraktiv. Genau darum muss es aber ge- hen: Wir müssen die Attraktivität erhöhen. Deswegen haben wir als SPD auch gefordert, dass sich die Anhe- bung der Planstellenanteile für Unteroffiziere in der Besoldungsgruppe A 9 an den Vorgaben für den mittle- ren Polizeidienst orientiert. Das wäre ein klares Signal der Attraktivität, da so die Unteroffiziere leistungsge- recht befördert werden können. Das Gleiche gilt für die Zeitsoldaten. SaZ 8 und SaZ 12+ werden durch die Veränderungen der Berufs- förderung und der Dienstzeitversorgung benachteiligt. Die wegfallenden Freistellungsphasen müssen durch eine Erhöhung der Übergangsbeihilfen kompensiert werden. Wir müssen dafür sorgen, dass die Bundeswehr die wird, die wir auch wirklich haben wollen, und nicht ein Konstrukt, das unter finanziellem Druck irgendwie zu- sammengeschustert wurde. Was heute in der Reform zerstört wird, können wir später nur mühsam wieder aufbauen. Die Reform wurde mal als tiefgreifendste der Geschichte betitelt. Mittlerweile scheint es aber, dass möglichst wenig verändert werden soll und dabei maxi- mal gespart werden soll. Das kann nicht das Ziel sein. Wir brauchen eine Bundeswehr, die die Herausforderun- gen der Zukunft angehen kann. Dafür brauchen wir die besten Köpfe und Hände, und dafür muss die Bundes- wehr ein attraktiver Arbeitgeber werden. Und es gibt wirklich viele Punkte, an denen Sie die Attraktivität, in der Truppe Dienst zu machen, steigern könnten. Ein großes Thema ist die Vereinbarkeit von Familie und Dienst. Dafür haben Sie bisher viel zu wenig getan. Oft sind die Ehepartner auch berufstätig. Das sollen sie auch sein, das ist gut für unsere Gesellschaft. Aber an- statt diese Paare dabei zu unterstützen, die alltäglichen Herausforderungen zu bewältigen, ignorieren Sie – so habe ich manchmal das Gefühl – die Rufe nach moder- nen Möglichkeiten, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Teilzeitbeschäftigung darf auch in den Streit- kräften kein Fremdwort mehr sein. Wir müssen uns an die Lebensverhältnisse der Menschen, die zur Bundes- wehr kommen, anpassen. Des Weiteren müssen Sie die Telearbeit ermöglichen und endlich dafür sorgen, dass eine flächendeckende Kinderbetreuung eingeführt wird. Auf die Kinderbetreuung weisen wir seit Jahren hin, und nur wenn sich vor Ort die Bediensteten auf eigene Faust einsetzen, ändert sich etwas. Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26987 (A) (C) (D)(B) Ein Arbeitgeber ist nur dann attraktiv, wenn er seinen Mitarbeitern die Chance gibt, sich zu entwickeln und aufzusteigen. Es ist daher zwingend notwendig, dass Sie das Personalmodell nachsteuern, sodass der Abbau des Förderungs- und Verwendungsstaus beseitigt wird und ein transparentes und nachvollziehbares Personal- management ermöglicht werden kann. Die Planungen, die Sie jetzt auf den Weg gebracht haben, haben doch keinen Bestand über 2014 hinaus. Dann müssen Sie sich endlich um die vielen Pendler in der Bundeswehr kümmern. Richten Sie Pendler- wohnungen ein, und behalten Sie die Wahlmöglichkeit zwischen Trennungsgeld und Umzugskostenvergütung bei. Dass wir in den letzten Jahren eine Zahl von 11 150 Freiwilligen erreicht haben, liegt vor allem daran, dass wir im letzten Jahr doppelte Abijahrgänge hatten. Man kann also davon ausgehen, dass die Bundeswehr erst mal noch einmal mit einem blauen Auge davongekommen ist. Langfristig wird das jedoch nicht gut gehen. Spätes- tens ab 2016 werden wir große Probleme haben. Auf die Dauer werden diese Versäumnisse an die Substanz der Bundeswehr gehen. Der demografische Wandel ist da und wird sich in den nächsten Jahren verstetigen. Es ist jetzt an uns, auf diese Veränderungen zu reagieren und die Bundeswehr für die Zukunft aufzustellen. Die SPD hat hierzu mehrfach Vorschläge gemacht. Lassen Sie uns gemeinsam dafür sorgen, dass die Bundeswehr auch in Zukunft ein attraktiver und interessanter Arbeitgeber bleibt. Christoph Schnurr (FDP): Mit der Aussetzung der Wehrpflicht wurde der Pflichtdienst junger Männer in Deutschland 2011 beendet. Die Wehrpflicht war sicher- heitspolitisch nicht mehr begründbar, und auch unter Ge- rechtigkeitsaspekten war es immer schwieriger geworden, die immer geringer werdenden Zahlen an eingezogenen jungen Männern zu begründen. Mit der Unterschreitung der Zwölf-Monats-Grenze (im Jahre 1996) für den Wehrdienst war der Grundwehr- dienst auch hinsichtlich seiner militärischen Sinnhaftig- keit schon zu hinterfragen gewesen. Seit 2004 wurden Grundwehrdienstleistende nicht mehr zu anschließenden Reserveübungen eingezogen. Und somit war die schnelle Aufwuchsfähigkeit der Bundeswehr realistisch höchstens nur noch sehr eingeschränkt gegeben. Der Abschied von der Wehrpflicht fiel schwer. Unter den Abgeordneten des Hohen Hauses gab es eine große Anzahl von ehemaligen Wehrdienstleistenden, für die eine Aussetzung schlicht unvorstellbar war. Ebenso gab es viele Stimmen, die ein Funktionieren der Umstellung auf ein freiwilliges Engagement unser Bürgerinnen und Bürger, gerade im mit der Wehrpflicht verbundenen Bereich des Zivildienstes, bezweifelten. Horrorszenarien wurden entworfen – und traten alle nicht ein. Die Umstellung ist nicht ohne Probleme und Heraus- forderungen verlaufen und auch noch nicht abgeschlos- sen, aber das große freiwillige Engagement der Bürge- rinnen und Bürger hat all denen widersprochen, die nicht geglaubt haben, dass sich junge Männer und Frauen ohne staatliche Verpflichtung für die Gemeinschaft en- gagieren würden. – Trauen Sie den Bürgern doch bitte etwas mehr zu. Wir, die Liberalen, haben aber schon immer auf das Prinzip der Freiwilligkeit und der positiven Motivation über Anreize gesetzt. Auch das Vertrauen in die Be- reitschaft unserer Bürgerinnen und Bürger, sich für die Gemeinschaft ohne staatlichen Zwang zu engagieren, ge- hört zu den Grundüberzeugungen eines liberalen Denk- ansatzes. Und dieses Vertrauen wurde nicht enttäuscht, sondern hat sich als mehr als gerechtfertigt erwiesen. Deshalb ist es jetzt für den Dienst in den Streitkräften mehr als konsequent, den Freiwilligen Wehrdienst für Männer und Frauen in die Rechtsgrundlage zu überfüh- ren, die seit jeher die Grundlage für den Freiwilligen Dienst von Männern und Frauen in den Streitkräften war: das Soldatengesetz. Das Wehrpflichtgesetz ruht da- mit und wird zukünftig nur noch im Falle der Wiederein- führung der allgemeinen Wehrpflicht Verwendung fin- den. Hoffen wir, dass ein solcher Fall nie eintreten wird. Umgeben von Freunden im Herzen Europas, bin ich da sehr zuversichtlich. Die inhaltsgleiche Übertragung und unveränderte Ab- grenzung zum Status der Zeit- und Berufssoldaten be- gründen sich aus den Besonderheiten des Freiwilligen Wehrdienstes im Rahmen der Freiwilligendienste und des Engagements unserer Bürger, welches wir damit un- verändert besonders honorieren und anerkennen wollen. Des Weiteren bringt die Überführung auf eine andere Rechtsgrundlage keine zusätzlichen Belastungen für die Truppe oder die Soldaten mit sich. Die Herausforderung für die Bundeswehr, sich aktiv um Freiwillige zu bemühen und so attraktiv und über- zeugend zu sein, damit diese auch bleiben, ist ebenfalls unverändert. Daher müssen die Abbrecherquote und die Gründe dafür sorgsam überwacht und hinterfragt wer- den, um die angestrebte Zahl an FWDLern in den Rei- hen der Bundeswehr auch zukünftig zu erreichen. Aller- dings ist dies beim Übergang von einer Wehrpflicht- zu einer Freiwilligenarmee nicht ungewöhnlich und braucht einfach auch etwas Zeit. Hier rate ich daher allen Kriti- kern zu ein wenig mehr Geduld. Insgesamt sehe ich die Bundeswehr dort auf dem richtigen Weg, und dieser Gesetzentwurf ist ein weiterer logischer Baustein und Schritt im Übergang der alten Wehrpflicht- in die moderne Freiwilligenarmee. Paul Schäfer (Köln) (DIE LINKE): Eigentlich müsste man zum vorliegenden Gesetzentwurf kein wei- teres Wort verlieren. Damit wird nur das umgesetzt, was im Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 angekündigt wor- den ist. Der 2011 eingerichtete Freiwillige Wehrdienst wird jetzt auch im Soldatengesetz verankert. Das dient der Schaffung einer einheitlichen Rechtsgrundlage für 26988 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) den Dienst in den Streitkräften. – So weit, so nachvoll- ziehbar. Aber der Gesetzentwurf bestätigt unsere grundlegen- den Einwände. Es bleibt dabei: Die Einführung des Frei- willigen Wehrdienstes als dritte Dienstform ist miss- glückt und wird von uns abgelehnt. Die Bundesregierung muss mühsam mit Begrifflich- keiten jonglieren, um den Freiwilligen Wehrdienst vom Wehrdienst der Berufs- und Zeitsoldaten abzugrenzen. Diese leisten – so ist die Lesart – „Freiwilligen Wehr- dienst aufgrund einer Berufswahlentscheidung“, die FWDler leisten „Freiwilligen Wehrdienst als besonderes staatsbürgerliches Engagement“. Und in der Praxis sind die Unterschiede zwischen Soldaten und Soldatinnen auf Zeit und den Freiwillig Wehrdienstleistenden ohnehin nur mit der Lupe zu ent- decken; das geht auch aus den Antworten der Bundes- regierung auf meine Kleine Anfrage hervor. Beide erhal- ten fast die gleiche Ausbildung, bei den Kostenansätzen des Ministeriums liegen die SaZler lediglich mit etwas mehr als 100 Euro höher pro Jahr. Der einzige nennens- werte Unterschied ist die flexible Festlegung der Dienst- dauer, wobei auch die SaZler in den ersten sechs Mona- ten den Dienst quittieren dürfen. Man sollte wirklich nicht so tun, als ob der Freiwillige Wehrdienst in irgendeiner Form mit den sonstigen For- men des staatsbürgerlichen Engagements und der Ge- meinnützigkeit zu tun habe. Er ist kein Ehrenamt, son- dern ein teurer Schnupperkurs beim Militär. Das macht schon die im Vergleich zu den wirklichen Freiwilligen- diensten atypisch hohe Bezahlung deutlich. Diese Un- gleichbehandlung ist eigentlich nicht zu rechtfertigen. Allerdings liegt der Grund dafür auch auf der Hand: Wer die Streitkräfte weit jenseits des Verteidigungsauftrags einsetzt und für globale Militärinterventionen benutzt, der hat es in der Tat nicht so leicht, junge Menschen zu gewinnen. Der kann sie nicht mit einem Taschengeld ab- speisen, sondern muss eben berufsgruppenübliche Tarife zahlen. Das Ministerium sollte hier lieber Klartext reden: Es geht nicht um die Förderung „staatsbürgerlichen Engage- ments“, sondern um Nachwuchswerbung und die Recht- fertigung eines privilegierten Zugangs zu den Jugendli- chen unseres Landes. So wird mit dem neuen § 58 c Soldatengesetz der Bundeswehr zum Beispiel weiterhin das Privileg eingeräumt, von den Meldebehörden auto- matisch personenbezogene Daten von Minderjährigen übermittelt zu bekommen, um diese dann für ihre Wer- bung zu nutzen. Das ist nicht im Sinne der Jugendlichen. Zieht man nach anderthalb Jahren Bilanz, müsste der Freiwillige Wehrdienst eigentlich als Fehlgriff bewertet und ad acta gelegt werden: Als Instrument der Nach- wuchswerbung ist er untauglich. Bislang bricht ein Drit- tel der FWDler ab. Auch die Bereitschaft zur Weiterver- pflichtung als Soldat oder Soldatin auf Zeit bleibt marginal: Von den insgesamt 8 000 im Juli und Oktober 2011 zum Wehrdienst Herangezogenen haben sich nur 2,5 Prozent als SaZ verpflichtet. Demgegenüber sind die Bewerberzahlen für den Soldatenberuf im üblichen Ver- fahren weiter gleichbleibend hoch. Selbst aus Perspek- tive der Bundeswehr liefert der Freiwillige Wehrdienst hier also keinen Mehrwert. Er bleibt ein erheblicher Personalkostenfaktor. Für nur noch maximal 12 500 FWDler werden weiterhin üppige 250 Millionen Euro pro Jahr eingeplant. Und welcher mi- litärische Mehrwert dadurch entsteht, dass man nicht weiß, ob im nächsten Jahr 5 000 oder 12 500 FWDler ih- ren Dienst antreten oder wie lange diese Dienstleisten- den überhaupt dabeibleiben, bleibt zumindest mir ein Rätsel. Eine Rechtsvereinfachung, die ja Ziel des Gesetzent- wurfs sein soll, lässt sich im Übrigen auch anders herstel- len. Der Verzicht auf den sogenannten Freiwilligen Wehr- dienst würde die Notwendigkeit, ein eigenes Dienstrecht zu konstruieren, beseitigen. Der damit verbundene Büro- kratieaufwand entfiele ebenso wie die erheblichen Kos- ten. Und noch wichtiger: Durch einen Verzicht auf den Freiwilligen Wehrdienst wäre auch der selbstgeschaffene Zwang, für diesen Dienst junge Menschen zu rekrutieren und vor allem Minderjährige mit skandalösen Botschaf- ten von Abenteuer, Spaß und Spielen zum Dienst im Mi- litär zu verführen, aufgehoben. Agnes Brugger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird der Abschied von der Wehrpflicht weiter vollzogen, und das ist richtig, und es wird höchste Zeit dafür. Im März 2011 haben wir im Parlament die Aussetzung der Wehrpflicht beschlossen. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, Sie haben weit mehr als ein Jahr gebraucht, um diesen Ent- wurf nun vorzulegen und den Freiwilligen Wehrdienst damit im richtigen Gesetz, im Soldatengesetz, zu veran- kern. Vielleicht lag das ja auch daran, dass Ihnen der Ab- schied von der Wehrpflicht so lange so sehr schwer ge- fallen ist. Über die gesetzlichen Regelungen hinaus müssen wir darüber diskutieren, ob der Freiwillige Wehrdienst heute tatsächlich richtig aufgestellt ist. Die jüngsten Zahlen zeigen: Es entscheiden sich zunächst genug junge Men- schen für den Freiwilligen Wehrdienst, aber rund 30 Pro- zent von ihnen brechen dann innerhalb der ersten sechs Monate ab. Die Bundesregierung versucht grundsätzlich, die Bedeutung dieser Zahlen zu relativieren. Eine Ab- brecherquote von 30 Prozent lässt sich aber weder igno- rieren noch mit externen Ursachen wie der Zusage für Studienplätze erklären. Letztendlich ist es auch egal, ob 30, 25 oder 27 Prozent aus Gründen, die im Dienst selbst liegen, abbrechen. Fest steht: Es ist eine nicht unerhebli- che Zahl junger Menschen, die bei der Bundeswehr Be- dingungen vorfindet, die sie zum Abbrechen bewegen. Die Zahl dieser Menschen ist im Verlauf der letzten Mo- nate angestiegen. Die jungen Männer und Frauen haben bestimmte Erwartungen an die Bundeswehr als Arbeit- geberin, und ganz offensichtlich werden zu viele dieser Erwartungen enttäuscht. Davor kann man doch nicht die Augen verschließen, sondern man muss nach den Grün- den fragen. Wir Grüne haben bereits bei der Beratung des Wehr- rechtsänderungsgesetzes 2011 gesagt: Für den Freiwilli- Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26989 (A) (C) (D)(B) gen Wehrdienst brauchen wir auch eine Kultur der Frei- willigkeit bei der Bundeswehr und attraktive Rahmenbedingungen. Es ist Aufgabe der Bundesregie- rung, sich mit diesen Fragen ehrlich und intensiv ausein- anderzusetzen, und zwar nicht erst, wenn die Probleme so gravierend sind, dass die Abbrecherquote hoch- schnellt. Unverändert übernimmt der vorliegende Gesetzent- wurf leider die Regelungen zur Weitergabe von perso- nenbezogenen Daten Minderjähriger durch die Meldebe- hörden an das Bundesamt für das Personalmanagement der Bundeswehr. Bei den Beratungen zum Wehrrechts- änderungsgesetz 2011 haben wir dies bereits deutlich kritisiert. Diese Datenübermittlung stellt einen nicht un- erheblichen Eingriff in die Grundrechte aller Jugendli- chen dar. Jeder Eingriff in Grundrechte muss gegenüber seinem Zweck angemessen sein. Der Zweck dieser Da- tenübermittlung ist die Nachwuchswerbung für die Frei- willigenarmee. Wir halten die Nachwuchswerbung nicht für einen ausreichenden Grund, um diesen Grundrechts- eingriff zu rechtfertigen. Diese Datenübermittlung ist nicht legitim. Der Umbau der Bundeswehr zur Freiwilligenarmee mit der Einführung des Freiwilligen Wehrdienstes ist ein richtiger Schritt, der längst überfällig war. Wir dürfen aber nicht den Fehler begehen, den Umbauprozess heute für abgeschlossen zu erklären. Nicht nur die Zahlen mahnen uns, dass eine weitere Auseinandersetzung mit der Ausgestaltung des Freiwilligen Wehrdienstes und den Rahmenbedingungen des Dienstes bei der Bundes- wehr weiter geboten ist. Schließlich muss es uns nicht nur interessieren, wie viele Menschen zur Parlamentsar- mee gehen, sondern auch, wer sich aus welchen Gründen für einen Dienst bei der Bundeswehr entscheidet. Christian Schmidt, Parl. Staatssekretär beim Bun- desminister der Verteidigung: Das Aufgabenspektrum der Bundeswehr hat sich in den letzten Jahren stark ver- ändert. Deutsche Streitkräfte nehmen an friedenschaf- fenden Auslandseinsätzen teil. Weltweite Einsätze stel- len komplexe Anforderungen an die Soldatinnen und Soldaten. Vor diesem Hintergrund hatte die Bundes- regierung am 15. Dezember 2010 beschlossen, die ver- pflichtende Einberufung zum Grundwehrdienst auszu- setzen. Das Wehrpflichtgesetz wurde daher durch das Wehrrechtsänderungsgesetz 2011 dahin gehend geän- dert, dass die gesetzliche Verpflichtung zur Ableistung des Grundwehrdienstes ausgesetzt wurde. An die Stelle des Grundwehrdienstes trat ein neuer Freiwilliger Wehr- dienst von bis zu 23 Monaten für junge Frauen und Männer. Dieser neue Freiwillige Wehrdienst stärkt den Austausch zwischen Gesellschaft und den Streitkräften und ermöglicht jungen Männern und Frauen, einen Dienst für die Gemeinschaft zu leisten. Neben Zeit- und Berufssoldaten sind Freiwillige ein wichtiger Grund- pfeiler der Bundeswehr, da auch länger dienender Nach- wuchs rekrutiert wird. Mit dem Entwurf des Wehrrechtsänderungsgesetzes 2011 hat die Bundesregierung angekündigt, eine einheit- liche Rechtsgrundlage für den Dienst in den Streitkräften im Frieden zu schaffen. Mit dem vorliegenden, heute in erster Lesung zu behandelnden Gesetzentwurf eines 15. Gesetzes zur Änderung des Soldatengesetzes soll diese Ankündigung umgesetzt werden. Parallel zu dem am 12. Dezember 2012 durch das Bundeskabinett behandelten Regierungsentwurf hat eine Fraktionsinitiative der Regierungskoalition die Einbrin- gung des Gesetzentwurfs in wortgleicher Übernahme beschlossen, um ein früheres Inkrafttreten des Gesetzes, voraussichtlich bereits im April dieses Jahres, zu er- möglichen. Hierfür danke ich der CDU/CSU- und FDP- Fraktion. Der Gesetzentwurf sieht vor, die bisher im Wehr- pflichtgesetz enthaltenen Regelungen zum Freiwilligen Wehrdienst als besonderes staatsbürgerliches Engage- ment in das Soldatengesetz zu integrieren. Der Freiwil- lige Wehrdienst wird abgegrenzt von dem Dienst der Be- rufssoldatinnen und Berufssoldaten sowie von den längerfristigen Wehrdienstverhältnissen der Soldatinnen und Soldaten auf Zeit. Er bleibt damit auch erhalten als ein ganz wesentliches Element der Verknüpfung der Bundeswehr mit der Gesellschaft. Wir legen darauf Wert, dass die Bundeswehr als eine Armee in der Gesell- schaft auch ohne aktive Wehrpflicht als „legitimes Kind der Demokratie“ im Geiste von Theodor Heuss verstan- den wird. Die Schaffung einer einheitlichen Rechts- grundlage für das Dienstrecht der Soldatinnen und Soldaten im Frieden durch den vorliegenden Gesetz- entwurf führt zu einer Rechtsvereinfachung, weil dienst- rechtliche Vorschriften über den Freiwilligen Wehrdienst mit lnkrafttreten dieses Gesetzes nur noch in einem Gesetz enthalten sind. Neben den rechtlichen Grundlagen ist vor allem wichtig, dass die Bundeswehr auch künftig eine ausrei- chende Anzahl von jungen Frauen und Männern für den Freiwilligen Wehrdienst interessieren und auch gewin- nen kann. Im letzten Jahr haben über 10 000 junge Frauen und Männer dieses Angebot angenommen und ihren Dienst angetreten. Dies ist doppelt so viel, wie ur- sprünglich für 2012 als Mindestgrenze festgelegt wurde. Für viele Soldatinnen und Soldaten und Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bundeswehr begann und beginnt ihr berufliches Wirken mit dem Kontakt zur Personalgewin- nungsorganisation, die in den letzten Monaten grund- legend neu ausgestaltet wurde. Bei der Neuausrichtung der Personalgewinnungsorganisation der Bundeswehr wurde der Auftritt als Arbeitgeber für zivile wie auch militärische Laufbahnen ganz besonders priorisiert. Die- ser Ansatz erforderte ein Zusammenführen der beiden bislang unabhängig voneinander agierenden Bereiche der zivilen und militärischen Personalgewinnung bei zeitgleicher Auflösung seither bekannter Strukturen. So wurden zum 30. November letzten Jahres unter anderem bereits alle 52 Kreiswehrersatzämter von ihren Aufga- ben entbunden. Lassen Sie mich die Gelegenheit nutzen, allen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern im Wehrersatz- wesen zu danken für ihre Bereitschaft und Fähigkeit, kreativ den Übergang und die neuen Herausforderungen zu gestalten. Um die Bundeswehr wettbewerbsfähig auf dem Arbeitsmarkt zu positionieren und das vorhandene Be- 26990 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) werberpotenzial umfassend ausschöpfen zu können, ist die neue Personalgewinnungsorganisation heute in der Fläche präsent. Eine Beratung über den Arbeitgeber Bundeswehr wird durch einen Verbund von 110 Karrie- reberatungsbüros der Bundeswehr sichergestellt. Sie bie- ten wohnortnahe, umfassende Beratung für alle zivilen und militärischen Berufsbilder der Bundeswehr sowie die Begleitung und Betreuung während des gesamten Verfahrens. Neben diesen Karriereberatungsbüros wur- den zum 1. Dezember 2012 16 Karrierecenter der Bun- deswehr geschaffen. Diese bilden eine zentrale An- sprechstelle unter anderem auch für Politik, Behörden, Wirtschaft, Bundesagentur für Arbeit und Dienststellen der Bundeswehr mit einem umfassenden Beratungs- und Informationsangebot zum Arbeitgeber Bundeswehr. Da- mit gehen wir mit neuem Namen, aber auch mit neuen Ideen und frischen Farben in die Nachwuchsgewinnung. Wegen der gestiegenen Konkurrenz auf dem Arbeits- markt um qualifizierte Kräfte kommt es darauf an, die Bundeswehr im Bewusstsein der Zielgruppe zu halten und Interesse an Tätigkeiten in den Streitkräften oder in der Wehrverwaltung zu wecken. Durch Maßnahmen der Informations- und Öffentlichkeitsarbeit konnten ein po- sitives Image und ein generelles Interesse an der Bun- deswehr erreicht werden, um so attraktive und damit wettbewerbsfähige Karriereperspektiven bewerben zu können. Wie bereits erwähnt, konnten im letzten Jahr rund 10 000 freiwillig Wehrdienstleistende gewonnen werden. Ein ebenso positives Bild zeigt sich auch bei den rund 15 600 Einstellungs- und Erstverpflichtungs- möglichkeiten als Soldatin oder Soldat auf Zelt. Erste Ergebnisse zeigen zudem, dass auch in den kommenden Monaten ein vergleichbar gutes Ergebnis durch die Arbeit der Personalgewinnungsorganisation erreicht werden kann. Die Bundeswehr ist einer der größten Arbeitgeber in Deutschland. Hierbei bietet sie mit ihren unterschiedli- chen Laufbahnen und Werdegängen für jede Zielgruppe und für jedes Bildungsniveau Karrierepotenziale. So etwas ist in dieser Form einmalig in Deutschlands. Die positive wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland, zweifelsfrei höchst erfreulich in der Gesamtbetrachtung, stellt die Bundeswehr jedoch vor weitere Herausforde- rungen. Dies erfordert neben der Notwendigkeit attrakti- ver Angebote von der Personalgewinnung ein Höchst- maß an Innovationsgeschick wie auch Mobilität, um die jungen Menschen in ihrem unmittelbaren Lebensraum zu erreichen und um sie möglichst authentisch und modern über die beruflichen Möglichkeiten beim Arbeit- geber Bundeswehr zu informieren und somit – unter der Vielzahl alternativer Angebote – wahrnehmbar zu bleiben. Die neue Personalgewinnungsorganisation wird hierbei ihren Beitrag zur verbesserten Potenzialaus- schöpfung leisten. Wir haben eine Organisation gestaltet, die den „einen Arbeitgeber Bundeswehr“ in all seinen Facetten – zivil als auch militärisch – an einem Ort prä- sentiert. Gerade dies ermöglicht, jeder geeigneten Be- werberin und jedem geeignetem Bewerber ein für beide Seiten bestmögliches Angebot zu unterbreiten. Ein breiterer fachlicher Ansatz – unter anderem durch eine stärkere Einbindung des Berufsförderungsdienstes – wird den Binnenarbeitsmarkt und den Kreislauf der Ta- lente besser berücksichtigen können. In der neu geschaf- fenen Organisation gelingt es zum ersten Mal, den gesamten Prozess der Personalgewinnung zusammenzu- führen. Das ist wichtig. Damit liegt alles in einer Hand – von Werbung und Beratung über die Einstellung in die Bundeswehr bis hin zum Dienstzeitende – inklusive des Berufsförderungsdienstes, und zwar – das möchte ich besonders herausstellen – militärisch und zivil gemein- sam. Dies bedeutet unter anderem, dass die Bundeswehr nunmehr einheitlich, als ein Arbeitgeber auftritt und fle- xibel alle Angebote kommunizieren kann. Zum anderen ermöglicht diese Organisation eine Optimierung der Zusammenarbeit mit einer Vielzahl an Multiplikatoren in Politik, Wirtschaft und Medien, wie sie bisher noch nicht stattfinden konnte, sowie – und vielleicht im stattfindenden Kampf um Talente entschei- dend – eine erhebliche Verbesserung an Service und Er- reichbarkeit für Menschen in der Phase einer beruflichen (Neu-)Orientierung. Aber auch der Binnenarbeitsmarkt war für die Bundeswehr schon immer von großer Bedeu- tung und wird auch in Zukunft unter den genannten Rah- menbedingungen – und hier vor allem dem anhaltenden Fachkräftemangel – eine wichtige Rolle einnehmen. Um auch künftig genügend Bewerberinnen und Bewerber für einen zeitlich befristeten Dienst in den Streitkräften gewinnen zu können, muss die Bundeswehr neben anderen attraktiven Wettbewerbsfaktoren auch zu- kunftsorientierte zivilberufliche Aus- und Weiter- bildungsangebote sowie verlässliche Anschlussperspek- tiven in die Waagschale werfen können. Und diese Möglichkeiten der Berufsförderung sind ein gutes Pfund, mit dem man wuchern kann. Die neue Personalgewinnungsorganisation ist darauf ausgerichtet, die Regeneration der Stärke von bis zu 185 000 Soldatinnen und Soldaten und 55 000 zivilen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu gewährleisten. Das ist bei zukünftigen Jahrgangsstärken von etwa 650 000 jungen Menschen ein ambitioniertes Ziel, das wir in schärfer werdender Konkurrenz zur übrigen Wirt- schaft erreichen wollen. Anlage 13 Zu Protokoll gegebene Reden zur Beratung der Anträge: – Eigenständige Jugendpolitik – Selbstbe- stimmt durch Freiheit, Gerechtigkeit, Demo- kratie und Emanzipation – Mit einer eigenständigen Jugendpolitik Frei- räume schaffen, Chancen eröffnen, Rück- halt geben (Tagesordnungspunkt 22 und Zusatztagesord- nungspunkt 6) Dr. Peter Tauber (CDU/CSU): Vor uns liegt ein An- trag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der eine ei- genständige Jugendpolitik fordert. Ergänzt wird er durch Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26991 (A) (C) (D)(B) einen Antrag der SPD, der uns in dieser Woche zugegan- gen ist. Wir freuen uns, dass SPD und Grüne, mehrere Monate nachdem die Koalitionsfraktionen einen sehr ausführlichen Antrag eingebracht haben, nun nachzie- hen. Es freut uns, dass sich auch die Grünen zumindest in der Überschrift für eine eigenständige Jugendpolitik interessieren. Ich formuliere dies so, weil man – wenn man den Antrag weiter als zur Überschrift liest – nach Elementen der Jugendpolitik richtiggehend suchen muss. Ich hatte in Vorbereitung unseres Antrags gemein- sam mit dem Kollegen Florian Bernschneider von der FDP die Gelegenheit, eine ganze Reihe von Gesprächen über die Bedürfnisse von jungen Menschen in ihrer indi- viduellen Situation zu führen. Als ehemaliger Vorsitzen- der eines politischen Jugendverbands kenne ich die Dis- kussionen um Jugendpolitik ganz gut. Im Kern geht es darum, wie es Politik schaffen kann, Jugendliche zu un- terstützen, ihren Lebensentwurf entfalten zu können. Ein ganz zentraler Punkt ist dabei aus meiner Sicht die Beteiligung der jungen Menschen an der Gestaltung des für sie relevanten Umfelds. Eine empathische Ju- gendpolitik stellt sich die Frage: Was wollen Jugendliche in ihrem Alltag, und wie können wir sie dabei unterstüt- zen? Unter diesem Aspekt geht der Antrag der Grünen nicht gerade als „Feuerwerk der Empathie“ in die parla- mentarische Geschichte ein. Liest man die Forderungen der Grünen, so fragt man sich, ob die Partei, die sich gerne jugendlich gibt, tatsächlich noch auf der Höhe der Zeit ist. Da steht als oberste Forderung die Senkung des Wahl- alters auf 16 – quasi als bahnbrechende politische Forde- rung. Richtig ist – und das hatte ich ja bereits in der zu- rückliegenden Debatte zur Jugendpolitik geäußert –, dass die Beteiligung junger Menschen an der Gestaltung des für sie relevanten Umfelds ein wichtiger Faktor ist. Die Beteiligung der Jugendlichen an Entscheidungen, die sie unmittelbar betreffen, sollte hier größer geschrie- ben werden als bislang. Dies bezieht sich also insbeson- dere auf die Partizipation vor Ort. Ihr Vorschlag zum Wahlalter der Jugendlichen mag zwar gut ins parteipoli- tische Kalkül der Grünen passen. Ob dies aber tatsäch- lich ein Thema ist, das den Jugendlichen unter den Nägeln brennt, wie der Antrag dies suggeriert – ich wage es zu bezweifeln. Auch die Vorschläge zum Staatsbürgerschaftsrecht hätte ich nicht in einem Antrag zu einer eigenständigen Jugendpolitik erwartet. Generell fehlt dem Antrag eine erkennbare Struktur, die eine ei- genständige Jugendpolitik beschreibt. Vielmehr liest sich der Text wie eine Sammlung klassischer Forderun- gen der Grünen. Deutlich empathischer liest sich da der Antrag der SPD. Aber auch hier finden sich viele Forderungen, die ich nicht zwingend dem Gedanken einer eigenständigen Jugendpolitik zuordnen würde. Ich finde es gut, dass die Kollegen in ihrem Antrag das oft verbreitete negative Bild von Jugendlichen kriti- sieren, das zur Grundlage von Politik herangezogen wird. Dies wird dem hohen Verantwortungsbewusstsein der Jugend nicht gerecht. Dies sehen wir genauso, und ich hatte ja bereits an einigen Stellen die Gelegenheit, diese Position so zu formulieren. Auch ihre Aussagen von einer zu stark defizitorien- tierten Jugendpolitik teilen wir. Aus diesem Grund ha- ben die Koalitionsfraktionen ja bereits einen Antrag gestellt, der sich genau mit dieser Frage beschäftigt. Es muss uns gelingen, sich von diesen Mustern zu lösen und viel stärker als bislang die Lebensrealität der großen Mehrheit der Jugendlichen in den Blick zu nehmen. Lange hat die Politik diese große Gruppe der jungen Menschen, die verantwortungsbewusst und zumeist frei von größeren Konflikten ihren Weg gehen, ein wenig au- ßer Acht gelassen. Sich dieser jungen Menschen anzu- nehmen und über Unterstützung zu reden, ist richtig. Nach unserem Verständnis ist es speziell Aufgabe der Politik, diesen jungen Menschen zu helfen, selbstbe- stimmt ihren Weg zu gehen und Verantwortung zu über- nehmen, etwas über sich und die Welt zu lernen. Darum haben wir beispielsweise die Jugendfreiwilligendienste als Lerndienste massiv ausgebaut. Es freut mich, dass die Kollegen der SPD dies offenbar ebenfalls so sehen. Auch der von Ihnen beschriebene Querschnittsge- danke findet sich ja bereits in unserem Antrag wieder. Gleiches gilt für die Frage, wie wir die Chancen des In- ternets für die Jugendlichen erkennen und entsprechend reagieren. Auch hier erkenne ich nichts Neues in Ihrem Antrag, freue mich aber, dass Sie sich dieser Forderung anschließen. Ein besonders wichtiges Anliegen ist mir in diesem Zusammenhang die Medienkompetenz der Jugendli- chen. Ein Vorschlag, der mir in diesem Zusammenhang besonders wichtig ist, ist die Forderung, zukünftig jeder Schülerin und jedem Schüler einen Laptop bereitzustel- len, damit junge Menschen gleichberechtigt Erfahrungen mit der multimedialen Welt sammeln und Medienkom- petenz in der Schule erlangen können. Mit den Jugendfreiwilligendiensten habe ich bereits einen Aspekt genannt, in dem die Bundesregierung ei- nen wichtigen Beitrag zu einer modernen Jugendpolitik geleistet hat. Es ist eine ganze Reihe von Aspekten zu nennen, die deutlich machen, dass diese Bundesregie- rung die Interessen der Jugendlichen deutlich in den Blick nimmt. Ich bin froh, dass es der christlich-liberalen Koalition gelungen ist, trotz des Spardrucks durch die Schuldenbremse den Kinder- und Jugendplan als zentra- les Förderinstrument der Jugendpolitik weiter auf hohem Niveau aufrechtzuerhalten. Wir haben mit dem Führer- schein mit 17 Jahren die Mobilität von Jugendlichen ver- bessert. Wir haben dafür gesorgt, dass Kinderlärm kein Grund mehr für eine Klage sein kann. Wir haben mit dem Bildungs- und Teilhabepaket für mehr Chancen- gleichheit unter den Jugendlichen gesorgt, und wir ha- ben mit dem Deutschlandstipendium die Bedingungen für Studenten verbessert, ganz gleich, welchen finanziel- len Hintergrund sie haben. Dies sind nur einige Aspekte. Besonders wichtig ist es in diesem Zusammenhang, die niedrige Jugendarbeitslosigkeit zu erwähnen. So ge- lingt es, jungen Menschen in diesem Land Chancen zu bieten. Junge Heranwachsende haben bei uns eine Viel- 26992 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) zahl von Chancen und Möglichkeiten. Dies ist sehr wichtig, und darauf können wir alle stolz sein. Abschließend möchte ich noch auf einen Aspekt hin- weisen, der in der Jugendpolitik sehr wichtig ist. Wir müssen weg von dem Denken kommen, der Staat könne Jugendpolitik von oben umfassend regeln. Richtig ist: Erfolgreiche Jugendpolitik muss individuell gestaltet sein. Wer dem Glauben unterliegt, man könne mit stan- dardisierten Strategien und Angeboten die Lebenswirk- lichkeit von jungen Menschen treffen, wird scheitern. Unterscheiden müssen wir zwischen dem Alter, aber auch zwischen den völlig heterogenen Interessenlagen junger Menschen. Ihre Anträge bilden diesen zentralen Aspekt nur sehr unzureichend ab. Im Vordergrund steht für uns der Aufbau einer eigenständigen Jugendpolitik, die jungen Menschen die Möglichkeiten an die Hand gibt, um ihren Lebensentwurf individuell zu verwirkli- chen. Insbesondere der Antrag der Grünen bleibt hinter diesem Anspruch zurück. Insofern können beide An- träge unsere Zustimmung nicht finden. Norbert Geis (CDU/CSU): Die Vereinten Nationen definieren Jugendliche als Menschen im Alter zwischen 15 und 24 Jahren. Innerhalb dieser Kategorie wird noch- mals zwischen Teenagern zwischen 13 und 19 Jahren und jungen Erwachsenen zwischen 20 und 24 Jahren un- terschieden. Das sind natürlich nur grobe Unterschei- dungen. Die Übergänge sind immer fließend und indivi- duell bzw. vom jeweiligen Menschen abhängig. Ab 18 Jahren ist der Jugendliche erwachsen. Ab diesem Zeitpunkt kann er im Geschäftsleben selbstständig han- deln. Bis dahin sind Rechtsgeschäfte, die er tätigt, un- wirksam, wenn er nicht von seinem gesetzlichen Vertre- ter dazu ausdrücklich bevollmächtigt worden ist. Eine Ausnahme ist die Befugnis gemäß des Taschengeldpara- grafen, § 110 BGB. Im Strafrecht allerdings wird bis zum 21. Lebensjahr Jugendstrafrecht angewandt, wenn im Einzelfall festgestellt wird, dass der Betroffene in sei- ner Entwicklung noch einem Jugendlichen gleichzustel- len ist. Sowohl das Bürgerliche Gesetzbuch als auch das Strafrecht betrachten den Jugendlichen noch nicht als vollverantwortlich. Das Jugendstrafrecht wird vor allem vom Erziehungsgedanken bestimmt, im Gegensatz zum Erwachsenenstrafrecht, in dem der Sühnegedanke domi- niert. Die Jugendpolitik, über die wir heute reden, richtet sich wohl vor allem an die sogenannten Teenager im Al- ter zwischen 13 und 19 Jahren. Die Jugend, in der sich der Mensch vom Kind zum Erwachsenen wandelt, ist ein besonders vielfältiger Le- bensabschnitt. Diese Phase der Adoleszenz ist von tief- greifenden persönlichen Veränderungen geprägt. Der Ju- gendliche ist noch kein Erwachsener, während der Adoleszenz wächst aber sein späteres Profil heran. Es entstehen in ihm die Sichtweisen und Urteile, die ihn als Erwachsener prägen. Dabei ist es wichtig, zu erkennen, dass Jugendliche weder Kinder noch Erwachsene sind. Wie die Kindheit und das Erwachsensein ist auch die Ju- gend eine eigenständige Lebensphase. Diese Eigenstän- digkeit der Jugend hat die Politik zu beachten. Sie darf den Jugendlichen nicht mehr als Kind behandeln. Sie muss aber auch beachten, dass der Jugendliche noch nicht die Reife und Urteilskraft eines Erwachsenen hat, aber auch nicht mehr die Einfalt eines Kindes besitzt. Daher stimme ich dem Grundanliegen der Grünen, eine eigenständige Jugendpolitik zu betreiben, ausdrücklich zu. Es ist richtig, dass dieser besonders vielschichtigen Lebensphase eines Menschen auch in der Politik ein be- sonderer Stellenwert eingeräumt wird. Auf die heranwachsenden Generationen kommen an- gesichts des demografischen Wandels große Herausfor- derungen zu. Zählen wir heute noch 16 Millionen Jugendliche, wird es 2050 voraussichtlich nur noch 11,5 Millionen Jugendliche in Deutschland geben. Die Anforderungen an die kommenden Generationen werden aufgrund des globalen Wettbewerbs kontinuierlich stei- gen. Eine eigenständige Jugendpolitik ist daher ein wichtiger Baustein für die Zukunft unseres Landes. Die Grünen springen allerdings mit ihrem Antrag lediglich auf einen Zug auf, den die Bundesregierung bereits im letzten Jahr in Gang gesetzt hat. Denn die Koalition hat schon im September 2012 einen Antrag für eine eigen- ständige Jugendpolitik verabschiedet. Dieser Antrag geht in vielerlei Hinsicht über die Forderungen der Grü- nen und auch der SPD hinaus. Die Bundesregierung führt längst Fachgespräche mit den Jugendverbänden, um einerseits gemeinsam mit den Experten aus den Ver- bänden und Einrichtungen eine eigenständige Jugendpo- litik zu entwickeln und andererseits Anknüpfungspunkte an die Jugendstrategie der EU – 2010 bis 2018 – zu fin- den. Die Forderungen der Grünen und der SPD wirken vor diesem Hintergrund eher opportunistisch und sind teilweise auch schlecht begründet. So fordern die Grünen in ihrem Antrag beispielsweise die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Ich halte diese Absenkung für realitätsfern und falsch. Die Gesell- schaft traut Jugendlichen im Alter von 16 Jahren aus gu- tem Grund noch nicht zu, ihr Leben eigenverantwortlich zu regeln. Wie oben bereits erwähnt, ist man mit 16 noch nicht in vollem Umfang geschäftsfähig, darf nicht selbst- ständig ein Auto steuern oder Schnaps trinken. Trotz die- ser berechtigten Vorbehalte sollen Jugendliche laut den Grünen das aktive und wohl auch das passive Wahlrecht auf Bundesebene erhalten. Das ist ein kaum nachvoll- ziehbarer Wiederspruch. Mit der Absenkung würde man die Volljährigkeit vom Wahlrecht entkoppeln. Andere Altersgrenzen, wie zum Beispiel das Erreichen der Straf- mündigkeit nach § 19 StGB im Alter von 14 Jahren oder das Verbot von hartem Alkohol bis zum Alter von 18 Jahren bzw. das Erreichen der Geschäftsfähigkeit, würden durch eine Absenkung des Wahlalters als völlig willkürlich erscheinen. Auch gibt es keine empirischen Beweise dafür, dass Jugendliche unter 18 Jahren ein besonderes politisches Interesse haben. Eine Studie der Universität Hohenheim von 2008 bestätigt vielmehr das Gegenteil. Die minder- jährigen Studienteilnehmer wiesen ein deutlich geringe- res politisches Interesse und Wissen auf als die volljähri- gen Studienteilnehmer. Die Minderjährigen waren sich ihrer Wissenslücken auch nicht bewusst und hatten zu- dem größere Schwierigkeiten, die Aussagen von Politi- kern zu verstehen und sie inhaltlich voneinander zu un- terscheiden. Minderjährige sind besonders empfänglich Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26993 (A) (C) (D)(B) für populistische oder extremistische Parolen. Das belegt auch die U-18-Jugendwahl in Baden-Württemberg. Im März 2011 erhielt die NPD bei dieser Probewahl von den ausschließlich minderjährigen Wahlteilnehmern viermal so viele Stimmen, als sie später in der echten Landtagswahl erzielen konnte. Anstatt die Teenager also frühzeitig mit politischer Verantwortung zu überfordern, sollte der Schwerpunkt zunächst auf einer guten politischen Bildung im Schul- unterricht liegen. Hier sind die Länder gefordert. Mit- hilfe neuer Instrumente wie den erwähnten U-18-Ju- gendwahlen können Minderjährige ihr Interesse für Politik entdecken und sich zwanglos mit ihrem Wahl- recht auseinandersetzen. Ich danke daher der Bundesfa- milienministerin, dass sie die Finanzierung des Projektes U-18-Wahl gemäß dem Antrag der Koalition für 2013 fest eingeplant hat und die entsprechenden Mittel zur Verfügung stellt. Diese Bundesregierung fördert schon heute die Mit- sprache von Kindern und Jugendlichen auf kommunaler Ebene. Denn vor Ort wirkt Politik viel realer als im fer- nen Berlin. Im Nationalen Aktionsplan für ein kinderge- rechtes Deutschland, NAP, wurden daher Qualitätsstan- dards für die Beteiligung von Kindern und Jugendlichen entwickelt, die auf kommunaler Ebene Stück für Stück umgesetzt werden müssen. Unter dem Titel „Lokale Al- lianzen für Jugend – Mitdenken, Mitlenken“ werden lo- kale Akteure, die mit Jugendlichen vor Ort arbeiten, zu- sammengebracht, um Synergieeffekte zu erzielen. Mit den Förderprogrammen „Jugend Stärken: Aktiv in der Region“ und „Schulverweigerung – 2. Chance“, die dank dieser Bundesregierung und mithilfe des Europäi- schen Sozialfonds, ESF, fortgesetzt werden können, hel- fen wir gezielt Jugendlichen, die Schwierigkeiten haben, die Phase des Heranwachsens zu bewältigen. Zweifellos gibt es hier viel zu tun. Diese relativ kleinen Problem- gruppen dürfen aber nicht die gesamte Jugendpolitik be- stimmen. Die Koalition hat daher in ihrem Antrag gefordert, dass die Jugendpolitik alle Jugendlichen im Blick haben muss und sich nicht nur auf bestimmte Problemgruppen beschränkt. Unsere Forderung ist, für die Jugendlichen gleiche Chancen zu schaffen, ohne dabei bestimmte Le- bensentwürfe zu verordnen. Wir wollen unterstützen und befähigen, nicht aber bevormunden. Die Jugendpolitik muss deutlich machen, auf welchen Voraussetzungen un- ser Staatswesen ruht. Diese Voraussetzungen kommen in den Grundrechten zum Ausdruck. Es ist elementar, dass die Jugend für die Erhaltung dieser Werte, dieser Grund- lagen unseres Staatswesens gewonnen wird. Daher un- terstütze ich ausdrücklich die Forderung aus unserem Antrag nach einer Stärkung der kulturellen Jugendbil- dung. Abschließend möchte ich noch darauf hinweisen, dass diese Bundesregierung so viel Vertrauen in die deutsche Jugend bewiesen hat wie keine Regierung zuvor. Viele haben uns vor der Einführung des Bundesfreiwilligen- dienstes gewarnt und teilweise Horrorszenarien vom Pflegenotstand an die Wand gemalt. Das Gegenteil ist eingetreten. Unsere Jugend hat ein ausgeprägtes soziales Verantwortungsbewusstsein, dem diese Bundesregierung zu Recht vertraut hat. Der Bundesfreiwilligendienst ist eine bemerkenswerte Erfolgsgeschichte und Beleg für den richtigen jugendpolitischen Ansatz der christlich- liberalen Koalition gemäß den beiden Grundsätzen För- dern und Fordern. Sönke Rix (SPD): Jugendpolitik als eigenständiges Politikfeld ist das Thema der heutigen Debatte. Anträge dazu liegen von meiner Fraktion und von Bündnis 90/ Die Grünen vor. Den, wie ich finde, absolut unzurei- chenden Antrag der Koalitionsfraktionen zu diesem Thema haben wir schon im April des letzten Jahres de- battiert. Eine eigenständige Jugendpolitik darf nicht allein drei, vier Bereiche, die Jugendliche irgendwie betreffen könnten, herausgreifen, sondern muss umfassend und konsistent sein. Diesem Anspruch wurden wir mit unse- rem Antrag, der auf einen noch umfangreicheren Be- schluss der SPD zurückgeht, gerecht. Denn Jugendpoli- tik ist eben nicht nur Medienkompetenz, internationale Jugendarbeit, kulturelle Bildung und Bundesfreiwilli- gendienst. Jugendpolitische Belange gibt es in allen Politikfeldern: Gesundheitspolitik ist Jugendpolitik, Ver- teidigungspolitik ist Jugendpolitik, Haushaltspolitik ist Jugendpolitik, Bildungspolitik ist Jugendpolitik, Ver- braucherschutz ist Jugendpolitik, Innenpolitik ist Ju- gendpolitik usw., usf. Was ich damit deutlich machen will: Jugendpolitik ist eine Querschnittsaufgabe und fiel und fällt gerade des- halb so häufig unter den Tisch. Das ist bei der jetzigen Bundesregierung nicht anders. Außer einer publikums- wirksamen Veranstaltung hat das originär zuständige Ministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend nichts zustande gebracht. Wir müssen die Phase der Jugend mehr in den Vorder- grund rücken – nicht allein, weil diese immer länger wird, sondern weil die Jugendlichen selbst auf ihrem Weg ins Erwachsenenleben viel mehr Entscheidungen treffen müssen als früher. Das ist zwar gut so, birgt aber wiederum auch mehr Risiken. Deshalb müssen wir den jungen Menschen gute Rahmenbedingungen bieten, die ihnen womöglich auch zwei oder mehr Chancen einräu- men. Nicht dass Sie mich falsch verstehen: Der Großteil der Jugendlichen braucht keine dritte oder vierte Chance – auch dagegen möchte ich angehen. Das öffentliche Bild von Jugendlichen ist noch zu sehr problembehaftet und defizitorientiert. Dabei haben wir es mit einer engagier- ten, verantwortungsbewussten und pragmatischen Gene- ration zu tun. Doch natürlich gibt es auch Jugendliche, die eine längere Orientierungszeit benötigen, bevor sie in ein Erwachsenenleben starten, wie sie es sich vorge- stellt haben. Wie erwähnt, zeichnet unser Antrag ein umfassendes Bild von Jugendpolitik. Im Rahmen dieser Plenumsde- batte kann ich nicht auf alle Bereiche eingehen. Erlauben Sie mir deshalb, dass ich im Folgenden auf das bürger- 26994 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) schaftliche Engagement von Jugendlichen und ihre Teil- habechancen eingehen werde. Das bürgerschaftliche Engagement ist sehr stark bil- dungs- und schichtabhängig. Jugendlichen aus benach- teiligten Familien stehen oft formelle und informelle Hürden im Weg. Das wollen wir ändern. Kein Jugendli- cher darf vom Engagement ausgeschlossen werden. Das Engagement von Jugendlichen soll durch einen freien Nachmittag auch an Ganztagsschulen ermöglicht werden. Deshalb wollen wir einen praktikablen Weg fin- den, der Jugendlichen sowohl Freiraum als auch eine gute Betreuung gewährt. Freiwilligendienste sind eine besondere Form des bürgerschaftlichen Engagements. Die wollen wir stär- ken. Bei dem neu eingeführten Bundesfreiwilligendienst sehen wir erheblichen Nachbesserungsbedarf. Die schwarz-gelbe Bundesregierung hat die Chance vertan, den Wegfall des Zivildienstes für eine Stärkung der Zi- vilgesellschaft zu nutzen. Im Gegenteil: Die Übertra- gung von Pflichtdienststrukturen auf einen altersoffenen und durch den Bund verwalteten Freiwilligendienst be- deutet Doppelstruktur und Konkurrenz zu den etablier- ten Jugendfreiwilligendiensten FSJ und FÖJ. Gute Jugendpolitik sieht anders aus. Wir setzen auf den konsequenten Ausbau der Jugendfreiwilligen- dienste. Sie haben sich aus der Zivilgesellschaft heraus entwickelt und bewährt und bieten jungen Menschen eine Lern- und Orientierungsphase. Wir wollen diese Dienste weiterentwickeln und ausbauen, sodass jedem Jugendlichen, der einen Freiwilligendienst leisten will, ein Platz angeboten werden kann. Klar ist: Freiwilligendienste dürfen grundsätzlich nicht zum Ersatz für soziale Arbeit, für arbeitsmarktpoli- tische oder Wiedereingliederungsmaßnahmen werden. Das Prinzip der Freiwilligkeit, Gemeinwohlorientierung und Unentgeltlichkeit muss gewahrt sein. Um für Freiwillige, ihre Eltern, Einsatzstellen und Träger Rechtssicherheit und gute Rahmenbedingungen zu schaffen und um Mindeststandards und Transparenz zu stärken, wollen wir ein neues Freiwilligendienstesta- tusgesetz vorlegen. Darüber hinaus wollen wir die Anerkennung weiter stärken und für eine höhere Bekanntheit von Freiwilli- gendiensten in der Gesellschaft sorgen. Eine Ombuds- stelle, an die sich Freiwilligendienstleistende wenden können, wenn es Probleme mit der Einsatzstelle, dem Träger oder den rechtlichen Rahmenbedingungen gibt, soll geschaffen werden. Unser Anliegen ist, die Gesellschaft weiter zu demo- kratisieren. Dabei gilt: Menschen müssen dort beteiligt werden, wo sie von Entscheidungen betroffen sind. Das gilt natürlich auch für Kinder und Jugendliche. Positive Erfahrungen mit der Demokratie zu machen, ist auch die beste Prävention gegen Rechtsextremismus. Deshalb wollen wir die demokratische Mitbestimmung in Kitas, Schulen, Hochschulen und Ausbildungsbetrieben stärken. Für uns ist klar: Auszubildende müssen im Rah- men der Mitbestimmung selbst die Rahmenbedingungen von Bildung und Ausbildung mitbestimmen können. Darüber hinaus wollen wir das Wahlalter bei Kommu- nal-, Landtags- und Bundestagswahlen auf 16 Jahre ab- senken. Um Jugendliche für Politik zu sensibilisieren, damit sie mündig entscheiden können, muss auch die Demokratieerziehung und Gesellschaftskunde wieder zum selbstverständlichen Bestandteil des Schulunter- richts nicht nur an Gymnasien, sondern an allen Schulen werden. Auch die außerschulische Demokratieerziehung und politische Bildung wollen wir stärken. Jugendverbands- arbeit leistet einen wichtigen Beitrag nicht nur für den einzelnen Jugendlichen, sondern auch für ein gesundes und demokratisches gesellschaftliches Klima. Jugendli- che erfahren hier, wie wichtig es ist, sich mit Positionen und Meinungen anderer auseinanderzusetzen. Sie lernen Demokratie und Akzeptanz und erfahren, dass Toleranz nicht Gleichgültigkeit bedeutet. Jugendpolitik ist allumfassend und gerade deswegen nicht einfach. Um zu gewährleisten, dass Jugendpolitik bei jeder gesetzlichen Initiative in den Blick genommen wird, wollen wir einen Staatssekretär bzw. eine Staats- sekretärin explizit für die Vertretung, Vernetzung und Koordinierung aller jugendspezifischen Belange einset- zen. Wir versprechen uns von diesem Vorhaben eine chanceneröffnende, partizipative und in sich schlüssige Jugendpolitik, die ab der nächsten Legislaturperiode auf die Agenda einer hoffentlich neuen Bundesregierung ge- setzt wird. Stefan Schwartze (SPD): Der erste Parteikonvent der SPD im Juni 2012 hat ein wichtiges Zeichen gesetzt. Er hat einstimmig den Beschluss „Mit einer eigenständi- gen Jugendpolitik Freiräume schaffen, Chancen eröff- nen, Rückhalt geben“ gefasst. Der hier vorgelegte Antrag stellt die parlamentarische Umsetzung des SPD-Be- schlusses dar. Die SPD-Bundestagsfraktion will die Ju- gendpolitik wieder sichtbar machen. Jugendpolitik darf nicht länger als Problem- und Krisenbewältigungspolitik verstanden werden. Unsere Gesellschaft muss Jugendli- che respektieren und anerkennen, ihnen für eine gelin- gende Persönlichkeitsentwicklung die notwendigen Res- sourcen zur Verfügung stellen. Mensch sein bedeutet mehr, als zu funktionieren – Demokratie, Solidarität und Selbstentwicklung sind für uns alle notwendige Werte, die erlernt werden müssen. Das geht jedoch nur mit einer schlüssigen und stimmigen Jugendpolitik, die auf die Bedürfnisse der jungen Menschen abgestimmte Ange- bote für verschiedene Lebenslagen macht. Notwendig ist, Jugendpolitik als zentrales Politikfeld, als Zukunfts- politik zu begreifen und zu gestalten. Jugendpolitik ist thematisch breit aufgestellt. Ent- scheidend ist, dass Jugendpolitik sich als Interessenver- tretungspolitik für junge Menschen versteht. Deutsch- land muss eine Gesamtstrategie für ein gutes Auf- wachsen junger Menschen unter Einbeziehung aller rele- vanten Politikfelder und föderalen Ebenen entwickeln. Der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben ohne Ar- mut ist für uns die Bildung. Von der Kita bis zur Uni Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26995 (A) (C) (D)(B) muss Bildung kostenlos sein. Bildung darf nicht abhän- gig vom Geldbeutel der Eltern sein. Wir brauchen länge- res gemeinsames Lernen. Dafür wollen wir bis zum Jahr 2020 einen Rechtsanspruch auf einen Ganztagsschul- platz für alle Schulformen verwirklichen. Für uns Sozialdemokraten ist das Hauptziel einer gu- ten Jugendpolitik, keinen jungen Menschen zurückzulas- sen. Irren ist menschlich, deshalb muss jeder eine zweite, dritte oder auch vierte Chance erhalten. Wir for- dern ein Recht auf Nachholen eines Schulabschlusses und ein Recht auf eine qualifizierte Ausbildung. Nach der Ausbildung oder dem Studium gelingt vielen jungen Menschen der direkte Einstieg in ein Normalarbeitsver- hältnis nicht. Oft arbeiten sie in prekärer Beschäftigung. Wichtig ist daher die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro. Die Leiharbeit muss regu- liert werden, und die sachgrundlose Befristung muss ab- geschafft werden. Viele junge Menschen bekommen nach Ausbildung und Studium oft nur ein Praktikum angeboten. Die „Ge- neration Praktikum“ braucht dringend unsere Unterstüt- zung. Der Missbrauch von Praktika muss wirkungsvoll bekämpft werden. Wir brauchen Mindeststandards für Praktika. Dazu gehören der Anspruch auf einen Vertrag, eine zeitliche Begrenzung auf maximal drei Monate, eine Mindestvergütung und der Anspruch auf ein Zeug- nis. Die Diskriminierung auf dem Arbeitsmarkt muss ein Ende haben. Oft finden hochqualifizierte junge Men- schen keinen Arbeitsplatz, weil sie einen anders klingen- den Namen haben. Die Auswertung des Pilotprojektes des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend hat gezeigt, Migranten und Frauen haben bessere Chancen mit dem anonymen Bewerbungsverfah- ren. Deshalb wollen wir das Verfahren für dem öffentli- chen Dienst und für die Privatwirtschaft einführen. Das sind nur einige von zahlreichen konkreten Maß- nahmen, die wir hier mit unserem Antrag fordern. Gleichzeitig mit dem Antrag der SPD beraten wir heute ebenfalls einen Antrag von Bündnis 90/Die Grünen zur eigenständigen Jugendpolitik. Die neun Maßnahmen, die die Grünen hier vorschlagen, begrüßen wir ebenfalls. Die Bundesregierung dagegen hat in den vergangenen drei Jahren viel geredet, aber wenig Konkretes getan. Ich fordere Sie auf. Lassen Sie uns endlich die zahlreichen drängenden Maßnahmen angehen. Die Gutachten und Expertisen liegen vor. Die Umsetzung ist jetzt gefragt. Florian Bernschneider (FDP): Es ist immer gut und schön, wenn wir hier im Hohen Haus über die Ju- gendpolitik diskutieren können. Nach meinem Dafürhal- ten tun wir dies viel zu selten angesichts der Bedeutung, die dieses Thema für die Zukunft unseres Landes eigent- lich hat. Wenn ich mir dann aber den Antrag der Grünen anschaue, dann – so muss ich sagen – bin ich schon überrascht. Glauben Sie mir, ich würde gerne sagen: positiv überrascht. Aber leider nutzen Sie einen Antrag wieder einmal nicht für ernsthafte Sacharbeit, sondern für Klamauk. Denn wenn Sie in einem Antrag Unwahrheiten verbrei- ten, ist das der Debatte über eine eigenständige Jugend- politik wenig zuträglich. Sie reden in Ihrem Antrag von der Kürzung bei Jugendverbänden. Welche Kürzung meinen Sie konkret? Wo hat diese Regierung den Mit- telansatz für die Jugendverbände abgesenkt? Ich kann mich nicht entsinnen, dass dies der Fall gewesen wäre. Sie kommen mit diesem Antrag, aufgrund Ihres Trie- bes nach unzulässiger Skandalisierung und Wahlkampf- getöse, über gute Ansätze leider nicht hinaus. Das ist schade. So fordern Sie völlig zu Recht, dass es eines gu- ten Zusammenspiels von formaler und nonformaler Bil- dung bedürfe, um junge Menschen dazu zu befähigen, an politischen Entscheidungsprozessen, zum Beispiel in der Jugendarbeit oder in Jugendverbänden, teilzunehmen. Zugleich kritisieren Sie diese Regierung landauf, landab bei jeder sich bietenden Gelegenheit dafür, dass sie die Engagementmöglichkeiten junger Menschen wie keine andere Regierung in der Geschichte dieser Repu- blik ausgebaut hat und sich im Rahmen der „Allianz für Jugend“ gerade um ein besseres Zusammenspiel von for- maler und nonformaler Bildung in der Jugendarbeit in- tensiv bemüht. Frau Deligöz selbst hat sich in ihrer Rede vom 27. April 2012 zum Antrag der Koalition zur eigen- ständigen Jugendpolitik über diese Allianz lustig ge- macht. Ich zitiere wörtlich: „Irgendwann soll wohl eine ‚Allianz für Jugend‘ initiiert werden. ‚Wenn’s nützt‘, möchte man sagen.“ Ja, den jungen Menschen nützt’s! Nur zu Ihrer Information: Die Fachkongresse für diese Allianz laufen seit über einem Jahr. Die drei zen- tralen Zielfelder der Allianz sind (I) Schule, außerschuli- sches Lernen und Bildungsorte, (II) die Übergangs- gestaltung von Schule in den Arbeitsmarkt und (III) Beteiligungschancen und -anlässe im politischen und öf- fentlichen Raum – Themen, die uns in der Jugendpolitik seit jeher beschäftigen. Und ich würde es wirklich sehr begrüßen, wenn Sie, liebe Grüne, sich wenigstens mal mit den Fakten auseinandersetzen und sich ein bisschen, nur ein bisschen, informieren würden, bevor Sie solche Anträge einbringen. Das trifft übrigens auch gleich auf den ersten Absatz Ihres Antrages zu. Wenn Sie behaupten, dass es immer mehr Jugendliche in Deutschland mit geringen Chancen auf gesellschaftliche Teilhabe gäbe, dass sich immer mehr Jugendliche vernachlässigt und von der Gesell- schaft zurückgelassen fühlen, dann entspricht das schlicht nicht den Tatsachen. Weder untermauern die einschlägigen großen Jugendstudien wie die Shell-Stu- die entsprechende Aussagen, noch lässt sich diese Be- hauptung anhand von anderen gesamtwirtschaftlichen Zahlen ableiten. Der Name Ihrer Partei trügt: Sie betrei- ben Schwarzmalerei. Ihr gesamter Antrag, liebe Kollegen von den Grünen, besteht aus einem einzigen Sammelsurium ohne Über- bau – und dabei bieten Sie ziemlich wenig an. Sie wollen wie die SPD das Wahlalter absenken und vor allem, dass der Bund in etlichen Bereichen – sei es beim ÖPNV, der Einrichtung eines Jugend-TV-Kanals oder in der Kinder- und Jugendhilfe – auf die Länder einwirkt. Kurzum: Ih- nen ist längst bewusst, dass vieles, was Sie in der Öffent- 26996 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) lichkeit in Sachen Jugendpolitik vollmundig ankündi- gen, gar nicht vom Bund geregelt werden kann. Und noch vor wenigen Monaten haben Sie uns genau dafür kritisiert. Die gleiche Kritik muss ich leider auch beim Antrag der SPD anbringen. Zum einen fordern Sie wie die Grü- nen viele wünschenswerte Dinge, zum Beispiel im Bil- dungsbereich, wohl wissend, dass hier vor allem die Länder am Zug sind. Zum anderen stellen Sie wohlklin- gende Forderungen auf, ohne mit einem Wort zu erwäh- nen, wie diese konkret umgesetzt oder finanziert werden sollen. Wie genau soll denn der von Ihnen geforderte Ju- gendpolitik-TÜV aussehen? Welche Indikatoren für eine „gute Jugendpolitik“ wollen Sie denn heranziehen? Aus Ihrem Antrag ergeben sich vor allem viele Fragen, aber keine Antworten. Sie, meine Damen und Herren von der SPD, haben sich, wenn es um die Jugendpolitik geht, vor allem da- rauf beschränkt, die Absenkung des Wahlalters zu for- dern und ansonsten alte Anträge Ihrer Fraktion, vorran- gig aus dem Bildungsbereich, abzuschreiben. Was Sie hier heute auftragen, ist nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. Und der Wein schmeckt nicht mal gut. Beide Anträge von SPD und Grünen ergehen sich nach meinem Geschmack viel zu sehr in platter Kritik an dieser Bundesregierung und bieten dabei selbst viel zu wenig eigene Lösungsvorschläge an. Sie kritisieren beide, dass die Jugendarbeitslosigkeit weiterhin zu hoch sei; die SPD fordert, die Schulabbre- cherquote von 8 auf 4 Prozent zu halbieren. Alles be- rechtigte Forderungen! Nur erwähnen Sie mit keinem Wort, dass wir auf diesen Feldern schon eine Menge er- reicht haben. Wie sahen denn die Zahlen 2005 unter Rot- Grün aus? Die Jugendarbeitslosigkeit lag bei rekordver- dächtigen 15 Prozent. Heute ist sie halb so hoch – und die niedrigste in ganz Europa. Die Schulabbrecherquote war unter Rot-Grün ebenfalls auf einem Allzeithoch, im Jahr 2000 bei knapp 9 Prozent. Wir haben sie auf gut 6,5 Prozent gesenkt – von den allgemeinen Arbeitslosen- zahlen mal ganz zu schweigen. Wenn ich diese Zahlen so betrachte, dann stelle ich fest: Junge Menschen in Deutschland hatten zu Ihrer Re- gierungszeit tatsächlich weniger Chancen auf eine gute Ausbildung und einen sicheren Arbeitsplatz und gerin- gere Aussicht auf gesellschaftliche Teilhabe, Familienle- ben und eine gesicherte Existenz. Das ist heute – Schwarz- Gelb sei Dank – anders. Aber auf diesen Erfolgen ruhen wir uns nicht aus. Na- türlich wollen und können wir noch besser werden. Je- des Kind und jeder Jugendliche im Hartz-IV-Bezug ist für uns eines bzw. einer zu viel. Und jeder Jugendliche ohne eine Ausbildung, obwohl wir Tausende, ja Zehn- tausende unbesetzte Lehrstellen im letzten Jahr hatten, ist ebenfalls einer zu viel. Gerade wir Liberalen sind mit dem Erreichten nicht zufrieden. Wir wollen weiterkom- men, wir wollen nicht nur verwalten. Da unterscheiden wir uns ganz klar von der linken Seite dieses Hauses. Vor diesem Hintergrund kann ich nur konstatieren: Ihre Anträge haben wenig Substanz; zentrale Bereiche wie die neuen Medien oder der Kinder- und Jugendplan des Bundes fehlen beispielsweise beim Antrag der Grü- nen völlig. Ihre Anträge bieten wenig bis gar nichts Kon- kretes, Ihre Anträge stellen Behauptungen auf, die bei genauerer Betrachtung nicht haltbar sind, und Ihre An- träge kommen reichlich spät – über drei Jahre nach Be- ginn der Legislatur eigentlich zu spät. Diana Golze (DIE LINKE): Kaum eine Bevölke- rungsgruppe steht mit ihren Bedürfnissen so wenig im Fokus der politischen Debatten wie Jugendliche. Werden sie wahrgenommen, sind die Schlagzeilen meist negativ: desillusioniert, gewalttätig, politikmüde, uninteressiert an der Gestaltung unserer Gesellschaft. Ein solches Bild von einer ganzen Bevölkerungsgruppe lässt nicht ver- wundern, dass Rufe nach der Verschärfung von Jugend- strafen, nach einer Einführung von Warnschussarresten schnell hochkommen und nicht selten auch begrüßt wer- den. Die Kehrseite, die vielleicht Ursachen für viele der Negativbilder in sich birgt, findet aber in der Öffentlich- keit kaum Gehör, etwa wenn ein Programm zur Beglei- tung von Schulverweigerern beendet werden soll, ohne dass ein neues Angebot für diese Jugendlichen geschaf- fen wird, oder wenn es immer zuerst Angebote für Jugendliche sind, die dem Rotstift zum Opfer fallen, wenn sich die Kassen der Kommunen leeren. Es gibt kaum eine andere Bevölkerungsgruppe, über die es so wenige Erhebungen zu ihrer sozialen Situation gibt, kaum eine, deren Bedürfnisse und Anforderungen an die Gesellschaft von der Politik so wenig wahrgenommen werden. Entsprechend hoch waren die Erwartungen an die schwarz-gelbe Bundesregierung, als sie im Koali- tionsvertrag die Entwicklung einer eigenständigen Jugendpolitik versprach. Zweifel kamen auf durch das lange Warten auf eine Initiative, die dieses Versprechen einlöst. Enttäuscht wurden sie durch eine Ansammlung von Prüfaufträgen im zweiten Halbjahr des vergangenen Jahres, die wie ein Handlungsauftrag an die folgende Regierung wirkte, nicht aber wie das, was Jugendliche brauchen: Politik- konzepte, die Antworten auf ihre Fragen und Lösungen für ihre Probleme liefern. Nun sind es wieder Oppositionsfraktionen, die versu- chen, der Untätigkeit der Regierung etwas Fundiertes entgegenzusetzen. Es wird die Kolleginnen und Kolle- gen der SPD- und Grünen-Fraktion nicht verwundern, dass mir einige wichtige Bestandteile fehlen. Die Forde- rung, endlich von der repressiven Sanktionspolitik ins- besondere gegenüber jugendlichen Erwerbslosen abzu- kommen, begrüße ich sehr. Doch warum bleiben Sie bei der diskriminierenden Schlechterstellung der unter 25-Jährigen bei der Höhe des ALG-II-Regelsatzes? Auch die Praxis, dass diesen Erwerbslosen noch immer die Möglichkeit auf eine eigene Wohnung verwehrt wird, kann nicht im Sinne einer eigenständigen Jugend- politik sein, die Jugendlichen hilft, selbstständig zu wer- den. Im Grünen-Antrag fehlen Armutsbekämpfung und die damit verbundenen Auswirkungen auf die Entwick- lung von Jugendlichen leider ganz in den aufgestellten Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26997 (A) (C) (D)(B) Forderungen. Wir wissen doch aus den wenigen Studien, die es gibt, in welchem Umfang sich Armut auf Bil- dungskarrieren und die Entwicklung eigener Zukunfts- perspektiven auswirkt. Mir fehlt ein klares und deutliches Bekenntnis dazu, dass es nicht der soziale Status der Eltern sein darf, der über Bildungschancen entscheidet. Rechtsansprüche auf Ganztagsschulplätze sind ein guter und richtiger Be- standteil von Bildungsgerechtigkeit. Wie aber will man Bildungsgerechtigkeit schaffen, wenn alle ausgrenzen- den Momente der teilhabeverhindernden ALG-II-Regel- sätze nicht benannt oder gar aufgehoben werden? Wenn es um ein Konzept für eine eigenständige Jugendpolitik geht, ist es wichtig, die Arbeit von Jugend- verbänden hervorzuheben. Denn das sind die Orte, wo Partizipation beginnt. Beiden Anträgen aber fehlen An- sätze, die Jugendliche bei der Gestaltung einer eigen- ständigen Jugendpolitik auch auf der Bundesebene ein- binden und die sie nicht nur über ihre Rechte besser informieren. Es muss aus meiner Sicht doch darum ge- hen, dass sie ihre Rechte nicht nur kennen, sondern auch wahrnehmen können. Dies alles sind Fragen und Punkte, die es zu diskutieren gilt. Dennoch bin ich dankbar da- für, dass es eine Grundlage für eine fachliche Diskussion gibt, und ich freue mich auf diese Debatten. Ulrich Schneider (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Jugendliche sind unsere Zukunft. Das sagen wir alle, und das sagen wir oft. Aber wenn wir diese Bundesregierung an diesem wichtigen Satz messen, dann wird deutlich, dass er viel zu oft für Sonntagsreden herhalten muss und dass er viel zu wenig ernst genommen wird. Wir Grüne wollen die jungen Menschen in unserer Gesellschaft ernst nehmen. Und wir wollen ihnen zu ihren Rechten verhelfen. Und deshalb bringen wir heute diesen Antrag für eine echte eigenständige Jugendpolitik ein. Denn auch wenn es um die eigenständige Jugendpolitik geht, wird gebetsmühlenartig wiederholt, dass die Jugend un- sere Zukunft ist, dass die Jugend wichtig ist und dass die Jugend ernst genommen werden muss. Aber was hat das Familienministerium konkret getan? Nichts. Wir müssen endlich beginnen, Jugendliche ernst zu nehmen. Wir müssen ihnen Freiräume geben. Wir müssen sie an Ent- scheidungen beteiligen. Und dafür müssen wir endlich das Wahlalter auch bei Bundestags- und Europawahlen auf 16 Jahre absenken. Meine Damen und Herren von der Koalition, Sie rüh- men sich ja gerne damit, dass sie den Führerschein mit 17 eingeführt haben. Das war Ihre größte jugendpoliti- sche Tat in den letzten Jahren. Aber da frage ich Sie, wa- rum Jugendliche mit 17 Jahren in der Lage sind, Auto zu fahren, aber nicht in der Lage sein sollen, an einer politi- schen Wahl teilzunehmen? Wenn Sie die Absenkung des Wahlalters als Feigenblattpolitik abtun, dann würde ich mir wünschen, dass Sie sich wenigstens mit diesem Fei- genblatt schmückten. Im Gegensatz zu Ihnen beschrän- ken wir uns in unserem Antrag nicht auf blumige Worte. Wir haben konkrete Forderungen formuliert, die unsere Idee einer eigenständigen Jugendpolitik wiederspiegeln: Demokratie, Freiheit, Emanzipation und Gerechtigkeit. Wir fordern mehr Demokratie für junge Menschen durch die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre. Wir fordern mehr Emanzipation durch eine Steigerung der Mittel für politische Bildung und durch eine bessere Förderung der Jugendverbandsarbeit. Weiter fordern wir mehr Gerechtigkeit auch durch die Abschaffung des Optionszwangs für migrantische Ju- gendliche. Und schließlich fordern wir mehr Freiheit, indem der öffentliche Nahverkehr flächendeckend jugendgerecht ausgebaut wird. Denn ein Führerschein mit 17 – so sinnvoll er sein mag – entspricht einfach nicht der Lebensrealität vieler junger Menschen, die sich keinen Führerschein leisten können, geschweige denn ein Auto. Wir fordern die Regierung auf, die Partizipation von Jugendlichen und damit endlich eine eigenständige Ju- gendpolitik zu ermöglichen. Lassen Sie die jungen Men- schen nicht bis zum Herbst warten. Anlage 14 Amtliche Mitteilungen Der Bundesrat hat in seiner 904. Sitzung am 14. De- zember 2012 beschlossen, den nachstehenden Gesetzen zuzustimmen bzw. einen Antrag gemäß Artikel 77 Ab- satz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen: – Gesetz über die Feststellung des Bundeshaus- haltsplans für das Haushaltsjahr 2013 (Haus- haltsgesetz 2013) Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: Zur Festlegung der Höhe der vom Bund zu leisten- den Kompensation für die im Rahmen der Föderalis- musreform vorgenommene deutliche Reduzierung von Mischfinanzierungen für die Zeit ab 2014 ist eine rasche Lösung unerlässlich. Die Länder und die mit betroffenen Kommunen benötigen dringend Pla- nungssicherheit. Die Kompensationsleistungen sind im Lichte weiterhin bestehender und teilweise gestie- gener Anforderungen sowie der Kostenentwicklung anzupassen. Der Bundesrat fordert den Bund auf, den berechtigten Interessen der Länder nachzukommen und schnellstmöglich eine Einigung mit ihnen zu su- chen. – Haushaltsbegleitgesetz 2013 (HBeglG 2013) – Gesetz zur Änderung des Zwölften Buches Sozial- gesetzbuch – Gesetz zur Einführung eines Betreuungsgeldes (Betreuungsgeldgesetz) – Gesetz über die Feststellung eines Zweiten Nach- trags zum Bundeshaushaltsplan für das Haus- 26998 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) haltsjahr 2012 (Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2012) – Drittes Gesetz zur Umsetzung eines Maßnahmen- pakets zur Stabilisierung des Finanzmarkts (Drit- tes Finanzmarktstabilisierungsgesetz – 3. FMStG) Der Bundesrat hat ferner folgende Entschließung ge- fasst. a) Der Bundesrat begrüßt die Zielsetzung des Geset- zes, den Bankensektor und damit die Funktions- fähigkeit des Finanzsystems weiterhin zu stabili- sieren. b) Der Bundesrat begrüßt grundsätzlich die nun- mehr geplante Finanzierung möglicher Verluste des Stabilisierungsfonds durch die Kreditwirt- schaft. Der Bundesrat weist allerdings darauf hin, dass die hierfür vorgesehene Bankenabgabe so- wie die Möglichkeit zur Erhebung einer Sonder- abgabe eine erneute Haftung auch der Länder für weitere Bankenstützungsmaßnahmen nicht gänz- lich ausschließen können. Zudem ist die Haftung der Banken nicht vorgesehen für Fälle, in denen der Sonderfonds Finanzmarktstabilisierung eine Rekapitalisierungsmaßnahme oder Risikoüber- nahme gewährt, also Anteile am Kreditinstitut oder Wertpapiere erwirbt. Eine weitere Belastung durch neue Garantien und Rekapitalisierungen ist den Ländern angesichts der Spar- und Konsoli- dierungszwänge in den öffentlichen Haushalten, die sich insbesondere aus der Befolgung der Schuldenbremsen ergeben, nicht zuzumuten. c) Der Bundesrat weist erneut darauf hin, dass der Bund durch die Bundesanstalt für Finanzmarktsta- bilisierung die alleinige Verwaltungs- und Entschei- dungskompetenz über Stabilisierungsmaßnahmen hat. Den Ländern steht – abgesehen von dem von ihnen benannten Mitglied des Lenkungsausschus- ses – kein signifikanter Einfluss zu. Auch aus die- sem Grund muss sichergestellt sein, dass für die Risiken aus möglichen neuen Rettungsmaßnah- men ausschließlich der Bund einstehen wird. – Gesetz zur Ergänzung des Geldwäschegesetzes (GwGErgG) Der Bundesrat hat ferner die nachstehenden Ent- schließungen gefasst: 1. Der Bundesrat fordert die Bundesregierung auf, im Rahmen der nächsten Änderung des Geldwäsche- gesetzes (GwG) die Zuständigkeit der Länder für die Aufsichtsbehörden im Nichtfinanzsektor für Verpflichtete nach § 2 Absatz 1 Nummer 3, 5, 9, 10 und 13 GwG aus Gründen eines bundesein- heitlichen Vollzugs und einer effektiven Auf- sichtswahrnehmung in eine zentrale Aufgaben- wahrnehmung durch den Bund zu überführen. Begründung: Der Prüfbitte des Bundesrates in seiner Stellungnahme zum Ge- setzentwurf (BR-Drucksache 459/12 (Beschluss)) ist die Bundes- regierung in ihrer Gegenäußerung vom 26. September 2012 umge- hend nachgekommen. Der Bundesrat bedauert die Ablehnung, ist aber auch der Auffassung, dass die Begründung der Bundesregie- rung hinsichtlich der Aspekte Effizienz und Zweckmäßigkeit nicht zielführend ist. In Anerkennung der Bedeutung des vorliegenden Gesetzentwurfes für Verbesserungen der Geldwäscheprävention im Glücksspielmarkt beabsichtigt der Bundesrat zur Vermeidung von Verzögerungen keine Anrufung des Vermittlungsausschusses. Unverändert hält der Bundesrat im Bereich der Geldwäscheauf- sicht jedoch eine zentrale Aufgabenwahrnehmung durch den Bund sowohl aus Gründen der Effizienz als auch aus fachlichen Grün- den für angezeigt. Der Vollzug des Geldwäschegesetzes erfordert angesichts europäi- scher und internationaler Vorgaben eine möglichst einheitliche und effektive Vorgehensweise. Da die Länder die zuständigen Aufsichtsbehörden zu bestimmen hatten, wurden die Zuständig- keiten unterschiedlich geregelt und teils auf ministerieller Ebene, teils bei Mittelinstanzen und teils bei örtlichen Ordnungsbehörden verortet. Nicht nur die Aufsicht über heutzutage oft länderübergreifend agierende Verpflichtete macht einen erheblichen Abstimmungs- und Koordinierungsaufwand erforderlich. Die vom Bund deshalb folgerichtig nachdrücklich eingeforderten regelmäßigen bundes- weiten Abstimmungen aller Länder, die einen einheitlichen Voll- zug gewährleisten sollen, bedeuten bürokratischen Mehraufwand, der wirtschaftlich nicht zu rechtfertigen ist. Auch führt die föde- rale Zuständigkeitsverteilung zu einer unnötigen Vervielfachung des geldwäschespezifisch zu etablierenden Fachwissens und der vorzuhaltenden Personalressourcen in allen Ländern. Dagegen verfügt der Bund mit Zoll und BaFin über bereits etablierte und länderübergreifend tätige Aufsichtsinfrastruktur. Die Bundesrepublik Deutschland muss umfassende Rechtssicher- heit als elementaren Standortvorteil im globalen Wettbewerb ge- währen. Aus fachlicher Sicht bietet die derzeitige Rechtslage keine klare branchenbezogene Zuständigkeitsverteilung. Vielmehr bestehen Zuständigkeitsüberschneidungen, Abgrenzungsprobleme und fak- tische Doppelbeaufsichtigungen. Als Beispiele für die derzeit kaum nachvollziehbare Zuständig- keitsverteilung sind die Finanzunternehmen und Versicherungs- vermittler anzuführen: Während der größte Teil der Finanzbranche zentral von der Bun- desanstalt für Finanzdienstleistungsaufsicht (BaFin) beaufsichtigt wird, sind „Finanzunternehmen“ nach § 1 Absatz 3 des Kreditwe- sengesetzes von den Ländern zu beaufsichtigen. Die Unterschei- dung zwischen Kreditinstituten, Finanzdienstleistungsinstituten und Finanzunternehmen mag für die Zwecke des Kreditwesenge- setzes sinnvoll sein. Im Hinblick auf die Geldwäscheaufsicht führt sie dagegen zu Abgrenzungsproblemen und teils kaum vermittel- baren Ergebnissen. So überwacht die BaFin zentral die Einhaltung der Geldwäschevorschriften in Leasingunternehmen. Für die zu den einzelnen Leasingunternehmen gehörenden Leasingobjektge- sellschaften sind jedoch wiederum die Länder zuständig. Versicherungsunternehmen unterstehen auch der Geldwäscheauf- sicht der BaFin, ungebundene Versicherungsvermittler wiederum der Geldwäscheaufsicht der Länder. Diese Aufteilung berücksich- tigt nicht, dass alle Versicherungsvermittler – auch diejenigen, die als freie Versicherungsmakler tätig sind – eng an die Versiche- rungsunternehmen gebunden sind. Sie erhalten konkrete Vorgaben im Hinblick auf die Umsetzung des Geldwäschegesetzes. Versicherungsvermittler werden faktisch „doppelt“ beaufsichtigt, nämlich zum einen mittelbar durch die BaFin über die Versiche- rungsunternehmen und zum anderen unmittelbar durch die Länder. Für die betroffenen Wirtschaftsakteure sind die vom GwG vorge- nommenen Unterscheidungen kaum nachvollziehbar und deshalb auch nicht geeignet, die Akzeptanz der Geldwäscheprävention im Nichtfinanzsektor zu fördern. Um die erforderliche Einheitlichkeit, Effektivität und Effizienz der Geldwäscheaufsicht über die Verpflichteten nach § 2 Absatz 1 Nummer 3, 5, 9, 10 und 13 GwG sicherzustellen und Vollzugsdefi- zite gar nicht erst entstehen zu lassen, drängt sich deshalb in letzter Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26999 (A) (C) (D)(B) Konsequenz geradezu auf, dass der Bund auch die Geldwä- scheaufsicht im Nichtfinanzsektor für diese Gruppen wieder über- nimmt. 2. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, die vorgesehene Zuständigkeit der Länder für die geldwäscherechtliche Aufsichtstätigkeit im Be- reich des Online-Glücksspiels aus Gründen eines bundeseinheitlichen Vollzugs und einer effekti- ven Aufsichtswahrnehmung in eine zentrale Auf- gabenwahrnehmung durch den Bund zu überführen. Begründung: Eine zentrale Aufgabenwahrnehmung der geldwäscherechtlichen Aufsichtstätigkeit im Bereich des Online-Glücksspiels ist die ein- zig wirklich sinnvolle Möglichkeit einer einheitlichen, konsequen- ten, kontinuierlichen und effektiven Aufsicht. Anders als im Bereich des Nichtfinanzsektors handelt es sich beim Online – Glücksspiel um Anbieter, die global agieren und deren Sitz sich nicht zwangsläufig in Deutschland befindet. Dies macht eine Wahrnehmung der Aufsichtstätigkeit vor Ort nicht mehr zwingend notwendig, sondern erfordert vielmehr eine einheitliche, kontinuierliche und konsequente Wahrnehmung die- ser Aufgabe durch eine bundeseinheitliche Stelle, die insbesondere auch mit den Verpflichteten im Finanzsektor korrespondierend zu- sammen arbeiten. Anbieter als auch Nutzer von Online- Glücksspielen bringen völ- lig neue Voraussetzungen mit. Ein globales Angebot, das zu jeder Tages- und Nachtzeit zur Ver- fügung steht, wird durch eine Geschäftsbeziehung begründet, die eine physische Anwesenheit der Vertragspartner nicht vorsieht. Sowohl das Geschäft selber als auch die Zahlungsabwicklung er- folgen ausschließlich über das Medium Internet. Auch wenn die vorgesehenen Vorschriften zur Identifizierung und Authentifizierung geeignet sind, die Anonymität des Nutzers von On- line-Glücksspielen einzuschränken, sieht die Richtlinie 2005/60/EG jeden Fall, in dem der Kunde zur Feststellung der Identität nicht physisch präsent ist, als Fallkonstellation mit hohem Geldwäsche- risiko an. Dies ist im Internetbereich der Fall. Schätzungen der OECD nach werden in Deutschland bis zu 57 Milliarden Euro kriminelle Gelder gewaschen. Durch die Be- gründung anonymisierter Geschäftsbeziehung im Internet kommt es insoweit zu Erleichterungen. Nachlässigkeit in Belangen der Geldwäscheprävention und Be- kämpfung der Terrorismusfinanzierung bedeuten unter anderem eine Verletzung von international eingegangenen Verpflichtungen und sind daher kaum zu rechtfertigen. Um die erforderliche Einheitlichkeit und Effektivität der Geldwä- scheaufsicht im Bereich des Online-Glücksspiels sicherzustellen, ist eine Aufgabenübertragung auf den Bund vorzunehmen. Dies würde zudem den Stellenwert, den Deutschland dieser Auf- gabe einräumt, positiv dokumentieren. – Gesetz zur Regelung des Assistenzpflegebedarfs in stationären Vorsorge- und Rehabilitationsein- richtungen – Gesetz zur Änderung des Mikrozensusgesetzes 2005 – Gesetz zur Änderung des AZR-Gesetzes – Gesetz zur Anpassung der Vorschriften des Inter- nationalen Privatrechts an die Verordnung (EU) Nr. 1259/2010 und zur Änderung anderer Vor- schriften des Internationalen Privatrechts – … Gesetz zur Änderung des Urheberrechtsgeset- zes Der Bundesrat hat ferner die folgende Entschließung gefasst: Der Bundesrat nimmt mit Bedauern zur Kenntnis, dass der Deutsche Bundestag mit dem vorliegenden Gesetzesbeschluss der Forderung der Länder nach ei- ner vollständigen Entfristung von § 52a des Urheber- rechtsgesetzes (UrhG) nicht gefolgt ist. Der Bundesrat hat am 12. Oktober 2012 mit den Stimmen aller Länder in seiner Stellungnahme zum Entwurf eines Siebenten Gesetzes zur Änderung des Urheberrechtsgesetzes gefordert, § 137k UrhG auf- zuheben – vergleiche Ziffer 4 der BR-Drucksache 514/12 (Beschluss) – und damit dem § 52a UrhG dauerhaft Geltung zu verschaffen. Der Deutsche Bundestag hat stattdessen die bis zum 31. Dezember 2012 befristete Geltungsdauer des § 52a UrhG um weitere zwei Jahre verlängert. Der Bundesrat weist erneut darauf hin, dass die Ent- fristung des § 52a UrhG für den Bildungs- und Wissenschaftsbereich grundsätzlich von großer Bedeutung ist. Schulen und Hochschulen brauchen dauerhafte Sicherheit im digitalen Umgang mit urhe- berrechtlich geschützten Materialien. Die erneute Verlängerung der Befristung um zwei Jahre ist der weniger geeignete Weg, diese Sicherheit herzustel- len, zumal keine Perspektive erkennbar ist, durch welche Norm § 52a UrhG nach Auslaufen ersetzt werden soll. Die nun vierte Befristung von § 52a UrhG ist einer Rechtssicherheit im Umgang mit ur- heberrechtlich geschützten Materialen im gesamten Bildungsbereich nicht zuträglich. Der Bundesrat bedauert, dass dieses Gesetz in Kennt- nis der terminlichen Situation im Deutschen Bundes- tag so spät eingebracht wurde, dass eine rechtzeitige verfassungsgemäße Beteiligung des Bundesrates nur noch mit seiner Zustimmung zur Fristverkürzung möglich war und faktisch auf den Beschluss, einen Antrag nach Artikel 77 Absatz 2 des Grundgesetzes nicht zu stellen, reduziert wurde. Eine Bundesratsbe- teiligung, die auch ein anderes Ergebnis ermöglicht hätte, war wegen der zwingenden ununterbrochenen Weitergeltung des § 52a UrhG in Anbetracht der fortgeschrittenen Zeit ausgeschlossen. Der Bundesrat betont mit Nachdruck die Notwendig- keit, im Interesse der Schulen und Hochschulen nun endlich – am 31. Dezember 2014 sind mehr als elf Jahre nach Einführung des § 52a UrhG vergangen – Rechtssicherheit im digitalen Umgang mit urheber- rechtlich geschützten Materialien zu schaffen. Der Bundesrat geht davon aus, dass die Bundesregierung unverzüglich und in enger Abstimmung mit den Län- dern die Arbeiten an einer breiter und allgemeiner gefassten Bildungs- und Wissenschaftsschranke auf- nimmt, wie sie einvernehmlich von der Kultusminis- terkonferenz und der Wissenschaftsallianz gefordert wird. – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie 2012/6/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 14. März 2012 zur Änderung der Richtlinie 78/660/EWG des Rates über den Jahresabschluss von Gesellschaften bestimmter Rechtsformen hin- 27000 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) sichtlich Kleinstbetrieben (Kleinstkapitalgsellschaf- ten-Bilanzrechtsänderungsgesetz – MicroBilG) – Gesetz über den Umfang der Personensorge bei einer Beschneidung des männlichen Kindes – Gesetz zur Änderung des Umwelt-Rechtsbehelfs- gesetzes und anderer umweltrechtlicher Vor- schriften – Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie über Indus- trieemissionen Der Bundesrat hat ferner beschlossen, die folgende Entschließung zu fassen: Zu Artikel 2 Nummer 3 Buchstabe c (§ 57 Absatz 2, 4 und 5 WHG): Die in § 57 Absatz 4 und 5 des Wasserhaushaltsge- setzes geregelte Fiktionswirkung der in der Rechts- verordnung festgelegten Emissionsgrenzwerte soll auf die Fälle beschränkt werden, in denen die unmit- telbare Geltung dieser Werte durch die Rechtsverord- nung gemäß § 57 Absatz 2 i.V.m. § 23 Absatz 1 Nummer 3 des Wasserhaushaltsgesetzes vorgesehen wurde. Weiterhin wird die Bundesregierung gebeten, einen Vorschlag zur Ergänzung der Verordnungsermächti- gung des § 57 Absatz 2 des Wasserhaushaltsgesetzes und der Regelung der Fiktionswirkung von Emis- sionsgrenzwerten in § 57 Absatz 4 und 5 des Wasser- haushaltsgesetzes zu erarbeiten und in das Gesetzge- bungsverfahren einzubringen. – Gesetz zur Änderung des Flaggenrechtsgesetzes und der Schiffsregisterordnung – Drittes Gesetz zur Neuregelung energiewirt- schaftsrechtlicher Vorschriften Der Bundesrat hat ferner die nachstehende Entschlie- ßung gefasst: 1. Der Bundesrat bekennt sich zu seiner Verantwor- tung für das Gelingen der Energiewende. Der zü- gige Ausbau von Offshorekapazitäten ist im gesamtstaatlichen Interesse. Ebenso wie die Be- reitstellung von Kraftwerksreserven, soweit diese notwendig sind, um fehlende Erzeugungskapazi- täten und Netzschwankungen auszugleichen und so die Sicherheit der Energieversorgung zu ge- währleisten. 2. Die Schwierigkeiten beim Netzanschluss und der mit der Novelle des EnWG vorgesehene erforder- liche Systemwechsel können zu zeitlichen Verzö- gerungen bei der Errichtung der unter den heuti- gen Prämissen projektierten Windparks führen mit der Folge, dass das so genannte Stauchungs- modell im EEG nicht in vollem Umfang zur An- wendung gelangt. Der Bundesrat fordert die Bun- desregierung daher auf, das Stauchungsmodell in der angekündigten Novelle des EEG in der Weise zu optimieren, dass die bislang projektierten Windparks trotz der entstandenen zeitlichen Ver- zögerungen noch von dieser Förderung profitie- ren können. 3. Der Bundesrat sieht die im Gesetzgebungsverfah- ren erwirkten Entlastungen für Betreiber von Speicheranlagen als Schritt in die richtige Rich- tung. Durch die Absenkung der Kriterien können mehr Speicherbetreiber, insbesondere Pumpspei- cherwerke, von Netzentgelten entlastet werden. Damit haben sich die Rahmenbedingungen für Energiespeicher gegenüber der alten Regelung verbessert. Der Bundesrat hält die „praxisnähere Ausgestaltung für eine Netzentgeltbefreiung“, insbesondere für die derzeit 30 Pumpspeicherwerke, jedoch für nicht weitgehend genug. Es besteht die Gefahr, dass sich die Wirtschaftlichkeit bestehender Anlagen nur un- zureichend verändert. Anreize zur Modernisierung sowie zum Bau neuer Anlagen sieht der Bundesrat nicht im erforderlichen Maße. Der Bundesrat hält es daher für fraglich, ob Speicherbetreiber auf dieser Grundlage ihren Beitrag zur erfolgreichen Umset- zung der Energiewende leisten können. Dessen ungeachtet bittet der Bundesrat die Bundes- regierung zu prüfen, ob die Netzentgeltpflicht von Speicherbetreibern nicht grundsätzlich anders bewer- tet werden müsste. Aus Sicht des Bundesrates sind Anlagen zur Speicherung von Strom energiewirt- schaftlich und physikalisch betrachtet keine „Letzt- verbraucher“. Sie verbrauchen den Strom nicht end- gültig, sondern entnehmen Strom aus dem Netz, um ihn später wieder einzuspeisen. Entscheidend ist die stabilisierende Wirkung vor allem von Pumpspei- cherwerken für das Stromsystem insgesamt, die im gegenwärtigen gesetzlichen Rahmen nicht hinrei- chend berücksichtigt ist. Letztverbraucher sind die Speicheranlagen allenfalls für die Differenz aus ent- nommenem und wieder eingespeistem Strom, für den sich dann eine Netzentgeltpflicht ergeben würde. Der Bundesrat fordert daher die Bundesregierung auf, eine weitere Überarbeitung der Netzentgeltpflicht für Pumpspeicheranlagen bis zum Frühjahr 2013 vorzule- gen. Die Erhebung individueller Netzentgelte für Pumpspeicheranlagen sollte dabei auf die Differenz- menge zwischen bezogenem und geliefertem Strom begrenzt werden. 4. Der Bundesrat bittet die Bundesregierung, bei der nächsten Änderung des EnWG für die Erstellung des Offshore-Netzplans das Einvernehmen mit den Küstenländern zu regeln. Des Weiteren wird die Bundesregierung gebeten, bei der nächsten Änderung des NABEG die bisherige Zuständig- keit der Länder für die Anbindungsleitungen im Küstenmeer wieder herzustellen. Begründung zu Ziffer 4: Die verbindlichen Festlegungen im Bundesfachplan Offshore be- rühren ganz maßgeblich die Belange und Regelungskompetenzen der jeweiligen Küstenländer. Die Festlegung der Orte, an denen die Anbindungsleitungen die Grenze zwischen der ausschließli- chen Wirtschaftszone und der 12-Seemeilen-Zone überschreiten, Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 27001 (A) (C) (D)(B) trifft eine Vorentscheidung für die Weiterführung über diese Orte hinaus durch die 12-Seemeilen-Zone. Die verbindliche Vorgabe von Übergangspunkten im Bundes- fachplan Offshore darf nur erfolgen, wenn festgestellt ist, dass die Weiterführung der Anbindungsleitungen aus der ausschließli- chen Wirtschaftszone über die festgelegten Punkte hinaus in der 12-Seemeilen-Zone zulässig und möglich ist. Die 12-Seemeilen-Zone gehört zum Hoheitsgebiet der Küstenlän- der. Sie ist gemeindefrei und unterliegt allein der Planungshoheit der jeweiligen Küstenländer. Die Feststellung der Übereinstim- mung mit den Erfordernissen der Raumordnung in der 12-See- meilen-Zone und sonstigen Belangen, insbesondere denen des Nationalparks Wattenmeer, liegt in der Planungskompetenz der betroffenen Küstenländer, nicht des Bundesamtes für Seeschiff- fahrt und Hydrographie. Insofern reicht die Abstimmung mit den Küstenländern bei der Er- stellung des Bundesfachplanes Offshore nicht aus. Vielmehr ist eine Einvernehmensregelung erforderlich. Die Notwendigkeit des Einbezugs der Anbindungsleitungen von Offshore-Windpark-Umspannwerken zu den Netzverknüpfungs- punkten an Land in das System des NABEG ist nicht hinreichend begründet und auch nicht begründbar. In dem von hoher Konflikt- dichte gekennzeichneten Bereich der 12-Seemeilen-Zone mit den einzigartigen Anforderungen des Wattenmeeres verfügen die be- troffenen Küstenländer über einen Erfahrungsschatz aus Planungs- prozessen für Trassenkorridore, der über Jahrzehnte entstanden und gewachsen ist. Es ist nicht erkennbar, dass eine in der Zuständigkeit des Bundes durchzuführende Raumordnungsplanung für diesen von hoher Konfliktdichte gekennzeichneten Bereich, für den die Länder be- reits vorausschauende Planungsergebnisse für die Nutzung der Windenergie und die Ableitung des auf See erzeugten Stroms er- zielt haben, zu schnelleren oder besseren Planungsergebnissen kommt. – Gesetz zu dem Rahmenabkommen vom 10. Mai 2010 zwischen der Europäischen Union und ihren Mitgliedstaaten einerseits und der Republik Korea andererseits – Gesetz zu dem Fakultativprotokoll vom 19. De- zember 2011 zum Übereinkommen über die Rechte des Kindes betreffend ein Mitteilungsver- fahren – Gesetz zu dem Luftverkehrsabkommen vom 17. Dezember 2009 zwischen Kanada und der Europäischen Gemeinschaft und ihren Mitglied- staaten (Vertragsgesetz EU-Kanada-Luftverkehrs- abkommen – EU-KANN-LuftverkAbkG) – Gesetz zu dem Internationalen Übereinkommen von 2004 zur Kontrolle und Behandlung von Bal- lastwasser und Sedimenten von Schiffen (Ballast- wasser-Gesetz) – Gesetz zur Änderung des Übereinkommens vom 8. April 1959 zur Errichtung der Interamerikani- schen Entwicklungsbank – Gesetz zur Änderung des Übereinkommens vom 18. Oktober 1969 zur Errichtung der Karibischen Entwicklungsbank – Gesetz zur Änderung des Übereinkommens vom 19. November 1984 zur Errichtung der Interame- rikanischen Investitionsgesellschaft – Zweites Gesetz zur Änderung des Einführungsge- setzes zum Strafgesetzbuch Weiterhin hat der Bundesrat hat in seiner 904. Sit- zung am 14. Dezember 2012 den nachfolgenden Be- schluss gefasst: A. Der Bundesrat beschließt, beim Bundesverfas- sungsgericht gemäß Artikel 21 Absatz 2 des Grundgesetzes i. V. m. § 13 Nummer 2, §§ 43 ff. BVerfGG folgende Entscheidung zu beantragen: 1. Die „Nationaldemokratische Partei Deutsch- lands“ ist verfassungswidrig. 2. Die „Nationaldemokratische Partei Deutsch- lands“ wird aufgelöst. 3. Es ist verboten, Ersatzorganisationen für die „Nationaldemokratische Partei Deutschlands“ zu schaffen oder bestehende Organisationen als Ersatzorganisationen fortzusetzen. 4. Das Vermögen der „Nationaldemokratischen Partei Deutschlands“ wird zugunsten der Bundesrepublik Deutschland für gemeinnüt- zige Zwecke eingezogen. B. Der Präsident des Bundesrates beauftragt einen Verfahrensbevollmächtigten mit der Antragstel- lung, Begründung und Prozessführung. Dem Ver- fahrensbevollmächtigten ist die „Materialsamm- lung für ein mögliches Verbotsverfahren -VS-NfD- (Stand: 25.10.12)“ einschließlich ihrer von der Innenministerkonferenz am 5. Dezember 2012 beschlossenen kontinuierlichen Fortschreibun- gen zur Verfügung zu stellen. Der Verfahrensbe- vollmächtigte erarbeitet Antrag und Begründung in enger Abstimmung mit einer länderoffenen Ar- beitsgruppe der Innenministerkonferenz. C. Die Begründung des Antrags soll sich an folgen- den Tatsachen und Wertungen orientieren: Auf der Grundlage der im Auftrag der Innen- minister und -senatoren von Bund und Ländern erstellten über 1000 Seiten umfassenden „Mate- rialsammlung für ein mögliches Verbotsverfahren -VS-NfD-“ sowie des „Berichts zur Prüfung der Erfolgsaussichten eines neuen NPD-Verbotsver- fahrens -VS-NfD- (Stand: 9. November 2012)“ der Bund-Länder-Arbeitsgruppe hat der Bundes- rat die Überzeugung gewonnen, dass es sich bei der NPD um eine verfassungswidrige Partei han- delt. Die Voraussetzungen für die Feststellung der Ver- fassungswidrigkeit der NPD nach Artikel 21 Ab- satz 2 Satz 1 des Grundgesetzes liegen vor. Die NPD geht gemäß Artikel 21 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes nach ihren Zielen und dem Ver- halten ihrer Anhänger darauf aus, die freiheitliche demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen und sogar zu beseitigen. Der politische Kurs der NPD ist bestimmt durch ihre aktivkämpferische, aggressive Grundhaltung, die grundsätzlich und dauernd tendenziell auf die Bekämpfung der frei- heitlichen demokratischen Grundordnung gerich- tet ist. Sie ist eine Partei, die eine antisemitische, rassistische und ausländerfeindliche Einstellung 27002 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 (A) (C) (D)(B) hat und mit dem Nationalsozialismus wesensver- wandt ist. Ihre dauerhafte und zielgerichtete Absicht, die obersten Werte unserer Verfassungs- ordnung insgesamt – namentlich die Menschen- würde, die Freiheits- und Gleichheitsrechte sowie das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip – zu be- einträchtigen, lässt sich anhand der Material- sammlung belegen. Der Bundesrat sieht in dem vorgelegten quellenfreien Material eine geeignete Grundlage, das NPD-Verbotsverfahren erfolg- reich abschließen zu können. Er hält daher ein Verbot der NPD für geboten. Der Bundesrat stellt fest, dass mit dem Verbot der NPD der Verlust des Parteienprivilegs einher geht und somit die NPD auch von der staatlichen Par- teienfinanzierung ausgeschlossen ist. Ein Verbot der NPD, das auch ein Verbot von Nachfolgeorganisationen beinhaltet, stellt einen wichtigen Beitrag gegen den parteigebundenen Rechtsextremismus dar. Die Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN hat mitgeteilt, dass sie den Antrag Namen von Bun- deswehrkasernen überprüfen auf Drucksache 17/6495 zurückzieht. Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mit- geteilt, dass der Ausschuss gemäß § 80 Absatz 3 Satz 2 der Geschäftsordnung von einer Berichterstattung zu den nachstehenden Vorlagen absieht: Ausschuss für Wahlprüfung, Immunität und Geschäftsordnung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht zu den Prüfbitten bezüglich bestimmter Wahl- vorschriften bzw. Verfahrensweisen – Drucksachen 17/11088, 17/11428 Nr. 6 – Finanzausschuss – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Auswirkungen der Einführung des Luftverkehrsteuergesetzes auf den Luftverkehrssektor und die Entwicklung der Steuereinnahmen aus der Luftverkehrsteuer – Fortschreibung, Aktualisierung und Ergänzung – – Drucksachen 17/10985, 17/11428 Nr. 5 – Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht der Bundesregierung über ihre Exportpolitik für konventionelle Rüstungsgüter im Jahr 2010 (Rüstungsexportbericht 2010) – Drucksache 17/8122 – Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung – Unterrichtung durch die Bundesregierung Raumordnungsbericht 2011 – Drucksache 17/8360 – – Unterrichtung durch die Bundesregierung Bericht über die Maßnahmen auf dem Gebiet der Un- fallverhütung im Straßenverkehr 2010 und 2011 (Unfallverhütungsbericht Straßenverkehr 2010/2011) – Drucksachen 17/10600, 17/11428 Nr. 1 – Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit – Unterrichtung durch die Bundesregierung Umweltgutachten 2012 des Sachverständigenrates für Umweltfragen Verantwortung in einer begrenzten Welt – Drucksachen 17/10285, 17/11097 Nr. 1.2 – Die Vorsitzenden der folgenden Ausschüsse haben mitgeteilt, dass der Ausschuss die nachstehenden Unionsdokumente zur Kenntnis genommen oder von ei- ner Beratung abgesehen hat. Haushaltsausschuss Drucksache 17/10710 Nr. A.33 EuB-BReg 43/2012 Drucksache 17/10710 Nr. A.34 EUFIN 65/2012 EN Drucksache 17/10710 Nr. A.35 EUFIN 66/2012 Drucksache 17/10710 Nr. A.36 Ratsdokument 11112/12 Drucksache 17/10710 Nr. A.37 Ratsdokument 12201/12 Drucksache 17/10710 Nr. A.38 Ratsdokument 13064/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.12 Ratsdokument 13960/12 Drucksache 17/11108 Nr. A.13 Ratsdokument 13963/12 Drucksache 17/11617 Nr. A.3 Ratsdokument 15272/12 Ausschuss für Wirtschaft und Technologie Drucksache 17/11439 Nr. A.7 Ratsdokument 14536/12 Drucksache 17/11617 Nr. A.5 EP P7_TA-PROV(2012)0388 Drucksache 17/11617 Nr. A.6 EP P7_TA-PROV(2012)0398 Drucksache 17/11617 Nr. A.7 Ratsdokument 15168/12 Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucherschutz Drucksache 17/11919 Nr. A.14 Ratsdokument 16291/12 Drucksache 17/11919 Nr. A.15 Ratsdokument 16518/12 Verteidigungsausschuss Drucksache 17/11617 Nr. A.10 Ratsdokument 15476/12 Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Drucksache 17/10710 Nr. A.54 Ratsdokument 12803/12 Drucksache 17/10710 Nr. A.55 Ratsdokument 12809/12 Drucksache 17/11439 Nr. A.12 Ratsdokument 14656/12 217. Sitzung Inhaltsverzeichnis TOP 9 Regierungserklärung zum Jahreswirtschaftsbericht TOP 10, ZP 3 Europäische Bankenunion TOP 34 Überweisungen im vereinfachten Verfahren ZP 4 Beschlussempfehlungen des Vermittlungsausschusses ZP 5 Vereinbarte Debatte zu steuerpolitischen Beschlüssen ZP 1 Aktuelle Stunde zu den Steuerbeschlüssen der SPD TOP 11 Berufsausbildung TOP 12 Verpflegung in Schulen und Kindergärten TOP 13 Förderung von Kindern in Tageseinrichtungen TOP 14 EU – Lateinamerika TOP 15 Regelung der betreuungsrechtlichen Einwilligung TOP 16 Privatkundengeschäft der Finanzagentur Deutschland TOP 17 Innerstaatliche Umsetzung des Fiskalvertrages TOP 18 Forschung für die Energiewende TOP 19 EU-Programm Kreatives Europa TOP 20 Drogenpolitik TOP 21 Soldatengesetz TOP 22, ZP 6 Jugendpolitik TOP 23 Vorbeugung vor und Bekämpfung von Tierseuchen TOP 26 Ausbau der Rheintalbahn TOP 25 Umweltbelastung durch Humanarzneimittel TOP 28, ZP 7 Sicherheit bei Medizinprodukten TOP 27 Kindergeldabzweigung durch Sozialhilfeträger TOP 30 Änderung personenstandsrechtlicher Vorschriften TOP 29 Kohleverstromung TOP 31 Mehrwertsteuersystem auf europäischer Ebene TOP 32 Institutionelle Unabhängigkeit der Justiz TOP 33 Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bundeswehr Anlagen
Gesamtes Protokol
Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721700000

Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.

Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
begrüße Sie alle herzlich und fange dabei mit den
Schriftführerinnen an.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Guten Morgen, Herr Präsident!)


Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,
gibt es eine Reihe von Geburtstagen zu würdigen. Heute
begeht die Kollegin Dr. Rosemarie Hein ihren 60. Ge-
burtstag, zu dem ich ihr ganz herzlich gratulieren
möchte.


(Beifall)


Das krönt gewissermaßen die Reihe der Geburtstage, die
in der Weihnachtspause und unmittelbar danach stattge-
funden haben: am 20. Dezember die Kollegin Marlene
Rupprecht, am selben Tag die Kollegin Lena
Strothmann und am 29. Dezember die Kollegin Sylvia
Kotting-Uhl. Sie alle haben ihren 60. oder 65. Geburts-
tag gefeiert. Wer dies ganz präzise haben möchte, den
verweise ich auf den Kürschner, in dem Sie all die Infor-
mationen finden, wenn Sie diese nicht ohnehin im Kopf
haben.


(Beifall)


– Ich bin noch nicht durch. – Am 31. Dezember hat der
Kollege Klaus Hagemann seinen 65. Geburtstag gefei-
ert, am 6. Januar der Staatsminister Bernd Neumann
seinen 71., am 7. Januar der Kollege Bernd Scheelen
seinen 65., am 12. Januar der Kollege Friedrich
Ostendorff seinen 60., am 13. Januar der Kollege
Norbert Geis seinen 74. und gestern der Kollege
Gregor Gysi seinen 65. Geburtstag.


(Beifall)


Ihnen allen einzeln und gemeinsam alle denkbar guten
Wünsche für das neue Lebensjahr. Wir freuen uns auf
eine weitere gute, bewährte und hinreichend eingeübte
Zusammenarbeit.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Hatte der Kollege Steinbrück nicht auch Geburtstag? – Gegenruf des Abg. Peer Steinbrück [SPD]: Steinmeier auch!)


Der Kollege Fritz Kuhn hat, wie den meisten von Ih-
nen aufgefallen sein wird, eine neue Aufgabe übernom-
men


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und deswegen mit Wirkung vom 7. Januar 2013 auf
seine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzich-
tet.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP – Heiterkeit)


Ich habe mir fast gedacht, dass die Begeisterung über die
beiden Hälften dieser Mitteilung unterschiedlich aus-
fällt.


(Heiterkeit)


Für ihn ist die Kollegin Susanne Kieckbusch nachge-
rückt, die ich herzlich begrüße.


(Beifall)


Auch der Kollege Christian Ahrendt, der zum Bundes-
rechnungshof gewechselt ist, hat mit Wirkung vom 8. Ja-
nuar 2013 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun-
destag verzichtet. An seiner Stelle begrüße ich als neuen
Kollegen Hagen Reinhold in der FDP-Fraktion.


(Beifall)


Ihnen beiden ein herzliches Willkommen und gute Zu-
sammenarbeit.

Schließlich möchte ich Sie darauf aufmerksam ma-
chen, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt,
den Tagesordnungspunkt 24 abzusetzen. Die Tagesord-
nungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entspre-
chend vor.

Außerdem soll die Tagesordnung um die in der Zu-
satzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden:





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionen
der CDU/CSU und FDP:

Steuerbeschlüsse der SPD sowie Steuererhö-
hungspläne des SPD-Kanzlerkandidaten und
ihre Auswirkungen auf Wachstum und Be-
schäftigung

ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5
Nummer 1 Buchstabe b GO-BT

zu den Antworten der Bundesregierung auf
die Frage 8 auf Drucksache 17/12041

(siehe 216. Sitzung)


ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Schärfere und effektivere Regulierung der Fi-
nanzmärkte fortsetzen

– Drucksache 17/12060 –

ZP 4 Beschlussempfehlungen des Vermittlungsaus-
schusses

a) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

kommen vom 21. September 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zu-
sammenarbeit in den Bereichen Steuern und
Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012

– Drucksachen 17/10059, 17/11093, 17/11096,
17/11635, 17/11693, 17/11840 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann

b) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

und Vereinfachung der Unternehmensbesteue-
rung und des steuerlichen Reisekostenrechts

– Drucksachen 17/10774, 17/11180, 17/11189,
17/11217, 17/11634, 17/11694, 17/11841 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister

c) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

der kalten Progression

– Drucksachen 17/8683, 17/9201, 17/9202,
17/9644, 17/9672, 17/11842 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister

d) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

Förderung von energetischen Sanierungsmaß-
nahmen an Wohngebäuden

– Drucksachen 17/6074, 17/6251, 17/6358,
17/6360, 17/6584, 17/7544, 17/11843 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller (Erlangen)


e) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

2013

– Drucksachen 17/10000, 17/10604, 17/11190,
17/11191, 17/11220, 17/11633, 17/11692,
17/11844 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann

ZP 5 Vereinbarte Debatte

zu steuerpolitischen Beschlüssen

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan
Schwartze, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der SPD

Mit einer eigenständigen Jugendpolitik Frei-
räume schaffen, Chancen eröffnen, Rückhalt
geben

– Drucksache 17/12063 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Opfer des Brustimplantate-Skandals unter-
stützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizi-
nischer Notwendigkeit

– Drucksachen 17/8581, 17/12092 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Marlies Volkmer

Dabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn der
Beratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.





Präsident Dr. Norbert Lammert


(A) (C)



(D)(B)


Schließlich darf ich noch auf eine nachträgliche Aus-
schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-
merksam machen:

Der am 29. November 2012 (211. Sitzung) überwie-
sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich dem
Ausschuss für Kultur und Medien (22. Ausschuss) zur
Mitberatung überwiesen werden:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Innenentwicklung in den Städten
und Gemeinden und weiteren Fortentwick-
lung des Städtebaurechts

– Drucksache 17/11468 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für Kultur und Medien

Ich frage Sie, ob Sie mit all diesen Vereinbarungen
einverstanden sind. – Das ist offenkundig der Fall. Dann
haben wir eine einvernehmliche Tagesordnung.

Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe,
darf ich Sie über eine weitere Veränderung in Kenntnis
setzen. Mit Beginn des Jahres hat Herr Dr. Risse die
Position des Direktors beim Deutschen Bundestag ein-
genommen.


(Beifall)


Den meisten wird er hinreichend bekannt sein; aber wir
begrüßen ihn heute das erste Mal in dieser neuen Auf-
gabe und freuen uns auf die Zusammenarbeit.

Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:

a) Abgabe einer Regierungserklärung durch den
Bundesminister für Wirtschaft und Technologie

Jahreswirtschaftsbericht 2013 – Wettbewerbs-
fähigkeit – Schlüssel für Wachstum und Be-
schäftigung in Deutschland und Europa

b) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Jahreswirtschaftsbericht 2013 der Bundesre-
gierung

– Drucksache 17/12070 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung

Ausschuss für Tourismus
Haushaltsausschuss

c) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-
gierung

Jahresgutachten 2012/13 des Sachverständi-
genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-
schaftlichen Entwicklung

– Drucksache 17/11440 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für Tourismus
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache im Anschluss an die Regierungserklärung
eine Debattenzeit von 90 Minuten vorgesehen. – Auch
dazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir so
verfahren.

Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hat
der Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,
Philipp Rösler.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaft
und Technologie:

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten
Damen und Herren Abgeordnete! Schauen wir uns die
Zahlen des Jahreswirtschaftsberichts doch einfach ein-
mal an:


(Klaus Barthel [SPD]: Gerne!)


0,7 Prozent Wachstum waren im letzten Jahr zu ver-
zeichnen, und das, obwohl die Wirtschaft im übrigen
Teil der Euro-Zone seit mehr als vier Quartalen
schrumpft.


(Klaus Barthel [SPD]: Dafür haben Sie ja gesorgt! – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Wie die FDP!)


Wir liegen damit bei den Wachstumswerten europaweit
an der Spitze.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Nicht so die FDP!)


In der Folge gibt es mehr Chancen für mehr Menschen,
Rekordbeschäftigung, höhere Einkommen, niedrigere
Schulden.


(Brigitte Pothmer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist los? Hohe Einkommen?)


Ich sage Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Her-
ren: Es ist kein Zufall, dass Deutschland europaweit am
besten durch die Krise gekommen ist. Es ist kein Zufall,
dass wir wirtschaftlich gut dastehen. Es ist auch kein Zu-





Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


fall, dass jeden Tag neue Arbeits- und Ausbildungsplätze
geschaffen werden. Das ist ein Verdienst der Menschen
in unserem Lande, aber es ist auch ein Verdienst der
Politik dieser Regierungskoalition aus CDU, CSU und
FDP.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Während die Opposition ihre eigenen Leute und ihre
eigenen Mitarbeiter mit Hausbesuchen beglückt, arbei-
ten Union und FDP weiter an der nächsten Etappe dieser
deutschen Erfolgsgeschichte:


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die FDP arbeitet vor allem daran, wieder auf 5 Prozent zu kommen!)


für die Unternehmen, auf dem Arbeitsmarkt, für die öf-
fentlichen und für die privaten Haushalte. Ich sage Ih-
nen: Die deutsche Wirtschaft hat alle Chancen. Für das
Jahr 2013 erwarten wir ein Wachstum von 0,4 Prozent.


(Klaus Barthel [SPD]: Wahnsinn!)


Diese technische Zahl darf nicht darüber hinwegtäu-
schen, dass wir für das Jahr 2013 natürlich ein starkes
Wachstum und für das Jahr 2014 mit 1,6 Prozent ein
noch viel stärkeres Wachstum erwarten. Auch in diesem
und in den nächsten Jahren bleibt Deutschland der Stabi-
litätsanker in Europa und der Wachstumsmotor in Eu-
ropa und für Europa, meine sehr verehrten Damen und
Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Warum haben wir reduzierte Wachstumszahlen? Der
Grund dafür liegt allein in der Wachstumsdelle im Win-
terhalbjahr 2012.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Wir haben weniger Wachstum, weil wir weniger Wachstum haben!)


Diese wiederum hat ihre Ursache zum einen in der welt-
wirtschaftlichen Lage, zum anderen aber auch in der
Verunsicherung innerhalb der Euro-Zone.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, Herr Rösler! Was war denn mit Griechenland?)


Insofern ist es richtig, dass wir alles dafür tun, die Euro-
Zone weiter zu stabilisieren.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Das sagt der Richtige!)


Wenn Sie sich die entsprechenden Zahlen und die
Stimmung auch auf den europäischen Märkten ansehen,
dann werden Sie feststellen: Wir sind auf einem ausge-
sprochen guten Weg. Die Märkte fassen wieder Ver-
trauen in die Euro-Zone; das sieht man an den niedrige-
ren Zinsen. Vor allem aber fassen auch die Unternehmen
und die Menschen wieder Vertrauen in unsere gemein-
same Währung. Das ist ein Verdienst unserer Bundes-
kanzlerin Angela Merkel, des Finanzministers Wolfgang
Schäuble, aber auch der gesamten Regierungskoalition.

Wir haben Schluss gemacht mit Schulden. Wir haben für
einen neuen Stabilitätspakt, für eine Stabilitätsunion ge-
sorgt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Deswegen vertrauen die Menschen unserer gemeinsa-
men Währung, dem Euro.

Vergessen wir nicht, wie verheerend Ihre Europapoli-
tik war: Sie waren es doch, die den Stabilitätspakt I wil-
lentlich aufgelöst haben. Jetzt wollen Sie eine Verge-
meinschaftung der Schulden durch Euro-Bonds, und Sie
wollen an die Einlagensicherung der kleinen Sparer in
Deutschland gehen. Wenn wir uns Ihre Europapolitik an-
sehen, angefangen bei Gerhard Schröder und Joschka
Fischer bis hin zu Ihrer Trümmer-Troika, dann wissen
wir doch eines: Die rot-grüne Europapolitik war auch
das historische Versagen von Rot und Grün in Deutsch-
land und in Europa.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir müssen und wir werden gemeinsam die Währung
stabilisieren, und wir sind dabei auf einem guten Wege.
Wir sind bereit, einen Preis dafür zu zahlen; denn wir
alle kennen den Wert Europas für unser Land.


(Klaus Barthel [SPD]: Vergemeinschaftung, oder was?)


Den Preis, den die Sozialdemokraten offensichtlich
gerne zahlen würden, sind wir aber nicht zu zahlen be-
reit: Das ist der Preis der Geldwertstabilität.


(Burkhard Lischka [SPD]: Holen Sie hier jetzt Ihr verkorkstes Dreikönigstreffen nach?)


Eine Schwächung der Währung, Inflation, ein Zusam-
menbruch der Währung träfe nicht die Reichen und die
Superreichen. Durch eine Inflation oder einen Zusam-
menbruch der Währung würde die Mitte in unserer Ge-
sellschaft enteignet, diejenigen, die ihr Leben lang hart
gearbeitet und sich für das Alter etwas zur Seite gelegt
haben. Einer solchen Enteignung dürfen wir niemals zu-
stimmen. Deswegen kämpfen wir für die Unabhängig-
keit der Europäischen Zentralbank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Rolf Hempelmann [SPD]: Ihr macht aber das Gegenteil!)


Wir kämpfen


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Um das eigene Überleben!)


auch für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unse-
res Landes. Die beste Basis für eine starke Wirtschaft


(Manfred Zöllmer [SPD]: Wäre ein besserer Wirtschaftsminister!)


sind solide Haushalte im Bund und in den Ländern. Des-
wegen treten wir für eine wachstumsorientierte Konsoli-
dierungspolitik ein. Wir sind dabei sehr erfolgreich.


(Ulrich Kelber [SPD]: Deswegen geht das Wachstum in jedem Jahr Ihrer Ministerzeit zurück!)






Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


Vier Jahre früher, als es die Schuldenregel vorgibt, haben
wir im Rahmen der Schuldenbremse solide Haushalte
auf den Weg gebracht.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was? Wo denn? – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist Ihr Konsolidierungsbeitrag?)


Wir haben gemeinsam vor, für das Jahr 2014 einen
strukturell ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen.
Damit gerät das Ziel, das wir uns vorgenommen haben
– einen ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2016 –, in
greifbare Nähe. Das wäre dann, meine Damen und Her-
ren, der erste ausgeglichene Bundeshaushalt seit mehr
als 50 Jahren. Das zeigt die Solidität, die Stabilität in der
Haushalts- und Finanzpolitik dieser Regierungskoali-
tion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Schauen wir uns nun Ihre Politik an: Sie sind gegen
eine Schuldenbremse in den Bundesländern. Das beste
Beispiel ist Niedersachsen, wo die Sozialdemokraten ge-
rade eine entsprechende Verfassungsänderung abgelehnt
haben. In Nordrhein-Westfalen hat Rot-Grün gerade be-
schlossen, die Schuldenbremse bis zum Jahre 2020 nicht
einhalten zu wollen. Das, meine Damen und Herren, ist
Verfassungsbruch mit Ansage.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Was ist das für ein Blödsinn?)


Die Schulden in Deutschland, die Schulden im Bund und
in den Ländern, haben zwei Farben, nämlich Rot und
Grün.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Belegen Sie das! – Ulrich Kelber [SPD]: Wir halten die Schuldenbremse schneller ein als geplant! Das ist eine Lüge! – Burkhard Lischka [SPD]: Wer schreibt Ihnen so einen Quatsch auf?)


Sie belasten nicht nur die nachfolgenden Genera-
tionen, Sie wollen schon heute den Menschen in die Ta-
sche greifen. Nach dem Steinbrück-Papier, nach den
Steinbrück-Thesen würden, wie im Tagesspiegel zu le-
sen war, nicht nur Familienunternehmer, sondern auch
Angestellte um bis zu 16 Prozent stärker belastet.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Ach Gott! – Weiterer Zuruf von der SPD: Mövenpick!)


Wenn man das, was die Grünen vorschlagen, hinzurech-
net, erkennt man: Rot und Grün sind gut für 40 Milliar-
den Euro Mehrbelastung der Menschen. Sie können gar
nicht genug kriegen vom Abkassieren. Das ist Ihre Poli-
tik: Entweder Sie machen Schulden, und/oder Sie holen
sich das Geld bei den Menschen. Das Gegenteil ist not-
wendig: Sie müssen daran arbeiten, die Menschen zu
entlasten.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das sagt die FDP mit ihrer Klientelpolitik! Mehrwertsteuer! Mövenpick! – Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben das falsche Manuskript!)


Ich sage Ihnen: All das, was Sie sich vorgenommen ha-
ben, was Sie sich erträumen für Deutschland, das können
wir in Europa schon heute umgesetzt sehen, sei es die
Einführung einer Vermögensteuer, die Erhöhung der
Erbschaftsteuer oder ein hoher Spitzensteuersatz.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ich dachte, Sie reden über Wirtschaft in Deutschland!)


Es wäre egal, wenn dann einige Schauspieler unser
Land verlassen.


(Lachen bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Aber wenn dank Ihrer Politik mittelständische Unterneh-
men darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen,
dann müssen wir aufmerksam werden; denn es sind un-
sere Mittelständler, die neue Arbeits- und Ausbildungs-
plätze schaffen. Dafür müssen wir gemeinsam kämpfen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Weil Sie nichts für den Mittelstand tun! – Zurufe von der SPD)


Anstatt die Menschen zu belasten, wie Sie das gemein-
sam vorhaben, wäre es klug, diejenigen zu entlasten,


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Ihre Klientel, ja! – Dr. Tobias Lindner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Mövenpick!)


die uns das Wachstum und den Wohlstand in Deutsch-
land erarbeiten.

Kommen wir einmal zu der Entlastung. In diesem
Jahr, 2013, hat ein durchschnittlicher Angestellter laut
Gesellschaft für Konsumforschung 550 Euro mehr
Netto. 550 Euro mögen für Sozialdemokraten nicht viel
sein – dafür bekommt man vielleicht ein paar Flaschen
Pinot Grigio; ich weiß es nicht genau –,


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Das reicht für eine halbe Minute Steinbrück-Rede! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was soll das?)


aber für die Menschen da draußen ist das verdammt viel
Geld.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Was ist mit den Strompreisen?)


Fast 7 Milliarden Euro Entlastung durch die Senkung
des Rentenversicherungsbeitrages, fast 1 Milliarde Euro
Entlastung durch die Anhebung des Grundfreibetrages
und 1,8 Milliarden Euro Entlastung durch die Abschaf-
fung der Praxisgebühr in Deutschland:


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das war nicht Ihre Entscheidung!)






Bundesminister Dr. Philipp Rösler


(A) (C)



(D)(B)


Das ist Politik für die Mitte in unserem Lande, das ist
Politik, die bei den Menschen ganz konkret ankommt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Und die Belastung durch die Strompreise durch Ihre Politik!)


Kommen wir zu den Energiepreisen. Es bedeutet eine
Belastung und eine Schwächung der Wettbewerbsfähig-
keit, wenn wir es nicht schaffen, die Energiepreise in den
Griff zu bekommen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie tun aber nichts!)


Deswegen brauchen wir eine grundlegende Reform des
Gesetzes zur Förderung der erneuerbaren Energien.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Warum macht ihr es denn nicht?)


Das, was wir jetzt haben, ist ein planwirtschaftliches
System. Damit kennt sich vielleicht die Linkspartei aus,
aber damit werden wir die Preise nicht in den Griff be-
kommen.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Fragen Sie einmal Frau Aigner!)


Deswegen haben wir uns vorgenommen, diese Reform
anzugehen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Wann denn?)


Wir wollen drei Dinge gemeinsam: Umweltverträg-
lichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit von
Energie für 4 Millionen Unternehmen in Deutschland,
vor allem aber auch für 40 Millionen Haushalte, die alle
unter den Strompreisen zu leiden haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Dann tun Sie doch etwas! – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer regiert denn hier?)


Schauen Sie sich die Ergebnisse dieser Politik auf
dem Arbeitsmarkt doch einmal an: die höchste Beschäf-
tigungszahl seit Bestehen der Bundesrepublik Deutsch-
land, 41,6 Millionen Erwerbstätige, die niedrigste Ar-
beitslosenquote seit der deutschen Wiedervereinigung,
die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu rot-grünen Zeiten
abgebaut, 2 Millionen Menschen mehr in Lohn und
Brot, 2 Millionen Chancen mehr für Menschen und ihre
Familien.


(Sylvia Kotting-Uhl [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber nur 29 Millionen sozialversicherungspflichtig!)


Schauen Sie sich die Zahlen wirklich an! 117 Seiten
Jahreswirtschaftsbericht. Was die Menschen wirklich
spüren: Sie bemerken die Verbesserungen nicht anhand
der Kennzahlen, aber in ihrem eigenen persönlichen Le-
ben. Ich sage Ihnen: Deutschland geht es gut, den Men-
schen in unserem Lande geht es gut, und wir als Regie-
rungskoalition stehen dafür, dass genau dies auch in

Zukunft so bleibt. Das ist unser gemeinsamer Auftrag,
und das sagt der Jahreswirtschaftsbericht für 2013.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es wird der richtige Weg sein, alles dafür zu tun, die
Euro-Zone weiter zu stabilisieren, damit das Vertrauen
der Menschen und der Unternehmen noch weiter zuneh-
men kann,


(Rolf Hempelmann [SPD]: Was heißt das?)


damit sie wieder anfangen, zu investieren, und die Inves-
titionsbereitschaft zunimmt, für stabiles Geld zu sorgen –
für Menschen und Unternehmen gleichermaßen.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss man etwas dafür tun!)


Es wird der richtige Weg sein, die Wettbewerbsfähigkeit
zu verbessern, neben Rohstoffversorgung und Fachkräf-
tesicherung vor allem dafür zu sorgen, dass Energie auch
in Zukunft bezahlbar bleibt, und diejenigen am Ende zu
entlasten, die uns diesen Wohlstand erwirtschaften, näm-
lich die Menschen in unserem Lande. Das ist die Politik,
die Deutschland braucht, um Wachstum zu verstetigen
und für Wohlstand und Beschäftigung zu sorgen. Der
Jahreswirtschaftsbericht drückt das nicht nur in seinen
Zahlen aus, sondern er zeigt auch, dass dieser Politikan-
satz richtig ist.

Sie denken nur ans Abkassieren, Weitergeben und
Umverteilen.


(Lachen des Abg. Rolf Hempelmann [SPD])


Es muss eben auch eine Koalition geben, so wie wir, die
an diejenigen denkt, die uns all das erwirtschaften.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Deshalb seid ihr auch so beliebt im Land!)


Sie gilt es zu stärken und zu entlasten. Das ist unsere
politische Botschaft für das Wirtschaftsjahr 2013.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Anhaltender Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721700100

Ich eröffne nun die Aussprache. Das Wort erhält zu-

nächst der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1721700200

Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-

ren! Herr Bundesminister für Wirtschaft, der Sie ja sein
sollen, Herr Rösler,


(Zuruf von der CDU/CSU: Er ist es!)


ich finde einen Satz in Ihrer launigen Rede von eben sehr
bemerkenswert, nämlich den schönen Satz, es sei nicht
schlimm, wenn Schauspieler Deutschland verließen. Ich
sage Ihnen, es wäre gut, wenn schlechte Laiendarsteller
diese Regierung verließen. Das sage ich Ihnen ganz
deutlich





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)



(Heiterkeit und Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha, ha, ha!)


Wenn es wirklich so wäre, Herr Rösler, dass die
Wachstumsentwicklung in diesem Land etwas mit Ihnen
zu tun hätte,


(Volker Kauder eine tolle Nummer! Ha, ha, ha! dann müssten wir einmal einen Blick auf die Wachstumsentwicklung in Ihrer Amtszeit werfen: Sie sind mit 3 Prozent gestartet, haben dann 0,7 Prozent gehabt, und müssen jetzt auf 0,4 Prozent herunter. Wenn es so wäre, dass Sie mit dem Wirtschaftswachstum in Deutschland etwas zu tun hätten, dann müsste man sagen: Durch Sie ist das Wachstum in Deutschland noch stärker geschrumpft als die Wahlergebnisse der FDP. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben hier keine Rede eines Bundeswirtschafts-
ministers erlebt, sondern die eines FDP-Vorsitzenden,
der um sein nacktes Überleben als Politiker kämpft.


(Unruhe bei der CDU/CSU)


Das, Herr Rösler, ist angesichts der wirtschaftlichen
Lage in diesem Land nicht angemessen.

Gucken wir uns die wirtschaftlichen Daten an! Sie
mussten die Wachstumserwartung für dieses Jahr auf
0,4 Prozent herunterschrauben. Das hat nicht nur Gründe
in Deutschland, sondern das hat vor allen Dingen damit
zu tun, dass die Krise, die wir bis dato besser überstan-
den haben als andere Volkswirtschaften in Europa, jetzt
nach Deutschland zurückkommt.

Wir als Exportnation erleben, dass die Nachfrage im
Ausland, vor allen Dingen in der Euro-Zone, zusammen-
gebrochen ist. Das hat Folgen für die deutsche Wirt-
schaft. Deshalb müssen Sie sich nicht zurechnen lassen,
dass in anderen Ländern tatsächlich auch Fehler gemacht
wurden – das ist nicht Ihr Problem –, aber Sie, Frau
Merkel, haben in den letzten drei Jahren die Krise in
Europa nicht gelöst, sondern mit der Art und Weise, wie
Sie sie gemanagt haben, diese Krise verschärft. Daher
tragen Sie, Frau Merkel, die Verantwortung für die wirt-
schaftliche Entwicklung, die jetzt nach Deutschland zu-
rückkommt.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Herr Heil, das glauben nicht einmal Ihre Wohnzimmerfreunde! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU: Oh, oh!)


Wir haben erlebt, dass Sie sich drei Jahre lang in
Deutschland auf guten konjunkturellen Entwicklungen,
auf Entscheidungen der Vorgängerregierung ausgeruht
haben.


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben keine Zukunftsvorsorge getroffen. Sie haben
tatsächlich von dem Mut Ihrer Vorgängerregierungen für
Veränderungen in diesem Land profitiert. Sie haben da-
von profitiert, dass die Große Koalition mit Olaf Scholz

veränderte Regeln zur Kurzarbeit eingeführt hat, Sie ha-
ben davon profitiert, dass wir Konjunkturprogramme auf
den Weg gebracht haben. Das hat Deutschland in den
letzten drei Jahren stabilisiert.


(Beifall bei der SPD)


Aber Sie, Herr Rösler, haben in diesen Jahren die
Chance verpasst, sich für schwierigere Zeiten zu wapp-
nen. Ich kann Ihnen das an einzelnen Stellen nachwei-
sen. Sie haben es ja geschafft, nach drei Jahren guter
konjunktureller Entwicklung und nach recht positiven
Entwicklungen am Arbeitsmarkt jetzt bei der Bundes-
agentur für Arbeit ein Milliardendefizit in die Kasse zu
reißen.


(Zuruf von der FDP: Quatsch!)


Sie müssen sich fragen lassen, ob das tatsächlich das
ist, was wir brauchen; denn möglicherweise brauchen
wir wieder veränderte Regeln zur Kurzarbeit, und zwar
weit über das hinaus, wie Sie jetzt zaghaft einräumen,
was in diesem Land notwendig ist. Es ist sinnvoller, Ar-
beit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Deshalb wer-
den wir entsprechende Vorschläge in den Deutschen
Bundestag einbringen.


(Beifall bei der SPD)


Was haben Sie in drei Jahren guter konjunktureller
Entwicklung mit der Art und Weise, wie Herr Schäuble
mit dem Haushalt umgegangen ist, gemacht? Sie hätten
die Neuverschuldung in diesem Land stärker senken
können, aber Sie haben mit Buchungstricks versucht,
Ihre Haushaltszahlen zu schönen, indem Sie beispiels-
weise die Kasse der Kreditanstalt für Wiederaufbau
plündern, und zwar gegen die über Jahrzehnte hinweg
praktizierte Übung.


(Ulrich Kelber [SPD]: Bankraub ist das! – Patrick Döring [FDP]: SPD-Vorschläge!)


Die KfW, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, wird in
Zukunft dringend gebraucht, und die braucht tatsächlich
Unterstützung in diesem Land und keinen Bundesfinanz-
minister, der seine klebrigen Finger in das Portfolio der
KfW steckt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Mann, sind Sie ein primitiver Kerl!)


Nein, meine Damen und Herren, Zukunftsvorsorge
sieht anders aus. Wir brauchen eine aktive Wirtschafts-
politik, die jetzt anpackt,


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hände weg von der KfW!)


die auch dafür sorgt, dass das, was strukturell in diesem
Land notwendig ist, stattfinden kann. Die deutsche Wirt-
schaft muss wettbewerbsfähig bleiben, gar keine Frage.
Dafür brauchen wir stärkere Unterstützung für Investi-
tionen in Deutschland, beispielsweise steuerliche For-
schungsförderung; die haben Sie versprochen, aber an
dieser Stelle eben nicht geliefert.





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


Wir brauchen nicht nur eine stärkere Wettbewerbsfä-
higkeit, sondern wir bleiben in Deutschland auch hin-
sichtlich der Binnennachfrage weit unter unseren Mög-
lichkeiten. Der Schlüssel dazu sind nicht irgendwelche
Stellschrauben allein im Steuersystem, der Schlüssel
dazu ist, dafür zu sorgen, dass wir eine faire Entwick-
lung bei Löhnen und Gehältern in diesem Land bekom-
men. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt,
damit die Menschen tatsächlich faire Löhne bekommen.
Das stützt die Kaufkraft und die Binnennachfrage in die-
sem Land. Auch das verweigert diese Bundesregierung.


(Beifall bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Ihr wollt doch mehr Inflation!)


Ich schaue einmal in diesen Jahreswirtschaftsbericht,
in dieses Dokument Ihrer Untätigkeit, und zitiere mit der
Erlaubnis des Herrn Präsident aus dem Bericht, Seite 47.
Frau Merkel, hören Sie gut zu; denn das ist kennzeich-
nend für Ihre Regierung.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie arroganter Kerl, Sie! – Weitere Zurufe von der CDU/ CSU)


– Sie werden erlauben müssen, dass eine Opposition ei-
ner Regierung aus Ihrem eigenen Bericht vorliest. Oder
macht Sie schon das nervös?


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Führen Sie sich nicht auf wie ein Oberlehrer! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Aufgeblasener Kerl! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das Niveau von Eierlikör!)


Ich lese Ihnen einen Satz auf Seite 47 vor – Zitat –:

Die Meinungsbildung zu einer allgemeinen gesetz-
lichen Lohnuntergrenze ist innerhalb der Regie-
rungskoalition nicht abgeschlossen.

Wie lange diskutieren wir in Deutschland über den ge-
setzlichen Mindestlohn? Sie müssen hier vorankommen.
Sie sind eine Koalition der wechselseitigen Blockade.
Aber Sie schaffen keinen gesetzlichen Mindestlohn in
diesem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721700300

Herr Kollege Heil, darf Ihnen der Kollege Lindner

eine Zwischenfrage stellen?


Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1721700400

Bitte schön.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1721700500

Herr Kollege Heil, ich stelle Ihnen eine Frage, weil

Sie uns gerade erzählten, dass diese Koalition nicht für
Schuldenabbau steht. – Haben Sie heute den General-
Anzeiger Bonn gelesen? Minister Walter-Borjans – ken-
nen Sie den? – sagt: Schulden sind kein Drama. – Das ist
die Überschrift. – Er sprach davon, dass es in Deutsch-
land ein gesundes Verhältnis von Schulden, Vermögen
und Einkommen gebe. Die gesamten Schulden beliefen

sich auf etwa 6 Milliarden Euro. Er wolle damit nicht sa-
gen, dass die Landesschulden nicht zurückgezahlt wer-
den müssten. Aber das sei alles gar kein Problem. Pro-
blematisch sei es, wenn die Menschen das Gefühl hätten,
dass sie das Geld nicht mehr zurückbekämen, das sie
dem Staat liehen.

Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie uns
hier erzählen. Dort, wo Sie Verantwortung tragen, in
Nordrhein-Westfalen und anderswo, machen Sie genau
das Gegenteil dessen, was Sie gesagt haben: noch mehr
Schulden und eine Aushebelung der Schuldenbremse.
Sie wollen Inflation, Sie bekennen sich zur Inflation.
Aber das ist genau das Gegenteil von dem, was der Mit-
telstand, die Mittelschicht braucht. Die Mittelschicht in
Deutschland legt ihr Geld in Lebensversicherungen und
Barvermögen an. Das unterscheidet übrigens die Mittel-
schicht in Deutschland von der US-Mittelschicht.

Wenn Sie hier diesen Kurs in Deutschland realisieren,
sei es in Niedersachsen oder sonst wo, dann entwerten
Sie das Vermögen der ganz normalen Menschen in der
Mittelschicht, die hart für dieses Geld gearbeitet haben.
Das ist die Wahrheit. Das ist der große Unterschied zu
dem, was Sie uns hier erzählen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Hubertus Heil (SPD):
Rede ID: ID1721700600

Sind Sie zu Ende, Herr Lindner?


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Ulrich Kelber [SPD]: Ich kenne den Artikel aus dem General-Anzeiger! Das ist ein falsches Zitat!)


Herr Dr. Lindner, ich danke Ihnen für die Gelegenheit,
auf diese – ich sage es einmal so – Zwischenbemerkung


(Jörg van Essen [FDP]: Zwischenintervention!)


– auf diese Zwischenintervention – zu antworten. Das
mache ich sehr gern. Ich will Ihnen Folgendes sagen:
Was den Bundeshaushalt betrifft, so haben Sie die
Chance verpasst, tatsächlich dafür zu sorgen, dass wir
von der hohen Neuverschuldung in Deutschland herun-
terkommen. In Zeiten guter konjunktureller Entwicklung
haben Sie Folgendes gemacht: Sie haben mit Ihrer Ho-
telsteuer Klientelinteressen bedient.


(Zurufe von CDU/CSU und FDP: Ah!)


Sie haben gleichzeitig mit dem unsinnigen Betreuungs-
geld 2 Milliarden Euro verschleudert. Sie verschleudern
Steuergeld, weil Sie den Mindestlohn nicht einführen.
Was ist denn die Realität? Die Realität ist, dass immer
mehr Menschen in Deutschland zwar Vollzeit arbeiten,
aber sich dann ergänzend dazu Arbeitslosengeld II, also
Steuergeld, vom Amt abholen müssen.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sagen Sie mal etwas zu dem, was ich gesagt habe!)


Wir sagen: Mit einem Mindestlohn hätten wir Steuer-
mehreinnahmen für Investitionen. Diese Investitionen
sind bei Kommunen, Ländern und im Bund notwendig:
in Schulen, in Bildung, in Infrastruktur. Diese Möglich-





Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


keiten verspielen Sie mit der Art und Weise, wie Sie
Politik gemacht haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben das Ergebnis von drei Jahren guter Konjunktur
verfrühstückt. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Deshalb, Herr Lindner, herzlichen Dank für diese Gele-
genheit.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Sie sagen nichts zu Ihrem Minister!)


Wenn wir über die wirtschaftspolitische Bilanz von
Herrn Rösler und dieser Bundesregierung reden, dann
müssen wir auch über Energiepolitik in diesem Land re-
den. Herr Rösler, Sie haben eben gesagt: man müsste
einmal, man sollte einmal. Deutschland könnte mit einer
gelungenen Energiewende, die im Kern eine Riesen-
chance für dieses Land ist, in einer Welt, die einen gro-
ßen Energiehunger hat, Ausrüster der Welt sein: bei er-
neuerbaren Energien, bei Energieeffizienz, bei modernen
Energieversorgungssystemen.

Sie haben in Ihrer Amtszeit aus der Chance der Ener-
giewende ein wirtschaftliches und ein soziales Risiko für
Deutschland gemacht. Die Strompreise steigen, die Ver-
sorgungssicherheit ist gefährdet, und Rösler und
Altmaier als Mitglieder dieser Bundesregierung zanken
sich wie zwei Kinder um – –


(Zurufe von der CDU/CSU – Ulrich Kelber [SPD]: Der Streit ist so schlimm! Da kann man sich mal verhaspeln!)


– Das passiert Ihnen natürlich nie. Herr Hinsken, es regt
mich wirklich auf, wie sich Herr Altmaier und Herr
Rösler wechselseitig blockieren, wenn es um die not-
wendigen Maßnahmen geht. – Wo ist denn Ihr Master-
plan zur Energiewende? Die Art und Weise, wie Sie die
Energiewende gegen die Wand fahren, wird zu einem
wirtschaftlichen Risiko in diesem Land.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Strompreise sind dramatisch gestiegen, insbeson-
dere für Unternehmen, die nicht von den Ausnahmerege-
lungen profitieren, die Sie auf eine Art und Weise ausge-
weitet haben, die nur noch unsinnig zu nennen ist. Die
Stromzahler, die Verbraucher und diese Unternehmen,
haben die Kosten dafür zu wuppen. Wir erleben, dass es
zum sozialen Problem wird, wenn Strompreise steigen.

Wo sind Ihre Sofortmaßnahmen, und wo ist Ihr Mas-
terplan, um die Energiewende zum Erfolg zu führen?
Nein, Herr Rösler, das nenne ich Energiewendeversager.
In der Art und Weise, wie Sie das machen, werden Sie
zum wirtschaftlichen Risiko. Wenn Sie das nicht glau-
ben, dann fahren Sie einmal in unsere niedersächsische
Heimat und informieren sich darüber, wie gerade die
SIAG Nordseewerke in die Insolvenz getrieben wurden,
weil Sie die Planungs- und Investitionssicherheit für die

Energieversorgung in Deutschland kaputtgemacht ha-
ben. Das ist die Schadensbilanz Ihrer Energiepolitik.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Unterm Strich erleben wir zurzeit eine Situation, die
wir realistisch einschätzen müssen. Deutschland hat gute
Voraussetzungen, aus dieser schwierigen Situation he-
rauszukommen. Aber das liegt nicht an dieser Bundesre-
gierung, sondern daran, dass wir in diesem Land eine
breite industrielle Wertschöpfungskette haben: von den
Grundstoffindustrien über die kleinen und mittelständi-
schen Unternehmen bis zu den Hightechschmieden.

Wir haben in Deutschland die Möglichkeit, mit der
Sozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerk-
schaften, die es bei uns gibt, vernünftige Lösungen zu
finden. Was wir brauchen, ist eine politische Rahmenset-
zung und eine aktive Wirtschaftspolitik, die diese Vo-
raussetzungen und Chancen nutzt. Wir dürfen nicht zu-
gucken, wie die Energiepreise steigen und eine Spaltung
von Gesellschaft und Arbeitsmarkt entsteht.

Zum Thema Fachkräftesicherung habe ich eben nur
warme Worte gehört, Herr Rösler. Was ist denn notwen-
dig, um die Spaltung am Arbeitsmarkt abzuwenden? Wir
haben zurzeit die Situation, dass auf der einen Seite im-
mer mehr Unternehmen, vor allem kleine und mittelstän-
dische Unternehmen, in einzelnen Regionen händerin-
gend qualifizierte Fachkräfte suchen und auf der anderen
Seite Menschen in prekärer Arbeit und Langzeitarbeits-
losigkeit abgehängt sind. Diese Spaltung der Gesell-
schaft zu überwinden, wäre Aufgabe dieser Bundesre-
gierung. Aber Sie legen nichts vor. Im Gegenteil: Sie
vertiefen die Spaltung, weil Sie die prekäre Arbeit in
Deutschland mit Ihren unsinnigen Maßnahmen zu den
Minijobs noch ausweiten, weil Sie sich dem Mindest-
lohn verweigern und weil Sie keinen gleichen Lohn für
gleiche Arbeit für Männer und Frauen und für Stamm-
und Leihbelegschaften in Unternehmen ermöglichen.
Das ist der Zusammenhang. Sie haben nicht begriffen,
dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit
keine Gegensätze, sondern wechselseitige Bedingungen
sind. Wir brauchen eine vorausschauende Wirtschafts-
politik, die die Chancen dieses Landes nutzt, statt zuzu-
gucken, wie die Gesellschaft dabei zerfällt.

Herr Rösler, wenn ich daran denke, welche Gesetzge-
bungsinitiativen Sie in den letzten drei Jahren an die
Wand gefahren oder gar nicht erst ergriffen haben,


(Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Um Gottes willen!)


dann muss ich sagen: Wir haben leider Gottes im Mo-
ment einen Totalausfall im Bundeswirtschaftsministe-
rium, der zum Risiko für dieses Land wird. Deshalb
brauchen wir den Politikwechsel in der Wirtschaftspoli-
tik in Deutschland.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Sie haben einen Totalausfall ganz woanders! Schauen Sie mal Ihre Totalausfälle an! Die sitzen heute hier!)






Hubertus Heil (Peine)



(A) (C)



(D)(B)


– Herr Kauder, angesichts Ihrer Zwischenrufe müssen
Sie heute wirklich sehr nervös sein.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Nein! Ich bin ganz fröhlich!)


Ich sage Ihnen, Herr Kauder: Wenn wir ernsthaft über
die wirtschaftliche Situation in diesem Land diskutieren
wollen, dann werden auch Sie in diesem Zusammenhang
nicht bestreiten können, dass wir einen Bundeswirt-
schaftsminister haben, der ein Problem für diese Koali-
tion geworden ist. Er ist mehr mit der Krise seiner Partei
als mit der Krise der Wirtschaft beschäftigt. Das nimmt
viel Arbeitskraft weg.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Er macht das ausgezeichnet!)


Wenn andere Teile der Regierung das kompensieren
würden, wäre es gut. Aber die Wahrheit ist: Sie sind eine
Koalition, die sich bei den Themen wechselseitig blo-
ckiert. Beim Mindestlohn sagen die einen hü, die ande-
ren hott. Bei der Fachkräftesicherung gibt es keine Ini-
tiative, bei der Energiewende wechselseitige Blockaden,
bei der steuerlichen Forschungsförderung einen Total-
ausfall, und bei der Krise, die wir in Europa zu bewälti-
gen haben, gab es – daran sei erinnert – das unverant-
wortliche Gerede durch den Bundeswirtschaftsminister
im vergangenen Jahr, das die Krise eher verschärft hat.

Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen den
Politikwechsel in der Wirtschafts- und in der Sozialpoli-
tik in Deutschland.


(Beifall bei der SPD)


Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Dokument der Hand-
lungsunfähigkeit dieser Regierung. Wir müssen darüber
reden, wie wir in dieser Gesellschaft die Chancen, die
wir haben, tatsächlich nutzen können. Deutschland ist
bisher Gott sei Dank ein starkes Land.


(Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Dank dieser Regierung! – Volker Kauder [CDU/CSU]: Weil Sie auf der Oppositionsbank sitzen, sind wir stark!)


– Deutschland ist ein starkes Land trotz dieser Regie-
rung, Herr Hinsken. – Wir brauchen schleunigst den
Wechsel im Land. Wir brauchen veränderte Mehrheits-
verhältnisse. Durch die Niedersachsenwahl am Sonntag
ist das im Bundesrat schon möglich. Aber wir brauchen
sie auch im Bund,


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das wird nicht funktionieren!)


damit Deutschland wirtschaftlich wieder auf Erfolgskurs
kommt, statt bei 0,4 Prozent Wachstum weiterzudüm-
peln. Sie nehmen Wirtschaftspolitik nicht ernst. Genau
das ist Ihr Problem.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Volker Kauder [CDU/CSU]: Ha, ha, ha!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721700700

Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Sagt ihr noch was zu Excel-Tabellen und Nebenverdiensten?)



Dr. Michael Fuchs (CDU):
Rede ID: ID1721700800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Heil, ich
kann durchaus verstehen, dass Sie aufgeregt sind. Ich
kann auch durchaus verstehen, dass Sie bei den Umfra-
geergebnissen der letzten Tage von 23 Prozent meinen,
hier etwas retten zu können. So werden Sie das aber
nicht erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Bevölkerung hat schon lange kapiert, dass diese Ko-
alition die richtige Arbeit macht, und deswegen sind die
Umfrageergebnisse so gut, wie sie sind.

Deutschland geht es gut. Diese Koalition war erfolg-
reich und hat dazu beigetragen, dass die Wirtschaftsleis-
tung steigt. Wir hatten in den letzten drei Jahren ein
Wirtschaftswachstum von kumuliert 8 Prozent, Herr
Heil. Das ist eine exzellente Zahl. Zahlen wie diese fin-
den Sie in keinem einzigen Land in Europa; die finden
Sie in fast keinem anderen Industrieland der Welt. Bei
einem Bruttoinlandsprodukt von circa 2,5 Billionen
Euro hat Deutschland in den letzten drei Jahren ein
Wachstum in Höhe von gut 200 Milliarden Euro zu-
stande gebracht. Das entspricht beispielsweise dem
Bruttoinlandsprodukt von Hongkong, von Singapur oder
auch von Finnland. Das ist doch eine Erfolgsstory. Dies
können Sie auch mit noch so viel dümmlichem Geschrei
nicht bestreiten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Erwerbstätigenzahl ist – der Bundeswirtschafts-
minister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen – auf
41,6 Millionen gestiegen. Eine so hohe Zahl hatten wir
noch nie in Deutschland. Das heißt ganz konkret – ich
liebe es, solche Zahlen herunterzubrechen, weil man das
dann wesentlich besser versteht –, dass in Deutschland
pro Tag im Durchschnitt 1 000 Menschen mehr erwerbs-
tätig sind.

Noch beachtlicher ist die Entwicklung bei den sozial-
versicherungspflichtigen Beschäftigungen. Deren Zahl
ist um 1,5 Millionen, von 27,5 Millionen auf jetzt
29 Millionen, angestiegen. Das sind deutlich mehr als
1 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze pro
Tag, seitdem diese Regierung an der Macht ist, Herr
Heil. Der BDI hat vor kurzem bekannt gegeben, dass
von diesen 1 000 Arbeitsplätzen allein 500 industrielle
Arbeitsplätze sind. Daher können Sie nicht behaupten,
dass das alles prekäre Arbeit sei.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich denke nicht, dass die deutsche Industrie prekäre Ar-
beitsplätze anbietet.





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)


Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit deutlich gesun-
ken. Pro Tag sind über 400 Menschen in Arbeit gekom-
men, die vorher nicht in Arbeit waren, seitdem Angela
Merkel diese christlich-liberale Regierung führt.


(Zuruf von der LINKEN: Da war es wieder!)


In der gesamten EU ist Deutschland die Wachstumsloko-
motive.

Eines muss ich Ihnen sagen – ich empfehle die Lek-
türe des Handelsblatts; Sie haben es ja vor sich liegen –:
In den Ländern, wo Sie etwas zu sagen haben, sieht die
Situation schlecht aus. Heute wird bekannt gegeben,
dass Hamburg ein Nettonehmerland wird. Das reiche
Hamburg war über Jahrzehnte ein Geberland. Jetzt wird
es ein Nehmerland. Das haben Sie mit Ihrer Politik in
Hamburg fertiggebracht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt überhaupt nur noch drei Geberländer: Das ist an
allererster Stelle Bayern, das ist Hessen, und das ist Ba-
den-Württemberg; ich befürchte, das kriegen Sie auch
noch kaputt. Sie arbeiten ja daran.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Genau!)


Meine Damen und Herren, das alles ist kein Selbst-
läufer, das alles ist nicht selbstverständlich. Da sind mit
der Politik der Bundeskanzlerin vernünftige Weichen-
stellungen vorgenommen worden. Wir stehen vor strate-
gischen Voraussetzungen für unseren Standort. Wir sind
lange noch nicht am Ende. Wir brauchen wettbewerbsfä-
hige Energiepreise, und vor allen Dingen müssen wir
freien Zugang zu den Rohstoffmärkten der Welt haben.
Beides sind Faktoren, die sich immer mehr zu ganz
wichtigen Standortfaktoren entwickeln.

Mir macht die Situation mit Blick auf die Amerikaner
erhebliche Sorge. Ich hatte vor kurzem ein längeres Ge-
spräch mit amerikanischen Senatoren, die mir gesagt ha-
ben, dass sie eine Reindustrialisierung der USA erwir-
ken möchten. Wie wollen sie das machen? Indem sie für
die niedrigsten Energiepreise in der ganzen Welt sorgen.
Und wie machen sie das? Indem sie Schiefergas und
Schieferöl ausbeuten und sich von jeglichen Importen
unabhängig machen. Sie können sich überlegen, was das
für uns bedeutet. Dann werden energieintensive Unter-
nehmen in die USA abwandern. Das darf nicht passie-
ren. Wenn wir heute unsere Wertschöpfungsketten ka-
puttmachen, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dann
haben wir à la longue Probleme mit unseren Arbeitsplät-
zen. Deswegen sollten wir alle daran arbeiten, dass die
Industriestrompreise niedriger werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Unsere Industriestrompreise sind 40 Prozent höher als
die Frankreichs; ich will jetzt gar keine anderen Verglei-
che ziehen. Das zeigt, wie notwendig es ist, dass wir eine
Energiepolitik betreiben, die dafür sorgt, dass zumindest
unsere exportintensive Wirtschaft von Schwankungen
der Industriestrompreise nicht betroffen ist.

Der nächste Punkt betrifft das gesamte Thema Roh-
stoffsicherheit. Ich empfinde es als völlig richtig, dass
die Bundeskanzlerin in die Mongolei gereist ist, um dort

ein Rohstoffabkommen abzuschließen. Ich halte es auch
für notwendig, dass wir das noch viel intensiver machen.
Die Chinesen zum Beispiel tun das in vielen Ländern be-
reits sehr intensiv, besonders in Schwarzafrika. Das kann
uns nicht egal sein.

Wir sind sehr gut im Recycling; da sind wir vermut-
lich das Land, das in der Welt an der Spitze steht. Wenn
man weiß, dass schon heute über 50 Prozent unserer
Kupfervorkommen aus recyceltem Material stammen,
dann sieht man die Erfolgsstory. Man kann der deut-
schen Wirtschaft nur dazu gratulieren, dass sie das hin-
bekommen hat. Aber das reicht nicht. Wir müssen zu-
sätzlich sicherstellen, dass alle Rohstoffe zu beschaffen
sind; denn die sind das Rückgrat der deutschen Wirt-
schaft.

Meine Damen und Herren, auch den Menschen geht
es gut unter dieser Koalition, zumal ich weiß, dass es in
den letzten drei Jahren erstmalig dreimal hintereinander
jeweils rund 3 Prozent Lohnerhöhung gab. Das war un-
ter Rot-Grün nie der Fall. Unter Rot-Grün gab es viel
niedrigere Lohnerhöhungen. Jetzt zeigt sich, dass die
von der Koalition betriebene Politik in einer Zeit, in der
die Wirtschaft wächst und stärker wird, auch dazu führt,
dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr in
der Tasche haben. Darüber können wir froh sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Unternehmen haben ausreichende Mittel für In-
vestitionen. Es wird viel mehr investiert als in den Jah-
ren zuvor, und der Staat hat deutlich höhere Steuerein-
nahmen. Jedes Jahr gab es ein neues All-Time High; im
letzten Jahr waren es über 600 Milliarden Euro. Das
zeigt – das haben Sie alle nicht kapiert –, dass in Län-
dern, in denen eine vernünftige Haushaltspolitik ge-
macht wird, Wachstum möglich ist. Sie behaupten ja im-
mer, mit unserer Sparpolitik würden wir Wachstum
verhindern. Das ist völliger Unsinn. Mit einer vernünfti-
gen Haushaltspolitik ist Wachstum möglich, und das
muss auch so sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In Deutschland machen Sie ja keine Sparpolitik!)


Der Bundeswirtschaftsminister hat es gesagt: Zu An-
fang dieses Jahres haben wir die Bürger erneut entlastet,
nämlich um 12 Milliarden Euro. Wenn Sie die Senkung
des Rentenversicherungsbeitrags, die Abschaffung der
Praxisgebühr – das war ja einer der wenigen Beschlüsse,
denen Sie zugestimmt haben – und die Erhöhung des
Grundfreibetrags – das konnten Sie im Bundesrat nicht
verhindern – zusammenrechnen, dann stellt dies eine
deutliche Entlastung der Bürger dar. Alle anderen Ent-
lastungsschritte, die wir darüber hinaus in die Wege lei-
ten wollten, haben Sie doch im Bundesrat verhindert.
Das ist eine Schande;


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


denn gerade die Mittelschicht hätte weitere Entlastungen
verdient gehabt. Sie aber haben dies verhindert. Trotz-
dem – auch da haben Sie eben wieder Unsinn geredet,





Dr. Michael Fuchs


(A) (C)



(D)(B)


Herr Heil – sind die Sozialversicherungen sehr gut auf-
gestellt. In allen Versicherungen haben wir Überschüsse.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Reden Sie mal mit der BA!)


Die Bundesagentur für Arbeit hat im letzten Jahr ein
Plus in Höhe von rund 2,5 Milliarden Euro gemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Hubertus Heil [Peine] [SPD]: In diesem Jahr droht ein Minus!)


Das liegt daran, dass wir wesentlich weniger Arbeitslose
haben als noch zu Ihrer Zeit. Angela Merkel hat von
Gerhard Schröder 5 Millionen Arbeitslose übernommen.
Im letzten Jahr sind es im Jahresdurchschnitt 2,8 Millio-
nen gewesen. Das zeigt, dass wir die richtige Politik ge-
macht haben, dass wir einen guten Schritt weitergekom-
men sind.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Die Vorarbeiten dafür sind aber vorher gemacht worden!)


Genau auf diesem Wege werden wir weitergehen.

Es macht keinen Sinn, in dem Maße, in dem Sie das
geplant haben, Steuern zu erhöhen. Ich nenne nur die
Einkommensteuer. Die können Sie natürlich erhöhen.
Aber was bedeutet das denn? Bei allen Personengesell-
schaften ist die Gesellschaftsteuer die Einkommensteuer.
Das heißt, Sie belasten im Falle einer Erhöhung der Ein-
kommensteuer die Mittelständler ganz gewaltig. Wir
werden das verhindern.

Ich gehe davon aus, dass wir die erfolgreiche Politik
fortführen können.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das glaube ich auch!)


Sie werden das am Sonntag merken.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721700900

Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721701000

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Herr

Rösler, ich habe Ihrem Bericht zugehört. Aber wissen
Sie, was mich am meisten ärgert? Bevor Sie Ihren Be-
richt dem Kabinett zeigen und bevor Sie ihn gestern dem
Ausschuss gezeigt haben und heute dem Plenum, bera-
ten Sie mit allen Wirtschaftsbossen, ob der Jahreswirt-
schaftsbericht so in Ordnung sei. Mein Gott! Brauchen
Sie immer die Genehmigung der Wirtschaftsbosse?
Wann stellen wir denn endlich wieder das Primat der
Politik über die Wirtschaft her statt des Primats der Wirt-
schaft über die Politik? Das wird wirklich höchste Zeit.


(Beifall bei der LINKEN)


Ihr Bericht ist schöngefärbt; das wissen Sie. Das liegt
natürlich an der Wahl in Niedersachsen. Deshalb spre-
chen Sie auch heute hier. Aber nun muss ich Ihnen eines
sagen, meine Damen und Herren von der FDP: Willy
Brandt hat bei einer Bundestagswahl damit angefan-
gen, seine Wählerinnen und Wähler aufzufordern, mit
den Zweitstimmen der FDP zu helfen, damit sie über
die 5-Prozent-Hürde kommt. McAllister und die CDU in
Niedersachsen machen jetzt dasselbe. Ich weiß nicht, ob
Frau Merkel und die CDU bei der Bundestagswahl auch
dasselbe machen werden. Das heißt, Ihr Ergebnis basiert
nicht auf eigener Leistung, sondern auf Leihstimmen.
Wir haben es viel schwerer, weil weder Union noch SPD
ihre Wählerinnen und Wähler jemals aufrufen würden,
mit der Zweitstimme die Linke zu wählen. Wir müssen
das ganz alleine schaffen. Ich will nur darauf hinweisen,
dass wir hier eine größere Leistung erbringen.


(Beifall bei der LINKEN)


Noch etwas: Das Ding hat eine Kehrseite. Wenn
Union und FDP in den Landtag Niedersachsen einziehen
– damit rechnen jetzt viele –, haben Sie von Rot-Grün in
Niedersachsen höchstwahrscheinlich keine Mehrheit.
Jetzt müssten Sie Ihre Wählerinnen und Wähler doch
aufrufen, mit der Zweitstimme die Linke zu wählen. Da
Sie das aber nicht machen werden, ersetze ich Sie und
sage es ihnen selbst.


(Beifall bei der LINKEN)


Kommen wir einmal zu dem Bericht. Das Brutto-
inlandsprodukt ist immer der Gradmesser für die Leis-
tungsfähigkeit einer Wirtschaft. Das Wachstum des
Bruttoinlandsprodukts sinkt von 3 Prozent im Jahr 2011
über 0,7 Prozent im letzten Jahr nach Ihrer Einschät-
zung, Herr Rösler, 2013 auf 0,4 Prozent. Darf ich viel-
leicht noch an etwas erinnern? Sie haben den Fiskalpakt
beschlossen. Im Fiskalpakt steht, dass ein Staat nicht
mehr als 60 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts als
Schulden haben darf. Gleichzeitig ist geregelt, dass man,
wenn man darüber liegt – wir liegen bei über 80 Prozent –,
die Schulden pro Jahr um 5 Prozent zu senken hat. Ich
weiß noch, dass ich, als Herr Schäuble und ich beim
Bundesverfassungsgericht saßen, gefragt habe, welche
Kürzungen eigentlich geplant sind; denn die Regelung
bedeutet ja, dass wir die Schulden jährlich um 25 Mil-
liarden Euro senken müssen. Darauf hat er geantwortet,
dass das, was ich sage, völlig falsch sei, weil ja die Wirt-
schaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt, so zunehmen
kann, dass der Schuldenstand gemessen daran geringer
wird; ich will das gar nicht weiter erklären.


(Zuruf von der FDP: Da hat er recht!)


– Ja, das stimmt. – Nur, das Problem ist: Dann brauchen
wir eine Wirtschaftsleistungssteigerung von 1 Prozent
pro Jahr. Sie gehen in Ihrer Prognose aber von einem
Wachstum von 0,4 Prozent aus. Wir hatten auch schon
einmal Jahre mit Minuswerten. Was ist denn dann? Sie
müssen die Schulden abbauen. Das heißt, dann werden
Sie wieder Sozialkürzungen vornehmen. Man hört ja
auch schon von Geheimplänen im Bundesfinanzministe-
rium, Stichwort „Witwenrente“ und vieles andere.





Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Richtig!)


Genau so geht es nicht!


(Beifall bei der LINKEN)


Ich sage Ihnen auch: Sie dürfen nicht vergessen, dass
das sinkende Wachstum der Wirtschaftsleistung – 0,4 Pro-
zent Wachstum in 2013 ist doch wirklich nicht erheblich –
damit zu tun hat, dass wir in einer Euro-Finanzkrise sind
und dass Sie eine völlig falsche Politik gegenüber Süd-
europa machen. Sie bauen Südeuropa ab. Die Wirtschafts-
leistung nimmt dort ab. Die Steuereinnahmen nehmen ab.
Von „sozial“ kann man gar nicht mehr reden. Es wird
immer extremer unsozial. Die Folge ist, dass die Exporte
Deutschlands in diese Länder zurückgehen. Ich habe mir
das bei Opel angesehen. Bei Opel ist die Krise angekom-
men; die Opelaner in Bochum werden aus diesen Grün-
den kaputtgemacht. Übrigens: Ich habe auch mit dem
Betriebsratsvorsitzenden von VW gesprochen. Der hat
gesagt, VW habe einen dramatischen Rückgang der Ver-
käufe nach Italien, Portugal usw., aber könne das noch
ausgleichen durch eine Steigerung des Exports nach
China, nach Brasilien und in die USA.

Wir leben doch über unsere Verhältnisse. Dieses Un-
gleichgewicht zwischen Export und Import innerhalb der
Euro-Zone kann nicht funktionieren. Wir alle wissen,
dass der Export wahrscheinlich nachlassen wird. Dann
gibt es nur eine mögliche Gegenmaßnahme: Sie müssen
die Binnenwirtschaft stärken. Die können Sie nur stär-
ken, wenn Sie sich endlich sozialer verhalten und die
Renten, Löhne und Sozialleistungen erhöhen. Es gibt
keinen anderen Weg, um die Binnenwirtschaft zu stär-
ken; das wissen Sie auch.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich komme zum Arbeitsmarkt. Herr Rösler, was mich
am meisten ärgert, ist, wenn Sie überall sagen: Es gibt
jetzt eine wunderbare Arbeitslosenstatistik. Im nächsten
Jahr wird es nur 60 000 Arbeitslose mehr geben. – Im-
merhin sagen Sie ja, dass es mehr geben wird. Wissen
Sie, was mich daran so stört? Wenn man es sich genauer
ansieht, stellt man fest: Das Problem ist, dass die Zahl
der Vollzeitarbeitsplätze in den letzten zehn Jahren abge-
nommen hat, Herr Kauder. Es sind 1,6 Millionen weni-
ger geworden. Wenn Sie sagen könnten, dass es mehr
geworden sind, dann könnten Sie stolz sein. Es sind aber
weniger geworden. Das Einzige, was zugenommen hat,
ist die prekäre Beschäftigung. Deshalb können Sie eine
bessere Statistik vorweisen.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Sie haben mir nicht zugehört!)


Ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet im Niedrig-
lohnsektor; das sind 7,9 Millionen. Davon sind 4,66 Mil-
lionen Vollzeitbeschäftigte. Diese Zahl hat seit 2005 um
677 000 zugenommen. Die Leiharbeit weitet sich aus.
Machen Sie etwas, um diese zu begrenzen? Nein, nichts!
Sie lassen alles laufen. Im Jahre 2003 hatten wir einmal
5,5 Millionen Minijobs. Jetzt sind es 7,4 Millionen. Sie
weiten dies noch aus, indem Sie die Verdienstgrenze von
400 Euro auf 450 Euro erhöht haben. Die Zahl der Teil-

zeitbeschäftigten stieg um 1,6 Millionen; jetzt haben wir
8,7 Millionen.

Zudem haben wir 1,3 Millionen Aufstockerinnen und
Aufstocker. Wissen Sie, was die Steuerzahlerinnen und
Steuerzahler über die Jobcenter jährlich für die Aufsto-
ckerinnen und Aufstocker zahlen? 10 Milliarden Euro.
Man muss sich das einmal vor Augen führen: Herr
Brüderle, da geht ein Arbeitnehmer eine ganze Woche,
einen Monat, ein Jahr den ganzen Tag arbeiten und ver-
dient damit so wenig, dass er zum Jobcenter gehen muss,
um zusätzlich Steuergelder zu erhalten. Das ist ein Skan-
dal. Wer einen Vollzeitjob hat, muss Anspruch auf einen
Lohn haben, von dem er in Würde leben kann. Das wird
höchste Zeit.


(Beifall bei der LINKEN, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dafür brauchen wir den flächendeckenden gesetzlichen
Mindestlohn. Ich garantiere Ihnen, dass der flächen-
deckende gesetzliche Mindestlohn trotz des Widerstan-
des der FDP spätestens im Jahre 2014 beschlossen wird.
Darum kommen Sie gar nicht umhin. Man kann sich ei-
nem solchen Trend auf Dauer nicht widersetzen.

Auf der anderen Seite müssen wir uns mit den Real-
löhnen beschäftigen. Die Reallöhne sind in den letzten
zehn Jahren um 4,5 Prozent gesunken. Bei den 10 Pro-
zent, die am schlechtesten verdienen, ist der Reallohn
sogar um 9 Prozent gesunken. Die Armut nimmt zu.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Quatsch!)


– Natürlich nimmt sie zu. – Zwar ist die Arbeitslosen-
quote von 11,7 auf 7,1 Prozent gesunken; doch in dersel-
ben Zeit, so das Statistische Bundesamt, ist das Armuts-
risiko von 14,6 Prozent auf 15,3 Prozent gestiegen. Wie
kommt das, wenn Sie doch eine so tolle Arbeitslosensta-
tistik haben? Wieso nimmt die Armut zu? Ich sage Ih-
nen: Dass Vollzeitbeschäftigte von Armut bedroht sind,
hat es früher nicht gegeben. Jetzt aber ist es Realität.

Mich interessiert auch die andere Seite. Man könnte
darüber diskutieren und sagen: Na gut, das Vermögen in
Deutschland nimmt insgesamt ab. Wenn das Vermögen
abnimmt, muss man sich überlegen, wie man es gerech-
ter verteilen kann. – Aber das Gegenteil ist der Fall.
1992 hatten wir in Deutschland ein Vermögen von
4,6 Billionen Euro; im Jahre 2012 betrug es 10 Billionen
Euro. Seit der Finanzkrise im Jahre 2007 gab es eine Zu-
nahme von 1,4 Billionen Euro. Hier hat eine gigantische
Umverteilung von unten nach oben stattgefunden. Da-
rum kommen Sie nicht herum. 0,6 Prozent der Haushalte
in Deutschland besitzen ein Vermögen von 1,9 Billionen
Euro; das sind 20 Prozent. Die unteren 50 Prozent der
Haushalte besaßen 1998 einen Anteil von 4 Prozent am
Gesamtvermögen; heute ist es nur noch ein Anteil von
1 Prozent. Erklären Sie doch einmal diesen 50 Prozent
der Haushalte, weshalb sie immer stärker in Armut ge-
stürzt werden? Warum berichten Sie so etwas nicht, Herr
Rösler?


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Weil das nicht stimmt!)






Dr. Gregor Gysi


(A) (C)



(D)(B)


Sie betreiben nur Schönfärberei. Das ist meines Erach-
tens nicht hinzunehmen. Sie weigern sich, Vermögen zu
besteuern. Meinen Sie nicht, dass es Zeit wird, dass die
Kosten für die Finanzkrise von denjenigen getragen wer-
den, die sie erstens verursacht haben und die zweitens
davon profitieren?


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Welcher Mittelständler hat das denn verursacht?)


– Ich rede nicht vom Mittelständler. Ich rede von den
wirklich Vermögenden. – Herr Fuchs, wir fordern eine
Vermögensteuer von 5 Prozent auf ein privates Vermö-
gen von mehr als 1 Million Euro. Mein Gott, die merken
gar nicht, wenn das abgebucht wird. Es würde aber ein
Stück weit mehr Gerechtigkeit in Deutschland entstehen.


(Beifall bei der LINKEN)


Dasselbe gilt übrigens auch für Griechenland. Sie
müssen einmal den griechischen Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern, den
Frauen, die entbinden wollen, erklären, warum sie die
Krise zu bezahlen haben. Welchen Schuldanteil haben
diese Menschen an der Krise?

Ich erinnere mich daran, wie Herr Schäuble begründet
hat, dass zur Sanierung des Haushaltes das Elterngeld
für Hartz-IV-Empfänger gestrichen wird. Da habe ich
Sie gefragt, Herr Kauder, was die Hartz-IV-Empfänger
falsch gemacht haben. Sie sollten sich hier hinstellen
und die fünf Gründe nennen, warum die Hartz-IV-Emp-
fänger die Krise verursacht haben. Das konnten Sie
nicht. Es waren nämlich doch die Ackermänner, die die
Krise verursacht haben. Aber genau die werden nicht he-
rangezogen. Das ist das Problem der sozialen Ungerech-
tigkeit bei uns.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Die Hartz-IV-Empfänger werden immer weniger wegen der guten Wirtschaftspolitik!)


Jetzt steuern wir auf eine Altersarmut zu, und Sie von
der CSU und der FDP weigern sich, etwas dagegen zu
unternehmen. Selbst der Vorschlag von Frau von der
Leyen zur Zuschussrente wird abgelehnt. Das Renten-
niveau soll bei 43 Prozent liegen. Viele verdienen nur
noch 1 000 Euro. Ich sage Ihnen, hier entsteht eine Ar-
mut, die nicht zu rechtfertigen ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Rösler, Sie haben den Jahreswirtschaftsbericht
geschönt und ein bisschen frisiert. Dasselbe haben Sie
schon mit dem Armuts- und Reichtumsbericht gemacht.
Der bleibt trotzdem skandalös. Ich will gar nicht sagen,
an welche Zeiten mich das erinnert, in denen Berichte
derart getürkt wurden. Das haben Sie doch nicht nötig.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721701100

Da haben Sie aber fast Glück, dass dafür auch gar

keine Zeit mehr besteht.


Dr. Gregor Gysi (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721701200

Herr Bundestagspräsident, ich werde mir jetzt einmal

notieren, wann Sie Geburtstag haben. Dann werde ich
Ihnen eine neue Uhr schenken.


(Heiterkeit)


Ich muss Ihnen Folgendes erklären: Es gibt hier Leute,
die elf Minuten reden, und das kommt mir dann wie eine
halbe Stunde vor. Bei mir rennt Ihre Uhr immer.

Aber ich danke Ihnen trotzdem. Alles Gute.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Für mich waren das jetzt 30 Minuten!)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721701300

Herr Kollege Gysi, falls Sie den verwegenen Gedan-

ken mit der Uhr weiterverfolgen wollen, bitte ich herz-
lich darum, die Wertgrenzen einzuhalten, da Sie mich
ansonsten zwingen würden, zunächst beim Bundestags-
präsidenten die Genehmigung einzuholen.


(Heiterkeit)


Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721701400

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Herr Gysi, ich gratuliere Ihnen nachträglich zu
Ihrem 65. Geburtstag;


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Aber nicht zur Rede!)


aber das ist alles, was ich Ihnen an Nettigkeiten sagen
kann.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Oh, Herr Solms!)


Ihre Reden hier haben einen hohen Unterhaltungswert;


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Unterirdisch!)


aber das kommt dadurch zustande, weil sie mit Fakten
überhaupt nichts zu tun haben.


(Heiterkeit und Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich will Sie auf zwei Fakten hinweisen. Sie sprachen
davon, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtig
Vollzeitbeschäftigten in den letzten zehn Jahren abge-
nommen hätte. Sie vergessen jedoch, dass die Union seit
2005 und die FDP seit 2009 an der Regierung sind und
seitdem die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be-
schäftigten um rund 2 Millionen gestiegen ist. Das ist ein
wichtiges Faktum, wenn Sie sich mit dieser Regierung
auseinandersetzen und nicht mit der Vorgängerregie-
rung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Außerdem möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen:
Wenn Sie sich einmal die Statistik der Länder an-
schauen, die einen Mindestlohn haben, und einen Ver-
gleich mit den Ländern anstellen, die keinen Mindest-
lohn haben, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass in
den Ländern mit Mindestlohn die Arbeitslosigkeit signi-
fikant höher ist als in den Ländern ohne Mindestlohn. So
viel in diesem Zusammenhang.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte
ausdrücklich bestätigen, was der Bundeswirtschafts-
minister eben vorgetragen hat: Deutschland geht es gut.


(Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Völliger Unsinn! Erzählen Sie nicht solch einen Quatsch!)


Wir haben Wirtschaftswachstum, wir haben Preisstabili-
tät, wir haben ein steigendes Einkommen der Arbeitneh-
mer, wir haben einen hohen Beschäftigungsstand.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Weniger Hartz-IV-Empfänger!)


In anderen Ländern Europas fragt man mich: Wie macht
ihr das? Wir wären froh, wenn wir in der Situation wä-
ren, in der Deutschland jetzt ist. – Diese Bundesregie-
rung hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass die
Entwicklung so positiv verlaufen konnte. Das ist ein
Faktum. Jetzt sorgen wir dafür, dass auch in Zukunft die
Entwicklung positiv verläuft. Das ist doch das Entschei-
dende.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auf dem Arbeitsmarkt verzeichnen wir einen Rekord-
stand. Die Einkommen steigen. Die Schuldenbremse
wird eingehalten, und das vier Jahre, bevor sie eingehal-
ten werden müsste. Im Jahr 2014 werden wir einen
strukturell ausgeglichenen Haushalt haben. Das war
doch gar nicht vorauszusehen.

Ich möchte daran erinnern, was der Kollege Lindner
vorhin zitiert hat: Der fabelhafte Herr Walter-Borjans in
Nordrhein-Westfalen wirbt jetzt dafür, die Schulden
durch Inflation zu bekämpfen. Das ist die unsozialste
Politik, die man sich vorstellen kann.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Inflation belastet diejenigen, die fixe Einkommen haben,
die ihre Einkommen nicht anpassen können. Inflation
belastet außerdem die Sparer, deren Sparvermögen ent-
wertet wird. Das können wir doch nicht zulassen. Das
kann auch gar nicht ernst gemeint sein.

Obwohl es im Umfeld, insbesondere in Europa, aber in
den letzten Monaten auch in Asien und in den USA, zu ei-
ner schwachen Rezession gekommen ist – in Europa
schon zu einer stärkeren –, geht es Deutschland gut. Das
ist doch das Herausragende. Und jetzt zieht die Kon-
junktur in Asien, in China und neuerdings auch in den
Vereinigten Staaten wieder an, sodass wir eine steigende
Exportnachfrage und damit eine positive Entwicklung
erwarten können. Das wird dazu beitragen, dass wir aus

der leichten Depression, in der wir im letzten Quartal
waren, wieder herauskommen und in ein steigendes
Wachstum hineinkommen.

Wo liegen eigentlich die Risiken? Die Risiken liegen
in der zu geringen Investitionsquote in Deutschland. In-
vestiert wird nur, wenn man Vertrauen hat. Es gelingt der
Bundesregierung mit vereinten Kräften – insbesondere
der Bundeskanzlerin in Europa –, Stabilität wiederherzu-
stellen, was den Euro anbetrifft, und das wird Vertrauen
zurückbringen.

Das zweite Risiko liegt in den Bundestagswahlen.
Denn die Menschen haben die Sorge,


(Zuruf von der SPD: Dass ihr gewählt werdet!)


dass das, was Sie ihnen versprechen, nämlich Steuerer-
höhungen in voller Bandbreite, realisiert wird. Das, was
der Kollege Fuchs gesagt hat, stimmt genau: Die Ein-
kommensteuer ist die Betriebsteuer für den Mittelstand.
Wenn Sie die Einkommensteuer anheben – man muss
bedenken, dass die mittelständischen Unternehmen fast
die gesamten Gewinne reinvestieren –, dann geht das zu
100 Prozent zulasten der Investitionsquote. Die Investi-
tionen von heute sind die Arbeitsplätze von morgen.
Wenn Sie die Investitionen erschweren, dann sorgen Sie
für Arbeitslosigkeit in der Zukunft. Das können Sie sich
einmal hinter den Spiegel stecken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Man muss erreichen, dass die Unternehmen investieren.
Das erreicht man nicht durch Belastung, sondern durch
Entlastung und Flexibilisierung der Rahmenbedingun-
gen für Investitionen in der Wirtschaft.

Weil Ihnen jetzt nichts anderes mehr einfällt, Herr
Steinbrück, kommen Sie jetzt auf die Steuerhinterzie-
hung,


(Peer Steinbrück [SPD]: Nicht erst jetzt, lieber Herr Solms!)


als ob Deutschland ein Land von Steuerhinterziehern
wäre. Also, das muss ich mit allem Nachdruck zurück-
weisen. Die Deutschen zahlen ehrlich ihre Steuern.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was ist das denn jetzt wieder für eine Nummer? – Zurufe von der SPD)


Es gibt wie immer und überall Ausnahmen. Aber die
Leute, die Geld beispielsweise in die Schweiz gebracht
haben, werden jetzt von Ihnen geschont:


(Zuruf von der CDU/CSU: Genau!)


Sie haben das Abkommen mit der Schweiz verhindert.


(Peer Steinbrück [SPD]: Zu Recht!)


Wenn das realisiert worden wäre, hätten sie nicht nur in
Zukunft, sondern auch für die Vergangenheit Steuern
zahlen müssen. Weil Sie das verweigert haben, sind Sie
der Schutzpatron der Steuerhinterzieher.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)






Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Wenn Sie sich jetzt hingegen in der Öffentlichkeit als
derjenige präsentieren, der die Steuerhinterziehung be-
kämpfen will, dann ist das nun wirklich doppelte Moral;
das ist doppelzüngig.


(Peer Steinbrück [SPD]: Sie sind doch sonst ein seriöser Mensch!)


– Sie wissen genau, dass das ein Fehler war; denn Sie
sind in diesem Zusammenhang viel zu informiert und
gescheit. Da hat Ihnen Herr Walter-Borjans wirklich ei-
nen Tort angetan.


(Ulrich Kelber [SPD]: Das so umzudrehen, wie Sie das machen, das haben Sie doch nicht nötig in den letzten Wochen!)


Das ist nicht nur falsch; das ist eine absolute Dummheit.
Es perpetuiert die Steuerungerechtigkeit, mit der wir es
hier zu tun haben.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721701500

Die Kollegin Kerstin Andreae ist die nächste Redne-

rin für Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721701600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrter Herr Rösler, der Titel des Jahreswirt-
schaftsberichts lautet: „Wettbewerbsfähigkeit – Schlüs-
sel für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und
Europa“. Und was ist das Hochrelevante für unsere
Wettbewerbsfähigkeit in den nächsten Jahren? Es ist die
Frage, ob wir in der Lage sind, die Energiewende zu
schaffen. Das Energieeinspeisegesetz, das EEG, schuf
die Grundlage für das große industrielle Projekt der letz-
ten Dekade. Das ist zukunftsorientierte Industriepolitik,
wie wir sie brauchen. Das schafft Arbeitsplätze, das
schafft neue Märkte, das schafft Zukunft, und das ist vor
allem auch umweltpolitisch sinnvoll. Deswegen sage
ich: Ja, wir müssen das EEG reformieren; aber wir müs-
sen es nicht abschaffen und vor allem nicht durch ein
Quotenmodell ersetzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Anstatt dass der Wirtschaftsminister hergeht und sagt:
„Wir nutzen die Energiewende als großen Konjunktur-
push, um hier wirklich etwas voranzubringen“, stellt er
das Quotenmodell in den Raum, das in anderen Ländern
gescheitert ist und dessen Umsetzung zur Folge hätte,
dass Windenergie onshore gefördert würde, was einen
gigantischen Netzausbau nach sich ziehen würde und
vor allem unseren Vorsprung bei Innovationen, unseren
technologischen Vorsprung bei weltweit nachgefragten
Energieprodukten, kaputtmachen würde. Das ist nicht
das, was ein Wirtschaftsminister leisten muss. Er muss
vorangehen bei diesem Thema.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Natürlich sind die Kosten der Energiewende ein äu-
ßerst wichtiges Thema. Nichts treibt die Unternehmen
gerade mehr um als die Frage der Entwicklung der Ener-

giepreise. Im Übrigen ist das auch für die privaten Haus-
halte ein großes Problem.

Dann muss man aber fair bleiben und für eine faire
Verteilung sorgen. Was erleben wir aber? Wir erleben
eine enorme Schieflage. Die Großunternehmen werden
immer weiter befreit, während die kleinen und mittel-
ständischen Unternehmen sowie die Privaten diese Be-
freiung bezahlen müssen. Gleiches gilt für die Netzent-
gelte.

Wir haben es ausgerechnet, und das können Sie sich
genau anschauen. Wenn wir das zurückfahren und die
Ausnahmen auf die Unternehmen begrenzen, die ener-
gieintensiv produzieren und die wirklich im internatio-
nalen Wettbewerb stehen, dann können wir ein Einspar-
volumen von 4 Milliarden Euro erzielen. Das senkt die
Energiepreise für Mittelständler und Privathaushalte.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Nach wie vor herrscht große Unsicherheit aufgrund
der europäischen Entwicklung. Die Krise hat und hatte
Europa fest im Griff. Dann griff die EZB ein. Das war
nicht die beste Lösung. Die EZB musste aber eingreifen,
weil die Bundesregierung nicht zu einem entschiedenen
gemeinsamen europäischen Vorgehen in der Lage war.
Erst durch das Eingreifen der EZB haben sich die Fi-
nanzmärkte beruhigt.

Überwunden ist die Eurokrise aber noch lange nicht.
Das weiß auch der Wirtschaftsminister. Denn im Jahres-
wirtschaftsbericht steht als Begründung für diese Wahl-
kampfzahl „1,6 Prozent im nächsten Jahr“:

Als zentrale Annahme über den Fortgang der
Schuldenkrise wird unterstellt: Es kommt zu keiner
weiteren negativen Entwicklung, in deren Folge die
Verunsicherung der Marktteilnehmer steigt.


(Dr. Philipp Rösler, Bundesminister: Zum Beispiel!)


Diese Annahme wird zugrunde gelegt für die Pro-
gnose des Wirtschaftswachstums von 1,6 Prozent. Wenn
man das aber zugrunde legt, dann muss man auch etwas
dafür tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Sie sprechen vom Fiskalpakt. Zentral bei den Ver-
handlungen des Fiskalpakts war aber nicht nur, dass die
Schuldenbremse in den Ländern implementiert wird,
sondern zentral war vor allem, dass wir gesagt haben:
Wir brauchen Investitionen zur wirtschaftlichen Ent-
wicklung in den Ländern.

Wir – SPD und Grüne – haben in zähen Verhandlungen
mit Ihnen durchgesetzt, dass die Finanztransaktionsteuer
kommt, dass Investitionen in Schiene, Energienetze und
Datentransfer getätigt werden, dass Maßnahmen gegen
Jugendarbeitslosigkeit und Maßnahmen für mehr Ener-
gieeffizienz ergriffen werden.

Was sehen wir jetzt aber? Vereinbarte Maßnahmen
werden nicht oder nur schleppend umgesetzt. Am ekla-





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)


tantesten zeigt sich das meines Erachtens bei der Frage
der Energieeffizienzrichtlinie.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Alle – vor allem Mittelstand und Handwerk – wollen die
Energieeffizienzrichtlinie. Was aber unternimmt das
Wirtschaftsministerium? Es arbeitet an Studien, die der
Frage nachgehen, wie man um diese Energieeffizienz-
richtlinie herumkommen kann, anstatt zu sagen: Ja, wir
nehmen das als Konjunkturpush zur wirtschaftlichen
Entwicklung für unseren Mittelstand und für unser
Handwerk.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt wende ich mich den Linken zu. Dabei bitte ich
dringend um Ihre Aufmerksamkeit. Für die Menschen in
den Krisenländern ist die Situation teilweise wirklich
eine Katastrophe. Die Probleme wie zum Beispiel die
hohe Arbeitslosigkeit und massive Einsparungen treiben
uns alle um. Wir müssen aufpassen, dass die Menschen
ihre Hoffnung in Europa und ihren Glauben an die Wir-
kung von Strukturreformen nicht verlieren.

Es geht aber nicht an, dass Ihr Oskar Lafontaine im
Morgenmagazin uns alle in Haftung nimmt für persönli-
che Dramen bis hin zu Selbstmorden. Das ist schäbiger
Populismus und absolut inakzeptabel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Herr Rösler, Sie sagen, Haushaltskonsolidierung sei
zentral für Wettbewerbsfähigkeit. Das stimmt. Die Bun-
desregierung lobt sich für eine weiter sinkende Neuver-
schuldung. Damit haben Sie aber gar nichts zu tun.

Tatsache ist, dass Sie erstens viel weniger eingespart
haben, als Sie Zuwächse an Einnahmen hatten. Zweite
Tatsache ist, dass Sie im Augenblick nur aufgrund der
niedrigen Zinsen einen solchen Haushalt vorlegen kön-
nen, wie Sie ihn vorlegen. Dritte Tatsache ist, dass Sie
die Kassen der Sozialversicherung um fünf Milliarden
Euro geplündert haben. Die Bundesagentur für Arbeit
sagt Ihnen: Uns fehlen die Gelder, um die Kurzarbeit zu
finanzieren, uns fehlen die Gelder für die Förderung der
Langzeitarbeitslosen. – In Bezug auf den Konsolidie-
rungsbeitrag gibt es nichts, wofür Sie sich auf die Schul-
ter klopfen könnten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


In Zukunft wird es nicht mehr nur um die Frage ge-
hen: Wie hoch ist die Neuverschuldung? Vielmehr geht
es um die Frage: Sind wir in der Lage, den Schuldenberg
abzubauen? Sie sagen immer – nicht nur sonntags, son-
dern auch montags bis samstags –: Der Abbau von
Schulden ist wichtig. Dann verraten Sie uns doch ein-
mal, wie Sie das machen wollen. Wo ist denn Ihr Vor-
schlag, wie wir von diesem Schuldenberg herunterkom-
men können?


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben kein Konzept. Aber Sie wagen es allen Erns-
tes, uns für den Vorschlag, eine Vermögensabgabe einzu-
führen, anzugreifen. Zum ersten Mal legt jemand ein
Konzept vor, das zeigt, wie man von dem Schuldenberg
von über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts herunter-
kommt. Wir reißen die Kriterien von Maastricht doch je-
des Jahr. Sie haben keinen Vorschlag, was man dagegen
tun könnte. Hören Sie also auf, uns Vorschriften zu ma-
chen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Das nächste Sparschwein, das Rösler schlachten will,
ist die KfW. Sie wollen ohne Rücksicht auf die anstehen-
den Aufgaben, die auf die KfW zukommen, im nächsten
Jahr 1 Milliarde Euro herausnehmen. Ich warne Sie: Öff-
nen Sie nicht die Büchse der Pandora! Sie dürfen es gar
nicht. Es ist gesetzlich nicht erlaubt, dass Sie sich an den
Erträgen der KfW bedienen. Das ist auch richtig so.

Lernen Sie von Mappus! Mappus hat irgendwann in
der Endphase seiner Regierungszeit als Ministerpräsi-
dent in Baden-Württemberg sogar unterjährig die För-
derbank in Baden-Württemberg geschröpft. Sie wissen,
was aus Mappus geworden ist. Grundsätzlich ist es ein-
fach falsch: Wir brauchen diese Förderbank für die Mit-
telstandsfinanzierung und für Energiemaßnahmen. Ich
sagen Ihnen: Hände weg von der KfW!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Über Weihnachten hat der Wirtschaftsminister noch
eine Sau durchs Dorf getrieben: Privatisierung. Ganz
toll! Durch Privatisierung die Neuverschuldung schnel-
ler abzubauen, das ist ein Märchen aus Absurdistan. Ein
Teil der Privatisierung, die Sie in den Raum gestellt ha-
ben, wird schon seit langem gemacht. Aber entscheidend
ist doch, dass wir hier – im Übrigen in einem, wie ich
wahrgenommen habe, sehr breiten Konsens – dafür ent-
schieden haben, dass die Bahn nicht privatisiert wird,
weil es eine Aufgabe der Daseinsvorsorge ist und weil
das Schienennetz ein natürliches Monopol ist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Lassen Sie die Hände weg! Da irrt der Ordnungspolitiker
Rösler gewaltig.

Mich interessiert, ob die Sozialministerin in diesem
Bericht ebenso herumgestrichen hat, wie Sie es im Ar-
mutsbericht getan haben.


(Heiterkeit des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Was Sie sich da geleistet haben, das war schon grandios.
Man kann Armut nicht dadurch bekämpfen, indem man
sie aus einem Bericht herausstreicht. Das funktioniert
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)


Was wurde denn verändert zwischen Entwurf und Ab-
schluss? Die Lohnuntergrenze ist raus, der Schutz von
atypischen Beschäftigungsverhältnissen ist raus, es wird
nicht mehr überprüft, wie sich das Betreuungsgeld auf
die Erwerbstätigkeit von Frauen auswirkt, und es soll
auch nicht mehr geprüft werden – nicht einmal nur ge-
prüft werden! –, ob privater Reichtum stärker zur Finan-
zierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werden
sollte. All das ist draußen. Dabei wissen wir: 1,4 Millio-
nen Menschen beziehen ergänzendes Arbeitslosengeld II.
Statt hier sinnvoll gegenzusteuern, weiten Sie die Nied-
riglohnfalle Minijobs weiter aus.

Der Gedanke, dass Menschen von ihrem Lohn leben
können müssen und dass das etwas mit Menschwürde zu
tun hat, trägt sich inzwischen auch weit in diese Koali-
tion hinein. Wer es verhindert, ist die FDP mit ihrem
Wirtschaftsminister. Machen Sie den Weg frei für eine
gesetzliche Lohnuntergrenze! Das werden Ihnen im Üb-
rigen auch viele Mittelständler danken.

Eines kann ich Ihnen versprechen: Nach der Bundes-
tagswahl 2013 werden wir einen Mindestlohn einführen,
und vor allem werden wir die Energiewende zum Kon-
junkturprogramm für Deutschland und für Europa ma-
chen.

Herzlichen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721701700

Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol-

lege Schlecht.


Michael Schlecht (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721701800

Frau Andreae, Sie sind auf die Folgen der deutschen

Politik in den südeuropäischen Ländern wie Griechen-
land eingegangen. Ich selbst war im Oktober in Athen.
Das war der Tag, an dem auch die Kanzlerin dort unter-
wegs war. Wir haben ein Kinderkrankenhaus besucht. In
diesem Kinderkrankenhaus ist uns vom Leiter der psych-
iatrischen Abteilung mitgeteilt worden, dass eine der
Folgen der Veränderungen des desaströsen Kurses, der
dort gefahren wird, darin besteht, dass die Anzahl der
Kinder, die bei ihnen mit Depressionen und anderen
derartigen psychiatrischen Erkrankungen eingeliefert
werden, dramatisch gestiegen ist. Uns ist auch berichtet
worden, dass der Anteil der Kinder – wohlgemerkt: Kin-
der –, die Suizid begehen, deutlich angestiegen ist. Das
ist wirklich eine der skandalösesten und dramatischsten
Folgen dieser Politik. Das, was in den südeuropäischen
Ländern, vor allen Dingen in Griechenland, passiert ist,
ist Folge der Kürzungsauflagen, ist Folge der bestiali-
schen Politik, die maßgeblich von Deutschland, auch
vom Deutschen Bundestag ausgeht. Sie drückt sich in
solch zugespitzten Situationen aus. Für diese Folgen
trägt die Regierung, aber auch SPD und Grüne, die die-
sen ganzen sogenannten Maßnahmen mit übergroßer
Mehrheit zugestimmt haben, Verantwortung. Insofern
zieht die deutsche Politik mittlerweile mindestens durch
Südeuropa eine breite Blutspur, und das ist ein Skandal.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721701900

Zur Erwiderung Frau Andreae, bitte sehr.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721702000

Herr Kollege, ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie sa-

gen, dass Sie durchaus anerkennen, dass uns dies alle
umtreibt. Mit Ihrem letzten Satz haben Sie das aber ka-
puttgemacht. Ja, uns alle treibt um, wie es den Menschen
in Griechenland und in den anderen Krisenländern geht.
Und ja, diese Berichte sind erschreckend. Aber stellen
Sie sich bitte die Frage: Was wäre gewesen, wenn wir
Griechenland nicht geholfen hätten? Und stellen Sie sich
die Frage: Wie bekommen wir die griechische Regie-
rung dazu, dass sie in ihrem Land endlich Strukturrefor-
men vollzieht, dass sie bessere Einnahmen erzielt, dass
sie an die Besitzer der Jachten herangeht, dass sie die
Steuerpolitik überarbeitet? All das müssen wir jetzt ma-
chen, und zwar gemeinsam. Mit diesem populistischen
Vortrag spalten Sie. Man kann sich in der Sache streiten:
Ist das die richtige oder die falsche Maßnahme? Was
man aber nicht machen darf, ist, auf dem Rücken der
Menschen, die wirklich extrem leiden, billigen Wahl-
kampf zu machen. Wer von „Blutspur“ und Haftung für
Selbstmorde spricht, macht billigen Wahlkampf.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721702100

Das Wort erhält nun die Kollegin Nadine Schön für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nadine Schön (St. Wendel) (CDU/CSU):
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Jahreswirtschaftsbericht 2013 – das klingt tro-
cken, wissenschaftlich und abstrakt. Das klingt nach
Zahlen und Diagrammen. An der lebhaften Debatte
heute Morgen merkt man aber, dass mehr dahintersteckt,
dass das ein besonderer Bericht ist. Das Besondere an
diesem Bericht ist, dass er ein Indikator dafür ist, wie es
den Menschen in unserem Land geht. Er lässt Rück-
schlüsse zu, wie die Menschen in unserem Land konkret
leben, wie sich die Lebensbedingungen verändern, wie
wir im Konzert der europäischen Nachbarstaaten daste-
hen.


(Klaus Barthel [SPD]: Warum steht da nichts drin über Löhne?)


Hinter all den abstrakten Zahlen, die dem Bericht zu-
grunde liegen, stehen Menschen. Dahinter stehen Le-
bensbedingungen und reelle Lebenssituationen. Hinter all
den Zahlen und Diagrammen steht eine Botschaft – auch
wenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op-
position, diese Botschaft nicht gerne hören –: Seit diese
Koalition regiert,


(Ulrich Kelber [SPD]: Gehen die Wachstumsraten runter!)


geht es den Menschen besser. Seit Angela Merkel in die-
sem Land Verantwortung trägt, geht es den Menschen





Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


besser. Es hat sich vieles zum Besseren verändert. Genau
deswegen vertrauen die Menschen dieser Koalition und
dieser Bundeskanzlerin.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: So ist das! – Klaus Barthel [SPD]: Die oberen Zehntausend!)


41,6 Millionen Beschäftigte –


(Klaus Barthel [SPD]: Erwerbstätige!)


das sind 41,6 Millionen Menschen, die wissen, dass sie
sich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können, die
selbst ihres Glückes Schmied sind. Diese Menschen wis-
sen, weshalb sie morgens aufstehen. Das sind 41,6 Mil-
lionen Menschen, so viele wie noch nie seit der Wieder-
vereinigung.

Die Jugendarbeitslosigkeit war im November mit
8,1 Prozent die geringste in ganz Europa. Die meisten
jungen Menschen in Deutschland haben einen Job. Das
sind Tausende junger Menschen, die sich ihre Zukunft
selbst aufbauen, die sich mit ihrem eigenen Geld ihre
Wünsche, ihre Träume erfüllen können.


(Klaus Barthel [SPD]: 300 000 in der Warteschleife!)


500 Milliarden Euro – auch diese Zahl ist wichtig. In
dieser Höhe exportiert unser Land Güter in alle Welt,
Güter und Produkte, die von klugen Köpfen in unserem
Land entwickelt worden sind, die von fleißigen Men-
schen produziert worden sind. Dahinter stehen Tausende
Unternehmer. Das sind Unternehmer, die den Weg in die
Selbstständigkeit gegangen sind und Verantwortung für
sich und für ihre Mitarbeiter übernommen haben. Sie ha-
ben Mut, Risiken in Kauf zu nehmen, die Zukunft zu ge-
stalten und anderen Menschen einen Arbeitsplatz zu er-
möglichen. Hinter all diesen Zahlen stehen Menschen,
Schicksale und Lebensbedingungen. Diese Zahlen sa-
gen: Den meisten Menschen in unserem Land geht es
gut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kollegen, gerade weil es um Menschen geht,
muss man bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Lage
selbstverständlich auch kritisch auf das schauen, was
nicht so gut ist; denn auch davon sind Menschen betrof-
fen. So etwa die Beschäftigten im Niedriglohnbereich.
Natürlich sind das noch zu viele. Weiter gilt das für die
Einkommensunterschiede zwischen Mann und Frau. Die
sind noch zu groß. Das kann uns nicht zufriedenstellen,
und deshalb arbeitet diese Regierung mit Hochdruck da-
ran, dass das weiter besser wird.


(Lachen des Abg. Klaus Barthel [SPD])


Falsch ist es allerdings, die Zahlen zu verallgemei-
nern. Es war wirklich ärgerlich, dass Sie sich heute Mor-
gen hier hingestellt und ein Bild von Deutschland gemalt
haben, das – nur weil Sie alles verallgemeinern – raben-
schwärzer nicht sein könnte. Es ist falsch, zu sagen, dass
vorwiegend prekäre Beschäftigung geschaffen wird und
dass überwiegend Minijobs dazugekommen sind. Im

Gegenteil: In Deutschland entstehen in erster Linie so-
zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


In erster Linie entsteht gute Arbeit in Deutschland. Da-
bei geht es um gute Jobs, nicht um Minijobs. Natürlich
steigt auch die Zahl der Minijobs, wenn die Anzahl der
Beschäftigten insgesamt steigt. In weit überwiegendem
Maße aber entstehen zur Zeit sozialversicherungspflich-
tige Arbeitsverhältnisse. Das sind gute Arbeitsplätze,
echte Jobs. Darauf können wir stolz sein.

Es ist auch falsch, zu sagen, dass der Niedriglohnsek-
tor explodiert. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wahrheit
ist nämlich, dass unter Gerhard Schröder der Niedrig-
lohnsektor zugenommen hat. Seit die CDU regiert, geht
er zurück. Das ist die Wahrheit. Sie sollten da auch mit
Ihren Darstellungen bei der Wahrheit bleiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen ist nicht alles, was Sie als prekär bezeich-
nen, wirklich prekär.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Die Reden waren prekär!)


Wollen Sie etwa dem Studenten, der einen Minijob hat,
sagen, dass er prekär beschäftigt sei? Oder können Sie
das etwa dem Rentner sagen, der sich nebenher noch et-
was dazuverdient, indem er beim Nachbarn den Rasen
mäht?


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Die müssen dazuverdienen, weil die Renten sinken, ohne Ende!)


Ich will die Probleme, die es im Niedriglohnsektor, bei
Zeitarbeit und bei geringfügiger Beschäftigung gibt,
nicht kleinreden. Das Horrorszenario aber, das Sie, liebe
Kollegen der Opposition, hier heute gemalt haben, ent-
spricht schlicht nicht der Realität.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Noch ein Wort zum Thema Löhne. Auch hierzu haben
Sie wieder Horrorszenarien gemalt. Die Wahrheit ist:
Seit wir an der Regierung sind, steigen die Löhne in
Deutschland. Jahrelang sind sie immer nur gesunken.
Seit drei Jahren aber steigen die Löhne in Deutschland.
Die Frankfurter Rundschau hat gestern getitelt: „Auf-
schwung begünstigt Arbeiter“. Das ist wahr. Vom Auf-
schwung in Deutschland profitieren die Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer. Das ist die Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Für den Arbeitnehmer ist allerdings nicht nur interes-
sant, was er verdient, sondern vor allem auch, was er da-
von später in der Tasche hat. Seit die CDU an der Regie-
rung ist, haben die Menschen mehr in ihrer Tasche. Der
Arbeitnehmer hat im letzten Jahr durchschnittlich
550 Euro mehr verdient. Er hätte im nächsten Jahr noch
mehr in der Tasche haben können. Das wäre nämlich der
Fall gewesen, wenn Sie im Bundesrat unsere Pläne zur
Bekämpfung der kalten Progression nicht verhindert hät-
ten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Nadine Schön (St. Wendel)



(A) (C)



(D)(B)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn heute ein Ar-
beitnehmer eine Lohnerhöhung bekommt, wird sie nicht
selten durch die kalte Progression bei der Steuer kom-
plett aufgefressen. Das ist es, was wir gerne abschaffen
wollen, was Sie aber im Bundesrat verhindert haben.
Wegen Ihrer Blockadehaltung im Bundesrat sind Sie da-
für verantwortlich, dass die Lohnerhöhungen derjenigen,
die sich anstrengen, weiter von der Steuer aufgefressen
werden. Wir wollten Leistung belohnen, Sie haben das
verhindert. Auch diesen Vorwurf müssen Sie sich gefal-
len lassen. Sie können sich deshalb nicht hier hinstellen
und über kleine Löhne sowie mangelnde Möglichkeiten
klagen, in diesem Land Geld auszugeben.

Mit der Blockadehaltung im Bundesrat haben Sie
auch verhindert, dass die Binnenkonjunktur weiter ge-
stärkt wird. Sie haben sich heute Morgen hier hingestellt
und haben gesagt: Wir müssen unbedingt etwas für die
Stärkung der Binnenkonjunktur machen. Auf der ande-
ren Seite verhindern Sie im Bundesrat aber alles, was die
Binnenkonjunktur stärken würde, etwa die Abschaffung
der kalten Progression oder auch das Gebäudesanie-
rungsprogramm. Das wäre ein wirkliches Konjunktur-
programm für unser Handwerk gewesen. Sie aber haben
sich dazu im Bundesrat verweigert. Deshalb kann ich an
Sie nur appellieren: Es bringt nichts, hier nur zu reden
und zu sagen, dass wir die Binnenkonjunktur stärken
müssen. Wenn es konkret wird, müssen Sie auch mit da-
bei sein. Sie müssen da mitmachen. Damit können Sie
etwas für unser Land tun. Vielleicht, liebe Kollegen,
lenkt das dann auch ein wenig von Redehonoraren,
Weinpreisen oder auch Eierlikör ab.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist Fakt, dass Deutschland zurzeit sehr gut dasteht.
Fakt ist aber auch, dass wir zurzeit konjunkturell in einer
Schwächephase sind. Das ist auch klar; denn als export-
starke Nation bleiben wir nicht unverschont von den
Entwicklungen auf den Weltmärkten und in Europa.
Deshalb stehen wir vor zwei Herausforderungen: Zum
einen müssen wir in Europa wieder auf Wachstumskurs
kommen; die Kollegen haben einiges dazu gesagt. Es ist
richtig, dass wir die Euro-Stabilisierung und auch die
Strukturmaßnahmen in der EU vorantreiben. Zum ande-
ren müssen wir selbst stark bleiben.

Die Parameter dafür sind genannt. Wir brauchen ei-
nen soliden Haushalt. Denn auf Schulden kann man
keine Zukunft bauen. Wir brauchen eine gute Infrastruk-
tur, Rohstoffe und bezahlbare Energie.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Dann macht doch Politik dafür!)


Wir brauchen wachstumsfördernde Rahmenbedingun-
gen. Wir brauchen Fachkräfte: Junge, Alte, Frauen und
Männer, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.
Um sie alle müssen wir werben.


(Klaus Barthel [SPD]: Auf geht’s! – Rolf Hempelmann [SPD]: Das kann man am Anfang einer Legislaturperiode sagen! Jetzt muss man machen!)


Wir brauchen kluge Köpfe, und wir machen dazu die
richtige Politik.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Schließlich brauchen wir Innovationen. Denn der
Schlüssel zum Erfolg liegt in der Innovation. Deutsch-
land ist das Land der Ideen, der Innovationen. Deutsch-
land war schon immer eine Innovationsschmiede in der
Welt. Aus Deutschland kommen der Hybrid und das
MP3-Format. Der Computer wurde in Deutschland er-
funden. Unser Maschinenbau ist weltweit bekannt. Wir
sind das Land der Ideen, und wir wollen, dass aus den
Ideen Produkte werden, dass aus den Ideen Wertschöp-
fung wird.

Mir fehlt die Zeit, noch länger darauf einzugehen. Da-
her nur so viel: Ideen und Innovationen entstehen dort,
wo investiert wird. Auch das tun wir. Noch nie wurde so
viel in Bildung und Forschung investiert wie unter dieser
Regierung. Gerhard Schröder hatte es zwar groß ange-
kündigt und sich vorgenommen, gemacht hat er es aber
nicht. Gemacht hat es erst die CDU-geführte Bundesre-
gierung. Wir investieren mittlerweile 2,9 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung. Da-
mit liegen wir im Spitzenbereich in Europa. Das ist
wirklich Investition in Köpfe. Das ist Investition in
Ideen. Das ist Investition in unsere Zukunft, und das ist
die richtige Politik.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich bin überzeugt: Wir haben die richtigen Weichen
gestellt, dass es Deutschland und den Menschen in unse-
rem Land gut geht, dass es ihnen besser geht. Der Jahres-
wirtschaftsbericht gibt Zeugnis davon. Ich bin sicher,
dass wir diesen Kurs auch in Zukunft weiterfahren wer-
den. Wir nehmen die Herausforderungen an. Ich kann
Ihnen nur empfehlen, uns auf diesem Weg zu begleiten.
Denn er ist gut für Deutschland und gut für die Men-
schen in unserem Land.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721702200

Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Tiefensee

für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Wolfgang Tiefensee (SPD):
Rede ID: ID1721702300

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 115 Seiten
Bundeswirtschaftsbericht – ich will ihn einmal in fünf
Schlagworten zusammenfassen. Deutschland geht es
gut.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Stimmt!)


Die Bundesregierung hat daran keinen Anteil.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Falsch! – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und drittens?)






Wolfgang Tiefensee


(A) (C)



(D)(B)


Die Konjunktur trübt sich in Europa und zunehmend
auch in Deutschland ein.


(Dr. Michael Fuchs [CDU/CSU]: Falsch! – Ernst Hinsken [CDU/CSU]: Bisschen!)


Die Bundesregierung hat kein Konzept, wie sie dagegen
vorgehen soll.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Falsch!)


Fünftens. Es wird Zeit, dass wir eine aktive Wirtschafts-
politik mit einer anderen Regierung machen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Das kann man nur als Bedrohung empfinden!)


Sehr verehrter Herr Minister, ich habe Sie zum ersten
Mal in Niedersachsen, in Hannover erlebt. Wir hatten
auf der Hannover Messe ein gutes Gespräch geführt; Sie
entsinnen sich vielleicht. Ich persönlich bin erschrocken
darüber, welche Wandlung in Ihnen vorgegangen ist. Wir
haben einen Wirtschaftsbericht, der schönfärbt, der die
Probleme nicht beim Namen nennt


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Schon wieder falsch!)


und der vor allen Dingen voll von Zielstellungen ist und
keine Konzeption aufweist, wie wir dieses Land dort, wo
es im Umfeld schwieriger wird, tatsächlich stabilisieren
können. Fehlanzeige!

Ein Wirtschaftsbericht ist eine Momentaufnahme.
Entscheidend ist: Wo kommen wir her, und wo gehen
wir hin? Ist es eine aufsteigende oder eine absinkende
Linie? Darauf muss man reagieren. Zuerst bedarf es ei-
ner Analyse, warum es Deutschland gut geht. Es geht
Deutschland gut – Sie schreiben es in Ihrem Geleit-
wort –, weil wir leistungsstarke Menschen und Unter-
nehmen haben. Deutschland hat aber keine leistungs-
starke Bundesregierung. Sie bauen mit Ihrer Politik auf
den Maßnahmen auf, die unter Rot-Grün und in der Gro-
ßen Koalition eingeleitet worden sind, und heften sich
den Erfolg ans Revers.

Was waren das für Maßnahmen? Zunächst einmal ha-
ben die Unternehmen umstrukturiert. Von dieser Stelle
aus sollte man noch einmal denjenigen danken, die die
Zeichen der Zeit Anfang der 2000er-Jahre erkannt ha-
ben.


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: Nein!)


Wir haben Arbeitsmarktreformen durchgeführt und da-
für gesorgt, dass in der schwierigen Zeit 2008/2009 das
Kurzarbeitergeld eingeführt wurde; das hat die Unter-
nehmen stabilisiert. Ich durfte damals die Konjunktur-
programme für den Bereich Verkehr und Bau schreiben,
und wir haben sie gemeinsam durchgesetzt.


(Dr. Michael Meister [CDU/CSU]: Der Applaus bei den Sozialdemokraten war deutlich hörbar!)


Das sind die Grundlagen dafür, dass es uns jetzt gut geht.


(Beifall bei der SPD)


Sie sind die Nutznießer der Vorräte, die andere angelegt
haben; das ist das Erste.


(Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP]: Ach, das ist doch albern! Das kann man doch nach zehn Jahren wirklich nicht mehr sagen!)


Das Zweite. Wir befinden uns momentan in einer kri-
tischen Situation, und zwar deshalb, weil Deutschland in
Europa eingebettet ist und es Deutschland selbst in die-
sem und im nächsten Jahr nicht so gut geht. Denken Sie
zum Beispiel an die Aussagen des DIW. Das DIW sagt,
dass es frühestens 2014 wieder zu einer Konjunkturbele-
bung kommen wird. Fragen Sie auch einmal Unterneh-
mer – und zwar nicht nur Verantwortliche in großen Un-
ternehmen, sondern auch Mittelständler –, wie sie die
Zukunft sehen. Sie prognostizieren ein Dreijahrestief.
Oder nehmen Sie die Aussagen der Weltbank. Die Welt-
bank spricht davon, dass bis 2014 ein deutlicher Ab-
schwung zu verzeichnen sein wird. Was tut die Bundes-
regierung dagegen? Nichts! Sie ruht sich aus und hofft,
dass der lange Bremsweg durch die vorangegangenen
Maßnahmen schon ausreichen wird. Von einer Delle
bzw. einer vorübergehenden Schwäche zu sprechen, wie
Sie, Herr Minister Rösler, es in Ihrem Bericht tun, hilft
hier nicht weiter.

Ich will kurz einige Bereiche aufzählen, in denen wir
dringend ein Umsteuern brauchen.

Zunächst zur Investitionstätigkeit. Wir stellen fest – es
ist bereits angeklungen –: Die Ausrüstungsinvestitionen
sind im Laufe des letzten Jahres um 4,4 Prozent gesun-
ken. Das, so schreiben Sie ehrlich in Ihrem Bericht, hat
etwas mit mangelndem Zutrauen zu tun. Was tun Sie
also, um eine Exportnation zu stabilisieren und Investi-
tionen zu ermöglichen bzw. zu festigen? Sie gehen an
die GRW. Die Mittel für diese Gemeinschaftsaufgabe
wurden gekürzt. Dabei geht es um die Förderung struk-
turschwacher Regionen und die Förderung von Unter-
nehmen, die dringend investieren müssen. Sie wissen,
dass die Strukturförderung der EU zurückgeht. Sie wis-
sen auch, dass wir dunkle Wolken am Horizont sehen,
nicht zuletzt in Ostdeutschland. Aber was tun Sie? Sie
kürzen diese Mittel.

Ein anderes Beispiel ist die in Ihrer Koalitionsverein-
barung verankerte steuerliche Forschungsförderung.
Fehlanzeige! Es ist nichts zu sehen.

Zu einem weiteren schwierigen Thema, Herr Rösler.
Investitionen kommen zustande, wenn wir exportieren.
Wenn Sie aber die südeuropäischen Länder verunsichern


(Dr. Axel Troost [DIE LINKE]: „Verunsichern“ ist gut! Abwürgen!)


und in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal keine
Wachstumsimpulse setzen, sondern über einen Ausstieg
dieser Länder aus der Euro-Zone schwadronieren, dann
brauchen Sie sich nicht zu wundern, dass dort keine
Kaufkraft entsteht und dass dort nicht investiert wird.
Ein solches Verhalten ist sträflich, auch für Deutschland,
und es ist eines Wirtschaftsministers nicht würdig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)






Wolfgang Tiefensee


(A) (C)



(D)(B)


Zum Stichwort „Investitionen“ gehört ein weiterer
Aspekt. Dabei geht es nämlich auch um die Arbeits-
kräfte, die unsere Werte schaffen. In dem Bericht, den
Sie uns vorgelegt haben, steht nahezu nichts zu der für
Deutschland – aber nicht nur für Deutschland – elemen-
taren und existenziellen Frage: Wie gehen wir eigentlich
mit unserem Fachkräftebedarf um? Auch dies ist ein
wichtiges Thema.

Sie wissen genau, dass wir in Zukunft Frauen und
Männer, junge Leute und ältere Arbeitnehmer brauchen.
Aber was tun Sie, damit Familie und Beruf besser zu
vereinbaren sind? Sie führen ein Betreuungsgeld ein und
belasten damit die Kassen. Das Betreuungsgeld muss
weg! Es ist das genaue Gegenteil dessen, was wir brau-
chen, um Fachkräfte für unsere Wirtschaft zu gewinnen.


(Beifall bei der SPD)


In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht lese ich, dass die
Meinungsbildung über eine einheitliche gesetzliche Lohn-
untergrenze noch nicht abgeschlossen sei. Das ist eine
fromme, eine kindliche Umschreibung für die Tatsache,
dass Sie sich in einem für Deutschland wichtigen
Thema, nämlich der Frage eines gesetzlichen Mindest-
lohns, nicht einigen können.


(Beifall der Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD] und Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Lösen Sie endlich die Blockaden und führen Sie als un-
terste Haltelinie einen allgemeinen gesetzlichen Min-
destlohn in Ost und West ein! Dann kann die unsägliche
Praxis der Aufstockerei, die ja eine Belastung der Steu-
erzahlerinnen und Steuerzahler mit sich bringt, ein Ende
haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jedes Jahr verlassen 50 000 Jugendliche die Schule
ohne Ausbildung. Die Bundesagentur für Arbeit pro-
gnostiziert, dass wir mit relativ einfachen Maßnahmen
5,2 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte generieren könn-
ten. In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht steht dazu nichts.

Lassen Sie mich schließlich zu einem weiteren wich-
tigen Thema kommen, der Energiewende. Dieses Mega-
projekt, das von Rot-Grün angeschoben wurde, ist bei
Ihnen in schlechten Händen. Sie haben von den drei
wichtigen Zielen gesprochen: Wir wollen zum Ersten
den CO2-Ausstoß minimieren, den Klimawandel verhin-
dern, erneuerbare Energien einführen. Wir wollen zum
Zweiten die Versorgungssicherheit garantieren, und wir
wollen zum Dritten, dass die Energiewende bezahlbar
bleibt.

Fangen wir am Ende an: Sie haben es mit einer unsäg-
lichen Politik geschafft, dass die Risiken des Netzaus-
baus beim Privatkunden und beim kleinen Mittelstand
landen. Ihre Ministerin Aigner – Bayern, CSU – hat
jetzt, wie ich hören musste, den Vorschlag gemacht, wir
sollten die Netze nationalisieren. Hat nicht gerade der
sehr verehrte Herr Kollege Glos die Netze verkauft, zum
Beispiel an TenneT? TenneT, ein niederländisches Un-
ternehmen mit staatlicher Eigentümerschaft, hat nicht

genug Eigenkapital, um den Ausbau der Netze zu bezah-
len. Wer bezahlt diesen Unsinn? Die Privatkunden und
der Mittelstand. Das muss sich ändern, und das werden
wir ab 2013 ändern.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wie sieht es mit der Versorgungssicherheit aus? Im
letzten Jahr hat die Bundesnetzagentur zehnmal so oft
wie sonst eingreifen müssen, um die Netzstabilität zu ge-
währleisten. Sehr verehrter Herr Rösler, Sie werden sich
darum kümmern müssen, dass es nicht zu Stromabschal-
tungen kommt. Wir brauchen endlich eine Art Master-
plan, damit die Länder nicht untereinander streiten. Es
muss Koordination zwischen Bund und Ländern stattfin-
den, und es darf nicht sein, dass in der Bundesregierung
zwei Minister ein Hü und Hott, ein Links und Rechts,
ein Vor und Zurück praktizieren. Damit wir einerseits
unsere Energieziele erreichen und andererseits mit neuen
Produkten und Technologien Arbeitsplätze schaffen,
brauchen wir für die Energiewende zwingend einen
Fahrplan. Auch hier ist bei Ihnen auf der gesamten Linie
Fehlanzeige.

Dieser Jahreswirtschaftsbericht stellt entlarvend dar,
dass wir in der Wirtschaftspolitik eine Umkehr brau-
chen. Auf allen Feldern – sei es Europa, seien es Investi-
tionen, sei es die Demografie, sei es die Energiewende,
seien es die Finanzen, sei es die Wirtschaftsförderung –,
überall ist nur das Minimale getan.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
einen guten Stand in Deutschland. Mit der Regierung hat
das nichts zu tun. Die aufkommende Konjunkturschwä-
che gilt es zu bekämpfen – aber nicht mit dieser Regie-
rung.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721702400

Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Martin

Lindner für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1721702500

Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Es

gibt Dinge, die jährlich wiederkehren, zum Beispiel
Neujahrsfeste und -empfänge


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Weihnachten! – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Jahreswirtschaftsbericht!)


– sowie der Jahreswirtschaftsbericht.

Seit Januar 2010 ist es ein immer wiederkehrendes
Erlebnis, dass sich Vertreter der Opposition, der SPD,
wie Herr Heil und Herr Tiefensee, hier hinstellen und sa-
gen: Die wunderbaren Zahlen, die der Bundeswirt-
schaftsminister vorstellen kann, haben mit allem zu tun,





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


nur nicht mit der aktuellen Bundesregierung – sie hätten
etwas mit der SPD zu tun.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Wenn wir hier im kommenden Jahr über den nächsten
Jahreswirtschaftsbericht sprechen, werden – das verspre-
che ich Ihnen – Herr Tiefensee und Herr Heil wieder hier
stehen


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weil wir dann mit denen regieren! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist Ihre Abschiedsrede, Herr Lindner!)


und erklären, die guten Zahlen hätten mit der alten SPD
zu tun. Gewisse Traditionen muss man einfach bewah-
ren.

Derzeit entstehen in Deutschland jeden Tag 500 In-
dustriearbeitsplätze. Mit 6,5 Prozent haben wir die nied-
rigste Arbeitslosenquote seit vielen Jahren. 1,6 Millio-
nen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sind
unter Schwarz-Gelb geschaffen worden – keine Spur
von Dumpinglöhnen und ähnlichem Kokolores,


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Die sind wirklich Kokolores! Die sollten Sie abschaffen!)


den wir vom ewigen Herrn Gysi – der ist auch so ein
Murmeltier, das immer wiederkehrt – hier hören. Unsere
Zahlen können sich nicht nur in Europa, sondern auch
weltweit wirklich sehen lassen.

Auch die Armut ist gesunken; auch das muss man se-
hen. Alleine die Kinderarmut ist von 2006 bis 2011 um
13,5 Prozent gesunken.


(Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Wo haben Sie das Märchen aufgeschnappt?)


Es gibt in Deutschland eine Zunahme an Armutsberich-
ten, aber keine Zunahme an Armut. Das muss man an
dieser Stelle auch klarmachen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo leben Sie? – Ulla Lötzer [DIE LINKE]: Märchenstunde!)


Wir versuchen nicht nur, den Menschen zu helfen, in
sozialversicherungspflichtige Arbeit zu kommen, son-
dern sie parallel dazu auch zu entlasten. Wenn Sie sich
diesen Jahreswirtschaftsbericht anschauen, dann können
Sie genau lesen, wie dramatisch die Reallöhne gerade in
den letzten Jahren seit 2010 gestiegen sind. Das hat Ur-
sachen.

Das hat mit der jüngst abgeschafften Praxisgebühr zu
tun, und das hat mit der zweimaligen Absenkung des
Rentenbeitragssatzes auf 18,9 Prozent zu tun, trotzdem
wir übrigens dafür gesorgt haben, dass sowohl in der
Kranken- als auch in der Rentenversicherung Rücklagen
in zweistelliger Milliardenhöhe gebildet wurden.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721702600

Herr Kollege Lindner, lassen Sie nun auch eine Zwi-

schenfrage zu, und zwar des Kollegen Birkwald?


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1721702700

Gerne.


Matthias W. Birkwald (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721702800

Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Lindner, vielen

Dank, dass Sie die Frage zulassen.

Sie haben eben behauptet, die Armut in Deutschland
sinke und steige nicht. Ich tue jetzt einmal etwas Unge-
wöhnliches und zitiere einfach. Der Paritätische Gesamt-
verband sagt zum Beispiel in seinem Statement zur re-
gionalen Armutsentwicklung 2012: „Deutschland ist,
was Armut anbelangt, ein tief zerrissenes Land“. Ein
weiteres Zitat: „Die Krise ist in Deutschland angekom-
men. Die Armut ist auf Rekordhoch.“

Weiter heißt es: „Die Armutsgefährdungsquote über-
sprang erstmals die 15-Prozent-Schwelle und befindet
sich damit auf einem absoluten Rekordhoch seit der Ver-
einigung. Es sind 12,4 Millionen Menschen betroffen –
vier Prozent, rund eine halbe Million mehr als noch im
Vorjahr.“ Mehr, nicht weniger, Herr Kollege!


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Wie wird das denn berechnet? Das ist absoluter Unsinn! Glaube keiner Statistik, die du nicht selbst gefälscht hast!)


Hier steht weiter:

Interessanterweise stieg die Armutsgefährdungs-
quote in den letzten fünf Jahren trotz sinkender Ar-
beitslosigkeit und trotz sinkender Hartz-IV-Quo-
ten. … Viele Menschen haben Arbeit, aber immer
weniger können von ihrer Arbeit leben.

Das alles sind Originalzitate des Deutschen Paritäti-
schen Wohlfahrtsverbandes, der bekanntermaßen keine
Vorfeldorganisation der Linken ist.

Deutschland ist dreigeteilt. Mittlerweile hat sich auch
die Ost-West-Spaltung verändert: Bremen hat die Rote
Laterne übernommen usw.

Ein wichtiger Punkt kommt hinzu: Am schlimmsten
sind die Befunde in Nordrhein-Westfalen und Berlin.
Das ist das Letzte, was ich Ihnen jetzt noch vortragen
will: In Nordrhein-Westfalen stieg die Armutsgefähr-
dungsquote von 15,4 Prozent auf 16,6 Prozent und in
Berlin von 19,2 Prozent auf 21,1 Prozent, und im Ruhr-
gebiet ist die Entwicklung dramatisch.

Erkennen Sie also bitte an, dass das, was Sie hier ge-
rade eben gesagt haben, eine falsche Aussage war!


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1721702900

Herr Kollege, zunächst einmal hat die Situation in

Berlin vielleicht damit zu tun, dass die Linke und die
SPD von 2001 bis vor kurzem dort gemeinsam regiert
haben. Alles hat seine Wirkungen; nichts ist ohne Wir-
kung und Gegenwirkung.


(Beifall bei der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Deshalb seid ihr bald draußen!)






Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


Zweitens. Wenn man bei Ihren Ausführungen gerade
die Ohren spitzte, dann hat man natürlich die Differen-
zierung zwischen Armut und Armutsgefährdung zur
Kenntnis nehmen müssen. Ich sage Ihnen: In diesem
Lande gibt es eine Armutsdefinition, die aus sich heraus
dafür sorgt, dass Armut niemals abgeschafft werden
kann. „Armut“ wird nämlich so definiert, dass jeder, der
weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens be-
zieht, in Armut lebt.


(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Falsch! 60 Prozent!)


– Es sind 60 Prozent! D’accord! Das ändert aber nichts
an dem Umstand, dass Menschen, die im Jahr vorher
noch nicht in der Armutsstatistik waren, automatisch in
die Armut rutschen, wenn der Volkswohlstand, der
Reichtum, in der Breite relativ steigt.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Das sind die Reichen!)


Das ist ein relativer und kein absoluter Armutsbegriff.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Das ist liberale Sozialpolitik!)


Hinzu kommt: Nachdem die Armut in den letzten
Jahren gesunken ist, gibt es jetzt einen neuen Armutsbe-
griff, nämlich die „Armutsgefährdung“.


(Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Man kann Armut nicht wegrechnen!)


Vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband und
anderen wird jetzt der Begriff Armutsgefährdung ver-
wendet. Das weitet den Kreis noch aus.

Das kann man natürlich tun, aber das alles hat nichts
damit zu tun, dass wir hier dafür gesorgt haben, dass
die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeits-
plätze – sie sind keine Aufstocker oder das, was Sie im-
mer propagieren – dramatisch gestiegen ist. Das ist das,
was ich vorhin meinte: Die Anzahl der Berichte über Ar-
mut oder Armutsgefährdung ist gestiegen, aber nicht die
Armut unter dieser Regierung. Nehmen Sie das bitte zur
Kenntnis.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das hat eben Ursachen, die ich gerade genannt hatte.

Wenn Sie – zu Recht – einfordern, dass wir etwas für
die Binnenkonjunktur tun müssen, warum tun Sie denn
eigentlich in Ihren Parteiprogrammen genau das Gegen-
teil? Warum veranstalten Sie denn geradezu eine Orgie
von Vorschlägen zu Steuererhöhungen? Jeden Tag wer-
den Ihre Vorschläge radikaler, sie beschränken sich ja
nicht auf Vermögensteuer, auf Substanzbesteuerung, die
natürlich kleine und mittlere Unternehmen angreifen.

Herr Gysi,


(Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE]: Ja!)


Sie werden uns doch nicht ernsthaft weismachen wollen,
dass man Privatvermögen und betriebliches Vermögen
systematisch trennen kann. Das gibt es doch gar nicht.
Die kleinen und mittleren Betriebe – das geht beim
Handwerksunternehmen los und geht bis zum Mittel-

stand – thesaurieren einen erheblichen Teil ihrer Ge-
winne und belassen sie im Unternehmen. Da gibt es gar
keine Differenzierung zwischen betrieblichem Vermö-
gen und privatem Vermögen. Sie glauben immer, das
seien alles Dagobert Ducks, die zu Hause einen Gold-
speicher haben, in dem sie baden gehen und aus dem
man einfach einmal 5 Prozent Goldbarren herausschaf-
fen könnte. Das ist doch nicht die Wahrheit, das ist doch
nicht die Realität in Deutschland. Das Vermögen ist in
den kleinen und den mittleren Betrieben, und da muss es
auch bleiben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Staat darf nicht versuchen, seine Probleme – es
ist erstaunlich, Kollegin Andreae, dass das ausgerechnet
von Ihnen kommt – durch die Wegnahme von schon
zehnmal versteuertem Vermögen zu lösen und so seine
Schulden abzubauen. Schauen Sie sich doch einmal Ih-
ren Großmeister Hollande an, der ja nicht ohne Grund
beim 150. Geburtstag der SPD gesprochen hat.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


– Na ja, ich fasse Sie da jetzt einfach einmal zusammen;
denn das ist doch alles eine Soße, was Rot-Grün hier
produziert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Schauen Sie sich doch einmal an, was der in Frankreich
macht! Der hat eine wunderbare Reichensteuer einge-
führt, und nach eigener Einschätzung


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


kommen dabei gerade einmal 230 Millionen Euro he-
raus.

Das Einzige, was er produziert hat, ist eine großflä-
chige Flucht. Da rede ich gar nicht von einzelnen Schau-
spielern, die nach Russland oder Belgien flüchten, son-
dern von kleinen und mittleren Unternehmen, die gerade
aus Frankreich abhauen. Damit geht dem Staat nicht nur
der erhöhte Steuerbetrag verloren, sondern er verliert die
gesamten Steuern und Abgaben, die diese Unternehmen
vorher geleistet haben. Dieser Weg ist ein Irrweg. Es ist in
den letzten 100 Jahren mindestens schon 80- bis 100-mal
bewiesen worden, dass das nicht funktioniert. Der Staat
muss seine Ausgaben reduzieren. So kann er die Haus-
halte konsolidieren, aber nicht dadurch, dass er glaubt, er
könne immer mehr kassieren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Aber Sie wollen ja auch die Familienfreibeträge redu-
zieren, höre ich von Herrn Gabriel. Das wird auch immer
radikaler. Sie glauben, überall zuschlagen zu können,
und meinen, Sie könnten Ihre Probleme, die wir in Nord-
rhein-Westfalen und anderswo sehen, auf Kosten der
Mittelschicht lösen.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das, sage ich Ihnen, wird nicht funktionieren. Das wer-
den wir auch nicht zulassen, und das wird vor allen Din-
gen der Bürger nicht zulassen.





Dr. Martin Lindner (Berlin)



(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte zum Schluss auf ein paar Gefahren hin-
weisen, die ich natürlich sehe und über die wir ernsthaft
reden müssen. Wir haben eine Situation, die ich so ein-
schätze: Viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Land
vergessen manchmal, dass der Zuwachs an Wohlstand in
den letzten 50, 60 Jahren natürlich auch etwas mit Infra-
struktur zu tun hat und dass es kein freies Mittagessen
gibt.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Heute haben wir beispielsweise in normalen Super-
märkten ein Angebot von bis zu 20 000 Produkten. In
den 70er-Jahren lag das Angebot noch bei 700 Produk-
ten. Die Leute vergessen manchmal – darin werden sie
durch Sie bestärkt –, dass diese Waren auch transportiert
werden müssen, dass Straßen, Schienen und auch der
Luftverkehr ausgebaut werden müssen. Dieser Ausbau
in den vergangenen Jahren hat in der Breite für Mobilität
gesorgt. Menschen, die es sich in den 70er-, 80er-Jahren
noch nicht leisten konnten, mit dem Flugzeug in den Ur-
laub zu fliegen, können es jetzt. Aber das hat seinen
Preis, und das führt natürlich auch zu Belästigungen.
Dazu muss man als Regierung, als Partei, als Koalition
stehen, und man darf sich nicht bei jeder Gelegenheit,
wenn irgendwo Flugrouten geschaffen werden, wenn ir-
gendwo Flugplätze ausgebaut werden, wenn irgendwo
Schienen verlegt werden, populistisch hinter lokale Pro-
testbewegungen stellen und sich gegen den Ausbau der
Infrastruktur wenden.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen diese Infrastruktur. Ohne Infrastrukturaus-
bau wird es in diesem Land keinen Wohlstand geben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Eine Regierung, die verantwortungsbewusst ist, muss
dafür sorgen, dass das gemacht wird.

Ein anderer Punkt ist die Investitionsquote. Wir reden
oft über Mieten oder Ähnliches: Die teilweise zu hohen
Mietpreise sind doch nicht die Folge von zu viel Markt-
wirtschaft, sondern von zu wenig Marktwirtschaft. Wir
haben einen völlig überregulierten Wohnungsbau in
Deutschland. Die Anforderungen, vom Bürgermeister
über den Ministerpräsidenten bis hin zur Bundesebene,
an das Bauen sind einfach zu hoch. Das Geld steht zur
Verfügung, wird aber nicht in den Wohnungsbau inves-
tiert.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721703000

Herr Kollege.


Dr. Martin Lindner (FDP):
Rede ID: ID1721703100

Ich komme zum Schluss. – Wenn Sie jetzt glauben,

man könne das Problem der hohen Mieten durch drama-
tische Mietpreisdeckelungen lösen, dann werden Sie ge-
nau das Gegenteil erleben: Es wird noch weniger in den
Wohnungsbau investiert, und es wird noch mehr speku-
liert. Damit sind diejenigen, die Eigentum besitzen, bes-
ser gestellt. Aber wir wollen doch, dass alle Menschen in
einer vernünftigen Wohnung mit einer bezahlbaren
Miete wohnen können. Daher müssen wir dafür sorgen,

dass Investitionen in diesem Lande weiterhin möglich
sind und ausgebaut werden können.

Deswegen ist es gut, dass wir regieren. Deswegen ist
es gut, wenn wir weiterregieren, egal auf welcher Ebene.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721703200

Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1721703300

Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-

legen! Zu Beginn des Jahres ist jeder von uns bei vielen
Veranstaltungen und wird gefragt: Wie geht es dir? – Die
meisten antworten: Mir geht es gut. Die Bundesregie-
rung unter Angela Merkel arbeitet hervorragend.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deutschland ist auf einem guten Weg, die anstehenden
Probleme zu lösen.


(Hubertus Heil [Peine] [SPD]: Selbstgespräche!)


Wir haben Vertrauen in diese Regierung. – Recht haben
die, die so argumentieren.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Thomas Oppermann [SPD]: Das ist ja eine Argumentation!)


Ich meine auch, gerade die hervorragende Rede des
Bundeswirtschaftsministers Herrn Dr. Rösler – das war
heute eine Regierungserklärung –


(Lachen bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


wäre es wert gewesen, dass sie auch die Fraktionsvorsit-
zenden der Grünen, Frau Künast und Herr Trittin, gehört
hätten.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Leider nicht!)


Beide glänzen durch Abwesenheit. Vielleicht befinden
sie sich im Moment in Niedersachsen.

Hier spielt die Musik. Hier geht es um Deutschland.
Hier geht es um weitreichende Entscheidungen. Hier
geht es darum, dass der Jahreswirtschaftsbericht beraten
wird, der uns als Ganzes vorliegt und den wir heute teil-
weise durchleuchten möchten, um daraus die notwendi-
gen Schlüsse zu ziehen, um weiterhin voranzukommen.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Wo ist denn die Frau Merkel?)


Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Herr Kollege
Heil, ich schätze Sie sehr.


(Oliver Krischer [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wo ist denn Herr Kauder?)


Aber heute haben Sie ein bisschen überzogen. Schwarz-
malerei und Panikmache sind wahrlich nicht angebracht.
Genauso wenig ist es angebracht, in Euphorie zu verfal-





Ernst Hinsken


(A) (C)



(D)(B)


len; denn es gibt natürlich einige Probleme. Es gibt ei-
nige kleine dunkle Wolken am Himmel. Aber ich bin der
festen Überzeugung: Wir werden im Laufe des Jahres zu
besseren Ergebnissen kommen.

Es wird sich zeigen, dass die deutsche Wirtschaft in
der Lage ist, das, was sie bisher erarbeitet hat, nicht auf-
zugeben, und die Projekte, die sie bisher nur aufgescho-
ben hat, jetzt umzusetzen. Die Wirtschaft wird Gas ge-
ben, damit wir auch in diesem Jahr nach vorne kommen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Es ist doch unbestreitbar: Vieles wurde in den letzten
Jahren erreicht, auch in der Großen Koalition; das
möchte ich nicht beiseiteschieben. Deutschland steht im
Vergleich zu anderen Nationen wirklich und wahrlich
blendend da. Ich darf ergänzen, weil ich davon über-
zeugt bin: Wir haben zurzeit die beste Bundesregierung
seit der Wiedervereinigung Deutschlands.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es gibt einige Probleme, die gelöst werden müssen.
So ist zum Beispiel die Staatsschuldenkrise noch nicht
bewältigt. Hier liegt noch viel Arbeit vor uns, um diese
Herausforderungen zu meistern. Auf das Geleistete soll-
ten wir alle stolz sein. Dabei gilt es, die guten Zahlen zu
würdigen, weil sie insbesondere auf die Leistungsfähig-
keit und Robustheit unserer Wirtschaft, unseres Mittel-
standes und der deutschen Arbeitnehmer zurückzuführen
sind.

Deutscher Arbeitnehmerfleiß, deutscher Unterneh-
mergeist und vernünftige Rahmenbedingungen, die diese
Bundesregierung setzt, sind die Grundlagen dafür, dass
es weiter aufwärtsgeht und dass Deutschland ein Hort
von Stabilität nicht nur in Europa, sondern in der ganzen
Welt bleiben wird;


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


denn in keinem anderen Land funktioniert das Ganze
besser als bei uns.

Überall im Ausland werden wir gefragt: Wie macht
ihr Deutschen das bloß? Denn wir haben, wie heute
schon mehrmals gesagt worden ist, 41,6 Millionen so-
zialversicherungspflichtig Beschäftigte. Wir können da-
rauf verweisen – darauf können wir stolz sein –, dass wir
so gut durch die Krise gekommen sind wie kein anderes
Land und dass sich Deutschland in einer sehr guten Ver-
fassung präsentiert, und das trotz des schwierigen Um-
felds weltweit und in Europa.

Die Auftragseingänge zeigen eine Stabilisierung, und
das Geschäftsklima hellt sich von Tag zu Tag mehr auf.
Auch wenn in den letzten Monaten des vergangenen Jah-
res die Wirtschaft schwächelte, erreichte unser Land an-
ders als die Euro-Zone insgesamt auch in 2012 ein be-
achtliches Wachstum von 0,7 Prozent. Für 2013 werden
derzeit 0,4 Prozent Wachstum erwartet. Ich wiederhole
mich: Ich meine, dass diese Zahl zu niedrig angesetzt ist
und höher ausfallen wird.

Ich bin überzeugt, dass, wenn die außenwirtschaftli-
chen Unsicherheiten und die Belastungen durch die Ver-
trauenskrise im Euro-Land nachlassen, erwartet werden
kann, dass sich die derzeitige Investitionszurückhaltung
nach und nach auflösen wird. Dann wird sich zeigen,
dass die Investitionen der Unternehmen nicht aufgeho-
ben, sondern nur aufgeschoben sind. Dazu dürfte beitra-
gen, dass die Wachstumsraten im Verlauf des Jahres zu-
nehmen.

Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirt-
schaft ist aber auch auf stabile Rahmenbedingungen im
Euro-Raum angewiesen. Die Euro-Mitgliedstaaten müs-
sen jetzt Strukturreformen nachholen und ihre Wettbe-
werbsfähigkeit stärken. Deutschland ist solidarisch.
Aber Solidarität darf keine Einbahnstraße sein. Unsere
Unterstützung ist Hilfe zur Selbsthilfe; sie ist kein Ersatz
für Reformen.

Ich darf erwähnen, dass der Export von Waren made
in Germany eine tragende Säule dieser Entwicklung ist.
Bereits im November 2012 übertraf der Wert deutscher
Exporte die Schwelle von 1 Billion Euro. Damit wurde
zum zweiten Mal nach 2011 die Schwelle von 1 Billion
Euro geknackt, nur dieses Mal weit früher als in früheren
Jahren.

Die außenwirtschaftlichen Impulse werden erheblich
schwächer sein als im Vorjahr. Deshalb wird die Kon-
junktur durch die Binnennachfrage getragen. Diese gilt
es zu stärken. Bürgerinnen und Bürger sowie Unterneh-
men werden deshalb 2013 um 8 Milliarden Euro entlas-
tet. Dass die Binnenkonjunktur angekurbelt werden
muss, ist aber leider bei Ihnen von Rot-Grün und Knall-
rot nicht angekommen. Sagen Sie uns doch, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, warum Sie im Bundesrat
wichtige steuer- und wirtschaftspolitische Maßnahmen
wie den Abbau der kalten Progression, die energetische
Gebäudesanierung, das Jahressteuergesetz, die 8. GWB-
Novelle usw. blockieren!


(Widerspruch der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist in dieser Zeit erforderlich, dass wir diese Maß-
nahmen durchsetzen. Aber Sie treten auf die Bremse und
wollen den Erfolg ausschließen. Sie wollen ihn nicht ha-
ben.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Denn ein Erfolg ist dann gegeben, wenn die gute Kon-
junktur aufbauend auf Reformen sich weiter entwickeln
kann. Eine der größten Herausforderungen seit der Wie-
dervereinigung ist die Bewältigung der Energiewende.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ah!)


Dazu ist eine grundlegende Reform des EEG erforder-
lich. Diese muss Investitionssicherheit, ein besseres Zu-
sammenspiel der erneuerbaren Energien mit den Strom-
netzen und den grundlastfähigen Kraftwerken sowie
günstige Strompreise für die Bürger und die Betriebe ge-
währleisten.





Ernst Hinsken


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte noch eines in die Debatte mit einführen.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721703400

Ja, aber ganz knapp, Herr Kollege Hinsken.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1721703500

Ja, sehr wohl, Herr Präsident.


(Zuruf des Abg. Dr. Gregor Gysi [DIE LINKE])



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721703600

Es trifft Gerechte und Ungerechte, Herr Kollege Gysi.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1721703700

Was zum Beispiel BASF in der Bundesrepublik

Deutschland an Strom benötigt, ist genauso viel wie das,
was das ganze Land Dänemark an Strom pro Jahr ver-
braucht. Da können wir doch nicht zuschauen! Da muss
etwas gemacht werden,


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau! Die Effizienz!)


damit die Betriebe bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland auch weiterhin bereit sind, mitzuhelfen und
zu investieren, und Arbeitsplätze vorhalten. Denn davon
profitieren nicht nur die Firmen und der Staat, sondern
zu guter Letzt auch der Arbeitnehmer, der einen Arbeits-
platz erhält, den er sich immer sehnlichst wünschte, als
er keinen hatte. Und der Arbeitnehmer, der einen sol-
chen hat, möchte ihn behalten. Dafür sorgen wir. Das
wird gewährleistet. Das weist gerade dieser Jahreswirt-
schaftsbericht aus. Ich wünsche, dass die Bundesregie-
rung mit Wirtschaftsminister Rösler und Herrn Bundes-
finanzminister Schäuble so erfolgreich bleibt.


Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721703800

Herr Kollege.


Ernst Hinsken (CSU):
Rede ID: ID1721703900

Dann ist mir nicht bange, dass es mit der Bundesrepu-

blik Deutschland unter Angela Merkel weiterhin auf-
wärtsgeht.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Norbert Lammert (CDU):
Rede ID: ID1721704000

Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der

Kollege Heinz Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1721704100

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Am Ende dieser faszinierenden Debatte stellen
wir fest: Von zwei Seiten werden wir angegriffen. Die ei-
nen sagen: Wir sparen nicht entschieden genug. Die an-
deren sagen: Wir geben nicht genug Geld für Wachstum
aus.


(Zuruf der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Ja, Freunde, das ist immer ein Zielkonflikt. Geld hat man
nur einmal. Aber ob es gelingt, diesen Zielkonflikt auf-
zulösen, zeigen die Resultate. Das, was der Wirtschafts-
minister und die anderen glanzvollen Redner der Koali-
tion mit wohlerwogenen Argumenten hier vorgetragen
haben, zeigt eindeutig, dass die Ergebnisse in allem, was
die handfesten Zahlen hergeben, von überzeugender
Standfestigkeit sind. Ich rede jetzt nicht davon, dass wir
Jahre vor dem angezeigten Termin die Konsolidierung
der Haushalte erreichen. Ich rede nicht davon, dass wir
die höchste Zahl von Arbeitsplätzen haben. Ich rede
nicht davon, dass wir die seit vielen Jahren niedrigste
Zahl von Arbeitslosen haben. Ich rede nicht von all den
Zahlen, die der Jahreswirtschaftsbericht so triumphal
und mit wohlbegründeten Argumenten vorträgt. Das ist
das eine.

Das andere ist: Herr Tiefensee, den ich mag, weil er
ein netter Mensch ist, sagt, die Bundesregierung habe
kein Konzept. Ja, lieber Herr Tiefensee, wie sieht die
Welt aus? Wir sind nicht einem majestätischen und hek-
tischen Aktionismus verfallen, sondern wir machen eine
verlässliche, vertrauenschaffende, stetige Politik, die
Schritt für Schritt das Richtige aufbaut. Das haben wir
schon gemacht, als Sie, Herr Steinbrück, noch mit in der
Regierung gewesen sind. Gell, längst vergangene Zei-
ten! Schon damals hat Angela Merkel eine klare Linie
gefahren, und wir alle haben mit Freude gesehen, wie er-
folgreich sie sich auf den Märkten niedergeschlagen hat.

Was mich in dieser Debatte gefreut hat: Es hat nie-
mand den durchaus entschlossenen Titel des Jahreswirt-
schaftsberichts „Wettbewerbsfähigkeit – Schlüssel für
Wachstum und Beschäftigung in Deutschland und Eu-
ropa“ angegriffen. Das heißt, unser Ziel ist, dass wir so
tüchtig sind, wie wir sein können. Da haben wir noch
nicht alles erreicht, was wir wollen; aber wir haben die
richtigen Instrumente. Dort, wo es notwendig ist, haben
wir sehr viel Geld in die Hand genommen.

In der Forschung kommt es nicht nur darauf an, dass
wir hohe Milliardenbeträge – mehr als jemals zuvor –
ausgegeben haben.


(Zuruf des Abg. Hubertus Heil [Peine] [SPD])


Es kommt auch darauf an, dass man die Mittel intelligent
ausgibt. Und wir haben deshalb mehr und mehr Gelder
im Wettbewerb vergeben. Die Vergabe der Mittel im
Wettbewerb ist auch ein Instrument. Ich verweise auf die
Exzellenzinitiative, den Spitzencluster-Wettbewerb, den
früheren „BioRegio“-Wettbewerb und den Leibniz-
Preis. Einst waren die orthodoxen Finanzer hier über-
zeugt, dass Preise wie dieser unsittliche Anschläge seien.

Wir sind in vielen relevanten Bereichen dank unserer
Politik stetig weitergekommen. Wir sind nicht fertig,
sonst könnten wir aufhören. Und weil wir nicht fertig
sind, müssen wir weitermachen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Lachen bei Abgeordneten der LINKEN)






Dr. Heinz Riesenhuber


(A) (C)



(D)(B)


Wir haben hier in einer Vielzahl von Bereichen noch
große Arbeitspakete vor uns, auch wenn wir vorange-
kommen sind.


(Zuruf des Abg. Thomas Oppermann [SPD])


Es gab die Diskussion, ob wir es uns erlauben könn-
ten, auf tüchtige Frauen im Arbeitsleben zu verzichten.
Vor wenigen Tagen kam die Nachricht, 72 Prozent der
Frauen seien jetzt schon in Arbeit, mehr als die Hälfte in
Vollzeit. Von dem Rest wollen vier Fünftel oder mehr
nicht mehr als Teilzeit arbeiten. Um Frauen im Beruf
noch besser zu unterstützen, müssen wir einiges tun.
Deshalb gibt die Bundesregierung für Kinderbetreuung
bis 2014 5,4 Milliarden Euro aus und wird sich danach
an den Betriebskosten in einer Größenordnung von
845 Millionen Euro jährlich beteiligen. Die Vereinbar-
keit von Familie und Beruf ist eine Voraussetzung nicht
nur für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes, son-
dern auch für Freude an der Arbeit, damit die Menschen
die Chance haben, auch das, was sie wünschen, aus ih-
rem eigenen Leben zu machen.

Da gibt es die Frage, wie weit die Älteren im Beruf
bleiben. Ich kann Ihnen versichern: Es gibt hier Leute
auch über 60, die mit Freude ihre Arbeit machen. Gell,
Herr Gysi?


(Heiterkeit bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN – Dr. Dagmar Enkelmann [DIE LINKE]: Sie aber auch! – Zuruf von der SPD: Man sieht es!)


Es gibt hier Leute über 60, die mit fröhlicher Entschluss-
kraft jeden Morgen aufstehen und in das einsteigen, was
zu tun ist.


(Rainer Brüderle [FDP]: Sehr gut!)


Die Tatsache, dass sich die Zahl der über 60-Jährigen in
Arbeit in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat, die Tatsa-
che, dass wir heute schon fast die Hälfte der über 60-Jäh-
rigen in Arbeit haben, ist eine exzellente Geschichte, auf
der wir weiter aufbauen können. Das ist wichtig für die
Rente; das ist wichtig für die Wirtschaft; das ist aber
auch wichtig für die Lebenserfülltheit, den Lebenssinn,
die Freude daran, täglich aufzustehen und wieder in die
Arbeit einzusteigen.

Meine Damen und Herren, die Bundesregierung ist
insoweit in den verschiedensten Bereichen tätig gewor-
den. Wenn wir versuchen, das zu bewerten, kann ich auf
die Zahlen des Jahreswirtschaftsberichts verweisen. Es
gibt natürlich auch eine Reihe von qualitativen Indikato-
ren in sensiblen Bereichen. Unsere entsprechende En-
quete-Kommission arbeitet hier an einem umfassenden
ganzheitlichen Wohlstandsindikator.

Das ist ein bisschen schwierig, aber schauen wir uns
einmal die einzelnen Bereiche an: Der Nachhaltigkeits-
indikator 2012 der KfW, der uns im Dezember auf den
Tisch geflattert ist, zeigt, dass Deutschland in den rele-
vanten Bereichen noch nie so nachhaltig war. Der Nach-
haltigkeitsindikator insgesamt hat den höchsten Wert seit
sechs Jahren erreicht. Der Nachhaltigkeitsindikator im
Teilbereich Wirtschaft hat den höchsten Wert. Im Teilbe-
reich Umwelt hat er den höchsten Wert. Im Teilbereich

des sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts hat
er den höchsten Wert.

Das alles bedeutet nichts anderes, als dass diese Bun-
desregierung nicht nur eine Politik betreibt, die ökono-
misch erfolgreich ist – jawohl, das wollen wir –, sondern
auch eine Politik, die den Menschen weitere Lebens-
chancen eröffnet, die das Vertrauen der Menschen in ei-
ner Weise gewonnen hat, dass man mit dieser Politik
auch gerne in die Zukunft schreitet, im Bund, in den
Ländern oder wo auch immer darüber zu entscheiden ist.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht,
den Sie, Herr Rösler, hier vorgelegt haben, handelt von
Deutschland und von Europa. Mit den gleichen Ideen,
auf deren Grundlage wir in Deutschland arbeiten, versu-
chen wir mit allen Kräften, in Europa zu helfen. Aber
auch unsere Kraft als starke Industrienation ist nicht un-
begrenzt. Wo wir jedoch helfen, beruht die Hilfe auf der
Idee, dass die Länder, die in Schwierigkeiten sind, die
Möglichkeit erhalten, sich selber zu helfen. Wir unter-
stützen sie dabei, dass sie Reformen in Gang bringen,
dass sie neue Strukturen schaffen, dass sie die Idee der
Wettbewerbsfähigkeit in ihre eigene Wirklichkeit umset-
zen, und das nicht nur, damit die Zahlen stimmen, son-
dern weil das die eigentliche Art ist, menschlich mit der
Wirklichkeit und mit dem Leben umzugehen: sich in sei-
nen Leistungen gefordert zu sehen, sich in seinen Fähig-
keiten gefordert zu sehen, zugleich aber zu wissen, dass
andere dann helfen, wenn es schwierig ist, wenn es
hängt, wenn man nicht mehr so kann, wie man will.

Wenn wir aus diesem Geist heraus – das ist der Geist
der sozialen Marktwirtschaft – unsere Politik auch in den
kommenden Jahren aufbauen, dann werden wir in einer
schwierigen Zeit mit einer klaren Linie Deutschland vo-
ranbringen und unseren Beitrag dazu leisten, dass Eu-
ropa steht. Da vertrauen wir auf unsere tatendurstige Re-
gierung und ihre hohe Kompetenz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Da vertrauen wir auf die faire Begleitung durch unsere
tüchtige Opposition. Möge sie uns noch lange so beglei-
ten, wie sie uns heute begleitet hat!


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721704200

Herr Riesenhuber.


Dr. Heinz Riesenhuber (CDU):
Rede ID: ID1721704300

Wir vertrauen auch darauf, dass wir hier in diesem

Geist in einem neuen Jahr wieder das hinbekommen,
was wir uns vorgenommen haben: dass uns Deutschland
gelingt, dass uns mit unseren Partnern Europa gelingt
und dass wir frohgemut in das nächste Jahr schreiten –
mit einem Erfolg, den wir gemeinsam erarbeitet haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721704400

Ich schließe die Aussprache.

Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vorla-
gen auf den Drucksachen 17/12070 und 17/11440 an die
Ausschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


angegeben finden. – Damit sind Sie einverstanden. Dann
ist das so beschlossen.

Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz-
punkt 3 auf:

10 Beratung des Antrags der Abgeordneten Peer
Steinbrück, Joachim Poß, Ingrid Arndt-Brauer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
sowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,
Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanz-
märkte – Für eine starke europäische Banken-
union zur Beendigung der Staatshaftung bei
Bankenkrisen

– Drucksache 17/11878 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

ZP 3 Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, Peter
Aumer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
Dr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, Holger
Krestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP

Schärfere und effektivere Regulierung der Fi-
nanzmärkte fortsetzen

– Drucksache 17/12060 –

Es ist hierzu verabredet, eineinhalb Stunden zu debat-
tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.

Ich gebe das Wort dem Kollegen Peer Steinbrück für
die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Jetzt mal los hier! Jetzt rückt die Kavallerie aus!)



Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1721704500

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Lieber Herr Riesenhuber, ich
glaube, wir kennen uns seit der zweiten Hälfte der 70er-
Jahre. Nehmen Sie mir deshalb das folgende Kompli-
ment als aufrichtig ab: Sie sind mit Abstand der elegan-
teste Tänzer am Podium dieses Deutschen Bundestages.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Der gerade debattierte Jahreswirtschaftsbericht,
meine Damen und Herren, zeigt sehr deutlich eine Ver-
unsicherung der deutschen Wirtschaft hinsichtlich der
Perspektiven für dieses Jahr und wahrscheinlich auch
noch für das nächste Jahr. Diese Verunsicherung ist na-
türlich ganz maßgeblich geprägt von den wirtschaftlichen
Schwierigkeiten, mit denen wir es in Europa mit Blick

auf die Situation in vielen europäischen Partnerländern
zu tun haben. Das ist kein Wunder, kein Wunder bei den
wirtschaftlichen Verflechtungen, mit denen wir es zu tun
haben, und kein Wunder bei einem so exportgetriebenen
Wachstums- und Wirtschaftsmodell, wie wir es in
Deutschland haben.

Fünf Jahre nach Ausbruch der internationalen Finanz-
krise, 2007/08 eskalierend, haben wir es immer noch mit
deren nicht bewältigten Folgen zu tun. Die Krise stellt
die Frage nicht nur nach dem Zusammenhalt in Europa,
sondern auch nach der Zukunft in Europa. Sie hat einige
Länder nicht nur in eine Rezession, ja in eine Depres-
sion, sie hat einige Länder in eine Situation der Austeri-
tät getrieben, angesichts der sich die Frage nach der so-
zialen und politischen Stabilität dieser Länder stellt.


(Beifall bei der SPD)


Deshalb bleibe ich dabei, dass diese Krise sehr viel mehr
kosten könnte als Geld. Das wird gelegentlich unter-
schätzt in all den europapolitischen Debatten, die wir
führen.

Die ungelöste Krise hat auch etwas mit der Ursachen-
analyse gerade dieser schwarz-gelben Bundesregierung
zu tun. Viel zu lange hat die Regierung von Frau Merkel
so getan, als ginge es im Wesentlichen um eine Ver-
schuldungskrise anderer Länder, einzelner Staaten. Das
ist aber nur ein Teil der Wahrheit. Die fällt Ihnen und den
deutschen Steuerzahlern jetzt auf die Füße; denn die
Konsequenz dieser Ursachenanalyse ist, dass wir mit un-
serem politischen Gewicht, mit unserer ökonomischen
Kraft in Europa einen Sparkurs, Konsolidierungszwänge
durchgesetzt haben, was von den betroffenen Ländern
zunehmend nicht nur als nachteilig, sondern sogar als
gefährlich empfunden wird.


(Zuruf von der LINKEN: Stimmt!)


Diese Länder fragen sich, ob das Spardiktat, für das wir
verantwortlich sind, eine lebensbedrohende Dosis oder
eine lebensfördernde Dosis enthält. Das ist exakt die
Frage, vor der wir stehen.

Die Krise in Europa ist also nicht maßgeblich auf eine
Verschuldungskrise zurückzuführen, sondern sie ist in
weiten Teilen nach wie vor eine Krise labiler Banken
und ungezähmter Finanzmärkte.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das lässt sich leicht belegen; denn in der sehr kurzen
Zeit zwischen Oktober 2008 und Dezember 2010 wur-
den die Banken europaweit mit insgesamt – stellen Sie
sich das einmal vor! – 1,6 Billionen Euro Staatshilfen
gerettet. Das entspricht ziemlich exakt dem Jahresein-
kommen aller Deutschen zusammen. Hier liegt deshalb
der Hase im Pfeffer.

Es gibt Finanzinstitute in Europa, denen es gelungen
ist, Infektionskanäle in die Staatshaushalte zu legen. Sie
haben ein Drohpotenzial, das lautet: Wenn ihr mich nicht
rettet, bricht eure Volkswirtschaft zusammen; und im
Übrigen bin ich so groß, dass ich gar nicht scheitern
darf, und deshalb werden mich die Staaten finanzieren





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


müssen. – Diejenigen, die die Haftenden in letzter In-
stanz sind, sind die Steuerzahler in diesen Staaten. Die
Folge ist die steigende Schuldenlast gewesen, die jetzt
aber als Ursache dargestellt wird, obwohl sie eine Kon-
sequenz, eine Folge dieser Entwicklung ist.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das beste Beispiel ist übrigens Irland. Irland galt ein-
mal als Musterknabe der Europäischen Wirtschafts- und
Währungsunion. Ich kann mich erinnern, dass es vor
über zehn Jahren Empfehlungen aus den Reihen der FDP
gab, wir sollten uns an Irland ein Beispiel nehmen,


(Thomas Oppermann [SPD]: Genau! – Weiterer Zuruf der Abg. Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


auch und gerade ordnungspolitisch, auch und gerade
hinsichtlich der Deregulierung und der Privatisierung.
Es ist erstaunlich, dass das Kurzzeitgedächtnis einigen
Parteien mehr nützt als anderen, wenn man sich daran
erinnert, dass die FDP uns dieses Irland in mehreren Re-
den im Deutschen Bundestag als nachahmenswert vor-
gehalten hat.

Irland musste inzwischen Mittel in der sagenhaften
Größenordnung von 269 Prozent seiner jährlichen Wirt-
schaftsleistung aufwenden, um seine Banken zu stützen
– fast 270 Prozent; das entspricht fast dreimal seiner
jährlichen Wirtschaftsleistung –, um die irischen Banken
vor einem Kollaps zu bewahren. Deshalb war es kein
Wunder, dass die irische Staatsverschuldung, die im
Jahre 2007 mit 25 Prozent, gemessen am Bruttoinlands-
produkt, relativ niedrig war, nun inzwischen über
100 Prozent beträgt.

Die Finanzmarktkrise als Verursacher der Staatsver-
schuldung kommt aber in der Analyse der Bundesregie-
rung schlichtweg nicht vor. Ich zitiere die Bundeskanzle-
rin aus einer Regierungserklärung vom Oktober des
letzten Jahres:

… die Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben,
… sind auf eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit,

– nicht falsch –

sie sind auf die Überschuldung einzelner Mitglied-
staaten sowie auch auf Gründungsfehler des Euro
zurückzuführen.

Das alles ist nicht zu dementieren. Der Punkt ist aber:
Der labile Bankensektor und die Finanzmarktkrise kom-
men dabei nicht vor.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das Gegenteil stimmt aber nicht nur für Irland, wie
Sie wissen. Das Gegenteil stimmt auch für Spanien, das
übrigens vorher eine günstigere Verschuldungsquote
hatte als Deutschland. Und der nächste Fall, der uns hier
im Deutschen Bundestag beschäftigen dürfte, wird, wie
ich befürchte, im März Zypern sein. Es hat einen Ban-
kensektor, dessen Bilanzsumme so aufgebläht ist, dass
sie fünf- bis sechsmal so hoch wie die jährliche zyprioti-

sche Wirtschaftsleistung ist. Auch andere Faktoren, die
im Fall von Zypern eine Rolle spielen, werden uns in
den Debatten hier noch sehr stark beschäftigen.

Das Ergebnis dieser Politik ist, dass sich die deut-
schen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sowie auch
die anderer europäischer Länder in einer riesigen Haf-
tungsunion befinden und vom Geschäftsgebaren einzel-
ner Banken abhängig sind. Sie sind abhängig von Fehl-
entscheidungen der Risikoignoranz, der Renditejagd
dieser Banken und haften in letzter Instanz. Das ist gro-
tesk und verletzt zunehmend das Gerechtigkeitsempfin-
den der Bürgerinnen und Bürger.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Das berührt eine Gretchenfrage der sozialen Markt-
wirtschaft, nämlich, ob in einer sozialen Marktwirtschaft
Haftung und Risiko zusammenfallen. Deshalb sage ich
häufiger, dass diese Krise nicht nur Geld und Vertrauen
kosten kann, sondern eventuell auch das Vertrauen in un-
sere wirtschaftliche Ordnung, weil viele Menschen den
Eindruck haben, dass sie die Geschädigten sind und für
Schäden haften müssen, die andere verursacht haben, die
aber zu deren Folgekosten nicht herangezogen werden.

Bei der Bundesregierung wird die neue Bankenunion
zu einer Umwälzanlage von Kapital aus den Staatshaus-
halten in Bankbilanzen; denn anstatt beim Europäischen
Rat Ende Juni 2012 endlich einen europäischen Abwick-
lungsmechanismus zu etablieren und damit die Staatshaf-
tung zu beenden oder zumindest deutlich einzugrenzen,
haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen
zugestimmt, dass der Europäische Stabilitätsmechanis-
mus in Zukunft – jetzt kommt es – Banken direkt rekapi-
talisieren kann, und das, obwohl weite Teile von Ihnen
im Haushaltsausschuss vorher aus einer richtigen Er-
kenntnis heraus explizit das Gegenteil beschlossen ha-
ben. Jetzt haften die Steuerzahler in Deutschland nicht
nur für die Banken im eigenen Land – siehe das Finanz-
marktstabilisierungsgesetz und Folgegesetze, die wir
hier gemeinsam beschlossen haben –, sondern auch für
Banken in der gesamten Euro-Zone.

Richtig ist, Sie haben eine Konditionierung vorge-
nommen, Herr Schäuble und Frau Merkel. Sie haben die
Konditionierung vorgenommen, dass vorher eine Ban-
kenunion geschaffen werden muss. Es fällt auf, wie
lange Sie die Schaffung der Bankenunion vor sich her-
schieben, sodass diese Union garantiert nicht vor dem
magischen Datum im September 2013 gegeben sein wird
– das hätte nämlich zur Folge, dass Banken dann direkt
rekapitalisiert werden könnten und eine gewisse Empö-
rungswelle auch bei deutschen Steuerzahlerinnen und
Steuerzahlern zu erwarten wäre –, sondern erst im Fol-
gejahr nach der Bundestagswahl. Das ist das, was ich als
Schleiertanz bezeichne, Herr Kauder.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Was, so frage ich, nützt eine bessere Bankenaufsicht
auf europäischer Ebene, wenn das Kind bereits in den
Brunnen gefallen ist und der Steuerzahler weiterhin der
Haftende in letzter Instanz ist? Sagen Sie den Bürgerin-





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


nen und Bürgern im Sinne von Wahrhaftigkeit endlich,
was Sie im Juni beschlossen haben. Sie haben mit Ihrer
Zustimmung auf dem Europäischen Rat Ende Juni 2012
eine Staatshaftung für Bankenrisiken in Europa geschaf-
fen.

Wir brauchen, meine Damen und Herren, einen klaren
Blick auf den Kern dieser Krise. Fünf Jahre nach dem
Bankrott von Lehman sind die Infektionskanäle aus den
Bankenbilanzen in die Staatshaushalte immer noch nicht
trockengelegt. Das heißt, wir brauchen endlich einen
Schutz der öffentlichen Haushalte vor den Gefahren der
Finanzmärkte. Wir brauchen ein Ende der Staatshaftung,
und wir brauchen eine Beendigung des Erpressungs-
potenzials großer, systemrelevanter Banken, die uns
auch hier im Deutschen Bundestag Entscheidungen ab-
nötigen, weil wir wissen, dass ein Scheitern dieser Ban-
ken Konsequenzen hätte, die wir dem öffentlichen Wohl
schlechterdings nicht mehr zumuten können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen einen wirksamen Schutz der Steuerzahle-
rinnen und Steuerzahler als Haftende in letzter Instanz.

Sie legen heute einen Antrag vor mit dem Titel:
„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanz-
märkte fortsetzen“. Nehmen Sie es mir nicht übel – fern
jedes Florettangriffs –, aber Sie haben sich mit dem Be-
griff „fortsetzen“ einfach vergriffen.


(Beifall bei der SPD)


Sie erwecken nämlich den falschen Eindruck, als hätten
Sie bereits in den letzten drei Jahren Grundlegendes oder
gar Wegweisendes zur Regulierung der Finanzmärkte
unternommen. Das haben Sie nicht!


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Doch, doch! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dazu haben wir eine Broschüre! Ich schicke sie Ihnen zu!)


– Ihre Broschüre oder Ihre Anträge mögen ja schön sein.
Das ist ja alles in Ordnung. In denen muss man auch
nicht wahrhaftig sein.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Sie haben behauptet, Sie hätten alles getan!)


– Gemach, Gemach, keine Aufregung, keine Blutdruck-
steigerung. – Das, was Sie in diesem Antrag aufführen,
ist ganz interessant. Sie führen beispielsweise das Re-
strukturierungsgesetz auf, weiterhin die Bankenabgabe,
die Reform der Vergütungssysteme und ein Verbot unge-
deckter Leerverkäufe. Das sind jedoch Reformmaßnah-
men, die aus der Zeit der Großen Koalition resultieren.
Dafür haben Sie gar kein Urheberrecht.


(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU]: Albern, was Sie hier erzählen!)


Sie sollten mit dem Urheberrecht vorsichtiger sein. Die
Maßnahmen sind alle in der Großen Koalition angelegt
worden. Die Vorarbeiten zum Restrukturierungsgesetz in
Deutschland stammen noch aus der Feder von Frau
Zypries und von mir. Die Bankenabgabe ist angelegt

worden in der Großen Koalition. Dem Thema des Ver-
bots von Leerverkäufen habe ich mich erstmals zuge-
wandt.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Für ein paar Monate!)


– Entschuldigen Sie, Sie haben das dann nachgemacht,
und das werfe ich Herrn Schäuble auch gar nicht vor.
Das hat er ja richtig gemacht.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Wir waren die ersten in Europa, die es durchgesetzt haben! Erzählen Sie doch keinen Müll hier!)


– Entschuldigen Sie, ich würde sehr vorsichtig sein;
denn ich hatte mich auch mit anderen Ländern darüber
abgestimmt, dass das Ganze nicht nur auf Deutschland
zu begrenzen ist, sondern sich auch auf Europa erstreckt.

Unbenommen dessen: Das, was Sie hier betreiben, ist
schlicht und einfach die Verletzung von Copyrights. Die
Reformen stammen alle aus der Großen Koalition.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Übrigen verweisen Sie auf Initiativen, die durch-
aus richtig sind: die Regulierung von Ratingagenturen,
Hedgefonds und Derivatemärkten – nur, dies sind alles
Initiativen der Europäischen Kommission, und Sie kom-
men gar nicht darum herum, diese nach europäischem
Recht umzusetzen.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: So ist es! – Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Frank Steffel [CDU/CSU])


Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Gemeinsam
mit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben wir hier
einen Antrag zu einem Aspekt vorgelegt. Die weiteren
Aspekte finden sich in umfangreicheren Papieren, zu de-
nen ich auch etwas gesagt oder beigetragen habe. Wir
äußern uns hier in unserem Antrag ganz gezielt zu einer
europäischen Bankenunion und zeigen die wirklichen
Probleme und Lösungen auf. Wir fordern eine europäi-
sche Abwicklungsbehörde, ein europäisches Abwick-
lungsregime und einen Restrukturierungsfonds, meine
Damen und Herren, der nicht von den Steuerzahlern ge-
speist wird – nein! –, sondern von den Banken selber
und damit die deutschen Steuerzahler entlastet.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Eine europäische Bankenaufsicht ist wichtig. Ich sage
kein böses oder kritisches Wort dazu. Selbstverständlich
ist es richtig, dass die europäische Bankenaufsicht beför-
dert wird. Ich bin sehr froh darüber, dass die Lösung he-
rausgekommen ist, die sich jetzt anbahnt, die sich jeden-
falls in einem ersten Schritt auf die systemrelevanten,
großen Banken erstreckt. Es ist auch richtig, die Banken-
aufsicht bei der EZB anzusiedeln, wenn es eine klare
Trennung der Zuständigkeiten gibt. Aber in der Haf-
tungsfrage verbessert sich durch die Verbesserung der
Bankenaufsicht zunächst einmal gar nichts. Vielmehr
entspricht der Umgang mit der Haftungsfrage dem Satz





Peer Steinbrück


(A) (C)



(D)(B)


des von Herrn Schäuble und mir sehr respektierten Chefs
der Bank of England, Mervyn King, der gesagt hat:
„Global in life, but national in death.“ Das gilt für die
Banken: Sie sterben immer noch auf nationaler Ebene,
mit der Folge, dass Steuerzahler und Steuerzahlerinnen
dafür aufkommen müssen.

Wir brauchen eine europäische Abwicklungsbehörde,
um künftig die von der EZB beaufsichtigten systemrele-
vanten Banken in einem grenzüberschreitenden Verfah-
ren geordnet restrukturieren oder auch abwickeln zu
können. Das ist übrigens eine Forderung, die gar nicht so
originell ist; sie ist in den Reihen meiner Fraktion schon
vor drei, vier Jahren geäußert worden. Ich würde gerne
wissen: Was haben Sie denn seitdem gemacht, um das
auf der europäischen Ebene durchzusetzen?


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Thomas Oppermann [SPD]: Ja, nichts haben sie gemacht!)


Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe in diesem
Haus ist es, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler in
Europa zu schützen, vor den Risiken in Europa, aber
auch vor Steuerbetrug und Steuerhinterziehung. Herr
Solms ist vorhin darauf eingegangen. Ich will Ihnen die
Zahlen in Erinnerung rufen: Allein in Deutschland feh-
len aufgrund illegaler Steuerpraktiken nach seriösen
Schätzungen jährlich bis zu 150 Milliarden Euro; in
ganz Europa, sagen einige Fachleute, sind es 900 Mil-
liarden Euro. Das heißt, eine Reihe von Problemen, mit
denen wir uns hier beschäftigen, gäbe es nicht, wenn wir
bei der Erzielung dieser Steuerzahlungen erfolgreicher
wären.

Wenn ein so traditionsreiches Haus wie die Schweizer
Wegelin-Bank offen zugeben muss: „Wir haben betro-
gen“, wenn Beihilfe zum Steuerbetrug zum Geschäfts-
modell geworden ist, dann ist der Weckruf in meinen
Augen unüberhörbar. In meinen Augen gehört es zur
Wiederherstellung der Grundprinzipien der Marktwirt-
schaft – darum geht es –, das Thema der Bekämpfung
des Steuerbetruges sehr ernst zu nehmen


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


und uns nicht durch den Entwurf eines deutsch-schwei-
zerischen Steuerabkommens ablenken zu lassen, das
nichts anderes als einen Ablasshandel darstellen würde –
mehr nicht. Sie wedeln mit Mehreinnahmen; aber Sie
sind bereit, dafür Grundprinzipien über Bord zu schmei-
ßen. Was Sie verschweigen, ist, dass Steuerstraftäter laut
diesem Entwurf nach dem Willen der Bundesregierung
auch noch Rabatt bekommen sollten. Was Sie ver-
schweigen, ist, dass diese Steuerstraftäter anonym blei-
ben sollten, dass sie der Strafverfolgung entzogen wer-
den sollten. Sie von der Bundesregierung wollten
Steuerbetrüger entkriminalisieren und zugleich der deut-
schen Steuerfahndung Fesseln an die Füße legen, um zu
verhindern, dass sie auch mithilfe von Steuer-CDs das
tut, wozu sie da ist.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721704600

Herr Steinbrück, Sie müssten zum Ende kommen.


Peer Steinbrück (SPD):
Rede ID: ID1721704700

Steuergerechtigkeit, meine Damen und Herren, ist

nicht nur eine Frage der Staatseinnahmen – darauf will
ich hinaus –, sondern sie ist, ebenso wie die Bändigung
des Raubtierkapitalismus, von dem Helmut Schmidt
schon vor über zehn Jahren gesprochen hat, sehr viel
mehr: Steuergerechtigkeit ist eine Demokratiefrage. Sie
betrifft die Balance und das Gleichgewicht in unserer
Gesellschaft.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der SPD – Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721704800

Der Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble hat das

Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-
zen:

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Herr
Kollege Steinbrück, wir haben gut zusammengearbeitet
in der Regierung der Großen Koalition. Ich habe ein
Grundverständnis – das mag altmodisch sein – einer ge-
wissen Solidarität zwischen Amtsvorgängern und Amts-
inhabern.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das macht es mir ein bisschen schwer, auf Sie einzuge-
hen. Da ich Protestant bin, habe ich auch ein bisschen
Mitleid. Das macht es mir darüber hinaus schwer, auf
Sie einzugehen.


(Heiterkeit und Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Was war denn an der Bemerkung christlich?)


Was werfen Sie uns eigentlich vor? Im ersten Teil Ih-
rer Rede werfen Sie uns vor, wir hätten alles falsch ge-
macht. Im zweiten Teil Ihrer Rede werfen Sie uns vor,
wir hätten nur das gemacht, was Sie gemacht haben. Ent-
weder das eine oder das andere, aber doch nicht beides
zusammen und das auch noch in einer Rede. Das geht
doch nicht.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Natürlich sind Lehren zu ziehen aus der Finanz- und
Bankenkrise, die ihren Ursprung übrigens in Amerika,
bei Lehman Brothers, und nicht im Euro-Raum hatte.
Daran muss man auch einmal erinnern. Natürlich ist das
Ziehen der Konsequenzen mit dem Ziel einer besseren
Regulierung des Finanzmarkts eine große Aufgabe, die
übrigens nicht über Nacht bewältigt werden kann. Viel-
mehr müssen in einem langwierigen beharrlichen Pro-
zess auf globaler, europäischer und nationaler Ebene die
richtigen Konsequenzen gezogen werden.





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


Angesichts der Volatilität in den modernen Finanz-
märkten geht es doch gar nicht anders. Ich kann hier jede
Regel einführen, aber wenn mit einem Knopfdruck alle
Aktivitäten aus Deutschland heraus verlagert werden,
habe ich nichts erreicht. Infolgedessen geht es doch nicht
so einfach, wie Sie es hier gesagt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es hat doch keinen Sinn, den Menschen, wie es die
Linken in Ihrer Partei tun, mit uralten klassenkämpferi-
schen Parolen einzureden, nur die Banken seien an allen
Problemen schuld. Das haben wir schon 100 Jahre lang
gehört, und das war schon immer falsch.


(Thomas Oppermann [SPD]: Sie haben es selbst erlebt!)


Das hat schon einmal Deutschland und Europa geteilt,
und das ist überwunden. Das sind so alte Hüte, dass ich
mich eigentlich wundere, dass Sie uns das hier vorgetra-
gen haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Deswegen ist Ihre Politik schlecht, weil Sie das glauben!)


Ursache der Euro-Krise ist, dass wir in der gemeinsa-
men europäischen Währungsunion unterschiedliche
Finanzpolitiken in den Ländern haben. Das ist nicht nur
im Euro-Raum, sondern überall in der Welt der Fall. Im
Übrigen ist die Staatsverschuldung außerhalb des Euro-
Raums höher als innerhalb des Euro-Raums. Großbritan-
nien hat eine höhere Staatsverschuldung als der Durch-
schnitt des Euro-Raums. Die Vereinigten Staaten von
Amerika will ich gar nicht erwähnen.

Ich füge hinzu, dass mir die Politik der neu gewählten
japanischen Regierung ziemlich große Sorgen bereitet.
Wir haben ein Übermaß an Liquidität in den globalen
Finanzmärkten. Dieses wird durch ein falsches Verständ-
nis von Notenbankpolitik weiter geschürt. Das alles sind
unsere Herausforderungen und unsere Aufgaben, denen
wir uns stellen.

Wir haben ein unterschiedliches Maß an Wettbe-
werbsfähigkeit in den europäischen Volkswirtschaften.
Das ist in einer gemeinsamen Währungsunion natürlich
ein Riesenproblem, das in Angriff genommen werden
muss.

Natürlich haben wir den Fehler gemacht – wir alle,
sowohl in der Regierung als auch in der Opposition; ich
war auch lange genug dabei –, zu glauben: Je weniger
Regulierung, umso besser für den Finanzplatz Deutsch-
land. Am Schluss hatten wir überall auf der Welt so we-
nig Regulierung, dass die Finanzmärkte begonnen ha-
ben, sich ohne Regeln und Grenzen selbst zu zerstören.
So ist die Wirklichkeit, und das müssen wir ändern.

Es ist aber nicht getan mit einer einfachen Beschimp-
fung der Banken oder mit der Behauptung, dass die
Finanzinstitute Infektionskanäle in die Staatshaushalte in
Europa gelegt hätten. Das ist eine Verschwörungstheo-
rie, die nun wirklich zum Himmel schreit, und zwar
schreit sie nach Erbarmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Selbstverständlich! Das ist doch Fakt! Das ist doch Tatsache! Spanien!)


– In Spanien haben wir eine Immobilienkrise,


(Beifall des Abg. Dr. Frank Steffel [CDU/ CSU])


ausgelöst übrigens möglicherweise durch ein falsches
Verständnis von Wachstumsförderung, indem man näm-
lich glaubt, dass man mit schuldenfinanzierten Anreiz-
programmen in den Immobiliensektor eingreifen kann.
Das Entstehen der spanischen Immobilienblase können
Sie doch exakt verfolgen. Diese wiederum hat den spani-
schen Sparkassensektor so infiziert, dass sich daraus
weitere Probleme ergeben haben.

Irland ist ein Sonderproblem. Die spanische Immobi-
lienkrise hat übrigens ziemlich viel Ähnlichkeit mit dem
Entstehen der Subprimekrise in den Vereinigten Staaten
von Amerika – um auch daran zu erinnern.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ich sage noch einmal: Wir sind auf dem richtigen
Weg, Schritt für Schritt. Wir sind nicht über den Berg,
aber wir sind auf dem richtigen Weg, die Vertrauenskrise
in Bezug auf den Euro – denn aus all dem ist eine Ver-
trauenskrise entstanden – Schritt für Schritt zu lösen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Die Europäische Zentralbank muss Sie doch retten! Sie lösen doch gar nichts!)


Die realen Zahlen um den Jahreswechsel belegen
dies. Die Haushaltssituation in allen Ländern – mit Pro-
gramm oder auch in solchen Ländern ohne Programm –
hat sich verbessert. Die Unterschiede bei den Lohnstück-
kosten sind geringer geworden. Das betrifft das Thema
Wettbewerbsfähigkeit und die zu großen Verzerrungen.
Die Zinsdifferenzen werden geringer. Das Vertrauen in
die Finanzmärkte kommt Schritt für Schritt zurück. Wir
sind nicht über den Berg, aber wir sind auf dem richtigen
Weg.

Aber eines dürfen wir nicht machen – und das ist der
grundlegende Unterschied –: exakt die Fehler fortsetzen,
die zu der Krise geführt haben. Sie haben einen richtigen
Satz gesagt. Die Gretchenfrage jeder wirtschaftlichen
Ordnung ist: Haftung und Entscheidung, Risiko und
Chance dürfen nicht auseinanderfallen. Das ist im
Finanzsektor so – „too big to fail“, das kennen wir –, und
das gilt natürlich auch für eine Politik der Vergemein-
schaftung in Europa: keine Vergemeinschaftung von
Haftung, wenn wir nicht auch eine Vergemeinschaftung
der Entscheidung beschließen. Wer Schulden machen
kann, für die andere das Risiko tragen, macht sie. Des-
wegen ist Ihr Weg der Vergemeinschaftung von Haftung
ein Weg, der die Krise verschlimmert, statt sie zu lösen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Davon habe ich gar nicht geredet! – Thomas Oppermann [SPD]: Sie bauen einen Popanz auf!)


Ich habe mit dem Sachverständigenrat darüber disku-
tiert. Sie übernehmen ja den Vorschlag des Sachverstän-





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


digenrates. Ein Altschuldentilgungsfonds, wie vom
Sachverständigenrat vorgeschlagen, setzt, um es recht-
lich zu sagen, zumindest eine Vertragsänderung voraus,
denn mit dem Bail-out-Verbot ist er nicht zu vereinba-
ren; dafür müsste man die Verträge ändern.

Aber unterstellen wir einmal, dass wir das Risiko der
zusätzlichen Haftung – das sind über 60 Prozent der Ge-
samtverschuldung der Mitgliedsländer in der Euro-Zone –
in einer Größenordnung des deutschen Bruttoinlandspro-
dukts zulasten der deutschen Wirtschaft übernehmen
würden. Die unmittelbare Folge wäre, dass die deutsche
Wirtschaft die Last nicht mehr tragen könnte, dass wir
heruntergeratet werden würden und dass das Vertrauen
in die Solidität der deutschen Wirtschaft zerstört würde.
Damit zerstören Sie übrigens Europa; denn wir sind der
Anker für Europa. Das dürfen wir schon aufgrund unse-
rer Verantwortung für Europa nicht machen. Deswegen
ist Ihr Vorschlag nicht zu verwirklichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nächstes Beispiel. Sie schlagen in Ihrem Antrag ei-
nen europäischen Bankenfonds mit einem Volumen von
200 Milliarden Euro vor, den die Banken schnell aufle-
gen sollen. Sie wissen genau: Wenn die Banken zu den
Anforderungen – zusätzliches Eigenkapital, Umsetzung
von Basel III; wir sind ja in der Endphase der Verhand-
lungen mit dem Europäischen Parlament; es geht in
Europa halt nicht so schnell, wie ich mir das wünschen
würde, aber das Parlament muss seine Rolle wahrneh-
men – noch 200 Milliarden Euro zusätzliches Kapital
aufbringen sollen,


(Dr. Gerhard Schick [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das liegt doch nicht am Parlament!)


dann wird das eine dramatische Kreditverknappung für
die gesamte europäische Wirtschaft zur Folge haben; das
heißt, wir erleben einen weiteren wirtschaftlichen Ab-
sturz, und das, wo wir gerade dabei sind, uns aus der
weltwirtschaftlichen Konjunkturdelle herauszubewe-
gen. Das wäre das Dümmste, was man machen kann,
völlig unverantwortlich.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf des Abg. Johannes Kahrs [SPD])


Sie müssen sich inzwischen schon so weit nach links
bewegen, dass Sie von Herrn Trittin rechts überholt wer-
den.


(Johannes Kahrs [SPD]: Weil Sie versagen, müssen die Steuerzahler wieder ran!)


– Reden Sie doch nicht andauernd dazwischen, das nützt
sowieso nichts.


(Johannes Kahrs [SPD]: Trotzdem ist es falsch!)


Selbst Herr Trittin hat gesagt, es wird einige Zeit dauern,
bis die 200 Milliarden Euro aufgebracht werden können.
Daraufhin haben Sie einen noch intelligenteren Vor-
schlag gemacht. Sie haben gesagt: Der europäische Ban-
kenfonds soll für diese 200 Milliarden Euro Anleihen
ausgeben. Wer nimmt die? Wie werden sie refinanziert?

Durch die EZB. Sagen Sie doch gleich: Wir lösen die
Probleme, indem wir die Banknotenpresse anwerfen und
so viel Geld drucken, wie wir brauchen. Sie untergraben
jedes Vertrauen in die Stetigkeit unserer wirtschaftlichen
Entwicklung. Exakt deswegen werden wir das nicht ma-
chen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Unverschämtheit! Machen Sie Ihre Politik nicht zu unserer!)


– Das ist ein grundlegender Unterschied. Darüber werden
wir noch öfter streiten. Wenn Sie wollen, dass die Noten-
bank nicht nur für die Stabilität des Geldes, in erster Linie
für die Preisstabilität, verantwortlich ist, sondern wir mit
der Banknotenpresse alle unsere wirtschaftspolitischen,
sozialpolitischen und sonstigen Probleme lösen,


(Peer Steinbrück [SPD]: Das tun Sie doch gerade!)


dann schaffen Sie Inflation als Grundlage aller politi-
schen Entscheidungen.

Aus genau diesem Grund haben wir schon vor 60 Jah-
ren, zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland, den
politischen Mehrheiten die Banknotenpresse entzogen,
die Unabhängigkeit der Notenbank beschlossen und eine
Beschränkung auf das eng ausgelegte geldpolitische
Mandat vorgenommen. Dabei hat uns die Erkenntnis ge-
leitet, dass politische Mehrheiten lieber Geld ausgeben,
als den Bürgern die Rechnung für die Ausgaben zu prä-
sentieren.

Wenn Sie das ändern wollen, können wir darüber
streiten. Ich sage Ihnen: Die große Mehrheit der Deut-
schen weiß, dass Inflation die schlimmste soziale Unge-
rechtigkeit ist


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber Sie machen es doch!)


und wir nachhaltiges Wirtschaftswachstum nur auf der
Grundlage von Stabilität erreichen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Jeder internationale Vergleich belegt doch inzwi-
schen, dass die Länder, die eine einigermaßen verant-
wortliche Finanzpolitik betreiben, wirtschaftlich sehr
viel besser dastehen als die anderen. Warum lassen Sie
sich durch diese Tatsache nicht belehren?


(Johannes Kahrs [SPD]: Belehren von Ihnen schon mal gar nicht!)


Wir wissen inzwischen – das hat selbst der frühere Chef-
ökonom des Internationalen Währungsfonds, Herr Rogoff,
nachgewiesen –, dass ab einer bestimmten Höhe der
Staatsverschuldung eine weitere Erhöhung der Staats-
verschuldung Wachstum nicht mehr fördert, sondern
mittelfristig behindert. Genau deswegen machen wir das
nicht. Weil wir das nicht machen, sind wir im europäi-
schen Vergleich diejenigen mit den besten Stabilitäts-
erfolgen und den besten nachhaltigen Wirtschaftserfol-
gen. Genau diese Politik werden wir fortsetzen.





Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)



(Johannes Kahrs [SPD]: Das haben Ihre Vorgänger vernünftig geregelt, nur Sie nicht!)


– Ich weiß, warum Sie dauernd dazwischenreden.


(Johannes Kahrs [SPD]: Ja, weil Sie Unsinn reden!)


– Oh Gott, Sie sind ja sowieso – – Das lohnt ja gar nicht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das hatten wir alles schon mal!)


– Sie wollen das nicht hören. Wir hören uns Ihre Auffas-
sungen doch auch mit großer Ruhe an. Wir hören auf-
merksam zu, setzen uns damit auseinander und sagen,
warum wir Ihre Auffassungen für falsch halten. Das ist
der Sinn einer parlamentarischen Debatte. Es ist nie an-
genehm, wenn man gesagt bekommt, dass ein anderer
nicht die eigene Meinung teilt. Trotzdem sage ich Ihnen:
Wir können mit realen ökonomischen Zahlen und mit
Erfolgen belegen, dass unser Weg zwar anstrengend ist,
er uns aber Schritt für Schritt voranführt. Das ist auch in
der Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht sichtbar
geworden. Deswegen werden wir exakt diesen Weg wei-
tergehen.

Wir haben jetzt einen einheitlichen Bankenaufsichts-
mechanismus für die systemrelevanten Institute geschaf-
fen. Dieser Mechanismus macht aber nur Sinn, wenn die
Bankenaufsicht mindestens die gleiche Qualität wie die
in Deutschland hat. Natürlich gibt es Länder in Europa,
in denen die Bankenaufsicht nicht die Qualität unserer
Bankenaufsicht erreicht. Deswegen sage ich Ihnen: Der
Mechanismus einer europäischen Bankenaufsicht ist mit
Blick auf grenzüberschreitende Problematiken richtig,
aber nur unter der Voraussetzung, dass die Bankenauf-
sicht so gut ist wie die, die wir haben. Es kann nicht sein,
dass wir auf europäischer Ebene ein schlechteres Niveau
haben. Das ist auch die Position der Europäischen Zen-
tralbank. Daher müssen die Regeln für die Trennmauer
zwischen Geldpolitik und Bankenaufsicht so streng wie
möglich sein. Wir haben auf der Grundlage der gelten-
den Verträge – das haben Sie anerkannt – das Bestmögli-
che, das Optimale herausgeholt. Deswegen werden wir
das Schritt für Schritt umsetzen.

Im Übrigen bleibt es dabei: Die Interpretation der Be-
schlüsse zur direkten Bankenrekapitalisierung war
falsch, Herr Steinbrück. Auch in der Entscheidung der
Staats- und Regierungschefs vom frühen Morgen des
29. Juni 2012 – ich habe den Tag noch gut in Erinne-
rung – steht ausdrücklich:


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Wir waren ja nicht eingebunden!)


Wenn eine europäische Bankenaufsicht die Arbeit aufge-
nommen hat, unter Beteiligung der EZB, dann können
die Banken bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungen
des ESM-Vertrages direkt Kapital bekommen. Die übri-
gen Voraussetzungen sind: Der ESM bleibt Lender of
Last Resort, das heißt subsidiär. Nur wenn die Banken
sich das Kapital nicht selbst besorgen können und auch
der Mitgliedstaat das Kapital nicht besorgen kann, kann
der Mitgliedstaat beim ESM einen Antrag stellen.


(Thomas Oppermann [SPD]: Und dann kriegen die Banken das Geld!)


Dann muss ein Anpassungsprogramm vereinbart wer-
den, ein Memorandum of Understanding. Nur so und
nicht anders geht es. Würden wir es anders machen,
wäre der ESM innerhalb von vier Wochen völlig leer-
gelaufen. Damit würden wir alles vergemeinschaften.
Das wäre exakt der falsche Weg; es wäre eine Fehlinter-
pretation der Beschlüsse. Es gibt manche in Europa, die
das wollen. Deswegen muss ich hier klarstellen: Wir
werden es nicht machen. Die Verträge sind völlig anders
zu verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ein letztes Wort, weil Sie auch in dieser Debatte noch
auf das Thema der Steuerhinterziehung zu sprechen
gekommen sind. Herr Kollege Steinbrück, Steuerhinter-
ziehung ist – das wissen Sie – ein Riesenproblem. Auch
Sie haben in Ihrer Amtszeit – das habe ich Ihnen nie vor-
geworfen – an der Wirklichkeit nicht sehr viel ändern
können. Die moderne Verflechtung der Wirtschaft bringt
unglaubliche Möglichkeiten mit sich. Denken Sie an die
Mehrwertsteuer. Für die organisierte Kriminalität ist die
Ausnutzung der Tatsache, dass wir die Mehrwertsteuer
notwendigerweise nach vereinbarten Entgelten erheben,
ein unglaubliches Geschäftsmodell. Denken Sie daran,
dass mit der großen Mobilität der Geschäftsaktivitäten
im Internet – ich habe das Thema zum ersten Mal auf-
gegriffen und auf die G-20-Ebene gehoben – eine starke
Erosion der Steuerbasis verbunden ist.

Ich muss jetzt aber noch etwas zur Schweiz sagen.
Das Abkommen ist gescheitert; es konnte nicht zum
1. Januar in Kraft treten. Sie haben dazu aber schon wie-
der etwas gesagt, was mit meinem Respekt vor Ihnen
einfach nicht zu vereinbaren ist. Sie sagen etwas, von
dem ich nicht glaube, dass das von dem „richtigen
Steinbrück“ stammt. Sie waren federführend dafür zu-
ständig und verantwortlich, dass bei der Besteuerung
von Kapitalerträgen eine Abgeltungsteuer eingeführt
wurde. Wenn ein deutscher Steuerpflichtiger bei deut-
schen Banken und Sparkassen bzw. Raiffeisenbanken
Kapitalerträge erzielt, behalten diese von den Kapital-
erträgen – von den Zinsen, Dividenden etc. – die Kapi-
talertragsteuer ein und führen sie an das Finanzamt ab.
Gäbe es das Abkommen, dann hätten wir seit dem 1. Ja-
nuar in der Schweiz exakt dieselbe Praxis; dann würden
auch Schweizer Banken das machen. Wir haben das
Abkommen jetzt aber nicht. Sie haben es blockiert und
verhindert. Deswegen sind wir seit dem 1. Januar darauf
angewiesen, dass uns die Schweizer Banken freiwillig
die Daten nennen – oder auch nicht.

Wenn Sie Steuerhinterziehung bekämpfen wollen,


(Johannes Kahrs [SPD]: Sie privilegieren sie doch!)


müssen Sie zu internationaler Kooperation bereit sein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Internationale Kooperation kann nur heißen, dass die
Regeln, die bei uns gelten, auch im Nachbarland gelten.
Das genau haben Sie zerstört.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist doch Unsinn!)






Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble


(A) (C)



(D)(B)


Es gibt nur einen Grund dafür: parteipolitisch motivier-
ten Missbrauch.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721704900

Jetzt hat Richard Pitterle das Wort für die Fraktion

Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721705000

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-

ginnen und Kollegen! Die IWF-Chefin, Madame
Lagarde, urteilte Ende letzten Jahres – ich zitiere –: „Das
Finanzsystem als Ganzes ist noch nicht viel sicherer, als
es zur Zeit des Zusammenbruchs von Lehman Brothers
war.“ Die Koalition hingegen hat in ihrem gestern hastig
vorgelegten Antrag aufgezählt, was die Bundesregierung
alles getan habe. Ein Großteil des Reformprogramms sei
abgearbeitet, heißt es dort. Außerdem habe Deutschland
eine Vorreiterrolle übernommen. Wesentliche Ursachen
der Finanzkrise seien beseitigt worden. Ich sage Ihnen:
Eigenlob stinkt.


(Beifall bei der LINKEN)


Wie sieht Ihre Bilanz tatsächlich aus? Die von Ihnen
genannten Vorschriften bezüglich eines höheren Eigen-
kapitals für Banken sind Vorgaben von europäischen
Gremien. Ich nenne nur die Stichworte Basel III und
CRD IV. Sie sind aber doch nicht das Ergebnis Ihrer
Regierungspolitik.

Sie loben sich wegen des neuen gesetzlichen Selbst-
behalts von 5 Prozent bei Verbriefungen, also bei der
Umverpackung schlechter und besserer Kredite zu neuen
Bündeln, deren Verteilung rund um den Globus als eine
der Hauptursachen für den Ausbruch der Finanzkrise
gilt. Doch schon vor Ihrem Gesetz lag der sogenannte
Selbstbehalt in der Praxis bei mindestens 10 bis 15 Pro-
zent der Kreditforderungen.

Sie preisen die neuen Vergütungsregeln für Manager
und Mitarbeiter von Banken. Doch wie die Bankenauf-
sicht selber zugibt, sind sie nur sehr schwer bei ausländi-
schen Tochtergesellschaften deutscher Banken durch-
zusetzen, bei ausländischen Banken ohnehin nicht.

Ratingagenturen tragen, wie Sie richtig erkannt ha-
ben, eine große Mitverantwortung an der Finanzkrise.
Seit 2010 müssen sich Ratingagenturen registrieren und
beaufsichtigen lassen. Wo ist da ein Fortschritt?


(Beifall bei der LINKEN)


Kannten wir vorher ihre Anschrift nicht? Wussten wir
vorher nicht, wer Geschäftsführer ist? Wie soll die deut-
sche bzw. europäische Aufsicht bei den drei dominieren-
den Ratingagenturen mit Sitz in den USA stattfinden?

Die Koalition verkündet stolz: Kundeneinlagen sind
bis zu einem Betrag von 100 000 Euro gesetzlich ge-
schützt. Schön. Aber die Sparkassen und Genossen-
schaftsbanken hatten schon immer die Institutssiche-

rung, und die privaten Banken haften seit Jahrzehnten
mit 30 Prozent ihres Eigenkapitals für die Einlagen der
Bürgerinnen und Bürger.

Ich frage Sie: Wo bitte sind Einschränkungen beim
spekulativen Eigenhandel, also den Geschäften, die
Banken im eigenen Namen und auf eigene Rechnung
tätigen? Die Finanzkrise hat gezeigt, dass in diesen
Geschäften enorme Risiken liegen. Etliche große Ban-
ken gerieten ins Schlingern und wurden mit Milliarden-
beträgen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geret-
tet. Die Linke ist daher für ein grundsätzliches Verbot
des spekulativen Eigenhandels.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn im Gegensatz zu diversen Vorschlägen der EU-
Kommission oder der Anhänger eines Trennbankensys-
tems wollen wir den Spekulanten nicht einen Extraraum
zur Verfügung stellen, in dem sie sich austoben können,
sondern wir wollen, dass das Zocken der Banken endlich
aufhört.


(Beifall bei der LINKEN)


Wir halten von einem Trennbankensystem gar nichts.
Lehman Brothers war eine reine Investmentbank in ei-
nem grundsätzlichen Trennbankensystem. Die großen
US-Investmentbanken sind bis auf eine Ausnahme unter
das Dach von Geschäftsbanken geschlüpft. Das soll für
Deutschland die Zukunft sein? Wie man gestern im
Handelsblatt lesen konnte, liebäugelt Herr Schäuble ge-
rade mit der französischen Trennbankenreform. Doch
das ist ein Reförmchen. Das hochspekulative Handels-
geschäft soll nicht unterbunden, sondern lediglich in
eine Tochtergesellschaft ausgegliedert werden. Nein, da
gehen wir nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Die Linke will das bewährte Universalbankensystem be-
halten.

Sie behaupten in Ihrem Antrag außerdem, dass Sie die
Eingriffsbefugnisse der Bankenaufsicht gestärkt hätten.
Doch auch hier sind Sie wieder auf halber Strecke stehen
geblieben. Gestern in der Anhörung zum Hochfrequenz-
handel hat die Bankenaufsicht einräumen müssen, dass
ihr das Personal für eine echte Kontrolle fehlt. Markt-
manipulationen finden statt, ohne dass die BaFin sie
überhaupt entdecken könnte.


(Dr. Gesine Lötzsch [DIE LINKE]: Das ist doch politisch so gewollt!)


Das ist doch keine Erfolgsgeschichte.

Die Bundesregierung schmückt sich mit fremden
Federn und zündet Nebelkerzen. Ihr Antrag ist mit
„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanz-
märkte fortsetzen“ überschrieben. Was heißt hier „fort-
setzen“? Fangen Sie doch erst einmal richtig an!


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721705100

Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing für

die FDP-Fraktion.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1721705200

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kollege

Steinbrück, zwei Dinge zeichnen Sie aus: Erstens wissen
Sie hinterher immer alles besser, und zweitens wurden
alle erfolgreichen Gesetze, die CDU/CSU und FDP hier
im Bundestag – im Übrigen mit Gegenstimmen der
SPD-Fraktion – durchgesetzt haben, heimlich von Peer
Steinbrück geschrieben. Das haben wir heute dazu-
gelernt.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist, Herr Steinbrück, im besten Falle lächerlich.
Aber sich hier hinzustellen, nachdem Ihre eigene
Fraktion und Sie persönlich das Restrukturierungsgesetz
abgelehnt haben, nachdem Sie unsere Regulierungs-
gesetze hinsichtlich Leerverkäufen und anderer Dinge
abgelehnt haben, und zu sagen, Sie hätten sie eigentlich
geschrieben


(Peer Steinbrück [SPD]: Weil es fehlerhaft ist!)


und wir hätten bei Ihnen abgeschrieben, das ist, Herr
Steinbrück, wirklich eine maßlose Täuschung der
Öffentlichkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie haben hier die Probleme der Finanzwirtschaft in
den letzten Jahren eindringlich beschrieben. Es ist wahr:
Es gab dramatische Exzesse mit erheblichen Problemen.
Aber man fragt sich doch: Wie konnte sich der Banken-
sektor unter einem nordrhein-westfälischen Finanz-
minister Peer Steinbrück eigentlich so entwickeln? Wie
konnte sich der Finanzsektor unter einem Ministerpräsi-
denten Peer Steinbrück so weiterentwickeln?


(Peer Steinbrück [SPD]: Na, wie in den anderen Ländern auch!)


Wie konnte sich der Finanzsektor unter einem Bundes-
finanzminister Peer Steinbrück so weiterentwickeln,
dass es zu einer Zuspitzung der Krise kam? Ja, wie war
denn das alles möglich? Wollen Sie der Öffentlichkeit
das vielleicht irgendwann einmal sagen? Das ist eine
Frage des Anstands und der Aufrichtigkeit.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie stellen sich hier hin und sagen, dass Sie gemein-
sam mit den Grünen einen neuen Anlauf zur Bändigung
der Finanzmärkte unternehmen wollen. Wo ist denn Ihr
damaliger Anlauf gewesen?


(Peer Steinbrück [SPD]: Und das sagt ausgerechnet einer von der FDP!)


Sie haben damals, vom Zeitgeist geprägt – Herr
Schäuble hat das richtig ausgeführt –, Hedgefonds zu-
gelassen und die Deregulierung der Finanzmärkte be-
trieben.


(Peer Steinbrück [SPD]: Und die FDP? Wie hat die damals abgestimmt?)


Das war ein breiter Konsens.


(Peer Steinbrück [SPD]: Oh nein! Das war überhaupt kein Konsens! Sie wollten weiter gehen als jeder andere in diesem Haus!)


Das war damals aber auch die Auffassung von Rot-
Grün. Es war Ihre Regierung, die das betrieben hat. Sie
haben die Finanzmärkte dereguliert. Sie haben also gar
keinen ersten Anlauf unternommen. In Ihrer ganzen
Amtszeit haben Sie kein einziges Gesetz zur Regulie-
rung der Finanzmärkte auf den Weg gebracht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Peer Steinbrück [SPD]: Sie sind ein Heuchler!)


Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben mit anse-
hen müssen, dass Finanzminister Peer Steinbrück, als die
Krise in Amerika eskalierte, der deutschen Öffentlich-
keit – selbstbewusst wie immer – mitgeteilt hat, das sei
ein amerikanisches Problem, das in Deutschland nicht
ankommen werde. Wir haben im Rahmen eines Untersu-
chungsausschusses herausarbeiten müssen – sonst hätten
Sie auch das verschwiegen –, dass Peer Steinbrück die
Berichte der Finanzaufsicht im Jahre 2008, also mitten
in der Krise, noch nicht einmal gelesen hat;


(Peer Steinbrück [SPD]: Was? Wie kommen Sie denn jetzt darauf?)


das war eine eklatante Fehleinschätzung der Bedrohungs-
und Gefährdungslage. Aber Sie stellen sich hier hin und
sagen, man müsse den Steuerzahler schützen. Was haben
Sie denn letztlich anderes gemacht, als die Banken auf
Steuerzahlerkosten zu rekapitalisieren? Sie haben ja noch
nicht einmal die warnenden Hinweise der Bankenaufsicht
in Deutschland gelesen, Herr Steinbrück. Das ist die
Wahrheit. Das ist die Bilanz Ihrer Verantwortung als Bun-
desfinanzminister.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Meine Damen und Herren, wir als christlich-liberale
Regierung haben die richtige Reaktion auf die Krise ge-
zeigt. Wir haben einen Selbstbehalt bei Verbriefungen
eingeführt. Wir haben ein Leerverkaufsverbot durchge-
setzt, das im Übrigen in ganz Europa Schule macht. Wir
haben die Beaufsichtigung von Ratingagenturen umge-
setzt. Wir haben ein Hochfrequenzhandelsgesetz auf den
Weg gebracht. Wir setzen strenge Eigenkapital- und
Liquiditätsvorschriften für Banken durch. Wir haben die
nationale Bankenaufsicht reformiert und sie unabhängi-
ger von der Wirtschaft gemacht; in Zukunft wird es das
rot-grüne Modell, nach dem die Beaufsichtigten selbst
als Mitglieder in den Gremien der Bankenaufsicht sit-
zen, nicht mehr geben. Wir haben für Unabhängigkeit
von der Wirtschaft gesorgt. Wir haben in Deutschland
ein Restrukturierungsregime aufgebaut, einen Banken-
restrukturierungsfonds geschaffen und eine Banken-
abgabe durchgesetzt. Wir haben uns dafür starkgemacht,
dass wir auch auf europäischer Ebene eine schlagkräf-
tige Bankenaufsicht bekommen. Das alles ist christlich-





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


liberale Politik zur Stabilisierung der Finanzmärkte,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Sie, Herr Steinbrück, haben hier gesagt, wir bräuchten
einen europäischen Bankenrestrukturierungsfonds.


(Peer Steinbrück [SPD]: Richtig!)


Dann haben Sie der Öffentlichkeit erklärt, er sei notwen-
dig, um den deutschen Steuerzahler vor Risiken zu
schützen. Ich sage Ihnen: Wir müssen einen europäi-
schen Restrukturierungsfonds verhindern, um den deut-
schen Steuerzahler und die deutsche Steuerzahlerin zu
schützen. Das Gegenteil von dem, was Sie vorschlagen,
ist richtig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: So ein Blödsinn!)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie vergessen etwas
– Herr Schäuble hat es Ihnen eben schon gesagt –:


(Peer Steinbrück [SPD]: Nein, hat er nicht! – Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Erklären Sie uns das doch mal!)


Sie vergessen, dazuzusagen, woher das Geld für die
Bankenrekapitalisierung aus einem europäischen Fonds
am Ende kommen soll.


(Peer Steinbrück [SPD]: Das kann ich Ihnen sagen!)


Wir sagen: Wir wollen die Stabilisierung des Finanz-
sektors in Europa, die in unserem nationalen Interesse
ist, unterstützen, aber nur dann, wenn auch ein Auf-
lagenprogramm durchgesetzt wird, damit die Wett-
bewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften, die heute nicht
wettbewerbsfähig sind, gestärkt wird. Das muss man
allerdings über den ESM machen, und das darf man auf
keinen Fall über einen europäischen Restrukturierungs-
fonds machen. In diesem Rahmen kann man nämlich
keine Auflagen durchsetzen, sondern muss am Ende in
Notaktionen bedingungslos helfen und Risiken für den
deutschen Steuerzahler übernehmen, die man überhaupt
nicht kontrollieren kann.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Ach was! Das sollen doch die Banken bezahlen!)


Sie wollen die Kasse öffnen. Das wollen wir verhindern.
Wir setzen uns für Stabilität in der Euro-Zone ein. Sie
hingegen suchen – auch in den Papieren, die Sie vorle-
gen – immer wieder nach Auswegen, um letzten Endes
die Notenpresse anwerfen zu können.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ein Quatsch! Sie wollen doch nur, dass wieder die Steuerzahler bluten müssen!)


Genau das unterscheidet Sie von dieser christlich-libera-
len Regierung.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das, was Herr Steinbrück in seinen Papieren sonst so
vorschlägt, sind entweder Dinge, die längst umgesetzt
sind oder auf europäischer Ebene auf dem Weg sind,


(Peer Steinbrück [SPD]: Nein!)


oder es sind Nebelkerzen.


(Peer Steinbrück [SPD]: Auch nicht!)


Das beste Beispiel für eine Ihrer Nebelkerzen, Herr
Steinbrück, ist diese Braunschweiger Erklärung, in der
Sie vorgeschlagen haben, das Kreditwesengesetz so zu
ändern, dass Banken die Lizenz entzogen werden kann,
wenn sie fortgesetzt Beihilfe zum Steuerbetrug leisten.
Herr Steinbrück, ich weiß nicht, ob Sie das nicht wissen
oder ob Sie die Öffentlichkeit bewusst täuschen; aber
das, was Sie herbeiführen wollen, ist in Deutschland be-
reits geltendes Recht: Nach dem Kreditwesengesetz
kann die Bankenaufsicht bei fortgesetztem Verstoß ge-
gen deutsches Recht schon heute Managern die Zulas-
sung und Banken die Lizenz entziehen. Wir brauchen
dazu keine SPD und keinen Peer Steinbrück und keine
Braunschweiger Erklärung. Die Neue Zürcher Zeitung
hat Ihnen bescheinigt, dass es offenbar selbst Ihrer eige-
nen Partei peinlich ist, dass Sie Dinge vorschlagen, die
längst geltendes Recht in Deutschland sind.

Das, was Sie in der Vergangenheit beigetragen haben,
war kein sinnvoller Beitrag zur Stabilisierung des Fi-
nanzsektors, und was Sie heute vorschlagen, sind Nebel-
kerzen. Ich sage Ihnen: Sie liegen in allen Punkten
falsch. Sie sind in diesem Sektor nicht Vorreiter, sondern
hinken hinterher.

Vorreiter in Europa ist die christlich-liberale Koali-
tion, die zur Stärkung des Wettbewerbs die Finanz-
märkte reguliert –


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721705300

Herr Wissing.


Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1721705400

– ich komme zum Ende, Frau Präsidentin – und mit

strengen Auflagen dafür sorgt, dass die Wettbewerbsfä-
higkeit zu- und nicht abnimmt. Wir sind stolz auf diese
Regierung und haben da, wo Sie die Dinge haben schlei-
fen lassen, vieles erreicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721705500

Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort für

Bündnis 90/Die Grünen.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her-
ren Kollegen! Es gibt auch in der Frage der Finanz-
marktregulierung verschiedene Punkte, bei denen man
unterschiedlicher Auffassung sein kann. Das hört aller-
dings da auf, wo die Fakten, die Sie schildern, Herr Bun-
desfinanzminister, genau das Gegenteil sind von dem,
was in der Wirklichkeit stattfindet.





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


So war es gerade beim Thema Inflation. Natürlich gibt
es Blasen an den Finanzmärkten, die uns Sorgen bereiten
müssen. Aber es gibt zurzeit nur zwei Berufsgruppen,
die mit der Angst der Menschen vor Inflation unverant-
wortlich spielen: Das sind windige Anlageberater und
das sind Politiker der Koalition wie der Wirtschafts-
minister heute morgen und Sie, Herr Bundesfinanz-
minister. Das ist unverantwortlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Lesen Sie, was die Europäische Zentralbank zu diesem
Thema schreibt: Es gibt im Moment keine konkrete In-
flationsgefahr in dieser Form. – Das ist genau die Stel-
lungnahme.

Natürlich müssen wir aufpassen, dass nicht die Euro-
päische Zentralbank die entscheidenden Aufgaben über-
nimmt. Aber da war das, was Sie erzählt haben, Herr
Schäuble, faktisch falsch: Nicht die Vorschläge, die wir
machen, führen dazu, dass die Europäische Zentralbank
die Märkte mit Geld flutet. Wenn die Europäische Zen-
tralbank in den letzten Monaten mit Billionen auf den
Märkten interveniert hat, dann deswegen, weil die Bun-
desregierung die entscheidenden Reformen in Europa
blockiert. Sagen Sie den Menschen die Wahrheit, sagen
Sie ihnen, wie die Zusammenhänge sind, und machen
Sie ihnen nicht etwas vor!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Das Ziel unseres Antrages ist klar: Wir müssen den
Automatismus brechen, dass immer dann, wenn eine
Bank in Europa ein Problem hat, der Steuerzahler ein-
springen muss. – Man könnte meinen, das müsste eigent-
lich selbstverständlich sein.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Eigentlich ja!)


2008, als die Banken mit Milliarden gerettet wurden, ga-
ben alle politischen Akteure das Versprechen, dass so et-
was nie wieder passieren soll. Dieses Versprechen wurde
gebrochen. Die Logik einer Bankenrettung durch den
Steuerzahler geht unvermindert weiter, nicht nur über
die Bilanz der Europäischen Zentralbank. Was passiert
denn in Zypern? Der Steuerzahler muss einspringen, um
Banken zu retten. Was passiert denn in Spanien? Der
spanische Steuerzahler muss sich mit Milliarden beteili-
gen, um die Banken zu retten. Was passierte denn im
September 2012 – das ist gar nicht so lange her – in un-
serem Nachbarland Frankreich? Wieder musste eine
Bank, Crédit Immobilier de France, vom Steuerzahler
gerettet werden. Das sind doch alles keine Petitessen.
Hier werden in den verschiedenen europäischen Staaten
Milliarden aufgewendet. Muss das so sein? Nein, das
muss nicht so sein;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


denn wir wissen aus den USA, dass es anders geht.

Das sind ja keine Riesenbanken, die man nicht retten
könnte, sondern das sind Banken – nehmen wir als Bei-
spiele die Crédit Immobilier de France, eine Bank mit ei-
nem Kreditvolumen von 33 Milliarden Euro, die Alpha
Bank in Griechenland mit einem Kreditvolumen von
70 Milliarden Euro und die spanische Banco de Valencia
mit einem Kreditvolumen von 20 Milliarden Euro –, die
in den USA selbstverständlich abgewickelt werden wür-
den. Über 400 Banken sind in den USA seit Ausbruch
der Krise ohne Kosten für den Steuerzahler abgewickelt
worden. Wir wollen dasselbe endlich auch für Europa er-
reichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Warum gelingt das denn in den USA und bei uns
nicht? Es gibt zwei Vorgehensweisen, wenn eine Bank in
der Schieflage ist. Die eine ist, dass Aktionäre, Gläubi-
ger und Investoren daran beteiligt werden, die Kosten zu
tragen, der andere Weg ist, dass dies die Steuerzahler
tun.

Die Kanzlerin hat im November 2010 beim G-20-
Gipfel gesagt, die privaten Gläubiger sollen das tun. Ich
zitiere: Die Lasten der Krisenbewältigung dürfen nicht
einfach wieder dem Steuerzahler aufgebürdet werden. –
Auch dieses Versprechen wurde gebrochen; denn genau
das passiert doch.

In Irland hat man den Staat daran gehindert, die In-
vestoren zu beteiligen. Wenn Sie die Leute in Irland fra-
gen, wer sie denn daran gehindert hat, dann sagen sie:
the Germans. Die Tatsache, dass die europäischen Staa-
ten Irland daran gehindert haben, die Investoren zu be-
teiligen, sollten wir ernst nehmen. In Spanien gelingt die
Beteiligung der Investoren auch nicht.

Insgesamt können wir sagen, dass sich die Investoren
bei der gesamten Bankenrettung in Europa nirgends mit
mehr als 10 Prozent beteiligt haben. Das Gros hat der
Steuerzahler getragen. Das ist falsch; das müssen wir än-
dern;


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


denn es geht um eine massive Umverteilung weg von
den Steuerzahlern hin zu den Menschen, die in Banken
investiert und diese finanziert haben.

Man muss jetzt einmal die Frage stellen, warum das
in Europa nicht gelungen ist. Liegt das daran, dass wir
das in einer Finanzkrise nicht tun können? Es wird uns ja
immer weisgemacht, die Finanzmärkte würden dann er-
schüttert. Warum sollte das aber in Europa nicht gehen,
wenn das doch in den USA geht? Es ist doch ein Am-
menmärchen, dass das nicht gehen könnte – oder sagen
wir vielleicht eher: Es ist ein Merkel-Märchen.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: MM!)


Die Vorschläge lagen auf dem Tisch: schon im Okto-
ber 2009 von der Europäischen Kommission und im Juli
2010 vom Europäischen Parlament. Der Vorschlag des





Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


grünen Berichterstatters Sven Giegold, einen europäi-
schen Abwicklungsfonds für Banken einzurichten, der
von den Banken finanziert wird, wurde vom Europäi-
schen Parlament aufgenommen.

Wer hat das verhindert? Der Rat der Europäischen
Union. Wer ist die führende Kraft im Rat der Europäi-
schen Union? Das ist diese Bundesregierung. Aufgrund
ihrer Blockade eines Bankenabwicklungsfonds, mit der
sie den Weg der Abwicklung und der Investorenbeteili-
gung versperrt hat, trägt die Bundesregierung die direkte
Verantwortung für die Bankenrettungen der letzten zwei
Jahre in Europa, für die Milliarden Steuergelder gezahlt
wurden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Hier passiert jetzt etwas sehr Krasses. Unter Mitwir-
kung der Bundesregierung arbeiten Sie schon konkret
daran, dass der Steuerzahler über den Europäischen Sta-
bilitätsmechanismus, ESM, einspringt, der die Banken
direkt kapitalisieren soll. Den anderen, besseren Weg,
dass nämlich die Investoren beteiligt werden, wenn eine
Bank in Schieflage gerät, bringen Sie aber nicht voran,
sondern den blockieren Sie. Das ist doch genau falsch
herum. Genau das ist das gebrochene Versprechen der
Bundeskanzlerin Merkel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Jens Ackermann [FDP]: Sie haben dem ESM doch zugestimmt!)


Manche Krokodilsträne, die Sie gerade vergießen,
muss man hier schon noch einmal erwähnen. Herr
Schäuble, Sie haben gesagt, es sei schwierig, dass jetzt
dieselben Personen über die Geldpolitik und über die
Bankenrettung entscheiden sollen. Es ist doch der per-
sönliche Vorschlag von Angela Merkel gewesen, das auf
Art. 127 (6) des EU-Vertrages zu stützen. Daraus folgt
das doch. Übernehmen Sie die Verantwortung für das,
was Sie in Europa tun.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Glauben Sie denn, wir würden nicht über die Telefonap-
parate mit Brüssel verbunden sein und nicht mitbekom-
men, was Sie in Europa tun? Ich glaube, man muss
ernsthaft darangehen.

Sie haben jetzt schnell und in aller Kürze selber noch
einen Antrag zur Finanzmarktregulierung vorgelegt.
Hier wird ein zentraler Unterschied zwischen der Regie-
rung und der Opposition deutlich:


(Björn Sänger [FDP]: Wir handeln, Sie reden!)


Für Sie ist diese Finanzkrise ein Betriebsunfall, nach
dem man ein paar Schrauben anziehen muss,


(Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Da haben Sie nicht zugehört!)


für uns ist diese Finanzkrise die Folge einer systemati-
schen Fehlentwicklung, die wir korrigieren müssen. Da
reichen ein paar Schrauben nicht aus; denn der Finanz-

sektor ist insgesamt zum Kostgänger der Realwirtschaft
geworden. Er kostet uns mehr, als er bringt. Das sehen
wir in den Bilanzen. Deswegen müssen wir wesentlich
fundamentaler herangehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir haben Sie getrieben. Wir haben Sie in den letzten
Jahren getrieben und werden das weiter tun. Sie wollten
die Finanztransaktionsteuer nie. Wir haben sie in die
Verhandlungen eingebracht. Sie wollten nie über das
Trennbankensystem nachdenken. Sie haben den Antrag
der Grünen noch vor Jahresfrist abgelehnt. Plötzlich
heißt es, man sei offen für die Gedanken. Ja, warum? –
Weil wir das als SPD und Grüne hier zum Thema ma-
chen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Im Herbst wollten Sie noch einmal die Versicherungs-
gesellschaften retten – Sie haben das jetzt noch auf dem
Tisch liegen – zulasten von vielen Kundinnen und Kun-
den. Wir haben es geschafft, Sie daran zu hindern, und
werden jetzt schauen, dass wir endlich einmal eine rich-
tige Versicherungsregulierung hinkriegen; denn die Ver-
sicherungen dürfen bei der Finanzmarktregulierung
nicht ausgespart werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn man sich Ihren Antrag einmal genau anschaut,
dann stellt man ein Muster fest, und wenn man sich an-
schaut, was in den letzten Jahren gelaufen ist, dann stellt
man ein schönes Muster fest: Sie regulieren – darum
geht es in dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben –
den Hochfrequenzhandel.


(Zuruf des Abg. Volker Kauder [CDU/CSU])


– Ja, ja. Da soll ein bisschen reguliert werden, aber das
Zentrale fehlt: ein Tempolimit, mit dem endlich diese
Wahnsinnsgeschwindigkeit am Finanzmarkt beendet
wird. Das ist notwendig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Sie reden davon, dass die Beratung am Bankschalter
besser werden muss. Das ist ja richtig. Aber an den
Kern, an die provisionsorientierte Fehlberatung, wollen
Sie nicht herangehen. Deswegen bleibt das Grundpro-
blem. Sie machen wieder den Fehler, nicht an die Ursa-
chen heranzugehen.

Genauso ist es beim Trennbankensystem. Sie sagen
jetzt, wir wollen ein wenig prüfen, aber gleichzeitig si-
gnalisieren Sie, es soll sich am Universalbankenmodell
nichts ändern, und für die Deutsche Bank soll alles blei-
ben, wie es ist. Ja, wenn alles bleibt, wie es ist, dann
wird sich an den Märkten auch nichts ändern, und dann
wird die nächste Finanzkrise kommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Zuruf des Abg. Dr. Volker Wissing [FDP])






Dr. Gerhard Schick


(A) (C)



(D)(B)


In Deutschland und in Europa muss eine sehr wich-
tige Sache geändert werden; wir haben dazu unseren ge-
meinsamen Antrag vorgelegt. Das Thema Finanzmarkt-
regulierung muss endlich bei Ihnen einmal aus der
Abteilung Marketing in die Abteilung Produktion wan-
dern, und wir werden Sie darauf festlegen.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Regierung in die Produktion!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721705600

Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Klaus-Peter

Flosbach das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1721705700

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir haben hier in den letzten drei Jahren über 50-mal
über die Finanzmarktregulierung gesprochen. Ich bin
froh, dass Herrn Steinbrück hier heute auch einmal dabei
ist.


(Heiterkeit des Abg. Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU])


Nach dieser Rede, in der er sich einen schlanken Fuß
mit Blick auf die Vergangenheit gemacht hat, möchte ich
doch auf Folgendes hinweisen: Ich empfehle jedem Bür-
ger, jedem SPD-Anhänger, sich einmal den WDR-Film
von Klaus Balzer im Internet anzusehen, der die Ge-
schichte der Westdeutschen Landesbank und die Verqui-
ckung mit der SPD darstellt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Peer Steinbrück [SPD]: Ich bin seit 2002 raus aus den Gremien!)


Da geht es nämlich unter dem Titel „Größenwahn und
Selbstbedienung“ um die Entwicklung von einer Pro-
vinzbank zu einer Zockerbude. Vor allen Dingen wer-
den, Herr Steinbrück, einmal die Jahre dargestellt, in de-
nen Sie Finanzminister und Ministerpräsident waren.


(Peer Steinbrück [SPD]: Lächerlich!)


Denn in dieser Zeit ist der gesamte Schrott von der West-
deutschen Landesbank gekauft worden, für den wir
heute bürgen müssen, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Volker Wissing [FDP]: Alles unter Steinbrück! – Peer Steinbrück [SPD]: Das ist unter Rüttgers passiert!)


Sie haben hier gesagt, die ganze Krise habe mit der
Staatsschuldenkrise nichts zu tun. Dazu sage ich Ihnen:
Hypo Real Estate war bisher unser größter Fall. Sie hatte
80 Prozent ihrer gesamten Darlehen kurzfristig finan-
ziert. Deswegen musste sie damals durch unsere Bürg-
schaften aufgefangen werden. Aber der größte konkrete
Schaden, der entstanden ist, ist durch die Abschreibung
der Griechenland-Anleihen erfolgt. Dass Griechenland

in der Euro-Zone ist, fällt in Ihre Verantwortung, in die
von Rot-Grün.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Manfred Zöllmer [SPD]: Das ist doch wohl nicht wahr!)


– Reden Sie nicht daran vorbei.

Ich komme jetzt zu dem Bankenthema. Das größte
Problem, das wir heute in Europa haben, ist, dass Sie
von Rot-Grün den Stabilitätspakt gebrochen haben. So
entstanden die Probleme in der Euro-Zone, auf die wir
heute hinweisen müssen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Sie haben einen Antrag zur Bankenunion gestellt. Es
geht darin um neue Wege. Es ist für die Antragsteller
von SPD und Grünen die schlimmste Strafe in den letz-
ten Tagen gewesen, dass bis auf zwei Zeitungen im
Grunde genommen niemand über diesen Antrag berich-
tet hat.

Warum hat niemand über diesen Antrag berichtet?
Erstens geht es darin entweder um Dinge, die wir längst
umgesetzt haben oder die sich im Umsetzungsprozess
befinden. Zweitens sind in diesem Antrag keine neuen
Ideen enthalten, die uns auf den Gedanken bringen
könnten, etwas besser zu machen. Drittens ist in dem
Antrag von einem Abwicklungsfonds und einem Alt-
schuldentilgungsfonds die Rede, über die wir schon
längst diskutiert haben. Der Bundesfinanzminister hat
genau auf den entscheidenden Punkt hingewiesen: Sie
haben in keiner Weise gesagt, was das für die Haftung
der deutschen Steuerzahler bedeutet. Um die Antwort
auf diese Frage haben Sie sich geschickt gedrückt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Es ist eben kein neuer Anlauf zur Bankenregulierung,
stattdessen laufen Sie der gesamten Entwicklung hinter-
her. Schon der G-20-Beschluss 2009 hat gezeigt, dass
die systemrelevanten Banken reguliert werden müssen.
Der Financial Stability Board, also der internationale
Finanzstabilitätsrat, hat Standards vorgegeben.

Unsere Koalition war in der Tat die Erste, die das
Restrukturierungsgesetz umgesetzt hat. Wir waren schon
zum 1. Januar 2011, vor zwei Jahren, so weit, Banken zu
sanieren oder auch abzuwickeln. Wir können nach den
Regeln dieses Gesetzes ein pleitegegangenes Unterneh-
men abwickeln. Wir haben ein Abwicklungsregime ge-
schaffen, was sonst noch keiner in Europa gemacht hat.
Hier sind wir Vorreiter. Wir haben die Blaupause für die
anderen Länder in Europa geliefert. Das ist der Erfolg
dieser Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir waren natürlich, Herr Steinbrück, auch bei dem
Verbot der ungedeckten Leerverkäufe die Ersten. Wir
haben diesen Beschluss damals in der Großen Koalition
gemeinsam gefasst. Aber auch in dieser Frage waren wir
in Europa diejenigen, die die anderen gezwungen haben,
diesen Weg mitzugehen, damit gewisse Spekulations-
geschäfte mit Aktien, mit Kreditversicherungen oder





Klaus-Peter Flosbach


(A) (C)



(D)(B)


Staatsanleihen aufhören. Das war unser Erfolg. Wir
waren hier wieder die Ersten in Europa.

Hier wurde eben der Hochfrequenzhandel angespro-
chen und uns vorgeworfen, wir würden ihn nicht richtig
regulieren. Natürlich sind wir auch hier wieder die Ers-
ten, die das machen, die Ersten, die einen unregulierten
Markt regulieren. Sie aber werfen uns vor, wir würden
nicht richtig regulieren. Wir haben als Erste diese Rege-
lungen eingeführt. Das gibt Stabilität in diesem Lande.
Das gibt Stabilität für unsere Bürger. Dafür steht unsere
Koalition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir stehen für eine Bankenunion. Wir unterstützen
unseren Finanzminister bei der Errichtung einer Banken-
union darin, ein neues Aufsichtsregime zu schaffen. Wir
wollen Qualität vor Schnelligkeit. Wir wollen auch eine
klare Trennung von Geldpolitik und Aufsicht. Es geht
uns vor allen Dingen darum, dass die großen system-
relevanten Banken richtig kontrolliert werden. Darum
geht es uns. Es geht uns nicht um die kleinen Volks-
banken, die Sparkassen oder die kleinen Privatbanken.

Aber in allen Bereichen spielt immer ein Begriff eine
zentrale Rolle: Wo ist die Haftung, die Verantwortung?
Auch bei der Bankenunion können wir die anderen Län-
der nicht aus der Verantwortung lassen. Wenn Sie einen
europäischen Abwicklungsfonds mit 200 Milliarden
Euro gründen wollen, dann müssen Sie nicht nur so
nebenbei sagen: Das kann man doch einmal finanzie-
ren. – Wir haben einen Abwicklungsfonds in Deutsch-
land eingerichtet. Wir wollen aber in Europa die anderen
Länder nicht aus der Verantwortung lassen. Wir wollen
unsere Einlagensicherung nicht einfach auf Europa über-
tragen. Wir wollen nicht den Bürger für alles haften las-
sen. Das ist die Linie dieser Bundesregierung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Kollege Wissing hat eine Liste vorgelegt, was in
den letzten Jahren alles umgesetzt worden ist. Das sind
15 große Maßnahmen gewesen. Die Finanzmarkt-
regulierung, Herr Steinbrück, war das zentrale Thema in
allen Debatten hier im Deutschen Bundestag. Sie haben
daran nicht teilgenommen.


(Petra Merkel [Berlin] [SPD]: Ist das billig!)


Sie sind heute zu uns Finanzpolitikern gekommen, um
mit uns gemeinsam zu diskutieren. Ich halte das für
wichtig. Aber hier erfahren Sie auch, was in den letzten
Jahren alles geschehen ist.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das ist ganz dünn!)


Diese Regierung mit Angela Merkel an der Spitze
und mit unserem Finanzminister Wolfgang Schäuble hat
mit Abstand das Beste für Europa getan, indem wir
wieder gemeinsame Regeln einhalten, indem wir auch
die deutschen Interessen vertreten. Wir wissen alle ganz
genau: Nur wenn alle die Regeln einhalten, haben wir
wieder ein stabiles Europa.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721705800

Herr Kollege.


Klaus-Peter Flosbach (CDU):
Rede ID: ID1721705900

Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Gestern hat die

Weltbank die Wachstumsprognose für dieses Jahr abge-
geben und deutlich gemacht: Die Europäische Zentral-
bank und die europäischen Regierungen sind auf dem
richtigen Weg dahin, dass von Europa am ehesten keine
Finanzmarktkrise mehr ausgeht, weil wir am stärksten
reguliert haben. Das ist der Erfolg.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721706000

Jetzt hat Manfred Zöllmer das Wort für die SPD-Frak-

tion.


Manfred Zöllmer (SPD):
Rede ID: ID1721706100

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Lieber Herr Wissing, lieber Herr Flosbach, wenn es eine
Technische Anleitung „Heiße Luft“ gäbe, dann müssten
Sie beide schon längst stillgelegt sein.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Ha, ha, ha!)


Herr Flosbach, ich bin es wirklich leid, von Ihnen im-
mer wieder diese Griechenland-Lüge zu hören. Es ist
eine Lüge. Lesen Sie einmal nach, wie es damals war
und wer Griechenland aufgenommen hat! Im Mai 1998
hat der Europäische Rat die Aufnahme von Griechen-
land beschlossen – der Europäische Rat, Bundeskanzler
Helmut Kohl und Finanzminister Waigel. Nehmen Sie
das bitte zur Kenntnis. Erster Punkt.


(Beifall bei der SPD – Volker Kauder [CDU/ CSU]: Aber nicht in den Euro-Raum! – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Euro! Den Euro gab es 1998 noch gar nicht!)


– Beschäftigen Sie sich einfach einmal mit den Fakten!
Ich kann Ihnen die Materialien zur Verfügung stellen.
Das wäre hilfreich.

Nächster Punkt: Sie haben völlig vergessen, die Sach-
sen LB mit aufzuzählen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: In NRW müssen Sie die WestLB ansprechen!)


Was ist mit Bayern und dem Desaster der Bayerischen
Landesbank? Das haben Sie leider auch vergessen.

Noch etwas zu Nordrhein-Westfalen. Die Verbrie-
fungen und Probleme, die in die Bilanzen aufgenommen
worden sind, sind unter Herr Rüttgers aufgenommen
worden.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: 2005 folgende!)


Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. So viel zu
den „Wahrheiten“, die Sie hier verkünden.


(Beifall bei der SPD)






Manfred Zöllmer


(A) (C)



(D)(B)


Wer verspricht, die Verursacher der Finanzkrise an
den Kosten der Krise zu beteiligen, wie Sie und Frau
Merkel es gemacht haben, dies dann aber nicht einlöst,
dessen Regulierungspolitik ist gescheitert. Sie können
auf noch so viele Gesetzentwürfe verweisen: Sie haben
das zentrale Versprechen von Frau Merkel nicht ein-
gelöst. Diese Koalition ist bei der Regulierung schwach
gestartet und hat dann ganz stark nachgelassen.


(Beifall bei der SPD)


Ein Blick in Ihren Antrag zeigt sehr deutlich, wie sehr
Sie die Vorschläge von Peer Steinbrück und die Vor-
schläge unseres rot-grünen Antrages getroffen haben.
Sie haben bisher immer behauptet, alles sei von Ihnen
bestens geregelt und unsere Vorschläge zur Bankentren-
nung seien schädlich. Jetzt wollen Sie diese Vorschläge
prüfen. Man sollte natürlich niemandem vorwerfen, klü-
ger werden zu wollen.

Das Handelsblatt hat geschrieben:

Schäuble freundet sich mit Trennbanken-Idee an.
Union und FDP wollen so Steinbrücks Wahlerfolg
verhindern.

Eines ist immerhin klar: Die Aussage der Regierungs-
fraktionen, man habe bereits alle richtigen Lehren aus
der Krise gezogen, wird nun von Ihnen selbst widerlegt.

Schauen wir uns doch einmal die wichtigen Punkte
an. Der ganz zentrale Punkt ist die Beteiligung an den
Kosten der Krise bzw. die Frage, wie in Zukunft zu ver-
hindern ist, dass die Steuerzahler daran beteiligt werden.
Das ist Ihnen nicht gelungen. Sie verlagern die Risiken
auf den ESM. In Zukunft wird die Bankenrekapitalisie-
rung durch den ESM erfolgen. Das heißt, letztendlich
haftet der Steuerzahler wieder.

Frau Merkel hat die üblichen Nebelkerzen geworfen.
Erst hieß es: „Mit uns überhaupt nicht! Nein, das
machen wir nicht.“ Dann hat sie der Bankenunion zu-
gestimmt und damit auch explizit der Situation, dass der
ESM zukünftig Banken retten wird. Das heißt, die
Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sind wieder in der
Verantwortung. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.

Ich empfehle Ihnen: Lesen Sie unseren Antrag gründ-
lich durch. Darin stehen viele Vorschläge, wie das zu
verhindern ist.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721706200

Für die FDP hat jetzt Björn Sänger das Wort.


(Beifall bei der FDP)



Björn Sänger (FDP):
Rede ID: ID1721706300

Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und

Herren! Das Gute an der Debatte ist vor allen Dingen,
dass sie zu einer Tageszeit stattfindet, zu der diesem
wichtigen Thema noch ein gewisser Grad an Aufmerk-
samkeit gewidmet wird. Das war nicht bei allen der zahl-
reichen Debatten zur Finanzmarktpolitik der Fall. Inso-
fern begrüße ich das außerordentlich; denn es wird auch
dem Thema gerecht.

Die Finanzmarktregulierung in Deutschland ist eine
Erfolgsgeschichte; das kann man festhalten. Der ent-
scheidende Punkt bei der Bewältigung der Finanzkrise
ist, dass im Zuge der Finanzkrise 2007/2008 ein erhebli-
cher Vertrauensverlust in der Finanzindustrie stattge-
funden hat und dass insbesondere das Vertrauen, dass
kein einzelnes Institut das gesamte System destabilisie-
ren kann, wiederhergestellt worden ist. Dazu brauchte es
einen Ordnungsrahmen. Ihn zu schaffen, das ist – das
kann man hier feststellen – dieser Regierungskoalition
gelungen.

Ein zentraler Baustein für die Herstellung dieses
Vertrauens ist das Bankenrestrukturierungsgesetz, das in
einem feinstufigen Prozess die Rettung von Banken bis
hin zur Abwicklung vorsieht. Die Finanzierung, die
dafür notwendig ist, wird durch einen Fonds sicherge-
stellt. Das heißt, wir schirmen den Steuerzahler vor den
Risiken ab und bringen die Haftung wieder dahin, wo sie
hingehört, nämlich zum Eigentümer. Handlung und
Haftung werden wieder zusammengeführt – ein zentra-
les Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, das wir in der
Finanzindustrie neu zur Geltung gebracht haben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Gleichzeitig haben wir Anreize, die zu Fehlverhalten
führen, verringert. Wir haben die Vergütungsregeln neu
gestaltet. Wir haben dafür gesorgt, dass Boni zurück-
gefordert werden können, wenn Banken in Schieflage
kommen. Die Vergütungs- und Boniregeln müssen nach-
haltig ausgestaltet sein. Wir haben die Kreditverbrie-
fungen – sie waren das Epizentrum der Krise – geregelt,
indem wir einen Selbstbehalt eingeführt haben. Das
Ganze ist ein bisschen wie bei der Kfz-Versicherung:
Man schaut genau hin, was in die Bücher aufgenommen
wird. Wir haben ungedeckte Leerverkäufe verboten. Das
Gleiche gilt im Übrigen für den Verkauf ungedeckter
Kreditausfallversicherungen. Wir haben auch in diesem
Bereich für Transparenz gesorgt. Wir haben die Rating-
agenturen, die während der Krise eine ungute Rolle ge-
spielt haben, einer Regulierung zugeführt. Sie stehen
jetzt unter Aufsicht. Sie müssen sich registrieren lassen.
Auch hier haben wir für Transparenz gesorgt. Trans-
parenz ist übrigens ein Leitgedanke in dieser gesamten
Regulierung; denn nur wenn man weiß, wer was wann
macht und wie hält, kann der Markt darauf entsprechend
reagieren und werden die Selbstregulierungskräfte ent-
sprechend geweckt.

Wir haben den Derivatemarkt reguliert. Indem wir
zentrale Gegenparteien eingeführt haben, haben wir
auch dort für neues Vertrauen gesorgt. Denn auch da
weiß man, wer welches Derivat wie lange hält. Auch das
fördert die Transparenz. Wir haben eine Eigenkapitalun-
terlegung eingeführt. Wir haben die Finanzaufsicht neu
geordnet, indem wir dafür gesorgt haben, dass die
Akteure besser miteinander kommunizieren und die
Aufsicht unabhängiger von der Wirtschaft wird. Damit
ist insgesamt eine effizientere Aufsicht aufgebaut
worden.

Wir haben noch weitere Maßnahmen in der Pipeline;
wir diskutieren bereits darüber. Ich denke an die Regu-





Björn Sänger


(A) (C)



(D)(B)


lierung alternativer Investmentfonds, also an Hedge-
fonds, und insbesondere an deren Manager. Den
Hochfrequenzhandel – dazu hatten wir erst gestern eine
interessante Anhörung – werden wir als erste Nation
überhaupt regulieren. Wir haben die nationale Umset-
zung von Basel III, also der notwendigen Kapital- und
Liquiditätsvorschriften für Banken, vor uns. Der Versi-
cherungsbereich wird mit Solvency II reguliert werden.

Viele Maßnahmen wurden auf EU-Ebene angestoßen,
unter anderem durch deutsche Initiativen. Beispiels-
weise kamen Initiativen zu Regulierungen wie das
Bankenrestrukturierungsgesetz oder auch das Verbot von
Leerverkäufen aus Deutschland. Die deutschen Interes-
sen sind hierbei auf EU-Ebene sehr wirkungsvoll vertre-
ten worden. In diesem Zusammenhang möchte ich
einmal der Bundesregierung dafür Dank sagen, dass dies
so geschehen ist. Ich sage das auch vor dem Hinter-
grund, dass wir einen Finanzmarkt haben, der sich in der
Krise als stabiler als andere Finanzmärkte gezeigt hat
und deswegen einer etwas anderen Regulierung bedarf.

Wir unterstützen die Bundesregierung auch bei den
Maßnahmen hinsichtlich der Bankenunion, wenn sie
sagt: Für uns geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit, wir
wollen die unabhängige Geldpolitik der EZB bewahren,
und wir wollen, dass Verwaltungsakte demokratisch
kontrolliert werden und insbesondere subsidiär erfolgen.
Insofern hat die schwarz-gelbe Regierungskoalition im-
mer auch die Wettbewerbssituation im Finanzmarkt vor
Augen. Sie denkt vom Ende her und fragt: Welche Aus-
wirkungen hat eine Regulierungsmaßnahme? Es nutzt
nämlich nichts, wenn Geschäfte außerhalb Deutschlands
stattfinden, die Risiken aber in Deutschland verbleiben,
weil die deutschen Akteure natürlich weiterhin solche
Geschäfte tätigen, diese nur eben im Ausland ausführen.

Insofern: Wir überlegen genau und handeln; wir reden
nicht nur und machen keinen Unfug.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721706400

Der Kollege Dr. Axel Troost hat jetzt das Wort für die

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Axel Troost (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721706500

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Ursachenanalyse der Euro-Krise im Antrag von SPD
und Grünen ist nur begrenzt richtig; denn sie lässt einen
wichtigen Teil außen vor. Natürlich hat die Finanz- und
Bankenkrise seit 2008 einen großen Anteil an der Krise
im Euro-Raum. Aber Sie blenden die mindestens ge-
nauso wichtige zweite Ursache aus, und das ist kein
Zufall. Die zweite Ursache – das sind die Konstruktions-
fehler der Währungsunion selbst. In einer Währungs-
union hätte man die Mitgliedsländer darauf verpflichten
müssen, sich in wichtigen Schlüsselbereichen ständig
abzustimmen, zum Beispiel in der Wirtschafts-, in der
Steuer-, in der Lohn-, in der Inflations- und in der Ar-
beitsmarktpolitik.


(Beifall bei der LINKEN)


Wenn in einer Währungsunion eine Zielinflationsrate
von 2 Prozent vereinbart ist, dann ist es nicht nur Auf-
gabe der Zentralbank, sich darum zu kümmern. Viel-
mehr hätte sich eine deutsche Bundesregierung selbst-
verständlich darum bemühen müssen, dass die Löhne
oder, genauer gesagt, die Lohnstückkosten, entsprechend
steigen.


(Beifall bei der LINKEN)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-
nen, Ihre letzte Bundesregierung von 2002 bis 2005 hat
das nicht nur ignoriert. Viel schlimmer: Sie hat in
Deutschland mit der Agenda 2010 ganz bewusst einen
Niedriglohnsektor, eine Prekarisierung von Arbeit, Er-
werbslosigkeit und Rente eingeführt und hat damit die
Reallöhne auf breiter Front gesenkt.


(Beifall bei der LINKEN)


Das – deswegen ist das hier Thema – war nicht nur Ver-
rat an den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-
nehmer, der Erwerbslosen sowie Rentnerinnen und
Rentner, sondern es war auch eine Sabotage an der Euro-
päischen Währungsunion; denn Sie haben die Lohnent-
wicklung in Deutschland zugunsten der deutschen Un-
ternehmer und Aktionäre auf Kosten von Rest-Europa
unter 2 Prozent gedrückt.


(Beifall bei der LINKEN)


Unter Rot-Grün wurde der Euro eingeführt, und ohne
die rot-grüne Agenda 2010 stünde die Euro-Zone heute
weit weniger nahe am Abgrund.


(Beifall bei der LINKEN)


Natürlich müssen die Griechinnen und Griechen ihre
hausgemachten Probleme anpacken, aber einen wichti-
gen Beitrag müssen auch wir in Deutschland leisten. Wir
müssen die ausschließliche Exportorientierung eindäm-
men, uns von der Agenda-Politik verabschieden und
endlich die Binnenwirtschaft stärken, das Lohnniveau in
Deutschland anheben und uns für einen leistungsfähigen
deutschen Sozialstaat einsetzen.


(Beifall bei der LINKEN)


Ohne diese Maßnahmen gibt es keine Chance, dass die
südeuropäischen Länder ihre Wirtschaft wieder auf Kurs
bringen und sich aus der Schuldenfalle befreien können.

Nun zum Hauptgegenstand Ihres Antrags, liebe Kol-
leginnen und Kollegen von Rot-Grün, zur Finanzregulie-
rung.

Viele Ihrer Einschätzungen und Forderungen können
wir unterstützen. Wir freuen uns auch, dass Sie Anteils-
eigner und Gläubiger in Zukunft stärker bei der Bekämp-
fung der Bankenkrise heranziehen wollen.

Wir wissen aber natürlich auch alle: Das gilt für die
Zukunft, also für die nächste Bankenkrise. Die Kosten
der heutigen Krise sind aber längst da. Peer Steinbrück
hat darauf hingewiesen, dass alleine in der Euro-Zone
insgesamt über 1,6 Billionen Euro für die Bankenrettung
aufgewendet worden sind. Man kann sagen – das ist zu-





Dr. Axel Troost


(A) (C)



(D)(B)


gegebenermaßen etwas einfach –: Die Reichen und Su-
perreichen sind trotz der Krise immer reicher geworden,
weil die Staaten großzügig für ihre Verluste aufgekom-
men sind.

Wir sehen daher die Zeit gekommen, durch eine ein-
malige Vermögensabgabe die Profiteure der Bankenret-
tung auch rückwirkend an den Krisenkosten zu beteili-
gen.


(Beifall bei der LINKEN)


Erfreulicherweise gibt es bei den Grünen in dieser
Richtung auch klare Beschlüsse. In der SPD sieht das
ganz anders aus. Insofern wird es in einer rot-grünen Re-
gierung unter Leitung von Peer Steinbrück dazu sicher-
lich nichts geben. Unter einer Regierung von Rot-Rot-
Grün, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,
hätten Sie bestimmt bessere Karten.


(Beifall bei der LINKEN)


Auch in Sachen Finanzmarktregulierung und Banken-
union bleibt die Liste Ihrer Forderungen hinter vielem
zurück, was nottut. Hier ist mehrfach gesagt worden: Die
SPD will ein Trennbankensystem. – In Ihrem Antrag
steht davon überhaupt nichts.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Das kommt noch!)


Wir wollen bekanntlich auch, dass das spekulative In-
vestmentbanking-Geschäft vom seriösen Bankenge-
schäft getrennt wird.


(Beifall des Abg. Ralph Lenkert [DIE LINKE])


Aber wir wollen auch, dass, wenn es dann einen Banken-
teil und einen Spielbankenteil gibt, der Spielbankenteil
restlos geschlossen wird und nicht weiterarbeiten kann.


(Beifall bei der LINKEN – Joachim Poß [SPD]: Schicken Sie mal Ihre Fraktion in die Spielbank!)


Aus unserer Sicht braucht die Welt keine hochkom-
plexen, gefährlichen Finanzprodukte, die selbst Banken-
vorstände nicht mehr verstehen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Aus unserer Sicht muss der ganze Finanzsektor so
grundlegend entrümpelt und zurechtgestutzt werden,
dass am Ende keine Großbank mehr übrig bleibt, die ein
Risiko für die Gemeinwirtschaft darstellt.


(Beifall bei der LINKEN)


Aus unserer Sicht muss die Gesellschaft viel stärker in
die Banken hineinwirken. Banken gehören unter gesell-
schaftliche Kontrolle


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


durch demokratisch legitimierte Verwaltungs- und Auf-
sichtsräte, wie es heute am besten noch im Bereich der
Sparkassen und Volksbanken der Fall ist.


(Beifall bei der LINKEN)


Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD
und Grünen, glauben wir, dass Ihr gemeinsamer Forde-

rungskatalog sich eher liest wie eine mäßig aufgepeppte
Presseerklärung der EU-Kommission. Wir brauchen
mehr und stärkere Regulierung, andere Einflussnahmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie im Herbst
nicht nur die Regierung übernehmen, sondern wirklich
einen neuen Kurs einschlagen wollen, dann ist wesent-
lich mehr Mut bei den Alternativen erforderlich.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN – Dr. Frank Steffel [CDU/CSU]: Da hat er recht!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721706600

Der Kollege Peter Aumer hat jetzt das Wort für die

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Peter Aumer (CSU):
Rede ID: ID1721706700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Lieber Axel Troost, ich gebe dir vollkommen
recht: Mehr Mut wäre bei diesen Themen angesagt.


(Joachim Poß [SPD]: Eine neue Koalition: CSU und Linkspartei! Das ist ja hochinteressant!)


„Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte“ ist
ein gemeinsames rot-grünes Projekt, das Sie uns vorge-
legt haben, meine sehr geehrten Damen und Herren der
SPD und der Grünen. Ein neuer Anlauf für was? Seit ich
im Deutschen Bundestag sein darf, habe ich Ihre An-
läufe in diesem Bereich vermisst.

Herr Steinbrück wollte uns vorhin klarmachen, dass
er der Verantwortliche für all die Finanzmarktregulie-
rungsmaßnahmen ist, die wir in der christlich-liberalen
Koalition auf den Weg gebracht haben. Aus meiner Sicht
und auch im Kontext der europäischen Entscheidungen
sind es sehr wohl gelungene Finanzmarktregulierungs-
maßnahmen, die unser Bundesfinanzminister Wolfgang
Schäuble, getragen von der christlich-liberalen Koali-
tion, in Deutschland auf den Weg gebracht hat; zudem
hat er gemeinsam mit der Bundeskanzlerin die Mehrhei-
ten auch auf europäischer Ebene organisiert.

Nun kommen Sie, meine sehr geehrten Damen und
Herren von Rot-Grün, wollen den ersten Aufschlag ma-
chen und beweisen, welches große Regierungshandeln
Sie denn an den Tag legen werden in Ihrer Politik, die
nach der Bundestagswahl hoffentlich nicht Realität wer-
den wird, weil der Mut fehlt, wie Axel Troost das vorhin
gesagt hat.

„Übernehmen Sie Verantwortung!“, hat Herr
Dr. Schick vorhin gesagt. Wir haben in diesen dreiein-
halb Jahren Verantwortung übernommen mit all den
Maßnahmen, die der Bundesfinanzminister, unser fi-
nanzpolitischer Sprecher und auch die Kollegen von der
FDP dargestellt haben. Wir haben ein Motto ausgege-
ben: Kein Risiko darf mehr ausgehen von einem Finanz-
produkt, kein Risiko darf mehr ausgehen von Finanz-
marktakteuren, und vom Finanzmarkt an sich darf auch
kein Risiko mehr für die Wirtschaft in unserem Land, für
die Wirtschaft in Europa ausgehen. – Das ist uns bisher





Peter Aumer


(A) (C)



(D)(B)


gelungen. Für die Krise ist mittlerweile politische Ver-
antwortung übernommen worden.

Wir haben diese Verantwortung übernommen und
keinen Schleiertanz aufgeführt, so wie das Ihr Kanzler-
kandidat uns weismachen wollte. Herr Poß, diesen
Schleiertanz hat vielmehr Ihr Kanzlerkandidat aufge-
führt. Wenn er solche Worte im Munde führt, fallen die
auch auf ihn zurück. Er hat den Blick auf die Krise ver-
stellt. Das ist keine verantwortungsvolle Politik der Op-
position. Wir haben in den dreieinhalb Jahren gezeigt,
was verantwortungsvolle Politik heißt, was auch Wahr-
haftigkeit in der Politik heißt. Ich habe mir Stichworte
aus der Rede Ihres Kanzlerkandidaten aufgeschrieben.
Herr Steinbrück hat von Wahrhaftigkeit gesprochen.
Was er in seiner Rede gesagt hat, gehörte aus meiner
Sicht nicht dazu.


(Joachim Poß [SPD]: Die CSU in Regensburg ist für ihre Wahrhaftigkeit bekannt!)


– Herr Poß, ich komme aus Regensburg, genau.


(Joachim Poß [SPD]: Da ist Ihre Partei für Aufrichtigkeit bekannt!)


Deswegen ist es für mich ein großer Auftrag und eine
große Verantwortung, dass wir die Grundprinzipien der
sozialen Marktwirtschaft beachten. Wir sind der Garant
für die soziale Marktwirtschaft, nicht Herr Steinbrück.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Er möchte das vielleicht für sich in Anspruch nehmen.
Aber das, meine sehr geehrten Damen und Herren, las-
sen wir ihm als christlich-liberale Koalition nicht durch-
gehen. Wir haben Haftung und Risiko zusammenge-
bracht, nachdem es zuvor – das ist vorhin schon
angesprochen worden – eine Politik der Deregulierung
gegeben hat, eine Politik, die von einer breiten Mehrheit
dieses Hauses und der Gesellschaft getragen war. Uns al-
len ist klar geworden, dass man einen anderen Weg ge-
hen muss, einen Weg der Verlässlichkeit und der Nach-
haltigkeit. Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst
geworden.

Wolfgang Schäuble hat in seiner Rede Deutschland
als Anker für Europa bezeichnet. Mich wundert es, wenn
die Opposition versucht, diese kräftige Wirtschaft
schlechtzureden. Das ist nicht der richtige Weg.


(Joachim Poß [SPD]: Nein!)


– Ihr Kanzlerkandidat hat das doch vorher gemacht.


(Joachim Poß [SPD]: Auf vorhandene Probleme hingewiesen!)


– Auf die Probleme hingewiesen hat eher Herr
Dr. Troost als Herr Steinbrück. Er hat gesagt, all das,
was wir umgesetzt haben, hat eigentlich er gemacht. An-
sonsten gab es keinen Hinweis auf einen neuen Regulie-
rungsrahmen für die Finanzinstitute und die Finanz-
märkte.


(Joachim Poß [SPD]: Wir waren doch in der Großen Koalition zusammen, oder reicht Ihr Gedächtnis nicht so weit? Sie sind nicht in der Lage, sich zu erinnern!)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind der
Verantwortung nachgekommen. Die Bundeskanzlerin
hat für uns auf europäischer Ebene intensiv verhandelt,
sodass ein neuer Regulierungsrahmen eingezogen wird.
Es ist ein Erfolg, dass wir in der christlich-liberalen Ko-
alition hart geblieben sind. Wenn Sie, meine sehr geehr-
ten Damen und Herren, an der Regierung gewesen wä-
ren, wären Haftung und Risiko in Europa schon lange
nicht mehr im Einklang, sondern es wären mittlerweile
Euro-Bonds eingeführt worden. Sie hätten genau das
Gegenteil von dem gemacht, wovon Ihr Kanzlerkandidat
gesprochen hat, nämlich dass Haftung und Risiko in Ein-
klang gebracht werden müssen. Das ist keine verantwor-
tungsvolle Politik.


(Beifall des Abg. Klaus-Peter Flosbach [CDU/ CSU])


Für uns ist der Dreiklang der Finanzmarktregulierung
wichtig, nämlich dass wir umfangreich regulieren, dass
wir den Verbraucherschutz verbessern und dass die Auf-
sicht verbessert wird. Das wollen wir im letzten halben
Jahr vor der Bundestagswahl auf den Weg bringen, und
das können wir den Bürgerinnen und Bürgern erfolg-
reich vermitteln. Von uns kommt keine heiße Luft, son-
dern von uns kommt verantwortungsvolle Politik für die
Zukunft unseres Landes. Ich lade Sie ein, diese verant-
wortungsvolle Politik nicht schlechtzureden, sondern
mit uns gemeinsam dieses Land in eine starke Zukunft
zu führen. Dazu gehört auch, dass der Regulierungsrah-
men gemeinsam gestaltet wird. Wir sind der Garant da-
für, dass dieser Regulierungsrahmen in die richtige Rich-
tung geht, dass auch in Europa Solidität und Solidarität
in Einklang gebracht werden. Das ist der Weg, den wir in
unserer Koalition gegangen sind und den Sie durch sol-
che Anträge kurz vor irgendwelchen Wahlen nicht
schlechtreden können. Die Menschen in unserem Land
wissen, wer verantwortungsvoll in die Zukunft geht.

Danke für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721706800

Der Kollege Dr. Carsten Sieling hat jetzt das Wort für

die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1721706900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

In den letzten anderthalb Stunden haben wir nahezu eine
Großkundgebung für die Regulierung von Finanzmärk-
ten erlebt, an der sich offensichtlich jeder oder jede be-
teiligen will. Was sind die Ergebnisse? Darüber möchte
ich mit Ihnen vor dem Hintergrund reden, dass Sie in der
Tat in den letzten drei Jahren regiert haben.

Schauen wir auf die europäische Politik und den euro-
päischen Kontext. Seit 2010 ist die Frage der Stabilisie-
rung des Euros, die Rettung von Griechenland und ande-
ren Ländern ständig Thema. Die Kanzlerin und der





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


Finanzminister hecheln von europäischem Gipfel zu eu-
ropäischem Gipfel. Der Bundestag wird mit immer
neuen Fakten und Wahrheiten konfrontiert. Gelöst ist
verdammt wenig.


(Beifall bei der SPD – Erich G. Fritz [CDU/ CSU]: Bei euch werden nur die Probleme größer!)


Wenn es in Europa zu einer Stabilisierung gekommen
ist, dann ist das nicht das Ergebnis irgendwelcher Gipfel-
beschlüsse, erst recht nicht von Beschlüssen dieser Bun-
desregierung oder dieser Koalition, sondern bestenfalls
des Handelns der Europäischen Zentralbank, die das im
Herbst mit ihrem Stabilisierungsprogramm gemacht
hat – unter Billigung dieser Bundesregierung und bei
Kritik aus Ihren Reihen. Das nenne ich verfehlt und
scheinheilig.


(Beifall bei der SPD – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: So ist das! Das ist wahr!)


Die Krönung des Ganzen ist, wenn hier auch noch der
verantwortliche Bundesfinanzminister entgegen dem Rat
sämtlicher Ökonomen von Inflation redet. Die EZB und
selbst das Institut der deutschen Wirtschaft sagen: Es
wird keine Inflation geben. – Was der Bundesfinanz-
minister dazu bemerkt hat, halte ich für fahrlässig und
für eine große Gefährdung der Stabilität in unserem
Volk.


(Beifall bei der SPD)


Zum Schluss darf ich noch sagen: Sie kommen hier
mit einem Antrag zur Finanzmarktregulierung. Sie er-
zählen uns darin in 15 Punkten, was Sie alles gemacht
haben wollen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: 15 Gesetze, nicht Punkte!)


Leider haben Sie das Problem nicht gelöst. Das erkennen
Sie auch selber, wenn Sie einen Blick auf die Überschrift
Ihres Antrags werfen. Sie wollen eine „schärfere und ef-
fektivere Regulierung“. Bravo! Das ist ein Eingeständ-
nis, dass Ihre Maßnahmen nicht gereicht haben, und zu-
gleich eine Unterstützung unserer Vorschläge.


(Beifall bei der SPD – Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Schluss, zwei Minuten sind rum!)


Ich sage Ihnen auch: Wir haben ein Interesse daran
– Herr Kollege Brinkhaus, Sie können gleich darauf ein-
gehen –, dass diese Beratung fortgeführt wird.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721707000

Herr Kollege.


Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1721707100

Wir wollen, dass die beiden Anträge – das darf ich

noch sagen, weil es sich auf das Verfahren bezieht, Frau
Präsidentin – an die Ausschüsse überwiesen werden und
sich der Deutsche Bundestag weiterhin ernsthaft mit ih-
nen auseinandersetzt. Sie jedoch wollen gleich in der Sa-
che abstimmen. Das halte ich für einen großen Fehler.

Das zeigt Ihr Demokratieverständnis und Ihre Angst vor
diesem Thema.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721707200

Herr Kollege, Sie waren am Ende Ihrer vorgesehenen

Redezeit. – Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus
für die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Ralph Brinkhaus (CDU):
Rede ID: ID1721707300

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen und

Herren! Der Kanzlerkandidat der SPD hat gerade 16 Mi-
nuten geredet. Zwei Minuten hat er damit verbracht, die
Blockade des Doppelbesteuerungsabkommens mit der
Schweiz zu rechtfertigen. Etwas mehr als 14 Minuten
hat er sich an einer Vergangenheitsbetrachtung ergötzt,
und circa 30 Sekunden hat er über die Zukunft geredet.
Das spricht Bände.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dieser Kanzlerkandidat hat in dem politischen Sabba-
tical, das er sich genommen hat, den Anschluss an die
Finanzpolitik und an das, was in der Zwischenzeit ge-
schehen ist, verpasst. Das hat man heute in dieser Rede
wieder gemerkt. Wenn man sich dann Ihren Antrag an-
schaut – das Einzige, wovon er geredet hat, war ja, dass
er einen Restrukturierungsfonds haben möchte –, muss
man sich fragen: Warum wollen Sie denn nicht eigent-
lich schon früher ansetzen? Warum beginnen Sie mit der
Regulierung erst zu einem Zeitpunkt, zu dem das Kind
bereits in den Brunnen gefallen ist?

Wir haben einen anderen Ansatz. Wer Finanzmärkte
bändigen will, der muss zunächst einmal dafür sorgen,
dass in den Finanzinstitutionen weniger Fehler gemacht
werden. Genau das haben wir gemacht. Wir haben Ver-
gütungsregeln angepasst, wir haben die Ratingagenturen
und die Verbriefungen reguliert und vieles andere mehr.

Wer die Finanzmärkte bändigen will, der muss dafür
sorgen, dass die Fehlertragfähigkeit der Institute erhöht
wird. Er muss dafür sorgen, dass mehr Eigenkapital vor-
handen ist, und dafür, dass es mehr Liquidität gibt. Er
muss auch dafür sorgen, dass die Derivatemärkte siche-
rer sind. Genau das haben wir gemacht, bzw. wir sind
gerade dabei.


(Manfred Zöllmer [SPD]: Erzählen Sie doch nichts!)


Wer dafür sorgen will, dass die Finanzmärkte gebän-
digt werden, der muss sich darum kümmern, dass es eine
bessere Aufsicht gibt. Genau das haben wir gemacht.
Wir haben die deutsche Aufsicht reformiert. Wir haben
die europäische Aufsicht reformiert, und wir haben über-
haupt erst die Basis für Aufsicht geschaffen, indem wir
durch viele Meldefristen für die notwendige Transparenz
gesorgt haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)






Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


Erst dann, wenn wir sehen, dass die Fehlervermei-
dung scheitert, dass die Fehlertragfähigkeit nicht gege-
ben ist, dass die Aufsicht nicht geklappt hat, kommt die
Restrukturierung. Genau diese Restrukturierung haben
wir auf den Weg gebracht.


(Rolf Hempelmann [SPD]: Was haben Sie denn restrukturiert? Sagen Sie das doch mal in Einzelheiten! Albern!)


Es ist doch albern, jetzt zu fragen, wer denn damit ange-
fangen hat, wer zuerst diese Idee hatte oder wem das Co-
pyright gehört. Diese Dinge interessieren den Bürger in
diesem Lande überhaupt nicht. Wir haben es durchge-
setzt, und dafür bin ich auch sehr dankbar. Wir waren die
ersten in Europa, die es gemacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wer die Banken bändigen will, der muss auch sehen,
dass es nicht nur Investmentbanker und Hedgefondsma-
nager gibt, sondern auch Verbraucher. Deshalb war uns
der Gedanke sehr wichtig, dass Bankenregulierung zu-
gleich Verbraucherschutz ist. Keine Bundesregierung hat
im Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes so viel
getan wie diese Bundesregierung. Auch dafür bin ich
dankbar.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Man muss eines sehen: Wir können das nicht allein in
Deutschland machen – der Bundesfinanzminister hat es
angesprochen –, wir brauchen einen europäischen Kon-
sens. Wir müssen uns mit den anderen Ländern in Eu-
ropa und – noch besser – mit dem Rest der Welt einigen.
Das haben wir gemacht. Das ist mühsame Kleinarbeit.
Da gibt es keine schnellen Erfolge. Da muss man versu-
chen, die Menschen, die anderen Länder, die anderen
Regierungen mitzunehmen. Genau das haben wir ge-
macht. Die Alternative dazu hat uns Ihr Kanzlerkandidat
gezeigt: die Fortsetzung der Kanonenbootpolitik von
Kaiser Wilhelm mit verbalen Mitteln. Das wird nicht
funktionieren, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir müssen jetzt weitergehen und ganz klar anerken-
nen, dass natürlich noch nicht alles erledigt ist, dass vie-
les noch offen ist. Es gibt Projekte, die hängen. Dazu
zählt die Umsetzung der Eigenkapital- und Liquiditätsre-
geln gemäß Basel III; denn insbesondere unsere Kolle-
gen im Europäischen Parlament kommen nicht zu Potte.
Dazu zählt Solvency II, ein ganz wichtiges Projekt im
Versicherungsbereich. Dazu zählt auch die Finanztrans-
aktionsteuer, bei der wir noch mehr Druck machen müs-
sen. Genau das schreiben wir in unserem Antrag: Wir
wollen Druck machen, wir wollen an der Stelle weiter-
machen.

Meine Damen und Herren, es reicht nicht, uns nur mit
den bestehenden Projekten zu beschäftigen, sondern wir
müssen ganz klar feststellen: Wo sind denn unsere offe-
nen Flanken?


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ganz viele!)


Eine offene Flanke haben wir ganz eindeutig bei der
„too big to fail“-Problematik. Das heißt, es gibt Groß-
banken, die uns alle hier in diesem Haus noch immer be-
unruhigen. Wir schreiben in unserem Antrag, dass wir da
herangehen müssen.


(Joachim Poß [SPD]: Ihre ganze Politik ist eine offene Flanke!)


Wir müssen auch an das Schattenbanksystem herange-
hen, das uns sehr viel Anlass zur Sorge gibt. Ich denke,
insofern ist es richtig und gut, was wir in unseren Antrag
geschrieben haben. Ich kann Sie nur auffordern, diesen
Antrag zu unterstützen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wenn ich alles zusammenfasse, erkenne ich, dass
diese Bundesregierung und diese Regierungskoalition
mehr als 20 Maßnahmen und Initiativen auf den Weg ge-
bracht haben, dass wir einen wesentlichen Teil unserer
Zeit im Finanzausschuss – und nicht nur dort – damit
verbracht haben, die Finanzmärkte zu regulieren.

Ich schaue mir dann an, wie hier heute diskutiert wor-
den ist: Die Schärfe, mit der die Argumente vorgebracht
wurden, stand in keinem Verhältnis zur Begründetheit
der Vorwürfe. Ich schaue mir dann an, was in Ihrem An-
trag steht. Darin steht das Versprechen: Wir werden die
Finanzmärkte bändigen. – Wenn man aber den Antrag
von SPD und Grünen durchschaut, dann erkennt man,
dass ganz wenig übrig bleibt.

Ich schaue mir dann an, was im Papier des Kanzler-
kandidaten Steinbrück steht, das die Visitenkarte im
Kampf gegen Sigmar Gabriel um die Kanzlerkandidatur
war. Darin kündigt er ein großes Bankenkonzept an.
Mehrere Vorredner haben schon gesagt, was darin steht:
Dinge, die schon längst umgesetzt worden sind, Dinge,
die in der Umsetzung sind, und Dinge, die wir auf inter-
nationaler Ebene diskutieren.

Ich schaue mir dann an – ich habe das gestern Abend
einmal gemacht –, was Sie in den letzten dreieinhalb
Jahren an Anträgen vorgelegt haben. Ich kann da weder
eine Handschrift noch einen roten Faden noch eine Linie
oder ein Konzept erkennen. Das ist, ehrlich gesagt, zu
wenig.

Ich erwarte eigentlich von der Opposition, dass sie
kreativ und inspirierend ist und innovative Vorschläge
macht, dass sie einen Gegenentwurf zu dem liefert, was
die Regierung macht. Da muss man ganz ehrlich sagen,
meine Damen und Herren: Man könnte auf die Idee
kommen, dass es sich um Arbeitsverweigerung handelt.
Es waren in finanzpolitischer Hinsicht verlorene Jahre
für die Opposition; auch auf diese Idee könnte man kom-
men. Aber man könnte auch auf eine andere Idee kom-
men, nämlich darauf, dass die Politik der Bundesregie-
rung so gut war, dass ihr überhaupt nichts Essenzielles
hinzuzufügen war.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Lachen bei Abgeordneten der SPD)






Ralph Brinkhaus


(A) (C)



(D)(B)


Wenn sich der Kollege Steinbrück nicht schon – wahr-
scheinlich zu Hausbesuchen im niedersächsischen Wahl-
kampf – verabschiedet hätte, wenn er noch hier in der
Debatte wäre, die er angestoßen hat – –


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Wo ist der Finanzminister? Was soll das eigentlich?)


– Der Finanzminister ist hier im Saal.


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Kein einziger Minister ist anwesend!)


Wenn sich der Kollege Steinbrück hier nicht schon vom
Acker gemacht hätte und sich nicht aus den Tiefen der
Fachdiskussion weggestohlen hätte, dann hätte ich ihm
jetzt gesagt: Lieber Herr Kollege Steinbrück, wenn der
Wähler Ihnen die Gunst erwiesen hätte, noch länger Fi-
nanzminister sein zu können – die große Mehrheit der
Wähler hat das im Übrigen nicht getan –, dann hätten Sie
wahrscheinlich nicht viel anders gemacht als der Finanz-
minister Schäuble; das gehört zur Wahrheit dazu.

Meine Damen und Herren, das Thema der Regulie-
rung der Finanzmärkte ist zu ernst und zu wichtig, um es
für Wahlkampfklamauk zu missbrauchen. Beim Thema
der Regulierung der Finanzmärkte geht es um eine der
essenziellen Fragen. Dementsprechend eignet sich das
Thema nicht dafür, es zum Wahlkampfthema hochzu-
pushen. Ich will Ihnen auch sagen, warum es sich dafür
nicht eignet: Bei all den Widersprüchen, die wir haben,
und all den Diskussionen, die wir führen, ist es richtig,
dass uns an dieser Stelle, bei der Regulierung der Fi-
nanzmärkte, mehr vereint als trennt. Der Gegner sitzt
nicht hier im Saal; der Gegner sind die Akteure an den
Finanzmärkten, die es immer noch nicht kapiert haben,
die großen Teile der Finanzmärkte, die immer noch nicht
kooperieren, die Teile der Finanzmärkte, die weiterhin
die Geschäfte machen, die die Stabilität unseres Sys-
tems, das wir in den letzten 50 Jahren aufgebaut haben,
gefährden.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das sind doch Ihre Freunde!)


Dementsprechend rufe ich dazu auf: Lassen Sie uns die
Sache zusammen angehen! Machen Sie daraus keinen
Wahlkampfpopanz!

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721707400

Damit schließe ich die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11878 an die Ausschüsse vorgeschlagen,
die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sie
einverstanden. Dann ist das so beschlossen.

Wir kommen zum Antrag der Fraktionen der CDU/
CSU und der FDP auf der Drucksache 17/12060 mit
dem Titel „Schärfere und effektivere Regulierung der Fi-
nanzmärkte fortsetzen“.

Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wün-
schen Abstimmung in der Sache. Die SPD-Fraktion,
die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen wünschen Überweisung an dieselben Aus-
schüsse, an die die Vorlage auf Drucksache 17/11878
überwiesen worden ist.

Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über den
Antrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:
Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Wer
stimmt dagegen?


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das Erste war die Mehrheit! – Zurufe von der CDU)


Wer enthält sich?


(Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Genau gucken! Ganz klar! Deutlich die Mehrheit! Ein bisschen Fairness! Bei so einer Frage! Überweisung an den Ausschuss! Hier geht es ums Verfahren! – Zuruf von der CDU – Gegenruf des Abg. Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Moment, die Abstimmung ist gelaufen! Also, bitte! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Das Erste war die Mehrheit! Eindeutig! – Zuruf von der CDU: Noch einmal abstimmen! – Axel Schäfer [Bochum] [SPD]: Ein kleines bisschen Fairness!)


– Wir sind uns im Präsidium nicht darüber einig, wo die
Mehrheiten sind. Insofern werden wir an dieser Stelle
einen Hammelsprung durchführen müssen.


(Unruhe)


Deswegen muss ich Sie bitten, den Saal zu verlassen, da-
mit wir das tun können. Ich könnte noch einmal einen
Hinweis geben, wo genau die Türen sind; es gibt meh-
rere.


(Volker Kauder [CDU/CSU]: Wenn der letzte Sozi den Saal verlassen hat, gehe ich auch! – Gegenruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das realisieren wir schneller, als Sie glauben!)


Sind die Türen jetzt zu? – Noch nicht. Es fehlen noch
Schriftführer an den Türen. Wer die Abstimmung gern
beschleunigen möchte und zugleich Schriftführerin oder
Schriftführer ist, könnte sich in den Innenraum begeben. –
Es fehlen noch Kolleginnen und Kollegen Schriftführer
von der Regierungskoalition. – Wunderbar, Frau
Michalk, danke, dass Sie da sind. Jetzt fehlt nur noch
einer. – Sind wir jetzt vollständig? – Alle Türen sind be-
setzt. Dann beginnen wir mit dem Zählen. Vielen Dank.

Ich weise alle, die jetzt im Saal sind, schon einmal
darauf hin, dass wir gleich auch noch eine namentliche
Abstimmung durchführen werden.

Sind noch Kolleginnen und Kollegen draußen? – Das
scheint der Fall zu sein. Dann können wir die Abstim-
mung noch nicht beenden.

Ich frage noch einmal: Gibt es noch Kolleginnen und
Kollegen vor der Tür, die den Wunsch haben, in den
Plenarsaal zu kommen? Kann ich einmal ein Signal
bekommen? – Leider kann man das von hier aus nicht





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


sehen, weil so viele Kolleginnen und Kollegen innen vor
den Türen stehen. – Jetzt kommt das Signal. Die Türen
werden geschlossen, und die Abstimmung mit dem
Hammelsprung ist beendet. Wir warten auf das Ergebnis.

Wir haben ein Ergebnis. Zur Erinnerung: Es ging um
die Frage der Überweisung. Der Überweisungsantrag
wurde abgelehnt. Es gab 280 Nein-Stimmen, 241 Ja-
Stimmen und zwei Enthaltungen.

Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antrag
auf Drucksache 17/12060. Wer stimmt für diesen An-
trag? – Es irritiert mich, dass niemand dafür stimmen
möchte.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Worüber stimmen wir jetzt ab?)


– Wir stimmen über den Antrag auf Drucksache
17/12060 ab. Es geht um den Antrag mit dem Titel
„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanz-
märkte fortsetzen“. Es handelt sich um einen Antrag der
CDU/CSU und der FDP.


(Heiterkeit bei der SPD)


Er steht auf Drucksache 17/12060 und sollte nicht über-
wiesen werden. Das haben wir per Hammelsprung fest-
gestellt.

Deswegen frage ich jetzt noch einmal: Wer ist für die-
sen Antrag? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltun-
gen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag ange-
nommen. Darüber sind wir uns hier auch einig.

Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 f
auf:

a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über die
Statistik der Bevölkerungsbewegung und die

(Bevölkerungsstatistikgesetz – BevStatG)


– Drucksache 17/9219 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Paul
Schäfer (Köln), Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Geset-

(Artikel 35 und 87 a)


– Drucksache 17/11591 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Verteidigungsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Federführung strittig

c) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-
trag vom 12. Januar 2012 zwischen der Bun-
desrepublik Deutschland und dem Königreich
der Niederlande über die Zusammenarbeit bei

der Bekämpfung des grenzüberschreitenden
Missbrauchs bei Sozialversicherungsleistun-
gen und -beiträgen durch Erwerbstätigkeit
und bei Leistungen der Grundsicherung für
Arbeitsuchende sowie von nicht angemeldeter
Erwerbstätigkeit und illegaler grenzüber-

(Deutsch-Niederländischer Vertrag zur Bekämpfung grenzüberschreitender Schwarzarbeit)


– Drucksache 17/12015 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales

d) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zur
Änderung des Holzhandels-Sicherungs-Geset-
zes

– Drucksache 17/12033 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit

e) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung jagdrechtlicher Vorschriften

– Drucksache 17/12046 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

f) Beratung des Antrags der Abgeordneten Tom
Koenigs, Volker Beck (Köln), Ingrid Hönlinger,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Nationale Stelle zur Verhütung von Folter
stärken

– Drucksache 17/11207 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss

Es handelt sich um Überweisungen im vereinfach-
ten Verfahren ohne Debatte.

Tagesordnungspunkt 34 b. Wir kommen zunächst zu
einer Überweisung, bei der die Federführung strittig ist.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfs
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11591 zur
Änderung des Grundgesetzes, Art. 35 und 87 a, an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionen
von CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beim
Innenausschuss, die Fraktion Die Linke beim Verteidi-
gungsausschuss.





Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt


(A) (C)



(D)(B)


Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-
antrag der Fraktion Die Linke, Verteidigungsausschuss.
Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der
Überweisungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmung
durch die Fraktion Die Linke. Alle anderen waren dage-
gen.

Jetzt stimmen wir ab über den Überweisungsvor-
schlag von CDU/CSU und FDP, Innenausschuss. Wer ist
dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Damit ist
die Überweisung so beschlossen. Dagegen war die Frak-
tion Die Linke, alle anderen waren dafür.

Wir kommen jetzt zu unstrittigen Überweisungen.

Tagesordnungspunkte 34 a sowie c bis f. Interfraktio-
nell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Ta-
gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. –
Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos-
sen.

Wir kommen zu den Zusatzpunkten 4 a bis 4 e. Hier
geht es um die Beratung von fünf Beschlussempfehlun-
gen des Vermittlungsausschusses, zu denen keine Aus-
sprache vorgesehen ist. Über die Beschlussempfehlung
zum Jahressteuergesetz 2013 werden wir später nament-
lich abstimmen.

Ich beginne mit Zusatzpunkt 4 a:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

kommen vom 21. September 2011 zwischen
der Bundesrepublik Deutschland und der
Schweizerischen Eidgenossenschaft über Zu-
sammenarbeit in den Bereichen Steuern und
Finanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012

– Drucksachen 17/10059, 17/11093, 17/11096,
17/11635, 17/11693, 17/11840 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann

Mir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Bericht-
erstattung gewünscht ist. – Bitte schön, Herr
Oppermann.


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1721707500

Frau Präsidentin! Bei dem Steuerabkommen mit der

Schweiz, das den Vermittlungsausschuss beschäftigt hat,
ging es darum, eine Lösung dafür zu finden, dass in der
Schweiz noch immer rund 150 Milliarden Euro unver-
steuertes Vermögen lagern. Der Vermittlungsausschuss
sieht in dem ausgehandelten Vertrag ganz erhebliche
Mängel und empfiehlt deshalb, diesem Gesetz nicht zu-
zustimmen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Die Diskussion im Vermittlungsausschuss spiegelt
sich am besten in der verabschiedeten Begleiterklärung
wider, aus der ich auszugsweise zitiere:

Der Vermittlungsausschuss … fordert die Bundesre-
gierung auf, die Verhandlungen mit der Schweizer

Regierung wieder aufzunehmen, um ein gerechtes
Steuerabkommen mit der Schweiz abzuschließen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ein Steuerabkommen mit der Schweiz darf die
Steuerbetrüger der vergangenen Jahrzehnte nicht
belohnen. … Bund und Länder sind sich einig, dass
in Deutschland ehrlich und gerecht Steuern gezahlt
werden.

– Es darf keine Steuerbürger erster und zweiter Klasse
geben. –


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Durch das Abkommen dürfen Steuerhinterzieher
nicht bessergestellt werden als ehrliche Steuerzah-
ler. Aus Gründen der Steuergerechtigkeit muss da-
her eine höhere Belastung derjenigen erfolgen, die
sich in der Vergangenheit besonders hartnäckig ih-
ren steuerlichen Verpflichtungen entzogen haben.

Der Vermittlungsausschuss lehnt es ab, bei Steuerbetrü-
gern auf Strafverfolgung zu verzichten und eine ano-
nyme Amnestie vorzunehmen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Der Vermittlungsausschuss empfiehlt daher, das Gesetz
über das Schweizer Steuerabkommen aufzuheben und
den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721707600

Diese Begleiterklärung nehmen wir zu Protokoll.1)

Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 17/11840. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?
– Die Gegenstimmen waren die Mehrheit. Die Be-
schlussempfehlung ist damit abgelehnt.

Zusatzpunkt 4 b:

Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-

(Vermittlungsausschuss)

und Vereinfachung der Unternehmensbesteue-
rung und des steuerlichen Reisekostenrechts

– Drucksachen 17/10774, 17/11180, 17/11189,
17/11217, 17/11634, 17/11694, 17/11841 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister

1) Anlage 2





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Ich erteile dem Kollegen Dr. Michael Meister so-
gleich das Wort zur Berichterstattung.


Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1721707700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Regierungsfraktionen haben ein Gesetz zur Änderung
und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und
des steuerlichen Reisekostenrechts auf den Weg ge-
bracht. Die beiden Fraktionen wollen damit einen Bei-
trag zur Vereinfachung des Steuerrechts leisten. Einfa-
che, gerechte und zeitgemäße Regelungen für die
steuerliche Organschaft sollen den Standort Deutschland
stärken und wettbewerbsfähig machen.

Zur Gerechtigkeit gehört natürlich, dass alle Steuer-
pflichtigen die Gelegenheit bekommen, ihre Steuern zu
entrichten, unabhängig von der Frage, ob sie ihre Erträge
im Inland oder im Ausland erwirtschaften. Die Chance,
das noch in diesem Gesetz zu regeln, wurde leider ver-
tan.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie sollen Bericht erstatten und nicht werten!)


Bei der Organschaft erfolgt ein Verweis auf das Ak-
tienrecht. Der Höchstbetrag des Verlustrücktrags wird
verdoppelt. Damit wird gerade in schwierigen Zeiten die
Liquidität der mittelständischen Unternehmen verbes-
sert.

Wir vereinfachen das Reisekostenrecht bei den Fahrt-
kosten, bei den Verpflegungsmehraufwendungen und in
der Frage, wie oft und wie weit man von der Arbeits-
stätte entfernt sein muss. Bei der Besteuerung versuchen
wir, dem Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitnehmer
entgegenzukommen. Wenn, wie gerade geschehen, ein
kompletter Steuerjahrgang wegen Verjährung aus der
Steuerpflicht entlassen werden musste, wirkt das, glaube
ich, nicht im Sinne des Gerechtigkeitsempfindens.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir zeigen mit diesem Gesetz, dass mit geringem fi-
nanziellen Aufwand – es handelt sich um 290 Millionen
Euro – ein wesentlicher Beitrag zur Steuervereinfachung
möglich ist. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, diesen Auf-
wand zu leisten, um bei der Steuervereinfachung voran-
zukommen.

Bei der Frage von Organträgern und Organgesell-
schaftenbesitz in der Europäischen Union bzw. im
EWR-Ausland hat der Vermittlungsausschuss eine Än-
derung vorgenommen, und er hat kleinere Änderungen
am Reisekostenrecht vorgenommen.

Ich glaube, dieses Gesetz ist – wie der Vorgänger, der
leider keine Zustimmung fand – ein Beitrag, um die
Steuergerechtigkeit in Deutschland zu verbessern und
Steuervereinfachungen herbeizuführen. Ich würde mir
wünschen, dass wir für dieses Vermittlungsergebnis eine
Mehrheit bekommen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721707800

Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3

Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden
drei Beschlussempfehlungen.

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses auf Drucksache 17/11841? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.

Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 4 c:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-

(Vermittlungsausschuss)

der kalten Progression

– Drucksachen 17/8683, 17/9201, 17/9202,
17/9644, 17/9672, 17/11842 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister

Ich erteile erneut dem Kollegen Dr. Michael Meister
das Wort zur Berichterstattung.


Dr. Michael Meister (CDU):
Rede ID: ID1721707900

Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Bei diesem Punkt geht es um einen Ge-
setzentwurf der Bundesregierung vom Dezember 2011,
mit dem die kalte Progression in Deutschland abgebaut
werden soll. Zudem soll das Existenzminimum für Er-
wachsene auf die im Grundgesetz geforderte Höhe ge-
bracht werden, und zwar in zwei Schritten: mit einem
ersten Schritt im Jahr 2013 und mit einem zweiten
Schritt im Jahr 2014.

Um die kalte Progression abzubauen, umfasst der Ge-
setzentwurf drei Teile: zum Ersten die eben erwähnte
Anhebung des Existenzminimums, zum Zweiten die
Entzerrung der dadurch erfolgten Stauchung des Tarifs,
damit der Grenzsteuersatz nicht ansteigt, und zum Drit-
ten eine Abmilderung der kalten Progression. Diesen
dritten Teil – das hatte die Bundesregierung vorgeschla-
gen – sollte der Bund alleine finanzieren. Die ersten bei-
den Teile hätten gemäß der Aufteilung der Einkommen-
steuer durch Bund, Länder und Kommunen finanziert
werden sollen.

Der Vermittlungsausschuss hat den ersten Teil, die
Anhebung des Existenzminimums, angenommen, und
schlägt, wie vorgetragen, die Anhebung des Existenzmi-
nimums in den Jahren 2013 und 2014 in zwei Stufen vor.
Die Beseitigung der dadurch eintretenden stärkeren Be-
lastung aufgrund des höheren Grenzsteuersatzes fand im
Vermittlungsausschuss leider keine Mehrheit. Sozialde-
mokraten und Grüne konnten sich dem nicht anschlie-
ßen, sodass es nun durch den Beschlussvorschlag des
Vermittlungsausschusses zu einem höheren Grenzsteuer-
satz kommt.

Die Regelung zur Abmilderung der kalten Progres-
sion sollte dazu dienen, dass Lohnerhöhungen, die ledig-





Dr. Michael Meister


(A) (C)



(D)(B)


lich die Inflation ausgleichen, nicht zu einer stärkeren
Belastung durch die Einkommensteuer führen. Auch dies
fand keine Zustimmung. Sie wird also aus dem Gesetz
herausgenommen, sodass Lohnerhöhungen, die lediglich
einen Inflationsausgleich bedeuten, nach wie vor stärker
steuerlich belastet werden.

Als Gegenvorschlag wurde eine Anhebung des Ein-
gangssteuersatzes in die Diskussion im Vermittlungsaus-
schuss eingebracht, was insbesondere bei Beziehern
kleinerer Einkommen zu einer stärkeren Belastung ge-
führt hätte.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Keine Erhöhung, sondern eine Beibehaltung des jetzigen Eingangssteuersatzes!)


Dies fand ebenfalls keine Mehrheit und wird deshalb
hier nicht vorgeschlagen. Wir hätten uns eine Anhebung
des Eingangssteuersatzes gerade mit Blick auf kleinere
und mittlere Einkommen auch nur schwer vorstellen
können.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie senken den Eingangssteuersatz, und wir stimmen trotzdem zu!)


Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen:
Die Entlastung bis zum Jahr 2014 fällt niedriger aus als
ursprünglich geplant. Bei einem verheirateten Arbeit-
nehmer mit zwei Kindern und einem Einkommen von
35 000 Euro sinkt sie von geplanten 198 Euro auf
134 Euro; das heißt, die Entlastungswirkung ist geringer.

Damit wir uns verfassungsgemäß verhalten, schlage
ich dennoch vor, den so veränderten Gesetzentwurf ge-
meinschaftlich zu beschließen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721708000

Vielen Dank für die Erklärung.

Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses auf Drucksache 17/11842? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist wiederum bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-
genommen.

Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 4 d:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes

(Vermittlungsausschuss) zu dem Gesetz zur

steuerlichen Förderung von energetischen Sa-
nierungsmaßnahmen an Wohngebäuden

– Drucksachen 17/6074, 17/6251, 17/6358,
17/6360, 17/6584, 17/7544, 17/11843 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller (Erlangen)


Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –
Der Kollege Müller hat das Wort.


Stefan Müller (CSU):
Rede ID: ID1721708100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zur
energetischen Gebäudesanierung enthält ausschließlich
Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes. Es handelt
sich dabei um die Umsetzung der europäischen Elek-
trizitäts- und Gasrichtlinie. Nicht in der Beschlussemp-
fehlung des Vermittlungsausschusses enthalten ist die
besagte steuerliche Förderung der energetischen Gebäude-
sanierung. Hierzu war im Vermittlungsausschuss keine
Einigung möglich.

Der ursprüngliche Vorschlag der Bundesregierung
und auch der Beschluss des Bundestages sahen vor, dass
energetische Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden,
die vor 1995 errichtet worden sind, in einer Größenord-
nung von insgesamt 1,5 Milliarden Euro steuerlich ge-
fördert werden sollten. Nach Einschätzung vieler Exper-
ten – das haben auch die Anhörungen im Bundestag
deutlich gemacht – hätte dies zu einem nicht unwesent-
lichen Einnahme- und Beschäftigungseffekt geführt, der
insbesondere dem deutschen Handwerk und den mittel-
ständischen Unternehmen und deren Arbeitnehmern zu-
gutegekommen wäre und ihnen gutgetan hätte. Diese
Einschätzung haben – jedenfalls nach dem, wie ich die
Beratungen im Vermittlungsausschuss in Erinnerung
habe – alle Mitglieder des Vermittlungsausschusses ge-
teilt, also sowohl die A- als auch die B-Seite. Leider war
trotzdem keine Einigung in diesem Sinne möglich.

Der Vermittlungsausschuss hat sich in insgesamt acht
Sitzungen mit diesem Gesetz befasst. Darüber hinaus hat
es Gespräche unter Federführung des Bundesumweltmi-
nisters gegeben, wonach der Bund bereit gewesen wäre,
den Ländern entgegenzukommen. Leider aber sahen sich
SPD- und Grünen-geführte Bundesländer nicht in der
Lage, sich an diesem wichtigen Projekt zu beteiligen.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie haben den Vermittlungsvorschlag von Baden-Württemberg abgelehnt!)


Nachrichtlich sei noch hinzugefügt, dass die Bundes-
regierung nach dem Scheitern des Vorschlags zur ener-
getischen Gebäudesanierung deutlich gemacht hat, dass
sie bereit ist, dennoch das entsprechende KfW-Pro-
gramm aufzustocken. Ich darf darauf hinweisen, dass die
Bundesregierung ihre Zusage zwischenzeitlich einge-
halten hat. Der Vermittlungsausschuss hat eine Begleit-
erklärung dazu beschlossen.

Ich bitte Sie jetzt also um Zustimmung zu den Ände-
rungen des Energiewirtschaftsgesetzes.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721708200

Vielen Dank für den Bericht. – Der Kollege Stefan

Müller hat darüber hinaus gebeten, im Rahmen seiner
Berichterstattung eine Protokollerklärung der Bundesre-
gierung sowie eine Begleiterklärung des Vermittlungs-
ausschusses zu Protokoll zu nehmen.1) Dem folgen wir
gern.

1) Anlage 3





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses auf
Drucksache 17/11843? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist wiederum bei Ent-
haltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen aller
übrigen Fraktionen angenommen.

Ergänzend möchte ich bemerken, dass zu all diesen
Punkten zahlreiche persönliche Erklärungen vorliegen,
die wir zu Protokoll nehmen.1)

Damit kommen wir zum Zusatzpunkt 4 e:

Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes

(Vermittlungsausschuss) zu dem Jahressteuerge-

setz 2013
– Drucksachen 17/10000, 17/10604, 17/11190,
17/11191, 17/11220, 17/11633, 17/11692,
17/11844 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Thomas Oppermann

Bitte schön, Herr Oppermann.


Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1721708300

Vielen Dank, Herr Präsident. – Es geht hier um die

letzte Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses.
Insgesamt werden mit dem vorliegenden Jahressteuerge-
setz 30 Gesetze geändert. Vieles davon ist Routine; eini-
ges hat zu Auseinandersetzungen geführt. Es geht unter
anderem um die Besteuerung der Musikschulen und die
Besteuerung des Wehrsolds, um Steuerschlupflöcher bei
Goldkäufen und die Förderung von Elektroautos. Zu al-
len Punkten haben wir im Vermittlungsausschuss eine
Einigung zwischen Bund und Ländern erzielt. Das Ge-
setz ist richtig, das Gesetz ist auch notwendig. Nur in ei-
nem Punkt haben wir uns im Vermittlungsausschuss
nicht einigen können, nämlich bei der steuerlichen
Gleichstellung von homosexuellen Lebenspartnerschaf-
ten mit Ehen. Hier war eine breite Mehrheit dafür, sie
endlich gleichzustellen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Leider konnte sich dem die Mehrheit der Vertreter der
Koalition nicht anschließen. Wie ich höre, will die Ko-
alition deswegen das Jahressteuergesetz blockieren. Das
halte ich für falsch.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der
Ehe ist überfällig. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Gehört das zur Berichterstattung?)


– Ich muss bei der Berichterstattung auch auf Zwischen-
rufe reagieren. – Sie von der Koalition haben in Ihrem

eigenen Koalitionsvertrag angekündigt, eine steuerliche
Gleichstellung voranzubringen. Heute haben Sie dazu
die Gelegenheit, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Uns ist doch ohnehin klar, dass das Bundesverfassungs-
gericht diese Gleichstellung mit großer Wahrscheinlich-
keit schon in Kürze einfordern wird.

Ich halte es im Übrigen nicht für verantwortbar, dass
das Jahressteuergesetz jetzt blockiert wird. Dafür sind zu
viele Materien betroffen, die geregelt werden müssen.
Deshalb appelliere ich an die Koalition: Geben Sie sich
einen Ruck! Wenn Sie heute gegen das Jahressteuerge-
setz 2013 stimmen, dann blockieren Sie Ihr eigenes Ge-
setz,


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


und zwar nur, weil in dieses Gesetz eine Regelung auf-
genommen werden soll, die endlich die Diskriminierung
homosexueller Lebenspartnerschaften in Deutschland
beendet.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721708400

Herr Kollege Oppermann, Sie sind über eine Bericht-

erstattung weit hinausgegangen, indem Sie in der Sache
argumentiert haben.


(Beifall bei der SPD – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der Kollege Meister hat damit angefangen!)


Das ist nicht zulässig.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Das hätten Sie bei Herrn Meister auch feststellen können!)



Thomas Oppermann (SPD):
Rede ID: ID1721708500

Herr Präsident, ich bitte um Nachsicht. Aber ich bin

aus der Koalition durch Zwischenrufe herausgefordert
worden. Dem habe ich Rechnung getragen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Widerspruch bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721708600

Auch wenn Sie Beifall spenden: Es ist nicht zulässig,

in eine Sachargumentation einzutreten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Das ist parteiisch! – Joachim Poß [SPD]: Das hat Herr Meister auch gemacht! Parteiisch! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das 1)






Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Der Kollege Oppermann hat darum gebeten, im Rah-
men der Berichterstattung die zwei Begleiterklärungen
des Vermittlungsausschusses zu Protokoll zu nehmen,
was wir selbstverständlich machen.1)

Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/11844 namentlich ab. Ich bitte die
Schriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenen
Plätze einzunehmen. – Sind alle Schriftführer an den Ur-
nen? – Ich eröffne die Abstimmung und bitte, die
Stimmkarten einzuwerfen.

Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarte
eingeworfen? – Dann schließe ich den Wahlgang und
bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der
Auszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-
chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)

Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:

Vereinbarte Debatte

zu steuerpolitischen Beschlüssen

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das
so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Michael Grosse-Brömer von der
CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Michael Grosse-Brömer (CDU):
Rede ID: ID1721708700

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir reden über die Ergebnisse des Vermitt-
lungsausschusses in ungewöhnlicher Transparenz. Nor-
malerweise sind die Berichterstattungen, die wir vorhin
gehört haben, nicht üblich. Aber ich kann verstehen, wa-
rum sie notwendig wurden. Sonntag ist Landtagswahl in
Niedersachsen, ich bin sehr zuversichtlich für diesen
Tag.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir auch!)


Wir haben deshalb jetzt auch noch eine persönliche Aus-
sprache zu diesem Thema, weil das von der Opposition
so gewünscht ist.

Ich glaube, es ist auch bei den Berichterstattungen
deutlich geworden, um welches Problem es geht. Ein
klein wenig ist auch deutlich geworden, dass dabei auch
eine politische Aussage vermittelt werden musste. Lei-
der war das – jedenfalls nach meinem Eindruck – im
Vermittlungsausschuss auch schon so. Er wird dem Na-
men nicht mehr richtig gerecht. Eigentlich geht es um
die Vermittlung von Bundespolitik und Landespolitik. In
letzter Zeit erscheint es allerdings so, als würde der Ver-
mittlungsausschuss zum Verhinderungsausschuss. Es hat
aus meiner Sicht nicht mehr das Gemeinwohl im Mittel-
punkt gestanden; wir haben es vorhin beim Steuerrecht
gehört. Wer darauf verzichtet, zweistellige Milliardenbe-
träge aus der Schweiz erstattet zu bekommen, und das

offensichtlich nur aus parteipolitischen Gründen ablehnt,
macht etwas falsch, liebe Kollegen von der Opposition.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Erst das Land und dann die Partei, müsste es heißen.
Zurzeit ist es aber ein Stück weit umgekehrt – auch bei
Ihnen, Herr Beck –: erst die Partei und dann das Land.
Ich hoffe, Sie werden wieder vernünftiger.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Haben Sie etwas gegen Partei?)


– Überhaupt nichts. Aber eine richtige Reihenfolge ist
vielleicht klug. Man sollte übergeordnete Interessen
nicht Parteiinteressen opfern. Das war mein Vorwurf.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Wer definiert die? – Joachim Poß [SPD]: Das müssen Sie gerade sagen!)


Ich möchte schlussendlich darauf hinweisen, dass bei
den Verhandlungen im Vermittlungsausschuss bei Rot-
Grün deutlich wurde: Es geht Ihnen offenkundig nicht
um Steuergerechtigkeit; das haben wir vorhin gehört. Es
geht nicht einmal um das Interesse an unteren und mitt-
leren Einkommen. – Es wäre eine schöne Gelegenheit
gewesen, durch die Annahme des Antrags der Regierung
und der Koalitionsfraktionen mittlere und geringfügige
Einkommen von der kalten Progression zu entlasten und
den Menschen mehr Geld zu lassen, wenn sie schon ein-
mal eine Gehaltserhöhung bekommen. Aber nein, auch
da geht es um Ideologie. Es ist mir völlig unverständlich,
wie es gerade Ihnen als sozialer Partei möglich war, zu
sagen: Nein, da machen wir nicht mit; wir entlasten die
kleinen Leute in Deutschland nicht. – Aber da war die
Parteipolitik eben wichtiger. Ich bedauere das sehr.

Was die Schweiz angeht, macht es Sinn – das haben
wir auch heute Vormittag gehört –, internationale Ab-
kommen zu schließen, damit Steuerhinterziehung welt-
weit verhindert wird.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Dann muss die deutsche Seite auch unsere Interessen wahrnehmen!)


Es bestand die Gelegenheit dazu. Es gab eine exzellente
Verhandlung des Bundesfinanzministers. Es gab die
Möglichkeit eines Abkommens, das hinterzogenes Geld
auch rückwirkend nach Deutschland zurückgeführt hätte
und dauerhaft eine Rechtsgrundlage geschaffen hätte,
um Steuerhinterziehung den Boden zu entziehen. Aber
Sie haben nicht mitgemacht.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Warum haben Sie nicht die Konditionen, die die USA bekommen haben, mit der Schweiz ausgehandelt?)


Wenn Sie weiterhin darauf setzen, Datendealerei zu
betreiben, irgendwelche CDs aufzukaufen


(Johannes Kahrs [SPD]: Was Sie selber ja auch machen! Sie machen doch mit!)


und sich von Zufallsfunden abhängig zu machen, dann
ist doch die Frage: Ist das wirklich eine dauerhafte Lö-

1) Anlage 4
2) Ergebnis Seite 26800 D





Michael Grosse-Brömer


(A) (C)



(D)(B)


sung, oder ist es sinnvoller, eine seriöse Rechtsgrundlage
zu schaffen, die Steuerhinterziehung langfristig, also
dauerhaft, verhindert?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Aber der Bund bezahlt bei jeder CD die Hälfte!)


Das wäre unser Vorschlag gewesen.

Meine Damen und Herren, auch im Bereich der ener-
getischen Gebäudesanierung wäre eine steuerliche Ent-
lastung sinnvoll gewesen. Alle Experten, egal von wem
sie benannt sind, auch die von Sozialdemokraten oder
Grünen, bestätigen: Das ist der größte Bereich, in dem
Energiesparprogramme umgesetzt werden können. Ener-
getische Gebäudesanierung ist der beste Weg, um dem
Umweltschutz zu dienen. Sie allerdings verfolgen wie-
der parteipolitische Interessen, nach dem Motto: Wir
machen nicht mit; wir gönnen euch den Erfolg nicht. –
Das ist kleingeistig und nicht am Allgemeinwohl orien-
tiert. Wir bedauern das sehr.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben versucht, das meiste zu retten. Wir haben
ja auch manches geschafft. Das Jahressteuergesetz ist
traditionell ein sogenanntes Omnibusgesetz; es enthält
zahlreiche steuerfachliche Änderungen. Es wurde aufge-
listet, worum es dabei insgesamt geht: Aufbewahrungs-
fristen, Umstrukturierungen von Konzernen. Das alles
sind wichtige Aspekte, auf die sich die Kollegen frak-
tionsübergreifend nach langer Debatte verständigt hat-
ten. Aber dann kam wieder die Parteipolitik ins Spiel.

Sie mussten trotz des Parteitagsbeschlusses der Union
hier noch einen Punkt einbringen, nämlich die Gleich-
stellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mit
Ehen. Dieser Punkt ist strittig. Darüber wird sicherlich
gerichtlich entschieden, was wir gut finden. Auch bei
uns in der Fraktion gibt es genügend Kollegen, die das
anders sehen als die Mehrheit der CDU-Parteitagsdele-
gierten. Aber das parteipolitisch auszuschlachten, nicht

zu sehen, dass zahlreiche andere Regelungen vereinbart
waren, stattdessen wieder einen populistischen Auf-
schlag zu machen, das ist schade. Der Vermittlungsaus-
schuss wird durch Sie aus parteipolitischen Gründen
zum Verhinderungsausschuss.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Durch Sie wird er das!)


Hören Sie damit bitte auf!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Insofern bleibt mir leider nur das Fazit: Künftig müs-
sen Vermittlungsergebnisse wieder das Ziel verfolgen
– das richtet sich an Rot-Grün und die Linken –, eine
sinnvolle, im Interesse des Landes ausgestaltete Politik
zu vereinbaren und durchzusetzen. Es darf nicht darum
gehen, Politik mit Blick auf parteipolitische Interessen
zu machen, eine Politik, die zulasten mittelständischer
Unternehmen und zulasten der kleinen Leute in Deutsch-
land geht. Das ist nicht dauerhaft erträglich.


(Johannes Kahrs [SPD]: Können Sie alles regeln! Stimmen Sie heute zu!)


Ich setze nach wie vor auf Ihre Einsicht. Irgendwann
wird aus Ihrer Sicht nicht die Wahl, sondern die Sach-
politik wieder das Maßgebende sein. Jedenfalls gebe ich
diese Hoffnung nicht auf.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721708800

Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe,

verkünde ich das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz 2013: ab-
gegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 256, mit
Nein haben gestimmt 306, Enthaltungen 5. Die Be-
schlussempfehlung ist abgelehnt.

Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 567;
davon

ja: 256
nein: 306
enthalten: 5

Ja

SPD

Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Klaus Barthel
Sören Bartol
Bärbel Bas
Sabine Bätzing-Lichtenthäler

Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Lothar Binding (Heidelberg)

Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Bernhard Brinkmann


(Hildesheim)

Edelgard Bulmahn
Marco Bülow
Ulla Burchardt
Martin Burkert
Petra Crone
Dr. Peter Danckert
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Petra Ernstberger

Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Michael Gerdes
Martin Gerster
Günter Gloser
Ulrike Gottschalck
Angelika Graf (Rosenheim)

Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Michael Groß
Wolfgang Gunkel
Hans-Joachim Hacker
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann


(Wackernheim)

Hubertus Heil (Peine)

Wolfgang Hellmich

Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Petra Hinz (Essen)

Frank Hofmann (Volkach)

Dr. Eva Högl
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Dr. Bärbel Kofler
Daniela Kolbe (Leipzig)

Anette Kramme
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christine Lambrecht
Christian Lange (Backnang)






Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Dr. Karl Lauterbach
Steffen-Claudio Lemme
Burkhard Lischka
Gabriele Lösekrug-Möller
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Hilde Mattheis
Petra Merkel (Berlin)

Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Franz Müntefering
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Manfred Nink
Thomas Oppermann
Aydan Özoğuz
Heinz Paula
Johannes Pflug
Joachim Poß
Dr. Wilhelm Priesmeier
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth (Esslingen)

Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer (Bochum)

Bernd Scheelen
Marianne Schieder


(Schwandorf)

Werner Schieder (Weiden)

Ulla Schmidt (Aachen)

Carsten Schneider (Erfurt)

Swen Schulz (Spandau)

Ewald Schurer
Frank Schwabe
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Dr. Frank-Walter Steinmeier
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Dr. Marlies Volkmer
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Waltraud Wolff


(Wolmirstedt)

Uta Zapf
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries

FDP

Michael Kauch

DIE LINKE

Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Karin Binder
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Nicole Gohlke
Diana Golze
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Dr. Lukrezia Jochimsen
Harald Koch
Jan Korte
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Dorothée Menzner
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Ingrid Remmers
Paul Schäfer (Köln)

Michael Schlecht
Dr. Ilja Seifert
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Harald Weinberg
Katrin Werner
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann

BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Kerstin Andreae
Marieluise Beck (Bremen)


Volker Beck (Köln)

Cornelia Behm
Birgitt Bender
Agnes Brugger
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz (Herborn)

Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Susanne Kickbusch
Memet Kilic
Sven-Christian Kindler
Maria Klein-Schmeink
Ute Koczy
Tom Koenigs
Sylvia Kotting-Uhl
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth (Quedlinburg)

Monika Lazar
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Dr. Frithjof Schmidt
Ulrich Schneider
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-

Kuhn
Hans-Christian Ströbele
Dr. Harald Terpe
Markus Tressel
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Arfst Wagner (Schleswig)

Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler

fraktionsloser
Abgeordneter

Wolfgang Nešković

Nein

CDU/CSU

Peter Altmaier
Peter Aumer
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Manfred Behrens (Börde)

Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Wolfgang Börnsen


(Bönstrup)

Wolfgang Bosbach
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Ralf Brauksiepe
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Hartwig Fischer (Göttingen)

Dirk Fischer (Hamburg)


(Karlsruhe Land)

Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Herbert Frankenhauser
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Dr. Michael Fuchs
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Michael Glos
Josef Göppel
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Olav Gutting
Florian Hahn
Dr. Stephan Harbarth
Jürgen Hardt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Ursula Heinen-Esser
Frank Heinrich
Rudolf Henke





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Andreas Jung (Konstanz)

Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster

(Villingen Schwenningen)

Volker Kauder
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Bettina Kudla
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers


(Heidelberg)

Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Dr. Michael Luther
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer (Altötting)

Dr. Michael Meister
Dr. Angela Merkel
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Philipp Mißfelder

Dietrich Monstadt
Marlene Mortler
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller (Erlangen)

Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann (Bremen)

Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Katherina Reiche (Potsdam)

Lothar Riebsamen
Josef Rief
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht (Weiden)

Anita Schäfer (Saalstadt)

Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Norbert Schindler
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt (Fürth)

Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön (St. Wendel)

Dr. Kristina Schröder


(Wiesbaden)

Dr. Ole Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer

(Weil am Rhein)

Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
Dr. Frank Steffel
Christian Freiherr von Stetten
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz

Thomas Strobl (Heilbronn)

Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel (Kleinsaara)

Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Dr. Johann Wadephul
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Marcus Weinberg (Hamburg)

Peter Weiß (Emmendingen)

Sabine Weiss (Wesel I)

Ingo Wellenreuther
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-

Becker
Dagmar G. Wöhrl
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew

FDP

Jens Ackermann
Christine Aschenberg-

Dugnus
Daniel Bahr (Münster)

Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Ernst Burgbacher
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Ulrike Flach
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Dr. Wolfgang Gerhardt
Hans-Michael Goldmann
Heinz Golombeck
Miriam Gruß
Joachim Günther (Plauen)

Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober

Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth (Kyffhäuser)

Heinz Lanfermann
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-

Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner (Berlin)

Michael Link (Heilbronn)

Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller (Aachen)

Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann


(Lausitz)

Hans-Joachim Otto


(Frankfurt)

Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Dr. Christiane Ratjen-

Damerau
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Hagen Reinhold
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Judith Skudelny
Dr. Hermann Otto Solms
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel


(Lüdenscheid)

Dr. Daniel Volk
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff (Rems-Murr)


Enthalten

CDU/CSU

Dr. Stefan Kaufmann

DIE LINKE

Heidrun Dittrich
Wolfgang Gehrcke
Inge Höger
Ulla Jelpke





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wieder keine Kanzlermehrheit!)


Jetzt hat das Wort der Kollege Lothar Bindung von
der SPD-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1721708900

Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte bis zuletzt
gehofft, dass Sie sich vielleicht doch noch eines Besse-
ren besinnen, gerade nachdem Sie so oft das Wort „Par-
teipolitik“ in den Mund genommen haben. Lassen Sie
uns einmal ehrlich sein: Sie haben eine Koalitionsverein-
barung, auf die Sie sich oft berufen. Diese Koalitionsver-
einbarung brechen Sie heute, indem Sie – offensichtlich
wegen Uneinigkeiten der CSU mit der FDP und einer
zerstrittenen CDU – auf dem Rücken der eingetragenen
Lebenspartnerschaften ein komplettes Jahressteuerge-
setz zerreiben. Das ist ein großes Problem. Ich glaube,
der Vorwurf der Parteilichkeit, der parteipolitischen
Orientierung fällt da auf Sie zurück.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Dabei brauchen wir das Jahressteuergesetz 2013.
Nehmen wir ganz einfache Dinge: Wir müssten natürlich
die Cash-GmbHs abschaffen, eine Steuergestaltung, bei
der man quasi Bargeld in beliebiger Höhe in einen
GmbH-Mantel legt, um anschließend über erbschaftsteu-
errechtliche Regelungen Steuern zu sparen. Das ist ein
Riesenproblem. Ein praktischer Aspekt, wichtig für die
Steuerberater: Wir brauchen eine Rechtsgrundlage dafür,
dass es ab Beginn dieses Jahres keine Lohnsteuerkarten
mehr gibt; denn bei dem ELStAM-System gibt es Verzö-
gerungen. Das ist eine ganz praktische und ganz drin-
gende Sache. Denken Sie auch an das Stichwort „Aktion
Goldfinger“, den Handel mit Gold, bei dem ich einfach
eine Personengesellschaft gründe, die mit Rohstoffen
handelt, dort meinen Goldpreis als Verluste eintrage und
über entsprechende DBA plötzlich riesige Steuerspar-
modelle habe. Das ist ein Riesenproblem. Wir bräuchten
unbedingt dieses Gesetz; aber Sie blockieren es genau
aus den Gründen, von denen Sie eben vorgaben, diese
bei anderen zu finden.

Es ist ein Riesenerfolg – Gott sei Dank –, dass das
Schweizer Abkommen verhindert werden konnte; denn
sonst würde der Betrüger geschützt und der Ehrliche be-
straft. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden jetzt ein
Gesetz verabschieden, das in etwa auf Folgendes hinaus-
laufen würde: Künftig werden in jedem Finanzamt pro
Jahr nur noch zwei Einkommensteuererklärungen von
Arbeitnehmern geprüft. – So ungefähr war die Bedin-
gung für die Steuerbetrüger in der Schweiz. Das ist die
Form von Gerechtigkeit, für die Sie mit der Entschluss-
freudigkeit, die Sie heute an den Tag gelegt haben, eine
Basis legen. Das ist ein ganz großes Problem.

Nun zum Stichwort „kalte Progression“. Sie tun im-
mer so, als wollten Sie den Leuten etwas Gutes tun, in-

dem Sie sagen, Sie wollten die kalte Progression ab-
schaffen. Bleiben wir einen kleinen Moment fachlich.
Wollten Sie wirklich die kalte Progression abschaffen,
müssten Sie den Tarif indexieren. Sie müssten die Steu-
ersätze also an die Inflation anpassen. Sie wissen genau,
was das bezogen auf die Inflation und die Löhne für ei-
nen gefährlichen Treibsatz in der Wirtschaft bedeuten
würde, und deshalb machen Sie das nicht. Seien Sie ehr-
lich! Sagen Sie doch, dass die Grundfreibeträge schon
immer so angepasst worden sind, dass es keine kalte
Progression für die kleinen Bürger gab. Es gab Steuer-
vorteile; die kleinen Leute wurden bisher fair entlastet.
Wenn Sie es genau wissen wollen, dann lesen Sie es in
der entsprechenden Antwort von Herrn Schäuble nach,
die er uns mit Blick auf die Steuerprogression der ver-
gangenen Jahre gegeben hat. Das war schon immer, vo-
rauseilend unter Rot-Grün, sehr gut geregelt.

Ich möchte noch auf einen kleinen Widerspruch hin-
weisen, der vielleicht ein bisschen andeutet, warum Ihr
Tag heute so schlecht verlaufen ist.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Unser Tag ist gut!)


Ihre Koalition hat ja heute Morgen Ihre Regierung – ich
will es kurz zitieren – zu „Qualität vor Schnelligkeit“
aufgefordert. Es ist interessant, wenn diese Koalition
ihre eigene Regierung auffordern muss, Qualität vor
Schnelligkeit zu setzen. Sie haben aber noch etwas ge-
tan. Sie haben Ihre eigene Regierung aufgefordert, die
Vorschriften um frühzeitige Vorkehrungen für den Kri-
senfall zu ergänzen, und gleich hinzugefügt, das sei aber
alles schon passiert. Das heißt, Sie fordern heute, am
17. Januar 2013, Ihre eigene Regierung dazu auf, solche
Vorkehrungen zu treffen, von denen Sie gleichzeitig be-
haupten, diese seien in den letzten drei Jahren schon er-
ledigt worden. Daran erkennt man die Widersprüchlich-
keit Ihrer Politik. Ich glaube, es ist heute gelungen, das
deutlich werden zu lassen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721709000

Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Patrick Döring (FDP):
Rede ID: ID1721709100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vermitt-
lungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat hat
sich in seiner langjährigen Praxis als Schlichter bewährt.
Er findet auf einer politischen Ebene Lösungen, auf die
sich die Fachpolitiker in den Ländern und im Bund nicht
haben einigen können. So jedenfalls sollte es sein. Was
allerdings diese Opposition aus Sozialdemokraten und
Grünen dargeboten hat, ist weit von dieser Schlichtungs-
funktion entfernt. Sie haben den Bundestagswahlkampf
über den Vermittlungsausschuss eingeleitet, frei nach
dem Motto: Wenn wir schon mit unserem Kandidaten





Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)


nicht punkten können, dann gönnen wir wenigstens die-
ser Koalition keinen Erfolg, vor allem aber den Bürge-
rinnen und Bürgern in Deutschland keine Entlastung.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie wollen die zusätzliche Belastung der arbeitenden
Mitte der Bevölkerung. Sie haben sich dazu in Ihrem
Programm und auf Ihren Parteitagen bekannt. Deshalb
sind Sie nicht bereit, notwendige Kompromisse einzuge-
hen.

Kommen wir zur eben angesprochenen kalten Pro-
gression. Verehrter Herr Kollege Binding, wenn Sie hier
sagen, den kleinen Leuten gehe es bei unserem derzeiti-
gen Tarifverlauf gut, dann kann ich Ihnen nur sagen: Sie
haben von der Progression nichts verstanden. Sie haben
jetzt die Erhöhung des Grundfreibetrages nach den Ver-
fassungsgerichtsvorgaben mittragen müssen. Da Sie aber
zu dem zweiten Schritt, nämlich der Verschiebung des
Verlaufs des Tarifs, nicht bereit waren, führt das am
Ende zu einer Verschärfung der Progression für untere
und mittlere Einkommen. Das ist der Effekt sozialdemo-
kratischer Politik.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Jetzt übersetze ich das einmal, Herr Binding. Sie sa-
gen: Es geht den Leuten gut. – Im Gegensatz zu vielen
anderen hier bin ich Unternehmer und habe auch schon
einmal Arbeitsplätze geschaffen. Ich sage Ihnen: Wenn
heute jemand in Steuerklasse I 2 200 Euro verdient und
sich vom Arbeitgeber 100 Euro Lohnerhöhung er-
kämpft, erstreitet und erleistet, dann bleiben ihm im
nächsten Monat von diesen 100 Euro 54 Euro netto auf
seinem Konto. Wenn Sie bei der SPD das sozial gerecht
finden, dann machen Sie so weiter! Wir finden das nicht
sozial gerecht. Wir wollen, dass die Menschen mehr ha-
ben von ihren hart erkämpften Lohnerhöhungen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Kommen wir zum Steuerabkommen mit der Schweiz.
Es ist nachgerade absurd, was da passiert. Peer
Steinbrück und Walter-Borjans werben weiter dafür,
dass von dubiosen Gestalten illegal erlangte Daten und
Steuer-CDs erworben werden, anstatt dass wir klare
rechtsstaatliche Verfahren einleiten.


(Johannes Kahrs [SPD]: Sie privilegieren Steuerhinterzieher!)


Dann werden Sie auch noch dreist und stellen zu Beginn
dieser Woche aus lauter Verzweiflung einen Vorschlag
zur Bekämpfung der Steuerhinterziehung vor, obwohl
Sie selbst das Vorhaben blockiert haben, für jene, die
illegal und zu Unrecht Mittel in die Schweiz gebracht
haben, neue rechtsstaatliche Instrumente zu schaffen.
Bigotter geht es nicht.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Sie schonen die! Die bleiben anonym! Die haben Millionen hinterzogen! Der Schutzpatron der Steuerhinterzieher spricht da!)


Selbst wenn es bei Ihnen rechtsstaatliche Bedenken
gäbe: Brechen wir das doch einmal herunter auf ein
Land wie Niedersachsen. 928 Millionen Euro zusätz-
liche Steuereinnahmen werden einem Land wie Nieder-
sachsen durch Ihre Blockade vorenthalten. Sie sind der
Schutzpatron der Steuerhinterzieher in Deutschland,
meine sehr verehrten Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Sie wollen die Anonymität!)


Der Effekt ist ganz einfach: Nicht Barack Obama und
Mitt Romney haben den teuersten Wahlkampf in der Ge-
schichte geführt, sondern die SPD hat sich für 10 Mil-
liarden Euro ein Thema gekauft – zulasten der Bürgerin-
nen und Bürger.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Johannes Kahrs [SPD]: Da lacht selbst der Präsident!)


Dann kommen wir zum Jahressteuergesetz. Nach
meiner festen Überzeugung, geschätzter Kollege
Oppermann, haben Sie das Institut der Berichterstattung
missbraucht; denn Sie haben nicht alles vorgetragen. Sie
hätten vortragen müssen, dass die Mehrheit von Rot-
Grün im Vermittlungsausschuss gleichzeitig die Verkür-
zung der Aufbewahrungsfristen für Unterlagen für jene,
die ein mittelständisches oder kleines Unternehmen füh-
ren, blockiert hat.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das hat Herr Meister uns doch vorgeschlagen! Sie waren gar nicht dabei!)


Sie hätten sagen müssen, dass Sie massive Verletzungen
des Gleichbehandlungsgebots bei der Erbschaftsteuer für
mittlere und kleine Unternehmen vorgeschlagen haben,
dass Sie für die Familienunternehmen massive Erb-
schaftsteuererhöhungen vorgeschlagen und durch-
gesetzt haben. Sie hätten sagen müssen, dass alle Ihre
Vorschläge zur Grunderwerbsteuer am Ende dazu ge-
führt hätten, dass die öffentliche Hand steuerfrei agiert,
während es für Private immer teurer wird. Das waren
Ihre Vorschläge.

Deshalb ist es so: Sie haben das von uns vorgelegte
Gesetz erst entkernt und dann mit Ihren Steuerer-
höhungsvorschlägen garniert: insgesamt eine Mehr-
belastung von 500 Millionen Euro für die arbeitende
Mitte der Bevölkerung. Das haben Sie vorgelegt.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie lügen!)


Bei allem, was Sie zur Gleichstellung eingetragener
Lebenspartnerschaften im Steuerrecht Richtiges ange-
führt haben, sage ich: Wir Liberale wollen das,


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie tun bloß nichts dafür! Sie stimmen dauernd dagegen!)


wir haben das mehrfach bekundet, wir haben das mehr-
fach beschlossen, und wir tun sehr viel dafür. Aber, sehr
geehrter Herr Beck, wir erkaufen uns die notwendige
Gleichstellung der Lebenspartnerschaft im Steuerrecht





Patrick Döring


(A) (C)



(D)(B)


nicht mit 500 Millionen Euro Steuermehrbelastung für
die arbeitende Mitte der Bevölkerung. Das ist der Unter-
schied zwischen Ihnen und uns.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Keine Sachkenntnis!)


Deshalb werben wir weiter für eine gute Lösung, aber
nicht zulasten der breiten Mitte der Bevölkerung,
sondern indem wir alle entlasten, die fleißig sind, alle
entlasten, die sich anstrengen, dieses Land nach vorn zu
bringen; denn dafür ist jedenfalls diese Koalition
gewählt.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721709200

Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll von

der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Barbara Höll (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721709300

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Was die Koalition heute bietet, ist wahrlich ein Stück aus
dem Tollhaus.


(Johannes Kahrs [SPD]: Allerdings!)


Es ist ein Skandal, dass Sie sich schlicht aus ideologi-
schen Gründen weigern, die steuerliche Ungleichbe-
handlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft und der
Ehe endlich zu beenden. Ich sage Ihnen: Viele von Ihnen
haben heute grundgesetzwidrig gehandelt. Wir sind frei
gewählte Abgeordnete, die nach dem Grundgesetzartikel
38 nur unserem Gewissen verpflichtet sind. Etliche von
Ihnen, die FDP eigentlich insgesamt, haben öffentlich
erklärt, dass diese steuerliche Ungleichbehandlung end-
lich beendet werden muss. Sie haben heute also wirklich
nicht nach Ihrem Gewissen gehandelt. Das halte ich für
einen Skandal.


(Beifall bei der LINKEN – Michael GrosseBrömer [CDU/CSU]: Das wollen Sie doch nicht prüfen, oder?)


– Ja, das ist einfach skandalös. In die Verhandlungen des
Vermittlungsausschusses brachte die Parlamentarische
Geschäftsführerin der Linksfraktion, Dr. Dagmar
Enkelmann, den Änderungsantrag ein, dass wir das
Jahressteuergesetz jetzt gemeinschaftlich nutzen, um die
steuerliche Ungleichbehandlung endlich zu beenden.
Diese Ungleichbehandlung hält seit der Einführung des
Gesetzes am 1. August 2001 an. Sie alle wissen, dass das
Bundesverfassungsgericht voraussichtlich bis zum
Sommer entscheiden wird, dass wir diese steuerliche
Gleichsetzung vollziehen müssen. Aber Sie verweigern
sich einfach. Sie sind nicht aktiv. Sie nehmen Ihre Rolle
als Gesetzgeber nicht wahr. Wir sollen die Gesetze ver-
abschieden und sollen nicht warten, bis das Bundes-
verfassungsgericht sagt: Das müsst ihr endlich ma-
chen. – Das ist einfach skandalös.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Also: Die Rechtsprechung ist Ihnen egal, oder?)


Das Ganze würde uns sage und schreibe 30 Millionen
Euro jährlich kosten. Ich sage Ihnen: Das ist unmöglich.
Wir dürfen hier natürlich nicht stehen bleiben. Jetzt gilt
es, dass wir die Ungleichbehandlung beenden. Prinzi-
piell geht es natürlich darum, dass wir das Problem des
Ehegattensplittings endlich auf den Tisch des Hauses
legen.


(Beifall bei der LINKEN)


Schauen Sie sich einmal die Bild von gestern und heute
an. Ich habe sie Ihnen mitgebracht. „Die sieben Wahr-
heiten über das Ehegatten-Splitting“. Herr Präsident, mit
Ihrer Erlaubnis zitiere ich daraus:

Die Nazis nutzten das Splitting, um Arbeiten für
Frauen unattraktiv zu machen!

1891 reformierte der preußische Finanzminister
Johannes von Miquel die Einkommenssteuer: Ehe-
paare wurden gemeinsam veranlagt. 1920 wurde
wieder eine Individualbesteuerung eingeführt.

Die Nazis führten 1934 wieder die gemeinsame
Veranlagung ein, weil sie verhindern wollten, dass
Frauen einer bezahlten Arbeit nachgehen. Die jet-
zige Regelung gilt seit 1958.

Seit 55 Jahren. Aber Steuerpolitik ist Gesellschaftspoli-
tik. Haben Sie immer noch dieses Bild von Frauen im
Kopf? Ich glaube, ein bisschen Veränderung haben wir
schon spüren können.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Worüber sprechen Sie denn?)


Wir haben inzwischen den Rechtsanspruch auf Kita-
betreuung. Dann seien Sie bereit und gehen einen Schritt
weiter. Packen wir das Problem des Ehegattensplittings
an.


(Beifall bei der LINKEN)


Herr Döring, Ihre 500 Millionen – ich bitte Sie. Das
Goldfingerprivileg lassen Sie bestehen. Wenn man also
ganz viel Geld hat, gründet man eine Personengesell-
schaft im Ausland und kauft Gold für 1 Million Euro.
Das ergibt einen Verlust, den man in seiner Steuererklä-
rung geltend machen kann. Im nächsten Jahr verkauft
man das Gold. Es gibt ja Doppelbesteuerungsabkom-
men. Somit schlägt es nicht zu Buche.


(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Daran sind Sie doch Schuld! Wir hatten doch eine Lösung! Haben Sie abgelehnt!)


Topverdiener können also pro Jahr etwa 425 000 Euro
einsparen. Nach Berechnungen ist das ein Verlust von
jährlich 500 bis 700 Millionen Euro. Darauf verzichten
Sie. Das ist die Wahrheit.

Zur kalten Progression. Sie haben Angst, die kalte
Progression anzugehen, den Waigel-Buckel endlich zu
beenden.


(Patrick Döring [FDP]: Nein! Das hätte man mit uns machen können!)






Dr. Barbara Höll


(A) (C)



(D)(B)


Machen Sie einen durchgehend linear progressiven Ta-
rif, dann haben wir das Problem der kalten Progression
erst einmal gelöst.


(Beifall bei der LINKEN – Patrick Döring [FDP]: Das ist Ihr Vorschlag?)


Dann können wir in Ruhe überlegen, wie man später mit
Inflationsraten umgeht.


(Patrick Döring [FDP]: In welcher Höhe denn?)


Ich finde dies einen Skandal. Ich fordere Sie auf:


(Patrick Döring [FDP]: In welcher Höhe fordern Sie die Flat Tax? 50 Prozent oder etwas darunter?)


Ändern Sie Ihr gesellschaftliches Bild und nutzen Sie die
nächste Gelegenheit, dass wir die steuerliche Ungleich-
behandlung beenden und endlich das Problem des Ehe-
gattensplittings angehen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der LINKEN – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Falsch, falscher, am falschesten!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721709400

Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der

Kollege Volker Beck.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ach du meine Güte!)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721709500

Ja, so ist es im Parlament. Man muss auch den politi-

schen Gegner oder Konkurrenten in der Debatte ertra-
gen, Herr Kollege.

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ver-
mittlungsausschuss hat die Aufgabe, zwischen den
Mehrheiten des Bundestages und des Bundesrates, der
Vertretung der Länder, zu vermitteln. Vermitteln heißt
aber nicht politisches Diktat, Herr Grosse-Brömer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Vermitteln heißt: Kompromisse finden. Die rot-grüne
Mehrheit hat damals bei zustimmungspflichtigen Geset-
zen zum Teil schwierige Kompromisse gegen eine
schwarz-gelbe Bundesratsmehrheit gefunden. Ich
erinnere nur an das Thema Spitzensteuersatz im Ein-
kommensteuerrecht. Die 42 Prozent, die jetzt im Gesetz
stehen, standen nicht im Gesetzentwurf der rot-grünen
Koalition, sondern es war die Bedingung der schwarz-
gelben Mehrheit des Bundesrates, damit die Einkom-
mensteuerreform durchgesetzt werden konnte.

Zweites Thema: Staatsbürgerschaftsrecht. Die ab-
surde Optionsregelung war die Trophäe des Landes-
ministers Brüderle aus Rheinland-Pfalz, damit überhaupt
eine Mehrheit für eine Staatsbürgerschaftsreform er-
reicht werden konnte. Wir waren immer dagegen, haben
das immer als Zumutung empfunden, haben die bittere

Pille aber geschluckt, um voranzukommen. Im Vermitt-
lungsausschuss geht es nämlich darum, Kompromisse zu
finden. Das heißt, man gibt auch etwas und nimmt nicht
nur.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Das allerdings ist nicht Ihre Methode, liebe Kollegin-
nen und Kollegen. Wir mit unserer Mehrheit im Vermitt-
lungsausschuss und mit der Mehrheitssituation im Bun-
desrat verstehen dies aber nach wie vor anders. Ich
hoffe, wir können am Sonntag verkünden, dass wir auch
im Bundesrat über eine Mehrheit von Rot-Grün verfü-
gen.

Wir haben beim Grundfreibetrag gemeinsam eine
Reform beschlossen. Wir haben beim Energiewirt-
schaftsgesetz gemeinsam eine Reform beschlossen. Wir
haben beim Unternehmensteuerrecht und beim Reise-
kostenrecht Reformen miteinander beschlossen. Bei dem
deutsch-schweizerischen Steuerabkommen haben wir
Ihnen gesagt, dass wir da nicht mitmachen; denn ein sol-
ches Abkommen entzieht das Steuersubstrat, das in der
Schweiz liegt, dauerhaft einer fairen und gerechten Be-
steuerung bei der Vermögensteuer und bei der Erbschaft-
steuer.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Patrick Döring [FDP]: Jetzt wird es gar nicht besteuert! Jetzt ist es komplett steuerfrei!)


Warum – das müssen Sie schon erklären – bekommt
die Bundesrepublik Deutschland nicht die Konditionen,
die die Vereinigten Staaten von Amerika mit der
Schweiz ausgehandelt haben? Da haben Sie einfach
schlecht verhandelt, oder Sie wollten die Steuerhinter-
ziehung legalisieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Das ist nicht wahr! – Bartholomäus Kalb [CDU/ CSU]: Das ist unwahr, was Sie erzählen!)


Und nun, Herr Döring, zu Ihren Worten zum Jahres-
steuergesetz. Was Sie hier gesagt haben – Sie waren ja
beim Vermittlungsausschuss nicht dabei –, ist die
schlichte Unwahrheit.


(Patrick Döring [FDP]: Falsch! – Joachim Poß [SPD]: Gelogen!)


Herr Meister hat im Vermittlungsausschuss einen Vor-
schlag zur Einigung gemacht.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Sie kriegen doch jetzt die Dankschreiben der Schweizer Banken!)


– Wir sind jetzt schon beim nächsten Thema, Herr Kol-
lege. Wenn Sie mir folgen wollen? Wir sind jetzt beim
Jahressteuergesetz. – Nach zwei Arbeitsgruppensitzun-
gen gab es einen Vermittlungsvorschlag, den Herr
Meister vorgetragen hat. Außerdem gab es einen Antrag
von der Linksfraktion, den Vorschlag des rot-grünen
Landes Nordrhein-Westfalen zum Splitting bei den
Lebenspartnerschaften einzubringen.





Volker Beck (Köln)



(A) (C)



(D)(B)


Dann habe ich den Antrag gestellt, die beiden Anträge
miteinander zu einem Vermittlungsvorschlag zu verbin-
den. Dieser Vorschlag, eins zu eins ausgehandelt zwi-
schen Schwarz-Gelb und der Bundesratsmehrheit, plus
dem Punkt aus dem Koalitionsvertrag der schwarz-
gelben Regierungskoalition im Bund, die Benachteili-
gung der Lebenspartnerschaft im Einkommensteuerrecht
zu beseitigen, lag uns heute vor. All dem hatten Sie be-
reits zugestimmt.


(Patrick Döring [FDP]: Das stimmt doch nicht! – Gegenruf des Abg. Joachim Poß [SPD]: Doch!)


– Natürlich, Sie hatten bereits allem zugestimmt. Wir ha-
ben kein Jota draufgelegt, außer diesem einen Punkt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und der SPD – Patrick Döring [FDP]: Verschlechterung bei der Einkommensteuer, Grunderwerbsteuer!)


Ich muss sagen: Ein Punkt aus dem eigenen Koali-
tionsvertrag, für den ein Koalitionspartner angeblich so-
gar ganz heftig kämpft, bedeutet keine Zumutung seitens
der Mehrheit des Vermittlungsausschusses an die Koali-
tion, sondern das ist eine minimale Bewegung, die wir
hier von der CDU verlangen, die in dieser Frage ja selbst
gespalten ist, wie ihr Parteitag gezeigt hat.

Ihnen ist die Benachteiligung der Lebenspartnerschaft
ideologisch offensichtlich so viel wert, dass Sie ein not-
wendiges Jahressteuergesetz blockieren,


(Patrick Döring [FDP]: Unnötige Steuererhöhung!)


dass Sie die Einführung der elektronischen Steueranmel-
dung verhindern, dass Sie das Stopfen von Schlupf-
löchern verhindern und dass Sie ein Gesetz verhindern,
das Sie selber im Lösungsteil des Gesetzentwurfs wie
folgt anpreisen:

Das Jahressteuergesetz 2013 dient der Umsetzung
dieses fachlich notwendigen Gesetzgebungs-
bedarfs. Der Regelungsbedarf besteht insbesondere
zur Anpassung des Steuerrechts an Recht und
Rechtsprechung der Europäischen Union.


(Patrick Döring [FDP]: Das ist doch nicht mehr das Gesetz!)


Das wollen Sie jetzt alles in die Tonne treten? Das
heißt, Sie wollen keinen Kompromiss zwischen den
Häusern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Patrick Döring [FDP]: Weil Sie alles blockieren!)


Sie sind als Koalition dann aber auch steuerrechtlich
nicht mehr handlungsfähig. Sie haben Ihre Handlungs-
kompetenz verloren, weil Sie wegen innerer Streitigkei-
ten bei keinem Thema zu einer gemeinsamen schwarz-
gelben Verhandlungsposition finden können.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721709600

Herr Kollege Beck!


Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721709700

Das ist mein letzter Satz. – Herr Döring, beim Thema

Gleichstellung haben wir Ihnen den Ball auf den Elf-
meterpunkt gelegt. Herr Rösler hätte nur noch Anlauf
nehmen und den Ball ins Tor schießen müssen, in dem
schon kein Torwart mehr stand.


(Patrick Döring [FDP]: Nicht zulasten Dritter!)


Nachdem Sie nichts unternommen haben, um heute zu
einer Mehrheit zu finden,


(Patrick Döring [FDP]: Nicht zulasten Dritter!)


brauchen Sie sich bei den Lesben und Schwulen in
diesem Land sicher nicht mehr blicken zu lassen.


(Patrick Döring [FDP]: Wir machen keine Verträge zulasten Dritter!)


Ich weiß, Sie haben andere Prioritäten, Herr Döring. Das
haben wir heute verstanden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Wir machen keinen Vertrag zulasten Dritter!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721709800

Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1721709900

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Liebe Gäste auf den Tribünen und vor den Bildschir-
men! In sitzungsfreien Wochen bin ich viel in Schulen
unterwegs und diskutiere mit Schülerinnen und Schülern
über Punkte, über die wir auch im Parlament diskutieren.
Zu Recht legen die Lehrerinnen und Lehrer Wert darauf,
dass ich auch die Argumente der Opposition parteineu-
tral darstelle. Das fällt mir in der Regel gar nicht schwer,
weil ich durchaus auch an Argumenten der Oppositions-
parteien etwas finde und nicht jedes Mal zu dem Ein-
druck komme, dass das, was Sie diskutieren, völlig
absurd ist. Im Hinblick auf das Ergebnis der Verhandlun-
gen im Vermittlungsausschuss ist mir das, ehrlich gesagt,
nicht gelungen. Selbst wenn ich versuche, mich in Sie
hineinzudenken, ist das, was Sie da vertreten haben, für
mich absolut nicht schlüssig.

Fangen wir mit der Schweiz an. In Hinblick auf das
Doppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz waren
Sie wenigstens berechenbar. Da haben Sie lange vorher
angekündigt, dass Sie dem nicht zustimmen. Herr
Oppermann – er ist gar nicht mehr da; er hat für die Dis-
kussion keine Zeit mehr –


(Johannes Kahrs [SPD]: Er ist im Ältestenrat!)


hat versucht, den Bürgerinnen und Bürgern, auch Ihnen
auf den Tribünen, klarzumachen, dass die bösen Steuer-
hinterzieher aufgrund der Ablehnung des Abkommens
durch die SPD jetzt höhere und gerechtere Steuern zah-





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)


len müssen. Wahr ist, dass die Steuerhinterzieher am
1. Januar 2013 die Sektkorken haben knallen lassen,


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


weil nämlich ein weiteres Jahr ihrer Steuerhinterziehung
verjährt ist,


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Sie hätten es auf alle Zukunft ausgeweitet! – Johannes Kahrs [SPD]: Sie privilegieren Steuerhinterzieher!)


weil sie für 2012, 2013 und 2014 wieder gar keine Steu-
ern zahlen werden, und das dank der Unterstützung
durch die SPD, die nämlich verhindert hat, dass auch
die Schweizer Steuerhinterzieher einer vernünftigen Be-
steuerung, ähnlich dem bestehenden deutschen Steuer-
recht, unterzogen werden.


(Johannes Kahrs [SPD]: Sie privilegieren sie! Sie schützen Steuerhinterzieher!)


– Herr Kahrs, ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt; aber
das ist die Wahrheit.


(Johannes Kahrs [SPD]: Nein! Es ist glatt gelogen! Es ist einfach falsch!)


Welcher Steuerzahler hat aufgrund Ihrer Entscheidung
jetzt seine Steuern bezahlt? Keiner.

Zum Grundfreibetrag. Ihr Verhalten im Zusammen-
hang mit der Erhöhung des Grundfreibetrags ist auch
nicht gerade sozialdemokratisch. Zwar konnten wir Sie
im Dezember davon überzeugen, dass es verfassungs-
rechtlich zwingend ist, den Grundfreibetrag zu erhöhen,
weil der Steuerfreibetrag das Existenzminimum dar-
stellt;


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist schon immer so gewesen! Das ist doch Verfassung!)


aber Sie haben sich nicht einmal entblödet, vorzuschla-
gen,


(Johannes Kahrs [SPD]: „Entblödet“?)


zur Gegenfinanzierung der Erhöhung des Grundfreibe-
trags den Eingangssteuersatz zu erhöhen.


(Patrick Döring [FDP]: So ist es!)


Das heißt, der Polizist, der ein höheres steuerfreies Exis-
tenzminimum erhielte, müsste die eigene Steuervergüns-
tigung über einen erhöhten Eingangssteuersatz selbst be-
zahlen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist auch rechnerisch falsch! – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wie viel Unsinn Sie erzählen! Es ist unglaublich! Wie hoch ist denn der bisherige Eingangssteuersatz?)


Das kann ich aus sozialdemokratischer Sicht nicht nach-
vollziehen, so sehr ich mir auch Mühe gebe. Gott sei
Dank haben Sie im Vermittlungsausschuss nach der
Pause verstanden, dass das Unfug ist, und haben den An-

trag abgelehnt und unserem zugestimmt; aber nachvoll-
ziehen konnte ich Ihr Verhalten nicht.

Zur kalten Progression. Herr Binding, Sie haben ge-
sagt, dass das, was wir machen wollen, nur halbherzig
sei, weil wir keine Indizierung wollten. Sie haben das
Gesetz wohl nur bedingt gelesen; denn darin steht sehr
wohl, dass wir die Besteuerung der kalten Progression
alle zwei Jahre überprüfen wollen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das ist aber nicht das System der Abschaffung der kalten Progression!)


Folgendes kann ich wiederum nicht nachvollziehen:
Weil die Regelung nicht so gut ist, wie Sie es sich ge-
wünscht hätten, machen Sie auch nicht den ersten
Schritt. Das heißt, der kleine Steuerzahler hat jetzt gar
keinen Vorteil, weil Sie ihm nicht gönnen, dass er einen
Teil der nächsten Lohnerhöhung behält.


(Johannes Kahrs [SPD]: Getretener Quark wird breit, nicht stark!)


Wegen des höheren Steuersatzes bezahlt er für jeden zu-
sätzlichen Euro mehr, als er bisher hätte zahlen müssen.
Was daran sozial oder sozialdemokratisch ist, kann ich
auch nicht verstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Johannes Kahrs [SPD]: Sie haben ein Verständnisproblem, Frau Kollegin!)


Vieles kann ich also einfach nicht nachvollziehen, zu-
mal die Einnahmen aus der Schweizer Schwarzgeldsteuer
von bis zu 10 Milliarden Euro dicke gereicht hätten, um
die Begrenzung der kalten Progression gegenzufinanzie-
ren.


(Patrick Döring [FDP]: So ist es! – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Hätten Sie das unterschrieben?)


Sie sagen also: Der Schwarzgeldbesitzer in der Schweiz
behält sein Geld, aber der Empfänger eines kleinen Ge-
halts muss mehr Steuern zahlen. Das ist irgendwie nicht
so richtig sozial. Deshalb findet es auch nicht unsere Zu-
stimmung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dr. Daniel Volk [FDP]: Das ist die Gerechtigkeit der SPD!)


Zum Jahressteuergesetz. Da fängt irgendwie die se-
lektive Wahrnehmung an. Herr Oppermann hat eben dar-
gestellt, dass uns das Jahressteuergesetz wichtig gewe-
sen sei und wir es deshalb auf Biegen und Brechen
hätten durchbringen müssen. Wenn ich mich richtig erin-
nere, sind über 18 Änderungsanträge, die die SPD-Län-
der eingebracht haben, in das Jahressteuergesetz einge-
flossen; wir haben dort Kompromisse gefunden.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nicht nur die SPD-Länder! Ihre eigenen Länder! Auch die CDU-Länder!)


– Auch die grünen Länder, auch die eigenen Länder. –
Jedenfalls ging es um Punkte, die auch der SPD wichtig
waren. Wir haben über Wochen und Monate hinweg





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)


Kompromisse gefunden und waren uns dann in allem ei-
nig. Herr Beck, da liegen Sie falsch: Das Vermittlungs-
ergebnis ist so lange offen – –


(Johannes Kahrs [SPD]: Ja! Sagen Sie es Herrn Döring: „in allem einig“!)


– Wenn Sie so laut schreien, kann ich mich selber nicht
mehr verstehen. Vielleicht warten Sie einfach, bis Sie
gleich dran sind.


(Johannes Kahrs [SPD]: Herr Döring, „in allem einig“!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721710000

Herr Kollege Kahrs, bitte! Frau Tillmann hat das

Wort.


Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1721710100

Ich danke Ihnen, Herr Präsident.

Herr Beck, im Verfahren des Vermittlungsausschusses
ist es Sitte, dass alles offen ist, bis alles geschlossen ist,
weil wir natürlich Kompromisse suchen und weil wir na-
türlich die eine oder andere Kröte geschluckt hätten,
wenn das Gesamtergebnis gut geworden wäre. Das
heißt, von den 18 Punkten der Länder haben mindestens
17,5 Punkte die Länder eingebracht. Wir haben uns da-
rauf eingelassen, weil wir das teilweise vernünftig fan-
den.

Auch wenn ich persönlich sogar Verständnis für die
Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspart-
nerschaften habe, ich selbst dem auch zugestimmt hätte,
war Ihnen völlig klar, dass alle diese Verhandlungen vor
die Wand gehen, wenn Sie das zwingend koppeln mit
der Abstimmung über die gleichgeschlechtlichen Le-
benspartnerschaften. Das ist Ihnen recht. Das kann ich
auch verstehen. Nach außen kann man das gut verkau-
fen. Damit haben Sie aber natürlich wieder Steuergestal-
tung möglich gemacht.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein! Sie können den Vermittlungsausschuss doch nochmals anrufen, wenn Sie wollen!)


Die SPD als Schutzpatron der Steuergestalter. Sie ha-
ben selbst die Cash-GmbH angesprochen. Sie haben
selbst die Goldfingergeschichten angeführt. Mit dieser
Abstimmung zum Jahressteuergesetz machen Sie es
möglich, dass wieder die Steuerpflicht gestaltet wird und
Steuern hinterzogen werden.


(Joachim Poß [SPD]: Dann verwechseln Sie Ursache und Wirkung!)


Der kleine Mann zahlt, die Großen kommen davon, weil
Sie dem Vermittlungsergebnis nicht zustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Nun zu meinem letzten Punkt, zur steuerlichen Förde-
rung der energetischen Gebäudesanierung. Liebe Zuhö-
rerinnen und Zuhörer, es passiert sehr selten, dass wir ei-
nen Brief erhalten, der sowohl vom DGB als auch vom
Arbeitgeberverband unterschrieben worden ist. Gewerk-
schaften und Arbeitgeber waren sich also einig und ha-

ben mehr oder weniger flehentlich die SPD aufgefordert,
die energetische Gebäudesanierung durchgehen zu las-
sen, weil wir damit Arbeitsplätze sichern, weil wir damit
Energiekosten reduzieren.


(Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] meldet sich zu einer Zwischenfrage – Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Herr Präsident, schlafen Sie nicht!)


– Ich möchte gern zu Ende reden, Herr Beck.

Dadurch machen wir es möglich, dass jemand sein
privates Einfamilienhaus saniert und damit Kosten spart.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind sich einig. Die SPD
war aber nicht dazu zu bewegen. Damit haben Sie nicht
nur dem Häuslebauer einen erheblichen Schaden zuge-
fügt, sondern Sie haben auch die Handwerker benachtei-
ligt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Die SPD ist auch dafür! Wir sind dagegen, die Länder zu belasten!)


Sie haben verhindert, dass der Mieter demnächst in
erheblichem Umfang Energiekosten sparen kann. Außer-
dem haben Sie verhindert – das war nämlich ein
Kompromiss –, dass wir 350 Millionen Euro für die Sa-
nierung öffentlicher Gebäude in den Kommunen zur
Verfügung stellen. Dabei sehe ich überhaupt keine Nutz-
nießer, sondern nur Schaden, den Sie verursacht haben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721710200

Kommen Sie bitte zum Schluss.


(Joachim Poß [SPD]: Es wird auch langsam Zeit!)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1721710300

Ja. – Ich glaube, dass die Berechenbarkeit der Politik

ein ganz wesentliches Kriterium ist. Ich wünsche und
hoffe, dass Sie ab Montag wieder berechenbar sind, dass
wir Kompromisse schließen können zugunsten der Bür-
gerinnen und Bürger in diesem Land und zulasten derje-
nigen, die in diesem Land ihre Steuern nicht ordnungs-
gemäß zahlen wollen.


(Tankred Schipanski [CDU/CSU] zur SPD gewandt: Am Montag sind Sie führungslos! Sie haben am Montag keinen Kanzlerkandidaten mehr!)


Wir wollen, dass alle ihre Steuern zahlen und dass die
Kleinen prozentual nicht mehr belastet werden als die
Großen.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721710400

Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkt

erteile ich das Wort dem Kollegen Johannes Kahrs.


(Beifall bei der SPD)







(A) (C)



(D)(B)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721710500

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Die ganze Debatte war etwas seltsam. Ich
möchte mich auf den Punkt konzentrieren, der das Jah-
ressteuergesetz betrifft.

Herr Döring hat erklärt, dem Jahressteuergesetz
könne man nicht zustimmen, weil es in ganz vielen
Punkten Unsinn enthalte, und das habe man alles nicht
gewollt. Dass das glatt geschwindelt war – um es einmal
freundlich zu formulieren –, hat Frau Tillmann vorhin
bestätigt, indem sie gesagt hat: Man war sich in allen
Punkten einig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wenn man sich in allen Punkten einig war und wenn
es am Ende nur um eine einzige Frage ging, nämlich um
die steuerliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen
– das war der einzige Punkt, bei dem man sich nicht ei-
nig war –,


(Patrick Döring [FDP]: Stimmt nicht!)


dann heißt das: CDU, CSU und FDP lassen das Jahres-
steuergesetz platzen, weil sie nicht wollen, dass Lesben
und Schwule gleichgestellt werden.


(Patrick Döring [FDP]: Weil wir nicht wollen, dass Millionen andere mehr Steuern bezahlen müssen!)


Jetzt kann man natürlich der Meinung sein: Wir
schaffen das Ehegattensplitting ab. Dann braucht man
das auch nicht.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Erst mal kleine Schritte!)


Das ist aber nicht der Punkt. Solange es das Ehegatten-
splitting gibt, gibt es auch den Bedarf an Gleichstellung.


(Patrick Döring [FDP]: Aber nicht zulasten anderer!)


Jetzt hat sich die FDP hier hingestellt, die eigentlich
– der Kollege Kauch muss sich gerade kreiselnd durch
die Gegend bewegen –


(Patrick Döring [FDP]: Ich habe gesagt, wir sind dafür!)


immer dafür gekämpft hat, dass Lesben und Schwule
gleichgestellt werden. Dann kommt Herr Döring hierher,
lügt, um seine eigene Position zu verteidigen,


(Patrick Döring [FDP]: Wir sind dafür!)


und hat Frau Tillmann auf der anderen Seite, die ganz
klar herausgearbeitet hat, dass man sich bei allem einig
war, nur bei diesem einen einzigen Punkt nicht.


(Patrick Döring [FDP]: Stimmt doch nicht!)


– Herr Döring, dann sollten Sie zumindest den Anstand
haben, zu erklären, dass Sie für Schwule und Lesben
nichts unternehmen und auch nichts erreichen wollen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721710600

Herr Kollege.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721710700

Was wir hier veranstalten, ist traurig. Das ist traurig.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Nicht zulasten Dritter!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721710800

Herr Kollege Kahrs, erlauben Sie eine Zwischenfrage

der Kollegin Tillmann?


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721710900

Aber selbstverständlich, wenn ich sie schon zitiere.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721711000

Bitte schön, Frau Tillmann.


Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1721711100

Danke für die Fairness, Herr Kahrs.


(Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Fairer als Sie, zumindest!)


Sie haben nur die eine Hälfte meines Satzes zitiert. Ich
habe begonnen mit dem Satz, dass im Vermittlungsaus-
schuss die Sitte gilt, dass alles offen ist, bis alles ge-
schlossen wird. Das bedeutet ganz klar – es wäre schön,
wenn Sie nicht widersprechen würden bzw. zur Kenntnis
nehmen würden –, dass Kompromisse erst dann gelten,
wenn man abgestimmt hat. Da aber nicht alles abge-
stimmt werden konnte, weil wir uns nicht in jedem
Punkt einig waren, war unser grundsätzliches Vorhaben,
einen Kompromiss zu finden, den Sie aber durch Ihre
Koppelung an die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Lebensgemeinschaften verhindert haben. Sie waren der-
jenige, der das Vermittlungsergebnis verhindert hat,
nicht wir.


(Patrick Döring [FDP]: So ist es!)


Sie hätten problemlos einzeln über die gleichge-
schlechtliche Ehe abstimmen lassen können, dann hätten
wir das Jahressteuergesetz verabschiedet, und Sie hätten
trotzdem politisch zeigen können, dass Sie auf der Seite
der Schwulen und Lesben stehen. Das haben Sie aber
nicht getan. Sie haben es an die Gleichstellung gekop-
pelt, und Sie wussten, dass damit alle andere Kompro-
misse vom Tisch sind.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Das wussten wir nicht! Das steht im Koalitionsvertrag!)



Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721711200

Frau Tillmann, erstens wäre es nett, wenn Sie stehen

bleiben würden. Zweitens liebe ich Ihre Klarstellung,
weil sie von einer erfrischenden Ehrlichkeit ist und Sie
damit Herrn Döring ein zweites Mal an die Wand ge-
klatscht haben,


(Patrick Döring [FDP]: So ist es doch nicht!)






Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)


so schwierig das auch ist.

Im Ergebnis ist es so: Sie haben gesagt: Wir waren
uns in der Sache einig; aber ein Vermittlungsergebnis
gilt erst dann, wenn man sich in allen Punkten einig ist,


(Patrick Döring [FDP]: Wir haben doch gar nicht über alle Punkte abgestimmt!)


und bei dem Punkt „Schwule und Lesben“ war man sich
nicht einig. Sehen Sie: In allen anderen Punkten war
man sich also einig.


(Patrick Döring [FDP]: Die sind doch gar nicht abgestimmt worden!)


– Herr Döring, schämen Sie sich! Frau Tillmann hat Ih-
nen hier zweimal gesagt, dass Sie gelogen haben. Sie
sollten sich schämen. – Frau Tillmann, vielen Dank.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Patrick Döring [FDP]: Nein! Die Punkte sind doch gar nicht abgestimmt worden! Das ist doch unwahr!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721711300

Herr Kollege Kahrs, der Kollege Beck würde auch

gerne noch eine Zwischenfrage stellen.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721711400

Aber selbstverständlich.


(Gisela Piltz [FDP]: Jetzt kommt eine Showfrage! Super! – Joachim Poß [SPD]: Wir hatten Einigung in der Arbeitsgruppe! – Patrick Döring [FDP]: Die sind nicht abgestimmt worden im Vermittlungsausschuss, die Punkte!)



Volker Beck (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721711500

Herr Kollege Kahrs, ich wollte Sie fragen, ob Sie mir

bestätigen können, dass diese Koalition gerade durch
ihre eigenen Gesetzgebungsakte Blockadepolitik be-
treibt. Denn wenn sie jetzt unbedingt wollte, das Ganze
ohne die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften zu
beschließen, dann hätte sie heute die Möglichkeit ge-
habt, selber mit der Mehrheit des Bundestages den Ver-
mittlungsausschuss anzurufen. Die Koalition trägt also
alleine die Verantwortung dafür, dass das Jahressteuer-
gesetz vollständig gegen die Wand fährt.


(Patrick Döring [FDP]: Es gab keine Einigung in der Arbeitsgruppe!)


Können Sie mir das bestätigen, Herr Kollege?


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721711600

Herr Kollege Beck, Sie haben natürlich Recht: Wenn

die Koalition mit ihrer Mehrheit heute beschlossen hätte,
den Bundesrat anzurufen, dann hätte sie das Ganze noch
einmal in den Bundesrat einbringen können.


(Patrick Döring [FDP]: Mit welchem Ergebnis? Es gab keine Einigung in der Arbeitsgruppe!)


Das hat sie aber nicht getan. Das zeigt natürlich, Herr
Beck – auch in der Geschichte der CDU –, dass die CDU

keine Gleichstellung von Lesben und Schwulen will. Ich
bin seit 1998 im Deutschen Bundestag. Das habe ich bis-
her so erlebt.


(Gisela Piltz [FDP]: Ja, und haben nichts erreicht!)


Wir von SPD und Grünen sind dabei gewesen.


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Und wir!)


Hier sieht man, dass einfach nichts getan wurde.


(Patrick Döring [FDP]: Es gab keine Einigung in der Arbeitsgruppe! Das ist einfach gelogen!)


Wir haben ein Lebenspartnerschaftsgesetz Teil 1 und
Teil 2.


(Gisela Piltz [FDP]: Nur weil Sie es nicht auf die Reihe gekriegt haben! – Patrick Döring [FDP]: Sie kriegen es einfach nicht fertig! Genau!)


Die Trennung war notwendig, weil sich die CDU gewei-
gert hat, mitzumachen, das heißt, es konnten nur die
Pflichten beschlossen werden, aber nicht die Rechte.

Im Bundesrat ist das immer von der CDU verhindert
worden. Seit 1998 erlebe ich, dass CDU und CSU – ent-
weder in der Regierung, in der Koalition oder im Bun-
desrat – die Rechte von Schwulen und Lesben blockiert,
wo es geht.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721711700

Das gehört aber nicht mehr zur Beantwortung der

Frage. Wir befinden uns wieder in der Aussprache.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721711800

Ohne Not hat Frau Merkel im niedersächsischen

Landtagswahlkampf in ihren Wahlkampfreden gesagt:
Sie will keine Gleichstellung von Lesben und Schwulen.
Das ist peinlich, das ist beschämend, und das ist unan-
ständig. Das kann nicht die Politik dieser Koalition sein;
denn Sie haben einen Koalitionsvertrag, und im Koali-
tionsvertrag steht, dass Sie die steuerliche Gleichsetzung
von Lesben und Schwulen wollen.


(Patrick Döring [FDP]: Aber nicht zulasten Dritter!)


Sie setzen es aber nicht um.


(Patrick Döring [FDP]: Nicht zulasten Dritter!)


Nun hatten Sie es vorliegen. Man war sich, Herr Döring,
in allen Punkten einig, wie Sie eben von Frau Tillmann
gehört haben.


(Patrick Döring [FDP]: Nein! Das ist gelogen! Es gab keine Einigung in der Arbeitsgruppe!)


– Auch wenn Sie noch so laut brüllen, Herr Döring: Das
funktioniert nicht,


(Patrick Döring [FDP]: Sie sind lauter, weil Sie das Mikrofon haben!)






Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)


gegen mich schon einmal gar nicht.


(Patrick Döring [FDP]: Es gab keine Einigung in der Arbeitsgruppe!)


Deswegen haben Sie hier ein Problem. In der Sache
hätte die FDP etwas für Lesben und Schwule erreichen
können, aber sie hat es nicht getan.


(Patrick Döring [FDP]: Das ist einfach gelogen!)


Der Kollege Beck hat es freundlich formuliert: Der Ball
lag da, das Tor war nicht weit entfernt, es gab keinen
Torwart, und Herr Rösler hat trotzdem nicht verwandelt.
Er ist nicht einmal angelaufen, und das ist unanständig.

Wir haben erlebt, dass CDU und CSU die Gleichstel-
lung von Lesben und Schwulen nicht will, dass sie sie an
jeder Kurve und Kante blockiert. Dass die FDP das mit-
macht – und das, obwohl es sie nichts, aber auch gar
nichts gekostet hätte –, ist erstens unverständlich und
zweitens unanständig. Das passt nicht zu dem, was sie
sonst sagen.


(Patrick Döring [FDP]: So denken Sie also über die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland! Das spricht auch Bände! Zulasten Dritter!)


– Herr Döring, als Sprecher für Lesben und Schwule der
SPD-Bundestagsfraktion höre ich seit 1998 die Worthül-
sen der FDP. Heute haben Sie jede Berechtigung verlo-
ren, zu diesem Thema irgendetwas beizutragen.


(Patrick Döring [FDP]: Bestimmt nicht!)


Das, was Sie sagen, ist peinlich und falsch.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Dr. Barbara Höll [DIE LINKE] – Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Umfallerpartei! – Patrick Döring [FDP]: Nicht zulasten Dritter, Herr Kahrs!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721711900

Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem

Kollegen Dr. Volker Wissing.


(Zuruf von der CDU/CSU: Jetzt kommt mehr Sachlichkeit in die Debatte!)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1721712000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nachdem in dieser Debatte mehrfach wahrheitswidrig
behauptet worden ist, man habe sich in der Arbeits-
gruppe auf diese Punkte verständigt, möchte ich zur
Klarstellung hier Folgendes erklären: Ich finde es unge-
heuerlich, dass Sie das hier immer wieder behaupten. Es
gab keine Einigung! Insbesondere der Punkt „Ungleich-
behandlung von öffentlicher Hand und Privatwirtschaft
im Bereich der Grunderwerbsteuer“ wurde in den vorbe-
reitenden Gruppensitzungen, an denen ich teilgenom-
men habe, von mir immer wieder ausdrücklich streitig
gestellt. – Ich halte dies für ungeheuerlich.


(Joachim Poß [SPD]: „Ungeheuerlich“ ist Ihre Darstellung!)


Dass Sie das Jahressteuergesetz nach Ihren Vorstel-
lungen verändern wollten – Sie haben unglaublich
dreiste Forderungen, auch Steuererhöhungsforderungen,
gestellt –, war für uns nicht hinnehmbar. Wir hatten im
Vermittlungsausschuss noch viele andere Gesetzent-
würfe zu beraten. Ziel war immer, eine Einigung zu fin-
den. Sie haben ganz offensichtlich einen anderen Weg
vorgezogen, nämlich den, hier billigen Populismus zu
betreiben. Sie haben am Ende überraschenderweise die
Thematik der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Partnerschaften mit der Ehe bei der Einkommensteuer in
dieses Feld aufgenommen, obwohl es dort sachlich gar
nicht hineingehört,


(Dr. Barbara Höll [DIE LINKE]: Doch!)


und Sie haben Steuererhöhungen zur Bedingung für Ihre
Zustimmung gemacht, weil Sie genau wussten, dass die
FDP diese Steuererhöhungen von Anfang an abgelehnt
hat. Ich finde – ich sage das, weil Sie hier so lautstark
und selbstbewusst sprechen –, es wird den Menschen,
die sich in Deutschland nach einer Gleichstellung im Be-
reich der Einkommensteuer sehnen, nicht gerecht, wenn
man das so verknüpft, obwohl man genau weiß, dass
Steuererhöhungen hier nicht mehrheitsfähig sind. Wenn
Sie glauben, Sie könnten Steuererhöhungen auf so miese
Art und auf dem Rücken der Betroffenen durchsetzen,
dann irren Sie sich. Dann können Sie mit der Zustim-
mung der FDP nicht rechnen. Ich hätte mir gewünscht,
Sie hätten den Mut aufgebracht, den Menschen hier
deutlich zu sagen, was Sie im Vermittlungsausschuss tat-
sächlich betrieben haben. So, wie es in dieser Debatte
dargestellt worden ist, war es schlicht und einfach nicht.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721712100

Zur Erwiderung Kollege Kahrs.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721712200

Herr Wissing, die Verzweiflung in der FDP muss groß

sein.


(Gisela Piltz [FDP]: Über Sie schon!)


Frau Tillmann hat nun zweimal bestätigt, dass es in
der Sache eine Einigung gegeben hat,


(Antje Tillmann [CDU/CSU]: Es gab keine Einigung!)


mit Ausnahme der Gleichstellung von Lesben und Schwulen.


(Gisela Piltz [FDP]: Sie waren gar nicht dabei!)


– Es gab genug von uns, die dabei waren.


(Gisela Piltz [FDP]: Aber Sie nicht! Sie waren doch gar nicht dabei!)


Herr Meister hat die Einigung vorgetragen. Über den ei-
nen Punkt, der übrig blieb, kann man sich aufregen – ich
verstehe ja, dass CDU und CSU das nicht wollen –, aber
in allen anderen Punkten gab es eine Einigung. Das hat
Frau Tillmann hier zweimal bestätigt, alle Anwesenden
auch.





Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)



(Patrick Döring [FDP]: Aber nicht mit der FDP! Nicht mit uns!)


Die Verzweiflung muss wirklich groß sein. Ich finde
das bedauerlich, Herr Wissing. Sie sollten bei der Wahr-
heit bleiben. Dass die Schwulen und Lesben von der
FDP nichts zu erwarten haben, ist ab heute klar. Das ist
leider so.

Es tut mir wirklich leid für den Kollegen Kauch,
ernsthaft. Der Kollege Kauch rödelt seit Jahren für die-
ses Thema.


(Patrick Döring [FDP]: Und wir sind seiner Meinung! Wir unterstützen ihn!)


Dass Sie ihm so in den Rücken fallen, ist unanständig.


(Patrick Döring [FDP]: Das tut keiner!)


Das gehört sich nicht.


(Beifall bei der SPD – Joachim Poß [SPD]: Der FDP ist am Ende einfach die Stimme ausgefallen! Stimmlos! Tonlos!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721712300

Wir sind am Ende dieses Tagesordnungspunktes.

Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:

Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP

Steuerbeschlüsse der SPD sowie Steuererhö-
hungspläne des SPD-Kanzlerkandidaten und
ihre Auswirkungen auf Wachstum und Be-
schäftigung

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Dr. Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1721712400

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Unser Land verdankt es der Politik
der bürgerlichen Koalition und der Leistungsbereitschaft
seiner Arbeitnehmer und Unternehmer, dass es die viel-
fältigen Schwierigkeiten der Krisen gut gemeistert hat.

Sicherlich sind nicht alle Schwierigkeiten überwun-
den. Auch in diesem Jahr geht es um Aufschwung oder
Abschwung, um Wachstum oder Stillstand. Mit uns ste-
hen die Zeichen auf Wachstum und weiteren Wohlstands-
gewinn für unsere Menschen. Wir stehen für Auf-
schwungsdividende, Wachstum und Arbeitsplätze. Rot-
Grün dagegen mutet den Menschen Stillstand und sogar
Abschwung durch neue Steuererhöhungen zu. Das darf
es nicht geben, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Steuerbeschlüsse der SPD sind so etwas wie ein
Bußgeldkatalog für die arbeitenden Menschen, die Leis-
tungswilligen, die Mittelschicht und den gewerblichen
Mittelstand. Sie von Rot-Grün wollen den gefräßigen

Steuerstaat, den einkommenfressenden Staat, damit Sie
Ihre unsoziale und ungerechte Verteilungspolitik finan-
zieren können. Das unterscheidet uns. Wir trauen den
Menschen etwas zu und gönnen ihnen die Früchte ihrer
Leistung. Sie von Rot-Grün kennen nur eines: Bevor-
mundung der Bürger und Enteignung der Leistung durch
immer neue Steuern. Das ist der Unterschied zu unserer
Politik, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihnen fehlt die richtige Balance, die für ein erfolgreiches
und wettbewerbsfähiges Land notwendig ist. Wir wollen
Freiräume für die Menschen durch Entlastungen, soziale
Leistungen für Bedürftige und Konsolidierung der Haus-
halte. Dieser Dreiklang ist das Erfolgsrezept, mit dem
unser Land bisher sicher durch die gewiss schwierigen
Zeiten geführt wurde und auch weiter geführt werden
wird.

Im Dezember haben wir in der christlich-liberalen
Koalition um mehr Steuergerechtigkeit durch die Redu-
zierung der kalten Progression gerungen und natürlich
auch dafür geworben, für die Bekämpfung der Steuer-
hinterziehung eine Mehrheit zu bekommen. Gerade ha-
ben wir in der Debatte gehört, wie Sie das letzten Endes
umgekehrt haben. Sie nehmen eine gesellschaftliche
Gruppe als Werkzeug. Ich muss mich für diese Debatte
schämen, Herr Kahrs. Es ist unsäglich, was Sie mit die-
ser gesellschaftlichen Gruppe hier gemacht haben.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was haben Sie im Koalitionsvertrag? Menschen nennen Sie „Werkzeug“!)


Ist es – das sollten Sie sich einmal vor Augen halten –
an einem Staat gerecht, wenn der Fiskus das abkassiert,
was die Menschen durch ihre Leistung mehr verdienen?
Was ist gerecht daran, wenn Sie den Betrieben – vor al-
lem dem Mittelstand – mit Höchststeuerpolitik die Spiel-
räume für die Schaffung neuer Arbeitsplätze nehmen?
Was ist gerecht an einem Staat, der mit seiner Steuerpoli-
tik den Leuten die Arbeit nimmt? Nichts, gar nichts und
noch einmal nichts!

Sie von Rot-Grün müssen endlich einmal lernen: Die
Einkommen gehören zunächst den arbeitenden Men-
schen und sind – das ist so – nicht das politische Spiel-
geld von Rot-Grün.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihre Steuerpläne sind eindeutig. Sie wollen den Men-
schen 28 bis 40 Milliarden Euro mehr an Steuern abpres-
sen. Das sind Ihre Vorschläge. Die Leute müssen das er-
kennen.

Sie wollen den Steuertarif auf 49 Prozent erhöhen,
also jeden zweiten verdienten Euro vom Fiskus abkas-
sieren lassen. Weiter wollen Sie Ehepaare mit der Ab-
schaffung des Ehegattensplittings geradezu bestrafen.
Außerdem wollen Sie die kalte Progression verschärfen,
was nicht nur Spitzenverdiener trifft, sondern auch die
Masse der Facharbeiter, Angestellten, Freiberufler oder
mittelständischen Unternehmen. Bereits heute erbringen
diese Gruppen der Gesellschaft bzw. diese Steuerpflich-
tigen 95 Prozent des Einkommensteueraufkommens.





Dr. h. c. Hans Michelbach


(A) (C)



(D)(B)


Ich glaube, das Schlimmste bei Ihren Steuervorschlä-
gen ist die Substanzbesteuerung, die Sie aus ideologi-
schen Gründen mit der Erbschaftsteuer und der Vermö-
gensteuer vornehmen wollen. Dies trifft 80 Prozent der
mittelständischen Unternehmen in Deutschland, die Per-
sonengesellschaften sind. Das hat Auswirkungen auf das
Volksvermögen insgesamt. Substanzbesteuerung verhin-
dert Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzen
und damit letzten Endes die Entwicklung.

Deswegen kann ich nur sagen: Dies ist der verkehrte
Weg für unser Land. Ihr Kanzlerkandidat jongliert jetzt
mit Zahlen und sagt, wir hätten durch Steuerhinterzie-
hung 150 Milliarden Euro Steuerverluste. Dafür gibt es
keine Beweise. Das ist für mich reines Maulheldentum.
Das ist unsäglicher Sozialneidpopulismus.


(Zuruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD])


Das ist Sprechblasenpolitik.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weiter! Aber nicht platzen!)


Es setzt die Peinlichkeiten geradezu fort, wenn man aus
Populismus einfach eine Zahl in die Welt setzt und nicht
bereit ist, diese zu belegen.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721712500

Herr Kollege Michelbach.


Hans Michelbach (CSU):
Rede ID: ID1721712600

Herr Präsident, ich habe hier eine halbe Minute über-

zogen, aber ich war so in Fahrt. Entschuldigen Sie bitte.


(Renate Künast [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wohin fahren wir denn? – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Er ist betroffen!)


Ich kann nur sagen: Diese Steuerpolitik und diese
Steuerpläne von Rot-Grün dürfen in Deutschland nicht
umgesetzt werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721712700

Jetzt hat das Wort der Kollege Joachim Poß für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Joachim Poß (SPD):
Rede ID: ID1721712800

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sprach

zu uns gerade der Spezialist für Gespensterdebatten
Hans Michelbach.


(Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Ich dachte, das sind Sie!)


Ich glaube, das ist eine ausreichende Beschreibung der
Qualität Ihres Vortrags, Herr Michelbach. Ich persönlich
freue mich für Sie, dass Sie als erfolgreicher Mittel-
ständler die so schwierigen Regierungsjahre von Helmut
Kohl mit dem Spitzensteuersatz von 53 Prozent und mit
dieser schrecklichen Vermögensteuer überstanden ha-
ben. Dass Sie in diesen Kohl-Jahren so erfolgreich wa-
ren, ist für Sie sehr erfreulich.


(Beifall des Abg. Klaus Hagemann [SPD])


Wenn man die Realität mit dem, was Sie hier erzählt ha-
ben, kontrastiert, dann wird den Menschen deutlich, dass
es Ihnen nur um Diffamierung geht und nicht um eine
realistische Beschreibung der Lage.

Wir können festhalten: Wir haben zumindest ein Fi-
nanzkonzept für die nächsten Jahre. Wir haben Steuer-
pläne. Sie haben es in den letzten dreieinhalb Jahren
trotz einer Koalitionsvereinbarung nicht einmal ge-
schafft, sich überhaupt auf eine gemeinsame Wirt-
schafts- oder Steuerpolitik zu einigen. Sie haben über-
haupt nichts bewegt. Sie haben noch nicht einmal eine
Reform der Mehrwertsteuer hinbekommen. Hinbekom-
men haben Sie nur die berühmte zusätzliche Ausnahme
für die Hoteliers. Das war Ihre Steuerpolitik der letzten
dreieinhalb Jahre.


(Beifall bei der SPD)


Wer eine solche erbärmliche Bilanz vorzuweisen hat, der
sollte hier wirklich nicht die Backen aufblasen, wie Herr
Michelbach es getan hat und andere es sicherlich wieder-
holen werden.

Wir befinden uns in einer ganz bestimmten wirt-
schaftlichen und finanziellen Ausgangssituation. Dazu
gehört, dass in den Ländern und Kommunen die Decke
überall und damit insgesamt zu kurz ist. Der Investitions-
stau in den Kommunen ist mittlerweile auch für die Bür-
gerinnen und Bürger – von den Kleinkindern bis zu den
Senioren – deutlich zu spüren.

Dass unsere Bildungsausgaben nicht ausreichend
sind, bekommen wir Jahr für Jahr auch von der OECD
bescheinigt.

Es muss doch allen klar sein: Die Kommunen vor Ort
haben wesentliche Leistungen zu erbringen, die mit über
die Lebensqualität der Menschen entscheiden. Wir brau-
chen ein gutes Bildungssystem und einen modernen So-
zialstaat als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Er-
folg Deutschlands.

Ihre letzten Regierungsjahre haben uns und Ihnen ge-
zeigt, dass sich das alles durch Einsparungen an anderer
Stelle offenkundig nicht finanzieren lässt; Sie hatten die
Gelegenheit dazu. Daher müssen wir auch andere Maß-
nahmen ins Auge fassen. Was haben Sie denn in Wirk-
lichkeit gemacht? Sie haben in guten Zeiten weiter auf
Pump gewirtschaftet und trotzdem die Infrastruktur ver-
kommen lassen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.


(Beifall bei der SPD)


Nach der Regierungsübernahme im September wol-
len wir nicht so weitermachen. Insofern sind maßvolle
Steuererhöhungen notwendig, und zwar nicht für alle,
sondern nur für Spitzenverdiener und Vermögende. Das
ist auch gerechtfertigt, wenn man sich anschaut, wie sich
das Einkommensgefälle und auch die Unterschiede bei
Vermögen in den letzten Jahrzehnten – es ist keine kurz-
fristige Entwicklung – entwickelt haben. Das heißt, die
soziale Spaltung in Deutschland hat dramatisch zuge-
nommen. Deswegen müssen diejenigen mit den beson-
ders starken Schultern – dies entspricht auch dem Ver-





Joachim Poß


(A) (C)



(D)(B)


fassungsgebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichen
Leistungsfähigkeit – ein wenig mehr zur Finanzierung
des Gemeinwesens beitragen. Das ist zur Gestaltung der
weiteren positiven Entwicklung in der Bundesrepublik
Deutschland wirtschaftlich vertretbar und sozial notwen-
dig. Es besteht überhaupt kein Anlass, diese Vorhaben so
zu diffamieren, wie es von Ihrer Seite und von einigen
Wirtschaftsverbänden getan wird. Sie sollten sich der
Realität, die im Armuts- und Reichtumsbericht beschrie-
ben ist, stellen. Die Realität passte Ihnen aber nicht. Also
haben Sie Ihren Armuts- und Reichtumsbericht manipu-
liert und das, was Ihnen nicht gepasst hat, gestrichen.
Anstatt Ihre Steuerpolitik zu ändern, versuchen Sie, die
Realität anders darzustellen. Das ist die Methode von
Schwarz-Gelb. Damit muss Schluss sein.


(Beifall bei der SPD)


Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruch
darauf, dass wir uns den vielfältigen Herausforderungen
in unserer Gesellschaft stellen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: Aha! Haben Sie deshalb dem Abbau der kalten Progression nicht zugestimmt?)


Das tun wir, auch mit unseren Steuerplänen und unseren
Finanzierungsvorschlägen. Wir fordern Sie zu einer kon-
struktiven Diskussion auf. Mit Realitätsverweigerung ist
niemandem gedient.


(Beifall bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Ach, echt? Sie machen das doch die ganze Zeit vor! – Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Verhaltener Applaus bei der SPD!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721712900

Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Volker

Wissing das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Volker Wissing (FDP):
Rede ID: ID1721713000

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Verzweiflung bei der SPD muss sehr groß sein,


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Riesengroß!)


wenn Herr Poß sich noch nicht einmal traut, hier über
das zu sprechen, was Herr Steinbrück vorgeschlagen hat.


(Joachim Poß [SPD]: Über was denn?)


Er hat nämlich nicht vorgeschlagen, die Steuern nur für
ganz Vermögende zu erhöhen, sondern er hat vorge-
schlagen, sie auch für Facharbeiter und die Mitte in
Deutschland zu erhöhen.


(Dr. Daniel Volk [FDP]: So ist es!)


Für den Mittelstand will Herr Steinbrück also die Steuern
erhöhen. Aber das traut sich die SPD im Deutschen Bun-
destag nicht zu sagen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was ist das für ein Quatsch!)


Heimlich wollen Sie das machen, weil Sie wissen, dass
die Öffentlichkeit Sie dafür abstrafen wird, und zwar zu
Recht.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Können Sie das mal erläutern?)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerecht wäre es
doch gewesen, im Bundesrat dem Abbau der kalten Pro-
gression zuzustimmen,


(Dr. Daniel Volk [FDP]: So ist es!)


damit hart erarbeitete Lohnerhöhungen bei den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern ankommen. Stattdes-
sen haben Sie zu einem gerechteren Steuertarif für un-
tere und mittlere Einkommen Nein gesagt. Ja, Sie haben
den Tarifverlauf mit Ihrer Macht im Bundesrat sogar
verschlechtert und ihn gestaucht. So haben Sie dafür ge-
sorgt, dass der Anstieg für die untersten Einkommen
steiler wird. Herr Kollege Poß, ich wiederhole es: für die
untersten Einkommen! Das ist die größte Ungerechtig-
keit bei der Einkommensteuer, die in den letzten Jahren
von einer Partei auf den Weg gebracht worden ist. Das
ist sozialdemokratische Realpolitik: Abkassieren bei den
untersten Einkommen in Deutschland.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Sie lügen doch, wenn Sie den Mund aufmachen!)


Gerecht wäre es gewesen, dem Steuerabkommen mit
der Schweiz zuzustimmen, damit dort künftig gleich
hohe Kapitalertragsteuern fällig werden wie in Deutsch-
land.


(Beifall der Abg. Gisela Piltz [FDP])


Ich frage Sie: Warum sollten Kapitalerträge in der
Schweiz anders als in Deutschland oder gar nicht besteuert
werden? Sie aber haben dazu Nein gesagt – das war billi-
ger Populismus – und in Kauf genommen, dass der ehr-
liche Steuerzahler in Deutschland die Milliardenlücken,
die Steuerhinterzieher hinterlassen, füllen muss.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Na, na, na!)


Sie haben zu verantworten, dass Steuersünder unbestraft
und auch noch völlig kostenlos davonkommen, weil die
Straftaten und die Steuerschuld verjähren. Man muss
sich das einmal vorstellen: Jeder Steuerhinterzieher wäre
von diesem Abkommen erfasst worden, und zwar lücken-
los. Aber die SPD sagt dazu Nein und mutet den Arbeit-
nehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland zu, die
Lücke, die dadurch entsteht, zu füllen. Das ist Ungerech-
tigkeit hoch zehn.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Es wäre auch gerecht gewesen, wenn Sie nur ein ein-
ziges Mal in dieser Legislaturperiode an die Mitte in
Deutschland gedacht hätten, statt immer wieder Einkom-
mensteuererhöhungen für diese Gruppe zu fordern. Die
Vorschläge von Herrn Steinbrück – die FU Berlin hat das
berechnet – würden für Facharbeiter und mittlere Unter-
nehmen zu einer Mehrbelastung in Höhe von 11 bis
12 Prozent führen. Diese Forderungen hätten Sie hier





Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


verteidigen sollen, Herr Kollege Poß. Aber Sie wollen
sie verheimlichen. In Wahrheit wollen Sie an die Kasse
der Mitte: der Facharbeiterinnen und Facharbeiter und
des Mittelstands. Um das deutlich zu machen, haben wir
eine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie wissen, dass Sie die Unwahrheit sprechen!)


Was Deutschland sicherlich nicht hat, liebe Kollegin-
nen und Kollegen, ist ein Steuersystem mit zu niedrigen
Steuersätzen. Die Kasse des Finanzministers ist heute
voller als jemals zuvor. Die Kasse des deutschen Finanz-
ministers ist auch voller als die Kasse der Finanzminister
aller anderen europäischen Länder, und das, obwohl
diese die Steuersätze zum Teil erheblich angehoben ha-
ben. Es gilt nämlich eine Kette, die Sie den Menschen
immer wieder verschweigen: Maßvolle Steuersätze lö-
sen Wachstum aus, Wachstum führt zu hohen Steuerein-
nahmen, und Wachstum reduziert zugleich die Staatsaus-
gaben, weil die Zahl der Beschäftigten zu- und die Zahl
der Transferleistungsempfänger abnimmt. So machen
wir erfolgreiche Politik. Erfolgreiche Politik macht man
aber nicht, indem man den Menschen ohne ersichtlichen
Grund in die Tasche greift, wie Sie es vorhaben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Der Tagesspiegel schrieb Ende Dezember 2012 über
die Steuerpläne von Herrn Steinbrück folgenden Satz:

Wenn er wirklich meint, was er sagt, will er eine an-
dere Republik.

Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, trifft den Nagel
auf den Kopf. Aber was für eine Republik wollen Sie
von der SPD? So eine wie in Frankreich? Eine Republik,
die von Ratingagenturen herabgestuft wird? Eine Repu-
blik mit steil ansteigender Jugendarbeitslosenquote und
immer leereren Staatskassen? Eine Republik, um die In-
vestoren einen Bogen machen und die Wohlhabende ver-
lassen, anstatt in ihrem Heimatland zu investieren? Das
wollen Sie offenbar. Dass die Herren Gabriel, Steinmeier
und Steinbrück nach Frankreich gefahren sind und Herrn
Hollande für seine Steuererhöhungspläne die Glückwün-
sche der deutschen Sozialdemokratie überbracht haben,
hat das eindrucksvoll demonstriert.

Wir sagen: Das ist geballte Ungerechtigkeit, und da-
vor wollen wir Deutschland bewahren.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Karin Binder [DIE LINKE]: „Ungerechtigkeit“ – wissen Sie überhaupt, was das Wort bedeutet?)


Eine solche Politik – das haben die Sozialdemokraten
immer noch nicht verstanden – ist Unsinn. Sie erzählen
den Menschen Unsinn und schüren Neiddebatten, die
unsere Gesellschaft spalten, anstatt dass wir die Kräfte
bündeln.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das zeigt zu deutlich, was Ihr Geist ist!)


Die Rheinische Post kommentiert die Lage in
Deutschland wie folgt – ich zitiere –:

Dennoch zeigt ein positiver Finanzierungssaldo bei
schwierigem außenwirtschaftlichen Umfeld vor al-
lem eines: Das Land braucht offenkundig keine
Steuererhöhungen. SPD und Grüne liegen falsch.

Schöner und klarer kann man es nicht ausdrücken, liebe
Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Joachim Poß [SPD]: Wer sagt das? – Gegenruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD]: Die Rheinische Post!)


Während Sie durch dieses Land ziehen und den Men-
schen einreden, der Staat müsse eine Vermögensabgabe,
eine Vermögensteuer, höhere Einkommen- und Kapital-
ertragsteuern einführen, während Sie auf Ihren Partei-
tagen höhere Erbschaftsteuern beschließen und im
Bundesrat über die kalte Progression heimliche Steuerer-
höhungen durchsetzen, in dieser Zeit schaffen CDU,
CSU und FDP es trotz laufender Krise und in einem
wahrhaft schwierigen außenwirtschaftlichen Umfeld,
ohne Steuererhöhungen auszukommen und auch noch
einen Etatüberschuss vorzulegen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Ihr macht halt Schulden!)


Das ist der Unterschied zwischen Ihrer schlechten Poli-
tik und unserer Politik.


(Joachim Poß [SPD]: Jetzt muss sich Herr Wissing schon auf die Rheinische Pest abstützen!)


Was wir leisten, ist Gerechtigkeit gegenüber den hart
arbeitenden Menschen in unserem Land. Das ist der Weg
zum Erfolg aller in einer sozialen Marktwirtschaft:
höhere Investitionen in Bildung und Forschung, mehr
Wachstum, mehr Beschäftigung und weniger Schulden.

Als wir im Rahmen der Föderalismuskommission II
die Schuldenbremse beschlossen und uns darauf verstän-
digt haben, dass der Bund im Jahr 2016 bei der Neuver-
schuldung die Grenze von 0,35 Prozent des Bruttoinlands-
produkts einhalten muss, haben viele gesagt: Das schafft
ihr nie, das ist unmöglich. – Ich kann mich noch an die
Presseartikel erinnern. Es hieß überall: Da gibt es eine
Ausnahme, und am Ende werden sie versuchen, über die
Ausnahme doch höhere Schulden zu machen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Koalition hat
ohne Steuererhöhungen die Grenze von 0,35 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts, wie sie im Grundgesetz steht, be-
reits 2012 eingehalten. Trotz laufender Finanzkrise und
höheren Investitionen in Bildung und Forschung haben
wir die Schuldenbremse in diesem Punkt vier Jahre frü-
her eingehalten als ursprünglich vorgesehen. Hören Sie
auf, dem Land einzureden, dass wir Steuererhöhungen
brauchten! Das ist absurd, und Sie wissen es besser: Man
darf den Menschen nicht in die Tasche greifen; denn das
würde das Wachstum abwürgen und eine erfolgreiche
Politik beenden.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Dr. Volker Wissing


(A) (C)



(D)(B)


Die Steuererhöhungen, die Sie anpeilen, liebe Kolle-
ginnen und Kollegen, sind der falsche Weg; sie sind
ebenso überflüssig wie ungerecht. Durch Ihre Weige-
rung, im Bundesrat mitzuarbeiten, sind Sie schuld daran,
dass sich die kalte Progression zulasten der Arbeitneh-
mer verschärft. Aber dass Ihre Politik an der Lebens-
wirklichkeit der Menschen vorbeigeht, wundert einen
schon nicht mehr; denn als Ihr Parlamentarischer Ge-
schäftsführer Oppermann gefragt wurde, wo denn die
zweite Wohnzimmerrede von Herrn Steinbrück statt-
finde, hat er spontan festgestellt, dass dieser Bürger na-
türlich kein Sozialdemokrat, sondern ein Mann aus dem
Leben sein werde. – Herzlichen Glückwunsch, Sie haben
den Unterschied verstanden.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721713100

Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens von der

Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Herbert Behrens (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721713200

Werter Genosse und Kollege – nein, Genosse ist

falsch: Werter Kollege Wissing,


(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU, der SPD, der FDP und des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


wir haben völlig unterschiedliche Vorstellungen von Ge-
rechtigkeit; das haben Sie eben noch einmal ausgespro-
chen deutlich gemacht. Sie sagen: Wenn es Maßnahmen
gibt, die dazu beitragen, das Steueraufkommen zu er-
höhen, wenn es Maßnahmen gibt, die dazu beitragen, die
Beschäftigung zu erhöhen, dann sei das der einzige
Maßstab.

Das ist falsch. Wir müssen uns nur anschauen, was
Sie mit Ihrer Politik verursacht haben. In dem Entwurf
Ihres eigenen Armuts- und Reichtumsberichts stand zu-
nächst – Sie haben das später herauskorrigiert –, dass die
Schere zwischen Arm und Reich in diesem Lande dra-
matisch auseinandergeht, dass es auf der einen Seite eine
Konzentration von Vermögen in den Händen weniger
gibt und auf der anderen Seite eine große Zahl von ar-
men Menschen, die ihr Leben nicht so gestalten können,
wie sie es gerne möchten. Insofern kommt es schon da-
rauf an, dass wir nicht nur auf die wirtschaftliche Ent-
wicklung schauen, sondern eben auch darauf, wie es um
die Steuergerechtigkeit bestellt ist.

Die SPD hat ihr Konzept vorgelegt – der Kollege Poß
hat davon gesprochen –, und die Regierung ist tief ge-
troffen von diesem Konzept. Ich kann das nicht in Gänze
teilen.

Wir wissen, am Sonntag wird in Niedersachsen ge-
wählt. Darum ist vieles von dem, was hier gesprochen
wird, auch unter diesem Aspekt zu sehen. Im Herbst
steht dann die Frage an, ob Rot-Grün künftig die politi-
schen Maßstäbe setzen kann oder ob es weiter einen de-
saströsen schwarz-gelben Kurs geben soll. Deshalb wird
es nötig sein, dass wir nicht nur einen kurzen Blick zu-

rückwerfen, sondern uns einmal die gesamte Entwick-
lung angucken, die wir hier in den letzten Jahren erlebt
haben.

Gucken wir uns aber auch Ihre Steuerpolitik an, liebe
Kolleginnen und Kollegen der SPD. Vor vielen Jahren
– vielen Menschen ist das aber noch ganz präsent – hat
die Agenda 2010 dazu beigetragen, dass Grundannah-
men einer demokratischen, solidarischen Gesellschaft in
Deutschland aufgehoben worden sind.

Sie wollten mit Ihrer Steuerpolitik beispielsweise
dazu beitragen, dass die Bundesrepublik Deutschland
hinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung im Ver-
gleich zu anderen Ländern das am besten für den gna-
denlosen Wettbewerb aufgestellte Land ist. Sie haben
den Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent ge-
senkt. Sie haben den Körperschaftsteuersatz von 40 Pro-
zent zunächst auf 25 Prozent und später auf 15 Prozent
gesenkt. Sie haben eine Niedriglohnpolitik betrieben, Sie
haben Minijobs und Leiharbeit befördert, und Sie haben
zu insgesamt – ich addiere die Zahlen von 1999 bis zum
Jahr 2013 – 490 Milliarden Euro an Steuerminderein-
nahmen beigetragen. Innerhalb eines Zeitraums von
14 Jahren haben Sie Steuermindereinnahmen von fast
500 Milliarden Euro zu verantworten, die für staatliche
Ausgaben zur Verfügung stehen könnten.

Das soll mit dem Kanzlerkandidaten Steinbrück wie-
der anders werden. Er kennt sich ja aus, war er doch
auch maßgeblich an dieser Politik beteiligt.

Sie sagen jetzt, die Schieflage in der Gesellschaft
solle beseitigt und die große Kluft zwischen Arm und
Reich wieder geschlossen werden. Na ja, ein bisschen je-
denfalls; denn die steuerpolitischen Vorschläge der SPD
werden nicht dazu beitragen, dass die grundlegenden
Fehler der vergangenen Jahre korrigiert werden.

Wir als Linke haben uns die realen Auswirkungen
dieser Steuersenkungspolitik und in diesem Zusammen-
hang auch die Einnahmeverluste für Niedersachsen
angeschaut. In einem Gutachten wird festgestellt, dass
diesem Land jedes Jahr 2 Milliarden Euro an Steuerein-
nahmen fehlen, mit denen eine vernünftige, soziale Poli-
tik gemacht werden könnte. Den Kommunen fehlt
zusätzlich 1 Milliarde Euro, mit der die hier vielfach be-
sprochenen Maßnahmen für die Bildung der Kinder und
für bessere Chancen der Kleinsten und Schwächsten un-
serer Gesellschaft bezahlt werden könnten.

Wir legen dagegen Vorschläge vor, mit denen den
Ländern wirksam geholfen werden könnte. Unsere Vor-
schläge würden dazu beitragen, dass dem Land Nieder-
sachsen pro Jahr 3,6 Milliarden Euro mehr zur Verfü-
gung stehen. Wir fordern auf der Bundesebene eine
Finanzpolizei, die in der Lage ist, Steuerhinterziehung,
Subventionsbetrug und auch Geldwäsche wirklich wirk-
sam zu verhindern.

Ja, wir wollen die Erhöhung des Spitzensteuersatzes,
weil die Starken der Gesellschaft für die Schwachen der
Gesellschaft eintreten müssen. Wir fordern eine Vermö-
gensteuer, die den Namen verdient und auch rechtskon-
form ist. Wir wollen dafür sorgen, dass die Schwächeren
in dieser Gesellschaft wirklich in der Lage sind, ein ver-





Herbert Behrens


(A) (C)



(D)(B)


nünftiges Leben zu führen. Dazu gehören insbesondere
die Kinder, die eine gute Bildung, gute Lehrkräfte und
auch gute Schulen brauchen.

Das geht nur, wenn wir eine Finanzpolitik machen,
die auch die Kommunen stärkt und dazu führt, dass diese
Bildungseinrichtungen finanziert werden können.

Vielen Dank.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721713300

Jetzt hat das Wort die Kollegin Kerstin Andreae für

Bündnis 90/Die Grünen.


Kerstin Andreae (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721713400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

Aktuellen Stunden, die die Koalition beantragt, sind
manchmal auch dazu da, andere Aktuelle Stunden zu
verdrängen. Ehrlich gesagt: Bei der Showdebatte, die
wir hier gerade führen, habe ich den Eindruck, dass Sie
irgendetwas gesucht haben, über das wir heute reden
können, damit an diesem Donnerstag auch ja alles Ihren
Vorstellungen entspricht.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sind Ihre Vorschläge keine Realität? – Joachim Poß [SPD]: Jetzt ist der Michelbach kurz vor dem Herzinfarkt!)


Deswegen reden wir jetzt eben zum vielfachen Male
über Steuerpolitik und sind Teil der von Ihrer Seite initi-
ierten Show.

Sie sagen, die Steuereinnahmen reichen aus. Deshalb
würde mich einmal interessieren: Wo bleibt eigentlich
die steuerliche Forschungsförderung, von der Sie sagen,
dass Sie sie nicht bezahlen können? Dann würde mich
einmal interessieren, warum Sie den Rechtsanspruch für
Kinderbetreuung nicht umsetzen können. – Weil Sie es
nicht bezahlen können.


(Zuruf vom BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Genau!)


Dann würde mich einmal interessieren, warum die Kom-
munen 48 Milliarden Euro Kassenkredite aufgenommen
haben, um das laufende Geschäft zu finanzieren.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Gisela Piltz [FDP]: Weil Sie sie belastet haben!)


Dann würde mich einmal interessieren, wie Sie den In-
vestitionsstau in den Griff bekommen wollen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der Staat ist doch nicht dafür da, um Ihre Spielwiese zu bezahlen!)


Schließlich würde mich interessieren, warum Sie zwi-
schen 2009 und 2013 100 Milliarden Euro neue Schul-
den aufgenommen haben, wenn Sie sagen, die Steuerein-
nahmen reichten aus. Nein, anscheinend reichten sie
nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Es wird bei Ihnen nie reichen!)


– Oh, aber wir stellen uns dem.


(Gisela Piltz [FDP]: Man muss Vergangenheit und Gegenwart unterscheiden!)


Deswegen – und da können wir wirklich in eine ernst-
hafte Debatte kommen – glaube auch ich, dass jede Steu-
ererhöhung hinterfragt und auch gut begründet werden
muss. Steuererhöhungen sind nicht dazu da, damit wir
alles machen können. Wir dürfen nicht sagen, wir drehen
einfach einmal die Schraube, damit wir mehr Mittel ha-
ben.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Machen Sie doch! Sie machen doch das Abkassieren, Frau Kollegin!)


Deswegen steht vor theoretischen Steuererhöhungen:
Erstens. Unsinnige Ausgaben wie Hotelsteuer, Betreu-
ungsgeld müssen weg; das sind Sachen, die uns jedes
Jahr Milliarden Euro kosten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Zweitens. Subventionen müssen abgebaut werden. Ge-
hen Sie doch endlich einmal an die ökologisch schädli-
chen Subventionen. Dann täten Sie ja noch etwas für die
Umwelt. Erst dann geht es um die Frage: Welche Ein-
nahmen kann und soll man verbessern? – Da sind zwei
Sachen zu berücksichtigen.

Der eine Punkt ist gerechte Besteuerung nach der
Leistungsfähigkeit. Die Vorrednerin – nein, es waren ja
nur Männer; nach mir sind es auch nur Männer –, also
die Vorredner haben klar gesagt: Wir haben ein unge-
rechtes Steuersystem. Die hohen Einkommen werden,
relativ gesehen, weniger belastet als die niedrigen Ein-
kommen.


(Olav Gutting [CDU/CSU]: Hä? – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Was heißt das denn? Was ist das für eine Mathematik: Die zahlen relativ weniger?)


Deswegen muss man bei den Themen Einkommensteuer
und Spitzensteuer noch einmal genau schauen.


(Zurufe von der CDU/CSU)


Liebe Union – bei der FDP brauche ich es nicht zu sa-
gen –, ich würde den Mund nicht so voll nehmen. Ich
sage Ihnen: Es ist ganz egal, wer nach 2013 regiert.


(Zuruf von der CDU/CSU: Sie nicht!)


Ich bin mir ganz sicher, es wird nach 2013 eine Erhö-
hung des Spitzensteuersatzes geben, auch unter Ihnen
– also Vorsicht bei dem, was Sie hier versprechen, Vor-
sicht! –, weil die Mittel nicht ausreichen


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


und weil Sie Infrastruktur nicht mehr finanzieren kön-
nen.


(Klaus-Peter Flosbach [CDU/CSU]: Das genau stimmt überhaupt nicht!)


Der zweite Punkt. Man muss an den Mittelstand den-
ken.





Kerstin Andreae


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Den wollen Sie besonders schröpfen!)


Es ist absolut richtig: Personengesellschaften zahlen
Einkommensteuer, und deswegen spielt jede Frage der
Einkommensteuer auch immer bei den Personengesell-
schaften eine Rolle.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Und bei der Erbschaftsteuer und bei der Vermögensteuer!)


Da geht es um die Frage: Was ist mit einbehaltenen Ge-
winnen? Kriege ich attraktivere Gestaltungsmöglichkei-
ten bei Thesaurierung hin? Habe ich das im Blick? Ist
mir das klar? Und wie ist es mit der Substanzbesteue-
rung? Das grüne Konzept der Vermögensabgabe


(Norbert Schindler [CDU/CSU]: Aua! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU)


– dann lesen Sie es halt einmal durch! – ist ein Konzept,
das ganz klar Substanzbesteuerung ausschließt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Diese Vermögensabgabe fällt nämlich nur an, wenn auch
Ertrag fließt.


(Widerspruch bei der CDU/CSU)


– Ja, das ist ein großer Unterschied. Das müssten Sie
sich vielleicht einmal anschauen.

Sie werden um die Frage des Schuldenabbaus – da-
rüber habe ich heute Morgen länger geredet – nicht he-
rumkommen. Sie schlagen kein Konzept vor, wie wir die
Schulden abbauen; wir schlagen ein Konzept vor. Wenn
Sie etwas anderes auf den Tisch legen, können wir ja da-
rüber reden. Das Problem ist nur, dass Sie nichts auf den
Tisch legen, wir aber mit der Vermögensabgabe ein Kon-
zept haben.

Jetzt noch die Erbschaftsteuer. Natürlich werden wir
an die Erbschaftsteuer heran müssen, allein schon des-
wegen, weil der Bundesfinanzhof sagt: Sie ist verfas-
sungswidrig.


(Christian Freiherr von Stetten [CDU/CSU]: Das entscheidet immer noch das Bundesverfassungsgericht! – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Nicht die Grünen!)


Wir werden uns über die Frage, wie die Erbschaftsteuer
in Zukunft aussieht, Gedanken machen, und ein ganz
großer Punkt dabei ist die Gerechtigkeitsfrage. Wenn
nun einmal 1 Prozent aller Erben 25 Prozent des gesam-
ten Vermögens erbt, dann ist das zumindest einmal eine
Schieflage, über die man nachdenken kann. Meistens
sind es dann auch noch Kinder, deren Eltern die Mög-
lichkeit hatten, ihnen gute Chancen zu ermöglichen, bei
denen Startchancen gegeben waren, bei denen Bildungs-
möglichkeiten gegeben waren. Gleichzeitig sagen alle:
Wir wollen Startchancen für alle,


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Der schafft mit seinem Kapital doch Arbeit!)


wir wollen höhere Gerechtigkeit, wir wollen Durchläs-
sigkeit im System, wir wollen, dass Bildung unabhängig
vom Geldbeutel der Eltern wird.

Vor diesem Hintergrund werden Sie die Frage thema-
tisieren müssen: Ist es sinnvoll, die Erbschaftsteuer zu
erhöhen und mit diesen Mitteln zum Beispiel Bildungs-
ausgaben zu finanzieren? Wir sagen: Ja, das ist sinnvoll.
Wir brauchen mehr Mittel für die Bildung. Das Kapital,
das wir in Deutschland haben, ist Wissen und Bildung.
Das ist unterfinanziert. Hier bedarf es mehr Mittel, und
deswegen die Erbschaftsteuer.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721713500

Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Olav Gutting (CDU):
Rede ID: ID1721713600

Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!

Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir
haben in Deutschland im abgeschlossenen Jahr seit lan-
ger Zeit wieder einen vollständig ausgeglichenen Staats-
haushalt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Mitten in der europäischen Schuldenkrise ist es unter der
Führung von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble ge-
lungen, dass die Kassen von Bund, Kommunen, Ländern
und Sozialversicherungen zusammengerechnet ohne De-
fizit auskommen. Wir haben im abgelaufenen Jahr Re-
kordsteuereinnahmen von über 600 Milliarden Euro. In
dieser Situation fällt Rot-Grün – den Linken sowieso –
nichts anderes ein, als nach weiteren Steuererhöhungen
zu rufen.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist das!)


Schauen wir uns die einzelnen Punkte einmal an. Sie
sprechen von einer Erhöhung der Einkommensteuer um
7 Prozentpunkte. Sie sagen, es gehe nur um den Spitzen-
steuersatz, Sie wollten damit nur die Reichen treffen.
Aber Sie führen damit die Menschen hinter die Fichte.
Wir haben in Deutschland nämlich einen linear-progres-
siven Tarif. Wir haben einen Eingangssteuersatz und ei-
nen Spitzensteuersatz. Dazwischen steigt die Kurve zu
Recht mit steigenden Einkommen an. Wenn aber nun der
Spitzensteuersatz erhöht wird, dann steigt die ganze
Kurve viel steiler an.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Sehr richtig! – Zuruf des Abg. Dr. Axel Troost [DIE LINKE])


Es bildet sich ein Delta, das dazu führt, dass Sie gerade
auch die mittleren Einkommen, die Facharbeiter, belas-
ten und nicht nur die Reichen, wie Sie vorgeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Joachim Poß [SPD]: Sie sehen Gespenster! – Weiterer Zuruf von der SPD: Das stimmt doch nicht!)






Olav Gutting


(A) (C)



(D)(B)


Nicht genug also, dass Sie mit der rot-grünen Mehr-
heit im Bundesrat den hart arbeitenden Menschen in die-
sem Land eine Entlastung bei der kaltem Progression
versagen, nicht genug, dass Sie die Arbeitnehmerinnen
und Arbeitnehmer in diesem Land, gerade mit mittleren
und niedrigen Einkommen, voll in die heimliche Steuer-
erhöhung der kalten Progression laufen lassen: Nein, das
ist nicht genug. Sie bringen es mit Ihren Steuerplänen
– Erhöhung der Einkommensteuer, Wegfall des Ehegat-
tensplittings – sogar fertig, aus dem Mittelstand, den
Facharbeitern, zusätzlich 28 Milliarden Euro herauszu-
pressen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer hat denn die Mehrwertsteuer 2005 erhöht, obwohl er es vorher verneint hatte?)


Rot-Grün hat in seiner Regierungszeit zu Recht die
Einkommensteuer reformiert. Sie haben den Spitzen-
steuersatz dem internationalen Niveau angepasst.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir haben aus Fehlern gelernt!)


Sie haben das damals richtig begründet; ich zitiere Ihre
Begründung. Sie haben das damals zur Stärkung der
Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ge-
macht. Sie haben das zur Förderung von Wachstum und
Beschäftigung gemacht. Sie haben das für mehr Steuer-
gerechtigkeit, mehr Transparenz und Planungssicherheit
gemacht.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Schröder lässt grüßen!)


Sie haben das als Steuerentlastung für Arbeitnehmer, Fa-
milien und Unternehmen gemacht. Das war Ihre Begrün-
dung für Ihre Einkommensteuerreform.


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: 53 Prozent waren zu hoch!)


All das gilt jetzt nicht mehr. Jetzt geht es Ihnen nur noch
darum, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Das
machen wir nicht mit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Joachim Poß [SPD]: Auf 53 Prozent wollen wir nicht zurück!)


Sie behaupten, Sie wollten die Reichen schröpfen, aber
Sie treffen mit Ihren Maßnahmen vor allem den Mittel-
stand und vor allem die Arbeitnehmer.

Das Perfide an der ganzen Geschichte ist: Gleichzei-
tig blockieren Sie im Bundesrat Maßnahmen, die zu
mehr Steuergerechtigkeit führen. Sie stellen ein Konzept
gegen Steuerhinterziehung vor und sorgen gleichzeitig
dafür, dass eine wirksame Verfolgung von Steuerflücht-
lingen nicht möglich ist.


(Maria Klein-Schmeink [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist anders!)


Wenn Sie Ihre Vorschläge ernst meinen würden, dann
hätten wir in diesem Land seit zwei Wochen eine Rege-
lung mit der Schweiz, nach der keiner mehr aus

Deutschland sein Geld illegal in die Schweiz bringen
könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Aber Sie blockieren das genauso wie das Jahressteuerge-
setz.

Wir wollten mit dem Jahressteuergesetz das soge-
nannte Goldfinger-Steuersparmodell austrocknen, ein
Steuersparmodell, mit dem vor allem Spitzenverdiener
ihre Steuerlast senken können. Was macht Rot-Grün im
Bundesrat? Dreimal dürfen Sie raten: Blockieren, blo-
ckieren, blockieren!


(Dr. Birgit Reinemund [FDP]: Anwalt der Steuerhinterzieher!)


Meine Damen und Herren, angesichts dieser Verhin-
derungspolitik frage ich Sie: Wer soll Ihnen da den von
Ihnen angekündigten Kampf gegen Steuerhinterzieher
abnehmen? Sie von der Opposition, insbesondere von
der SPD, sind mit diesen Ankündigungen genauso un-
glaubwürdig wie Ihr Kanzlerkandidat, der bis heute
nicht verstanden hat, dass es in der Politik nicht ums
Verdienen geht, sondern ums Dienen.


(Zuruf von der SPD: Ist das albern!)


Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721713700

Der Kollege Dr. Carsten Sieling hat das Wort für die

SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Carsten Sieling (SPD):
Rede ID: ID1721713800

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Ich möchte mich in dieser Aktuellen Stunde erst einmal
bei der Koalition bedanken,


(Zuruf von der FDP: Bitte! Bitte!)


nämlich dafür, dass Sie uns die Gelegenheit geben – das
Thema sagt es schon deutlich –, Ihnen die Steuerbe-
schlüsse der SPD im Deutschen Bundestag zu erläutern
und nahezubringen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So kann man es auch sagen! – Dr. Volker Wissing [FDP]: Sie tun es ja nicht! Sie reden nur drumherum! Reden Sie mal über Ihre Vorschläge für niedrige Einkommen!)


Das ist umso notwendiger nach dem, was wir bisher ge-
hört haben, nach dem Durcheinander, das Sie produzie-
ren, und nach all dem Sand, den Sie uns in die Augen
streuen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD – Zurufe von der CDU/CSU)


Ich will erstens sagen, dass man vor den Notwendig-
keiten, die wir in Deutschland haben, nicht die Augen





Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


verschließen darf. Natürlich nimmt jeder zur Kenntnis,
dass es Anstrengungen gibt, den Schuldenabbau voran-
zubringen. Aber bei der hohen Neuverschuldung und
den Verschuldungsgraden, die wir haben, muss man
deutlich sagen: Die öffentlichen Haushalte müssen ge-
stärkt werden, damit das Ziel des Schuldenabbaus er-
reicht wird. Das ist der Wille der SPD.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Wir haben doch einen ausgeglichen Staatshaushalt!)


Zweiter Punkt: Die Situation im Bildungssektor und
in der Kinderbetreuung ist frappierend. Wir wissen, dass
wir da mehr machen müssen. Dafür möchten wir Geld in
den Kassen haben, um diese gute Politik auch umsetzen
zu können.


(Beifall bei der SPD – Zuruf von der FDP: Haben! Haben! Haben!)


Das Dritte ist die Tatsache, dass wir ein Problem mit
der Infrastruktur in Deutschland haben. Gerade in dieser
Woche ist ein Bericht der OECD erschienen – das ist in
der deutschen Presse nachzulesen –, wonach Deutsch-
land bei den Straßeninvestitionen 134 Euro pro Jahr und
Einwohner ausgibt – vorletzte Stelle. Schlimmer noch
im Bereich des Schienenverkehrs: letzte Stelle mit
53 Euro pro Einwohner und Jahr.

Meine Damen und Herren, es gibt einen Bedarf, et-
was dafür zu tun, dass unser Land zukunftsfähig ist. Des-
halb schlagen wir unsere steuerpolitischen Maßnahmen
vor.


(Beifall bei der SPD)


Jetzt komme ich zu den Maßnahmen. Ich fange mit
der Spitzensteuer an, weil hier Unsinn erzählt worden
ist. Ich nutze das Handelsblatt, um deutlich zu machen,
was wir wollen. Das Handelsblatt stellt sehr deutlich
dar, was die SPD-Vorschläge bedeuten. Sie bedeuten
nämlich, dass der Anstieg des Spitzensteuersatzes erst
bei einem Jahreseinkommen von 64 000 Euro einsetzt.
Darunter wird – ich glaube, das hat Herr Kollege Gutting
angesprochen – die Kurve gar nicht verändert.

Bevor ich es Ihnen in Zahlen erläutere, will ich eine
Zahl vorwegschicken. Das Durchschnittseinkommen der
Deutschen liegt bei 2 700 Euro im Monat.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Ist das ein Superreicher?)


Ich hoffe, die Kollegen von CDU/CSU und FDP können
sich überhaupt vorstellen, wie man davon lebt. 50 Pro-
zent haben nicht mehr als 2 700 Euro.

Die Umsetzung der SPD-Vorschläge würde bedeuten,
dass eine Mehrbelastung von Alleinstehenden bei einem
Einkommen ab 7 000 Euro im Monat beginnt. Für diese
wird es laut Handelsblatt-Berechnung, die auch unseren
Zahlen entspricht, eine Belastung von 12,48 Euro geben.
Das steigt dann. Wer 50 000 Euro im Monat hat, der
wird allerdings mit 2 300 Euro mehr belastet. Das ist
auch richtig und gerecht. Diese Personen können das
aufbringen.


(Beifall bei der SPD)


Bei Verheirateten und Familien – damit auch das klar
ist – gibt es bei einem Einkommen von 7 000 Euro na-
türlich keine Mehrbelastung. Erst ab 13 000 Euro Ein-
kommen einer Familie im Monat kommt es zu einer
Mehrbelastung.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Und wenn jemand seine Arbeitnehmer bezahlen muss?)


Erst bei diesem Einkommen setzt Mehrbelastung ein.
Wenn bei einem Monatseinkommen von 15 000 Euro
50 Euro anfallen, dann wird das den Mittelstand nicht
kaputtmachen; wir können aber mehr Mittel für gute Bil-
dung und die Anstrengungen einsetzen, die wir angehen
müssen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Genauso ist es mit der Vermögensteuer. Auch das
muss man klar sagen. Die Verteilung in Deutschland
zeigt, wie es in der Spitze aussieht. Wir wissen, dass der
größte Teil des Gesamtvermögens von nur 1 Prozent der
Bürgerinnen und Bürger besessen wird. Das sind
800 000 Menschen, die ein Gesamtvermögen von 3 Bil-
lionen Euro haben. Da greifen wir in der Tat zu. Auch
das ist richtig. Das werden wir für Bildung in den Län-
dern einsetzen. Deshalb sind wir auch damit auf dem
richtigen Weg.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Jetzt kommt ein letztes Argument. Es heißt immer
wieder: Damit werdet ihr aber dazu beitragen, dass die
Wirtschaftsentwicklung nicht vorangeht.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So ist es! – Weiterer Zuruf von der FDP: Ja genau!)


Auch das ist ein großer Unsinn, Herr Kollege.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Dann gucken Sie mal nach Frankreich! Hören Sie auf mit dem Blabla!)


Zunehmende Ungleichheit schwächt Wirtschaftswachs-
tum. Das ist kein sozialdemokratischer Programmsatz,
sondern das können Sie unter anderem in den Untersu-
chungen der Organisation für wirtschaftliche Zusam-
menarbeit und Entwicklung, der OECD, nachlesen, die
ausdrücklich auch Deutschland ins Stammbuch schreibt:
„Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschafts-
kraft eines Landes“.


(Beifall bei der SPD)


Unsere Politik wird die Infrastruktur stärken, wird die
unteren Einkommen stärken, wird die Konsumnachfrage
in Deutschland stärken, wird dafür sorgen, dass es den
Menschen bessergeht, und wird unsere Wachstumskräfte
voranbringen.


(Beifall bei der SPD)






Dr. Carsten Sieling


(A) (C)



(D)(B)


Lassen Sie mich noch ein letztes Wort sagen. Die Vor-
schläge, die ich hier mache, haben durchaus tagespoliti-
sche Relevanz. Der Oberbürgermeister Hannovers und
Kandidat für das Amt des Ministerpräsidenten Nieder-
sachsens hat sehr deutlich angekündigt, dass wir nicht
bis September warten wollen. Er sagte im Wahlkampf
sehr deutlich: Wir werden mit unseren Vorschlägen zur
Erhöhung des Spitzensteuersatzes, zur Steuerbetrugsbe-
kämpfung, zur Steuerkriminalitätsbekämpfung – es geht
nicht um Sozialneid, Kollege Michelbach – sofort in den
Bundesrat gehen. Wenn es am Sonntag in Niedersachsen
eine Mehrheit für Rot-Grün gibt, dann wird es in
Deutschland eine neue Politik geben. Dafür sollten wir
uns in der Tat einsetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: Das ist das Rufen im Wald! – Hartwig Fischer [Göttingen] [CDU/CSU]: Für das tote Pferd kommt jedes Heu zu spät!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721713900

Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die

FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Dr. Daniel Volk (FDP):
Rede ID: ID1721714000

Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr ge-

ehrten Damen und Herren! Herr Kollege Sieling, das ist
ja eine wunderbare Ankündigung Ihres Kandidaten im
Rahmen des niedersächsischen Wahlkampfs. Daran sieht
man auch, dass Sie hier im Bundestag tatsächlich im
Wahlkampfmodus sind. Das haben Sie, die Opposition,
auch im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss ge-
zeigt.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Sie haben uns doch gebeten!)


Die Steuerbetrugsbekämpfung ist aber auch nach der
Föderalismusreform immer noch Aufgabe der Bundes-
länder im Rahmen des Verwaltungsvollzuges. Deswegen
muss man nicht über den Bundesrat Initiativen starten,
sondern Steuerbetrugsbekämpfung muss in den Bundes-
ländern durch die Steuerverwaltungen vorgenommen
werden.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Unsere Bundesländer kaufen Steuer-CDs!)


Ich sehe momentan eigentlich keine Anzeichen dafür,
dass die Steuerverwaltungen den Steuerbetrug nicht aus-
reichend bekämpfen. Ich sehe eher Anhaltspunkte dafür,
dass der Steuerbetrug auf politischer Ebene leider Gottes
teilweise unterstützt wird. Zum Beispiel ist ein Abkom-
men wie das deutsch-schweizerische Abkommen aus
rein parteipolitischen Gründen abgelehnt worden, ob-
wohl es wirklich das effektivste Instrument zur Bekämp-
fung von Steuerhinterziehung gewesen wäre und gleich-
zeitig ein effektives Instrument für eine Verbesserung
der Steuerbasis und der Steuereinnahmen, insbesondere

der Bundesländer, dargestellt hätte. Deswegen erscheint
es mir völlig abwegig, dass gerade dieses Abkommen
von Ihnen, von der SPD, abgelehnt wurde.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Als Mitglied des Finanzausschusses sollten Sie es besser wissen!)


Es ist immer sehr schön, wenn gesagt wird, wir benö-
tigten höhere Steuereinnahmen. Dabei leben wir doch im
Jahr der höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte
der Bundesrepublik Deutschland! Das gilt übrigens auch
für die Bundesländer. Trotzdem stellen Sie sich hier hin
und sagen, wir bräuchten höhere Steuereinnahmen, um
damit weitere Staatsausgaben zu finanzieren. Das Er-
staunliche ist, dass insbesondere in den Bundesländern,
wo Sie von der SPD, wo Sie von den Grünen Verantwor-
tung tragen, genau diese Aufgaben nicht zusätzlich finan-
ziert werden. Vielmehr kürzen Sie im Verkehrsetat, im
Infrastrukturetat, im Bildungsetat. Die grün-rote Landesre-
gierung in Baden-Württemberg hat als erste Amtshandlung
in ihrer Regierungsverantwortung 11 000 Lehrerstellen ge-
strichen. Das ist keine zukunftsfähige Bildungspolitik;
das ist bildungspolitischer Wahnsinn.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach, nee! – Weiterer Zuruf des Abg. Dr. Carsten Sieling [SPD])


Ich kann ja nachvollziehen, dass Sie aufgrund Ihrer
ideologischen Denkrichtung fordern, dass der Staat im-
mer mehr Aufgaben übernehmen soll, dass Sie sich hin-
stellen und zunächst sagen, was alles an weiteren Ausga-
ben erfolgen müsse, um dann zu begründen, warum die
Steuern erhöht werden müssten. Was Sie aber natürlich
völlig vergessen, sind die Kollateralschäden, die Sie an-
richten werden, wenn Sie tatsächlich eine solche Steuer-
politik fahren.

Frau Kollegin Andreae, Sie haben gerade gesagt, die
Vermögensabgabe stelle keine Substanzbesteuerung dar,
weil sie nur greifen würde, wenn ein Ertrag erzielt
würde. Das ist eine sehr reizvolle, charmante Argumen-
tation; aber sie ist falsch. Ähnlich falsch wäre es, zu sa-
gen: Ich vergifte dich nur, wenn du mir dafür Geld gibst,
und wenn du mir dafür Geld gibst, dann ist es keine Ver-
giftung. – Das ist völlig abwegig.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Vermögensteuer ist aber ein Segen!)


Natürlich ist eine Vermögensabgabe eine Substanzbe-
steuerung. Dazu sollten Sie auch stehen. Ihre Idee der
Vermögensabgabe hat ja den meiner Meinung sogar ver-
fassungswidrigen Aspekt, dass Sie das sogar rückwir-
kend machen wollen. Ich glaube, das werden Sie vor
dem deutschen Bundesverfassungsgericht gar nicht be-
gründen können.

Aber abgesehen davon vergessen Sie, dass jede Form
der Substanzbesteuerung, zumindest bei betrieblichem
Vermögen, zwangsläufig Arbeitsplatzabbau nach sich
ziehen wird. Wenn Sie sagen, dass Sie eine Vermögens-





Dr. Daniel Volk


(A) (C)



(D)(B)


substanzbesteuerung auch auf betriebliches Vermögen
wollen –


(Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Nein!)


und es geht ja auch gar nicht anders, als dass eben auch
die betrieblichen Vermögen besteuert werden –, dann
müssen Sie auch die Verantwortung dafür tragen, dass
die Arbeitslosigkeit in Deutschland im Zweifel wieder
steigt.

Die christlich-liberale Koalition hat in ihrer Regie-
rungsverantwortung seit 2009 genau den umgekehrten
Weg und auch den richtigen Weg eingeschlagen. Wir ha-
ben nämlich die Steuerbelastung zu Beginn der Legisla-
turperiode moderat gesenkt und haben damit erreicht,
dass Wirtschaftswachstum funktioniert bzw. die Wirt-
schaft stärker wächst, dass die Arbeitslosenquote deut-
lich sinkt, und zum Ende der Legislaturperiode haben
wir einen ausgeglichenen Gesamtstaatshaushalt. Das ist
die Bilanz einer vernünftigen Finanz-, Wirtschafts- und
Haushaltspolitik.

Das jedoch, was Sie vorschlagen, ist wirtschaftspoliti-
scher, finanzpolitischer und haushaltspolitischer Wahn-
sinn.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ich hätte gern einmal Argumente gehört!)


Ich glaube, dass dann, wenn wir in der Wahlauseinander-
setzung stehen werden, die Mehrheit der Bevölkerung
erkennen wird, was Sie tatsächlich vorhaben. Sie werden
deswegen im Wahlkampf nicht überzeugend auftreten
können.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der SPD: 2 Prozent!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721714100

Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Lothar Binding (SPD):
Rede ID: ID1721714200

Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Volk hat sich ge-
rade darüber beschwert, dass der Kollege Sieling das ge-
macht hat, was Sie beantragt haben. Nun wollen wir
doch mal schauen, was auf der Tagesordnung steht. Da
geht es um eine Aktuelle Stunde zu den Steuerbeschlüs-
sen der SPD. Er hat also seine Aufgabe exzellent gelöst.


(Beifall des Abg. Bernd Scheelen [SPD])


Allerdings reflektiert Herr Volk ja mit seiner Aussage
auf etwas anderes, nämlich auf die falsch gewählte
Überschrift. Es geht ja heute eigentlich gar nicht um die
Überlegungen, die die SPD anstellt, sondern es geht da-
rum, ob die Regierung, die seit drei Jahren im Amt ist,
ob die Koalition, die seit drei Jahren Politik in Deutsch-
land macht, wirklich die richtige Politik gemacht hat.


(Franz Obermeier [CDU/CSU]: Ja, natürlich!)


Ich glaube, dass Sie, als Sie diese Aktuelle Stunde bean-
tragt haben, vergessen haben, was Sie in den letzten drei
Jahren bewirkt haben.

Schauen wir mal: Herr Wissing hat gesagt, es gebe
eine geballte Ungerechtigkeit. Ich nenne ein paar Bei-
spiele. 10 Prozent der Menschen verfügen über 50 Pro-
zent der Vermögen, 50 Prozent der Menschen verfügen
über nur 4 Prozent der Vermögen. Es gibt Menschen, die
im Durchschnitt vielleicht 30 000 Euro im Jahr verdie-
nen, was aus unserer Sicht natürlich wenig ist. Es gibt
Leute, die im Jahr 48 000 Euro verdienen; das finden wir
auch zu wenig. Bundestagsabgeordnete verdienen unge-
fähr das Doppelte; das ist sicherlich mehr als angemes-
sen.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Das Entscheidende ist nur, was netto übrig bleibt!)


Aber es gibt auch Leute, die 48 000 Euro am Tag verdie-
nen. Wenn man bei denen die Steuer ein bisschen an-
zieht, könnte es sein, dass wir damit Gerechtigkeit errei-
chen und diese eben nicht verletzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN – Zurufe von der CDU/CSU)


Deshalb hat Herr Wissing in gewisser Weise durchaus
recht. Es gibt, nachdem Sie drei Jahre an der Regierung
sind, eine geballte Ungerechtigkeit.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Das setzt sich aber noch fort. Schauen wir einmal,
was Sie in Richtung Abschaffung prekärer Beschäfti-
gung erreicht haben. Das Ergebnis lautet in der Zusam-
menfassung: nichts. Sowohl im Teilzeitbereich als auch
im Leiharbeitsbereich, im Aufstockerbereich und ebenso
bei der Beschäftigungsförderung sieht man ein Versagen
der von Ihnen eingeführten Instrumente par excellence.
Auch beim Mindestlohn wurde nichts erreicht.

Hans Michelbach hat interessanterweise von der Hoch-
steuerpolitik von Rot-Grün gesprochen. Schauen wir ein-
mal genauer hin. Wir haben damals – das stimmt – den
Spitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt; die Be-
gründung dafür wurde vorhin schon gegeben. Wir haben
aber auch den Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent unter
Kohl auf 15 Prozent, heute sogar 14 Prozent gesenkt.
Dies wird gelegentlich vergessen zu sagen.

Herrn Behrens, der die Körperschaftsteuer ansprach,
möchte ich sagen: Es stimmt, die Körperschaftsteuer
wurde auf 15 Prozent gesenkt, allerdings definitiv. Das
ist ein völlig anderes Modell als früher. Früher war die
Körperschaftsteuer anrechnungsfähig, heute nicht. Es ist
also ein bisschen zu einfach, lapidar zu sagen: Ihr habt
den Unternehmen die Steuern gesenkt.

Schauen wir uns aber noch einmal die Arbeitsergeb-
nisse dieser Koalition an. Sie haben den Kommunen
durch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zunächst
1,6 Milliarden Euro weggenommen.


(Zuruf von der FDP)


Bernd Scheelen, unser Kommunalpolitiker und Spezia-
list für diese Fragen, hat mich noch einmal darauf hinge-
wiesen, dass selbst mit der Regelung zur Grundsiche-





Lothar Binding (Heidelberg)



(A) (C)



(D)(B)


rung, die Sie heute feiern, diese Kürzung gegenüber den
Kommunen noch nicht einmal kompensiert wird. Das
heißt, im Ergebnis haben Sie die Kommunen geschröpft.


(Widerspruch bei Abgeordneten der CDU/ CSU – Zuruf von der FDP: Kindergelderhöhung!)


Um das Versagen der entsprechenden Arbeitsgruppe
zur Neuordnung der Mehrwertsteuer zu kaschieren, ha-
ben Sie die Hotelsteuer gesenkt. Das Thema darf hier
nicht fehlen; denn das ist wirklich ein echtes Arbeits-
ergebnis dieser Koalition. Leider sind die von Ihnen er-
hofften Investitionen nicht gekommen. Bei Kosten von
1 Milliarde Euro wurden nur 200 Millionen Euro inves-
tiert.


(Widerspruch bei der FDP)


Hätten Sie die Milliarde den Kommunen gegeben, hätten
Sie Investitionen von 7 Milliarden Euro erreicht. – Ich
rede ein bisschen laut; das ist immer so, wenn ich mich
engagiere. Bei der Regierung muss man das manchmal
machen.


(Beifall bei der SPD)


Im Ergebnis überlegen jetzt viele Kommunen, eine Bet-
tensteuer einzuführen. Da sieht man einmal, welche Ver-
teilungseffekte Ihre Politik da bewirkt hat.

Während wir unter Rot-Grün und auch noch unter der
Großen Koalition die Gewerbesteuer gestärkt haben, ha-
ben Sie in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass sie
abgeschafft werden soll. Gott sei Dank ist die dazugehö-
rige Kommission gescheitert. Mit Blick auf die Drohun-
gen aus dem Bundesrat, dass nämlich die Bemühungen,
die Gewerbesteuer abzuschaffen, scheitern würden, sind
Sie mit Ihrem Vorhaben gar nicht erst ans Tageslicht ge-
gangen. Das ist ein kleiner Erfolg. Wir haben halt Ihre
Koalitionsvereinbarung nicht immer so ernst genom-
men, wie sie es vielleicht verdient hätte; aber Sie neh-
men sie ja selber nicht einmal ernst. Insofern ist das
keine Referenzgröße.

Die Diskussion um das Bildungs- und Teilhabepaket
hat auch eine interessante Folge gehabt, nämlich dass
dank des Einsatzes der A-Länder im Vermittlungsaus-
schuss die Kommunen dadurch entlastet wurden, dass
Kosten der Grundsicherung im Alter durch den Bund
übernommen wurden. Das ist etwas, was Sie sich so ein
bisschen auf die Fahnen schreiben.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Ja! Dafür hätten wir die A-Länder gar nicht gebraucht!)


Blicken Sie einmal zurück und schauen Sie nach, wel-
cher Debattenprozess im Bundesrat dazu geführt hat. Sie
können daran sehen, dass die Maßnahmen, die die SPD
in ihren Steuerbeschlüssen festgelegt hat, sehr gute Maß-
nahmen sind, um die vielen Mängel, die als Ergebnis Ih-
rer Politik feststellbar sind, in einer ordentlichen Weise
zu kompensieren und die Gesellschaft nach vorn zu brin-
gen.


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Sie haben doch die Kommunen mit der Grundsicherung belastet!)


Das ist wirklich ein Zukunftsmodell. Das, was Sie kon-
kret erreicht haben, ist eigentlich blamabel.


(Beifall bei der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721714300

Christian von Stetten hat das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Frhr. Christian von Stetten (CDU):
Rede ID: ID1721714400

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Allein schon die Debatte heute Morgen zum Jahreswirt-
schaftsbericht der Bundesregierung hat deutlich ge-
macht, dass diese Aktuelle Stunde jetzt nicht nur sinn-
voll, sondern auch dringend notwendig ist. Es ist ja
abenteuerlich, was die Opposition schon heute Morgen
und auch jetzt in dieser Debatte zum Besten gegeben hat.

In einem ist sich die Opposition aber einig – das ha-
ben wir heute gemerkt –: Obwohl der Staat zurzeit die
höchsten Steuereinnahmen in der Geschichte der Bun-
desrepublik Deutschland hat – das ist angesprochen wor-
den –,


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Warum machen wir denn dann noch Schulden?)


wollen Sie die Bürger zusätzlich mit einer irrwitzigen
Zahl von Steuern zur Kasse bitten. In der Debatte ist
auch deutlich geworden, wo Sie abkassieren wollen.

Herr Sieling, Sie haben uns mitgeteilt, dass die Erhö-
hung des Spitzensteuersatzes nicht nur, wie bisher in der
Öffentlichkeit vertreten, die Bürger mit einem Einkom-
men ab 100 000 Euro trifft. Sie haben an diesem Pult ge-
rade vorgerechnet, dass es bereits die Bürger ab einem
Einkommen ab 64 000 Euro trifft.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Trifft sie nicht! 7 000 mal 12 ist 84 000!)


Es sind doch die Mittelständler, die Freiberufler und die
Facharbeiter, die aufgrund ihrer guten Qualifikation voll
getroffen werden.


(Zuruf des Abg. Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Das haben Sie vorgeschoben, um Ihre Klientel zu schützen!)


– Nein, das täuscht. Wenn Sie das bezweifeln, dann ge-
hen Sie einmal nach Baden-Württemberg und schauen
sich an, was dort die Facharbeiter in der Automobil-
industrie verdienen!


(Joachim Poß [SPD]: Haben wir alles geprüft!)


Ich würde übrigens auch Ihrem SPD-Kollegen
Wolfgang Thierse empfehlen, dass er sich, bevor er sich
unqualifiziert und unsachlich zur Volksgruppe der
Schwaben äußert, dort einmal umschaut.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Locker bleiben!)






Christian Freiherr von Stetten


(A) (C)



(D)(B)


Wenn er das täte, würde er sehen, wie durch Fleiß, Diszi-
plin und Sparsamkeit Vermögen geschaffen wird. Ver-
mögenswerte, die durch Konsumverzicht geschaffen
wurden,


(Joachim Poß [SPD]: Nach Konsumverzicht sehen Sie gar nicht aus!)


wollen Sie von der Sozialdemokratie jetzt noch durch
eine Erbschaftsteuer belasten.

Sie sehen die Wiedererhebung der Vermögensteuer
und fast eine Verdopplung des Erbschaftsteueraufkom-
mens vor. Sie wollen also nicht nur, was aus Ihrer Sicht
theoretisch verständlich wäre, eine Erhöhung der Ein-
kommensteuer und der Körperschaftsteuer, sondern Sie
wollen auch die Substanzsteuern erhöhen, die selbst
dann fällig werden, wenn überhaupt kein Ertrag anfällt.
Das heißt, Sie wollen die Vermögensteuer auch dann an-
setzen, wenn ein Vermieter eine Wohnung überhaupt
nicht nutzen kann, weil sie renoviert wird oder leer steht,
und keine Mieteinnahmen hat. Die Vermögensteuer, die
Sie planen, ist nicht nur weltfremd, sondern – das ver-
stehe ich bei den Sozialdemokraten überhaupt nicht –
auch unsozial. Denn wer zahlt die Vermögensteuer,
wenn diese Wohnung vermietet ist? In der Regel sind
das die Mieter, weil der Vermieter wie bei der Grund-
steuer versuchen wird, diese Mietnebenkosten auf den
Mieter umzulegen. Bei einer 1-prozentigen Vermögen-
steuer auf den Verkehrswert bedeutet das eine glatte
Erhöhung von 20 Prozent auf die jetzigen Mietkosten.


(Dr. Volker Wissing [FDP]: Aha! – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was ist das denn für eine Milchmädchenrechnung?)


Wenn Sie die Erbschaftsteuer verdoppeln, so wird ein
vorsichtiger Vermieter das Geld, das fällig wird, wenn er
stirbt, für seine Nachkommen ansparen. Auch dies wird
er auf die Miete umlegen. Das bedeutet eine weitere
Mieterhöhung von 20 Prozent.

Wenn man das alles weiß, wird auch klar, warum Sie
plötzlich eine Debatte zur Begrenzung der Mietkosten
und der Mieterhöhungen fordern:


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Ja, ist doch richtig! Dann wissen Sie es doch!)


Sie wissen genau, dass, wenn Ihre Pläne umgesetzt
werden, die Mieter die Leidtragenden Ihrer Gesetzes-
vorhaben sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Mieter und die Familienbetriebe sind die Opfer
einer Steinbrück-Regierung. Die Familienbetriebe kön-
nen und wollen den Standort Deutschland nicht verlas-
sen, weil sie das Land unterstützen wollen und treu zu
ihren Mitarbeitern stehen. Fragen Sie die Belegschaften
in den Familienunternehmen einmal, wo sie lieber arbei-
ten: in einem Familienunternehmen, wo der Chef oder
Seniorchef täglich in die Firma kommt und sich um die
Belange des Unternehmens kümmert, oder in einem
vermögen- und erbschaftsteuerfreien anonymen Groß-
betrieb, von dem niemand weiß, wo der Inhaber wohnt,

ob im Ausland oder Inland; auf jeden Fall kennt ihn die
Belegschaft nicht persönlich.

Das ist die SPD-Logik, die heute in der Aktuellen
Stunde deutlich geworden ist: Derjenige, der sich zu
Deutschland bekennt und hier wohnt, zahlt in Zukunft
Ihre Substanzsteuern. Derjenige, der Deutschland ver-
lässt, wird von der Steuer befreit. Das ist ein Wegzug-
programm. Die Bürger aus Niedersachsen müssen wis-
sen, was auf sie zukommt, wenn die Opposition im
Bundesrat in Zukunft eine noch deutlichere Mehrheit
hat. Mancherorts ist das schon jetzt Realität. Sie brau-
chen nur über die Grenze nach Frankreich zu schauen.
Dort wird der Feldversuch, den Sie in Deutschland star-
ten wollen, schon lange praktiziert.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Das sind Ihre Vorbilder!)


Ihr sozialistischer Genosse, der französische Präsident,
sorgt durch seine Gesetzgebung dafür, dass in Frank-
reich keine Investitionen mehr getätigt werden. Sie kön-
nen mit Ihren Kollegen aus Frankreich in der nächsten
Woche hier in diesem Parlament darüber reden, welche
katastrophalen Folgen diese sozialistische Gesetzgebung
und allein die Ankündigung in Frankreich haben. Wir
wollen das in Deutschland verhindern.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721714500

Jetzt hat Franz Obermeier das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Franz Obermeier (CSU):
Rede ID: ID1721714600

Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ich

finde, wir haben heute in der Aktuellen Stunde eine sehr
spannende Debatte. Ich möchte eingangs auf die Frage
eingehen, wie sich die christlich-liberale Koalition die
Staatsfinanzierung der Zukunft vorstellt. In Deutschland
wurden im Jahr 2010 insgesamt 530 Milliarden Euro
Steuern bezahlt. Im Jahr 2012 waren es schon über
600 Milliarden Euro. In der mittelfristigen Finanz-
planung ist in Deutschland eine Steuersumme von deut-
lich über 700 Milliarden Euro enthalten. Alles, was wir
darüber hinaus an Gedankenspielen anstellen, ist in
hohem Maße unseriös.

Schaue ich mir das SPD-Programm an, finde ich – das
ist ein echter Querschuss –


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was?)


den Vorschlag einer Erhöhung der Kapitalertragsteuer
von 25 Prozent auf 32 Prozent. Wissen Sie, wen Sie
damit treffen? Sie treffen damit die breite Masse der
Leute, die sich anstrengen, etwas zu sparen. Sie treffen
beispielsweise diejenigen, die Bausparverträge haben,


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Die bleiben doch unter den Freibeträgen!)






Franz Obermeier


(A) (C)



(D)(B)


diejenigen, die sich etwas für das Alter angespart haben.
Und wenn Sie für diejenigen mit einem Jahreseinkom-
men ab 64 000 Euro den Spitzensteuersatz auf 49 Pro-
zent erhöhen wollen, dann ist das ein Anschlag auf den
Mittelstand in Deutschland.

Als Wirtschaftspolitiker will ich jetzt einmal auf den
Mittelstand eingehen. Ich komme aus einer Region, in
der es sehr viele kleine und mittelständische, zugleich
sehr erfolgreiche Unternehmen gibt. Zumeist handelt es
sich um Personengesellschaften. Was glauben Sie, wie
die auf solche Vorschläge reagieren? Wir wissen doch
alle miteinander aus unseren eigenen Erfahrungen: Eine
erfolgreiche Wirtschaftspolitik ist in erster Linie Ver-
trauenssache. Mit dem, was Sie in Ihren Beschlüssen
vorlegen, zerstören Sie das Vertrauen unserer Mittel-
ständler.

Unsere Mittelständler werden bereits erheblich belas-
tet. Sie haben allein dadurch enorme Lasten zu tragen,
dass sie sämtliche Umweltgesetzgebungen umsetzen
müssen und die gestiegenen Energiepreise kompensieren
müssen. Denn die Mittelständler haben in aller Regel
nicht den Vorteil der reduzierten Sätze bei den Strom-
kosten. Sie müssen die vollen Kosten tragen. Und dann
drohen Sie ihnen auch noch mit der Vermögensteuer.

Die Region, aus der ich komme, ist eine Hochpreis-
region. Wenn Sie dort Betriebsschätzungen durchführen
ließen, würden Sie staunen, welche Beträge dabei he-
rauskommen. Das liegt eben daran, dass die Preise so
hoch sind. Wenn Sie hier mit der Vermögensteuer kom-
men wollen, dann gratuliere ich Ihnen.

Das Gleiche gilt für die Erbschaftsteuer. Unsere Mit-
telständler stehen in aller Regel sowieso schon vor der
Frage, ob sich jemand aus der Familie findet, der den
Betrieb übernimmt. Wenn Sie jetzt mit einer Verdoppe-
lung der Erbschaftsteuer daherkommen, dann gratuliere
ich Ihnen ebenfalls.

Lassen Sie mich etwas zu dem Vorschlag zur Mehr-
wertsteuer sagen. Wenn die Mehrwertsteuer sektoral ver-
ändert werden soll, dann ist die Allgemeinheit betroffen.
Bei den Verbrauchsgütern haben wir ohnehin schon die
Problematik, dass die Mehrkosten über die Strompreis-
entwicklung aufzufangen sind. Das ist ein echtes Pro-
blem.

Zum Thema „Agrardiesel“ müssen Sie sich auch
etwas einfallen lassen.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Da schlagen wir gar nichts vor, Herr Kollege! – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Worüber reden Sie eigentlich?)


– Das sind Ihre Vorschläge, soweit ich sie kenne.

Das Gleiche gilt für die Kerosinbesteuerung. Hier gibt
es schon ein Riesenproblem mit der Luftverkehrswirt-
schaft, weil wir durch die Luftverkehrsabgabe enorm
abschöpfen. Gleichzeitig wollen wir aber, dass die Luft-
verkehrswirtschaft mit neuestem Fluggerät ausgestattet
wird, zumindest die Triebwerke lärmärmer und emis-
sionsärmer gestaltet werden. Die Airlines sagen jedoch:
Wovon sollen wir das denn bezahlen, wenn wir schon

jetzt Hunderte von Millionen Euro an Luftverkehrs-
abgabe entrichten müssen? – Und Sie kommen jetzt
noch einmal mit der Kerosinsteuer daher.

Das, was Sie hier betreiben, wird den gleichen Effekt
haben, wie es ihn schon in den sieben Jahren Rot-Grün
gab: Sie werden den Mittelstand entmutigen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Mit den Steuersenkungen damals, oder was? Das ist ja wirklich großer Unsinn!)


Der Bürger in Deutschland wird so schlau sein, im
Herbst dieses Jahres dem Spuk ein Ende zu machen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721714700

Jetzt hat der Kollege Norbert Schindler das Wort für

die CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1721714800

Ich sage jetzt schönen guten Nachmittag, weil ich

mich beim letzten Mal vertan habe. Liebe Frau Präsiden-
tin! Liebe Gäste auf den Tribünen! Meine Damen und
Herren hier im Plenum! Es war nötig, vor der Wahl in
Niedersachsen am kommenden Sonntag darauf hin-
zuweisen – das war ja auch der aktuelle Anlass –, was
die Braunschweiger Erklärung der SPD, angeführt vom
Kanzlerkandidaten Herrn Steinbrück, in der Konsequenz
bedeutet.

Zu einigen Thesen, die heute aufgestellt wurden,
möchte ich kurz Stellung nehmen.

Vorhin wurde der Armutsbericht erwähnt, der vor ei-
nigen Wochen auf unserer Tagesordnung stand.


(Willi Brase [SPD]: Der geschönt wurde!)


Ich möchte darum bitten, den Armutsbericht in Zukunft
auf die europäische Ebene zu stellen. Dann würde man
sehen, dass es uns in Deutschland im europäischen und
internationalen Vergleich gut geht.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Warum habt ihr ihn dann manipuliert?)


Es geht uns gut.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Und eure Ministerin hat gelogen, oder was?)


Wenn man derzeit die Umfragen liest – die Zustim-
mung tut uns von der Koalition gut –, dann erkennt man:
Ihr habt da ein besonderes Problem. Warum hat die SPD,
warum haben Rot und Grün insgesamt da ein Problem?
Weil der Kanzlerkandidat nicht mehr authentisch ist.
Wenn man den Spitzenkandidaten der SPD derzeit hört
und ihn in den letzten Wochen erlebt hat, dann stellt man
fest: Nachdem er als Finanzminister eigentlich die richti-
gen Thesen vertreten hat, muss er jetzt nach seiner
Bochumer Erklärung die Kurve kriegen; er driftet deut-





Norbert Schindler


(A) (C)



(D)(B)


lich nach links. Man glaubt, man könne durch Neid-
debatten an Zustimmung gewinnen; aber das findet Gott
sei Dank nicht statt. Die Bürgerinnen und Bürger, die
Wählerinnen und Wähler sind klüger, als manche Partei-
strategen glauben.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Lieber Lothar Binding, du hast vorhin angeführt, dass
jemand 48 000 Euro am Tag verdient.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Ja, so ist das!)


Es gibt Leute in dieser Republik, die verdienen mit zwei
Vorträgen an einem Tag 50 000 Euro.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Auch die müssen es dann versteuern!)


Von Neiddebatten zu reden, ist ja derzeit eure vornehme
Aufgabe.


(Dr. Carsten Sieling [SPD]: Wir geben gern!)


Meine Damen und Herren, schauen wir es uns an: Ihr
wollt das Ehegattensplitting abschaffen und die Kapital-
ertragsteuer erhöhen. Steinbrück sagte vor gut fünf Jah-
ren: Mir ist es lieber, dass 25 Prozent Kapitalertragsteuer
hier, am Wirtschaftsstandort Deutschland, gezahlt wer-
den; dann bleibt das Geld hier, und das tut der Wirtschaft
gut. – Jetzt kommt der gleiche Mann und sagt: Wir brau-
chen eine Steuer auf Kapitalerträge von durchschnittlich
32 Prozent. – Er will also einleiten, dass sich der Wirt-
schaftsstandort in unserem Staatsgebiet verflüchtigt, und
das wird von Ihnen, meine Damen und Herren, auch
noch bejubelt.


(Dr. h. c. Hans Michelbach [CDU/CSU]: So viel zur Glaubwürdigkeit!)


Ich denke an das Steuerabkommen mit der Schweiz.
Wir haben da 10 Milliarden Euro weggeschmissen.


(Lothar Binding [Heidelberg] [SPD]: Nein! – Dr. Carsten Sieling [SPD]: Was?)


Wir hatten da in Bezug auf Steuerehrlichkeit auch im
Vergleich zu England und den USA einen guten Kom-
promiss mit den Schweizern erreicht – die Schweiz ist
immerhin ein souveräner Staat –, der vor zehn Jahren
unter Hans Eichel unvorstellbar gewesen wäre. Welche
Amnestien hatte er den Schweizern angeboten? Wenn
man vergleicht, was Wolfgang Schäuble bei den Ver-
handlungen im Ergebnis erreicht hat und was Hans
Eichel damals der Schweiz angeboten hat, dann erkennt
man: Es ist eine politische Bankrotterklärung, wie ihr
euch derzeit verhaltet.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Ihr wollt, dass die Erbschaftsteuer angehoben wird.
Frau Andreae, Sie haben in diesem Zusammenhang die
mangelnde Gerechtigkeit beklagt. Ich sage Ihnen: Wenn
es einmal ganz gerecht zugeht, haben Sie und ich schon
lange keine Zahnschmerzen mehr. Der Bundesrat hat
seinerzeit einer Senkung der Erbschaftsteuer zuge-
stimmt, weil man zu der Überzeugung gekommen ist,
dass man nur den Ertrag eines mittelständischen Leis-

tungsträgers, der eine Firma übernommen hat, besteuern
solle, aber nicht so sehr in die Substanz gehen solle.
Denn es bestand nun einmal die Sorge: Wer übernimmt
bei der hohen Steuerbelastung, die sich aus einer Be-
rücksichtigung des Verkehrswerts bei der Besteuerung
ergäbe, die mittelständischen Unternehmen?

Beim Thema Vermögensteuer möchte ich zur ge-
schichtlichen Aufklärung beitragen. Herr Kollege Poß
– er ist leider nicht mehr da, aber es wird ihm sicher mit-
geteilt – hat vorhin gesagt, bei Helmut Kohl habe es eine
Steuerbelastung in Höhe von 53 Prozent gegeben.
Insgesamt war es so: Wir brauchten die Mittel für die
Finanzierung der deutschen Wiedervereinigung. Wir ha-
ben die Steuererhöhung damals mit Stolz beschlossen,
und wir haben sie mit Stolz vertreten. Später konnte man
Steuerentlastungen vornehmen. Gerhard Schröder war
damals klug genug – er wurde auch von der Union im
Bundesrat getrieben –, dafür zu sorgen, dass der Steuer-
standort Deutschland international wieder attraktiv wird.
Diesen erfolgreichen Weg wollen Sie jetzt mit Ihren Vor-
schlägen verlassen.

Meine Damen und Herren, ich komme zum Thema
Vermögensteuer. Sie wollen da für einen bürokratischen
Wust sorgen. Wir, die Union, haben die Vermögensteuer
1997 abgeschafft, verbunden mit dem Hinweis, dass
allein 50 Prozent des Ertrags aus dieser Substanzsteuer
in die Verwaltung flossen. Und wenn man die Vermö-
gensteuer jetzt wieder neu aufzöge, dann ergäben sich
wieder ähnliche Problemlagen wie damals bei der Fami-
lie Engelhorn; Rot-Grün hatte damals damit zu kämpfen.
Diese Familie hatte eine Holding auf den Bermudas oder
in der Karibik, die den Erlös von 10 Milliarden aus dem
Verkauf einer Firma in Mannheim verwaltete; ich will
jetzt nicht den Namen nennen. In der Konsequenz war
bei den Superreichen, die nicht bereit waren, die Spit-
zensteuern in Deutschland zu zahlen, eine Vermögens-
verlagerung, eine Kapitalflucht angesagt, wie man sie
derzeit in Frankreich erlebt. Das wollen Sie wieder.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721714900

Herr Kollege!


Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1721715000

Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.

Liebe Freunde von der Opposition, schön, dass Sie
diese Erklärung abgegeben haben. Die erste Abrechnung
findet am kommenden Sonntag statt.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721715100

Herr Kollege!


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Stellen Sie doch einfach das Mikrofon ab!)



Norbert Schindler (CDU):
Rede ID: ID1721715200

Sie sind nicht fähig, diesen Staat wirtschafts- und er-

tragsorientiert zu führen. Deswegen wird Ihnen auch
nicht die Verantwortung übertragen.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721715300

Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.

Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung (18. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Uwe
Schummer, Albert Rupprecht (Weiden),
Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-
geordneten Heiner Kamp, Dr. Martin
Neumann (Lausitz), Sylvia Canel, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der FDP

Das deutsche Berufsbildungssystem – Versi-
cherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel

– zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase,
Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Jugendliche haben ein Recht auf Ausbil-
dung

– zu dem Antrag der Abgeordneten Agnes
Alpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Perspektiven für 1,5 Millionen junge Men-
schen ohne Berufsabschluss schaffen – Aus-
bildung für alle garantieren

– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,
Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN

Mit DualPlus mehr Jugendlichen und Be-
trieben die Teilnahme an der dualen Ausbil-
dung ermöglichen

– Drucksachen 17/10986, 17/10116, 17/10856,
17/9586, 17/12089 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Uwe Schummer
Willi Brase
Heiner Kamp
Agnes Alpers
Kai Gehring

Hierüber soll eine Stunde debattiert werden. – Damit
sind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.

Als erster Rednerin gebe ich der Bundesministerin
Dr. Annette Schavan das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-
dung und Forschung:

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Die Sicherung der Zukunfts-

chancen der jungen Generation gehört zu den vornehms-
ten Aufgaben einer Gesellschaft und der Politik.

Wir erfahren es immer deutlicher: Einen wesentlichen
Beitrag zu diesen Zukunftschancen der jungen Genera-
tion leisten die berufliche Bildung, die duale Ausbildung,
die Kooperation der Lernorte, die Unternehmen und die
Schule. Deshalb gehört an den Beginn jeder Rede zur
beruflichen Bildung der Dank an die vielen, die in unse-
ren Unternehmen ausbilden, sowie der Appell, dass wir
diese Erfolgsgeschichte der Ausbildung in Deutschland
fortschreiben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Im Oktober haben wir hier schon einmal darüber dis-
kutiert. Dabei ist auch die ganze Palette der Einzelfragen
debattiert worden. Wir haben gute Zahlen: Die Zahl der
abgeschlossenen Ausbildungsverträge liegt bei 551 271.
Die Zahl junger Leute im Übergangssystem ist seit dem
Jahr 2005 um 30 Prozent zurückgegangen. Bei der Be-
nachteiligtenförderung sind wir erfolgreich; die Bil-
dungsketten finden eine große Akzeptanz. Das zeigt,
dass wir uns um Jugendliche, die sich schwertun, zu ei-
nem frühen Zeitpunkt kümmern, sie begleiten und Sorge
dafür tragen, dass sie in eine Ausbildung kommen. Au-
ßerdem haben wir eine Reduzierung der Zahl derjenigen
zu verzeichnen, die keinen Schulabschluss haben.

Wir wissen – Herr Brase hat es damals schon ge-
sagt –, dass gute Zahlen viele Gründe haben. Dazu ge-
hört die Demografie. Dazu gehört aber auch kluge Poli-
tik, meine Damen und Herren. Was ist also bisher
erreicht worden? Was liegt noch vor uns? Was wollen
wir bewältigen?

Erreicht worden ist in allen Bereichen und in allen
Regionen Deutschlands eine deutliche Verbesserung der
Situation von jungen Leuten und deren Chancen.

Die Einstellung hat sich sowohl international als auch
in Europa geändert. Die Zeiten sind vorbei, in denen der
Eindruck erweckt werden konnte, dass der Prozentsatz
derer, die einen Hochschulabschluss erreicht haben, über
die Leistungsfähigkeit eines Bildungssystems entschei-
det. Wir wissen heute: Die Leistungsfähigkeit eines
Bildungssystems ist ganz wesentlich abhängig von der
Korrespondenz zwischen Bildungs- und Beschäftigungs-
system. Deshalb ist die Internationalisierung der beruf-
lichen Bildung voll im Gang. Das ist ebenfalls ein großer
Erfolg, auch mit Blick auf die Veränderung der Mentali-
tät.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Was wird wichtig? Woran arbeiten wir? Ziel ist die
Europäisierung. Im Dezember hat hier eine Konferenz
unter Beteiligung von sechs europäischen Ländern statt-
gefunden. Wir brauchen das EU-Starter-Programm. Wir
brauchen eine Strategie aller Länder, um den 7,5 Millio-
nen Jugendlichen im Alter von bis zu 25 Jahren in Eu-
ropa eine Chance auf einen Einstieg in Qualifizierung
und in Ausbildung zu geben. Viele Ausbildungsplätze
sind in Deutschland zur Verfügung gestellt worden. Das
ist aber nur ein kleiner Teil. Der größere Teil ist in den
entsprechenden Ländern zur Verfügung gestellt worden.





Bundesministerin Dr. Annette Schavan


(A) (C)



(D)(B)


Es gilt für südeuropäische Länder ebenso wie für
Länder im Norden Europas wie Dänemark, Vorausset-
zungen zu schaffen, um diesen Teil eines leistungsfähi-
gen, modernen Bildungssystems aufzubauen. Die Euro-
päisierung der beruflichen Bildung wird uns in den
nächsten Monaten – und ich behaupte, auch in den
nächsten Jahren – noch stark beschäftigen.

Zweiter Punkt. Ich habe von dem 30-prozentigen
Rückgang der Zahl junger Leute im Übergangssystem
gesprochen. Unser Ziel muss sein, in den nächsten zwei,
drei Jahren das Übergangssystem auf null zu bringen,
das heißt, eine wirkliche Korrespondenz zu gewährleis-
ten: Schulabschluss und dann Einstieg in die duale Aus-
bildung.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Drittens. Wir wollen erreichen, dass die guten Erfah-
rungen mit den Bildungsketten dazu führen, dass überall,
flächendeckend, entsprechende Angebote gemacht wer-
den. Die Initiative hat jetzt 450 000 Jugendliche erreicht.
18 000 Jugendliche werden durch Berufseinstiegsbeglei-
ter eng betreut. Schon der Titel „Berufseinstiegsbeglei-
ter“ macht deutlich: In der Benachteiligtenförderung,
also im Umgang mit denen, die sich schwertun, dürfen
wir nicht mit großen Gruppen arbeiten, sondern wir
müssen immer stärker individuell begleiten. Das ist an-
spruchsvoll – es gibt übrigens viele, die das nahezu eh-
renamtlich tun –, aber es zeigt sich: Das ist der wirk-
samste Weg, junge Menschen zu ermutigen und ihnen
eine Art Navigationsmöglichkeit an die Hand zu geben.
Das soll überall in Deutschland möglich werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Viertens. Wir arbeiten weiter an der Durchlässigkeit
zwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. 16 Län-
der haben formal die bisher beim Übergang von der be-
ruflichen Bildung zu einem Hochschulstudium beste-
hende Hürde abgebaut.

Es sind viele konkrete Voraussetzungen, etwa bei der
Studieneingangsphase, notwendig, damit derjenige, der
aus dem Berufsleben kommt, im Studium tatsächlich er-
folgreich sein kann. Ich bin zutiefst davon überzeugt:
Wenn es um Weiterbildung geht, dann werden die Insti-
tutionen der beruflichen und der allgemeinen Bildung
immer stärker zusammenarbeiten.

Herzlichen Dank an alle, auch im Ausschuss, die ih-
ren Schwerpunkt auf die berufliche Bildung legen.
Deutschland spielt nicht nur nach innen, sondern immer
stärker auch nach außen – zunächst in Europa, aber auch
in Ländern wie Indien, China und anderen – eine wich-
tige Rolle, wenn es darum geht, Möglichkeiten der Teil-
nahme an moderner, weiterentwickelter beruflicher Bil-
dung zu eröffnen. Damit leisten wir einen gewichtigen
Beitrag für die Sicherung der Zukunftschancen der jun-
gen Generation.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721715400

Willi Brase hat das Wort für die SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1721715500

Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!

Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben im Mo-
ment, dass die Bereitschaft der Unternehmen, Ausbil-
dungsplätze zur Verfügung zu stellen, offensichtlich auf-
grund der sich abschwächenden Konjunktur etwas
nachlässt. Das BIB hat das untersucht – die Zahlen
haben Sie selber gelesen –: Wir haben circa 14 500 we-
niger angebotene Ausbildungsplätze, und wir haben
14 200 weniger Bewerberinnen und Bewerber.

Frau Ministerin – Sie haben es eben angesprochen –,
wir haben hier schon mehrfach darüber diskutiert, was
wir mit den immer noch fast 300 000 jungen Menschen
im sogenannten Übergangsbereich machen. Ich will gar
nicht von „Übergangssystem“ sprechen, weil es eigent-
lich kein System sein soll, sondern ein Übergangsbe-
reich.

Sowohl im nationalen Bildungsbericht als auch im
Berufsbildungsbericht wurde deutlich aufgeführt, dass
80 Prozent der dort verweilenden Jugendlichen entweder
einen Hauptschul- oder einen mittleren Abschluss ha-
ben; teilweise haben sie die Zugangsberechtigung für
Fachhochschulen oder sogar für Hochschulen. Das muss
man sich einmal vorstellen. Auf der anderen Seite wird
derzeit darüber debattiert, dass immer mehr Jugendliche
nicht ausbildungsreif sind. Ich finde, wenn so viele junge
Menschen mit einer so guten schulischen Qualifikation
in diesem Bereich verharren, dann läuft etwas schief.
Dann sind die Maßnahmen, die wir bisher ergriffen ha-
ben, offensichtlich nicht ausreichend.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Sie haben das Problem der Unternehmen, die Ausbil-
dungsplätze nicht besetzen können, im Berufsbildungs-
bericht beschrieben. Sie empfehlen den Unternehmen,
die Ausbildungsplätze, die nicht besetzt sind, der Agen-
tur für Arbeit zu melden. Das kennen wir. Sie wollen erst
einmal abwarten und beobachten. Ich glaube, es hilft uns
an der Stelle nicht weiter, wenn wir nur abwarten und
beobachten. Wir müssen uns schon überlegen, warum
von den 56 oder 57 Prozent der Betriebe, die ausbil-
dungsfähig sind – der Rest ist nicht ausbildungsfähig –,
nur 22 oder 23 Prozent ausbilden. Wenn der Pakt für
Ausbildung und Qualifikation einen Sinn haben soll,
dann müssen im Rahmen dieses Paktes endlich Maßnah-
men beschlossen werden, damit mehr Unternehmen be-
triebliche Ausbildungsplätze anbieten.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir führen eine Fachkräftedebatte. Wir brauchen we-
sentlich mehr junge Leute, die eine duale, betriebliche
Ausbildung absolvieren. Gleichzeitig wird über den eu-





Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)


ropäischen Zusammenhalt diskutiert. Es gibt ein neues
Programm dazu. Leider habe ich die Unterlagen am
Platz liegen lassen.


(Abg. Michael Gerdes [SPD] übergibt dem Redner ein Schriftstück)


– Das ist aber toll. – Entschuldigung, Frau Präsidentin.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721715600

Bewegung tut uns allen immer gut.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Willi Brase (SPD):
Rede ID: ID1721715700

Ich weiß. Ich rede dafür etwas schneller.

Das Arbeitsministerium hat uns Informationen zu ei-
nem wunderbaren Programm auf den Tisch gelegt, mit
dem junge Leute aus Spanien, aus Portugal und aus
Griechenland für eine Ausbildung in Deutschland ge-
wonnen werden sollen. Es geht um 130 Millionen Euro.
Wenn man sich das durchliest, denkt man: Donnerwet-
ter! Da ist man mit großer Gründlichkeit vorgegangen:
Finanzierung eines Deutschsprachkurses im Herkunfts-
land, Anreisekostenpauschale fürs Bewerbungsgespräch,
Anreisekostenpauschale für die Aufnahme des ausbil-
dungsvorbereitenden Praktikums, Rückreisekostenpau-
schale nach Beendigung des ausbildungsvorbereitenden
Praktikums, Anreisekostenpauschale für die Aufnahme
der betrieblichen Berufsausbildung, Reiserücktrittskos-
tenpauschale bei vorzeitiger Beendigung usw. usf. – Das
hört sich wunderbar an. Wenn man alles zusammenrech-
net, kommt man auf eine Summe zwischen 27 000 und
32 000 Euro für drei Jahre.

Das hört sich erst einmal gut an. Ich habe mit ver-
schiedenen Leuten aus dem Bereich der Industrie- und
Handelskammern gesprochen. Sie schlagen die Hände
über dem Kopf zusammen und sagen: Warum sollen wir
jetzt wieder Ausbildungsplätze alimentieren, wenn wir
es noch nicht einmal schaffen, den jungen Leuten, die
mit einem guten Schulabschluss im Übergangsbereich
hängen, eine Perspektive zu geben? Es schlägt doch dem
Fass den Boden aus, wenn ein Unternehmen einfach sa-
gen kann: Ich nehme mir schnell einen jungen Spanier.
Der wird wunderbar vorbereitet, und ich gebe ihm eine
geringe Ausbildungsvergütung; denn bis zu 818 Euro
bezahlt der Staat. – Dazu kann ich nur sagen: Wenn wir
den Betrag, der zur Förderung eines solchen Ausbil-
dungsplatzes vorgesehen ist, mal zwei nehmen, können
wir dafür einen Schulsozialarbeiter einstellen. Das wäre
angesichts der Probleme, die wir in manchen Schulen
haben, wesentlich sinnvoller.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich fordere Sie dringend auf, zu überlegen, ob eine der-
artige Alimentierung von Ausbildungsplätzen vor dem
Hintergrund der aktuellen Zahlen in unserem Land tat-
sächlich der richtige Weg ist.

Wir wollen alle jungen Leute in unserem Land mit-
nehmen. Deshalb schreiben wir als SPD in unserem An-
trag, dass wir so etwas wie eine Ausbildungsgarantie für
einen richtigen und guten Weg halten. Wenn es richtig
ist, dass wir zukünftig Fachkräfte brauchen werden,
wenn es richtig ist, dass wir zahlreiche Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer brauchen, die eine duale Ausbil-
dung absolviert haben, dann müssen entsprechende An-
strengungen unternommen werden. Wir wollen den
jungen Leuten signalisieren: Wir sorgen mit dafür, dass
ihr eine bessere Chance erhaltet. Mittlerweile bemühen
sich 16 Ministerien aus neun Bundesländern darum, die
jungen Leute im Übergangsbereich wesentlich besser,
schneller und zielgerichteter auf die Ausbildung vorzu-
bereiten, damit sie eine bessere Chance erhalten.

Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, der
mittlerweile eine große Rolle spielt, den man beobachten
muss. Wir haben hier vor einigen Jahren über die dop-
pelten Abiturjahrgänge diskutiert. Wenn man das Ganze
betrachtet, auch die Erfolgsgeschichte des dualen Aus-
bildungssystems, stellt man fest, dass das duale System
an zwei Stellen ein Stück weit in die Zange genommen
wird, wie ich glaube. Warum profitiert das duale System
eigentlich nicht von den doppelten Abiturjahrgängen?
Müssen wir dieser Frage nicht einmal nachgehen? Wa-
rum haben wir das nicht erreicht, obwohl der Präsident
des Deutschen Handwerkskammertages seit drei Jahren
sogar mit großen Anzeigen um gute junge Leute
– sprich: Abiturienten – wirbt? Warum ist das nicht ge-
lungen?

Darauf haben Sie bisher keine Antwort. Es gibt auch
in Bezug auf den Ausbildungspakt keine Antwort von
Ihnen bzw. von der Bundesregierung. Ich glaube, wenn
wir das so weiterlaufen lassen, laufen wir möglicher-
weise Gefahr, dass das duale Ausbildungssystem zerrie-
ben wird.

Zweitens geht es um den Übergangsbereich. Ich kann
und werde niemanden daraus entlassen, Folgendes zur
Kenntnis zu nehmen: Es gibt 300 000 junge Leute im
Übergangsbereich – im Prinzip sind das 300 000 zu
viel –, die dort ohne Perspektive begleitet, bevormundet,
betüttelt, manchmal auch ein bisschen qualifiziert wer-
den und danach immer noch nicht wissen, wo sie landen.

Wenn wir beide Bereiche – einmal betrifft das den
Eingangsbereich, wo es hin zur dualen Ausbildung geht,
und zum anderen den Ausgangsbereich, wo es hin zur
Hochschule geht – nicht in den Griff bekommen, wird
unser duales System nicht mehr so gut weiter nach vorne
kommen, wie wir das allgemein – ich glaube, das ist
überall Konsens – in der Diskussion hier wünschen und
als gut ansehen. Über die von der Ministerin angespro-
chenen Punkte kann man sehr trefflich und gut diskutie-
ren. Darüber hinaus will ich noch einmal deutlich sagen:
Wenn wir die Chancen der dualen Ausbildung weiter
verbessern wollen, dann müssen wir endlich dafür sor-
gen, dass die jungen Leute schneller und besser in dieses
System hineinkommen.

Ich meine, die Bundesregierung sollte – darauf wurde
mehrfach hingewiesen – mit ihren Ressorts dafür sorgen,
die Vielfalt der Maßnahmen in dieser Legislaturperiode





Willi Brase


(A) (C)



(D)(B)


zu reduzieren. Etwas anderes wäre nicht förderlich. Sie
selber sagen, dass die Vielfalt im Übergangsbereich
falsch ist. Dazu gibt es einen Kommentar, der lautet: Wir
wollen schauen, dass die Bundesressorts – angefangen
vom BMBF bis hin zum BMAS – das zukünftig beach-
ten. – Das ist zu wenig. An dieser Stelle hat die Bundes-
regierung ihre Hausaufgaben nicht genügend gemacht,
liebe Kolleginnen und Kollegen.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Ich komme zum letzten Punkt, über den auch immer
wieder diskutiert wird. Dabei geht es – ich habe das
schon einmal angesprochen – um die fehlende Ausbil-
dungsreife. Wir sollten uns, glaube ich, davor hüten,
pauschal zu sagen: Wir erleben jetzt Jahrgänge mit jun-
gen Leuten, die nicht genügend ausbildungsreif sind.
Immer mehr Bundesländer nehmen dieses Problem in
Form von Berufsorientierung und Potenzialberatung in
der achten Klasse – teilweise auch in der siebten
Klasse – in Angriff.

Ich kann mir nicht vorstellen, dass man 80 Prozent
der jungen Leute im Übergangsbereich sagt: Du bist
nicht ausbildungsfähig. Vielleicht macht es, wenn wir
bei den Betrieben eine Verbesserung erreichen wollen,
Sinn, diese einmal zu fragen: Wie groß ist eigentlich
eure Ausbildungsfähigkeit? Seid ihr immer in der Lage,
die ausreichende Qualität zur Verfügung zu stellen?
Werden die Ausbildungspläne tatsächlich eingehalten?
Wie kommt es, dass der gesamte HOGA-Bereich, das
Fleischereihandwerk, das Nahrungs- und Genussmittel-
handwerk echte Probleme haben, Auszubildende zu
bekommen? Hat das nicht auch etwas mit Betriebsstruk-
turen zu tun? Hat es nicht auch etwas mit konkreten
Ausbildungsbedingungen – mit Überstunden etc. – zu
tun?

Wenn man das Bildungssystem und die duale Ausbil-
dung nach vorne bringen will, dann muss man auch das
Kreuz durchdrücken, mit den Unternehmen reden und
dort, wo es notwendig ist, Verbesserungen bzw. mehr
Qualität auf den Weg bringen. Denn nur mit Qualität
wird dieses gute duale System auch in Zukunft eine
Chance haben.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721715800

Heiner Kamp hat das Wort für die FPD-Fraktion.


(Beifall bei der FDP)



Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1721715900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Meine Damen und Herren! Lieber Herr Brase, möchten
Sie mir einmal kurz zuhören? Ich lade Sie herzlich in
meinen Wahlkreis Gütersloh ein. Ich komme aus Vers-
mold. Dort ist man unter anderem in der Ernährungs-
wirtschaft sehr stark. Es gibt da hervorragende Ausbil-

dungsbetriebe, die super strukturiert sind. Diese haben
einfach Schwierigkeiten, Auszubildende zu bekommen.
Die Auszubildenden, die dort ihre Ausbildung absolvie-
ren, machen das mit sehr großem Erfolg. Die Aus-
bildungsbetriebe geben sich allergrößte Mühe, diesen
Jugendlichen den besten Übergang in ihren Beruf zu er-
möglichen. Ich finde, das sollte man auch einmal aner-
kennen, und nicht alles sollte schlechtgeredet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Berufsbildungsbericht unterstreicht erneut, dass
das duale Ausbildungssystem ein Erfolgsmodell ist.
Darüber haben wir uns in den vergangenen Monaten
ausgiebig ausgetauscht. Wir sind uns da fraktionsüber-
greifend einig. Deutschland geht es gut. Die hervorra-
gend ausgebildeten Fachkräfte, die unser Ausbildungs-
system hervorbringt, sind eine zentrale Stütze für den
wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes. In der bisheri-
gen Debatte hat mich gestört – das missfällt mir auch
sonst im Alltag oft –, dass es mangelnde Anerkennung
für Menschen mit beruflicher Ausbildung und für unser
deutsches Berufsbildungssystem als solches gibt.

Der durchschlagende Erfolg des dualen Ausbildungs-
systems wird erst langsam sichtbar. Es gab und gibt im-
mer noch diejenigen, die behaupten, eine akademische
Ausbildung sei die „Krone der Schöpfung“, das
Nonplusultra. Doch es ist einfacher geworden, die Vor-
züge des Berufsbildungssystems darzustellen und sich
für diesen Pfad der Qualifizierung einzusetzen. Das war
leider beileibe nicht immer so.

Mittlerweile haben auch die großen Freunde der re-
glementierten, monolithisch verschulten Bildungs-
systeme mitbekommen, welchen Vorteil es in sich birgt,
ein differenziertes System der Qualifizierung, die duale
Berufsausbildung und die Hochschule, zu besitzen. Wir
sind Vorbild für Europa. Das zeigt das ungebrochene
Interesse der Besuchergruppen aus aller Welt, die zu uns
kommen.

Deshalb gilt es, das große Engagement aller in der be-
ruflichen Bildung Aktiven ausdrücklich zu würdigen.
Viel zu selten erkennen wir die guten Leistungen in un-
serem Land an.

Wenn gute Reden sie begleiten,
Dann fließt die Arbeit munter fort.

So sagte es schon Schiller. Deshalb lassen Sie mich al-
len, die zum Erfolg der beruflichen Bildung in Deutsch-
land beitragen, ein herzliches Dankeschön und „Weiter
so!“ zurufen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die FDP steht an ihrer Seite und wird sich vehement da-
gegen wehren, dass Sand in das gut geölte Räderwerk
gestreut wird.

Sie merken, damit bin ich bei den rot-grünen Vorstel-
lungen. Die Grünen werden ja gemeinhin als Propheten
des Weltuntergangs gehandelt.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Echt? Von wem?)






Heiner Kamp


(A) (C)



(D)(B)


Wovor hat man nicht alles gewarnt? Faxgerät, Internet,
Biotechnik und künstliche Verfahren, zum Beispiel bei
der Herstellung von Insulin. Das Risiko wird von den
Grünen immer höher bewertet als die Chance. Nur bei
Experimenten mit unserem Bildungssystem und den
Chancen unserer Kinder und Jugendlichen trauen sich
die Grünen plötzlich ganz viel zu. Da werden gut funk-
tionierende Bildungszweige zerstört.

Ein wunderbares Beispiel vom grünen Schrottplatz
der Zukunft: Unser herausragendes und international ze-
lebriertes Modell der Berufsausbildung soll durch das
grüne DualPlus-Konstrukt zerstört werden. Niemand
– ich muss es in jeder Rede wiederholen, damit Sie es
vielleicht irgendwann verstehen –, wirklich niemand
will diesen grünen Quark. Dennoch wird er uns immer
wieder von Ihnen aufgetischt. Selbst beim aktuellen
Kanzlerkandidaten der SPD bin ich mir unsicher, ob er
diese grüne Plörre löffeln würde, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Das Prädikat „schädlich“ trägt auch die SPD-Forde-
rung nach einem Recht auf Ausbildung. Wir brauchen
keine Ausbildungsplatzgarantie. Der erfolgreiche Aus-
bildungspakt ist ein Beispiel dafür, dass die Unterneh-
men ihrer Verantwortung gerecht werden. Dass es auch
im ureigenen Interesse der Wirtschaft liegt, den Fach-
kräftenachwuchs zu sichern, klingt zumindest im Ansatz
aus Ihrem Antrag heraus. Doch ziehen Sie insgesamt
wiederum die falschen Schlüsse. Gut für das berufliche
Bildungssystem und gut für unser Land ist, dass Union
und FDP in Deutschland die Regierungsverantwortung
haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Das heißt, wir brauchen weder Zwangsabgaben noch
Strafen für Ausbildungsbetriebe. Wir benötigen auch
kein schulisches Ergänzungsmodell zu unserer erfolgrei-
chen dualen Ausbildung. Basis für den Erfolg der beruf-
lichen Bildung in Deutschland ist, dass Jugendliche
solche Ausbildungsberufe ergreifen, die von den Unter-
nehmen angeboten werden und in denen sie Beschäftigte
benötigen. Das sichert den Fachkräftenachwuchs und
sorgt für die ausgezeichneten Übergangsquoten in Be-
schäftigung. Deshalb blickt man aus Europa bewun-
dernd auf unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit.


(Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP]: Hört! Hört!)


In unserem Antrag benennen wir die Herausforderun-
gen und machen sachgerechte Vorschläge für eine
zukunftsgerichtete Weiterentwicklung der beruflichen
Bildung in Deutschland. Insbesondere sind dies der Aus-
bau der Berufsorientierung, die Steigerung der Auslands-
erfahrung während der Ausbildung – sie ist wichtig in
einer globalisierten Welt –, die weitere Stärkung der
Einstiegsqualifizierung als Brücke in Ausbildung für
Leistungsschwächere, die Steigerung der Begeisterung
für MINT-Fächer und die Ausbreitung der internationa-
len Akzeptanz der deutschen Berufsbildung.

Dafür werden wir gemeinsam arbeiten. Dafür werden
wir im Herbst bestätigt, und dafür wird am Sonntag die
erfolgreiche niedersächsische Landesregierung bestätigt.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721716000

Agnes Alpers hat jetzt das Wort für die Fraktion Die

Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721716100

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und

Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei Herrn
Kamp haben wir es gerade wieder erlebt: Kaum taucht
das Wort Berufsbildungspolitik auf, klopfen Sie sich auf
die Schultern und erzählen uns, wie gut die duale Aus-
bildung ist.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU sowie des Abg. Dr. Martin Neumann [Lausitz] [FDP])


Da sind wir uns doch alle einig, Herr Kamp, da gibt es
doch gar keinen Widerspruch. Als Linke wollen wir das
duale System stärken und vor allem Ausbildung für alle
garantieren.


(Beifall bei der LINKEN)


Denn immer noch erhalten nur zwei Drittel der ausbil-
dungsinteressierten Schulabgängerinnen und Schulab-
gänger einen Ausbildungsplatz. Immer noch befinden
sich 300 000 junge Menschen im sogenannten Über-
gangssystem. Allein in Niedersachsen waren im letzten
Jahr 48 000 junge Menschen dort untergebracht; das ent-
spricht 37,5 Prozent der Schulabgänger. Niedersachsen
belegte damit direkt hinter Baden-Württemberg Spitzen-
platz zwei. Das ist doch ein Armutszeugnis, meine
Damen und Herren.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Immer noch haben wir 2,2 Millionen Menschen zwi-
schen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluss zu ver-
zeichnen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Und warum?)


Nur die Hälfte von ihnen ist erwerbstätig. Ohne Ausbil-
dung werden sie ihre Lebenssituation nicht verändern
können. Auch das ist ein Armutszeugnis.

Wir fordern in unserem Antrag ein umfangreiches
Sofortprogramm, um Ausbildung für alle zu garantieren.
Vor drei Monaten hat die Koalition einen Antrag vorge-
legt, den sie als – ich zitiere – „Versicherung gegen Ju-
gendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel“ bezeichnet
hat. Dieser Antrag ist ein Sammelsurium von Absichts-
erklärungen. So wollen Sie beispielsweise die Anzahl
der Azubis mit Auslandserfahrung erhöhen;





Agnes Alpers


(A) (C)



(D)(B)



(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ja! Das ist doch eine gute Sache!)


aber wie, das wird nicht gesagt. Die informell erwor-
benen Kompetenzen sollen gemessen und anerkannt
werden. Das ist gut; aber wie, das wird nicht gesagt. Die
Bildungsprämien wollen Sie weiterentwickeln. Auch das
ist gut;


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ja! Das ist alles gut!)


aber wie, dazu sagen Sie nichts. In diesem Antrag benen-
nen Sie keine Programme und keine Konzepte, wie die
Ausbildungskrise bewältigt und überwunden werden
kann. Einen solchen Antrag als „Versicherung gegen
Jugendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel“ zu be-
zeichnen, das sind nur fromme Wünsche.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Nichts gegen fromme Wünsche, Frau Kollegin!)


Die Ausbildungsmisere will die Koalition nun folgen-
dermaßen lösen:

Erstens. CDU/CSU und FDP setzen auf den demo-
grafischen Wandel. Für sie hat sich bereits in den letzten
Jahren ein Paradigmenwechsel auf dem Ausbildungs-
stellenmarkt vollzogen. Es gebe mehr Stellen als Ausbil-
dungsinteressierte, sagen Sie. Ich sage Ihnen: Das
stimmt nicht; denn es gibt noch 2,2 Millionen Menschen
bis 34 Jahre ohne Berufsabschluss. Oder wollen Sie uns
hier und heute weismachen, dass all diese Menschen
kein Ausbildungsinteresse haben?


(Heiner Kamp [FDP]: Ach, Frau Alpers, was soll denn das? Also bitte!)


Frau Schavan sagte gerade, dass sie das Übergangs-
system in den nächsten Jahren auf null herunterfahren
will. Das Bundesinstitut für Berufsbildung stellte aller-
dings fest, dass sich dort trotz des demografischen
Wandels langfristig noch über 200 000 junge Menschen
befinden werden.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wenn man nichts ändert! Richtig!)


Fakt ist, dass die soziale Herkunft nach wie vor die Zu-
kunft dieser jungen Menschen bestimmt. Hauptsächlich
handelt es sich um junge Menschen mit niedrigem
Schulabschluss, Menschen mit Behinderung, Frauen und
Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Ausgren-
zung müssen wir endlich stoppen.


(Beifall bei der LINKEN)


Zweitens wollen CDU/CSU und FDP gemeinsam mit
der Wirtschaft Formen finden, mit denen man die – ich
zitiere – „soziokulturellen Milieus“ ansprechen kann.
Das ist verlogen; denn gleichzeitig bezeichnen Sie in Ih-
rem Antrag alle Menschen mit Migrationshintergrund
als Ausländer, bei denen die mangelnde Ausbildungs-
reife klar auf der Hand liege, da die Hälfte von ihnen im
Übergangssystem beginne. Mit anderen Worten: Die eth-
nische Herkunft, der Migrationshintergrund, ist schuld.

Meine Damen und Herren, all diese jungen Menschen
sind in Deutschland geboren. Ihre Familien leben oft
schon seit Generationen hier. Viele haben einen deut-
schen Pass. Sie wollen hier leben und sich beteiligen.
Aber Sie bezeichnen all diese Menschen trotz jahrzehn-
telanger Integrationspolitik immer noch als Ausländer.
Das ist unfassbar!


(Beifall bei der LINKEN – Ewa Klamt [CDU/ CSU]: Ihre Rede ist unfassbar!)


Zwei Drittel dieser Menschen bekommen keinen Ausbil-
dungsplatz, weil sie Ali oder Aische heißen,


(Uwe Schummer [CDU/CSU]: Was? Ich glaube, ich bin im falschen Film!)


selbst dann nicht, wenn sie einen guten Realschul-
abschluss oder sogar Abitur haben. Meine Damen und
Herren von der Koalition, wer Diskriminierung und
Vorurteile in einem eigenen Antrag schürt, verschärft die
soziale Ausgrenzung. Wir Linken lehnen eine solche
Politik ab.


(Beifall bei der LINKEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Und wir machen sie nicht!)


Drittens. Auch das Argument, eine wesentliche Ur-
sache der Misere sei die mangelnde Ausbildungsreife
der jungen Menschen, nehmen wir Ihnen nicht ab. Wir
haben gehört, dass sich 80 Prozent dieser jungen Men-
schen deshalb in dem sogenannten Übergangssystem be-
finden, weil keine passenden Ausbildungsplätze vorhan-
den sind. Das kann doch nicht sein. Was die anderen
20 Prozent angeht, sagen wir ganz klar: Jeder muss indi-
viduell so unterstützt werden, dass er nach der Maß-
nahme verlässlich in Ausbildung geht. Es kann doch
nicht sein, dass Hauptschüler im Durchschnitt zweiein-
halb Jahre im Übergangssystem verbringen und danach
vielleicht doch keinen Ausbildungsplatz erhalten und als
ungelernte Kräfte in prekärer Arbeit landen. Damit müs-
sen wir Schluss machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Viertens. Frau Schavan, in Ihrer letzten Rede zum Be-
rufsbildungsbericht im Oktober 2012 haben Sie Ausbil-
dungsgarantie und Umlagefinanzierung als – ich zitiere –
„alte Klamotte“ bezeichnet. Sie setzen auf das freiwil-
lige und hochverantwortliche Engagement der Unterneh-
men. Heute haben 2,2 Millionen Menschen bis 34 Jahre
keinen Berufsabschluss. Dennoch haben die Betriebe im
letzten Jahr 10 000 Ausbildungsplätze weniger angebo-
ten als 2011. In diesem Zusammenhang verweisen Sie
auf gute Zahlen bei den abgeschlossenen Ausbildungs-
verträgen. Laut BIBB hat die Zahl der abgeschlossenen
Ausbildungsverträge seit der Wende jedoch einen neuen
Tiefstand erreicht. Frau Schavan, Ihre freiwillige Selbst-
verpflichtung hat noch nie funktioniert.

Mit unserem Antrag wollen wir nicht nur das Recht
auf eine qualifizierte Ausbildung für alle garantieren,
wir sagen auch: Wir wollen kleine Betriebe fördern,
wenn sie zum ersten Mal ausbilden, wenn sie zusätzliche
Ausbildungsplätze anbieten, wenn sie im Verbund aus-
bilden. Wir wollen alle Betriebe unterstützen, die genau
die in Ausbildung bringen, die häufig ausgegrenzt sind:





Agnes Alpers


(A) (C)



(D)(B)


Menschen mit niedrigen Schulabschlüssen, Menschen
mit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung,
Frauen.

Ich komme zum Schluss. Fest steht doch: Ausbildung
für alle ist nur mit einem Recht auf Ausbildung und mit
einer Ausbildungsumlage umzusetzen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721716200

Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die

Grünen.


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721716300

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Sehr geehrte Damen und Herren! Die katastrophale Ju-
gendarbeitslosigkeit ist eines der drängendsten Probleme
in Europa. Dass in Spanien und Griechenland jeder
zweite Jugendliche arbeitslos ist, ist zutiefst beunruhi-
gend. Eine Jugend ohne Perspektive birgt sozialen
Sprengstoff. Diese alarmierende soziale Krise ist eine
Folge der Finanzkrise.

Als solidarische Europäer muss es uns umtreiben,
dass eine ganze Generation junger Europäer abgehängt
zu werden droht.


(Anette Hübinger [CDU/CSU]: Wir waren die ersten, die sich darum gekümmert haben!)


Die Bundesregierung hat die Hiobsbotschaften viel zu
viele Monate auf die leichte Schulter genommen, die
Probleme treiben lassen. Für ein soziales Europa steht
Schwarz-Gelb sicherlich nicht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dass jetzt endlich, angetrieben aus Brüssel, reagiert
wird und versucht wird, die berufliche Bildung europa-
weit zu stärken, ist richtig und war lange überfällig.

Das breite Interesse anderer Länder an unserer dualen
Ausbildung zeigt, dass sie geschätzt wird. Unser Be-
rufsbildungssystem ist aber kein Allheilmittel, zu einer
kurzfristigen Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in
Krisenländern taugt es nicht. Ohne mutige Investitions-
programme zur Ankurbelung der Wirtschaft, ohne Be-
schäftigungsimpulse für Jugendliche und ohne einen
fairen Einstieg in den Arbeitsmarkt nutzt den Krisenlän-
dern der bloße Import unserer dualen Ausbildung wenig;
dann bliebe die ausgerufene Europäische Jugendgarantie
ein hohles Wort. Das zu sagen, gehört zur Redlichkeit in
dieser Debatte dazu, Frau Ministerin.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Das Hochloben des Exportschlagers duale Ausbil-
dung darf nicht von den vielen Herausforderungen ab-
lenken, die die Bundesregierung hierzulande endlich an-
packen muss. Auch hier ist nicht alles Gold, was die
Regierung als solches verkaufen will. Ja, Bund und Län-
der haben in den letzten Jahren die Zahl der Schulabbre-
cherinnen und Schulabbrecher verringert.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber welche Chancen haben denn die 50 000 in jedem
Jahr, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen?
Hamburg und Nordrhein-Westfalen zeigen strukturelle
und nachhaltige Initiativen.


(Beifall des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Was hat Frau Schavan seit 2005 getan? Fast nichts.
Bildungsketten, Frau Schavan, sind gut; aber sie sind
viel zu kurz. Tausend hauptamtliche Berufsbegleiter bei
16 000 Schulen und 4,5 Millionen Schülerinnen und
Schüler, die sie brauchen könnten – das ist ein Tropfen
auf den heißen Stein.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD – Uwe Schummer [CDU/CSU]: 3 000!)


Mit welchen Maßnahmen senkt die Bundesregierung
die Zahl derjenigen, die ihre Ausbildung abbrechen? Die
Abbruchquote ist zuletzt sogar auf 23 Prozent gestiegen.
In einzelnen Berufen liegt sie bei über 40 Prozent. Das
wirft Fragen nach der Ausbildungsqualität auf. Denen
müssen Sie sich endlich stellen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Was wird aus den noch immer knapp 300 000 Jugend-
lichen, die nach der Schule in Maßnahmen des Über-
gangssektors feststecken? Diese Maßnahmen haben sich
doch vor allem als Warteschleifen ohne Mehrwert für
diese Jugendlichen erwiesen.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN)


Ich sehe weit und breit kein Konzept dafür, wie die Re-
gierung diese Jugendlichen zügig zum Berufsabschluss
führen will. Nur auf demografische Effekte zu hoffen,
reicht nicht. Sie müssen handeln!

Auch infolge dieses Maßnahmendschungels stehen
hier inzwischen mehr als 2 Millionen bis 34-Jährige
ohne Berufsabschluss da. Das ist skandalös. Das sind un-
gelöste Probleme hierzulande. Die Bildungs- und die Ar-
beitsministerin müssen hier endlich eine Initiative vorle-
gen, statt die Mittel für die Arbeitsförderung zu kürzen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721716400

Herr Gehring, der Kollege Feist würde Ihnen gerne

eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie die zulassen?


Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721716500

Ja, bitte.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721716600

Bitte.


Dr. Thomas Feist (CDU):
Rede ID: ID1721716700

Vielen Dank, Herr Kollege Gehring. – Immer wieder

ist in den Reden von der Schwierigkeit des Übergangs-
systems gesprochen worden. Natürlich ist uns allen klar,





Dr. Thomas Feist


(A) (C)



(D)(B)


dass eine gute duale Ausbildung besser ist. Einige Red-
ner haben heute die Maßnahmen im Übergangssystem
aber als Ausgrenzung und Sackgasse bezeichnet und in
diesem Zusammenhang von Perspektivlosigkeit gespro-
chen. Ich finde, damit wird die Leistung derjenigen, die
sich im Übergangssystem gerade um die Schwächsten in
der Gesellschaft kümmern, einfach in den Schmutz ge-
zogen. Ich möchte von Ihnen wissen: Ist das Übergangs-
system für Sie ohne jede Perspektive? Ja oder nein?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Kai Gehring (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721716800

Ich habe es so verstanden, dass inzwischen selbst

Union und FDP sagen, wir müssten diese Warteschleifen
verringern und den Übergangssektor reduzieren. Ich
habe inzwischen auch wahrgenommen – wir Grüne ha-
ben sehr viele Jahre entsprechend argumentiert –, dass
dieses Übergangssystem nicht als System, sondern als
Sektor bezeichnet wird, in dem es auch viel Wildwuchs
gibt. Selbstverständlich findet dort auch viel zur Integra-
tion von Jugendlichen statt, aber die allermeisten Maß-
nahmen sind eben nicht geeignet, um echte Perspektiven
zu schaffen, sondern Warteschleifen, die den Einstieg in
die Ausbildung verzögern.

Die Ministerin hat hier gesagt, diesen Übergangssek-
tor auf null reduzieren zu wollen. Das setzt politisches
Handeln voraus. Deshalb kann das nicht einfach so wei-
terlaufen. Wenn Sie an diesem Übergangssektor nichts
ändern – das zeigen verschiedene Studien, zum Beispiel
auch vom BIBB –, dann werden auch in den nächsten
Jahren noch über 200 000 junge Menschen in diesem
Übergangssektor verbleiben. Das kann ja wohl nicht das
Ziel sein, sondern wir wollen so schnell wie möglich so
viele Jugendliche wie möglich in reguläre Ausbildung
bringen.

Es muss das Ziel sein, den Übergangssektor tatsäch-
lich auf null zu senken. Dafür haben wir mit DualPlus
auch ein gutes Konzept. Darauf komme ich gleich noch
einmal zurück.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ungelernte und Geringqualifizierte haben ein höheres
Erwerbslosigkeitsrisiko als Menschen mit Berufsab-
schluss. Deshalb ist auch klar: Unser Bildungssystem
spaltet in Gewinner und Verlierer. Das darf diese Regie-
rung nicht länger hinnehmen. Deshalb muss eine Jugend-
garantie in Deutschland lauten: keinen Jugendlichen
ohne anständigen Abschluss lassen, keinen Jugendlichen
in Perspektivlosigkeit und Abhängigkeit von Sozial-
transfers schicken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich danke für meine gesamte Fraktion an dieser Stelle
allen Betrieben in Deutschland, die ausbilden; das ist
doch selbstverständlich.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)


Ich danke vor allem den Betrieben, die bildungsfernen
und benachteiligten Jugendlichen eine Chance geben.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Dr. Ernst Dieter Rossmann [SPD])


Es müssen aber noch deutlich mehr werden. Daher
appelliere ich an die Wirtschaft: Geben Sie Jugendlichen
mit schlechten Startvoraussetzungen eine Chance. Es
hilft niemandem, über Ausbildungsreife zu lamentieren.
Sehen und wecken Sie die Potenziale in jedem Jugend-
lichen!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Nur so bewältigen wir auch eine derzeit völlig ab-
surde Situation: Es mangelt an Fachkräften, es mangelt
vor allem in kleinen und mittleren Betrieben an Nach-
wuchs. Aber selbst 2012 suchten noch 76 000 junge
Menschen einen Ausbildungsplatz. Besonders betroffen
ist mit dem Handwerk auch ein Herzstück unseres dua-
len Ausbildungssystems. Ich sage Ihnen, Frau Schavan:
Wenn Sie Fachkräftemangel bekämpfen wollen, dann
dürfen Sie sich nicht auf demografischen und konjunktu-
rellen Effekten ausruhen. Sie müssen die ausbildungspo-
litischen Herausforderungen anpacken.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Heiner Kamp [FDP]: Lesen Sie unseren Antrag, Herr Gehring! Darin steht alles!)


Die Frage ist doch: Wie können wir die Lücke zwi-
schen den Anforderungen der Betriebe und den vielfälti-
gen Voraussetzungen junger Menschen schließen und
echte Brücken in Ausbildung bauen? Unser grünes Aus-
bildungskonzept DualPlus beantwortet diese Frage. Es
zeigt, wie durch individuell angepasste Bausteine alle
Jugendlichen die einzelnen Schritte bis zu einem Berufs-
abschluss schaffen können – ohne Warteschleifen und
ohne Maßnahmendschungel. Es zeigt, wie gerade im
Markt benachteiligte Jugendliche ergänzend zum dualen
Lernen in Berufsschule und Betrieb in überbetrieblichen
Ausbildungsstätten individuell gefördert und über die
gesamte Ausbildung begleitet werden. Das hilft auch
kleinen und spezialisierten Betrieben und solchen ohne
Ausbildungstradition. Sie können auch ausbilden, indem
sie einzelne betriebliche Module anbieten. Für Jugend-
liche und für Betriebe ist DualPlus ein ausbildungspoliti-
scher Mehrwert, den wir nutzen sollten.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Die Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung in
Europa ist das eine, das andere ist, eine schlüssige Ant-
wort auf die Probleme hierzulande zu finden. Leider
muss ich sagen, auch in der beruflichen Bildung hat
diese Bundesregierung wenig bis nichts vorangebracht,
sie hat nur von der guten Konjunktur profitiert. Es wird
höchste Zeit für einen bildungspolitischen Wechsel.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Ungeheuerlich!)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721716900

Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1721717000

Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!

Die Harmonisierung des Übergangssystems von der
Schule zum Beruf ist genau das, was Annette Schavan
und wir gemeinsam in der christlich-liberalen Koalition
mit den Bildungsketten angeschoben haben. Wir haben
gesagt, dass wir möglichst in allen Schulen – Haupt- und
Realschulen, in den Gesamtschulen – drei Jahre vor der
Entlassung so etwas wie eine Potenzialanalyse durchfüh-
ren wollen. Wir wollen ermitteln, wo die Stärken und die
Schwächen der Schüler sind. Dabei wollen wir auch mit
externer Kompetenz arbeiten, mit Menschen, die in die
Schule kommen und diese Analyse mit den Lehrern ge-
meinsam durchführen. Wir wollen, dass bereits zwei
Jahre vor der Entlassung in den Schulen über überbe-
triebliche Werkstätten bestimmte Berufsfelder durchlau-
fen werden können. Das geht zwar nicht in allen 342 Be-
rufsbildern, aber es sollte zumindest möglich sein, beim
Kolpingwerk oder beim Handwerk schauen zu können,
welche Berufsfelder in den Bereichen Holz, Metall,
Hauswirtschaft, Gesundheit, Verwaltung für den Einzel-
nen spannend sind. Am Ende sollen dann die Schüler mit
den Lehrern, mit den Eltern und mit den Einstiegsbeglei-
tern überlegen, welche betrieblichen Praktika zum richti-
gen Beruf führen können. Das ist genau die Glättung, die
Harmonisierung, die wir mit den Bildungsketten umset-
zen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dafür finanzieren wir, Kollege Gehring, eben nicht nur
1 000 Einstiegsbegleiter, wie Sie es sagten, sondern
3 000.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: An 16 000 Schulen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721717100

Herr Schummer, Entschuldigung! Frau Alpers würde

Ihnen gern eine Frage stellen.


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1721717200

Frau Alpers, Sie haben eben lange geredet und falsche

Zahlen genannt. Ich werde jetzt meine Rede zu Ende
führen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Lesen Sie erst einmal die richtigen Zahlen, damit wir da-
rüber dann auch miteinander diskutieren können.

Das Berufsbildungsinstitut hat errechnet, dass die
Ausbildungsvergütungen um 4,6 Prozent in diesem Jahr
auf 730 Euro angestiegen sind. Das zeigt auch für die
Unternehmen: Hier ist der Wert der beruflichen Ausbil-
dung gestiegen.

Es sind insgesamt 30 Milliarden Euro, die neben den
öffentlichen Mitteln des Bundes, der Länder und der
Kommunen von der Wirtschaft für Ausbildungsvergü-
tungen, für Ausbildungswerkstätten und für Ausbilder
mobilisiert werden. Für diese besonderen Finanzierungs-
leistungen in Deutschland sollten wir der Wirtschaft
– neben dem Personal – danken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben 342 Berufe, wir müssen aber feststellen,
dass sich 88 Prozent der Schüler um etwa 149 Berufe be-
werben. Also ist auch die Überlegung: Warum haben wir
allein 54 verschiedene kaufmännische Berufsbilder?
Lassen Sie uns doch einmal mit den Sozialpartnern und
den Kammern überlegen, wie wir eine Zusammenfüh-
rung von Berufsfeldern erreichen können. Nach dem
Konzept „Dual mit Wahl“ sollten wir eine gemeinsame
Grundausbildung – beispielsweise im kaufmännischen
Bereich – einführen, die anderthalb oder zwei Jahre dau-
ert. Darauf bauen dann die Spezialisierungen wie Reise-
verkehrskaufmann, Industriekaufmann, Groß- und Au-
ßenhandelskaufmann bis hin zum Fitnesskaufmann auf.
Wir wollen die Gleichwertigkeit zwischen akademischer
und beruflicher Bildung in einem europäischen Bil-
dungsraum.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Europäische Kommission hat in ihrem Bericht
zur Situation in Deutschland formuliert: Garant für die
Heranziehung qualifizierter Arbeitskräfte und eine nied-
rige Jugendarbeitslosigkeit ist das duale Ausbildungs-
system. – Gleichzeitig führen wir eine Debatte mit der
Europäischen Kommission darüber, dass beispielsweise
für den Pflegeberuf das Abitur erforderlich sein soll. Das
ist ein Stück weit doppelzüngig, auch vonseiten der So-
zialdemokratie.

Während hier Willi Brase, alter, lieber Kollege, das
Hohe Lied der dualen Ausbildung singt, will die Bericht-
erstatterin der Sozialdemokraten im Europaparlament all
diejenigen, die nicht das Abitur haben, aus der Pflegebe-
rufsausbildung ausgrenzen, die Tür für all diejenigen zu-
schlagen, die vor der Pflegeausbildung kein Abitur ge-
macht haben. Von den 40 000 Auszubildenden derzeit in
Deutschland im Gesundheitsbereich – ob sie nun eine
Hebammen-, ob sie eine Pflegeausbildung absolvieren –
haben 15 000 das Abitur. Alle anderen würden durch die
Sozialdemokraten, und zwar durch ihre Berichterstatte-
rin im Europaparlament zu dieser Thematik, Evelyne
Gebhardt, ausgegrenzt.

Am 24. Januar wird hierüber im Europaparlament
entschieden. Ob sie es mit der Stärkung der dualen Aus-
bildung im europäischen Bildungsraum ernst meinen,
das werden wir bei den Sozialdemokraten im Europapar-
lament am 24. Januar feststellen, je nachdem, wie sie
dann abstimmen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721717300

Herr Schummer, möchten Sie Herrn Rossmann die

Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1721717400

Herr Rossmann hat in der Regel richtige Zahlen. Des-

halb lasse ich die Frage gerne zu.


(Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Von mir dann nicht, oder?)



Dr. Ernst Dieter Rossmann (SPD):
Rede ID: ID1721717500

Herr Schummer, es soll nicht um Zahlen gehen, son-

dern um den Konsens, den Sie am Anfang angesprochen
haben. Ist es richtig, dass es in der deutschen Sozialde-
mokratie im Bundestag und in den Ländern sehr viele
andere Stimmen gibt als die einzelne Stimme von Frau
Gebhardt aus dem Europaparlament? Schließen Sie aus,
dass es genauso einzelne Stimmen auch im konservativ-
liberalen Lager im Europaparlament gibt, ohne dass wir
Sie dafür in Haft nehmen?


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1721717600

Geschätzter Kollege Rossmann, das Problem ist, dass

die Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt im Europaparla-
ment die Berichterstattung zu diesem Thema hat und
dass entsprechend ihrem Votum die gesamte Sozialde-
mokratie im Europaparlament abstimmen wird. Das ist
dann keine einzelne Stimme mehr. Das ist dann die
Mehrheitsmeinung der Sozialdemokraten im Europapar-
lament. Aber Sie können bis zum 24. Januar missionie-
ren. Unsere guten Wünsche werden Sie begleiten.


(Beifall bei der CDU/CSU – Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Was ist mit euren Leuten? Stimmen die alle richtig ab?)


Wir haben im April letzten Jahres ein Gesetz verab-
schiedet, auf dessen Grundlage die im Ausland erworbe-
nen Berufskenntnisse anerkannt werden sollen. Ich habe
mir eine Aufstellung dazu geben lassen, in welchen Bun-
desländern dieses Bundesgesetz, das ein Stück weit die
Integration von Menschen fördert, die aus anderen Staa-
ten und Kontinenten kommen und unter uns leben, durch
entsprechende Landesregelungen umgesetzt worden ist.
Es gibt ein Bundesland, in dem seit April letzten Jahres
überhaupt nichts passiert ist. Dieses Bundesland wird
grün-rot regiert. Baden-Württemberg unter grüner Re-
gentschaft ist das einzige Land, das dazu noch überhaupt
keine Regelung vorgelegt hat. Auch das ist nicht der
richtige Weg: hier nett schwätze, aber in Baden-Würt-
temberg nix tun, sondern laufen lassen.


(Beifall bei der CDU/CSU – Willi Brase [SPD]: Das sind noch die schwarzen Schatten!)


Letztendlich ist die Wahrheit immer konkret. Ich bin
dankbar, dass wir mit der finanziellen Förderung des Ju-
gendwohnens mehr Mobilität für die duale Ausbildung
europaweit entwickeln können.

Die Grünen wollen vom dualen zum trialen System
mit mehr verschulten Einheiten. Die Sozialdemokraten

im Europaparlament schlagen innerhalb der beruflichen
Bildung die Tür für diejenigen zu, die kein Abitur haben.
Und die Linken wollen mit einer Zwangsabgabe die zen-
trale Berufsbildungssteuerung. Nur die christlich-libe-
rale Koalition steht treu und fest zur dualen Ausbildung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Deshalb bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren Antrag!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721717700

Michael Gerdes hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1721717800

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Lieber

Herr Schummer, wir wollen jetzt wieder zur Bundespoli-
tik zurückkommen. Es stimmt: Viele Länder haben Inte-
resse an unserer dualen Ausbildung und wollen von uns
lernen. Und ja: In Deutschland sind weniger Jugendliche
arbeitslos als in Europa.

Unsere Azubis sind auf den Arbeitsmarkt gut vorbe-
reitet. Trotzdem wünsche ich mir, dass die schwarz-
gelbe Regierung das Eigenlob, das wir auch heute wie-
der hören konnten, nicht allzu hoch hängt und sich end-
lich auch um diejenigen kümmert, die durch das Raster
fallen.

Richtig wäre es, wenn wir heute diejenigen in den
Mittelpunkt stellen, die keinen Schulabschluss und keine
Berufsausbildung haben. Kollege Brase und auch Kolle-
gin Alpers haben bereits die Zahl genannt. Ich wieder-
hole sie, Herr Schummer, weil sie unglaublich hoch,
aber auch korrekt ist: In Deutschland sind 2,2 Millionen
junge Menschen zwischen 20 und 29 ohne Berufsab-
schluss. Ich meine, das ist ein Skandal.

Wir müssen uns fragen, wie wir dieser Gruppe helfen
können. Wie verringern wir die Orientierungslosigkeit
im Maßnahmendschungel?


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Welche Chancen und Perspektiven bieten wir jungen Er-
wachsenen, die bisher keine Qualifikation erwerben
konnten? Hierzu äußern Sie sich selten, meine Damen
und Herren in den Regierungsfraktionen. Stattdessen
werden unsere Ideen lapidar abgefertigt. Auch ich erin-
nere mich an die Debatte im Oktober 2012, als Sie, Frau
Ministerin Schavan, die Forderung der SPD nach einer
Ausbildungsgarantie als alte Klamotte bezeichnet haben.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das ist es auch!)


Die junge Generation verdient mehr Respekt, zumin-
dest mehr Unterstützung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)






Michael Gerdes


(A) (C)



(D)(B)


Wer Jahr um Jahr keine Chance sieht, für den Arbeits-
markt ausgebildet zu werden, der verliert jegliche Lern-
und Arbeitsmotivation. Wer ohne Perspektive ist, resig-
niert. Das darf unsere Gesellschaft nicht zulassen.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Sie reden nicht von diesem Land, oder?)


– Ich rede von Deutschland.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Stärke unserer
Berufsausbildung ist die Praxisnähe, das Lernen im Be-
trieb. Gerade deshalb muss es uns Sorge bereiten, dass
die Zahl der Ausbildungsplätze so gering ist wie nie. Das
passt mit dem Ruf nach Fachkräften nicht zusammen.
Wer Fachkräfte braucht, muss dazu beitragen, dass junge
Menschen das benötigte Wissen und die gesuchte Fähig-
keit auch erwerben können.


(Beifall bei der SPD)


Tendenziell haben kleine und mittlere Unternehmen
wenig Kapazitäten, um umfassend auszubilden. In den
Großbetrieben ist das einfacher. Aber wenn Großbe-
triebe schließen oder abwandern, entsteht logischerweise
eine große Lücke, und zwar nicht nur auf dem allgemei-
nen Arbeitsmarkt, sondern auch auf dem Ausbildungs-
markt. Manche Regionen in Deutschland bekommen das
sehr stark zu spüren. Speziell in meiner Heimat, dem
Ruhrgebiet, sind die Wunden groß. Ich erinnere an
Nokia und Opel in Bochum. Die Situation wird sich
durch den Rückbau des Steinkohlenbergbaus noch ver-
schärfen.

Die letzte Zeche schließt zwar erst 2018, aber ab 2014
wird es schon keine neuen Azubis geben. Allein in mei-
ner Heimatstadt Bottrop fallen auf der Schachtanlage
Prosper-Haniel 2018 auf einen Schlag 300 Ausbildungs-
plätze weg. Das ist katastrophal. Sie sind unwiederbring-
lich weg. Deswegen frage ich: Wo werden in den Regio-
nen im Ruhrgebiet unsere Jugendlichen zukünftig
ausgebildet?


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Das müssen Sie im Ruhrgebiet fragen!)


– Ja, ja. Mit dem Ruhrgebiet haben wir wohl nichts zu
tun. Das ist nicht Deutschland. Europa machen wir, aber
das Ruhrgebiet ist nicht so wichtig.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721717900

Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des

Kollegen Kamp zulassen?


Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1721718000

Ja, gerne.


(Zuruf von der CDU/CSU – Gegenruf der Abg. Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das ist ein schlagendes Argument, mein Lieber!)


– Darauf komme ich gleich noch, Frau Schieder.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721718100

Bitte.


Heiner Kamp (FDP):
Rede ID: ID1721718200

Lieber Kollege Gerdes, sind Sie bereit, zur Kenntnis

zu nehmen, dass gerade solche Fälle, die Sie uns geschil-
dert haben, wie bei Nokia und im Bergbau, die alle
schlimm sind, uns dazu zwingen, darüber nachzudenken
– wir tun das in dem Antrag – und darüber zu reden, dass
wir an Jugendliche die Forderung nach Mobilität stellen
müssen. Jugendliche müssen mehr Mobilität beweisen
und sich mehr vom Elternhaus und ihren Freunden abna-
beln, damit es auf dem Markt zu einem Ausgleich kom-
men kann.

Ich habe heute bei uns in der AG Handwerk von drei
Mittelständlern gehört, die Schwierigkeiten haben, Aus-
zubildende zu bekommen, die keine Aufträge annehmen
können, weil sie keine Fachkräfte haben und keine Aus-
zubildenden zu Fachkräften ausbilden können. Wenn
man Betriebe und Jugendliche zusammenbringen kann
– das versuchen wir mit unserem Antrag hinzubekom-
men, indem wir darauf hinweisen –, dann kann es gelin-
gen, in den Regionen, in denen Fachkräftemangel, Aus-
bildungsplatzmangel und auch Auszubildendenmangel
herrscht, einen Ausgleich zu schaffen.

Aber wir müssen davon abkommen, immer nur davon
zu reden, dass die Jugendlichen in bestimmten Regionen
keinen Ausbildungsplatz kriegen. Es gibt genügend Re-
gionen, wo Auszubildende gesucht werden. Bitte neh-
men Sie das zur Kenntnis, und verbreiten Sie das in Ih-
ren Reden. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.

Danke.


Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1721718300

Ich nehme das sehr wohl zur Kenntnis. Aber ich

nenne Ihnen noch einmal – ich habe gerade die 300 Aus-
bildungsplätze, die allein in meiner Heimatstadt wegfal-
len werden, erwähnt – die Stichwörter: Opel, Nokia.
Opel wird definitiv schließen. Der Bergbau wird defini-
tiv schließen. Sagen Sie mir bitte, wo die Angebote für
die Jugendlichen waren, als Nokia geschlossen hat. Ich
rede jetzt ganz bewusst nicht von Arbeitsplätzen, son-
dern nur von Ausbildungsplätzen. Glauben Sie mir, dass
bereits heute viele Jugendliche, gerade im Ruhrgebiet,
bereit sind, Mobilität zu zeigen und in andere Regionen
zu gehen.

Gerade habe ich hier gehört, dass andere Regionen,
etwa Thüringen, im Grunde genommen das Problem
hinter sich haben, das wir im Ruhrgebiet noch vor uns
haben. Dazu sage ich: Das kann doch nicht das Argu-
ment sein. Das ist doch genau das, was ich hier einfor-
dere: dass wir unseren Jugendlichen Perspektiven geben.
Ich habe gerade gefragt: Wo werden unsere Jugendli-
chen zukünftig ausgebildet? Wenn Sie mir die Antwort
geben können, dass sie in Deutschland in genügender
Anzahl und mit genügender Qualifikation ausgebildet
werden, dann beruhigt mich das ein wenig. Aber Sie





Michael Gerdes


(A) (C)



(D)(B)


müssen auch gestatten, dass ich daran nicht so recht
glauben kann.


(Beifall bei der SPD)


Ich will noch einmal zum Thema Ausbildungsreife
kommen, weil das auch für mich ein Begriff ist, der rela-
tiv umstritten ist; seine Definition ist aus meiner Sicht
sehr diffus. Ich frage: Wissen die Bewerber von heute
wirklich weniger, und sind sie weniger leistungsbereit
als vor 20 oder 30 Jahren? Passen die Qualifikationen
unserer Schüler nicht mehr mit den Anforderungen des
heutigen Berufsalltags zusammen? Das sind einerseits
Fragen für die Bildungsforschung. Andererseits müssen
wir uns aber auch als Politik fragen, ob wir die Jugend-
lichen ausreichend auf das Leben nach der Schule vorbe-
reiten. Eine Teilantwort haben wir bereits gefunden: Wir
müssen die Berufsorientierung in den Schulen stärken,
und zwar frühzeitig.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Machen wir doch!)


– Wir sind dabei, ja.


(Dr. Thomas Feist [CDU/CSU]: Nein, wir!)


Ich begleite beispielsweise ein Ausbildungspatenpro-
jekt in meinem Wahlkreis. Die Begegnungen mit den
Schülern zeigen mir, wie sehr junge Menschen auf Rat-
schläge rund um das Thema Berufsfindung angewiesen
sind. Bei manchen fehlt schlichtweg die Information.
Auch da lautet die Frage leider Gottes: Welche Jobs gibt
es denn überhaupt? – Andere können sich selbst nicht
einschätzen. Da hören die Paten dann: Ich weiß nicht,
was ich kann. Ich weiß nicht, wo meine Stärken und
Schwächen liegen.

Meine Damen und Herren, Schulen, Unternehmen
und Eltern sind stark gefordert, wenn es um die frühe
Vernetzung von Lernalltag und Berufsvorbereitung geht.
Wir brauchen eine qualifizierte Einstiegsvorbereitung
auf den Beruf. Wir brauchen eine individuelle Berufswe-
geplanung. Das Land Nordrhein-Westfalen geht diesbe-
züglich neue Wege, wie wir bereits von Kollege Brase
gehört haben. Der Übergang von Schule und Beruf ist
nunmehr Teil der Lehrpläne. Im Mittelpunkt stehen die
Schülerinnen und Schüler und ihre Lebensläufe. Die
Leitlinie heißt: Die Berufs- und Studienorientierung ist
Aufgabe aller allgemeinbildenden Schulen, und in dem
Prozess der Berufs- und Studienorientierung durchlaufen
alle Schülerinnen und Schüler verbindliche Phasen, um
ihre Potenziale zu erkennen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Uwe Schummer [CDU/CSU]: Nur das Geld fehlt!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721718400

Herr Kollege.


Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1721718500

Hoffen wir, dass Nordrhein-Westfalen und auch Ham-

burg im Sinne unserer jungen Generation mit ihren An-
sätzen erfolgreich sein werden.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721718600

Herr Kollege.


Michael Gerdes (SPD):
Rede ID: ID1721718700

Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung. – Ich

bin am Ende mit meinen Ausführungen, Frau Präsiden-
tin.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie des Abg. Arfst Wagner [Schleswig] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721718800

Die Kollegin Alpers hatte sich gemeldet, um mit einer

Kurzintervention auf die Rede von Herrn Schummer zu
reagieren. Ihr möchte ich jetzt die Gelegenheit dazu ge-
ben.


Agnes Alpers (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721718900

Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Schummer,

hätten Sie den Berufsbildungsbericht intensiv gelesen,
würden Sie die regelmäßigen Veröffentlichungen des
Bundesinstitutes für Berufsbildung lesen, wüssten Sie
genau, woher meine Zahlen kommen. Das als Aufklä-
rung über die Behauptung, ich benutzte falsche Zahlen.

Interessant fand ich: In Ihrem Antrag legen Sie einen
Schwerpunkt darauf, dass auch leistungsstarke Jugend-
liche – vielleicht gehen sie auf ein Gymnasium – tatsäch-
lich mehr in die duale Ausbildung integriert werden;
dazu gibt es einen Spiegelstrich in Ihrem Antrag.

Ein anderer Spiegelstrich besagt, Berufsorientierung
für möglichst viele Schülerinnen und Schüler sei nötig,
gerade im Theorie-Praxis-Verhältnis. Die Wirtschaft
sagt: Wir wollen keine Gymnasiasten, wir wollen keine
Absolventen; wir wollen Persönlichkeiten.

Aber – das beantworten Sie mir bitte – warum hat die
Koalition alle Gymnasien aus der Berufsorientierung he-
rausgenommen, wo doch klar ist, dass alle Schüler die-
ses Theorie-Praxis-Verhältnis kennenlernen sollen? Er-
klären Sie mir das bitte noch einmal.

Vielen Dank.


Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721719000

Herr Schummer zur Antwort.


Uwe Schummer (CDU):
Rede ID: ID1721719100

Erstens. Alle Zahlen, die Sie aus dem Berufsbildungs-

bericht zitiert haben, sind richtig; alle anderen waren
verkehrt.

Nun zum Thema Übergangssystem. Wir haben bei
den begrenzten finanziellen Mitteln natürlich eine Ent-
wicklung in Stufen. Die Bildungsketten, die seit drei
Jahren zur Glättung des Übergangssystems entwickelt
werden – vorgesehen ist mehr Vorlaufzeit; ich habe das
zu Beginn geschildert –, sollen bei den Hauptschulen,
bei den Realschulen und bei den Gesamtschulen starten.
Natürlich brauchen wir, da auch hier die Abbrecherquote





Uwe Schummer


(A) (C)



(D)(B)


groß ist, beispielsweise beim Übergang von der Schule
in die Universitäten, eine Studienvorbereitung; dort liegt
die Abbrecherquote in einigen Bereichen bei 40 Prozent,
in der beruflichen Ausbildung bei etwa 23 oder 24 Pro-
zent. Das wird man nacheinander entwickeln.

Ich überlege mit Blick auf meinen Heimatkreis der-
zeit: Welche Maßnahmen werden im Kreis Viersen an
welchen Schulen durchgeführt? Das sind zum Beispiel
Potenzialanalysen, die in den Werkstätten durchgeführt
werden; das sind Berufseinstiegsbegleiter für diejenigen,
die einen besonderen Förderbedarf haben, und letztlich
sind das die betrieblichen Praktika. Auf der Bundes-
ebene besteht die Aufgabe, dieses in die Regionen zu
transportieren und zu schauen, dass dort kein Kind ver-
loren geht. Da beziehen wir wahrscheinlich auch mit
Ihnen eine gemeinsame Position. Aber das ist die kon-
krete Politik, die wir mit Annette Schavan seit einigen
Jahren praktizieren und die wir weiter ausfeilen werden.


(Beifall bei der CDU/CSU – Agnes Alpers [DIE LINKE]: Warum keine Berufsbildungspolitik an Gymnasien?)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721719200

Jetzt hat Sylvia Canel das Wort für die FDP.


(Beifall bei der FDP)



Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1721719300

Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist

natürlich eine schwere Stunde für unsere Opposition. Ich
leide in Solidarität ein bisschen mit Ihnen; denn der
Berufsbildungsbericht ist ein echtes Highlight, und all
Ihre Bemühungen, mit parteipolitischer und rhetorischer
Profilierung zu punkten, sind leider wirklich nicht rich-
tig am Platz.


(Willi Brase [SPD]: Was machen Sie denn anders? Sie machen doch auch nur parteipolitische Profilierung! Das ist doch Quatsch! Das ist furchtbar!)


Sie müssen doch jetzt zur Kenntnis nehmen: Es geht
hier um junge Menschen. Diese jungen Menschen haben
in viel größerem Umfang als vorher einen Ausbildungs-
platz bekommen. Der Berufsbildungsbericht 2012 belegt
auf hervorragende Art und Weise, wie sich die Ausbil-
dungsbedingungen in Deutschland dank unserer richti-
gen Bildungspolitik, der Bildungspolitik dieser Regie-
rung, stetig verbessert haben.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Weil die Jugendlichen weniger geworden sind!)


Nach den Diskussionen, die wir hier gehört haben,
müssen wir wieder auf das Wesentliche zurückkommen,
nämlich auf den Kern des Berichts. Vor allem die duale
Ausbildung wird in der Gesellschaft hoch angesehen.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das war aber schon vor Ihrer Zeit so!)


Da dies letztlich der entscheidende Faktor ist für die ge-
ringe Jugendarbeitslosigkeit, dürfen wir auch stolz auf
diesen Bericht sein; denn die Jugendarbeitslosigkeit in
Deutschland liegt gerade einmal bei 8,1 Prozent – im
Vergleich zum europäischen Durchschnitt, der nämlich
bei 23,4 Prozent liegt. Das sind Zahlen, die sich sehen
lassen können, meine Damen und Herren.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Folglich wird das Konzept der dualen Ausbildung in
manche europäische Nachbarländer und auch in Länder
auf der ganzen Welt exportiert, und dies völlig zu Recht.
Wir sehen, dass beispielsweise in Spanien eine sehr hohe
Jugendarbeitslosigkeit besteht. Jeder zweite Jugendliche
dort hat keinen Ausbildungsplatz. Deshalb ist es gut und
richtig, wenn unsere Kammern Initiativen ergreifen, den
betroffenen Jugendlichen zu helfen. Ich habe das – ich
weiß gar nicht, wer das hier genannt hat – mit Erstaunen
zur Kenntnis genommen. Aber wenn jeder zweite Ju-
gendliche keine Ausbildung hat, ist es gut und richtig,
wenn von Deutschland geholfen wird.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Insgesamt geht aus dem Berufsbildungsbericht her-
vor, dass die Zahl der betrieblichen Ausbildungsverträge
weiter zugenommen hat, nämlich um 1,8 Prozent. Es
sind etwas mehr als 570 000 neue Ausbildungsverträge
abgeschlossen worden. Das ist eine gute Zahl.


(Willi Brase [SPD]: Das war mal mehr, Frau Kollegin!)


Es gibt mehr unbesetzte Ausbildungsplätze als unver-
sorgte Bewerber. Vielleicht mögen Sie die Zahlen nicht,
aber sie sind richtig, und sie müssen genannt werden: Es
gibt knapp 30 000 unbesetzte Ausbildungsstellen, denen
nur 11 550 unversorgte Bewerberinnen und Bewerber
gegenüberstehen.

Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einer
guten wirtschaftlichen Entwicklung und damit auch mit
einem guten Angebot an Ausbildungsplätzen für junge
Leute zu tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Die Zahl der Altbewerber hat sich zunehmend verrin-
gert: 5,7 Prozent sind es weniger. Auch diese Zahl ist ein
Parameter für eine erfolgreiche Politik.

Es gibt weniger Jugendliche im Übergangsbereich.
Wir haben diesen Übergangsbereich hier völlig zu Recht
relativ intensiv diskutiert. Natürlich ist das ein Problem,
an dem gearbeitet werden muss. Aber, meine Damen
und Herren, dabei dürfen Sie doch nicht vergessen, zu
erwähnen, dass sich dieser Bereich um 8 Prozent verrin-
gert hat.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Ja, die Jugendlichen werden weniger! Deswegen!)


Also, die Richtung der Regierung stimmt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)







(A) (C)



(D)(B)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721719400

Frau Kollegin, Frau Alpers würde Ihnen eine Frage

stellen wollen. Möchten Sie die zulassen?


Sylvia Canel (FDP):
Rede ID: ID1721719500

Nein. Danke.

Dennoch steht das duale Ausbildungssystem in
Deutschland vor neuen Herausforderungen, und diese
Herausforderungen müssen wir annehmen. Das tun wir
in der Regierung. Sie haben es hier gehört. Auch unsere
Bildungsketten sind dabei, zu greifen.

Meine Damen und Herren, wenn Sie schon kein Haar
in der Suppe finden, dann sagen Sie doch einfach ein-
mal: Klasse, dass wir in Deutschland so gut vorankom-
men! Gut, dass Frau Annette Schavan, unsere Ministe-
rin, und die Regierung aus FDP und CDU/CSU so vieles
geleistet haben! Hier geht es um Jugendliche. Wir finden
das richtig.

Danke sehr.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Agnes Alpers [DIE LINKE]: Es geht hier nicht um das Haar in der Suppe, sondern es geht um Millionen von jungen Menschen!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721719600

Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/

CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Albert Rupprecht (CSU):
Rede ID: ID1721719700

Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!

Liebe Kollegen! Natürlich ringen wir um jeden Jugend-
lichen, und natürlich darf kein Jugendlicher auf dem
Weg verloren gehen. Aber das ist nur eine Seite. Die an-
dere Seite der Geschichte ist, dass das duale Bildungs-
system nicht primär ein soziales Auffangbecken ist,


(Michael Gerdes [SPD]: Das hat niemand behauptet!)


sondern dass es das qualitativ beste Ausbildungssystem
für Fachkräfte auf dieser Welt ist. Deswegen ist es zu
wenig, ausschließlich den Jugendlichen mit Problemen
zu helfen; wir müssen auch überlegen, wie wir das ge-
samte System dauerhaft für die breite Masse der Jugend-
lichen attraktiv erhalten.

Nur dann werden die Betriebe ein Interesse haben,
dauerhaft auszubilden, wenn sie leistungsfähige und
leistungsbereite Jugendliche für das System gewinnen
können. Die Zahl wurde genannt: Die Unternehmen leis-
ten derzeit bei der Ausbildung von 1,5 Millionen Aus-
zubildenden mit beinahe 30 Milliarden Euro einen Rie-
senkraftakt. Das ist mehr Geld, als Länder und Bund
gemeinsam für die Lehre an den Hochschulen investie-
ren.


(René Röspel [SPD]: Das ist doch deren ureigenste Aufgabe!)


– Ja, das ist ihre ureigenste Aufgabe, aber es ist trotzdem
eine herausragende Leistung, die immer wieder gelobt
und genannt werden muss, sehr geehrte Damen und
Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir wollen, dass die Betriebe dauerhaft ausreichend
leistungsstarke Jugendliche für das duale System gewin-
nen können; das ist auch notwendig. In Zeiten aber, in
denen aufgrund der demografischen Entwicklung immer
weniger Jugendliche da sind und in denen immer mehr
Jugendliche an die Hochschulen drängen, besteht die
Gefahr, dass das duale System ausgehöhlt wird. Herr
Kollege Brase, Sie haben die richtigen Fragen gestellt.
Nur, das Problem ist, dass Sie mit den Antworten in Ih-
rem Antrag, wie ich finde, letztendlich zu kurz springen.

Im Jahr 2000 hatten wir noch doppelt so viele Ausbil-
dungsverträge wie Studienanfänger. Im Jahr 2012 war
die Zahl der Jugendlichen, die eine Ausbildung begon-
nen haben, und derjenigen Jugendlichen, die an die
Hochschulen gegangen sind, beinahe gleich hoch. Ja,
wir brauchen Ärzte, wir brauchen Ingenieure, wir brau-
chen Lehrer, aber gleichzeitig müssen wir aufpassen,
dass wir das Fundament unseres Wirtschaftssystems
– das ist auch das duale System – nicht kaputtmachen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir brauchen auch künftig ausgebildete Fachkräfte.
Es geht uns um das Element der beruflichen Handlungs-
kompetenz, die in der dualen Ausbildung erworben wird.
Deswegen müssen wir nicht nur die duale Ausbildung,
sondern auch das duale Bildungssystem als solches in
Gänze weiterentwickeln. Wir brauchen nicht, Kollege
Brase, ein Entweder-oder, eine berufliche oder eine aka-
demische Ausbildung.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das hat kein Mensch gesagt! Zuhören!)


– Das habe ich auch nicht unterstellt; ich beziehe mich
nur auf Ihre Fragestellung. – Ich glaube, dass die Weiter-
entwicklung darin liegt, dass wir sowohl beruflich als
auch akademisch ausbilden müssen. Das heißt, wir brau-
chen ein Sowohl-als-auch.

Wenn das der Schlüsselsatz ist, wenn das das Leitbild
für die Zukunft sein muss und sein wird, dann heißt das:
Wir müssen duale Bildung und Hochschulen zusammen-
bringen, zum Beispiel mit dualen Studiengängen.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Wir, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, haben seit
dem Dresdner Bildungsgipfel 2008 sehr wohl einiges er-
reicht. Zum Ersten haben die Länder ihre Hochschulge-
setze geöffnet. Fast jeder beruflich Qualifizierte hat nun
die Möglichkeit, fachbezogen zu studieren. Das ist
Durchlässigkeit. Zum Zweiten brauchen wir aber auch
einen weiteren Ausbau der dualen Studiengänge. Zurzeit
gibt es über 60 000 Studierende in dualen Studiengän-
gen. Ich bin der Meinung, dass das erst der Anfang sein
kann. In diesem Bereich gibt es in der Tat erhebliches
Potenzial. Es ist kein Randbereich – so wird das Thema
duales Studium oft eingeordnet –, sondern es ist eine





Albert Rupprecht (Weiden)



(A) (C)



(D)(B)


substanzielle, wichtige Weiterentwicklung, die den An-
forderungen des demografischen Wandels entspricht.

Zu den Anträgen der Opposition. Es waren durchaus
vernünftige Vorschläge dabei. Bei den Linken erlaube
ich mir, zu sagen: wenige. Bei den Grünen und der SPD
gab es, wie gesagt, durchaus vernünftige Vorschläge. Ich
glaube aber trotzdem, dass es allen diesen Vorschlägen
an einem mangelt: Sie sind zu rückwärtsgewandt. Sie
geben auf die Frage, wie wir das duale System auf Dauer
attraktiv erhalten können, keine Antwort.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Die Zeiten haben sich vollkommen geändert. Wenn
wir während der Regierungszeit von Rot-Grün einen
dramatischen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit ver-
zeichneten und eine schlimme Lehrstellenkrise erlebten,
so stellen wir heute, Jahre später, fest, dass wir seit fünf
Jahren mehr freie Lehrstellen als unversorgte Bewerber
haben.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Die Zahl der jungen Menschen geht doch auch zurück!)


– Kollegin Schieder, das ist richtig. Die demografische
Entwicklung gibt es auch in Spanien. Trotzdem haben in
Spanien 50 Prozent der Jugendlichen keinen Arbeits-
platz. Die Entwicklung bei uns hat sich natürlich auch
durch die demografische Entwicklung ergeben. Aber
wenn man den Vergleich zu anderen Ländern zieht, sieht
man, dass das überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist,
dass es vielmehr hausgemacht ist. Es liegt an der Kraft
Deutschlands in einer Zeit internationaler Krisen und
auch an der Kraft des dualen Ausbildungssystem, dass
wir so erfolgreich sind.

Lassen Sie mich abschießend auf einen erstaunlichen
Vorgang hinweisen, der bisher nicht erwähnt worden ist.
Die SPD hat jahrelang populistisch eine allgemeine
Ausbildungsplatzabgabe gefordert. Wir haben dieses
Ausbildungsplatzvernichtungskonzept all die Jahre
– Gott sei Dank – verhindern können. Im heute vorlie-
genden Antrag hat die SPD die Forderung nach dieser
Ausbildungsplatzabgabe klammheimlich beerdigt.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich finde es gut, Herr Kollege Brase, dass die SPD
eingesehen hat, dass sie jahrelang auf dem Holzweg war.
Es wurde Zeit.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Willi Brase [SPD]: Dann stimmen Sie doch unserem Antrag zu!)



Katrin Dagmar Göring-Eckardt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721719800

Jetzt hat Ewa Klamt das Wort für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU)



Ewa Klamt (CDU):
Rede ID: ID1721719900

Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Das deutsche Berufsbildungssystem ist ein Erfolgs-
modell, um das wir weltweit beneidet werden. Kai
Gehring, wir teilen es gerne mit unseren europäischen
Nachbarn. Frau Ministerin hat es gesagt: Es fand vor
kurzem die Berufsbildungskonferenz mit Vertretern von
sechs Mitgliedstaaten statt. Umsetzen müssen diese
Länder es schon selber.

Gerade unser deutsches Ausbildungssystem hat dazu
beigetragen, dass bei uns die Jugendarbeitslosigkeit bei
8,2 Prozent liegt, während sie im europäischen Durch-
schnitt 22,4 Prozent beträgt. Wir wollen dieses erfolgrei-
che Modell der dualen Ausbildung weiter stärken und es
an die künftigen Herausforderungen anpassen.

Dass der Bund seit 2005 gerade mit Blick auf benach-
teiligte Jugendliche, mit Blick auf die Weiterentwick-
lung der beruflichen Bildung etwas auf den Weg ge-
bracht hat, zeigen die Fakten. Deutlich zurückgegangen,
nämlich um 5,7 Prozent, ist die Zahl derer, die noch
2010 unversorgt geblieben sind. Das waren 10 000 junge
Menschen. Ebenso können wir konstatieren, dass es im
Jahr 2011 10 000 neue Ausbildungsplätze gegeben hat.
Frau Alpers, dies ist im Bundesbildungsbericht nach-
zulesen.

Trotzdem beträgt die Zahl der Unversorgten jetzt
noch 174 000, um die wir uns besonders kümmern müs-
sen. Vor vier Jahren waren dies allerdings noch 100 000
mehr. Das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herr Brase und Herr Gehring, auch die Zahl der Ein-
tritte in das Übergangssystem sinkt kontinuierlich: um
8 Prozent im Jahr 2011. Und ganz entscheidend ist: Seit
2005 sank die Zahl um knapp 30 Prozent. Das ist keine
Konsequenz der demografischen Entwicklung, sondern
es ist das Resultat zahlreicher Maßnahmen unter Teil-
nahme vieler Akteure.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Gefordert sind hier nämlich Bund und Länder gleicher-
maßen.

Mein Bundesland Niedersachsen zeigt, wie man es
richtig macht, und zwar durch die Weichenstellung, die
die CDU-FDP-Regierung 2003 getroffen hat. Das ge-
schieht nicht nur durch Lösungen, die erst dann anset-
zen, wenn es um den Übergang in die Berufsausbildung
geht. Lösungen müssen viel früher ansetzen, nämlich
schon im vorschulischen und im schulischen Bereich.

Deshalb haben wir in Niedersachsen für eine frühzei-
tige Feststellung der Sprachfertigkeit und eine gezielte
Sprachförderung vor Schuleintritt gesorgt.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Dafür sind auch finanzielle Prioritäten gesetzt worden.
In Niedersachsen geht heute jeder dritte Euro des Lan-
deshaushaltes in die Bildung.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)






Ewa Klamt


(A) (C)



(D)(B)


Und so, liebe Kolleginnen und Kollegen, schafft man es
in Niedersachsen, jungen Menschen eine Versicherung
gegen Jugendarbeitslosigkeit zu bieten.


(Dr. Ralf Brauksiepe [CDU/CSU]: Dann sollte man die Regierung auch wieder wählen!)


2003, am Ende der Amtszeit der SPD-geführten Re-
gierung in Niedersachsen, sah das noch ganz anders aus.
Der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss lag bei
10,4 Prozent – eine desaströse Hinterlassenschaft.
Heute, zehn Jahre später, haben wir diese Zahl dank vie-
ler erfolgreicher Maßnahmen praktisch halbiert, wir lie-
gen jetzt bei 5,4 Prozent.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Seit 2003 sanken in Niedersachsen die Schülerzahlen
um 100 000. Wir haben in diesem Zeitraum jedoch die
Anzahl der Lehrkräfte erhöht. Wir haben eine engere
Zusammenarbeit von Haupt- und Realschulen mit den
berufsbildenden Schulen geschaffen, die mittlerweile
bundesweit als führend gilt. Damit verbessern sich nach-
weislich die Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Heute
gibt es ein flächendeckendes Kompetenzfeststellungs-
verfahren ab Klasse acht, das für eine frühzeitige Orien-
tierung der Jugendlichen sorgt.

Das alles zeigt: Wenn man die guten Programme des
Bundes mit guten Maßnahmen und innovativen Aktivi-
täten vor Ort zusammenführt, dann kann man für unsere
jungen Menschen sehr viel schaffen. Darum würde ich
mich erstens sehr freuen, wenn Sie unserem Antrag
heute zustimmen könnten, und zweitens, wenn wir die
Regierung in Niedersachsen fortsetzen könnten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721720000

Das war unsere Kollegin Ewa Klamt für die Fraktion

der CDU/CSU.

Wir sind am Ende unserer Aussprache zu diesem Ta-
gesordnungspunkt.

Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache
17/12089. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/10986 mit dem Titel „Das deutsche Berufsbildungs-
system – Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-
genprobe! – Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthal-
tungen? – Niemand. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/10116 mit dem Titel „Jugendliche haben ein
Recht auf Ausbildung“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-
genprobe! – Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten.
Enthaltungen? – Das sind die Fraktion von Bündnis 90/

Die Grünen und die Linksfraktion. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.

Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/10856 mit
dem Titel „Perspektiven für 1,5 Millionen junge Men-
schen ohne Berufsabschluss schaffen – Ausbildung für
alle garantieren“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die sozial-
demokratische Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Gegenprobe! – Das ist die Fraktion Die
Linke. Enthalten hat sich infolgedessen niemand. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.

Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9586 mit dem Titel „Mit DualPlus mehr Ju-
gendlichen und Betrieben die Teilnahme an der dualen
Ausbildung ermöglichen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen,
Sozialdemokraten und Linksfraktion. Gegenprobe! – Das
ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-
gen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe somit den
Tagesordnungspunkt 12 unserer heutigen Beratungen
auf:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE

Für alle Kinder und Jugendlichen eine hoch-
wertige und unentgeltliche Verpflegung in
Schulen und Kindertagesstätten gewährleisten

– Drucksache 17/11880 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dem wider-
spricht niemand. Dann haben wir dies gemeinsam so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer
Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere Kolle-
gin Frau Karin Binder. Bitte schön, Frau Kollegin Karin
Binder.


(Beifall bei der LINKEN)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721720100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Kein Kind soll mit knurrendem Magen die Schulbank
drücken; da werden Sie mir sicherlich alle zustimmen.
Aber im bundesdeutschen Schulalltag sieht es leider an-





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)


ders aus. Dazu eine kurze Situationsbeschreibung: Ein
Viertel aller Schülerinnen und Schüler geht morgens
ohne Frühstück aus dem Haus.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was?)


Wer sich das Mittagessen nicht leisten kann, bekommt
oft erst wieder am Abend zu Hause eine anständige
Mahlzeit.

Die Eltern sind oft an ihrer Leistungsgrenze. Die An-
forderungen der heutigen Arbeitswelt im Hinblick auf
Flexibilität und Mobilität, weite Wege zum Arbeitsplatz
und ständige Verfügbarkeit lassen es nicht zu, dass Mutti
oder Vati kocht und um eins das Mittagessen auf dem
Tisch steht. Außerdem verbringen Kinder immer mehr
Zeit des Tages in Schule oder Kindergarten. Auch häufi-
ger Nachmittagsunterricht führt zu längeren Schultagen.
Immer mehr Kinder besuchen eine Ganztagseinrichtung.

Wir alle wissen, welche Folgen eine Fehlernährung
mit Fastfood bei Kindern haben kann. Deshalb gehören
ein gutes Mittagessen und eine vernünftige Pausenver-
pflegung, für alle Kinder und kostenfrei, zum guten Ler-
nen im Schulalltag dazu.


(Beifall bei der LINKEN)


Warum ist das so wichtig? Alle Kinder und Jugendlichen
brauchen eine Chance, unabhängig von ihrer Herkunft
und vom Geldbeutel der Eltern. Um gesund aufwachsen
und Bildung wahrnehmen zu können, braucht man eine
vernünftige Verpflegung über den Tag hinweg. Wir hier
im Bundestag können dazu beitragen, Bildungsunter-
schiede abzubauen und allen Kindern eine gesunde Ent-
wicklung und einen guten Schulabschluss zu ermögli-
chen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder und
Jugendliche in der Lage sind, eine Ausbildung aufzuneh-
men und einen vernünftigen Beruf auszuüben, damit sie
später ihre Existenzgrundlage eigenständig erwirtschaf-
ten können. Darum ist Schulverpflegung eine gesamtge-
sellschaftliche Aufgabe. Der Bund hat die Verantwortung
und die Pflicht, sich um die Finanzierung zu kümmern.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wieso das denn?)


In Firmen und Behörden, auch hier im Bundestag,
wird die Kantine wie selbstverständlich eingeplant. In
vielen Schulen gibt es aber nicht einmal einen Pausen-
raum.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Warum nicht?)


Kinder werden häufig in Kellerräumen, bestenfalls in
der Aula mit einem aufgewärmten oder lange warmge-
haltenen Essen abgespeist. Viele Schulen bieten gar kein
warmes Mittagessen an – trotz der deutlichen Zunahme
der Zahl der Ganztagsschulen. Es fehlt an qualifiziertem
Personal und Räumlichkeiten. Kommunen bzw. Schul-
trägern stehen manchmal nur 1,60 Euro pro Essen zur
Verfügung. Das ist die traurige Realität. Damit müssen
wir Schluss machen.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregie-
rung ist dabei leider keine Hilfe. Kinder und Eltern müs-
sen als Bittsteller bürokratische Hürden überwinden, um
einen Zuschuss für eine Schulmahlzeit zu bekommen.


(Carola Stauche [CDU/CSU]: Das stimmt überhaupt nicht!)


Das ist unwürdig und obendrein unsinnig. Allein der
Verwaltungsaufwand schluckt Mittel, die viel sinnvoller
direkt in die Schulspeisung investiert werden könnten.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sehr richtig!)


In Sachen Schul- und Kitaverpflegung ist Deutsch-
land leider ein Entwicklungsland. Dabei ist der Zusam-
menhang zwischen Ernährung und Lernerfolg unbestrit-
ten. Im Laufe eines Schul- oder Kitatages sollten Kinder
und Jugendliche mit dem Essen rund 40 Prozent ihrer
Tagesenergie aufnehmen. Ist das nicht gewährleistet,
sind Konzentrations- und Lernschwächen vorprogram-
miert.

Aus diesem Grund müssen schon bei der Planung ei-
ner Schule oder Kita die Kantine und im Lernalltag die
Verpflegung in den Mittelpunkt gerückt werden. Dass so
etwas geht, haben uns Schülerinnen und Schüler der Of-
fenen Schule Kassel-Waldau im Rahmen einer Veran-
staltung der Fraktion Die Linke im Oktober 2012 ein-
drucksvoll dargestellt.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Vom Bund finanziert?)


Dort ist die Schulverpflegung fester Bestandteil des Un-
terrichtstages. Die Kinder und Jugendlichen planen ge-
meinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern sowie mit
den Eltern ein vielfältiges Angebot und abwechslungs-
reiche Menüs – bio und möglichst aus regional erzeugten
Produkten. Das wird von allen gerne angenommen.

Damit kommen wir zum Kern der Sache, nämlich zu
den Kosten und zur Finanzierung. Unabhängig von der
Frage, wer am Ende das Schul- und Kitaessen bezahlt:
Für eine hochwertige und leckere Verpflegung sollten
mindestens 4 Euro pro Tag und Kind angesetzt werden.

Da die Länder aber mit der Schuldenbremse und viele
Kommunen mit einer Haushaltssperre belastet sind, for-
dert die Linke, dass die Bundesregierung bundesweit
und flächendeckend eine hochwertige und unentgeltliche
Schul- und Kitaverpflegung auf den Weg bringt und die
Finanzierung dafür übernimmt.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Bund trägt die gesamtgesellschaftliche Verantwor-
tung und ist zur Angleichung der Lebensverhältnisse in
Deutschland verpflichtet. Dafür hat er auch die Finanzie-
rung sicherzustellen.

Nun zu weiteren Punkten in unserem Antrag. Die
Umsetzung muss gemeinsam mit den Ländern, den
Kommunen bzw. den Schulträgern, den Lehrerinnen und
Lehrern, den Schülerinnen und Schülern und den Eltern
erfolgen.





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)


Ein weiterer wichtiger Punkt unseres Antrags: Das
Fachwissen und das Engagement der Vernetzungsstellen
Schulverpflegung werden dafür dringend benötigt. Des-
halb sind sie im Rahmen des Aktionsplans „IN FORM“
dauerhaft abzusichern.

Ein weiterer Punkt unseres Antrags: Qualitätsstan-
dards, wie sie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaft
für Ernährung herausgibt, müssen verbindlich in Schul-
und Kitagesetze aufgenommen werden, damit die Kin-
der nicht nur abgespeist werden. „Hauptsache satt“ führt
nicht zum Erfolg.

Ernährung ist kein Thema für den Frontalunterricht.
Schülerinnen und Schüler sollen selbst kochen, einkau-
fen und vielleicht auch in einem Schulgarten Obst und
Gemüse selbst anbauen und ernten.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig, aber das hat nichts mit Verpflegung zu tun!)


Schul- und Kitaverpflegung soll möglichst mit Erzeug-
nissen aus der Region frisch vor Ort zubereitet werden.
Das Essen soll abwechslungsreich, ohne Geschmacks-
verstärker, Aromen und andere Zusatzstoffe sein.

Finanziell klamme Kommunen brauchen Investitions-
hilfen des Bundes, um geeignete Kantinen und Essräume
einzurichten.

In einem ersten Schritt soll es auch um die Mehrwert-
steuer gehen.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ist ja gar kein Problem!)


Zumindest eine Reduzierung oder nach Möglichkeit der
Erlass der gesamten Mehrwertsteuer wäre sinnvoll und
hilfreich.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie haben keine Ahnung!)


Um es noch einmal deutlich zu machen: Das gemein-
same Frühstück und das gemeinsame Mittagessen schaf-
fen Erfahrungswerte und unterstützen eine gute Ernäh-
rungsweise und den Lernerfolg bei allen Kindern.

In Ländern mit hohen Bildungserfolgen, wie zum
Beispiel in Finnland und Schweden, ist das unentgeltli-
che Schulessen eine Selbstverständlichkeit. Ich frage Sie
also: Was ist Ihnen die gesunde Ernährung und Entwick-
lung und der Lernerfolg der Kinder in Deutschland wert?
Nehmen Sie gemeinsam mit der Linken die Verantwor-
tung für die Kinder in Deutschland wahr.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721720200

Vielen Dank, Frau Kollegin Karin Binder. – Nächste

Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unsere Kollegin Frau Mechthild Heil. Bitte
schön, Frau Kollegin Mechthild Heil.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Mechthild Heil (CDU):
Rede ID: ID1721720300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich freue mich, dass wir über das wichtige
Thema „Gesunde Ernährung und Schulverpflegung“
sprechen; denn wir haben im wahrsten Sinne des Wortes
ein schwerwiegendes Problem in Deutschland. 15 Pro-
zent der 3- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, und
6 Prozent unserer Kinder leiden bereits an Adipositas.
Das ist nicht nur ein individuelles Problem, sondern
auch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es geht da-
bei nicht um ein Modeideal, das Schlankheit diktiert.
Vielmehr geht es darum, dass aus den vielen überge-
wichtigen Kindern auch übergewichtige Erwachsene
werden, die an den Folgen wie Diabetes, Bluthochdruck
oder an Problemen mit dem Bewegungsapparat leiden
werden. So weit wollen wir es nicht kommen lassen.
Deshalb gilt es, präventiv tätig zu werden.

Der Schlüssel für eine gesunde Lebensweise liegt in
ausreichender Bewegung und in guter Ernährung. Die
Grundlagen dafür werden schon in ganz jungen Jahren
gelegt. An erster Stelle ist deswegen die Familie zu nen-
nen. Die Eltern und die Geschwister leben die Bewe-
gungs- und Ernährungsgewohnheiten vor, an denen sich
die Kinder orientieren. Diese festigen sich dann im wei-
teren Leben. Das Frühstück, liebe Frau Binder, gehört
natürlich zunächst in den Rahmen der Familie.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Faktisch sieht es anders aus!)


Neben den Familien werden aber auch die Kitas und
die Schulen immer wichtiger bei der täglichen Verpfle-
gung unserer Kinder. Die Zahl der Ganztagsschulen
– um ein Beispiel zu nennen – hat sich seit 2003 verdrei-
facht, das heißt, Ernährung findet nicht mehr nur zu
Hause statt, sondern einige Kinder werden hauptsächlich
in öffentlichen Einrichtungen ernährt. Damit wächst
natürlich die Verantwortung der Schulen und der Kinder-
gärten für das Ernährungsverhalten der Kinder.

Die Fakten sind also klar. Aber was machen die Kol-
legen von der Linken daraus? Sie stellen einen absurden
Antrag.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karin Binder [DIE LINKE]: Was ist daran absurd? Ihre Reaktion ist absurd!)


Ihr Antrag ist absurd, weil Ihre Forderungen erstens zum
großen Teil schon umgesetzt wurden,


(Lachen des Abg. Alexander Süßmair [DIE LINKE])


und zweitens ist er an die komplett falsche Adresse ge-
richtet; denn der Bund ist nicht zuständig.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Es sollen sich immer die anderen darum kümmern!)


Das Grundgesetz steht einer vollen, direkten Finanzie-
rung der Schulverpflegung durch den Bund entgegen.
Das schreiben Sie auch selbst im Antrag.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Das ist keines der Zehn Gebote! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Lieber mal lesen!)


Bildung ist nun einmal klassische Länderaufgabe.





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)


Was können wir auf Bundesebene tun, ohne den Län-
dern ins Handwerk zu pfuschen? Informieren, informie-
ren und noch einmal informieren. In diesem Fall gilt
ausnahmsweise: Viel hilft viel. Vielleicht hilft auch an
dieser Stelle der Hinweis an die Linken, endlich zu
erkennen, dass wir in Deutschland schon sehr gut auf-
gestellt sind und dass ihr Antrag nicht nur absurd, son-
dern auch völlig überflüssig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Gut, dass die Eltern es besser wissen als Sie!)


Erstens. Seit 2008 gibt es den nationalen Aktionsplan
„IN FORM“, Deutschlands Initiative für gesunde Ernäh-
rung und mehr Bewegung. Im Rahmen von IN FORM
unterstützt unser Ministerium, das BMELV, in allen
Bundesländern Vernetzungsstellen zur Schulverpfle-
gung. Diese Vernetzungsstellen wiederum unterstützen
die Schulen und die Kitas. Sie bieten umfassende Infor-
mationen über eine bedarfsgerechte und gesunde Ver-
pflegung an, organisieren Fortbildungsveranstaltungen
und vermitteln Fachkräfte für die Beratung vor Ort.

Die Grundlage hierfür bietet der „DGE-Qualitätsstan-
dard für die Schulverpflegung“, der von der Deutschen
Gesellschaft für Ernährung entwickelt wurde. Für die
Verantwortlichen vor Ort ist das eine sehr große Hilfe;
denn jetzt gibt es erstmals wissenschaftlich gesicherte,
praxisbezogene bundesweite Standards.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig! – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist wichtig!)


Allerdings entscheiden die Bundesländer und je nach
Landesregierung sogar die Schulträger oder die Schulen
selbst, in welcher Weise die Standards in den Schulen
umgesetzt werden. Die Bundesländer entscheiden das,
meine Damen und Herren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Über IN FORM werden zum Beispiel gefördert: der
„aid-Ernährungsführerschein“ für Grundschüler, das Un-
terrichtskonzept „SchmExperten“ für weiterführende
Schulen sowie die von der Verbraucherzentrale durch-
geführte „Ess-Kult-Tour“. Übrigens mehr als eine halbe
Million Kinder haben den Ernährungsführerschein schon
erworben. Das Projekt erreicht die Kinder also tatsäch-
lich. Das ist kein Papiertiger. Die Kinder geben ihr
Wissen und ihre Begeisterung an ihre Familien weiter.
So muss man das machen. Das ist der richtige Weg,
meine Damen und Herren von der Linken.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karin Binder [DIE LINKE]: Und die Kinder essen dann den Ernährungsführerschein? – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Frau Binder, Sie haben keine Ahnung!)


Zweitens. Seit Herbst 2009 stellt die Europäische
Union Mittel für Schulfruchtprogramme zur Verfügung.
In mehreren Bundesländern gibt es mittlerweile
Schulobstprogramme, die sehr positiv aufgenommen
werden. In Deutschland stehen dafür pro Jahr 12,5 Mil-
lionen Euro zur Verfügung.

Drittens. Mit dem Schulmilchprogramm stellt die
Europäische Union weitere 6,3 Millionen Euro an
Zuschüssen für Deutschland bereit. Milch und Milch-
produkte werden damit in den Schulen angeboten.

Bei der Mittagsverpflegung wird der Fokus ferner auf
Kinder und Jugendliche aus einkommensschwachen
Familien gelegt. Im Rahmen des Bildungs- und Teil-
habepaketes des Bundesministeriums für Arbeit und So-
ziales erhalten sie das Mittagessen in Kitas, Schulen und
Horten. Das Angebot wird sehr gut angenommen.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Wenn es Mittagessen gibt! Die meisten Schulen bieten das nicht einmal an!)


Das ist die am häufigsten genutzte Komponente des Bil-
dungspakets. Frau Binder, wir haben das gemacht. Sie
meckern immer nur herum, während wir handeln.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Karin Binder [DIE LINKE]: Was kommt denn davon bei den Leuten an?)


Was können wir darüber hinaus noch tun? Ich plä-
diere für die Integration des Themas „Gesunde Er-
nährung und Bewegung“ in das bestehende Fächerange-
bot aller Bildungseinrichtungen.


(Elvira Drobinski-Weiß [SPD]: Ländersache, Frau Kollegin!)


– Das ist Ländersache. Deswegen appelliere ich. Sonst
würden wir das ja selber tun. Danke! – Wir brauchen ei-
nen fächerübergreifenden Ansatz. Es reicht eben nicht,
den Kindern wortlos einen Apfel oder ein Glas Milch in
die Hand zu drücken, garniert mit der Aussage: Bewegt
euch ruhig mal! Wir müssen ein Bewusstsein für ge-
sunde Verhaltensweisen schaffen – konstruktiv und vor
allen Dingen positiv –, über Spaß und ein gutes Selbst-
gefühl.

Wir können alle als gute Vorbilder für unsere Kinder
und Jugendlichen vorangehen; denn Heranwachsende
lernen die Muster und ahmen Verhalten nach. Das gilt
für Bewegungsabläufe genauso wie für den sprachlichen
Ausdruck, aber eben auch für die Ernährungsgewohn-
heiten. Allerdings gilt frei nach dem Motto „Die Alten
joggen, die Jungen hocken!“ auch – das gebe ich zu –,
dass sich die Alterseinsicht nicht zwangsläufig auf die
Kinder überträgt. Deshalb hat unsere Regierung diese
tollen Projekte gestartet.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was war Ihr Motto?)


– Die Alten joggen, und die Jungen hocken.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Ihr Motto?)


– Das ist mein Motto, ja.

Wir wollen die Kinder direkt erreichen und zu einer
gesunden und bewegten Lebensweise motivieren. Jetzt
sind die Länder in der Pflicht: Bleiben Sie also nicht
hocken. Nutzen Sie diese Angebote noch besser, als Sie
das bisher getan haben. Das ist eine Investition in die
Zukunft.





Mechthild Heil


(A) (C)



(D)(B)


Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721720400

Vielen Dank, Kollegin Mechthild Heil. – Als Nächste

spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere
Kollegin Frau Petra Crone. Bitte schön, Frau Kollegin
Petra Crone.


(Beifall bei der SPD)



Petra Crone (SPD):
Rede ID: ID1721720500

Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kollegin-

nen! Meine Damen und Herren! Die Geschichte der
Schulverpflegung in Deutschland kann man nur im
Zusammenhang mit der Geschichte der Ganztagsschule
erzählen. Viele unserer europäischen Nachbarn haben
seit jeher eine Ganztagsschultradition. In Deutschland
gab erst der PISA-Schock den Anstoß. Die rot-grüne
Bundesregierung legte vor zehn Jahren das Programm
„Zukunft Bildung und Betreuung“ vor. Investiert wurden
4 Milliarden Euro in den Aus- und Umbau von über
7 000 Schulen.


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Jetzt stehen die Küchen leer!)


Damals wurde von der Kultusministerkonferenz auch
festgelegt, dass den Schülern der Ganztagsschule ein
Mittagessen bereitgestellt wird. Auf das erfolgreiche
Programm folgte Anfang 2009 – wieder kam die Initia-
tive von der SPD – das Konjunkturpaket II. Erneut kam
es zu Investitionen im Bildungsbereich in Milliarden-
höhe. Heute bietet die Hälfte aller Schulen einen Ganz-
tagsbetrieb an, der von jedem dritten Schüler bzw. jeder
dritten Schülerin genutzt wird.

Der Ausbau geht weiter. Er muss weitergehen. Die
SPD-Bundestagsfraktion hat hierfür das Projekt „Gute
Ganztagsschule“ entwickelt. Bei Ganztagsschulen geht
es um bauliche Notwendigkeiten, aber auch um Metho-
dik und Didaktik in Verbindung mit außerschulischem
Engagement. Das sind zweifellos bedeutende Themen.
Haben wir aber auch über das per Definition vorge-
schriebene Mittagessen und über die Bedeutung der Fak-
ten nachgedacht, dass unsere Kinder nämlich 40 Prozent
ihrer Energie durch Schulverpflegung decken müssen?
Haben wir zu sehr auf den Kopf geschaut und dabei den
Magen vergessen? Gehört die Ernährung nicht unerläss-
lich zur ganzheitlichen Bildung? Hinzu kommt die über-
stürzte Einführung des Abis nach zwölf Jahren. G 8 er-
gibt Stress bei den Kindern plus Groll bei den Eltern.


(Beifall bei der SPD)


Obwohl die Schüler nachmittags mit einer Fülle an Stoff
kämpfen, sind Cafeterien oder gar Mensen Mangelware
oder mangelhaft.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei der Vorberei-
tung dieser Rede sind mir zwei Schlagzeilen aus dem
Jahr 2012 in den Sinn gekommen. Eine lautete: „Erdbee-
ren aus China verursachen eine Epidemie unter Tausen-
den Schülern“, eine andere: „Der Ernährungsbericht
2012 vermeldet einen Rückgang des Übergewichts bei

Kindern in nahezu allen Bundesländern.“ Was ziehen
wir daraus für Lehren? Erstens. In vielen Schulkantinen
ist nichts gut. Zweitens. Eine intensive Aufklärungsar-
beit zeigt Wirkung. Darum müssen wir mit gemeinsamer
Kraftanstrengung die Verpflegung für unsere Kinder an
den Schulen etablieren und verbessern. Das wird nicht
leicht sein, es ist aber auch kein Ding der Unmöglich-
keit.

Liebe Kollegen und Kolleginnen, in Schweden und
Finnland ist das Essen für alle Kinder kostenlos, Stan-
dards inklusive. Ob Schulverpflegung gesellschaftlich
akzeptiert wird, ist an Rahmenbedingungen geknüpft.
Hier sind die Gleichstellungs- und Familienpolitik ge-
fragt. In Schweden existiert das Leitbild der in Vollzeit
erwerbstätigen Frau. Da ist es überhaupt keine Frage,
dass die staatliche Verantwortung die Kinderbetreuung
und die Mittagsverpflegung umfasst. Das ist bei uns tra-
ditionell immer noch anders, ändert sich aber peu à peu.

Immer weniger Eltern können oder wollen es sich
leisten, die Mittagsversorgung der Kinder im Alleingang
zu Hause zu organisieren. Berufstätige Mütter und Väter
werden durch eine vernünftige Schulverpflegung organi-
satorisch deutlich entlastet. Das ist doch eine schöne
Sache für die Eltern und ein weiterer Schritt hin zu einer
besseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Unser
aller Antrieb, unser aller Ansporn sollte sein, zu sagen:
Eure Kinder sind in unserer Verantwortung in guten
Händen.

Ein gesundes Mittagessen ist für Kinder und Jugend-
liche genauso wichtig wie guter Deutsch- und Mathe-
unterricht. Glücklicherweise – das ist eben auch schon
gesagt worden – können wir auf die vorbildliche Arbeit
der „Vernetzungsstellen Schulverpflegung“ zurückgrei-
fen. Die müssen aber dringend finanziell und personell
gestärkt werden.

Ich erlebe viele gute Konzepte in Städten und Ge-
meinden, wo die Schulverpflegung vorbildlich funktio-
niert.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Aha!)


„Einmal satt für 2,10 Euro“ oder „Matsche und Pampe“ –
auf solche Überschriften sollten wir zukünftig wirklich
verzichten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP])


Wie erreichen wir das? Dazu nenne ich drei Forderun-
gen:

Erstens. Nur die Caterer erhalten einen Zuschlag, die
nach den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft
für Ernährung zertifiziert sind und deren Einhaltung
kontrolliert wird. Das Land Berlin hat gerade den Wech-
sel vom Preis- zum Qualitätswettbewerb beim Schul-
essen initiiert. Das lädt zur Nachahmung ein.


(Mechthild Heil [CDU/CSU]: Es ist trotzdem Ländersache!)


Zweitens. Wir brauchen die Partizipation der Eltern-
und – was viel wichtiger ist – die der Schülerschaft.





Petra Crone


(A) (C)



(D)(B)


Drittens. Wir müssen eine intelligente Ernährungs-
und Verbraucherbildung etablieren.

Gutes kann nicht billig sein. Ich weiß natürlich auch
um die schwierige Gemengelage im föderalen System.
Selbst wenn wir es wollten, steht das Grundgesetz einer
vollen direkten Finanzierung durch den Bund entgegen.

Zwei Anmerkungen möchte ich dazu machen. Ers-
tens: Weg mit dem Kooperationsverbot!


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Für eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Län-
dern im schulischen Bereich! – Ich erinnere an dieser
Stelle an unseren Nationalen Pakt für Bildung und Ent-
schuldung: 20 Milliarden Euro im Jahr allein für Bildung
plus eine deutliche Entlastung der Kommunen, die zu-
meist ja auch Schulträger sind. Das Ganze soll durch
Einsparungen und den Abbau von überflüssigen Subven-
tionen finanziert werden. Das, Herr Staatssekretär, ist
konkrete Politik. Der Ministerin fiel Ende letzten Jahres
bei dem Skandal leider nur ein, dass in Ländern und
Kommunen darüber diskutiert werden solle. Ihr fiel nur
ein: Wir sprechen einmal darüber. – Nein, es gehört ge-
nau hier hin. Das sage ich an die Adresse der Ministerin.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN)


Zweitens. Die SPD-Bundestagsfraktion ist bereit, den
Einstieg des Bundes in die Schulverpflegung zu prüfen,
nicht nur bei den notwendigen Investitionen, sondern
auch durch einen tatsächlichen Beitrag pro Kind. Auch
der Bund ist Nutznießer von gutem Ernährungsverhal-
ten. Abseits der einzelnen Person profitieren Kranken-
kassen, öffentliche Haushalte und Sozialversicherer.

Fazit: Eine qualitativ hochwertige Schulverpflegung
für alle Schüler ist Investition und Ersparnis zugleich,
und sie ist realisierbar.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721720600

Vielen Dank, Frau Kollegin Petra Crone. – Nächster

Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Hans-Michael Goldmann. Bitte
schön, Kollege Hans-Michael Goldmann.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1721720700

Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen

und Kollegen! Frau Binder, ich habe eben überlegt, wie
lange Sie schon im Ausschuss sind. Ich bin für mich zu
dem Ergebnis gekommen, dass Sie noch nicht lange im
Ausschuss sein können oder dass Sie vielleicht manch-
mal nicht zugehört haben.


(Lachen bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Denn mit diesem Thema hat sich der Ausschuss schon
sehr lange und sehr konstruktiv beschäftigt.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Ja, aber es ist nichts passiert!)


Wir haben Anhörungen und Fachgespräche dazu durch-
geführt, und wir haben jede Menge Berichterstatterge-
spräche darüber geführt. Wir haben eine Menge in Be-
zug auf dieses Thema gemacht. Wir waren uns, glaube
ich, bei einem immer im Klaren: Das kann nicht von
oben verordnet werden, sondern das muss vor Ort reali-
siert werden.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Von wem?)


Sie verraten sich ein bisschen mit der Überschrift Ih-
res Antrags. Dort sprechen Sie von Verpflegung. Mir
geht es in diesem Bereich nicht nur um die Verpflegung
in der Schule, sondern um die Integration eines Ernäh-
rungsbewusstseins. Mir geht es darum, dass die Schüler
Kochen können und beim Kochen darauf achten, welche
Inhaltsstoffe die Produkte haben und woher diese
kommen. Das sollte in die schulische Arbeit integriert
werden. Das ist viel mehr, als unentgeltlich zu verpfle-
gen. Ich glaube, liebe Frau Binder, dieses Ziel sollten wir
nicht aufgeben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wir
durch die Umstrukturierung in der Gesellschaft und die
nachfolgende Umstrukturierung im Bildungssystem
große Chancen haben, diese Ziele beim Mittagessen und
auch beim Frühstück in den Bildungseinrichtungen zu
realisieren. Dies habe ich in meiner Berufsschulzeit
schon mit Schülerinnen und Schülern nebenbei reali-
siert, und ich versuche, dies auch in meiner evangeli-
schen Kirchengemeinde vor Ort zu realisieren. Hier ha-
ben wir eine große Chance. Es geht, wie ich schon
beschrieben habe, nicht um Verpflegung, sondern im
Grunde genommen darum, die Mahlzeiten miteinander
zu erleben, um den Austausch zwischen den Lehrern,
den Schülern und den Eltern.

Sie waren sicherlich auch auf der letzten didacta und
haben sich darüber informiert, dass es in diesem Bereich
mittlerweile ein breites Angebot mit sehr guten Lösun-
gen gibt. Sie alle haben regionale Wurzeln. Ich bin froh,
dass Sie angesprochen haben, dass es Schüler gibt, die in
dieser Hinsicht etwas machen. Ich war in Schulen in
Berlin. In meinem Büro saß ein Schüler, der erzählt hat,
was er an einem Gymnasium in Berlin auf den Weg
bringt. Aber er würde sich schwer dagegen verwahren,
dass ich ihm sage, was er dort zu tun hat.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie haben in Ihrer Rede genau das Gegenteil gesagt!)


Er möchte dies mit den Eltern und mit den Unternehmen
vor Ort regeln. Sie wollen, dass es wie im alten planwirt-
schaftlichen System von oben finanziert wird.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Widerspruch bei der LINKEN)






Hans-Michael Goldmann


(A) (C)



(D)(B)


– Sie können ruhig noch ein bisschen lauter schreien. Ich
bin das durchaus durch meine schulische Arbeit
gewohnt. – Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das ist schlicht
der falsche Weg.

Liebe Frau Binder, wir dürfen und sollten die Schu-
len, von der Grundschule an – Sie sprechen sogar vom
Kindergarten –, nicht aus der kommunalen Verantwor-
tung entlassen. Dort, wo es Probleme gibt, können wir
sicherlich darüber nachdenken, wie wir speziell helfen
können. Natürlich setzen wir bei den Eltern an. Ich bin
sehr wohl bereit – das gilt für viele von uns –, auch
Patenschaften in diesem Bereich zu übernehmen. Aller-
dings bin ich entschieden dafür, deutlich zu machen, was
ein kommunaler Auftrag und was ein Landesauftrag ist.

Problematisch ist, dass Sie sich um die Frage nach
den Kosten gedrückt haben. Sie wissen hoffentlich, dass
es 11 Millionen Schüler in Deutschland gibt, die Kinder-
gartenkinder einmal außen vor gelassen. Wenn das Essen
4 Euro pro Kind kostet, verursacht Ihr Modell Kosten in
Höhe von 8,8 Milliarden Euro, und das nur im schuli-
schen Bereich. Angesichts dessen bin ich schon dafür,
auch einmal darüber nachzudenken, ob das verantwort-
lich ist; denn auf Schuldenbergen können Kinder ganz
sicher nicht lernen und nicht spielen. Deswegen bleibe
ich bei meiner Position.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721720800

Herr Kollege, geben Sie dem Präsidenten die Chance,

Sie zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Karin Binder zulassen?


Hans-Michael Goldmann (FDP):
Rede ID: ID1721720900

Ich lasse diese Zwischenfrage nicht zu,


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Angsthase!)


weil Frau Binder genau weiß, dass wir eigentlich schon
seit geraumer Zeit an der Eröffnung der Internationalen
Grünen Woche teilnehmen sollten.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Karin Binder [DIE LINKE]: Das liegt nicht an uns! – Diana Golze [DIE LINKE]: Sie sind Parlamentsmitglied! Das ist ja unerhört!)


Bei manchen Themen haben Sie übrigens gar keine
Ahnung. Sie wissen doch – oder wissen Sie das nicht? –,
dass es einen reduzierten Mehrwertsteuersatz von 7 Pro-
zent gibt.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Aber doch nicht für Schulverpflegung! Für Katzenund Hundefutter!)


Natürlich muss man zur Realisierung dieses Mehrwert-
steuersatzes – hören Sie doch zu; dann erfahren Sie die
Lösung – eine Stiftung oder einen Verein gründen. Aber
Sie wollen doch wohl nicht von oben die Gründung von
Vereinen und Stiftungen verordnen. Deswegen muss ich
ganz klar sagen: Ihr Modell ist nicht geeignet. Die viel-
fältigen Aktivitäten, die es mittlerweile auf allen Ebenen
gibt, nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Das ist ignorant.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Sie sind Abgeordneter und kein professioneller Messebesucher! Das ist unerhört!)


Die Schulverpflegung ist eine wertvolle und wichtige
Sache. Sich mit dem Thema Ernährung zu beschäftigen,
ist ebenfalls eine wertvolle Sache. Es ist sicherlich mög-
lich, ein solches Vorhaben vonseiten der Bundesebene
anzustoßen und zu begleiten. Aber wenn die Realisie-
rung Erfolg haben soll, muss dabei das Regionalprinzip
zum Tragen kommen.


(Karin Binder [DIE LINKE]: Das steht alles in unserem Antrag!)


Man muss dieses Problem regional lösen


(Diana Golze [DIE LINKE]: Sie hätten den Antrag lesen sollen! Ganz einfach!)


und darf nicht die bundespolitische Weiche auf Subven-
tion stellen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Gehen Sie zur Agrarlobby! Da sind Sie ja lieber als hier! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was bin ich?)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721721000

Vielen Dank, Kollege Hans-Michael Goldmann.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wenn Sie zur Agrarlobby wollen, gehen Sie doch! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Sie sind ja nicht ganz gesund im Kopf! – Weiterer Zuruf: Hallo, hallo, hallo?)


– Bitte Vorsicht!


(Diana Golze [DIE LINKE]: Bitte? – Gitta Connemann [CDU/CSU]: Die Agrarlobby und die Grüne Woche haben aber nichts miteinander zu tun! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also, das geht so nicht!)


Ich würde sagen, wir machen in einem kollegialen Mit-
einander weiter.

Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist die Frau
Kollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Unglaublich! Gehen Sie lieber zu Ihrer Messe! Herr Goldmann, das ist unparlamentarisch! Und so einer ist Ausschussvorsitzender! Sie sollten sich schämen! – Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Schämen Sie sich! – Gegenruf von der FDP: Kriegen Sie sich mal ein!)


Frau Kollegin Maisch, Sie haben das Wort.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Unparlamentarisch ist so etwas! – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Sie gehören wirklich auf die Grüne Woche! – Gegenruf des Abg. Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das Traurige ist, dass Sie meinen, da müssten Sie nicht hin!)






Vizepräsident Eduard Oswald


(A) (C)



(D)(B)


– Wir sind hier in der Debatte. – Frau Kollegin, lassen
Sie sich nicht irritieren. Sie haben das Wort.


(Diana Golze [DIE LINKE]: Wir haben im Parlament zu arbeiten und nicht Messen zu besuchen! – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wir sind hier im Bundestag! Sie sind Parlamentarier und kein Agrarlobbyist!)



Nicole Maisch (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721721100

Herzlichen Dank. Ich bemühe mich, es mir zu neh-

men. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Zur Ganztagsschule und zur umfassenden Betreuung
von Kleinkindern in Kitas und Krippen gehört ein quali-
tativ hochwertiges, bezahlbares Essensangebot. Es ist
Voraussetzung für Lernerfolg. Es stärkt den sozialen
Zusammenhalt und die Esskultur. Es ist gelebte Präven-
tion von Fehlernährung und Übergewicht. Es gibt insbe-
sondere Kindern, die aus schwierigen Verhältnissen
kommen, die Chance, gesund aufzuwachsen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


In diesem Punkt herrscht weitgehend Konsens, bei uns
im Ausschuss und, wie ich zu wissen glaube, auch im
Parlament insgesamt.

Wir haben im Ausschuss eine Anhörung durchgeführt
und uns in verschiedenen Berichterstattergesprächen
ausgetauscht. Die Reden waren gut. Leider ist es bei
Schwarz-Gelb bisher beim Reden geblieben.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Stimmt doch überhaupt nicht!)


Frau Crone hat ausgeführt, dass sich bei anderen Farb-
kombinationen etwas mehr Aktivität entfaltet hat; ich
nenne nur das Ganztagsschulprogramm, das unter Rot-
Grün auf den Weg gebracht worden ist. Man könnte hier
also mehr machen. Ilse Aigner und die schwarz-gelbe
Koalition haben das Thema „Gesundes Essen für alle
Kinder“ aber nie zu ihrem Herzensanliegen, nie zu ihrem
Projekt gemacht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir erinnern uns zwar an das von Ursula von der
Leyen rührselig heraufbeschworene warme Mittagessen,
auf das die Kinder warten.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Ja, genau! Wir haben eine finanzielle Grundlage dafür geschaffen, anders als Sie! Denken Sie nur mal an das Bildungsund Teilhabepaket! – Gegenruf des Abg. Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ach was! Das kommt doch überhaupt nicht an! Das wissen Sie doch! Das kommt nicht an, weil die Konstruktion falsch ist!)


Aber Ihr bürokratisches Bildungs- und Teilhabepaket hat
dazu geführt, dass ein Großteil der Kinder immer noch
darauf wartet, weil die Eltern keine Anträge gestellt
haben, weil an den Schulen vor Ort oft kein Angebot
besteht oder weil die Familien, Schulen und Behörden

vor Ort mit dem Bürokratiemonster, das Sie mit dem
Bildungs- und Teilhabepaket geschaffen haben, überfor-
dert sind.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Für einen Teil der Einrichtungen, nämlich für die
Kinderhorte, läuft die Förderung Ende dieses Jahres aus.
Da fragt man sich schon, ob die Union glaubt, dass die
Kinder nach 2013 nicht mehr hungrig sind.

Eine ähnliche Entwicklung gibt es bei den Schulver-
netzungsstellen. Sie wollen die Schulvernetzungsstellen
finanziell austrocknen. Schon im Haushalt 2013 wurden
die entsprechenden Mittel um 170 000 Euro gekürzt, und
in den nächsten fünf Jahren sollen die Schulvernetzungs-
stellen in den einzelnen Bundesländern nach und nach
auslaufen. Ich finde das absurd.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Einhergehend mit der zunehmenden Berufstätigkeit von
Müttern werden wir immer mehr Ganztagsschulen ha-
ben, immer mehr Krippen und immer mehr Kitas, die
nicht nur Halbtags-, sondern auch Ganztagsbetreuung
anbieten. Diese Einrichtungen werden händeringend
nach Beratung über gute Schulverpflegung oder gute
Kitaverpflegung suchen. Deshalb darf man die Schul-
vernetzungsstellen nicht austrocknen, sondern muss sie
zu Kompetenzzentren für Gemeinschaftsverpflegung
ausbauen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)


Wir haben vorhin einen kleinen Streit über die Inter-
nationale Grüne Woche ausgefochten. In diesem Zusam-
menhang möchte ich sagen: Ich finde, Schulernährung
sollte auch als agrarpolitisches Thema gesehen werden.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Das tun wir ja!)


Es ist mir unbegreiflich, warum über 11 Millionen Schü-
lerinnen und Schüler, Kindergartenkinder und Krippen-
kinder, die an 200 Tagen im Jahr gesund und schmack-
haft bekocht werden wollen, von der schwarz-gelben
Bundesregierung nicht als relevanter Absatzmarkt für
hochwertige, regionale, ökologische Erzeugnisse er-
kannt werden und keine entsprechenden politischen
Konsequenzen für die verschiedenen europäischen und
nationalen Förderinstrumente, zum Beispiel bei der
GAP, gezogen werden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Was Sie sagen, stimmt doch gar nicht, Frau Maisch! Das machen wir doch vor Ort!)


– Herr Goldmann, es ist gut, wenn in Ihrem Heimatort
offensichtlich alles in Ordnung ist. In einem Großteil der
Schulküchen in diesem Land werden jedoch nicht ein-
mal die DGE-Standards eingehalten.





Nicole Maisch


(A) (C)



(D)(B)



(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Es mag gute regionale Kooperationen geben, und wir
finden das toll. Frau Heil hat dies am Beispiel des Natio-
nalen Aktionsplans „IN FORM“ vorgetragen. Aber die
politische Aufgabe, vor der wir stehen, ist doch, aus die-
sen Projekten Programme für die Fläche zu machen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)


Wir haben genug Beispiele, die sich für das Schau-
kochen auf der Internationalen Grünen Woche eignen.
Was wir brauchen, sind gutes Essen, Vielfalt, ein hoher
Bioanteil, regionale Produkte für alle Kinder.

Wir Grüne wollen Qualität für alle. Das heißt aber
nicht, dass alles umsonst sein muss. „Alles umsonst für
alle“ halten wir Grüne nicht für sinnvoll. Herr
Goldmann, Sie haben gesagt, die Linken drückten sich
um die Kosten. Das ist nicht richtig. Wenn man den An-
trag der Linken bis zum Ende liest – was sich empfiehlt,
wenn man darüber redet –, findet man die Kosten genau
beziffert mit 8,3 Milliarden Euro allein für die Schul-
kinder.


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Wo ist denn die Deckung?)


Ich glaube, dass man dieses Geld besser anlegen kann.
Was wird faktisch passieren? Leute wie ich werden den
Überweisungsauftrag für die Krippe ändern, sodass
60 Euro weniger überwiesen werden. Man sollte aber
die, die wirklich bedürftig sind, die kein Geld haben, um
sich das Schulessen zu leisten, unterstützen. Warum je-
mand wie ich 60 Euro weniger im Monat für Essensgeld
überweisen soll, ist mir unter sozialpolitischen Gesichts-
punkten nicht verständlich.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der CDU/CSU – Hans-Michael Goldmann [FDP]: Richtig! – Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Sie dürfen ja dann bei uns mehr Steuern zahlen!)


– Natürlich werde ich mehr Steuern zahlen – das ist ganz
klar –, wenn es eine andere Mehrheit in diesem Land
gibt. Aber ich sage Ihnen jetzt einmal, wofür ich diese
Milliarden lieber ausgegeben sehen will: Wir brauchen,
wenn wir das Kooperationsverbot abgeschafft haben,
Geld für ein neues Ganztagsschulprogramm. Wir brau-
chen dringend Geld für Qualitätsverbesserungen in den
Kindertagesstätten, in den Kinderkrippen. Wir brauchen
Geld – das ist in Ihrem Antrag nicht in Milliarden oder
Millionen beziffert – für eine bessere Infrastruktur für
die Schulverpflegung. Das sind alles unglaublich teure
Maßnahmen; aber wir sagen eben: In einem neuen Ganz-
tagsschulprogramm, in Infrastrukturverbesserungen, in
Qualitätsverbesserungen auch bei den pädagogischen
Konzepten und in einer Erhöhung der Regelsätze für
arme Kinder sind die Milliarden besser angelegt als in
„alles für alle umsonst“.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir teilen das Anliegen der Linken, gutes Essen für
alle zu bezahlbaren Preisen bereitzustellen,


(Hans-Michael Goldmann [FDP]: Da stimme ich zu!)


und finden es gut, dass Sie diesen Antrag auf die Tages-
ordnung gesetzt haben. Diese Debatte zu führen, ist rich-
tig; über den Zeitpunkt mag man meinetwegen streiten.
Den Weg, den Sie vorschlagen, finden wir allerdings so
nicht zustimmungsfähig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721721200

Vielen Dank, Frau Kollegin Nicole Maisch. – Nächste

Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kol-
legin Marlene Mortler. Bitte schön, Frau Kollegin
Marlene Mortler.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1721721300

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Ich finde es zwar naheliegend, dass wir paral-
lel zur Eröffnung der Grünen Woche über Ernährung re-
den; aber ich finde es ziemlich daneben, dass wir hier
über ein Thema reden, für das wir überhaupt nicht zu-
ständig sind, und schlechte Gastgeber für alle unsere
ausländischen Gäste und Delegationen sind, die schon
den ganzen Tag auf uns warten.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Swen Schulz [Spandau] [SPD]: Es ist natürlich ärgerlich, dass Sie hier arbeiten müssen!)


Der Finanzierungsbedarf für Ihre Forderung nach
hochwertiger und unentgeltlicher Verpflegung für alle
Schüler, Kinder und Jugendlichen beziffert sich laut Ih-
rem Antrag auf 8,3 Milliarden Euro. Ja, wenn es das
schon wäre! Sie fordern auch ein sofortiges Investitions-
programm für die Kommunen, um Mensen und Schulkü-
chen neu zu bauen bzw. zu renovieren.


(Abg. Karin Binder [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721721400

Frau Kollegin.


Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1721721500

Herr Präsident, ich möchte gerne zu Ende reden.

Wenn am Schluss noch Zeit bleibt, lasse ich die Zwi-
schenfrage gerne zu.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721721600

Schauen wir einmal.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die Zeit wird doch angehalten!)



Marlene Mortler (CSU):
Rede ID: ID1721721700

Außerdem fordern Sie, dass der Mehrwertsteuersatz

für die Caterer von 19 Prozent auf 7 Prozent gesenkt wird
und nicht wirtschaftlich agierende Zulieferer bzw. Cate-





Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)


rer von der Umsatzsteuer befreit werden. – Das ist Poli-
tik nach Ihrem Geschmack. Sie tischen munter wün-
schenswerte Wohltaten auf, und der Bund koordiniert
und zahlt. Wohltaten für alle via Gesetz!


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Nicht für die Reichen und die Aktienbesitzer! Nein, für die Kinder! – Ulrich Kelber [SPD]: Das sagt eine Abgeordnete, die für die Mehrwertsteuersenkung für Hoteliers gestimmt hat!)


Mich schüttelt schon, mit welcher Leichtigkeit Sie hier
zweistellige Milliardenbeträge mit teils abenteuerlichen
Begründungen einfordern.


(René Röspel [SPD]: Der Caterer kann durch Sie Geld sparen!)


Ihrem Rezept fehlt ein entscheidender Passus. Es enthält
keinen Satz zur Gegenfinanzierung.

Sie verteidigen die Bundesländer, weil diese mit der
Schuldenbremse überfordert wären. Aber hallo! Auch
der Bund muss die Schuldenbremse einhalten.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Ein Bremschen, ja!)


Es kann nicht sein, dass der Bund immer mehr Dinge be-
zahlen muss, obwohl er nicht zuständig ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Die Kommunen bezahlen unheimlich viele Dinge, die Sie ihnen zugewiesen haben!)


Das hieße, dass wir immer öfter von unseren grundge-
setzlichen Regelungen abweichen.


(René Röspel [SPD]: Ich fühle mich zuständig!)


Das Bildungs- und Teilhabepaket, liebe Gitta Connemann,
war eine Ausnahme, und sie muss es auch bleiben.

Meine Kolleginnen und Kollegen, auch wenn der Satz
in diesem Haus schon oft gesagt wurde: Politik beginnt
beim Betrachten der Realitäten.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Dann fangen Sie damit doch einmal an!)


Als Meisterin der ländlichen Hauswirtschaft weiß ich
um die Bedeutung und den Wert einer ausgewogenen Er-
nährung. Hier muss mir also keiner etwas vormachen.
Bleiben wir aber doch bitte auf dem Boden! Ganz abge-
sehen von den Zuständigkeiten: Was ist wünschenswert?
Was ist machbar? Wie können wir sichern, dass sich un-
sere Kinder gesund und ausgewogen ernähren? Ein ge-
sundes Angebot bedeutet übrigens nicht automatisch
auch eine gesunde Ernährungsweise.

Damit komme ich zu den Eltern. Diese kommen in Ih-
rem Antrag nur zwei Mal vor, und das in einer kleinen
Nebenrolle. Ich sage Ihnen: Elternverantwortung ist Ei-
genverantwortung;


(Beifall der Abg. Gitta Connemann [CDU/ CSU])


denn wenn sich die Eltern nicht genügend kümmern,
dann bleiben die Kinder auf Dauer auf der Strecke; sie
bleiben schlecht ernährt.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Also sollen die Eltern jetzt in der Schule kochen? Die Kinder sind den ganzen Tag in der Schule! Kennen Sie die Realitäten nicht?)


Der Staat und die Politik können das auf Dauer nicht al-
leine richten. Das heißt, wir dürfen die Eltern nicht aus
ihrer Verantwortung entlassen. 1 Euro ist für mich ein
symbolischer Betrag; er muss aus meiner Sicht immer
leistbar sein. Welches Selbstverständnis und welches
Gesellschaftsbild haben Sie eigentlich, dass Sie alles auf
den Staat abschieben wollen?


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Auch zu Hause kann man seine Kinder nicht zum Nullta-
rif ernähren!


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Skandinavien! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die Kinder sollen also die Schule schwänzen, um zu Hause zu essen?)


Essen ist für mich auch Nahrungsaufnahme,


(Zurufe von der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN: Oh!)


und zwar im Sinne von Erleben. Da gebe ich Ihnen sogar
recht; denn Sie haben in Ihrem Antrag sehr ausführlich
formuliert, dass das Essverhalten als Kind das Essver-
halten als Erwachsener entscheidend prägt.


(Alexander Ulrich [DIE LINKE]: Wenn Sie uns schon recht geben, wird es schwierig!)


Meine Damen und Herren, das Essen in der Familie,
das Essen mit der Schulfamilie muss aus meiner Sicht
wieder mehr zu einem sozialen Ereignis werden. Es ist
so wichtig, dass sich die Kinder auf das gemeinsame, ab-
wechslungsreiche Essen freuen, wie es in meiner großen
Familie ganz selbstverständlich ist,


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wer kocht denn bei Ihnen mittags? Sollen Ihre Kinder die Schule schwänzen?)


dass Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen und
Lehrer auch Vorbilder sind, mitessen und zeigen, dass es
schmeckt und dass sich Kinder in einer angenehmen
Atmosphäre wohlfühlen.

Der Nationale Aktionsplan „IN FORM“ des Bundes-
landwirtschaftsministeriums ist mehrfach angesprochen
worden; es ist nur eines von vielen Projekten und Pro-
grammen. Aber mit Blick auf Bayern und aus Bayern
möchte ich Ihnen mitgeben: Es liegt in absoluter Zustän-
digkeit der Bundesländer, das Beste aus diesem Pro-
gramm zu machen. Das gilt auch für die Aktivitäten und
für die Aktivierung der sogenannten Vernetzungsstelle
Schulverpflegung. Selbstverständlich erwarten wir
DGE-Standards, also die Standards der Deutschen Ge-
sellschaft für Ernährung. Darüber hinaus versuchen wir,





Marlene Mortler


(A) (C)



(D)(B)


über Coaching die Akteure an den Tisch zu holen und
mit ihnen die Schulverpflegung zu optimieren. Das ist
der richtige Ansatz.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Herzlichen Dank an das BMELV, stellvertretend an
Staatssekretär Bleser, für dieses Programm.

Leider hat der Lernort Familie an Bedeutung verlo-
ren. Mangelnde Alltagskompetenz hat für uns alle weit-
reichende Folgen. Deshalb fördere und unterstütze ich
eine Unterschriftenaktion der bayerischen Landfrauen
für die Einführung eines Unterrichtsfaches für Alltags-
und Lebensökonomie.


(Gitta Connemann [CDU/CSU]: Das ist sehr gut!)


Das würde uns übrigens nichts kosten und im Ergebnis
unserer Volkswirtschaft viel Geld, also Ausgaben, erspa-
ren.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


– Danke. – Mit diesem Geld können wir dann tatsächlich
und gezielt bedürftige Kinder unterstützen.

Aus den vielen genannten guten Gründen lehnen wir
Ihren Antrag aus Überzeugung ab.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721721800

Frau Kollegin Binder, Sie haben gemerkt, dass für

Ihre Zwischenfrage keine Zeit geblieben ist. – Vielen
Dank, Frau Kollegin Marlene Mortler.

Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemo-
kraten ist unsere Kollegin Frau Marianne Schieder. Bitte
schön, Frau Kollegin Marianne Schieder.


(Beifall bei der SPD)



Marianne Schieder (SPD):
Rede ID: ID1721721900

Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-

gen!

… Speisen haben vermutlich einen sehr großen
Einfluss auf den Zustand der Menschen, … wer
weiß, ob wir nicht einer gut gekochten Suppe die
Luftpumpe und einer schlechten den Krieg oft zu
verdanken haben.

So der Physiker Georg Christoph Lichtenberg im
18. Jahrhundert über das Essen. „Essen und Trinken hält
Leib und Seele zusammen“, so lautet ein altes Sprich-
wort. Diese Feststellungen ließen sich fortsetzen; aber
wir wissen aus eigener Erfahrung, wie wichtig gute Er-
nährung und gemeinsames Essen für Geist und Seele
sind. Dabei – auch das wissen wir aus eigener Erfahrung –
geht es eben nicht nur um das Stillen des Hungers. Ge-
rade für Kinder ist ein gesundes und ausgewogenes
Essen sowohl für die körperliche wie auch für die geis-
tige Entwicklung von ganz besonderer Bedeutung. Noch
dazu – darauf wurde schon mehrmals hingewiesen –

werden Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten ge-
prägt, die ihre Spuren oft ein Leben lang hinterlassen.

Blickt man auf die Essensversorgung in unseren
Schulen und Kindertagesstätten – es stimmt, was dazu
schon gesagt worden ist –, ergibt sich wirklich ein be-
sorgniserregendes Bild. Die Hochschule Niederrhein hat
im vergangenen Jahr im Rahmen einer deutschlandwei-
ten repräsentativen Umfrage feststellen müssen, dass die
Qualität des Essens an 200 untersuchten Schulen über-
wiegend mangelhaft und ungesund war. Über 90 Prozent
der Schulen erfüllen die Ansprüche der Deutschen Ge-
sellschaft für Ernährung an gesundes Essen nicht. In der
Tat, da kann man nur sagen: Wir brauchen dringend eine
Verbesserung dieser Situation.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir haben Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen aus
den Reihen der Union und der FDP, schon seit längerem
viele Vorschläge unterbreitet. Greifen Sie unsere Vor-
schläge auf, und tun Sie endlich etwas!


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Es reicht nicht aus, wenn die Bundeskanzlerin die Bil-
dungsrepublik ausruft. Wir brauchen dazu schon die ent-
sprechenden Rahmenbedingungen. Doch da erleben wir
bei Ihnen wenige Aktivitäten. Sie handeln beharrlich
nach der Methode: nichts tun, aussitzen, blockieren.

Ein gutes Beispiel für die Blockadehaltung der
schwarz-gelben Koalition sehen wir in der dringend er-
forderlichen Aufhebung des Kooperationsverbotes im
Bereich Bildung.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wer nämlich wirklich etwas für bessere und mehr Bil-
dung tun will, muss das Grundgesetz ändern und es er-
möglichen, dass Bund und Länder miteinander die wich-
tigen Aufgaben und Herausforderungen in Angriff
nehmen und bewältigen. Dazu gehören das Schulessen
und die Verpflegungssituation in Schulen und Kitas ins-
gesamt. Der Vorschlag aber, den Sie uns seitens der Bun-
desregierung vorgelegt haben, ist das Papier nicht wert,
auf dem er steht. Sie nehmen doch nur die Hochschulen
in den Blick und da auch nur einen ganz kleinen Bereich.
Von Schulen und Kitas ist überhaupt nicht die Rede.

Noch unproduktiver ist der Vorschlag des bayerischen
Kultusministers, das Ganze über einen Staatsvertrag re-
geln zu wollen. Diese Staatsvertragsidee ist maximal ein
öffentlichkeitswirksames und geschicktes Ablenkungs-
manöver. Es wird natürlich der Eindruck erweckt, als sei
man an einer besseren Zusammenarbeit der Bundeslän-
der in Sachen Bildung interessiert, weil man natürlich
weiß, dass die Bevölkerung dies dringend erwartet. Aber
in Wahrheit denkt man doch gar nicht daran, mehr Ab-
sprachen zu treffen. In Wahrheit will der bayerische Kul-
tusminister weiter sein eigenes Süppchen kochen.


(Beifall bei der SPD)






Marianne Schieder (Schwandorf)



(A) (C)



(D)(B)


Dabei wäre es auch für den vergleichsweise gut situier-
ten Freistaat Bayern von großem Vorteil, wenn man über
die finanzielle Unterstützung des Bundes zum Beispiel
den weiteren Ausbau der Ganztagsschulen und die
Schulsozialarbeit vorantreiben könnte. Natürlich könnte
dann auch mehr getan werden für Verbesserungen bei
der Schulverpflegung. Warum sich die Staatsregierung
in Bayern so beharrlich weigert, das Geld des Bundes zu
nehmen, das weiß der Himmel. Ein vernünftiger Mensch
kann dafür keine Argumente finden.

Die Finanzsituation der Kommunen ist mehr als ange-
spannt. Das führt dazu, dass auch sehr Wünschenswertes
im Bereich Bildung nicht realisiert werden kann, weil
den Sachaufwandsträgern finanziell die Hände gebunden
sind. Was tut hier die Bundesregierung?


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Prioritäten setzen!)


Sie machen doch mit Ihrer Politik den Kommunen das
Leben noch schwerer, anstatt endlich dafür zu sorgen,
dass deren finanzielle Ausstattung verbessert wird. Ich
nenne hier nur das Wachstumsbeschleunigungsgesetz,
die Einschnitte im Bereich der Städtebauförderung und
bei dem Programm „Soziale Stadt“; die Liste ließe sich
fortsetzen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Ich fordere Sie auf: Folgen Sie der SPD-Fraktion! Wir
haben schon vor über einem Jahr den Vorschlag ge-
macht, einen Art. 104 c ins Grundgesetz einzufügen.
Dann könnte der Bund den Ländern dauerhaft finanziell
unter die Arme greifen, auch im Bildungsbereich. Die
Bildungshoheit der Länder bliebe gewahrt. Mit diesem
grundlegenden Schritt könnte natürlich auch die Verpfle-
gung in Schulen und Kitas verbessert werden. Ein be-
sonderer Schwerpunkt liegt auf den Ganztagsschulen,
wo der Verpflegung natürlich grundlegende Bedeutung
zukommt.

Es ist schon angesprochen worden, dass es da und
dort noch Bedarf geben wird, was den Bau von Mensen
betrifft. Aber noch viel mehr müsste uns die Frage um-
treiben, wie wir denn dafür sorgen können, dass in die-
sen Mensen gesundes und ausgewogenes Essen gewähr-
leistet wird. Es gilt die Chance zu ergreifen, Kindern und
Jugendlichen mit der Verpflegung in den Schulen grund-
legendes Wissen über ausgewogene und gesunde Ernäh-
rung zu vermitteln.

Mit unserem Zukunftsprogramm „Deutschland 2020“
haben wir da als SPD-Bundestagsfraktion schon die ers-
ten Pflöcke eingeschlagen.


(Beifall bei der SPD)


Wir wollen, dass bis 2020 jedem Kind die Möglichkeit
eröffnet wird, eine gute Ganztagsschule zu besuchen.
Dazu gehört natürlich auch gesundes und ausgewogenes
Essen, das eben nicht nur von Großküchen angeliefert
und womöglich auch noch verteilt wird. Die Sorge um
die Verpflegung muss aber auch in die Gesamtorganisa-

tion des Schulbetriebs einbezogen werden. Da gibt es in
der Tat noch mehr zu tun.

Ich bitte Sie noch einmal: Lassen Sie mit sich reden!
Sorgen Sie mit uns dafür, dass das Kooperationsverbot
aufgehoben wird,


(Stefan Müller [Erlangen] [CDU/CSU]: Laden Sie uns doch einmal zum Essen ein!)


damit Bund, Länder und Kommunen zusammen überle-
gen können, wie wir im Bereich der Essensversorgung in
unseren Schulen und Kitas vorankommen. Es ist näm-
lich höchste Zeit, richtig auf den Tisch zu hauen, damit
die Tafeln in unseren Schulen besser gedeckt werden.
Wie schon der Schriftsteller Peter Maiwald sagte: Das
Mit-der-Faust-auf-den-Tisch-Schlagen nimmt ab, wenn
er gedeckt ist.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721722000

Vielen Dank, Kollegin Marianne Schieder. – Nächster

Redner ist unser Kollege Rainer Erdel für die Fraktion
der FDP. Bitte schön, Kollege Rainer Erdel.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Rainer Erdel (FDP):
Rede ID: ID1721722100

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!

Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau Kollegin
Schieder, auch ich lebe in Bayern, aber anscheinend lebe
ich in einem anderen Bayern als Sie.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: In Franken! Das ist ganz klar!)


– Ach, Sie machen ganz bewusst die Unterscheidung
zwischen Bayern und Franken.


(Ulrich Kelber [SPD]: Darauf bestehe ich als gebürtiger Franke auch!)


Ich will aber nicht auf das eingehen, was Sie eben geäu-
ßert haben.

Der Antrag der Linken beschäftigt sich mit einem
sehr wichtigen Thema. Dieses Thema beschäftigt vor
allen Dingen Landes- und Kommunalpolitiker, aber auch
Schüler und Elternverbände, und es war auch Bestand-
teil einer öffentlichen Anhörung im Ernährungsaus-
schuss.


(Dr. Kirsten Tackmann [DIE LINKE]: Obwohl er nicht zuständig ist!)


Leider liegen die Linken bereits mit dem Titel
krachend daneben, wenn sie meinen, dass Unentgeltlich-
keit der Schulverpflegung Lernerfolg und Konzentration
der Schüler fördert. Ich bin zweiter Bürgermeister einer
Gemeinde, die sehr erfolgreich Mittagsverpflegung an-
bietet. Ich lade Sie gerne in meine Gemeinde ein und
werde auch dafür sorgen, dass Sie unentgeltlich Mittags-





Rainer Erdel


(A) (C)



(D)(B)


verpflegung bekommen, wenn es dann auch bei Ihnen
den Lernerfolg fördert.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Zuruf von der LINKEN: Bayerische Arroganz!)


Es wird die Behauptung aufgestellt, Kinder von
Hartz-IV-Empfängern könnten sich in diesem Land nicht
richtig ernähren. Das kann ich nicht nachvollziehen.


(Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist klar!)


Sie meinen, dass das Essen unentgeltlich sein soll.


(Kai Gehring [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Haben Sie sich schon mal von 1,90 Euro ordentlich ernährt?)


Seit einigen Wochen wissen wir, dass Sparkassendirek-
toren durchaus zu den Besserverdienern gehören. Aber
Sie sind der Meinung, dass auch die Kinder von Besser-
verdienenden ihr Essen kostenlos erhalten sollten. Dies
kann ich nicht nachvollziehen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie behaupten in Ihrem Antrag allen Ernstes, Kom-
munen und Länder sähen sich für das Thema Schul-
verpflegung nicht in der Verantwortung. Ich kann Ihnen
versichern: Wir sehen uns als Kommunalpolitiker sehr
wohl in der Verantwortung. Das geht sogar so weit, dass
Eltern anfragen, ob es nicht möglich ist, dass sie von die-
ser Schulverpflegung Portionen käuflich erwerben und
mit nach Hause nehmen können, was allerdings rechtlich
nicht zulässig ist.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721722200

Herr Kollege Erdel, die Frau Kollegin Binder probiert

es jetzt auch bei Ihnen.


Rainer Erdel (FDP):
Rede ID: ID1721722300

Auch bei mir ist es so, dass ich das auf den Schluss

der Rede verschieben möchte.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721722400

Auch mit der Begründung, dass Sie zur Grünen Wo-

che müssen?


Rainer Erdel (FDP):
Rede ID: ID1721722500

Ja.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721722600

Also, Frau Kollegin Binder, Sie haben es gehört.


Rainer Erdel (FDP):
Rede ID: ID1721722700

Wir haben sehr viele Elternbeiräte, und wir haben

Schülerbeiräte, die durchaus bereit und in der Lage sind,
den Speisezettel zusammenzustellen.

Sie fordern in Ihrem Antrag übrigens die Beteiligung
einer Kommission, eines Ministeriums, einer Behörde,
was auch immer, der Kultusministerkonferenz, der Län-
der und Kommunen, Forschungseinrichtungen, Gewerk-

schaften, Schüler- und Elternvertretungen, Schulen, des
Bildungspersonals, der Regionalbewegung und der Ver-
braucherverbände. Sie vergessen ganz offensichtlich
Kirchen und Religionsgemeinschaften. Ich weiß, das
passt nicht in Ihr Weltbild. Aber später kommen Sie
doch darauf. Ich kann Ihnen versichern, dass auch die
Bedürfnisse und Belange von Religionsgemeinschaften
in den Speiseplänen berücksichtigt werden.

Meine sehr geehrten Damen und Herren, Mittags-
verpflegung in den Schulen ist nicht entstanden, weil die
Verpflegung notwendig ist – damit hat Frau Kollegin
Crone durchaus recht –, sondern weil sich unser Bil-
dungssystem und die Ansprüche an die Ausbildung bei
uns verändert haben. Deswegen nehmen die Verantwort-
lichen, denke ich, ihre Aufgabe sehr ernst.

Der Bund unterstützt dies. Mit 1,1 Millionen Euro
werden die Vernetzungsstellen Schulverpflegung unter-
stützt. Das ist auch gut so.

Sie haben in Ihrem vierseitigen Antrag letztendlich in
einem Abschnitt einen wichtigen und richtigen Punkt
aufgegriffen. In Punkt II 2 a und b gehen Sie nämlich auf
die Wichtigkeit einer guten Ernährung und auf die Wich-
tigkeit von Lernküchen ein, die in den Lernalltag einbe-
zogen werden müssen. Das ist sehr richtig. Deswegen
rate ich Ihnen auch, Kontakt mit Frau Scherb vom Deut-
schen Landfrauenverband aufzunehmen. Sie kann Ihnen
hier sicherlich gute Empfehlungen geben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Qualitätsvorga-
ben nicht zur Bevormundung der Kinder führen sollen,
dass eine selbstbestimmte Ernährungsweise möglich
sein soll. Aber Sie weisen auch darauf hin, die Ernäh-
rung müsse ohne Aromen und ohne Geschmacksverstär-
ker sein. Die Speisen seien bisher häufig zu fett und zu
süß. Als Getränke würden oftmals nur süße Limonaden
angeboten. Zu bevorzugen seien regionale, saisonale
Produkte, und das Ganze müsse ökologisch produziert
werden. Das solle die Basis der Schulernährung sein. –
Es gibt also „keinerlei“ Vorgaben Ihrerseits.


(Lachen bei Abgeordneten der FDP und der CDU/CSU)


Ich denke, man sollte den vielen ehrenamtlich Enga-
gierten an unseren Schulen dankbar sein. Man sollte das
Thema Ernährungskunde wesentlich intensiver behan-
deln. Ich meine, wir sollten in Deutschland Vielfalt zu-
lassen und es den Kommunen, den Elternbeiräten, den
Schulen vor Ort überlassen, wie sie die Schulverpfle-
gung am besten organisieren. Deshalb, glaube ich, wird
Ihr Antrag abgelehnt werden.

Vielen herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721722800

Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat das Wort zu ei-

ner Kurzintervention unsere Kollegin Karin Binder.






(A) (C)



(D)(B)



Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721722900

Herr Kollege Erdel, Sie stimmen mir sicherlich zu,

dass Ihr Bundesland Schulen hat, in denen die Verhält-
nisse relativ geordnet sind. Möglicherweise sind sogar
Freundesvereine von Eltern vorhanden, die ein Stück
weit dazu beitragen, dass tatsächlich eine qualitativ
hochwertige Verpflegung möglich ist.

Aber stimmen Sie mir auch zu, dass in Deutschland
leider nicht jede Schule in einer günstigen Situation ist,
dass es Brennpunktstadtteile gibt, Schulen, in denen El-
ternarbeit quasi gar nicht vorkommt, weil die Eltern sich
gar nicht dessen bewusst sind, wie wichtig diese Arbeit
ist, und in denen eine vernünftige, qualitativ hochwertige
Verpflegung schlichtweg an Kosten scheitert? Das heißt,
der Lernerfolg ist für viele Kinder eine Frage der Kos-
ten, die ihre Eltern decken müssten. Mir geht es darum,
für alle Kinder die gleiche Grundlage zu schaffen, damit
Kinder reicher Eltern die gleiche qualitativ hochwertige
Ernährung bekommen wie Kinder armer Eltern.

Ich frage mich schon, welche Rolle das Thema Kos-
ten bei Ihnen spielt; schließlich sind Sie bereit, in Kauf
zu nehmen, dass im Gesundheitssystem pro Jahr auf-
grund ernährungsbedingter Krankheiten Kosten von
70 Milliarden Euro anfallen. Dem stelle ich die 8,3 Mil-
liarden Euro für Schulessen entgegen. Was ist denn da
für die Gesellschaft die günstigere Variante?

Ich denke, die ernährungsbedingten Kosten im
Gesundheitssystem langfristig zu reduzieren, wäre ein
weiterer Vorteil einer flächendeckenden, kostenfreien
Schulverpflegung.


(Beifall bei der LINKEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721723000

Vielen Dank. – Herr Kollege Rainer Erdel zur Gegen-

rede.


Rainer Erdel (FDP):
Rede ID: ID1721723100

Frau Binder, ich gebe Ihnen sehr recht: Es gibt sicher-

lich Schulen, wo dieses System nicht funktioniert. Aber
Sie selbst schreiben in Ihrem Antrag, dass es möglich ist,
für 4 Euro gesunde und entsprechend zubereitete
Lebensmittel den Schülern zur Verfügung zu stellen.
Deswegen bin ich der Meinung, es ist am besten, vor Ort
und nicht hier im Deutschen Bundestag zu entscheiden,
welche Nahrungsmittel – da gebe ich Ihnen ebenfalls
recht: „regional“ ist durchaus ein Ziel – den Schülern
angeboten werden. Es kommt zum Beispiel in urbanen
Gebieten mit einem hohen Migrationsanteil sehr häufig
vor, dass das Essen anders zusammengestellt sein muss
als in anderen Bereichen. Deswegen ist es wichtig, dass
die Lösung vor Ort gefunden wird, aber nicht hier im
Deutschen Bundestag.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721723200

Vielen Dank. – Wir setzen unsere Aussprache fort.

Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU un-
sere Kollegin Frau Carola Stauche. Bitte schön, Frau
Kollegin.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Carola Stauche (CDU):
Rede ID: ID1721723300

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Heute beraten wir ein Thema – ich
bin die letzte Rednerin in dieser Debatte –, das jeden
Einzelnen von uns berührt, egal ob man selbst ein Kind
hat, das in eine Kindertagesstätte oder in eine Schule
geht. Gesunde Ernährung für Kinder gehört in das Be-
wusstsein jeder Bürgerin und jedes Bürgers, aber beson-
ders der Eltern.


(Christoph Poland [CDU/CSU]: Richtig!)


Darüber sind wir uns über Fraktionsgrenzen hinweg ei-
nig.

Nicht erst im September, als durch den Norovirus im
Schulessen Kinder gesundheitlich geschädigt wurden
– ich komme aus einer Region, die besonders betroffen
war –, ist dieses Thema von großer Bedeutung. Fettsüch-
tige und zuckerkranke Kinder sind zu einem Problem ge-
worden, dem es entgegenzuwirken gilt. Eine gesunde
und ausgewogene Verpflegung in der Schule oder Kin-
dertagesstätte, aber auch zu Hause muss ein Teil der Lö-
sung dieses eben geschilderten Problems sein. Verant-
wortung hierbei tragen Länder, Kommunen, Eltern. Aber
auch die Agrarwirtschaft kann hierbei helfen; ich werde
das an einem Beispiel aufzeigen. Darüber, meine sehr
geehrten Damen und Herren, ist sich nicht nur die
Unionsfraktion bewusst, sondern dessen sind wir uns
alle bewusst.

Aber auch die Bundesregierung, namentlich Frau
Aigner als Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz, hat ein ausgeprägtes Bewusstsein für
die Tragweite der Problematik, auch wenn die Linke
heute durchaus etwas anderes behauptete. Dass die
Ministerin an einer Lösung dieses Problems interessiert
ist, kann man nicht von der Hand weisen. Wer daran
zweifelt – Sie haben ja heute gezweifelt –, kann sich ei-
nes Besseren belehren lassen. Schauen Sie auf die
Homepage des Ministeriums, schauen Sie auf die Home-
page von „IN FORM“. Das alles ist hier heute schon ge-
nannt worden.

Allein auf diesen beiden Seiten wird deutlich, dass
viele der im Antrag der Linken aufgestellten Forderun-
gen bereits umgesetzt sind. Ich nenne Ihnen stichwortar-
tig einige Beispiele. Auf der Seite des Bundesministe-
riums finden wir unter der Überschrift „Kita und Schule“
bereits eine Menge Wissenswertes und Interessantes
zum Antrag und zum diskutieren Thema. Angefangen
bei der Bedeutung von Schulgärten und eines gesunden
Frühstücks erfahren wir im nächsten Absatz, dass die
Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Er-
nährung als Orientierung verstanden werden sollen, also
genau wie im Antrag gefordert.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: 90 Prozent der Schüler praktizieren die nicht!)


– Ja, aber das liegt nicht an der Bundesregierung.

Bei weiterem Durchsehen der Homepage findet man
Ernährungswettbewerbe, Kinderkochbuch, Ernährungs-





Carola Stauche


(A) (C)



(D)(B)


leitfäden und vieles mehr. Hingewiesen wird auch auf
die „IN FORM“-Projekte, die sich an Kinder und Ju-
gendliche richten. Wendet man sich dieser Homepage
zu, findet man noch detailliertere Informationen. Aber
sie müssen angewendet werden. Man kann dies nicht mit
dem Hinweis auf Gefängnisstrafen oder was weiß ich
verordnen.

Wem das nicht genügt, dem kann ich nur empfehlen,
wenn wir hier fast zum Ende gekommen sind und wir
alle zur Grünen Woche gehen: Gehen Sie in die Länder-
halle der Grünen Woche und gehen Sie dabei bitte an
den Thüringen-Stand. Dort sehen Sie in Umsetzung
einer zukunftsbeständigen und integrierten Landent-
wicklung das Thema „Schulessen – Regional – Gesund –
Gut“. Es kann gutgehen; aber die Verantwortungsträger
vor Ort müssen sich einig sein und müssen miteinander
arbeiten.


(Beifall bei der CDU/CSU)


Hier wird auch den Eltern und Schülern eine interessante
Ausstattung an die Hand gegeben. Wenn Sie nicht wis-
sen, wie es funktioniert, dann kaufen Sie sich dort das
Buch; denn darin können Sie lesen, wie der Prozess des
Schulessens abläuft, wie die Zuständigkeiten geregelt
sind und an welchen Stellen insbesondere die Eltern mit
welchen Mitteln eingreifen können. Das sollte man sich
durchaus mal angucken. Wir haben dieses Projekt, und
dort wird das Schulessen regional von den Landwirt-
schaftsbetrieben gewuppt, regional, frisch, gesund, und
das Essen in der Schule kostet 2,50 Euro. 4 Euro sind
nicht einmal notwendig. Es gibt auch Tage, an denen es
Obst und Gemüse gibt. Dort ist alles vorgesehen, aber es
muss zusammengearbeitet werden.

Aber wissen Sie, an den Schulen, die das Norovirus
hatten, haben es die Eltern abgelehnt, das Essen für
2,50 Euro zu beziehen; sie wollten es für 2,30 Euro ha-
ben. Darauf kann man keinen Einfluss nehmen, denn
dies unterliegt der Selbstbestimmung. So etwas kann
man den Eltern doch nicht verordnen.

Frau Aigner und die Bundesregierung sind also auf
einem sehr guten Weg, was die gesunde Ernährung der
Kinder angeht.

Nun diskutieren wir hier über den Antrag der Linken,
der nach außen hin sehr schön aussieht und dem man ei-
gentlich zustimmen könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Eigentlich. Aber bei einer genaueren Betrachtung des
Antrags sieht man deutlich, dass dieser Antrag nichts
weiter als populistisches Aufblähen ist.


(Lachen bei der LINKEN)


Wie eben kurz geschildert, sind sich sowohl die
christlich-liberale Koalition als auch die Bundesregie-
rung der Wichtigkeit gesunder Ernährung von Kindern
bewusst.


(Beifall der Abg. Dr. Christel Happach-Kasan [FDP])


Die Forderung nach unentgeltlicher Verpflegung mag
schön klingen. Aber ist sie zielführend? Würden sich

denn tatsächlich mehr Kinder und Jugendliche – abgese-
hen vom Mittagessen – besser ernähren? Oder ist es viel-
mehr so, dass aufgrund des fehlenden Preisbewusstseins
– das ist nämlich ein ganz wichtiger Aspekt – noch mehr
Lebensmittel weggeworfen würden, als das eh schon ge-
tan wird, frei nach dem Sprichwort: „Was nichts kostet,
taugt nichts“? Wir haben es oft genug erlebt. Die Le-
bensmittel sind zu gut für die Tonne.

Interessant finde ich, was in Ihrem Antrag zum Bil-
dungs- und Teilhabepaket steht. Unabhängig davon, dass
man auch hier erkennt, dass sich die Bundesregierung
der Wichtigkeit der Verpflegung von Kindern und Ju-
gendlichen bewusst ist, möchte ich etwas zu den Erfah-
rungen sagen, die ich mit dem Bildungs- und Teilhabe-
paket gemacht habe.

Ich weiß aus meinem Wahlkreis, dass das für die
Schulspeisung zur Verfügung gestellte Geld völlig unbü-
rokratisch und problemlos an die Schulen ausgegeben
wird.


(Alexander Süßmair [DIE LINKE]: Ach, ganz unbürokratisch?!)


Hier haben die Eltern und die Kinder nicht viel mit der
Abwicklung zu tun. Das Geld wird von der Schulbe-
hörde in Absprache mit der Arge direkt an die Schulen
überwiesen. Es ist Sache der Verwaltung vor Ort, festzu-
legen, wie sie arbeitet. Es ist wichtig, dass die Verwal-
tung – Kommune und Arge – gut zusammenarbeitet;
dann funktioniert es auch.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Ich verstehe ja, dass die Damen und Herren von der
Linken die sinnvollen sozialstaatlichen Veränderungen,
welche die schwarz-gelbe Koalition durchgeführt hat,
verteufeln.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Da gibt es nichts zu verteufeln! Sie haben ja nichts Sinnvolles gemacht!)


Aber sehen Sie doch bitte ein: Vernünftige Sozialpolitik
heißt nicht, das Geld fremder Leute mit vollen Händen
auszugeben. Aber genau das beinhaltet Ihr Antrag. Es ist
nicht notwendig, dass wir den Eltern, die sich das selbst
leisten können, das Geld für die Schulspeisung bezahlen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Das ist Ausdruck einer Politik, welche die Bürger bevor-
mundet unter dem Deckmantel, dass alles und jeder der
Hilfe bedarf und diese auch empfangen will. Dem ist
nicht so. Die Menschen in unserem Land wissen ganz
genau, was gut und was schlecht für sie ist.


(Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE] meldet sich zu einer Zwischenfrage)


Denjenigen, die sich nicht selbst helfen können, hilft der
Staat. So handelt die Union seit Gründung der Bundesre-
publik. Das sieht man am Beispiel der Schulspeisung
ganz deutlich.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Diesen Bogen hinzukriegen: Wahnsinn!)







(A) (C)



(D)(B)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721723400

Wenn Sie bitte auf die Zeit achten!


Carola Stauche (CDU):
Rede ID: ID1721723500

Ja. – Hierbei geht es um das Prinzip des mündigen

Bürgers und des Verbrauchers, der selbst am besten
weiß, was für ihn und seine Familie gut und wichtig ist.


Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721723600

Frau Kollegin Stauche, Sie sind am Ende der Rede-

zeit. Aber Sie haben jetzt die Möglichkeit, noch eine
Zwischenfrage zuzulassen.


Carola Stauche (CDU):
Rede ID: ID1721723700

Nein, jetzt nicht mehr. Wir wollen zur Grünen Woche.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721723800

Jawohl. Aber ich habe die Bitte, dass noch ein paar

hierbleiben. – Vielen Dank.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe nun die
Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/11880 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damit
einverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so be-
schlossen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-
setzes zur zusätzlichen Förderung von Kin-
dern unter drei Jahren in Tageseinrichtungen
und in Kindertagespflege
– Drucksache 17/12057 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GO

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Sie alle
sind damit einverstanden. So haben wir dies gemeinsam
beschlossen.

Ich eröffne nun die Aussprache. Das Wort hat unsere
Bundesministerin, Frau Dr. Kristina Schröder. Bitte
schön, Frau Bundesministerin Dr. Schröder.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:

Lieber Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und
Kollegen! Am 14. Dezember haben die Länder im Bun-
desrat das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz abgelehnt

und damit auch 580 Millionen Euro, die der Bund im
Juni 2012 zusätzlich für den Bau von 30 000 neuen Kita-
plätzen bereitgestellt hat.

Wir beraten heute kurzfristig den Entwurf eines Kin-
derzusatzförderungsgesetzes, weil wir wollen, dass die
neuen Bundesmittel schnellstmöglich in den Bau von
Kitaplätzen fließen, und weil wir wollen, dass die Kom-
munen und die Träger vor Ort endlich Rechts- und Pla-
nungssicherheit haben.

Der vorliegende Gesetzentwurf schafft die Grundla-
gen dafür, dass die im Bundeshaushalt bereitgestellten
Mittel abgerufen und eingesetzt werden können.

An dieser Stelle ist es angebracht, einen besonderen
Dank an die Mitarbeiter des Ministeriums auszuspre-
chen. Sie haben kurz vor Weihnachten alle Hebel in
Bewegung gesetzt und innerhalb eines einzigen Tages
diesen Gesetzentwurf erarbeitet und mit mir am Wo-
chenende abgestimmt, damit wir trotz des straffen Zeit-
planes dieses Gesetz so schnell wie möglich auf den
Weg bringen können. Vielen Dank dafür.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dabei gilt nach wie vor, dass wir den Wünschen der
Länder weit entgegenkommen. Wir haben zugestimmt,
dass die Mittel rückwirkend zum 1. Juli 2012 eingesetzt
werden können. Wir haben zugestimmt, dass die Zahl
der unter Dreijährigen zum 31. Dezember 2010 für die
Verteilung der Mittel ausschlaggebend ist und nicht der
Finanzbedarf.


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Wir haben alles getan!)


Aber Priorität haben für uns nicht die Wünsche der Län-
der, sondern die Wünsche der Eltern.


(Beifall der Abg. Ewa Klamt [CDU/CSU])


Deshalb ist es wichtig, dass Gelder, die bis zu bestimm-
ten Terminen nicht für konkrete Bauprojekte gebunden
sind, anderen Ländern zur Verfügung stehen. Das ist
ganz klar im Sinne der Eltern. Die Gelder müssen dem
Bedarf folgen und nicht dem Proporz. Darauf hatten wir
uns mit den Ländern geeinigt. Die Länder haben außer-
dem zugesagt, dass sie ihren Eigenanteil nachweisen, be-
vor neue Mittel bewilligt werden. Das soll sicherstellen,
dass aus den 580 Millionen Euro tatsächlich 30 000 zu-
sätzliche Plätze entstehen.

Ein dritter Punkt ist im Sinne der Eltern, nämlich
mehr Transparenz. Wir brauchen endlich konkrete Infor-
mationen über Ausbaustand, Planung und Bedarf vor
Ort. Nur das liefert einen Überblick, den wir für eine ef-
fiziente Ausbauplanung auf allen Ebenen brauchen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Der Bund hat die Unterstützung für eine Aufgabe zu-
gesagt, für die verfassungsrechtlich allein die Länder zu-
ständig sind. Der Bund hat sich im Jahr 2007 bereit er-
klärt, den Kitaausbau mit 4 Milliarden Euro zu
unterstützen. Grundlage dafür waren Planungszahlen für
den bundesweiten Bedarf. 2007 ging man von 35 Pro-
zent aus, und heute gehen wir von 39 Prozent aus.





Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (C)



(D)(B)


Wir alle wissen, dass diese Zahlen deutschlandweite
Durchschnittszahlen sind und dass es die Aufgabe der
Kommunen ist, den konkreten Bedarf vor Ort zu ermit-
teln. Trotzdem wird mir immer wieder empört entgegen-
gehalten, dass der Bedarf in vielen Großstädten, wie zum
Beispiel Hamburg, weitaus höher ist. Ja, natürlich ist er
das. Es ist das Wesen von Durchschnittszahlen, dass da-
hinter höhere und niedrigere Werte stehen.


(Marlene Mortler [CDU/CSU]: Genau so ist es! Wunderbar erklärt!)


Das ist im Grunde wie bei der SPD. Wenn sie bei der
letzten Forsa-Umfrage auf 23 Prozent gekommen ist,
dann findet sie ein Dorf, wo sie noch auf 30 Prozent
kommt, aber sie findet auch noch Gemeinden, wo sie nur
auf 20 Prozent kommt.


(Dorothee Bär [CDU/CSU], an die SPD gewandt: Habt ihr das jetzt kapiert? – Markus Grübel [CDU/CSU]: Jetzt haben wir es kapiert!)


So ist das auch mit dem Bedarf an Kitaplätzen. Des-
halb müssen sich die Kommunen vor Ort um die Erfül-
lung des Rechtsanspruchs kümmern. Das bedeutet, dass
jede Stadt, jede Gemeinde selbst ermitteln muss, wie
hoch der Bedarf an U-3-Plätzen ist, und dass sie dann
diese Plätze zur Verfügung stellen muss.

Genau deshalb ist es auch so wichtig, dass wir endlich
Transparenz haben, wo noch wie viele Plätze konkret be-
nötigt werden. Es gibt gute Kommunen, die die Prioritä-
ten rechtzeitig gesetzt haben. Es gibt aber leider auch
Kommunen, die erst jetzt erkennen, dass sie sich an den
Wünschen der Eltern orientieren müssen und nicht an
bundesweiten Durchschnittszahlen.

Bei den Ländern wiederum liegt die Steuerungsver-
antwortung. Sie müssen sowohl ihren finanziellen Bei-
trag leisten als auch dafür sorgen, dass Bundesmittel und
Landesmittel in den Kommunen dort ankommen, wo sie
gebraucht werden. Dabei ist klar: Ohne das Geld des
Bundes, ohne die Weiterleitung der Mittel durch die
Länder und ohne eigene Mittel der Länder können die
Kommunen ihre Aufgabe nicht erfüllen. Nur wenn alle
Beteiligten ihrer Verantwortung gerecht werden, dann ist
der Rechtsanspruch auch zu schaffen.

Wir als Bund haben unseren Teil der Abmachung er-
füllt. Wir haben unsere Finanzverpflichtung erbracht und
mit den 580 Millionen Euro sogar noch eine ordentliche
Schippe draufgelegt. Wir haben unseren Teil der Verein-
barung zu jedem Zeitpunkt auf Punkt und Komma, auf
Euro und Cent erfüllt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Dennoch sehen wir, dass mancherorts die Ausbaudy-
namik nicht hoch genug ist. Deshalb mischen wir uns
ein, auch über unseren Teil der Abmachung hinaus.
Diese Bundesregierung, diese christlich-liberale Koali-
tion tut alles in ihrer Macht stehende, um den Rechtsan-
spruch zum 1. August 2013 zu erfüllen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Blasphemie!)


Wo es Ausbauhemmnisse gibt, helfen wir, diese zu be-
seitigen. Dazu dient auch der 10-Punkte-Plan, den ich im
Mai 2012 vorgelegt habe. Die Maßnahmen daraus sind
angelaufen oder laufen gerade an.

Am 1. Februar startet das neue KfW-Förderpro-
gramm: Kommunen und Träger können verbilligte Kre-
dite für den Kitaausbau aufnehmen. Damit übernehmen
wir de facto eine Aufgabe der Länder. Mit dem neuen
Aktionsprogramm Kindertagespflege ist bereits wenige
Wochen nach dem Start der Grundstein für 1 000 neue
Betreuungsplätze gelegt worden. Das neue Programm
zur Förderung betrieblicher Kinderbetreuung ist gestar-
tet und nimmt die Unternehmen besonders in die
Pflicht.

Als Bund haben wir damit für die Erfüllung des
Rechtsanspruchs alle Voraussetzungen geschaffen. Mein
Anliegen ist, dass das am 1. August 2013 auch alle Län-
der und alle Kommunen von sich sagen können.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721723900

Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nun spricht

für den Bundesrat Senator Detlef Scheele. Senator
Detlef Scheele ist Senator der Behörde für Arbeit, Sozia-
les, Familie und Integration der Hansestadt Hamburg.
Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Rede von: Unbekanntinfo_outline
Rede ID: ID1721724000

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Der Krippenausbau ist eine große Herausforderung
für die Länder und Kommunen. Die Länder und Kom-
munen nehmen diese Herausforderung auch an. Ich will
gerne richtigstellen, dass die Länder das Fiskalpaktge-
setz nicht wegen des Krippenausbaus abgelehnt haben,
sondern aus anderen Gründen. Das ist, glaube ich, auch
allgemein bekannt.

Wie das Beispiel Hamburg zeigt, ist das ambitionierte
Ziel, den Rechtsanspruch bis zum August dieses Jahres
umzusetzen, gut zu erreichen. Das ist mit erheblichen
Anstrengungen verbunden; aber es funktioniert, wenn
alle Beteiligten konstruktiv zusammenarbeiten.

In Hamburg haben wir in den letzten zwei Jahren, seit
dem Beginn unserer Regierungszeit, mehr als 4 000 zu-
sätzliche Krippenplätze geschaffen. Kinder in Betreuung
zu bringen, das kostet Geld, Zeit und Geduld. Von 2011
bis 2013 werden die Ausgaben für die Kinderbetreuung
in der Stadt Hamburg von etwa 400 Millionen Euro auf
mehr als eine halbe Milliarde Euro steigen. Wir werden
eine Betreuungsquote im U-3-Bereich von rund 43 Pro-
zent erreichen können. Das entspricht dem, was man in
einer Großstadt wie Hamburg braucht.

Alle Städte erheben den Bedarf, den sie haben und sie
wissen auch, was sie brauchen. Das jetzt vom Bund end-
lich in Aussicht gestellte Geld ist daher eine wichtige
und willkommene Hilfe. Aber das Hauptengagement





Detlef Scheele, Senator (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


– da gebe ich der Ministerin recht – liegt bei den Län-
dern und bei den Kommunen.


(Beifall der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU])


Sie sind für die Kindertagesbetreuung zuständig und er-
füllen diese Aufgabe auch.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Die Länder haben frühzeitig, zum Beispiel auf der Ju-
gend- und Familienministerkonferenz im Jahr 2011, da-
rauf hingewiesen, dass die beim Krippengipfel 2007 un-
terlegten Annahmen von der Wirklichkeit überholt
worden sind. Die damals getroffene Verabredung, dass
Bund, Länder und Kommunen jeweils ein Drittel der In-
vestitions- und Betriebskosten tragen, wird nicht einge-
halten.

Hamburg erhält ab dem Jahr 2014 – wenn die neue
Zusatzförderung kommt – vom Bund rund 20 Millionen
Euro für den Betrieb der Kitas. Das sind jedoch nur
15 Prozent der laufenden Ausgaben. Der Bund müsste
allein für Hamburg noch einmal 25 Millionen Euro im
Jahr oben drauflegen, um der vereinbarten Drittelrege-
lung nachzukommen,


(Markus Grübel [CDU/CSU]: Denkfehler!)


und das Jahr für Jahr.

Trotz verschiedener Initiativen der Länder hat die
Bundesregierung die Probleme beim Krippenausbau
lange Zeit ignoriert. Nur durch die Initiative der Länder
hat der Bund weitere 580 Millionen Euro Investitions-
mittel bereitgestellt.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Nur durch die Initiative der Länder ist es gelungen, Geld
für zusätzliche 30 000 Plätze zu erhalten. Ohne die Mi-
nisterpräsidenten Kurt Beck und Olaf Scholz hätte dies
bei den Verhandlungen zum Fiskalpakt gar nicht zur De-
batte gestanden; denn die Bundesregierung hatte dieses
Thema nicht auf die Tagesordnung gesetzt.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Notwendigkeit einer stärkeren Beteiligung des
Bundes zur Erreichung des 2007 auf dem Kitagipfel von
allen gewollten und beschlossenen Rechtsanspruches
war bereits seit vielen Jahren bekannt. Stattdessen haben
Sie von der Bundesregierung das Betreuungsgeld einge-
führt. Sie halten damit Frauen vom Arbeitsmarkt fern,
verschärfen die Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt,
schließen Kinder von früher Bildung in Kitas aus und
stecken viel Geld in ein Projekt, das auf veralteten Vor-
stellungen vom Familienleben basiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie der Abg. Diana Golze [DIE LINKE] – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Nicht nur ablesen, selber denken!)


Dieses Geld wäre besser in den Ausbau und die qualita-
tive Weiterentwicklung der Kindertagesbetreuung inves-
tiert worden;


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


allein in Hamburg hätte man damit 3 000 zusätzliche
Plätze schaffen können, die einen Beitrag zu mehr Chan-
cengerechtigkeit geleistet hätten.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Für die Rede hätten Sie nicht aus Hamburg herkommen müssen! Das ist ja furchtbar!)


Die Länder waren vor dem Hintergrund der Probleme
beim Ausbau der Kindertagesbetreuung immer zu prag-
matischem Handeln bereit. Aber die Idee vom August
2012, die zugesicherten Mittel nur an die westdeutschen
Bundesländer zu verteilen, die bei der Erreichung der
Ausbauziele noch hinterherhinkten, war besonders be-
merkenswert. Die neuen Bundesländer, aber auch alte
Bundesländer wie Bayern und Hamburg, die bereits
massiv eigene Mittel investiert hatten, sollten leer ausge-
hen. Mit den Ministerpräsidenten war verbindlich verab-
redet, dass der Verteilungsschlüssel der alte bleibt. Der
Versuch, die Länder gegeneinander auszuspielen, war
sehr durchsichtig und nicht erfolgreich.

In den Verhandlungen zum Fiskalpakt wurde den
Ländern eine unbürokratische und schnelle Regelung zu-
gesagt. Wenn das so gewesen wäre, dann hätte schon
längst mit der Auszahlung begonnen werden können.
Aber was sich den Ländern dann bot, war alles andere
als unbürokratisch und schnell: Plötzlich wurden monat-
liche detaillierte Berichte zum Ausbaustand verlangt,
obwohl es bereits konkrete Nachweise für jeden Euro
des Bundesgeldes gab und bis heute gibt; die Länder ha-
ben das nie abgelehnt. Pragmatismus und klare Regeln
hätten stattdessen weitergeholfen. Dazu waren und sind
wir bereit, alle 16 Länder gemeinsam.

Erst im November, nach energischem Drängen aller
Länder, hat die Bundesregierung endlich damit aufge-
hört, die notwendigen Verbesserungen für Familien und
ihre Kinder zu blockieren. Wir werden uns den Schwar-
zen Peter nicht zuschieben lassen. Denn die Realität
sieht gänzlich anders aus: Für Hamburg gilt, dass wir
den Rechtsanspruch für alle zweijährigen Kinder bereits
im letzten August erfolgreich umgesetzt haben. Nord-
rhein-Westfalen hat – erst nach dem Regierungswechsel
im Sommer 2010 – zusätzliche Landesmittel in Höhe
von fast einer halben Milliarde Euro in den Ausbau der
Kinderbetreuung im U-3-Bereich investiert.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ist eigentlich irgendwo Wahlkampf, oder berichten Sie neutral?)


Fast überall wird der Ausbau vorangetrieben.

Meine Damen und Herren, lassen Sie uns mit dem
Klein-Klein aufhören;


(Lachen bei der CDU/CSU und der FDP)






Detlef Scheele, Senator (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


das können wir uns nicht länger leisten. Es sind noch sie-
ben Monate; dann muss der Rechtsanspruch gewährleis-
tet sein.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Dann müssen Sie mit der Rede noch mal neu anfangen!)


– Kommen Sie nach Hamburg und gucken Sie, wie das
geht. Das wäre ganz hilfreich.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sagt derjenige, der vom Länderfinanzausgleich profitiert! – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Fangen Sie noch mal neu an, wenn Sie mit dem KleinKlein aufhören wollen!)


Wir haben nicht mehr viel Zeit: Es sind noch sieben Mo-
nate; dann soll der Rechtsanspruch gelten. Die Eltern
sollen arbeiten können, wenn sie wollen. Es soll frühe
Bildung für alle Kinder geben. Das wäre ein Beitrag zu
mehr Chancengerechtigkeit. Die Politik sollte sich jetzt
zusammenraufen.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721724100

Vielen Dank, Herr Senator. – Nächster Redner in un-

serer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kol-
lege Pascal Kober. Bitte schön, Herr Kollege Pascal
Kober.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1721724200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Bund, Länder und Kommunen haben sich darauf ver-
ständigt, 12 Milliarden Euro in das wichtige gesamtge-
sellschaftliche Ziel einer verbesserten Kinderbetreuung
zu investieren.


(Caren Marks [SPD]: Die FDP hat dagegen gestimmt!)


Davon trägt der Bund 4 Milliarden Euro. Mit dem heuti-
gen Gesetzentwurf legt er weitere 580,5 Millionen Euro
nach. Das bedeutet: Keine Bundesregierung zuvor hat je
so viel in den Ausbau der Infrastruktur in der Kinderbe-
treuung investiert.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Das hat der Vorredner nicht verstanden!)


Wir, die christlich-liberale Koalition, stehen zu unse-
rem Teil der Verantwortung und zum Rechtsanspruch
auf Betreuung für unter dreijährige Kinder, der zum
1. August in Kraft treten wird. Wir stehen dazu, weil wir
wissen, dass eine gute Familienpolitik Paare ermutigt,
Kinder zu bekommen. Für eine gute Familienpolitik be-
darf es dreierlei:

Erstens. Es bedarf der richtigen Rahmenbedingungen,
sowohl bestimmter rechtlicher Rahmenbedingungen,
zum Beispiel eines Rechtsanspruchs, als auch guter Be-
dingungen im Bereich der Infrastruktur, zum Beispiel für
Kindertagesstätten, Horte, Tagesmütter und Tagesväter.

Zweitens. Es bedarf einer finanziellen Unterstützung.
Internationale Vergleiche besagen, dass Deutschland hier
weltweit in der Spitzengruppe liegt.

Drittens. Es bedarf dessen, was die Bundesministerin
Kristina Schröder „Zeit für Familie“ nennt: die Möglich-
keit, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, ein
verlässliches Umfeld in der Betreuung und gute Aus-
sichten am Arbeitsmarkt; denn wir wissen, dass Unsi-
cherheit hinsichtlich des Arbeitsplatzes bei vielen dazu
führt, bei der Verwirklichung des Kinderwunsches abzu-
warten. Manche warten dann viel zu lange.

Ich denke, niemand kann bestreiten, dass die gute
Konjunkturlage der letzten drei Jahre unter dieser Regie-
rungskoalition zu mehr Verlässlichkeit auf dem Arbeits-
markt geführt hat.


(Caren Marks [SPD]: Du lieber Himmel!)


Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren so
viele Menschen erwerbstätig.

In der heutigen Debatte geht es um zusätzliche Mittel
in Höhe von 580,5 Millionen Euro, die der Bund bereit-
stellt, und darum, warum wir dieses schon beschlossene
Finanzpaket heute noch einmal in den Bundestag ein-
bringen müssen. Wir müssen das tun, weil die Bundes-
länder ihren Teil der Verantwortung beim Ausbau der
Kinderbetreuung nur sehr schleppend wahrgenommen
haben. Es hat sich gezeigt, dass einige Bundesländer die
4 Milliarden Euro nur sehr zögerlich abgerufen haben
und die Umsetzung des Kitabauprogramms mit den zeit-
lichen Vorgaben nicht Schritt gehalten hat.

An dieser Stelle darf man auch einmal darauf hinwei-
sen – der Kollege Christian Lange aus Baden-Württem-
berg war eben noch anwesend –, dass das grün-rot re-
gierte Baden-Württemberg mit nur 61,7 Prozent das
Schlusslicht beim Mittelabruf bildet.


(Caren Marks [SPD]: Das hat Schwarz-Gelb lange genug verpennt!)


Das ist schade und ein eindeutiger Aufruf an das grün-
rote Baden-Württemberg.


(Dagmar Ziegler [SPD]: In einem halben Jahr schafft man nicht, was über Jahre versäumt wurde!)


Die Länder haben den Fiskalpakt abgelehnt, in dem
auch die zusätzlichen 580,5 Millionen Euro für den Kita-
ausbau enthalten waren. Wir müssen den Ländern heute
das Geld quasi hinterhertragen.


(Caren Marks [SPD]: Das ist eine Frechheit!)


Dabei haben Bund, Länder und Kommunen den Ausbau
der Kinderbetreuung einstimmig beschlossen. Deshalb
ist es ärgerlich, wenn die Länder einerseits ihrer Verant-
wortung nicht in ausreichendem Maße nachkommen,





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


sich aber gleichzeitig beklagen, wenn sich der Bund in
ihre Kompetenzen einmischt.

Wenn zum Beispiel schärfere Berichtspflichten vor-
geschlagen werden, gibt es Kritik. Die Eltern der Kinder
erwarten von den Landesregierungen aber keine takti-
schen Spielchen,


(Dagmar Ziegler [SPD]: Aber auch nicht vom Bund!)


sondern die Umsetzung dessen, was sie selbst mit be-
schlossen haben. Um echte Wahlfreiheit zu erreichen,
brauchen wir auch in den nächsten Jahren erhebliche
Anstrengungen. Jeder – auch Bund, Länder und Kom-
munen – sollte dabei den eigenen Verpflichtungen nach-
kommen.

Ich vermisse zum Beispiel Initiativen der Landesre-
gierungen zur Entrümpelung der Landesbauordnungen,
um nicht den Ausbau durch überzogene Standards bei
der Höhe von Kleiderhaken und Toilettenbecken zu ver-
zögern. Ich vermisse Initiativen der Landesregierungen,
um die EU-Hygieneverordnungen in der Tagespflege
großzügig auszulegen. Hierbei haben die Länder einen
erheblichen Spielraum, den sie im Sinne der Kinderbe-
treuung nutzen sollten.


(Beifall bei der FDP)


Wir haben mit unserem Antrag zur Stärkung der Ta-
gespflege unseren Teil dazu beigetragen. Wenn es um
die Kinderbetreuung geht, liegt aber vieles in der Zu-
ständigkeit der Länder. Insofern kann ich nur an die Län-
der und die Kommunen appellieren, ihrer Verantwortung
gerecht zu werden und beim Ausbau der Kindertagesbe-
treuung einen Zahn zuzulegen. Packen Sie mit an und
verhindern Sie nicht! Die Eltern und die Kinder warten
darauf.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721724300

Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. – Nächste Red-

nerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Golze.


(Beifall bei der LINKEN)



Diana Golze (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721724400

Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kollegin-

nen und Kollegen! Es ist schon verwunderlich. Wenn
man den Gesetzentwurf durchliest und wenn man die
Rede unserer Ministerin dazu hört, dann gewinnt man
den Eindruck, die Bundesregierung und die sie tragen-
den Fraktionen hätten das Gefühl, den beschlossenen
Rechtsanspruch locker umsetzen zu können, und es
ginge nur noch um diese kleine Differenz zwischen den
Plätzen für 37 Prozent bzw. 39 Prozent der Kinder. Diese
30 000 Plätze könne man den Ländern gerne auch noch
hinterhertragen, wie es Herr Kober vorhin sagte.

Sie nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass diese
37 Prozent bzw. 39 Prozent von Anfang an bewusst zu
niedrig angesetzt waren und dass es einen deutlich höhe-

ren Bedarf geben wird, den das Statistische Bundesamt
vor wenigen Wochen deutlich beziffert hat.


(Beifall bei der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


220 000 Plätze fehlen derzeit bundesweit. Frau Ministe-
rin, da helfen keine Zahlenspiele. Da helfen auch keine
statistischen Berechnungen. Es helfen auch keine Erklä-
rungen, wie Umfragen oder statistische Mittelwerte zu-
stande kommen. Das zu wissen, können Sie einem
durchschnittlichen Bundestagsabgeordneten durchaus
zutrauen.

Das Problem ist, dass der Bedarf deutlich größer ist
als die Zahl, die Sie beschlossen haben. Dieses Problem
haben die Kommunen. Die Realitätsverweigerung, die
Sie dabei an den Tag legen, hilft den Kommunen nicht
weiter.

Das Problem ist auch, dass Sie nicht nur fehlende
Krippenplätze in einer nennenswerten Größenordnung
ignorieren, sondern dass Sie auch ignorieren, dass der-
zeit aus einer Verzweiflung heraus eine Debatte über das
Absenken von Qualitätsstandards geführt wird, nur um
vielleicht doch noch den Rechtsanspruch einlösen zu
können. Genau das dürfen wir aber nicht zulassen. Das
dürfen wir auch nicht auf Bundesebene zulassen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Wir brauchen bundesweit qualitative Standards. Auf die
muss man sich endlich verständigen. Deswegen fordere
ich an dieser Stelle zum wiederholten Male: Bund, Län-
der und Kommunen müssen an einen Tisch. Es muss ei-
nen neuen Krippengipfel geben,


(Beifall bei der LINKEN)


und bei diesem Krippengipfel muss man sich mindestens
über folgende drei Punkte Klarheit verschaffen.

Erstens. Wir brauchen realistische Zahlen, wie groß
der Bedarf tatsächlich sein wird. Ich erinnere daran: Wir
reden über einen Rechtsanspruch für Kinder ab dem ers-
ten Lebensjahr, der in diesem Sommer greifen soll. Das
heißt, die zukünftigen Kitakinder, um die es geht, sind
schon geboren. Die Eltern können heute tatsächlich be-
urteilen, ob sie einen Kitaplatz brauchen oder nicht. Vor
einigen Jahren war das vielleicht noch nicht der Fall.
Das muss endlich eruiert, erforscht und erfragt werden.
Das bringt dann die Zahlen des Familienministeriums
vielleicht etwas näher an die Wirklichkeit.

Zweitens muss auf diesem Krippengipfel über ver-
bindliche Qualitätsstandards und deren Umsetzung ge-
sprochen werden. Wie groß dürfen Gruppen in der Kita
maximal sein? Wie viele Erzieherinnen und Erzieher
werden noch gebraucht? Welche Qualifikationen brau-
chen diese Fachkräfte? Wie können wir gewährleisten,
dass es genügend Erzieherinnen und Erzieher gibt? Das
in einem halben Jahr zu schaffen, ist kaum noch mög-
lich. Wir haben die Bundesregierung mehrfach dazu auf-
gefordert, einen Maßnahmenplan vorzulegen; geschehen
ist nichts.





Diana Golze


(A) (C)



(D)(B)


Drittens muss bei diesem Krippengipfel festgestellt
werden – und man muss sich darauf verständigen, wie
man damit umgeht –, dass es trotz aller noch vorzuneh-
menden Anstrengungen Kommunen geben wird, die im
Sommer nicht genügend Betreuungsplätze zur Verfü-
gung stellen können. Das werden nicht nur die Groß-
städte sein, es wird auch Regionen im ländlichen Raum
geben, die diese Plätze nicht vorhalten können. Der
Städte- und Gemeindebund warnt nicht zu Unrecht
schon jetzt vor einer Klagewelle, die auf die Kommunen
zurollt.

Frau Ministerin, sich dann hinzustellen und zu be-
haupten, Sie hätten Ihren Teil getan und jetzt müssten
die Kommunen die Schadenersatzklagen bewältigen, das
kann nicht sein. Wir haben eine gemeinsame Verantwor-
tung für die Umsetzung dieses Rechtsanspruches. Der
Bundestag darf die Kommunen, die Städte und Gemein-
den nicht mit diesen Schadenersatzklagen alleine lassen,
nur weil sie das letzte Glied in der Kette und Opfer die-
ses Missmanagements sind.


(Beifall bei der LINKEN)


Man kann also zusammenfassen: Mit diesem Gesetz-
entwurf haben die Regierenden wohl die letzte Chance
vertan, in Richtung einer guten Tagesbetreuung für alle
Kinder umzusteuern. Krisenmanagement sieht anders
aus. Sie geben keine Antworten auf die wirklich drän-
genden Fragen, sondern sie spielen Blindekuh, was den
Bedarf betrifft, und Schwarzer Peter, was die Folgen die-
ses Spiels betrifft. Das muss ein Ende haben. Sie wollen
in der nächsten Sitzungswoche den Gesetzentwurf ver-
abschieden. In der vorliegenden Form können wir ihm
keinesfalls zustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der LINKEN sowie der Abg. Dagmar Ziegler [SPD])



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721724500

Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. – Nächste Redne-

rin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere
Kollegin Frau Katja Dörner. Bitte schön, Frau Kollegin
Dörner.


Katja Dörner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721724600

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,

liebe Kollegen! Die Ministerin hat heute Abend offen-
sichtlich ein bisschen Kreide gefressen.


(Zuruf von der CDU/CSU: Was?)


Aber dann kam doch wieder die alte Leier, das alte
Schwarzer-Peter-Spiel, was auch bei Herrn Kober sehr
schön zu beobachten war. Es wird mit dem Finger auf
die anderen gezeigt: Die anderen sind schuld, die Länder
sind schuld, die Kommunen sind schuld.


(Ewa Klamt [CDU/CSU]: Sie sind nicht schuld, sie sind zuständig!)


Ich kann Ihnen sagen: Die Eltern, die verzweifelt auf der
Suche nach einem Kitaplatz sind, haben diese Debatte
einfach satt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Wir sind hier im Deutschen Bundestag, und deshalb
spreche ich über die Verantwortung der Bundesregie-
rung. Fakt ist: Die Bundesregierung und diese Familien-
ministerin sind ihrer Verantwortung beim Kitaausbau
nicht gerecht geworden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Pascal Kober [FDP]: Mehr als gerecht geworden!)


Was hat im Bundestag stattgefunden? Schwarz-gelbe
Vogel-Strauß-Politik, und das seit Jahren. Wir wissen
doch schon lange, dass der Bedarf im U-3-Bereich ober-
halb der ursprünglich avisierten 35 Prozent liegt. Wir
müssen auch davon ausgehen, dass der Bedarf weiter
steigt. Was tut die Ministerin? Was hat sie getan? Sie
steckt den Kopf in den Sand. Drei Jahre lang hat die Fa-
milienministerin es nicht vermocht, dem Finanzminister
einen einzigen zusätzlichen Cent für den Kitaausbau aus
den Rippen zu leiern.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)


Wenn es jetzt überhaupt eine Chance gibt, den
Rechtsanspruch im August zu gewährleisten, dann ha-
ben wir diese Chance doch den rot-grünen Bundeslän-
dern im Bundesrat zu verdanken,


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Total lustig! Das glauben Sie doch selber nicht!)


die die zusätzlichen 580 Millionen Euro im Rahmen der
Fiskalpaktverhandlungen erstritten haben.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Die Bundesregierung und diese Familienministerin ha-
ben mit diesen 580 Millionen Euro überhaupt nichts zu
tun.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Das ist ja unglaublich!)


Und was macht die Ministerin? Sie schmückt sich mit
fremden Federn. Sie setzt das Schwarzer-Peter-Spiel
fort. Sie meint, den Ländern kleinteilige und unerfüll-
bare Vorschriften machen und sie mit Detailregelungen
schikanieren zu können.

580 Millionen Euro zusätzlich für den Kitaausbau, er-
stritten von den Bundesländern, nachdem die Ministerin
drei Jahre lang nichts gebacken bekommen hat, und was
behauptet Frau Schröder? Zitat: Dass „manche Länder
den Kita-Ausbau aus Parteitaktik vor die Wand fahren
lassen“.

Im Herbst beschwerte die Ministerin sich in der breiten
Öffentlichkeit, die Länder würden die Bundesgelder nicht
abrufen. Nun lese ich in dem Gesetzentwurf, der uns hier
vorgelegt wurde, dass 99 Prozent der Bundesmittel be-
reits durch Bewilligungen gebunden sind. Herr Kober, an
Ihre Adresse sage ich: Heute haben wir die neuen Zahlen





Katja Dörner


(A) (C)



(D)(B)


bekommen. Baden-Württemberg hat 99,9 Prozent der
Gelder beantragt, und sie sind auch bewilligt worden. Das
sind die relevanten Zahlen. Sie sollten hier nicht solche
Taschenspielertricks machen. Diese Tatsachenverdre-
hung ist einfach nur dreist.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Wir könnten heute schon viel weiter sein. Die zusätz-
lichen Mittel könnten schon dort angekommen sein, wo
sie dringend gebraucht werden, in den Kommunen, in
den Kitas, wenn die Ministerin darauf verzichtet hätte,
sich zulasten der Länder und auf Kosten der Eltern zu
profilieren. Jetzt müssen wir alle gemeinsam zusehen,
dass wir überhaupt noch die Kurve bekommen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Ich finde es richtig, dass der Bund Forderungen nach
einer Beteiligung des Bundes an der Befriedigung even-
tueller Schadenersatzansprüche der Eltern aufgrund feh-
lender Kitaplätze zurückweist. Das wäre definitiv ein
falsches Signal. Aber es reicht nicht, sich auf diese For-
derung der Kommunen einfach nur nicht einzulassen,
nach dem Motto: Das geht uns alles überhaupt nichts an.
Es muss darum gehen, zu vermeiden, dass diese Scha-
denersatzansprüche überhaupt erst entstehen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der Abg. Diana Golze [DIE LINKE])


Diesbezüglich ist der Bund ganz klar in der Pflicht. Wir
brauchen ein Sofortprogramm, insbesondere für die
Kommunen, die in den letzten Jahren in den Kitaausbau
investiert haben, aber einen Bedarf haben, der deutlich
über 35 Prozent liegt. Wir Grüne haben das in den Haus-
haltsberatungen beantragt. Wir haben einen Antrag vor-
gelegt. Wir haben dokumentiert, wie man das solide fi-
nanzieren kann.


(Otto Fricke [FDP]: Mit Steuererhöhungen!)


Dieser Antrag wurde von Schwarz-Gelb einfach abge-
lehnt.

Wenn der Bund jetzt nicht schnell mehr tut, dann wird
das mit dem Rechtsanspruch im August nicht funktionie-
ren. Aber nicht nur das; es ist auch klar, dass der Ausbau
der Kitaplätze dann zulasten der Qualität in den Einrich-
tungen gehen wird. Ich finde das absolut unverantwort-
lich. Deshalb erneut mein Appell an die Bundesregierung,
an die Familienministerin, endlich die Verantwortung für
einen bedarfsgerechten Platzausbau und die Qualität der
Angebote zu übernehmen.

Vielen Dank.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721724700

Vielen Dank, Frau Kollegin Katja Dörner. – Nächste

Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kol-
legin Frau Dorothee Bär. Bitte schön, Frau Kollegin Bär.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dorothee Mantel (CSU):
Rede ID: ID1721724800

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Es
gibt ein Spiel, das bei Kindergartenkindern sehr beliebt
ist. Sie machen wahnsinnig gern einen „Umgekehrttag“.
Dann heißt es: Ich meine immer genau das Gegenteil
von dem, was ich sage. Wäre die Rede von Frau Dörner
Teil eines solchen Spiels gewesen, wäre sie absolut rich-
tig gewesen; denn für jeden Satz, den Sie hier von sich
gegeben haben, gilt: Das Gegenteil davon wäre richtig
gewesen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Nur mit einem Satz haben Sie recht, Frau Kollegin,
nämlich mit dem Satz: Wir haben es satt. – Auch wir ha-
ben es satt. Wir haben es satt, dass Sie hier dauernd alles
schlechtreden, was diese Bundesregierung in den letzten
Jahren an hervorragender Arbeit für die Familien in die-
sem Land geleistet hat.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Wir haben es auch satt, dass wir uns hier immer wieder
mit Themen beschäftigen müssen, die schon längst auf
einem guten Weg wären, wenn Rot-Grün bzw. Grün-Rot
in diesen Bereichen keine Dauerblockade betreiben
würde.

Sehr geehrter Herr Senator, für die Rede hätten Sie
nicht aus Hamburg herkommen müssen.


(Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU)


Wenn Sie einfach Ihre Arbeit im Bundesrat gemacht hät-
ten, wäre die Debatte heute Abend überhaupt nicht not-
wendig.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Sehr gut!)


Am 20. November 2012 haben wir hier im Deutschen
Bundestag mit der Verabschiedung des Gesetzespakets
zur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages
580 Millionen Euro – sprich: 30 000 zusätzliche Betreu-
ungsplätze – auf den Weg gebracht. Am 14. Dezember
2012 wurde das großzügige Angebot des Bundes aber
ohne Not und völlig überraschend im Bundesrat abge-
lehnt. Es stellt sich schon die Frage, was dahintersteckt;
denn das Vorgehen der Länder ist – vor allem vor dem
Hintergrund, dass beispielsweise Bayern dem Paket zu-
gestimmt hat – wirklich unbegreiflich. Daran sieht man,
meine Kolleginnen und Kollegen, dass es in keiner
Weise um inhaltliche Punkte geht. Hier spielen nur par-
teitaktische Gründe eine Rolle.


(Christian Lange [Backnang] [SPD]: Ach so! An Bayern soll die Welt genesen!)


Das wird auf dem Rücken von Familien bzw. Kindern
ausgetragen. Ich finde das sehr schofel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Seit Jahren drängen die Länder uns, den Bund, dass
wir uns noch stärker beteiligen. Wir als Bund tun das
schon, obwohl wir in keiner Weise zuständig sind. Trotz-
dem sagen wir: Wir nehmen Geld in die Hand. Die





Dorothee Bär


(A) (C)



(D)(B)


Haushaltspolitiker werden bestätigen, dass es nicht ein-
fach ist, Geld für Aufgaben in die Hand zu nehmen, für
die eigentlich die Länder und Kommunen zuständig
sind. Zusätzlich hat unsere Ministerin in den Verhand-
lungen noch einmal Geld herausgeholt. Die Kollegin
von den Grünen – Frau Dörner, die jetzt nicht zuhört –
behauptet, sie habe es gemacht. Nein. Wer war es? Frau
Ministerin war es. Auch das gehört zur Wahrheit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Die war noch nicht einmal dabei!)


– Sie wissen doch überhaupt nicht, in wie vielen Gesprä-
chen die Frau Ministerin darauf gedrängt hat, dass noch
zusätzliches Geld kommt.


(Britta Haßelmann [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch! – Kai Gehring [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Frau Haßelmann ist in dem Ausschuss!)


Ich muss sagen, sie hat nicht nur das Ganze versprochen,
sondern auch gehalten. Deswegen sage ich ein ganz
herzliches Dankeschön an das Haus, besonders aber an
die Ministerin und an den Staatssekretär. Herzlichen
Dank an Sie beide!


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir wollen unserer Verantwortung gerecht werden.
Deswegen müssen wir unser Vorhaben heute noch einmal
diskutieren. Wir wollen das in der nächsten Sitzungswo-
che abschließen. Auch von den Ländern erwarten wir Ko-
operationsbereitschaft. Sie kommen aus einem Land, das
jetzt wieder Empfänger im Rahmen des Länderfinanzaus-
gleichs wird. Von daher wäre ich sowieso ganz vorsichtig
mit solchen Forderungen und würde nicht von Hamburg
nach Berlin reisen. Ich würde erst einmal versuchen, zu
Hause meine Hausaufgaben zu machen.

Ich möchte – dazu nutze ich gerne meine Redezeit –
noch einen weiteren Punkt ansprechen, weil mir das
wichtig ist. Wesentlich wichtiger, als solche unnötigen
Debatten aufgrund von Blockadehaltungen zu führen, ist
es, finde ich, dass wir uns über solche Punkte unterhal-
ten, die die Ministerin gestern im Rahmen der Vorstel-
lung des Familienreports vorgestellt hat. Dabei geht es
darum, dass wir jungen Frauen und Männern im Land
Mut machen, sich für Kinder zu entscheiden. Ich freue
mich sehr, dass im gestern von der Ministerin vorgestell-
ten Familienreport eine Trendwende zu erkennen ist,
dass unter anderem auch Akademikerinnen in diesem
Land wieder mehr Kinder bekommen.

Solch positive Debatten müssen wir hier führen. Es
sollten keine Debatten wie die sein, die der Senator hier
geführt hat. Er selber hat leider dazu beigetragen, dass
wir uns im Klein-Klein verlieren. Wir müssen diejenigen
sein, die sagen: Es lohnt sich, eine Familie zu gründen.
An der Befragung sieht man auch – das war gestern das
Spannende –, dass der Bund seine Hausaufgaben ge-
macht hat. Denn von den Eltern wird nicht gesagt: Wenn
wir uns nicht bewusst für ein Kind entscheiden, liegt das
an fehlenden Plätzen. – Das wird weiter hinten erwähnt.
Es liegt auch nicht daran, dass zu wenig Geld da ist, son-

dern in erster Linie daran, dass beispielsweise der rich-
tige Partner fehlt. Dazu können wir kein Gesetz verab-
schieden. Wir können aber mit unserer Politik bzw. mit
unseren Reden hier für ein positives Klima sorgen. Die-
ses positive Klima vermisse ich in Ihren Reden und bei
Ihrer Arbeit. Das finde ich sehr schade. Deswegen ist es
gut, dass CDU/CSU und FDP im September diese er-
folgreiche Politik weiterführen können.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Eduard Oswald (CSU):
Rede ID: ID1721724900

Vielen Dank, Frau Kollegin Dorothee Bär. – Nächste

Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist un-
sere Kollegin Frau Caren Marks. Bitte schön, Frau Kol-
legin Marks.


(Beifall bei der SPD – Christian Lange [Backnang] [SPD]: Jetzt die Dinge wieder zurechtrücken!)



Caren Marks (SPD):
Rede ID: ID1721725000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!
Die SPD-Bundestagsfraktion hat in den vergangenen
Jahren immer wieder darauf gedrängt, dass sich Fami-
lienministerin Schröder beim Krippenausbau engagiert
und vor allem endlich einmal konkret handelt. Auch
wenn Frau Schröder sich hier heute mit fremden Federn
schmückt: Es ist gut, dass die Bundesregierung nun end-
lich unseren Forderungen nachgibt und mehr Mittel für
den Krippenausbau bereitstellen will. Ich sage an dieser
Stelle aber auch ganz deutlich: Es wäre sinnvoll gewe-
sen, wenn Sie, Frau Schröder, sich schon viel früher auf
den Weg gemacht, auf uns gehört und eine solche Initia-
tive auf den Weg gebracht hätten.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Frau Ministerin, es ist bereits fünf vor zwölf. Sie müs-
sen jetzt dafür sorgen, dass diese Mittel zügig dort an-
kommen, wo sie dringend gebraucht werden, nämlich
vor Ort. In diesem Zusammenhang will ich aber auch
noch einmal erwähnen, wie absurd es ist, dass Schwarz-
Gelb hier vor einigen Wochen das Betreuungsgeld
durchgeboxt hat, womit ein Anreiz geschaffen wird, ge-
nau diese Infrastruktur, die mit Bundesmitteln gefördert
wird, nicht zu nutzen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das war doch von Anfang an geplant!)


Das ist nicht nur bildungs- und integrationspolitisch eine
Katastrophe, sondern das ist auch eine völlig widersin-
nige und widersprüchliche Gesetzgebung.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Caren, was erwartest du von denen?)


– Nichts. – Zudem wird mit der milliardenteuren Einfüh-
rung dieses unsinnigen Betreuungsgeldes langfristig viel





Caren Marks


(A) (C)



(D)(B)


Geld dem so dringend notwendigen Ausbau der früh-
kindlichen Bildung entzogen. Das ist umso schlimmer,
je näher das Inkrafttreten des Rechtsanspruches rückt.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sagen Sie doch einmal etwas zur Blockade im Bundesrat!)


Frau Merkel und diese schwarz-gelbe Koalition set-
zen völlig falsche Anreize in der Familienpolitik. Immer
wieder hat die eigentlich zuständige Bundesfamilienmi-
nisterin beim Krippenausbau den Ländern und den Kom-
munen die alleinige Verantwortung zugeschoben. Sie,
Frau Schröder, haben mit der gesamten Bundesregierung
wertvolle Zeit mit Nichtstun verstreichen lassen. Aber
auch Sie haben eine Verantwortung, vor der Sie nicht
weglaufen können.


(Beifall bei der SPD)


Wir, die SPD, hingegen haben in der Zeit unserer Re-
gierungsverantwortung andere familienpolitische Ak-
zente gesetzt und den Krippenausbau mit Finanzhilfen in
Milliardenhöhe forciert. Aber Geld ist nur eine Seite der
Medaille. Das gilt auch für den Krippenausbau. Es gibt
noch viele andere Maßnahmen, die diese Regierung ei-
gentlich endlich anpacken müsste. An verschiedenen Or-
ten Deutschlands werden die Klagen über fehlende päda-
gogische Fachkräfte immer lauter. Die Zeit drängt. Sie
müssten in enger Zusammenarbeit mit den Ländern, den
Kommunen und den Trägern eine bundesweite Fach-
kräfteoffensive starten, um den steigenden Bedarf an Er-
zieherinnen und Erziehern zu decken. Der wachsende
Fachkräftebedarf wird aber nur zu decken sein, wenn die
Arbeitsbedingungen im Erzieherberuf verbessert wer-
den.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Bei der aktuellen Diskussion – das lief gestern und
vorgestern über den Ticker –, in der einige Akteure grö-
ßere Kitagruppen und auch zusätzlich ungelerntes Perso-
nal in Kitas fordern, hat man den Eindruck, dass früh-
kindliche Bildung nicht wirklich hoch gewertet wird.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Es geht hier um nichts weniger als um die frühe Förde-
rung von Kindern. Hier wird ein wirklich wichtiger
Grundstein für das weitere Leben gelegt. Wir, die SPD,
fordern seit Jahren, dass sich diese Bundesregierung mit
Ländern und Kommunen bei einem Krippengipfel an ei-
nen Tisch setzt und konkrete Schritte zur Forcierung des
Krippenausbaus sowie für eine Fachkräfteoffensive ver-
abredet. Solche Initiativen sind zusätzlich auch auf Län-
derebene notwendig.

Wir haben eben gehört: SPD-geführte Länder machen
vor, wie es geht. Hamburg ist es gelungen, den Rechts-
anspruch für Kinder unter drei Jahren um ein Jahr vorzu-
ziehen. Er wirkt dort schon seit dem 1. August 2012.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Alles mit unserem Geld!)


Nordrhein-Westfalen hat nach der Regierungsüber-
nahme durch Hannelore Kraft schnell einen Krippengip-

fel einberufen, nachdem die CDU-geführte Vorgängerre-
gierung unter Beteiligung der FDP den Krippenausbau
verschlafen hat.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Das rot-grün geführte Bundesland NRW unterstützt auch
ganz gezielt notleidende Kommunen, damit auch sie den
Ausbau schaffen. In Niedersachsen hingegen sieht es im
wahrsten Sinne des Wortes schwarz aus. Selbst CDU-
Bürgermeister beklagen die mangelnde finanzielle Be-
teiligung des noch schwarz-gelb regierten Landes beim
Krippenausbau.


(Marianne Schieder [Schwandorf] [SPD]: Nur noch bis Sonntag!)


Wenn ich den Krippenausbau mit dem Bau eines Hau-
ses vergleiche, bleibt nur zu sagen: Das Fundament für
den Kitaausbau hat Rot-Grün vor Jahren gelegt.


(Lachen der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU])


Der heute vorgelegte Gesetzentwurf und die in Aussicht
gestellten Mittel sind ein Erfolg der rot-grünen Bundes-
länder. Damit wird ein weiteres Stockwerk zur Fertig-
stellung dieses Hauses gebaut. Es fehlen noch Fenster
und Türen und ein Dach über dem Kopf, damit es tro-
cken bleibt, wenn es regnet. Lassen Sie uns gemeinsam
auf allen Ebenen dafür sorgen, dass sich alle Familien in
diesem Haus wohlfühlen und vor allem, dass Kinder in
unserem Land optimal gefördert werden.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721725100

Das Wort hat die Kollegin Nicole Bracht-Bendt von

der FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Nicole Bracht-Bendt (FDP):
Rede ID: ID1721725200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Laut ei-
ner Agenturmeldung hat der Deutsche Städte- und Ge-
meindebund gestern gedroht, bei möglichen Schadener-
satzklagen wollten Städte und Gemeinden den Bund in
die Pflicht nehmen. Als Grund heißt es, der Bund sei ja
schließlich Urheber des Rechtsanspruchs und trage eine
politische Mitverantwortung. Das ist Sarkasmus. Keine
Bundesregierung hat so viel in den Ausbau der Kinder-
betreuung investiert. Wie Sie wissen, liegt dem kein ein-
samer Beschluss des Bundes zugrunde, sondern ein ein-
stimmiger Beschluss von Bund, Ländern und Kommunen
beim Krippengipfel im Jahre 2007, auf dem die Strategie
festgeklopft wurde. Dann hat der Bund, wie beschlossen,
erst 4 Milliarden Euro lockergemacht, und heute legen
wir weitere 580 Millionen Euro drauf.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)






Nicole Bracht-Bendt


(A) (C)



(D)(B)


Fakt ist: Der Bund hat seine Hausaufgaben gemacht,
und den Ländern müssen wir das Geld sozusagen auf-
drängen. An die Adresse des Städte- und Gemeindebun-
des kann ich da nur sagen: Nun dem Bund den Schwar-
zen Peter zuzuschieben, während Städte und Gemeinden
mit dem Ausbau der Kinderbetreuung nicht rechtzeitig
losgelegt haben, ist unfair und auch unseriös.


(Pascal Kober [FDP]: So ist es!)


Mit der Erfüllung des Rechtsanspruches wird die
Aufgabe nicht beendet sein. Wir Liberale halten es für
dringend notwendig, immer auch die Qualität der Be-
treuung im Blick zu haben und hier kontinuierlich Ver-
besserungen zu erreichen.

Die Frage, in welchem Maße ein Kind – gerade aus
bildungsfernen Schichten – von der Kinderbetreuung
profitiert, hängt unmittelbar mit der Qualität der Betreu-
ung zusammen. Wir wollen, dass die Gruppengrößen,
wie heute hier gesagt wurde, nicht erhöht werden, son-
dern dass die Betreuungsrelation verbessert wird. Wir
haben mit dem Programm zu Schwerpunktkitas über
4000 Kitas in sozialen Brennpunkten finanziell unter-
stützt. Der Bund macht auch hier seine Hausaufgaben.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Wir werden auch nach 2015 einen quantitativen Aus-
bau brauchen. Denn Eltern wünschen sich die Betreuung
ihrer Kinder zu Zeiten, die ihren Arbeitszeiten entspre-
chen. Das heißt, auch nach 18 Uhr, vor 8 Uhr und, für ei-
nige, auch nach 20 Uhr und am Wochenende. Die große
Nachfrage nach der 24-Stunden-Kita in Schwerin zeigt,
dass Alleinerziehende oder Schichtarbeiter, Ärzte, Bus-
fahrer oder Polizisten auf Betreuung außerhalb der Kern-
zeiten angewiesen sind. Dass sie sie brauchen, wissen
wir, und das nehmen wir ernst.

Wir werden gespannt beobachten, wie sich die Oppo-
sition verhält. Im Haushaltsverfahren haben Sie milliar-
denschwere zusätzliche Programme für den Ausbau ge-
fordert. Wir werden auch darauf achten, ob Sie den
Bundesrat als Blockadeinstrument gegen Eltern- und
Kinderinteressen benutzen oder ob Sie sich konstruktiv
verhalten.

Ich wünsche mir, dass wir uns am 1. August dieses
Jahres alle gemeinsam – Bund, Länder, Kommunen –
darüber mit den Eltern und Kindern freuen können, dass
wir der Wahlfreiheit der Lebensgestaltung der Familien
in Deutschland wieder ein Stück näher gekommen sind.
Daran werden wir arbeiten.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721725300

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt das Wort der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Marcus Weinberg (CDU):
Rede ID: ID1721725400

Vielen Dank. – Herr Präsident! Debatten zur Fami-

lienpolitik sind immer schön; da weiß man, wo man hin-
gehört,


(Beifall der Abg. Dorothee Bär [CDU/CSU])


und da weiß man auch, was man geleistet hat. Denn in
diesen Debatten sprechen wir nicht nur über die Kinder-
tagesbetreuung, sondern auch über die Familienpolitik
insgesamt. Da werden die Unterschiede deutlich, Frau
Marks, und zwar zwischen einer einseitigen, ideologie-
geprägten Grundposition und einer familienorientierten
Grundhaltung. Ich glaube, dieser Unterschied ist auch
heute wieder deutlich geworden. Wir haben die familien-
orientierte Grundhaltung und trauen den Familien etwas
zu.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Aus Grundhaltungen werden gelegentlich Haltungen.
Eine solche Haltung bezieht sich auf die Fragen: Was hat
der Staat zu leisten? Was können wir Familien zutrauen?
Wo geben wir Familien Chancen der Entwicklung?
Wenn man über Lösungsansätze spricht, nimmt man dies
mit auf. Lösungen muss man dann familienbezogen ent-
wickeln und sich genau überlegen: Welche Bedarfe gibt
es? Vor diesem Hintergrund, Herr Senator – das sei unter
uns Hamburgern kurz gestattet –, möchte ich die Ge-
schichte, die Sie erzählt haben, mit dem Anfang und dem
Ende verknüpfen.


(Ingrid Fischbach [CDU/CSU]: Ja!)


Ja, es stimmt, Hamburg hat im Bereich der Kinderta-
gesbetreuung hervorragende Daten vorzuweisen. Weil
der CDU-Senat den Etat in zehn Jahren von 298 Millio-
nen Euro auf über 450 Millionen erhöht hat,


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Aha!)


deswegen erzielt Hamburg so hervorragende Ergebnisse
im Bereich der Kindertagesbetreuung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Das war der Anfang der Geschichte. Es wurde ein
Rechtsanspruch ins Gesetz geschrieben. Bei Berufstätig-
keit gibt es für den Krippenbereich sogar einen Gut-
schein, auf dessen Umsetzung ein Rechtsanspruch be-
steht. – Ich sehe Sie nicken, Sie stimmen zu. Das ist gut
für die Kinder in der Stadt.

Jetzt komme ich zum Ende der Geschichte: Sie haben
richtigerweise gesagt: Der Etat wird jetzt noch einmal
erhöht. – Sie müssen dann aber auch erzählen, dass Sie
bei der Rahmenzuweisung für die offene Kinder- und Ju-
gendarbeit 10 Prozent einsparen. Das ist nicht gut für die
Kinder in der Stadt.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Oh, oh!)


Das heißt nämlich, Sie sparen bei den Schwächeren, in
den Stadtteilen, in denen die Kinder Unterstützung
bräuchten.

Das ist der Unterschied in der Herangehensweise:
Will ich die Gießkanne, das Gleichheitsprinzip, oder will





Marcus Weinberg (Hamburg)



(A) (C)



(D)(B)


ich im Bereich der Kindertagesbetreuung differenzieren?
– Es gab da ja nun den Krippengipfel und das KiföG.
Hier muss gegenüber aller Feinkritik – ob das jetzt
35 Prozent oder 39 Prozent sind – und allen Forderun-
gen, hier und dort noch nachzujustieren, möglicherweise
zu Recht, festgehalten werden: Man muss auch mal
Dinge machen. Es gibt Menschen, die Fische fangen,
und solche, die nur das Wasser trüben.


(Dagmar Ziegler [SPD]: Das sagen Sie einmal Ihrem Minister!)


– Entschuldigung, es ist diese Regierung unter Bundes-
kanzlerin Merkel, die den Rechtsanspruch umsetzt und
4 Milliarden Euro plus x bereitgestellt hat. Bei aller fein-
fühligen Diskussion über die Auswirkungen muss man
einfach einmal zur Kenntnis nehmen: Wir haben es ge-
macht.

Wie heißt es immer so schön? Wenn jeder auf seinem
Platz das Beste tut, wird es in der Welt bald besser ausse-
hen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Die Frage ist also: Wer macht eigentlich was in den Län-
dern? Schauen wir uns das einmal an: Es gibt viel Ge-
schimpfe über Bayern, Stichwort Betreuungsgeld. Wenn
Sie sich aber die Differenz anschauen zwischen dem tat-
sächlichen Bedarf an Kinderbetreuung und dem momen-
tanen Ausbaustand, dann sehen Sie, dass Bayern auf
Platz 1 ist; denn die Differenz beträgt in Bayern nur
10 Prozent. Bayern ist also ein positives Beispiel.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Und die müssen den Finanzausgleich noch bezahlen!)


– Hamburg ist beim Länderfinanzausgleich mittlerweile
leider auch zu einem Nehmerland geworden. Das war
früher einmal anders. Aber so ist es halt gekommen. Ich
bitte um Verzeihung.

Neben dem positiven Beispiel Bayern gibt es aber
auch Länder, bei denen man sich fragen muss: Was ist
denn da los? So muss man feststellen, dass im Osten in
Mecklenburg-Vorpommern die höchste Diskrepanz zwi-
schen Ausbaubedarf und tatsächlichem Ausbau besteht.


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Da ist doch Frau Schwesig zuständig!)


Das Entscheidende ist nicht, dass es sich um Mecklen-
burg-Vorpommern handelt. Das würde ich auch gar nicht
erwähnen, wenn die zuständige Ministerin nicht landauf,
landab auf den Straßen verkünden würde, was sie will,
während sie in dem Land, in dem sie die Verantwortung
trägt, den Ausbau nicht umsetzt. Man muss sagen: Da
läuft etwas schief,


(Dorothee Bär [CDU/CSU]: Sie kriegt es nicht auf die Reihe!)


und fragen: Was hat Frau Schwesig in Mecklenburg-Vor-
pommern eigentlich die ganze Zeit gemacht? Wie hat sie
ihre eigene Verantwortung wahrgenommen?


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Dorothee Bär [CDU/CSU]: Nichts!)


Es gäbe noch einiges zu erzählen über das, was der
Bund alles beisteuert. Wir reden dabei nicht nur über die
4 Milliarden Euro und über die 580 Millionen Euro. Zu
all dem ist etwas gesagt worden. Frau Bär hat uns da-
rüber aufgeklärt, worin die Nachsteuerung bestand und
wie die Länder sich verhalten haben. Wir müssten auch
über die 400 Millionen Euro reden, die bis 2014 für den
Bundeskongress „Frühe Chancen“ bereitgestellt werden.
Genauso müssten wir über die Weiterbildungsinitiative,
das Aktionsprogramm Kindertagespflege und die Initia-
tive „Mehr Männer in die Kitas“ reden. Das alles sind
Dinge, die der Bund, weil wir ein föderatives System ha-
ben, eigentlich nicht machen müsste. Es sind aber Dinge,
die wir gemacht haben, auch wenn die Konstruktion teil-
weise nicht ganz einfach war, weil sie uns wichtig sind.
Auch diese Geschichte muss erzählt werden.

Ich glaube, dass es im August im Ergebnis eine si-
cherlich schwierige, ambitionierte Phase geben wird, in
der man schauen muss, wo was noch nicht umgesetzt ist.
Aus dieser Debatte und aus vielen anderen Debatten sind
aber drei Dinge deutlich geworden: Erstens. Wir trauen
den Familien etwas zu. Zweitens. Wir sind die, die fi-
schen. Drittens. Wir haben dabei eine Haltung. Wie hat
Thomas Paine einmal gesagt? Haltung lässt sich leichter
bewahren als wiedergewinnen. – Ich glaube, das zeich-
net auch diese Debatte aus.

Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721725500

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12057 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 d auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,
Hans-Christian Ströbele, Ingrid Hönlinger, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

EU – Lateinamerika: Partnerschaft für eine
sozial-ökologische Transformation

– Drucksachen 17/11838, 17/12093 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Sascha Raabe
Harald Leibrecht
Heike Hänsel
Thilo Hoppe





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung (19. Ausschuss)

zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion DIE LINKE

Friedensdialog in Kolumbien aktiv unterstüt-
zen

– Drucksachen 17/11839, 17/12094 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
Dr. Sascha Raabe
Harald Leibrecht
Heike Hänsel
Thilo Hoppe

c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, Christine
Buchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE

Sozialen Fortschritt und regionale Integration
in Lateinamerika unterstützen

– Drucksachen 17/3214, 17/12087 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Egon Jüttner
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Hans-Christian Ströbele

d) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heike
Hänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

CELAC-EU-Gipfel in Santiago de Chile –
Neue Zusammenarbeit mit neuen Partnern

– Drucksache 17/12061 –

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-
nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Hans-Werner Ehrenberg für
die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Hans-Werner Ehrenberg (FDP):
Rede ID: ID1721725600

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrten

Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kolumbien leidet seit fast 50 Jahren unter einem bluti-
gen Bürgerkrieg zwischen der Regierung, paramilitäri-
schen Organisationen und mehreren kommunistischen
Guerillagruppen. Dies ist ein schrecklicher Konflikt, der
bis heute deutlich mehr als eine halbe Million Men-
schenleben gefordert hat.

Die FARC, die „bewaffneten revolutionären Streit-
kräfte Kolumbiens“, wie sie sich selber nennen, speziali-
sierten sich neben dem Töten auch auf das Drogenge-
schäft. Spätestens ab diesem Moment ist es kaum noch
möglich, eine saubere Trennung zwischen der organi-
sierten Drogenkriminalität, kriminellen Entführungen
und dem sogenannten Freiheitskampf der FARC zu zie-
hen. Für diese Mischung aus Terrorismus, Drogenhandel
und Entführungen haben die Kolumbianer schon seit
langem den Begriff „Narco Terrorismo“ erfunden, den
Drogenterrorismus. Als ob dies alles nicht schon genug
wäre, den kommunistischen Guerillagruppen jegliche
Unterstützung zu verweigern!

Es ist kein großes Geheimnis, dass der venezolani-
sche Staatspräsident Hugo Chávez offenkundig mit die-
ser Guerillagruppe sympathisiert. Der kolumbianische
Ex-Präsident Uribe hat unermüdlich darauf hingewiesen,
dass Chávez den FARC Venezuela als Rückzugsgebiet
zur Verfügung gestellt hat. Tatsächlich sieht man Mit-
glieder der FARC bei den venezolanischen Regierungs-
mitgliedern ein- und ausgehen.

Venezuela, ein Land, das mit dem iranischen Präsi-
denten Ahmadinedschad befreundet ist, der, wie wir alle
wissen, das Existenzrecht Israels nicht anerkennt, unter-
hält enge Kontakte zu den FARC. Diese Terrororganisa-
tion wollen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen von
den Linken, von der Terrorliste der EU streichen? – Wer
mit den FARC sympathisiert, der sympathisiert auch mit
dem Iran.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Forderungen von Freunden des iranischen Regimes wol-
len wir nicht unterstützen – und die Bundesregierung si-
cherlich auch nicht.

Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum Zeitpunkt
Ihres Kolumbien-Antrages verlieren: Nach internationa-
len und diplomatischen Gepflogenheiten ist es völlig un-
üblich, während laufender Verhandlungen Forderungen
von außen zu stellen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das ist so, als ob man während eines laufenden Fußball-
spiels die Spielregeln ändern würde. Wer sind wir denn,
dass wir uns eine solche Verhaltensweise anmaßen? Das
ist nicht konstruktiv.

Man sollte sich noch einmal die Fakten der aktuellen
Situation in Kolumbien deutlich vor Augen führen: Da
erklärt eine demokratisch gewählte Regierung, dass sie
bereit sei, mit einer Terrorgruppe zu verhandeln und so-
gar ein Referendum über den Ausgang dieser Verhand-
lung abzuhalten. Als ob das nicht schon Zugeständnis
genug wäre! Die von Ihnen geforderte Anerkennung die-
ser Terrorgruppe nenne ich Einmischung in innere Ange-
legenheiten.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich denke, wir sind gut beraten, wenn wir erst einmal
abwarten, bis die Friedensverhandlungen zum Abschluss





Hans-Werner Ehrenberg


(A) (C)



(D)(B)


gebracht worden sind, und uns dann positionieren. Alles
andere wäre dem Friedensprozess sicherlich nicht dien-
lich.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestatten
Sie mir noch, auf einige Aspekte in den anderen Anträ-
gen kurz einzugehen:

Da werden angebliche Verdienste Kubas gewürdigt,
ohne auch nur im Geringsten darauf einzugehen, dass
Kuba nach wie vor eine menschenverachtende Diktatur
ist, die die eigenen Bürger einsperrt, bespitzelt und in ih-
ren Gefängnissen verhungern lässt.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Auch Ihre Kritik am Lateinamerika-Konzept, das von
Außenminister Westerwelle erstellt wurde, ist einseitig
und läuft ins Leere. Das Konzept umreißt einen ausge-
wogenen Ansatz für eine breite Zusammenarbeit zu bei-
derseitigem Vorteil. Darüber hinaus wird es von einem
neuen und effektiven entwicklungspolitischen Konzept
flankiert, das nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum in
den Vordergrund stellt.

Minister Niebel hat nicht nur frühzeitig erkannt, dass
Entwicklungszusammenarbeit ohne die Wirtschaft nicht
nachhaltig sein kann. Er hat vor allem auch die Tatkraft
besessen, diese Tatsache endlich in die Praxis umzuset-
zen und das unsägliche Gießkannenprinzip seiner Vor-
gängerin abzuschaffen.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Auch der Abbau von wirtschaftlichen Hindernissen
und die Förderung von Freihandelsabkommen wirken
sich positiv auf die Menschen in Lateinamerika aus.
Freihandelsabkommen unterstützen die wirtschaftliche
Entwicklung der einzelnen Länder. Das schafft
Arbeitsplätze und trägt zum Wirtschaftswachstum bei.
Dadurch werden soziale Spannungen nachhaltig gelin-
dert.

Des Weiteren fördert die Bundesregierung schon seit
langem Klima- und Umweltschutz in der Region inten-
siv, vor allem mit Mitteln der Entwicklungs- und Um-
weltpolitik und in der Zusammenarbeit mit Wissenschaft
und Forschung.

Ebenso sind Themen wie Menschenrechte und
Medienunabhängigkeit in jedem Dialog mit unseren la-
teinamerikanischen Freunden präsent.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Länder Latein-
amerikas und die Menschen dort haben weit mehr Auf-
merksamkeit verdient, als wir ihnen derzeit zukommen
lassen. Das Lateinamerika-Konzept der Bundesregie-
rung und die vielen in diesem Rahmen durchgeführten
Maßnahmen sind ein guter und erfolgreicher Anfang.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich bitte aber ausdrücklich alle Kolleginnen und Kol-
legen in diesem Hohen Hause, sich dafür einzusetzen,
dass der Fokus auf unsere Partner in Lateinamerika noch
weiter verstärkt wird. Wir alle sollten ein ureigenes Inte-

resse daran haben, dass die Menschen in Lateinamerika
in Wohlstand und Freiheit leben können.

Vielen Dank.


(Anhaltender Beifall bei der FDP – Beifall bei der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721725700

Herr Kollege Ehrenberg, ich darf Ihnen im Namen

des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag herzlich gratulieren.


(Beifall – Hans-Werner Ehrenberg [FDP]: Ich bedanke mich!)


Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Sascha Raabe von
der SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD – Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Der weiß es besser!)



Dr. Sascha Raabe (SPD):
Rede ID: ID1721725800

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und

Herren! Da es parlamentarischer Brauch ist, dass man ei-
nen Redner, der seine erste Rede gehalten hat, inhaltlich
nicht zu scharf kritisiert, werde ich das auch lassen und
deswegen auch nichts zu den Passagen zu Niebel und der
Vorgängerin sagen. Es ist ja so: Er kennt Herrn Niebel
noch nicht so lange. Wenn er ihn länger kennt, wird er
bestimmt auch zu einem anderen Urteil kommen.


(Klaus Barthel [SPD]: Viel Zeit hat er nicht mehr!)


Ich möchte viel lieber über Lateinamerika reden;
denn wir stehen heute wenige Tage vor dem 7. Gipfel-
treffen der Europäischen Union mit Lateinamerika.
Einige Kolleginnen und Kollegen von mir, die hier
sitzen, haben ja schon viele Gipfeltreffen als Parlamen-
tarier erlebt. Zum Teil haben wir die Gipfeltreffen mit
Anträgen begleitet, waren dort auch selbst vor Ort. Es
gibt doch schon einen ganz wesentlichen Unterschied
hinsichtlich der Wahrnehmung, aber auch der Pressebe-
richterstattung zwischen dem bevorstehenden Gipfel und
den Gipfeln, die vor fünf, sechs oder acht oder zehn Jah-
ren stattfanden. Ich zitiere einmal aus der Süddeutschen
Zeitung:

Ein Kontinent greift nach den Sternen

Vor dem großen Gipfeltreffen mit der EU strotzt
Lateinamerika vor Selbstbewusstsein.

In einer Meldung von dpa heißt es: „Verkehrte Welt:
Spanien bittet Lateinamerika um Hilfe.“ Da heißt es,
dass der spanische Regierungschef Lateinamerika bittet,
in Spanien zu investieren. Er sagt, sie werden „mit offe-
nen Armen empfangen“ werden, und weiter: „Ich ermu-
tige Euch, Eure Präsenz in Spanien und Europa zu er-
weitern.“

Auch die FAZ schreibt: Ein Blick nach Lateinamerika
lohnt sich, und: Es ist schon sehr beeindruckend, was
sich in den letzten Jahren auf diesem Kontinent getan





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)


hat, was die Wirtschaftskraft angeht, was den Rückgang
der Arbeitslosigkeit angeht.

Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren – da
spreche ich vor allem die Entwicklungspolitiker heute
an, die hier in großer Zahl vertreten sind und auch die
meisten der Anträge, über die wir heute diskutieren,
federführend vorbereitet haben –, wir sind auch bei den
sogenannten MDGs, den Millennium Development
Goals, also den Millennium-Entwicklungszielen, bei
allen acht, in Lateinamerika hervorragend vorangekom-
men.

Ich möchte einmal das wichtigste Ziel, die Armutsre-
duzierung, nennen. Da haben wir uns ja verpflichtet,
dazu beizutragen, dass sich bis zum Jahr 2015, gemessen
am Stand von 1990, die Anzahl der Hungernden und
Armen auf der Welt halbiert. In Lateinamerika lebten
1990 noch 48,4 Prozent – also fast die Hälfte – der Men-
schen in Armut, und fast ein Viertel lebten in absoluter
Armut. Bereits im Jahr 2011 leben nur noch 29 Prozent
der Menschen in Armut und nur noch 11,5 Prozent in ab-
soluter Armut. Das heißt, bereits im Jahr 2011 ist eine
Halbierung der Zahl erreicht worden, sodass Lateiname-
rika insgesamt dieses MDG schon vier Jahre vor dem
Zieljahr 2015 erfüllt hat. Dazu können wir nur sagen:
Herzlichen Glückwunsch, Lateinamerika!


(Beifall der Abg. Klaus Barthel [SPD], Anette Hübinger [CDU/CSU] und Heike Hänsel [DIE LINKE])


Auch in anderen Kategorien gibt es große Erfolge,
etwa beim Rückgang von Krankheiten, Kinder- und
Müttersterblichkeit. Ich möchte einmal die Zahl derjeni-
gen nennen, die die Sekundarschule besuchen – in ande-
ren Ländern wäre man schon froh, wenn alle Kinder die
Grundschule besuchen würden –: Dieser Anteil lag 1990
noch bei unter 50 Prozent und ist jetzt auf 75 Prozent ge-
stiegen. Also fast drei Viertel aller Kinder in Lateiname-
rika besuchen heute eine Sekundarschule.

Im Bereich Gleichberechtigung – auch eines der
MDGs – ist der Anteil der Frauen an Universitäten von
24 Prozent im Jahr 2000 jetzt auf knapp 50 Prozent ge-
stiegen. 1990 lag dieser Anteil bei nur 16 Prozent. Von
16 Prozent auf 50 Prozent ist der Anteil von Frauen an
Universitäten gestiegen.

Ich glaube, da kann man wirklich sagen: „Ein Konti-
nent greift nach den Sternen.“

Jetzt kann man sich natürlich zu Recht fragen: Wes-
sen Erfolg ist das? Natürlich ist das in erster Linie der
Erfolg der Menschen in Lateinamerika,


(Klaus Barthel [SPD]: Das konnte auch Niebel nicht verhindern!)


der Zivilgesellschaft und auch all der Nichtregierungsor-
ganisationen. Sie haben sich auf einem eigentlich schon
immer reichen Kontinent erfolgreich dafür eingesetzt,
dass in vielen Ländern Regierungen an die Macht ge-
kommen sind, die das Thema Armut und Sozialpolitik
oben auf die Agenda gesetzt haben. Dass die Wahlent-
scheidungen entsprechend ausgefallen sind, war früher
eben nicht der Fall gewesen.

An dieser Stelle möchte ich als Entwicklungspoliti-
ker, der seit 2002 im Ausschuss für Entwicklungszusam-
menarbeit ist, sagen, weil wir auf anderen Kontinenten
zu oft nur auf die Negativbeispiele schauen: Das hat na-
türlich auch ein kleines Stück mit erfolgreicher Entwick-
lungszusammenarbeit zu tun. Seitens der deutschen Ent-
wicklungszusammenarbeit haben wir über viele Jahre
unsere Schwerpunkte in Lateinamerika ganz stark auf
Rechtsstaatlichkeit, Justiz, Partizipation und Bürgerpro-
zesse gesetzt. Sie finden heute kaum ein erfolgreiches
lateinamerikanisches Land, in dem nicht in der Regie-
rung an verantwortlichen Stellen Politiker sitzen, die
entweder von den politischen Stiftungen teilweise in
Deutschland mit ausgebildet wurden oder für unsere
Durchführungsorganisationen gearbeitet haben.

Ich nenne als bekanntestes Beispiel Lula da Silva, der
mit der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen lange Jahre,
bevor er Präsident wurde, zusammengearbeitet hat, dem
wir dort helfen konnten. Es gibt noch eine ganze Reihe
anderer Beispiele. Ich glaube, das zeigt: Wenn die Ent-
wicklungszusammenarbeit bei den Menschen ansetzt,
die Menschen ermutigt und dadurch die Kräfte im Inne-
ren dieser Länder für Demokratie und Partizipation ge-
stärkt werden, dann kann diese Zusammenarbeit erfolg-
reich sein. Das ist ein ermutigendes Signal für uns.
Lassen Sie uns so weitermachen.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


In diesem Sinne: Der Antrag der Grünen legt sicher-
lich zu Recht den Finger auf ganz viele Wunden, die
noch zu heilen sind. Ich sage nicht: Es ist alles gut in
Lateinamerika. – Der Antrag der Grünen hat auch das
große Verdienst, dass er all die Stellen, an denen es noch
klemmt, benennt. Natürlich haben wir in manchen Län-
dern auf der einen Seite großes Wirtschaftswachstum
und auf der anderen Seite Regionen im ländlichen
Raum, wo sich nicht viel getan hat.

Gleichwohl muss man aber zur Kenntnis nehmen,
dass auch die Weltbank in einer Studie vom November
2012 zu dem Schluss kommt, dass sich die Ungleichheit
bei den Einkommen in der Mehrzahl der lateinamerika-
nischen Staaten vermindert hat, während sie in den USA
und in Europa weiter zugenommen hat. Auch das muss
man einmal erwähnen.

Wir werden dem Antrag der Grünen allerdings nicht
zustimmen, sondern uns enthalten, weil uns in diesem
Antrag die positive Seite etwas fehlt. Wir können heute
nicht einen Antrag so machen, wie wir ihn vor zehn Jah-
ren geschrieben haben, nach dem Motto: Seid endlich
einmal sozial und gut! – Da hat sich gerade in Brasilien,
einem Land mit einer hohen Steuerquote, sehr viel getan.

Aber an einer Stelle – das möchte ich für die SPD be-
tonen – stimmen wir ausdrücklich zu: Auch wir wün-
schen uns eine Änderung der Haltung der Europäischen
Union auf dem Gipfeltreffen. Natürlich müssen Freihan-
delsabkommen mit menschenrechtlichen, sozialen und
ökologischen Mindeststandards versehen werden. Die
Kernarbeitsnormen der ILO müssen überall garantiert
werden können.





Dr. Sascha Raabe


(A) (C)



(D)(B)


Ich möchte dazu ein Beispiel erzählen. Der Kollege,
der vor mir gesprochen hat, hat sich ja der Auffassung
des Bundesentwicklungsministers angeschlossen, der
immer sagt, wie toll Wirtschaftswachstum alleine ist und
wie sehr es allen hilft. Ich war vor zwei Jahren mit Herrn
Westerwelle in Kolumbien. Dort haben wir mit Vertre-
tern deutscher Firmen gesprochen, die gesagt haben:
Alles läuft gut in Kolumbien, aber wir haben eine Bitte
an Sie, Herrn Außenminister, wenn Sie jetzt mit dem
Präsidenten reden. Die Kolumbianer wollen uns die
Steuern um 0,2 oder 0,3 Prozent erhöhen, um damit
Sozialprogramme zu finanzieren. Uns wurde aber von
den Vorgängerregierungen zugesichert: Wenn wir in
Kolumbien investieren, dann kriegen wir 30 Jahre keine
Steuererhöhung.

Das, meine ich, kann es auch nicht sein. Wenn wir zu
Recht einfordern, dass die Sozialpolitik in lateinameri-
kanischen Ländern gefördert und die Steuerquote erhöht
werden soll, dann müssen wir auch dazu beitragen, dass
unsere deutschen Firmen und die Europäische Union
sich entsprechend verhalten. Das wäre meine Bitte an
die Adresse der Europäischen Union.

Ansonsten würde ich mich freuen, wenn die Folge der
Feststellung „Ein Kontinent greift nach den Sternen“,
die ich eingangs zitierte, wäre, dass die Menschen auf
diesem Kontinent die Sterne auch erreichen und dass wir
in jedem lateinamerikanischen Land irgendwann einen
hellen Stern am Himmel haben werden.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Hugo Chávez!)


Wenn wir dann in den Himmel schauen, lauter funkelnde
Sterne über Ländern sehen, wo die Menschen ohne Hun-
ger und Armut glücklich leben können, dann wären wir,
glaube ich, ein ganzes Stück weiter. Das wünsche ich
mir.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Hugo Chávez und Fidel Castro! Das sind ja schon zwei Sterne!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721725900

Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin

Anette Hübinger.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Anette Hübinger (CDU):
Rede ID: ID1721726000

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir debattieren heute mehrere Anträge von
Bündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Sie thema-
tisieren die politische und wirtschaftliche Situation in
Lateinamerika wie auch die Rolle Deutschlands und der
Europäischen Union in ihren partnerschaftlichen Bezie-
hungen zu Lateinamerika. Anlass ist der Gipfel, der am
26. und 27. Januar in Chile zum siebten Mal stattfinden
wird, diesmal quasi unter einem neuen Logo. Die latein-
amerikanischen Staaten haben sich nämlich zu dem
Bündnis CELAC zusammengeschlossen.

Die Anträge tragen alle Überschriften, die auf den
ersten Blick nicht schlecht klingen.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Sie klingen gut!)


Denn wer kann schon dagegen sein, wenn es darum geht,
Gesellschaften sozial und ökologisch zu gestalten, oder
wenn es um Frieden, Dialog und Zusammenarbeit mit
unseren Partnern in Lateinamerika geht?

Die Bundesregierung, so heißt es auf der ersten Seite
des Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, soll den anste-
henden Gipfel zum Anlass nehmen, die Beziehungen zu
Lateinamerika grundsätzlich zu verändern. In den Augen
der Grünen heißt das: weniger Wirtschaft, mehr Sozia-
les, mehr Ökologie, mehr Menschenrechte. Ähnlich
klingt es auch bei den Linken.


(Beifall der Abg. Heike Hänsel [DIE LINKE] und Dr. Anton Hofreiter [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Es ist jedoch die Frage: Was verbirgt sich hinter dieser
wohlklingenden Rhetorik,


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Hört sich doch gut an!)


und sind die aufgestellten Forderungen auch praxistaug-
lich, das heißt, gibt es in allen Staaten Lateinamerikas
und der Karibik auch den Willen, danach zu handeln?


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Darum müssen wir uns kümmern!)


Dass Menschenrechte in Wirtschaft und Politik groß-
geschrieben werden müssen und dass in diesem Punkt in
einzelnen Ländern Lateinamerikas viele Defizite herr-
schen, steht außer Frage. Aber Wirtschaft und wirt-
schaftliches Interesse stehen nicht per se im Gegensatz
zu Menschenrechten


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Aber häufig schon!)


und sind auch kein Hindernis für den Aufbau sozialer
Wirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Das sehen wir
am Beispiel Deutschlands. Die soziale Marktwirtschaft
ist der Garant unseres Wohlstandes, den keiner von uns
mehr missen möchte. Dafür sollten wir in Lateinamerika
werben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Lateinamerika
kann man derzeit drei Trends feststellen.

Erstens. Lateinamerika agiert international zuneh-
mend als selbstbewusster Akteur. Dieser Region werden
Wachstumszahlen vorausgesagt, von denen die Europäi-
sche Union nur träumen kann. Politisch sehen sich
gerade auch die großen Länder auf Augenhöhe mit den
anderen Großen dieser Welt.

Zweitens. Die Heterogenität der Region ist nach wie
vor groß. Die Länder unterscheiden sich nicht nur in
Größe und Wirtschaftsleistung, sondern vor allem auch
in ihrer politisch-ideologischen Ausrichtung. Chile,





Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)


Kolumbien, Peru und Mexiko betreiben erfolgreich eine
Politik der offenen Märkte und der Integration in den
Weltmarkt. Venezuela, Bolivien, Ecuador und Argenti-
nien bevorzugen hingegen staatszentrierte Wirtschafts-
konzepte. Bei dieser Spannbreite ist eine multilaterale
Verständigung schwierig.

Drittens. Die regionale Integration ist ins Stocken ge-
raten. Zwar bestehen eine Reihe von Bündnissen, es ist
aber die Frage, wie belastbar diese wirklich sind. In die-
sem Jahr wurde wieder ein neues Bündnis geschlossen:
Chile, Kolumbien, Peru und Mexiko haben sich zu einer
Pazifik-Allianz zusammengeschlossen, wohl als Gegen-
gewicht zu den linkspopulistisch ausgerichteten Bünd-
nissen und Ländern. Das britische Magazin The Econo-
mist sieht für das Bündnis Mercosur schon das Ende
nahen. Der Grund: zu viel Protektionismus.

Wie passt das nun mit den vorliegenden Anträgen zu-
sammen? Es überrascht wahrscheinlich niemanden,
liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich sage: meiner
Ansicht nach gar nicht oder nicht wirklich. Ich darf da-
ran erinnern, dass wir es in der Region mit souveränen
Nationalstaaten zu tun haben, mit denen wir in einem
partnerschaftlichen Dialog stehen. Da passt es nicht
dazu, ihnen vorzuschreiben, wie sie ihre Energiepolitik,
Rohstoff- oder Umweltpolitik auszurichten haben. Viel-
mehr geht es darum, gemeinsam Lösungen für die anste-
henden Probleme zu finden und unsere Partner in der
Umsetzung zu unterstützen.


(Klaus Barthel [SPD]: Dann brauchen Sie hier auch nicht am Anfang Zensuren zu verteilen!)


Dazu gehören konkrete Projekte der Entwicklungs-
zusammenarbeit genauso wie der Austausch in Wissen-
schaft und Forschung.

Darüber hinaus sind die Forderungen in den Anträgen
in Teilen widersprüchlich. Unter Punkt 6 Ihres Antrages
fordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd-
nis 90/Die Grünen, das Assoziierungsabkommen der EU
mit Zentralamerika sowie das Freihandelsabkommen mit
Peru und Kolumbien nicht zu unterzeichnen.


(Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Genau!)


Auch entspricht es Ihrer Vorstellung von internationalen
Verhandlungen, dass die Bundesregierung andere EU-
Staaten dazu bewegen soll, es ihr gleichzutun.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja!)


Nachdem die Entscheidungen hierzu auf europäischer
Ebene gefallen sind, würde ein solches Verhalten das
Ansehen Deutschlands als verlässlicher Partner erheb-
lich beschädigen. Das entspricht nicht der Politik der
christlich-liberalen Koalition und liegt auch nicht in un-
serem Interesse.

Weiterhin bezichtigen Sie die EU, ein unsozialer Ak-
teur in Lateinamerika zu sein – mal direkt, mal indirekt.
Das kann man so nicht stehen lassen; denn die EU ist der
größte Geber in der Entwicklungszusammenarbeit auf
diesem Kontinent. Außerdem sind es gerade der wirt-

schaftliche Austausch und die Direktinvestitionen, die
Arbeitsplätze und damit Wachstum und Wohlstand brin-
gen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Diese Logik ist für jedermann ersichtlich, schlägt sich in
Ihrem Antrag aber nicht nieder.

Ihre Forderung, den Menschenrechten in Handels-
und Assoziierungsabkommen mit den lateinamerikani-
schen Staaten ein stärkeres Gewicht zu geben, unterstrei-
che ich ebenso wie die Forderung, die beiden Säulen des
Assoziierungsabkommens, nämlich Entwicklungszu-
sammenarbeit und Dialog, gegenüber dem Handelsteil
zu stärken. Leider ist die Europäische Union bei den
Verhandlungen damit nicht durchgedrungen. Allerdings
ist ihre Schlussfolgerung unlogisch, nämlich das Assozi-
ierungsabkommen mit Zentralamerika nicht zu ratifizie-
ren; denn dann bliebe der Handelsteil bestehen, aber die
Entwicklungszusammenarbeit und der Dialog wären
nicht im erforderlichen Maße möglich. Damit würden
wir dieses Abkommen schwächen. Auch das liegt nicht
in unserem Interesse.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Bleibt die Frage, wie es weitergehen soll. Denn die
strategische Partnerschaft ist trotz aller Erfolge etwas ins
Stocken geraten. Die EU ist sehr mit dem eigenen
Krisenmanagement beschäftigt. Das bindet Kapazitäten.
Die Krise im Innern erschwert den strategischen Blick
nach außen. Der Europäische Auswärtige Dienst hat, so
scheint es, noch nicht richtig Tritt gefasst. Dabei ist
Europa auf gute Partnerschaften und funktionierende
Absatzmärkte mehr denn je angewiesen.

Die Länder Lateinamerikas hingegen haben an
Selbstbewusstsein gewonnen; Herr Raabe hat es schon
gesagt. Sie schauen sich ganz genau an, wo und mit wem
sie ihre Interessen verfolgen können – und wenn nicht in
oder mit Europa, dann mit Asien oder in Afrika.

Nach Ansicht der christlich-liberalen Koalition benö-
tigen die Beziehungen zwischen der Europäischen
Union und Lateinamerika keine überfrachteten Wunsch-
listen. Notwendig ist vielmehr die schrittweise und kluge
Intensivierung der Partnerschaft, und dies in Bereichen,
die für eine nachhaltige Entwicklung sorgen, wie es auch
im Thema des Gipfels „Bündnis für eine nachhaltige
Entwicklung: Förderung von Investitionen in Umwelt-
und Lebensqualität“ zum Ausdruck kommt. Dazu bietet
der Gipfel in Santiago de Chile eine geeignete Plattform.
Was meine ich damit konkret?

Zunächst möchte ich wieder etwas grundsätzlich
werden: Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass die
biregionale Integration zwischen EU und Lateinamerika
sowie Karibik auf Schwierigkeiten stößt. Die Gründe
sind auch in der Fragmentierung der interregionalen
Beziehungen auf dem lateinamerikanischen Kontinent
zu sehen. Ziel muss sein, diese Fragmentierung zu über-
winden.

Gleichzeitig sind vertiefende Abkommen zwischen
EU und den einzelnen Staaten, wie zum Beispiel Kolum-





Anette Hübinger


(A) (C)



(D)(B)


bien und Peru, machbar und von beiderseitigem Inte-
resse. Ich plädiere deshalb dafür, den auf dem Gipfel von
Madrid vor zwei Jahren eingeschlagenen Weg der
flexiblen Ausgestaltung von Partnerschaften weiterzu-
verfolgen und die geschlossenen Abkommen auch für
Beitrittswillige offenzuhalten.

Auch wäre es äußerst wünschenswert, wenn die Ver-
handlungen des anstehenden Gipfels in konkreten Hand-
lungsempfehlungen enden würden, die von der Latein-
amerika-Stiftung konzeptionell umgesetzt und
weiterentwickelt werden könnten.

Die christlich-liberale Koalition ist der Auffassung,
dass gesunde und enge Wirtschaftsbeziehungen ein star-
kes Fundament der strategischen Partnerschaft bilden
müssen. Deshalb ist es wichtig, den Handel und seine
Liberalisierung zu intensivieren und den Umfang der
ausländischen Direktinvestitionen gerade auch im
Bereich von klein- und mittelständischen Unternehmen
zu steigern. Dass Unternehmensfreiheit und Unterneh-
mensverantwortung dabei die zwei Seiten einer Medaille
sind, muss genauso selbstverständlich werden wie die
Erkenntnis, dass Korruption und Protektionismus nach-
haltigem Wachstum und Wohlstand entgegenstehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Eine vertiefte Zusammenarbeit in Bildung und Wis-
senschaft, im Technologieaustausch, insbesondere für
die Bereiche Energie und Energieeffizienz, im Sicher-
heitsbereich und im Bereich Rohstoffmanagement und
Umweltmanagement ist für eine nachhaltige Partner-
schaft von großer Bedeutung. Dazu sind funktionierende
Netzwerke erforderlich. Wir als Parlamentarier können
unseren Teil zur Lebendigkeit der strategischen Partner-
schaft beitragen.

Natürlich sollen und werden die Menschenrechte in-
nerhalb des politischen Dialogs ihren Platz finden. Es
wäre jedoch fatal, wenn wir als Deutsche oder als Euro-
päer den lateinamerikanischen Staaten gegenüber mit
erhobenem Zeigefinger wie ein Oberlehrer auftreten
würden. Leider vermitteln die Anträge der Grünen und
der Linken diesen Eindruck. In unserer Verantwortung
liegt es, die strategische Partnerschaft mit Leben zu er-
füllen, und zwar in allen Bereichen, die sie hergibt, mit
Bedacht und Augenmaß, aber besonders in Respekt vor
unseren Partnern. Der diesjährige Gipfel gibt uns dazu
die Möglichkeit.

Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Antrag
der Linken eingehen, der den Friedensprozess in Kolum-
bien betrifft. Ich teile die Hoffnung, dass der seit vielen
Jahren andauernde Konflikt endlich zu einem Ende kom-
men kann. Der eingeschlagene Verhandlungskurs der
Regierung wird von zwei Dritteln der kolumbianischen
Bevölkerung befürwortet. Es ist ein positives Signal,
dass die ländliche Entwicklung als erster Punkt auf der
Verhandlungsliste steht, da dies eine zentrale Frage für
eine friedliche Beilegung des Konflikts und der Stabilität
des Friedens ist.

Ihrer Forderung, dass eine möglichst große Zahl zivil-
gesellschaftlicher Akteure in die Friedensverhandlungen
einbezogen werden müsste, kann ich nicht folgen. In der

Vergangenheit war solch ein inklusiver Ansatz bei Frie-
densverhandlungen auch in Kolumbien nicht von Erfolg
gekrönt.

Mir scheint es in diesem Zusammenhang weniger auf
die Höhe der Teilnehmerzahl anzukommen als auf das
Vertrauen, das gegenseitig aufgebaut wird. Ziel ist es,
die gefundenen Lösungen in einem breiten Konsens mit
der Zivilbevölkerung umzusetzen.

Ihre Anträge lehnen wir ab.

Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Ihr seid nicht christlich, und ihr seid nicht liberal! Das muss einmal festgestellt werden!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721726100

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin

Heike Hänsel das Wort.


(Beifall bei der LINKEN)



Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721726200

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! In der kommenden Woche treffen sich in
Santiago de Chile zahlreiche Staats- und Regierungs-
chefs aus Europa und Lateinamerika, in diesem Jahr
erstmals mit dem Staatenbündnis CELAC. Dieser Gipfel
findet ja alle zwei Jahre statt.

Lateinamerika ist in der Tat selbstbewusster gewor-
den. Das ist unter anderem auch vielen Mitte-Links-
Regierungen zu verdanken, die sich massiv gegen das
aufgedrückte neoliberale Wirtschaftsmodell aus der
Europäischen Union wehren. Die Linke hat diese Regie-
rungen bei dieser Politik in vielerlei Hinsicht unterstützt,
und das wird sie auch weiterhin tun.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN)


Beigetragen haben dazu natürlich auch die sozialen
Bewegungen. Sie organisieren kommende Woche einen
Gegengipfel unter dem Titel „Enlazando Alternativas“,
um eine alternative Politik zu entwickeln – und das in ei-
nem Land wie Chile, in dem im letzten Jahr Millionen
von Studierenden, Schülern und Gewerkschaftern auf
die Straße gingen, um gegen den Neoliberalismus und
gegen den Ausverkauf von Bildung, Wasser und alldem
zu protestieren. Das war, glaube ich, eine eindrückliche
Bewegung, und auch sie braucht unsere Unterstützung.


(Beifall bei der LINKEN)


Frau Hübinger, diese Bewegungen mobilisieren auf
diesem Gegengipfel vor allem gegen die Freihandels-
abkommen, die die EU mit Kolumbien, mit Peru, mit
Zentralamerika abschließt. Weshalb? Es gibt viele
Gründe. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele nennen.

Erstens. Die EU kann laut Vertrag unter anderem
jährlich über 60 Millionen Liter Milch nach Kolumbien
exportieren – hochsubventioniert, spottbillig. Die ko-
lumbianischen Kleinbauern können mit ihren zwei bis
drei Kühen, die jeweils nur 5 Liter pro Tag produzieren,





Heike Hänsel


(A) (C)



(D)(B)


bei weitem nicht mit der Billigmilch aus der EU konkur-
rieren.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: So ist es!)


Mehr als 500 000 Kleinbauern, die bisher von ihrer Ar-
beit leben konnten, werden ihre Existenz verlieren.

Jetzt frage ich Sie von der Bundesregierung: Wie wol-
len Sie eigentlich der Bevölkerung hier erklären, dass
Sie Steuergelder für Entwicklungsprojekte in aller Welt
ausgeben, auch in Kolumbien, wenn Sie gleichzeitig
eine Politik betreiben, die wieder zu neuer Armut bei-
trägt? Das ist eine kontraproduktive Politik. Schon des-
halb können Sie diesen Abkommen nicht zustimmen.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Thilo Hoppe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf von der CDU/CSU: Unsinn, was Sie da erzählen!)


Zweitens. Alle reden von der Regulierung der Finanz-
märkte. Erst heute im Bundestag haben wir über den An-
trag von CDU/CSU und FDP zur schärferen Regulierung
der Finanzmärkte diskutiert. Was haben Sie aber in die
Freihandelsabkommen hineingeschrieben? Eine weit-
gehende Liberalisierung der Finanzdienstleistungen! Es
gibt Studien aus der EU; auch der Wissenschaftliche
Dienst hat es sich angeschaut. Die Verträge sind völker-
rechtlich bindend. Die EU wird eine geringere Handhabe
haben, Finanzdienstleistungen zu kontrollieren und
strenger zu regulieren. Für Kolumbien und Peru ist das
besonders brisant, weil das auch die Geldwäsche bei
Drogengeschäften erleichtern wird.

Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Schauen Sie sich
diese Handelsabkommen an, und bedenken Sie, was Sie
damit wirklich verantworten. Ich kann Sie nur auffor-
dern – das wird hier im Bundestag diskutiert werden –:
Stimmen Sie gegen die Ratifizierung dieser Freihandels-
abkommen! Sonst brauchen Sie nicht von Armuts-
bekämpfung und Regulierung der Finanzmärkte zu spre-
chen.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Zum Schluss komme ich zu Kolumbien, weil es wirk-
lich eine historische Zeit in Kolumbien ist und endlich
neue Friedensverhandlungen aufgenommen werden.


(Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: Warum schreien Sie eigentlich so?)


Ich kann nicht nachvollziehen, dass Sie von der FDP er-
zählen, die Unterstützung von Friedensprozessen sei
kontraproduktiv. Ich sage Ihnen: Die Unterstützung von
Friedensprozessen ist allemal besser, als Militärinterven-
tionen zu starten und Soldaten in alle Welt zu schicken.


(Erich G. Fritz [CDU/CSU]: Mein Gott!)


Das können Sie von der Regierung sich wirklich hinter
die Ohren schreiben.

Noch ein zweiter Punkt. Sie sprachen von Narcogue-
rilla, Unterstützung der Drogenhändler. Es gibt auch den
Begriff der Narcopolitik. Da geht es um Politiker in
Kolumbien, die massiv in Drogengeschäfte und parami-

litärische Strukturen verstrickt sind. Dazu gehört der
ehemalige Präsident Uribe, der deswegen gerade vor
Gericht steht.


(Hans-Christian Ströbele [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Ja, genau! Und Herr Ehrenberg hat ihn gelobt!)


Wer hat Uribe die Hand geschüttelt? Das waren doch die
Regierungen auf Ihrer Seite! Sie haben Uribe unterstützt,
beste Beziehungen gepflegt. Jetzt ist er in Kolumbien als
ein Drogenpolitiker angeklagt. Da machen Sie Ihre Poli-
tik total unglaubwürdig.


(Beifall bei der LINKEN – Otto Fricke [FDP]: Die Unschuldsvermutung gibt es bei Ihnen wohl nicht! – Hans-Werner Ehrenberg [FDP]: Denken Sie an den Iran!)


Normale Beziehungen zu Kuba sind im 21. Jahrhun-
dert mehr als überfällig. Dazu kann ich nur aufrufen.
Wenn Sie Kuba kritisieren und gleichzeitig Waffen an
Diktaturen in aller Welt liefern, dann haben Sie eine
Doppelmoral. Kümmern Sie sich lieber einmal um die
Panzerlieferungen nach Saudi-Arabien, Herr Ehrenburg!


(Otto Fricke [FDP]: Man sollte wenigstens den Namen eines Kollegen wissen!)


Sie sind in meinen Augen ein alter Krieger, ein alter Kal-
ter Krieger.


(Widerspruch bei der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721726300

Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.


Heike Hänsel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721726400

Ich würde sagen: Viele in der FDP, die eine liberale

Tradition gepflegt haben, werden sich bei Ihrer Rede im
Grabe umgedreht haben.


(Beifall bei der LINKEN – Hans-Werner Ehrenberg [FDP]: Viele Grüße aus dem Iran!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721726500

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

jetzt der Kollege Thilo Hoppe für Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721726600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

„Otra alianza es posible“: So lautete das Motto eines
großen grünen Lateinamerikakongresses, den wir Ende
letzten Jahres veranstaltet hatten. Otra alianza es posi-
ble! Eine andere Partnerschaft ist möglich – und nötig –
zwischen Europa und Lateinamerika; denn die derzeitige
offizielle strategische Partnerschaft zwischen der EU
und Lateinamerika ist sehr einseitig an den Exportinter-
essen beider Kontinente orientiert


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


und für soziale und ökologische Belange leider blind.


(Zuruf von der CDU/CSU: Das ist nicht wahr!)






Thilo Hoppe


(A) (C)



(D)(B)


In wenigen Tagen treffen sich die Regierungschefs in
Santiago de Chile. Es bahnt sich eine Wiederholung
dessen an, was ich vor fast drei Jahren als einziger parla-
mentarischer Beobachter aus Deutschland auf dem letz-
ten EU-Lateinamerika-Gipfel in Madrid verfolgen
konnte. Da wurden die Freihandelsabkommen beschwo-
ren und als Wirtschaftswachstumsmotor gefeiert. Die
große Vision: Verfünffachung der Fleischexporte von
Lateinamerika nach Europa gegen die Verdoppelung
der Automobil- und Automobilteilexporte von Europa
nach Lateinamerika. Eine prima Agenda, die vielleicht
das Wirtschaftswachstum anheizt, aber mit Sicherheit
auch den Klimawandel. Eine solche Agenda blendet
Menschenrechtsfragen ebenso aus wie die Zerstörung
wertvoller Wälder.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir fordern in unserem Antrag eine neue Partner-
schaft zwischen Europa und Lateinamerika, die wirklich
einer menschenrechtsbasierten nachhaltigen Entwick-
lung dient.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ich habe heute einiges gehört, was man in unseren
Antrag, der diese Debatte bewirkt hat, hineininterpre-
tiert. Bitte zitieren Sie richtig, und bleiben Sie bei der
Wahrheit! Wir fordern nichts anderes als das, was der
Wissenschaftliche Beirat für Globale Umweltfragen, der
WBGU, dieser Bundesregierung fordert: eine sozialöko-
logische Transformation bei uns, in Europa, in Latein-
amerika und weltweit. Denn nur wenn wir nach den
Prinzipien wirtschaften, die bereits 1992 auf dem ersten
Weltnachhaltigkeitsgipfel in Rio beschlossen und
proklamiert wurden, lassen sich der Klimawandel ein-
dämmen, die Welternährungskrise überwinden und mehr
soziale Gerechtigkeit verwirklichen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch Wirtschaft und Handel brauchen soziale und
ökologische Leitplanken, die verhindern, dass wir auf
Kosten anderer oder auf Kosten nachfolgender Gene-
rationen leben. Aber in den Freihandels- und Assoziie-
rungsabkommen, die in Santiago unterschrieben und ge-
feiert werden sollen, sucht man vergeblich nach diesen
sozialen und ökologischen Leitplanken. Die Kollegin
Hänsel hat zwei Beispiele aufgezählt: Deregulierung im
Bankenbereich – Geldwäsche wird erleichtert – und das
Abkippen von hochsubventioniertem Milchpulver, wo-
durch die kleinbäuerliche Milchwirtschaft in den Län-
dern Zentralamerikas zerstört wird. Das ist keine
Agenda für eine nachhaltige Entwicklung. Dies sind
zwei von vielen Gründen, die uns Grüne bewogen
haben, sowohl im Europaparlament als auch hier im
Bundestag diese Freihandels- und Assoziierungsabkom-
men der EU mit Kolumbien, Peru und den Staaten Zen-
tralamerikas in den nächsten Wochen abzulehnen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Unser Antrag atmet den Geist einer sozialen und
ökologischen Marktwirtschaft. Schade, dass die Regie-
rungskoalition diesen Antrag ablehnt. Eigentlich war es

nicht anders zu erwarten. Wir finden es aber auch enttäu-
schend, dass sich SPD und Linke enthalten. Die Argu-
mente, die Sie vorgetragen haben, waren nicht überzeu-
gend.


(Dr. Sascha Raabe [SPD]: Der Antrag ist nicht überzeugend!)


Natürlich gibt es auch Anerkennung für die sozialen
Fortschritte in einigen Ländern Lateinamerikas. Aber die
Schattenseiten dürfen nicht übersehen werden; denn
auch die linkeren Regierungen Lateinamerikas finanzie-
ren ihre durchaus lobenswerten Sozialprogramme über-
wiegend durch den Verkauf von Bodenschätzen, von
Agrarrohstoffen, von Produkten der Plantagenwirtschaft.


(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Weil die Alternativen fehlen!)


Bei diesem Extraktivismus lassen sie ökologische und
soziale Menschenrechtsfragen in der Ecke stehen.


(Klaus Barthel [SPD]: Sozial sind die nicht! – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Aber die Alternativen müssen erst entwickelt werden!)


Zu unserem großen Lateinamerikakongress hatten wir
viele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingela-
den. Die sozialen Fragen werden zwar von einigen, aber
bei weitem nicht von allen Regierungen Lateinamerikas
angepackt. Die ökologischen Fragen werden ganz ausge-
blendet. Das führt zur Verdrängung von Indigenen, von
Kleinbauern. Minderheiten geraten unter die Räder.
Wertvolle Wälder werden zerstört.


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721726700

Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Hoppe.


Thilo Hoppe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721726800

Ja. – Es ist nicht alles schlecht; es gibt auch positive

Ansätze, derzeit noch überwiegend durch die Umwelt-
bewegung, durch soziale Bewegungen und durch
Menschenrechtsaktivisten. Wir arbeiten daran, dass
diese Bewegungen mehr an Bedeutung gewinnen und
dass sie sich auch in den Regierungen abbilden werden.
Dann kann man eines Tages wirklich sagen: Otra alianza
es posible!


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721726900

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-
wicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die
Grünen mit dem Titel „EU – Lateinamerika: Partner-
schaft für eine sozial-ökologische Transformation“. Der
Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/12093, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11838 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


tionsfraktionen bei Enthaltung von SPD und Linken und
Gegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt-
schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu dem
Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Friedens-
dialog in Kolumbien aktiv unterstützen“. Der Ausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/12094, den Antrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/11839 abzulehnen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-
gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mit
den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim-
men der Linken und der Grünen und Enthaltung der
SPD-Fraktion.

Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusses
zu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel
„Sozialen Fortschritt und regionale Integration in Latein-
amerika unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12087, den
Antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3214
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmen
der Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-
genstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen.

Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linke
auf Drucksache 17/12061 mit dem Titel „CELAC-EU-
Gipfel in Santiago de Chile – Neue Zusammenarbeit mit
neuen Partnern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag ist
abgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei
Enthaltung von SPD und Grünen gegen die Stimmen der
Linken.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:

Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-
nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurfs eines Gesetzes zur Regelung der betreu-
ungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztliche
Zwangsmaßnahme

– Drucksache 17/11513 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses (6. Ausschuss)


– Drucksache 17/12086 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Thomas Silberhorn
Sonja Steffen
Stephan Thomae
Jörn Wunderlich
Ingrid Hönlinger

Hierzu liegen ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke sowie ein Entschließungsantrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen vor.

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt es
Widerspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so
beschlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner dem Kollegen Stephan Thomae von der FDP-
Fraktion das Wort.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU – Unruhe)


– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zu
nehmen oder den Saal zu verlassen, falls Sie an der
Aussprache nicht teilnehmen wollen. – Bitte, Herr
Kollege Thomae.


Stephan Thomae (FDP):
Rede ID: ID1721727000

Vielen Dank, Herr Präsident! – Verehrte Kolleginnen

und Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit zwei
Entscheidungen vom 20. Juni 2012, die im Juli veröf-
fentlicht worden sind, hat der BGH der ärztlichen
Zwangsbehandlung etwas überraschend die Rechts-
grundlage entzogen.

Zuvor hatte man die Rechtsgrundlage für ärztliche
Zwangsmaßnahmen im § 1906 BGB gesehen. Diese
Vorschrift regelt jedoch genau genommen nur die
zwangsweise Unterbringung in einer Anstalt. Mit dieser
Entscheidung gab es also keine Rechtsgrundlage mehr
für eine ärztliche Zwangsbehandlung, für eine zwangs-
weise Behandlung.

Nun könnte man sagen, das ist richtig; denn es gibt
nun einmal keine Pflicht, sich ärztlich behandeln zu
lassen; es gibt bei uns keinen Arztzwang, es gibt die
Freiheit zur Krankheit. Wenn jemand sagt: „Das heilt
auch so wieder“, dann kann man ihn nicht zwangsweise
zum Arzt schicken. Ein Problem taucht aber dann auf,
wenn jemand aufgrund einer psychischen Beeinträchti-
gung, beispielsweise einer Persönlichkeitsstörung, au-
ßerstande ist, zu erkennen, dass die ärztliche Behandlung
eines Leidens möglich ist, dass er behandelt werden
kann und behandelt werden muss. Wenn er sich nun ge-
gen diese Behandlung wehrt, dann kann ein Problem
auftreten. Genau dieses Problem lösen wir mit dem
heute zu beschließenden Gesetzentwurf.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Nehmen wir das Beispiel, dass sich jemand gegen
eine Dialyse wehrt, obwohl er vielleicht einen Nieren-
schaden oder nur eine Niere hat. Er bräuchte die Dialyse,
aber er glaubt vielleicht, dass er vergiftet werden soll
oder dergleichen, und wehrt sich deshalb gegen eine sol-
che Dialysebehandlung. Deswegen kommt zu dem As-
pekt, dass es keine Pflicht gibt, sich ärztlich behandeln
zu lassen, jetzt der andere Aspekt, dass eine ärztliche
Zwangsbehandlung in manchen Fällen als letztes Mittel
notwendig ist.

Der Gang des Verfahrens war folgender: Am Anfang
bestand der Eindruck, dass eine große Eile notwendig
sei; es gab Nachrichten über unhaltbare Zustände in
Krankenhäusern, über Patienten, die eingesperrt und am
Bett fixiert werden mussten, über Pfleger, die sich wei-
gerten, solche Krankenzimmer und -stationen zu betre-
ten, über verzweifelte Angehörige, die das Leiden ihrer
Angehörigen nicht mehr mit anschauen konnten. Das hat
uns anfangs dazu veranlasst, dieses Thema in großer Eile





Stephan Thomae


(A) (C)



(D)(B)


zu beraten. Aber dann gab es eine ganze Reihe von Ge-
sprächen, die wir Berichterstatter – auch ich persönlich –
mit Betroffenen und Betroffenenverbänden geführt
haben. Das hat, wie es manchmal so ist, einen neuen
Blickwinkel auf das Thema eröffnet. Das hat mich und
viele Kollegen und Kolleginnen nachdenklich gemacht,
beispielsweise Berichte über die Wirkungen und Neben-
wirkungen von Neuroleptika. So war es richtig, dass wir
uns Zeit für intensive Beratungen genommen haben,
dass wir sogar mehr als die üblichen parlamentarischen
Beratungsstufen genommen haben.

Das Ergebnis der Abwägungen entspricht dem, was
wir heute beschließen wollen: Wir brauchen in bestimm-
ten Fällen als letztes Mittel die Möglichkeit zur zwangs-
weisen Behandlung, weil es eine Schutz- und Fürsorge-
pflicht des Staates nach Art. 2 Grundgesetz gibt. Wie
können wir aber auf der anderen Seite den exzessiven
Gebrauch der Möglichkeit zur ärztlichen Zwangsbe-
handlung eindämmen? Das war die Frage, die wir zu be-
raten hatten. Wir haben fünf Punkte des ursprünglichen
Regierungsentwurfs in der parlamentarischen Beratung
nachgearbeitet:

Der erste Punkt ist, dass der Arzt oder Betreuer versu-
chen muss, den Betreuten ohne Druck und, wo es mög-
lich ist, ohne zeitliche Not vom Sinn und von der Not-
wendigkeit der Maßnahme zu überzeugen, sodass der
Betreute eine auf Vertrauen gründende Entscheidung
treffen kann und dann vielleicht doch in die ärztliche
Maßnahme einwilligt.

Der zweite Punkt, den wir in der parlamentarischen
Beratung nachgearbeitet haben, war, dass wir in jedem
Einzelfall einen Verfahrenspfleger bestellen wollen, der
die Rechte des Betreuten auch gegenüber dem Betreuer
wahrnimmt.

Der dritte Punkt ist, dass wir das Vieraugenprinzip ge-
stärkt haben, indem vor jeder ärztlichen Zwangsmaß-
nahme ein ärztlicher Gutachter bestellt werden muss, der
nicht zugleich der behandelnde Arzt sein darf.

Der vierte Punkt hat auch mit dem Vieraugenprinzip
zu tun. Bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen, deren Ge-
samtdauer mehr als zwölf Wochen beträgt, soll ein exter-
ner Gutachter bestellt werden, der erstens nicht schon
früher als Gutachter oder behandelnder Arzt mit dem
Patienten, dem Betreuten befasst war und zweitens auch
nicht der Einrichtung angehört, in der der Betreute unter-
zubringen wäre.

Der fünfte Punkt, den wir in der parlamentarischen
Beratung nachbearbeitet haben, ist, dass sich das ärztli-
che Gutachten nicht nur über den Zustand des Betroffe-
nen äußern muss, sondern auch über die Notwendigkeit
der konkreten ärztlichen Maßnahme.

Ich meine, dadurch wird deutlich, dass wir in dieser
intensiven parlamentarischen Beratung bewiesen haben,
wie ernst wir das Thema nehmen, dass wir sehr wohl
versucht haben, beide Seiten abzuwägen, dass wir also
Sicherheitsfilter eingebaut haben. Deshalb ist am Ende
ein guter Gesetzentwurf dabei herausgekommen.

Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Kolleginnen
und Kollegen Mitberichterstattern aller Fraktionen
bedanken. Ich finde, das war eine sehr konstruktive, eine
ernsthafte und eine oft auch nachdenkliche Beratung
dieses Gesetzentwurfs.

Ich bitte um Nachsicht, dass wir den Entschließungs-
anträgen der Linken und der Grünen heute nicht zustim-
men wollen, weil wir der Auffassung sind, dass den
notwendigen Punkten Genüge getan worden ist. Ich be-
danke mich noch einmal bei allen. Außerdem freue ich
mich besonders, dass die SPD dem Vernehmen nach
heute dem Gesetzentwurf zustimmen wird.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721727100

Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Sonja

Steffen das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Sonja Steffen (SPD):
Rede ID: ID1721727200

Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-

ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von uns
kann einmal in eine psychische Krise geraten. Angststö-
rungen, Depressionen, Sucht und Psychosen sind weit
verbreitete Erkrankungen. Laut einer Studie aus dem
Jahr 2011 treffen sie rund 38 Prozent der Bevölkerung
Europas. Das heißt, dass jeder Dritte, auch jeder Dritte
von uns, in eine Situation geraten könnte, die eine so-
genannte Einweisung und eine Zwangsbehandlung zur
Folge hat. In Deutschland werden derzeit jedes Jahr
1,2 Millionen Menschen in staatlichen Einrichtungen
therapiert.

Ich bin überzeugt, dass wir uns alle nicht wünschen,
hilflos in einer Klinik und nicht mehr in der Lage zu
sein, zu entscheiden, ob und welche Behandlung wir
wünschen, und im schlimmsten Fall keine Entschei-
dungskraft mehr darüber zu haben, ob wir gegen unseren
Willen Medikamente verabreicht bekommen, deren
Wirkung und vor allem deren Nebenwirkungen wir erst
recht nicht überblicken können.

In einer solchen Situation wünsche ich mir behutsame
und kompetente Ärzte.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ich wünsche mir, dass Personen mit Sachverstand und
Einfühlungsvermögen für mich entscheiden. Ich wün-
sche, dass erkannt wird, wann eine medizinische Be-
handlung – auch gegen meinen Willen – notwendig ist,
um einen schwerwiegenden gesundheitlichen Schaden
zu verhindern. Vor allem aber wünsche ich, dass man
mir hilft, möglichst bald wieder ein gesundes und selbst-
bestimmtes Leben führen zu können.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)






Sonja Steffen


(A) (C)



(D)(B)


Wir sind uns an dieser Stelle alle einig, dass es beson-
ders wichtig ist, seelische Störungen möglichst frühzei-
tig zu erkennen und zu behandeln. Eine Einweisung und
erst recht eine Zwangsbehandlung sollte möglichst ver-
mieden werden.


(Beifall bei der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)


Dazu müssen ambulante Hilfesysteme ausgebaut wer-
den, um in Krisensituationen schnell und frühzeitig
helfen zu können. Patienten sind darüber hinaus recht-
zeitig auf die Möglichkeiten einer Patientenverfügung
und einer Vorsorgevollmacht hinzuweisen, damit ihr
freier Wille dokumentiert ist, bevor es zu spät ist. Es gibt
eine ganze Reihe von Bereichen, die einer Überprüfung
oder vielleicht sogar einer neuen gesetzlichen Regelung
bedürfen.

In Anbetracht der rechtsfreien Situation nach den
schon erwähnten Entscheidungen des BGH – Herr
Thomae hat bereits darauf hingewiesen – war es aktuell
jedoch notwendig, eine gesetzliche Regelung für medizi-
nische Zwangsbehandlungen zu schaffen; denn seit die-
sen Entscheidungen sind Behandlungen von Betroffenen
gegen ihren Willen nicht mehr möglich. Ärzte hängen
derzeit in der Luft, wenn sie einem Patienten in einer be-
drohlichen Situation helfen wollen, dieser aber nicht ein-
willigt. In diesem Zusammenhang sind bereits Beispiele
genannt worden.

Meine Damen und Herren, es ist letztlich auch der
SPD-Fraktion zu verdanken, dass wir den Gesetzentwurf
in einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beraten
und eine öffentliche Expertenanhörung durchgeführt
haben.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)


Für uns war es besonders wichtig, die Betroffenenver-
bände anzuhören; denn als gesunder Mensch kann man
sich nicht vorstellen, welche Leidenswege die Betroffe-
nen auch im Zusammenhang mit Zwangsbehandlungen
zum Teil gegangen sind. Im Laufe des Gesetzgebungs-
verfahrens haben wir viele Berichterstattergespräche
geführt und viele Änderungen des ursprünglichen Regie-
rungsentwurfs diskutiert und auch erreichen können, die
die Rechte der Betroffenen besser schützen.

Heute entscheiden wir nun über einen, wie ich meine,
ausgewogenen Gesetzentwurf, der die Vorgaben der
Rechtsprechung beachtet und vor allem einen angemes-
senen Ausgleich zwischen dem Recht auf freie Selbst-
bestimmung auf der einen Seite und dem Schutz vor ei-
ner erheblichen gesundheitlichen Gefährdung auf der
anderen Seite schafft.


(Beifall des Abg. Burkhard Lischka [SPD])


Im Gesetzentwurf sind die Bedingungen für eine
Zwangsbehandlung genau formuliert. Voraussetzung ist
zunächst, dass dem Patienten ohne ein Eingreifen ein er-
heblicher Gesundheitsschaden droht. Anders als bisher
muss der Richter zukünftig nicht nur in die Einweisung
einwilligen, sondern auch in die Behandlung selbst und
ihre Ausgestaltung im Einzelnen genehmigen. Eine

Zwangsbehandlung darf tatsächlich nur das allerletzte
Mittel sein.


(Beifall bei Abgeordneten der SPD, der CDU/ CSU und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Stephan Thomae [FDP])


Zuvor muss versucht werden, den Betreuten von der
Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen.
Der behandelnde Arzt muss also zunächst mit dem nöti-
gen Zeitaufwand und dem erforderlichen Einfühlungs-
vermögen versuchen, den Patienten von einer freiwilli-
gen Behandlung zu überzeugen. Ganz wichtig ist, dass
die Bestellung eines Verfahrenspflegers aufgenommen
wurde. Der Verfahrenspfleger ist sozusagen der Anwalt
des Betreuten, und er hat die Aufgabe, seine Rechte bei
der anstehenden Entscheidung über eine Zwangsbehand-
lung deutlich zu vertreten.

Im Ausschuss, aber auch in meiner Fraktion, hat uns
besonders die Frage der ärztlichen Begutachtung des Be-
troffenen beschäftigt. Wir haben eine Regelung getrof-
fen, die vorsieht, dass der Sachverständige, der ein-
schätzt, ob die Behandlung medizinisch notwendig ist,
nicht der behandelnde Arzt sein soll. Falls die Maß-
nahme länger als zwölf Wochen erfolgt, muss eine ex-
terne Begutachtung erfolgen. Der Arzt soll den Patienten
noch nicht behandelt haben und außerdem nicht Arzt der
Unterbringungsklinik sein. Nur ausnahmsweise – des-
wegen gibt es diese Sollvorschrift – darf von diesen
Grundsätzen abgewichen werden; denn in ländlichen
Bereichen kann es zu personellen Engpässen kommen.
Nur dann, wenn ein externer Arzt nachweislich nicht zur
Verfügung steht, kann die Begutachtung durch einen
Arzt der Klinik erfolgen. Wir gehen davon aus, dass in
Zukunft von der Sollvorschrift in der Praxis nur sehr res-
triktiv Gebrauch gemacht wird. Es wird darüber hinaus
gesetzlich vorgeschrieben, dass die ärztlichen Zeugnisse
nur von Sachverständigen erstellt werden, die über die
notwendigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychia-
trie verfügen.

Wir entscheiden heute über einen ausgewogenen Ge-
setzentwurf. Sie haben recht, Herr Thomae, wir werden
dem Gesetzentwurf heute zustimmen. Trotzdem ist das
Thema der medizinischen Behandlung psychisch er-
krankter Menschen noch lange nicht ausreichend behan-
delt. Der Bundes- und auch die Landesgesetzgeber sind
gefragt, weitere Maßnahmen zu ergreifen, durch die den
Patienten frühzeitig Hilfe angeboten wird und men-
schenwürdige, zugleich aber auch heilende Maßnahmen
ermöglicht werden.

Noch einen Satz: Das ist ein dickes Brett, das wir hier
bohren müssen. Ich bin überzeugt, dass wir mit präventi-
ven Maßnahmen schon bei unseren Kindern beginnen
können. Durch die Verbesserung der Arbeitsbedingun-
gen und der Lebensverhältnisse können wir dazu beitra-
gen, dass die Menschen gar nicht erst krank werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und des Abg. Stephan Thomae [FDP])







(A) (C)



(D)(B)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721727300

Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn

von der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Thomas Silberhorn (CSU):
Rede ID: ID1721727400

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mit

dem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir eine klare
Rechtsgrundlage. Wir setzen zugleich enge Grenzen für
die Einwilligung des Betreuers in eine medizinisch not-
wendige Behandlung, die der Betreute selbst ablehnt.
Wir schließen damit eine Lücke im Betreuungsrecht, die
aufgrund der Rechtsprechung entstanden ist; denn
danach fehlt es gegenwärtig an einer ausreichenden ge-
setzlichen Grundlage für eine Zwangsbehandlung von
psychisch Kranken, die in einer geschlossenen Einrich-
tung untergebracht sind. Der Gesetzentwurf der Koali-
tion gewährleistet, dass eine solche Zwangsbehandlung
nur als letztes Mittel eingesetzt werden darf, nämlich
wenn sie erforderlich ist, um schwerwiegende gesund-
heitliche Schäden vom Patienten abzuwenden.

Der Gesetzentwurf orientiert sich eng an den verfas-
sungsrechtlichen Vorgaben. Dabei müssen wir einerseits
das Selbstbestimmungsrecht des psychisch kranken
Patienten im Blick behalten, andererseits auch seinen
Schutz vor schweren Gesundheitsschäden. Das muss
sorgfältig abgewogen werden. Es geht ausschließlich um
Fälle, in denen der Betreute aufgrund einer psychischen
Krankheit oder einer seelischen oder geistigen Behinde-
rung die Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahme
nicht erkennen kann oder nicht nach dieser Einsicht han-
deln kann. Das ist etwa ein Patient, der aufgrund einer
manischen Depression verkennt, dass er eine Dialyse
bräuchte, oder es ist ein Patient, der dringend eine Blind-
darmoperation benötigt, aber aufgrund einer Wahnvor-
stellung irrigerweise annimmt, gar keinen Blinddarm
mehr zu haben. Das sind die Fälle, von denen wir hier
reden. Der psychisch Kranke kann also in eine notwen-
dige medizinische Maßnahme nicht selbst einwilligen.
Das ist auch der Grund, weshalb er einen rechtlichen
Betreuer hat, der für ihn handelt. Wir reden außerdem
nur von Fällen, in denen der psychisch Kranke mit
richterlicher Genehmigung in einer geschlossenen
Einrichtung untergebracht ist.

Hier muss der Staat seiner Fürsorgepflicht gerecht
werden. Deshalb müssen wir im Interesse der Betroffe-
nen die Möglichkeit für eine psychiatrische Behandlung
gegen den Willen des Patienten schaffen; aber wir müs-
sen zugleich auch sicherstellen, dass eine solche
Zwangsbehandlung nur in Ausnahmefällen stattfindet.
Natürlich ist eine medizinische Behandlung, die mit
Zustimmung des Betroffenen durchgeführt wird, immer
vorzuziehen; denn das stärkt das Vertrauen zwischen
Arzt und Patient und dient am Ende auch dem Behand-
lungserfolg. Deshalb müssen alle milderen Mittel aus-
geschöpft werden, die in Betracht kommen, um die dro-
hende gesundheitliche Gefahr abzuwenden, bevor eine
Zwangsbehandlung überhaupt erwogen wird.

Um das klarzustellen, führen wir zusätzlich zu den
bestehenden Grundsätzen des Betreuungsrechts die neue

Regelung ein, dass die Einwilligung des Betreuers in
eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur dann zulässig ist,
wenn zuvor versucht worden ist, den Betreuten von der
Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen.
Dieser Versuch – das ist schon angesprochen worden –
muss ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohne
unzulässigen Druck unternommen werden. Das haben
wir in der Begründung des Gesetzentwurfs im Einzelnen
explizit aufgeführt, sodass wir den Anforderungen des
Bundesverfassungsgerichts in vollem Umfang gerecht
werden.

Wenn der Versuch misslingt, den Patienten von der
Notwendigkeit der medizinischen Behandlung zu über-
zeugen, dann greift ein Katalog mit strengen Vorausset-
zungen, die allesamt erfüllt sein müssen, um den Patien-
ten gegen seinen Willen behandeln zu können: Die
ärztliche Zwangsmaßnahme muss zum Wohl des Betreu-
ten erfolgen, sie muss erforderlich sein, um einen
drohenden, erheblichen gesundheitlichen Schaden abzu-
wenden – dieser erhebliche Gesundheitsschaden darf
durch keine andere, dem Betreuten zumutbare Maß-
nahme abgewendet werden können –, und der zu erwar-
tende Nutzen der Maßnahme muss gegenüber den zu er-
wartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen.
Diese engen Voraussetzungen garantieren einen größt-
möglichen Schutz des Betroffenen.

Wir verknüpfen diese materiellen Voraussetzungen
im Interesse des Patienten mit einer ganzen Reihe von
verfahrensrechtlichen Sicherungen: Nur wenn das Be-
treuungsgericht nach sorgfältiger Prüfung die Einwilli-
gung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahme
genehmigt, darf die Behandlung durchgeführt werden.
Das müssen Sie zusammen lesen mit dem Umstand, dass
sich diese Patienten bereits in Betreuung, in Unterbrin-
gung befinden, die ihrerseits bereits gerichtlich geneh-
migt worden sein muss. Somit gewährleisten wir eine
umfassende gerichtliche Prüfung.

Weil der Betroffene seine Rechte im Verfahren vor
dem Betreuungsgericht allerdings regelmäßig nicht
selbst wahrnehmen kann – er hat deshalb einen rechtli-
chen Betreuer –, haben wir uns dazu entschlossen, dass
immer ein Verfahrenspfleger bestellt werden muss, um
dem besonderen Schutzbedürfnis des Betroffenen zu-
sätzlich Rechnung zu tragen. Das bedeutet: Der Patient
hat außerhalb der Beziehung zum Arzt zwei Personen,
die auf seiner Seite stehen und seine Interessen wahrneh-
men, zum einen den rechtlichen Betreuer und zum ande-
ren in jedem Fall – das ist neu – einen Verfahrenspfleger.
Hinzu kommt, dass das Gericht sich einen persönlichen
Eindruck vom Patienten verschaffen muss und den
Patienten persönlich anhören muss. Schließlich muss
auch die ärztliche Begutachtung des Betroffenen der ge-
richtlichen Entscheidung vorausgehen. Der ärztliche
Sachverständige mit einschlägiger psychiatrischer Er-
fahrung soll dabei nicht der behandelnde Arzt sein.
Wenn es um eine Zwangsbehandlung oder um eine
Unterbringung für mehr als zwölf Wochen geht, setzen
wir die Anforderungen, was die Auswahl des Sachver-
ständigen angeht, noch höher. Dann soll das Gericht
keinen Sachverständigen bestellen, der den Betroffenen





Thomas Silberhorn


(A) (C)



(D)(B)


bereits behandelt oder begutachtet hat oder in der Ein-
richtung tätig ist, in der der Betroffene untergebracht ist.

Ich sehe zwar, dass die Grünen hier noch weiterge-
hende Vorschläge haben und ohne Ausnahme außenste-
hende Sachverständige heranziehen wollen. Diesen Vor-
schlag halte ich allerdings offen gestanden für nicht
verantwortbar; denn dann könnte eine medizinisch not-
wendige Behandlung daran scheitern, dass es ein so
dichtes Netz an Psychiatern in Deutschland gar nicht
gibt. Wir stellen mit der Sollvorschrift sicher, dass im
Regelfall externe Sachverständige eingesetzt werden
müssen. Nur im Ausnahmefall kann davon abgewichen
werden. Das muss vom Gericht im Genehmigungsbe-
schluss auch so begründet werden.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine Damen und Herren, wir setzen im Ergebnis die
Hürden für eine psychiatrische Zwangsbehandlung deut-
lich höher als bisher. Genau das ist auch Ausdruck des
Ultima-Ratio-Gedankens. Die ärztliche Zwangsbehand-
lung ist nur als letztes Mittel zulässig, wenn es gar nicht
mehr anders geht. Leider gibt es aber eben immer wieder
Fälle, in denen eine Zwangsbehandlung zum Wohle des
Betroffenen erforderlich ist. Es gibt Angehörige und
auch Patienten, die darunter leiden, dass nach gegenwär-
tiger Rechtslage nicht behandelt werden darf. Keine ak-
zeptable Alternative ist es, meine Damen und Herren,
wenn stattdessen Patienten dauerhaft fixiert oder erst im
Rahmen eines rechtfertigenden Notstands behandelt
werden, wenn nämlich der Gesundheitszustand bereits
akut lebensbedrohlich geworden ist. Damit können wir
uns im Interesse der Betroffenen nicht zufriedengeben.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben in
den letzten Wochen und Monaten eine umfassende Dis-
kussion geführt. Mit sechs Sachverständigen haben wir
ein ausführliches Expertengespräch im Kreise der Be-
richterstatter gehabt, einschließlich der Kolleginnen und
Kollegen aus dem Gesundheitsausschuss. Zusätzlich ha-
ben wir – das ist außergewöhnlich für unsere Gesetz-
gebungsverfahren – eine öffentliche Anhörung durchge-
führt, sodass wir zwei Expertengespräche hatten. Ich
will betonen, dass es uns gelungen ist, die Sachverstän-
digen für die öffentliche Anhörung von allen Fraktionen
einvernehmlich zu benennen. Mir war wichtig, dass ins-
besondere auch Vertreter der Betroffenen und der Ange-
hörigen dabei gehört wurden.

Die Sachverständigen haben uns nahezu durchgehend
bestätigt, dass unsere Vorschläge zielführend sind. Es ist
auch deutlich geworden, dass ein vollständiger Verzicht
auf Zwangsbehandlung kein gangbarer Weg wäre. Wir
brauchen sie als letztes Mittel zum Schutz der Betroffe-
nen selbst. Das gilt umso mehr, als sich diese Patienten
bereits in Unterbringung und damit in staatlicher Obhut
befinden. Die Schutzpflicht des Staates gebietet es hier,
dass wir diesen Patienten eine notwendige medizinische
Behandlung nicht generell versagen.

Aus den Expertengesprächen sind aber auch eine
Reihe von Änderungsvorschlägen entwickelt worden,
die im Ergebnis das Schutzniveau für die Betroffenen

substanziell erhöhen. Das Gesetz bietet Rechtssicherheit
für Ärzte, Patienten und Betreuer. Insbesondere aber bie-
tet es auch für die Betroffenen Hilfe, die notwendig ist,
bei gleichzeitig bestmöglicher Wahrung ihrer Rechts-
position. Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetzentwurf
zuzustimmen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721727500

Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-

lege Jörn Wunderlich.


(Beifall bei der LINKEN)



Jörn Wunderlich (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721727600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts ist
eine gesetzliche Neuregelung Voraussetzung dafür, dass
ärztliche Zwangsmaßnahmen – Fixieren am Bett oder
Zwangsmedikation mit Psychopharmaka etc. – stattfin-
den können. Hier ist schon wiederholt gesagt worden:
Ärztliche Zwangsmaßnahmen dürfen aufgrund des da-
mit verbundenen erheblichen Grundrechtseingriffs wirk-
lich nur das allerletzte Mittel sei.

Um eine Zwangsbehandlung durchführen zu können,
hat die Regierung in diesem Gesetzentwurf die Voraus-
setzungen für Zwangsmaßnahmen verschärft, wird je-
doch den Bedürfnissen nach einer wirklichen Lösung
nicht gerecht.


(Beifall bei der LINKEN)


Insgesamt gibt es nach dem Gesetzentwurf fünf Voraus-
setzungen für eine Zwangsbehandlung: Uneinwilli-
gungsfähigkeit des Patienten; vorheriger Versuch, von
der Behandlung zu überzeugen; sie muss zum Wohle des
Betreuten erfolgen, um erheblichen gesundheitlichen
Schaden abzuwenden; keine andere zumutbare Maß-
nahme darf möglich sein; ihr Nutzen muss die zu erwar-
tenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen. Fast
könnte man geneigt sein, zu sagen: Wunderbar, das alles
ist zum Wohle der Patienten geregelt. – Aber weit ge-
fehlt. Darum geht es der Regierung auch nicht. Sie
möchte die alte Rechtslage möglichst wenig verändert
beibehalten. Das ergibt sich aus der Begründung des Ge-
setzentwurfs. Dort heißt es unter anderem – ich zitiere –:
„Der Entwurf bildet … die bis zu den jüngsten Beschlüs-
sen … bestehende Rechtslage möglichst nah ab.“ Laut
dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen Zwangsmaß-
nahmen unter verschärften Voraussetzungen ermöglicht
werden. Es wird nicht versucht, sie möglichst zu vermei-
den. Das lässt der Gesetzentwurf vermissen. Die Linke
möchte gerade das ändern.


(Beifall bei der LINKEN)


Jeder von uns, der sich damit befasst, hat unzählige
Schreiben von Psychiatrieerfahrenen bekommen. Im-
mer wieder wird von Behandlungen berichtet, die als
traumatisierend und entwürdigend empfunden worden
sind und noch so empfunden werden. Insoweit ist der
Nutzen von Zwangsbehandlungen schon infrage zu stel-





Jörn Wunderlich


(A) (C)



(D)(B)


len. Die Behauptung der Regierung, dass Betroffene
ohne eine Zwangsbehandlung schwerwiegende gesund-
heitliche Schäden nehmen, ist mit nichts belegt.


(Beifall bei der LINKEN)


Im Gegenteil: Wir alle kennen das Schreiben des
Chefarztes der psychiatrischen Kliniken Heidenheim,
Dr. Zinkler, welcher seit mehr als einem Jahr genau ge-
genteilige Erfahrungen macht. Die Kliniken nehmen
jährlich circa 1 200 psychisch kranke Patienten auf, Pa-
tienten, die freiwillig in die Kliniken kommen, und auch
Patienten, die eingewiesen werden. Dadurch, dass nicht
zwangsweise Psychopharmaka verabreicht werden und
dies dem Patienten auch sofort erklärt wird, verliert die
Unterbringung einen Großteil ihres Schreckens.

Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dass
vor einer Zwangsbehandlung ernsthaft versucht werden
muss, eine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zur
Behandlung zu erreichen, wird durch den Gesetzentwurf
nicht exakt geregelt. Hier heißt es lediglich, dass zuvor
versucht werden muss, „den Betreuten von der Notwen-
digkeit der Maßnahme zu überzeugen“. Art und Weise,
wie sie im Urteil näher umschrieben werden, bleiben im
Gesetzestext außen vor. Das macht die Linke nicht mit.


(Beifall bei der LINKEN)


Das Argument, den Leuten müsse geholfen werden
– dieses Argument wurde auch hier wieder zusammen
mit seltsamen Beispielen genannt –, kann als solches
nicht gelten. Denn Psychopharmaka – um diese geht es
hier primär – heilen ja nicht, sondern sie stellen ruhig.
Die Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind – das ist
unbestritten – ganz erheblich. Dennoch sollen sie weiter-
hin gegen den Willen der zu behandelnden Menschen
eingesetzt werden.

Inzwischen wird festgestellt: Der Gesetzentwurf
wurde in zig Anhörungen und mit vielen Sachverständi-
gen ganz ausgiebig und gut beraten. Ja, aber warum?
Das liegt an der Linken und der SPD. Ursprünglich
sollte dieser Gesetzentwurf als ein Änderungsantrag an
einen anderen Gesetzentwurf gehängt werden und ein-
fach so blitzschnell durchgewunken werden. Erst durch
Intervention der Opposition wurde daraus ein eigener
Gesetzentwurf, und auf Antrag der Linken und der SPD
wurde eine Anhörung dazu durchgeführt.


(Ingrid Hönlinger [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Wir waren doch auch dabei!)


Die Regierung wollte den Gesetzentwurf schnell
durchwinken. Ich kann mir auch denken, warum. Die
alte Rechtslage sollte, wie gesagt, mehr oder weniger un-
verändert fortbestehen. Es sollte – so ergibt es sich aus
dem Gesetzestext bzw. aus der Begründung – keine Kos-
tenbelastung für Unternehmen entstehen. Anders gesagt:
Es sollen keine Umsatzeinbußen bei den Pharmakonzer-
nen verursacht werden.

Es bleibt dabei: Zwangsmaßnahmen sind ein außerge-
wöhnlich schwerer Eingriff in die Grund- und Men-
schenrechte. Zu prüfen ist und bleibt, ob nicht auf medi-
kamentöse Zwangsbehandlung grundsätzlich verzichtet
werden kann. Gesundheit ist keine Ware.


(Beifall bei der LINKEN)


An der Grundlage der Probleme zu arbeiten, liegt der
Regierung fern. Wir brauchen – Frau Steffen hat es
schon angesprochen – ambulante Hilfesysteme, belast-
bare Fallzahlen, Modellversuche von Selbsthilfegruppen
in den Krankenhäusern, eine angemessene Einbeziehung
Betroffener, Aufklärung zu Patientenverfügung, Vorsor-
gevollmacht und Behandlungsvertrag, ordentliche Ho-
norierung und nicht fallpauschalenbasierte Bezahlung in
der Psychiatrie. Da ist unser Gesundheitsminister einmal
gefordert; das konterkariert das Ganze.

Ich weiß ja, wie die Abstimmung zu diesem Gesetz-
entwurf ausgehen wird. Daher sage ich: Stimmen Sie zu-
mindest unserem Entschließungsantrag, in dem diese
Probleme angegangen werden, oder auch dem der Grü-
nen zu. Tun Sie dies zum Wohle der Betroffenen.

Danke.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721727700

Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Hönlinger von

Bündnis 90/Die Grünen.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721727800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wenn ein Mitglied dieses Parlaments erkranken sollte,
dann ist es doch selbstverständlich, dass dieses Mitglied
frei darüber entscheidet, welche Medikamente es zu sich
nimmt. Für uns alle hier im Saal ist dies genauso wie für
die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Be-
standteil unserer Grundrechte auf Selbstbestimmung und
körperliche Unversehrtheit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Es gibt jedoch Menschen, die aufgrund einer psychi-
schen Erkrankung oder einer geistigen oder seelischen
Behinderung nicht in der Lage sind, über eine ärztliche
Behandlung eigenverantwortlich zu entscheiden. Hier
stellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzun-
gen eine rechtliche Betreuerin oder ein rechtlicher Be-
treuer stellvertretend für sie in eine Behandlung einwilli-
gen kann. Konkret geht es darum, ob ein rechtlicher
Betreuer über die ärztliche Behandlung eines anderen
Menschen, der sich in einer Einrichtung wie der Psy-
chiatrie befindet, entscheiden kann.

Der Bundesgerichtshof hat im Juni 2012 zu Recht
festgestellt, dass die ärztliche Zwangsbehandlung im
Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung nur
unter engen Voraussetzungen möglich sein kann und
dass die bestehenden Gesetze keine ausreichende Grund-
lage hierfür bieten. Im November 2012 hat uns die Bun-
desregierung hier im Parlament einen Regelungsvor-
schlag unterbreitet. Als Anhängsel eines anderen
Gesetzentwurfes sollte das Betreuungsrecht ergänzt wer-
den, also sang- und klanglos im Eilverfahren und ganz
nebenbei.

Nun kann man der Regierung zugutehalten, dass sie
möglichst rasch Rechtssicherheit für die Betroffenen, die
Betreuerinnen und Betreuer und die Ärztinnen und Ärzte





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


schaffen wollte. Aber mit einem solchen Schnellverfah-
ren wären wir der schwierigen Situation von Menschen,
die unter Betreuung stehen und in einer Einrichtung un-
tergebracht sind, nicht gerecht geworden.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Ohne eine erste Lesung im Plenum, ohne die Einbezie-
hung von Sachverständigen oder Betroffenenverbänden
und ohne Beteiligung des Gesundheitsausschusses kön-
nen nicht alle Aspekte ausreichend abgewogen werden.
Da fehlt es an Expertise und Transparenz. Ein Schnell-
verfahren ist unangemessen. Wir sind betreuten Men-
schen ein ordentliches parlamentarisches Verfahren
schuldig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Wir Grünen haben, ebenso wie die beiden anderen Op-
positionsfraktionen, von Anfang an dagegen protestiert.
Ich begrüße es sehr, dass wir nun den Weg zu einem or-
dentlichen Gesetzgebungsverfahren eingeschlagen ha-
ben.

Die Gutachten, die wir eingeholt haben, haben dazu
geführt, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung in
wesentlichen Punkten verbessert worden ist. Dazu ge-
hört: Die Entscheidungsbefugnisse des Betreuers bzw.
der Betreuerin sind klar definiert. Der Verhältnismäßig-
keitsgrundsatz ist gut umgesetzt. Der oder die Betroffene
bekommt einen Verfahrenspfleger oder eine Verfahrens-
pflegerin zur Seite gestellt. Jetzt erst erfüllt der Gesetz-
entwurf die strengen Voraussetzungen des Bundesge-
richtshofes – aus meiner Sicht aber leider noch immer
nicht vollständig.

In § 1906 BGB soll es nun heißen: Der Betreuer kann
in eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur dann einwilli-
gen, „wenn zuvor versucht wurde, den Betreuten von der
Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeu-
gen“. Das greift zu kurz. Wir müssen sicherstellen, dass
die Gespräche zwischen Betreuer, Arzt und Betreutem
mit angemessenem Zeitaufwand und ohne Druck erfol-
gen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Dieses Schutzniveau müssen wir im Gesetzestext veran-
kern und nicht lediglich in der Gesetzesbegründung;
denn hier bewegen wir uns in einem sehr grundrechts-
sensiblen Bereich. Deshalb, meine Kolleginnen und Kol-
legen von der CDU/CSU, können Sie auch nicht argu-
mentieren, dass dies den Gesetzestext unnötig aufbläht.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch im Verfahrensrecht haben Sie, meine Damen
und Herren von der Regierungskoalition, wichtige
Punkte nicht berücksichtigt. Sie haben geregelt, dass vor
Beginn einer Zwangsbehandlung eine Überprüfung
durch einen unabhängigen Sachverständigen notwendig
ist. Dieser Sachverständige kann aber ein Arzt sein, der
in derselben Einrichtung arbeitet wie der Arzt, der die
Behandlung durchführt. Das reicht nicht aus. Von einer
wirklichen Unabhängigkeit können wir erst dann spre-
chen, wenn der Sachverständige nicht in der Einrichtung
arbeitet, in der der Betroffene untergebracht ist. Arzt und

Sachverständiger müssen unterschiedlichen Einrichtun-
gen angehören. Anderenfalls kann eine Interessenkolli-
sion entstehen. Der müssen wir vorbeugen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Auch Eilmaßnahmen dürfen nach meiner Überzeu-
gung nur dann zulässig sein, wenn durch den Aufschub
der Zwangsmedikation die Gefahr droht, dass der Be-
treute stirbt oder einen schweren und länger andauern-
den gesundheitlichen Schaden erleidet. Diese wichtige
Einschränkung fehlt in Ihrem Gesetzentwurf.


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Meine Damen und Herren, ärztliche Zwangsmaßnah-
men im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbrin-
gung sind schwere Grundrechtseingriffe. Wichtig ist und
bleibt, dass wir den Dialog zwischen Betroffenen und
Professionellen weiter fördern, mehr Transparenz schaf-
fen und die Versorgungssituation in den Einrichtungen
verbessern.

Unser Ziel muss sein, dass eine Zwangsbehandlung
der Ausnahmefall bleibt. Wir brauchen rechtliche Si-
cherheit und ein überzeugendes Verfahren, um einen
sensiblen Umgang mit Menschen, die in sehr schwieri-
gen Lebenssituationen sind, zu garantieren.

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721727900

Jetzt hat das Wort der Kollege Rudolf Henke von der

CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1721728000

Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! Liebe

Kolleginnen und Kollegen!

Eine Vorbemerkung. Herr Wunderlich, wenn Sie im
Zusammenhang mit diesem Gesetz von einer Umsatzsi-
cherung für die pharmazeutische Industrie sprechen,
kann ich nur sagen: Das mag vielleicht in der Vergan-
genheit so gewesen sein, wenn nach Gesprächen mit der
pharmazeutischen Industrie eigentlich geplante Geset-
zesmaßnahmen einer rot-grünen Koalition vom Bundes-
kanzler kassiert wurden. Wenn Sie einen solchen Vor-
wurf nun ausgerechnet gegenüber der Koalition erheben,
die das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz beschlos-
sen hat und von der pharmazeutischen Industrie wegen
der erlittenen Umsatzrückgänge angegriffen wurde,
muss man schon sagen: Da sind Sie irgendwie in die fal-
sche Spur geraten.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP – Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das glaube ich nicht!)


– Doch, das ist schon so.





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


Aber jetzt zu der Frage: Warum am Anfang diese
Schnelligkeit? Ich glaube, das hat viel mit den beiden
Beschlüssen zu tun, die der Bundesgerichtshof am
20. Juni 2012 gefasst hat. Seitdem fehlte für ärztliche
Zwangsmaßnahmen die Rechtsgrundlage, die vorher
existiert hatte.

Dann hat sich eine Situation eingestellt, die uns Ver-
treter der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psy-
chotherapie und Nervenheilkunde und andere Behandler
an Beispielen ausgiebig geschildert haben. Wenn man
sich diese Beispiele vergegenwärtigt, wird, jedenfalls
aus dem Blickwinkel der gesundheitlichen Versorgung,
deutlich, dass Handlungsbedarf von Anfang an bestand.
Nun braucht das parlamentarische Verfahren seine Zeit.
Aber ich will – auch mit Blick auf das, was Sie, Frau
Hönlinger, an dem jetzt zur Abstimmung stehenden Ge-
setz noch einmal kritisiert haben – zwei Beispiele der
DGPPN in Erinnerung rufen:

Erstens. Da leidet eine 18-jährige Frau seit ihrem
11. Lebensjahr an schwerer Anorexia nervosa, also Ma-
gersucht. Bei einem lebensbedrohlichen Untergewicht
von 31 Kilogramm lehnt sie eine Zwangsernährung ab
und gibt an, den Tod einem Zwang zur Nahrungsauf-
nahme und damit einer Gewichtszunahme vorzuziehen.
Ihr gesamtes Denken zentriert sich auf das Thema „Nah-
rungsaufnahme und Gewicht“. In zahlreichen Gesprä-
chen mit viel Zeitaufwand wird klar, dass die Patientin
zu einer abwägenden, freien Entscheidung nicht in der
Lage ist. Jetzt verlangen die Eltern unter Androhung
rechtlicher Schritte, dass alles getan wird, damit ihr Ge-
wicht zumindest stabil bleibt. Nach der Rechtslage, die
im Anschluss an die BGH-Beschlüsse bestand, war eine
Zwangsbehandlung unter Rückgriff auf den rechtferti-
genden Notstand nur noch möglich, wenn die Patientin
bzw. der Patient das Bewusstsein verloren hatte. In die-
sem Zustand misslingt eine Lebensrettung jedoch meis-
tens. Deswegen kann man verstehen, dass Psychiater
von Anfang an, ab dem Bekanntwerden des Gesetzent-
wurfes, gesagt haben: Mit der Lage, in der wir da sind,
können wir uns nicht anfreunden.

Zweitens. Ein 64-jähriger Bauingenieur wird wegen
einer rheumatischen Gelenkentzündung einige Wochen
mit Cortison behandelt. Darunter entwickelt er einen
ausgeprägten Verfolgungswahn und rast mit stark über-
höhter Geschwindigkeit durch ein Wohngebiet – auf der
vermeintlichen Flucht vor Geheimdienstagenten. In der
Notaufnahme eines Allgemeinkrankenhauses ist er der
Erklärung, dass seine Wahrnehmungen infolge der Corti-
sonbehandlung verzerrt sind, nicht zugänglich. Er will
das Krankenhaus sofort wieder verlassen, um mit dem
Auto seinen Verfolgern zu entkommen. Der Patient lei-
det unter einer Cortison-induzierten Psychose, einer
Komplikation, die einen kleinen, aber bestimmten Pro-
zentsatz dieser Patienten betrifft. Da das, was der Mann
erlebt, für ihn Realitätscharakter hat, kann er den Darle-
gungen, es handele sich um ein akutes Krankheitsge-
schehen, nicht folgen.

Nach Beendigung der Behandlung mit Cortison – man
könnte jetzt ja sagen: Setzt das ab! – kann es Wochen dau-
ern, bis diese Symptomatik abklingt. Bei einer adäquaten

antipsychotischen Behandlung klingt die Symptomatik in
Stunden bis Tagen ab. Diese Behandlung war nach den
beiden Beschlüssen des Bundesgerichtshofs aber nicht
möglich.

Die Konsequenz einer unter Umständen unbehandel-
ten Symptomatik ist eine mehrere Wochen dauernde Un-
terbringung in einer geschlossenen Abteilung gegen den
Willen des Betroffenen; denn diese Unterbringung gegen
seinen Willen – ohne Behandlung – war ja weiter mög-
lich und ist im Rahmen der entsprechenden rechtlichen
Grundlagen für die Unterbringung auch vollzogen wor-
den.

Ich habe Verständnis dafür, dass die ärztlichen Kolle-
ginnen und Kollegen, die solches und anderes – wir ken-
nen die Beispiele – erlebt haben, gesagt haben: Es ist
auch für uns eine würdelose Situation, in der wir zu-
schauen müssen, wie jemand gegen seinen Willen
zwangsweise untergebracht wird, während wir gleichzei-
tig die Möglichkeit nicht nutzen können, ihm diese Un-
terbringung zu ersparen, indem wir die Symptomatik
durch Behandlung beenden. Das gehört zu seinen Rech-
ten.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Ferner habe ich Verständnis dafür, dass die Bundesre-
gierung zwar allmählich Handlungsbedarf gesehen hat,
aber warten musste – das hat draußen niemand verstan-
den; keiner meiner ärztlichen Kolleginnen und Kollegen
hat das verstanden –, bis das Gericht seine Urteilsbe-
gründung vorgelegt hatte, weil erst dann Konsequenzen
gezogen werden konnten und es natürlich zur Sorgfalts-
pflicht einer Bundesregierung gehört, erst dann mit ei-
nem Gesetzentwurf zu reagieren, wenn man die Begrün-
dung eines relevanten Urteils kennt. Darüber sind aber
Monate vergangen.

Die Bundesregierung hat dann Gespräche geführt –
auch mit den Betroffenenorganisationen: beispielsweise
mit dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und mit
der Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener.
Man muss die Bundesregierung also vor dem falschen
Vorwurf in Schutz nehmen, dass nicht mit den Betroffe-
nen gesprochen worden wäre.

Das Verfahren, das dann gewählt wurde, hat im Sinne
all dessen, was wir in der Ausschussanhörung und in den
vielen Gesprächen innerhalb der Fraktionen diskutiert
haben, noch einmal zu einer erheblichen Verbesserung
des Gesetzentwurfes geführt.

Um die notwendigen Voraussetzungen für eine
Zwangsmaßnahme noch einmal festzuhalten:

Der Betreute kann aufgrund einer psychischen Krank-
heit oder einer geistigen oder seelischen Behinderung
die Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht er-
kennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln.

Die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Un-
terbringung muss zum Wohle des Betreuten erforderlich
sein, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichen
Schaden abzuwenden.





Rudolf Henke


(A) (C)



(D)(B)


Und: Der erhebliche gesundheitliche Schaden kann
durch keine andere zumutbare Maßnahme abgewendet
werden.

Deswegen sage ich: Der Vorwurf, dies würde die
Rechte der Betroffenen nicht wahren, geht fehl. Es ist so:
Die Rechte der Betroffenen werden gewahrt. Ich kann
mir auch nicht vorstellen, dass eine Oppositionsfraktion
wie die SPD dem Gesetzentwurf zustimmen würde,
wenn dies nicht der Fall wäre.

Ich muss sagen: Das Schwierigste, was wir heute hier
gehört haben, war für mich in der Tat der Vortrag von Ih-
nen, Herr Wunderlich.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Das glaube ich, dass das schwierig war!)


Mit den beiden Positionen, dass man da noch Ände-
rungsbedarf sieht, kann ich mich aber anfreunden.

Auch ich sehe Änderungsbedarf: Ich finde es schwie-
rig, dass wir jetzt auch die Patienten, die eigentlich keine
Unterbringung brauchen, sondern ambulant versorgt
werden könnten, unterbringen müssen, wenn eine
Zwangsbehandlung nötig ist, um sie möglich zu machen.
Ein Beispiel: Mir hat der Vater eines durch das Down-
Syndrom beeinträchtigten Jungen, dessen Zähne immer
wieder vereitern, erzählt, dass er, weil der Junge nicht
gerne zum Zahnarzt geht, immer den Weg über die Un-
terbringung gehen muss, damit eine Zwangsbehandlung
nicht erst dann möglich wird, wenn eine lebensbedrohli-
che Infektion mit Ausbreitung auf den Körper, gegebe-
nenfalls verbunden mit einer Todesgefahr, entstanden ist.

Ich finde, darüber hätten wir vielleicht auch noch et-
was länger diskutieren müssen. Aber diese Frage war
auch dagegen abzuwägen, –


Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721728100

Herr Kollege Henke, in Ihrer Redezeit, nicht außer-

halb.


Rudolf Henke (CDU):
Rede ID: ID1721728200

– dass eben der Handlungsbedarf bestand. – Ja, ich

will uns durch längere Ausführungen auch nicht davon
abhalten, dass wir jetzt dieses Gesetz, bei dem ich ja
Handlungsbedarf registriert habe, beschließen. Deswe-
gen beende ich meine Rede.

Ich bedanke mich für den freundlichen Hinweis beim
Präsidenten, und Ihnen danke ich für die Aufmerksam-
keit.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721728300

Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat

nun der Kollege Dr. Edgar Franke von der SPD-Fraktion
das Wort.


(Beifall bei der SPD)



Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1721728400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Medizini-

sche Zwangsbehandlungen von psychisch Kranken sind
ein Thema – das haben wir, glaube ich, heute in der Dis-
kussion gesehen –, das uns alle betrifft. Viele von uns
kennen sicherlich in ihrem persönlichen Umfeld Perso-
nen, die von einer psychischen Erkrankung betroffen
sind. Frau Steffen hat eben gesagt: Es werden mehr als
1 Million Menschen – diese Zahl war mir nicht be-
kannt – jedes Jahr in Deutschland therapiert. Gerade die
Anforderungen aus der Gesellschaft oder der Arbeits-
welt, die in der heutigen Zeit immer komplexer werden,
sind auch eine Ursache – das ist sicherlich nicht ent-
scheidend, aber eben auch ein Beispiel – für die Zu-
nahme psychischer Erkrankungen.

Dazu, was das im sozialen Umfeld auslöst, haben si-
cherlich viele von uns Zuschriften – gerade im Rahmen
der Diskussion dieser Thematik – in den Wahlkreisbüros
bekommen.

Ich darf vielleicht noch eine persönliche Anmerkung
machen. Ich bin seit 30 Jahren Betreuer meines Bruders.
Mein Bruder ist in jungen Jahren psychisch erkrankt. Er
musste einmal sogar psychiatrisch zwangsbehandelt
werden. Er lebt heute in einer Einrichtung, in einer
Wohngemeinschaft, in der er betreut wird und in der er
ein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen kann.

Ich habe selbst als Betreuer, als Bruder, als Familien-
angehöriger erfahren, dass es Situationen geben kann, in
denen jemand, der einem besonders nahe ist, der für ei-
nen wichtig ist, krankheitsbedingt nicht in der Lage ist,
einen freien Willen zu bilden, und zumindest für sich
selber eine Gefahr darstellt. Ich denke, in diesen Fällen
ist der Staat aufgefordert, den Betroffenen auch vor sich
selbst zu schützen.

Wir wissen: Das kann nur unter ganz engen Voraus-
setzungen geschehen; das haben wir ja auch besprochen.
Aber es muss jetzt natürlich eine Regelung gefunden
werden – ich glaube, das ist der entscheidende Punkt,
Herr Wunderlich –, sodass im Detail klar ist, unter wel-
chen Voraussetzungen das gemacht werden kann. Hier
gilt das Ultima-Ratio-Prinzip – der Begriff ist ja schon
mehrmals gefallen –: Es muss eben das allerletzte Mittel
sein.


(Beifall bei Abgeordneten im ganzen Hause)


Zwangsmaßnahmen – auch das ist natürlich schon
mehrmals von verschiedenen Rednern in dieser rechts-
politischen Debatte erwähnt worden – verstoßen gegen
Grundrechte, sind ein Grundrechtseingriff. Das ist das
Schlimmste – Herr Thomae, Sie haben es auch gesagt –,
was einem Menschen geschehen kann – insofern, als
man in das Grundrecht der körperlichen Integrität ein-
greift.

Wir brauchen eine Regelung, die über den § 1906
BGB hinausgeht, wir brauchen auch Regelungen im Fa-
milienverfahrensgesetz.

Was man aber nicht vergessen darf – da, Herr
Wunderlich, gebe ich Ihnen durchaus recht –, ist, dass
bei der Behandlung von Menschen, die gegen ihren Wil-





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


len untergebracht werden, in der Regel Psychopharmaka
eine bedeutende Rolle spielen. Das ist sicherlich Ihnen
gegenüber im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrens
von vielen auch schriftlich dokumentiert worden. Da
gibt es viele Schicksale. Wenn man diese Briefe liest,
sieht man, dass auch in der heutigen Psychiatrie viele
gravierende psychische Störungen mit Medikamenten
behandelt werden und dass die Psychotherapie nur be-
gleitend ist. Was bewirkt die Psychotherapie, was be-
wirkt eine Zwangsbehandlung? Sie bewirken sicherlich,
dass Patienten apathisch werden; die sogenannten Neu-
roleptika bewirken das natürlich.

Das ist ein schwerwiegender Eingriff, Herr Thomae.
Es kommt auch zu irreversiblen Nebenwirkungen; das
muss man sagen. Deswegen war es wichtig, dass wir uns
Mühe gegeben haben, dass wir nicht nur ein erweitertes
Berichterstattergespräch geführt haben, sondern dass wir
uns mit der Materie wirklich intensiv auseinandergesetzt
und diese Anhörung auf Druck – Frau Steffen hat es ge-
sagt – der SPD und auch der Linken durchgesetzt haben.


(Beifall bei der SPD)


Wir haben bis zur zweiten und dritten Lesung vieles
verändert. Herr Thomae, Sie haben zu Recht gesagt:
Auch die Koalitionsfraktionen sind in dem Verfahren
schlauer geworden. Damit haben wir auch hier dem
Struck’schen Gesetz Rechnung getragen. Die beschlos-
senen Maßnahmen sind sicherlich die Ultima Ratio.
Dass man vor der Zwangsmaßnahme mit dem Betreuten
intensiv redet und alles probiert, haben wir besprochen.
Dies wurde berücksichtigt. Die Bestellung eines Verfah-
renspflegers, den Frau Steffen erwähnt hat, ist in das Ge-
setz gekommen.

Gerade wir SPD-Gesundheitspolitiker haben durch-
aus, Frau Hönlinger, Sympathie für Ihren Vorschlag ge-
habt, dass der Arzt, der über die Genehmigung einer
ärztlichen Zwangsmaßnahme entscheidet, eher nicht der
zwangsbehandelnde Arzt sein soll. Auch soll es sich im-
mer um einen Facharzt für Psychiatrie handeln. Viele
Gesundheitspolitiker bei uns haben in diese Richtung
diskutiert.

Fairerweise muss man allerdings hinzufügen – das
haben auch Sie, Herr Thomae, im Ausschuss gesagt –,
dass praktische Erwägungen der Länder, etwa Versor-
gungskapazitäten, eine Rolle dabei gespielt haben, aus
dieser Muss- eine Sollvorschrift zu machen. Aber, Herr
Stadler, zumindest aus Sicht der SPD-Fraktion sollte
man diese Vorschrift daraufhin evaluieren, wie das in der
Praxis mit der Sollvorschrift aussieht, dass man diese
Sollvorschrift wirklich nur in atypischen Fällen, ähnlich
wie Ermessensvorschriften im Verwaltungsrecht, als
Ausnahme anwendet.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721728500

Herr Kollege Franke, das wäre ein schöner Abschluss

Ihrer Rede. Sie sind schon weit über Ihre Redezeit.


Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1721728600

Noch ein Abschlusssatz, Herr Präsident. – Aber

gleichwohl muss ich sagen, dass der jetzt vorliegende
Gesetzentwurf mit den Änderungen, die auch auf Anre-
gung der SPD eingefügt wurden, ein sachgerechter Ge-
setzentwurf ist, der das Vertrauen der Betroffenen ver-
dient und mit dem auch die Grundrechte der Betroffenen
respektiert werden. Ein Gesetzentwurf, mit dem die
Grundrechte respektiert werden, ist immer ein guter Ge-
setzentwurf. Gerade in einer rechtspolitischen Debatte
kann man das sagen, Herr Stadler.

Ich danke Ihnen.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721728700

Jetzt ist es Ihnen gelungen, die Redezeitüberschrei-

tung von Herrn Henke zu übertreffen. Insofern haben
wir wieder Gerechtigkeit hergestellt.

Ich schließe die Aussprache.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Da haben wir aber noch ein bisschen was gut!)


– Die Aussprache ist leider beendet. Das tut mir leid; das
war auch nicht vorauszusehen.


(Jörn Wunderlich [DIE LINKE]: Wir denken da perspektivisch! – Heiterkeit)


Wir kommen zur Abstimmung über den von den
Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-
wurf eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtli-
chen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme.
Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-
fehlung auf Drucksache 17/12086, den Gesetzentwurf
der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksa-
che 17/11513 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ich
bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-
schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ko-
alitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der
Linken und Enthaltung der Grünen angenommen.

Dritte Beratung

und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf
ist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.

Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-
ßungsanträge.

Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke auf
Drucksache 17/12090. Wer stimmt für diesen Entschlie-
ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der
Entschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der
Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und
Enthaltung von SPD und Grünen. Entschließungsantrag
der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-
che 17/12091. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-
trag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ent-
schließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der





Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms


(A) (C)



(D)(B)


Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken und
der Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion.

Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 16:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Carsten
Schneider (Erfurt), Uwe Beckmeyer, Klaus
Brandner, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Privatkundengeschäft der Finanzagentur
Deutschland GmbH fortsetzen

– Drucksache 17/12062 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-
derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-
schlossen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Carsten Schneider für die
SPD-Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1721728800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die

SPD-Fraktion beantragt heute, einen schwerwiegenden
Fehler von Herrn Minister Schäuble zu korrigieren.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Er macht keine Fehler!)


Herr Minister Schäuble – mit ihm die Bundesregierung,
und ich vermute, auf Druck der Fraktion – hat entschie-
den, dass die über Jahrzehnte geübte Praxis beendet
wird, dass der Staat, der Bund, also wir, uns direkt beim
Bürger verschulden können, dass wir Bundesschatz-
briefe, eines der Hauptprodukte in diesem Zusammen-
hang, direkt an den Bürger geben können, um die not-
wendige Kreditaufnahme zu finanzieren. Wir haben über
2 Billionen Gesamtschulden, davon rund 1,3 Billionen
beim Bund.

Sie haben entschieden, dass diese über Jahrzehnte ge-
übte Praxis, sich nicht gänzlich von Banken und Finanz-
märkten abhängig zu machen, beendet wurde. Sie haben
entschieden, dass es nicht mehr möglich ist, seinem Staat
selbst Geld zu leihen; das soll nur noch über Bankge-
schäfte mit hohen Provisionen möglich sein. Das, meine
Damen und Herren, ist ein schwerwiegender Fehler, und
wir fordern Sie auf, ihn zu korrigieren.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Die Bundesfinanzagentur, die dafür zuständig ist,
durfte nicht einmal mehr Werbung machen. Die Begrün-
dung, warum Sie es einstellen, ist, dass Sie Gelder zur
Finanzierung von fast 99 Prozent der gesamten Staats-
schulden an den Kapitalmärkten bei Investoren aufneh-
men wollen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Der Rechnungshofbericht!)


Wenn man für ein Produkt keine Werbung mehr macht
und den Vertrieb von Bundesschatzbriefen mehr oder
weniger torpediert, dann braucht man sich auch nicht zu
wundern, wenn diese nicht mehr in dem Maße nachge-
fragt werden.

Ich finde, insbesondere auch angesichts der Schulden-
krise in anderen Ländern, wo man wie in Italien froh ist,
eine Inlandsverschuldung von 50 Prozent zu haben – in
Deutschland ist die Zahl viel schlechter –


(Otto Fricke [FDP]: Ach! Italien ist jetzt das Beispiel? Super!)


– Inlandsverschuldung, sehr geehrter Herr Fricke –, soll-
ten wir uns nicht gänzlich von an der Börse gehandelten
Wertpapieren abhängig machen, die von amerikanischen
Investoren, den Scheichs in Arabien, norwegischen Öl-
fonds oder der chinesischen Zentralbank geführt werden.

Dass Sie die Möglichkeit beenden, dass der Staat
selbst in der Lage ist, auch bei seinen Bürgern Geld zu
leihen, ist purer Marktideologie geschuldet. Die FDP hat
das immer gefordert. Ich gebe Ihnen recht: Sie haben
jetzt eine klare Entscheidung in der Koalition durchge-
setzt. Aber dass die CDU/CSU – das finde ich fast unpa-
triotisch –


(Otto Fricke [FDP]: Es ist kurz vor 9! Komm mal runter!)


dem Bürger nicht mehr die Möglichkeit einräumt, dem
Staat direkt Geld zu leihen, sondern dies nur noch über
die Banken geschehen kann, ist ein schwerwiegender
Fehler. Das zeigt den Charakter dieser Koalition.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)


Wir lehnen dies ab und fordern Sie auf: Besinnen Sie
sich! Geben Sie nicht nur dem Markt, sondern auch dem
Staat und dem Bürger die Chance, sich selbst zu helfen
und sich nicht von Dritten abhängig zu machen. Deswe-
gen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Sie haben die Ge-
legenheit dazu!

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD – Otto Fricke [FDP]: Es ist 9 Uhr abends und nicht 9 Uhr morgens! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Ich finde, das Wort „unanständig“ hat gefehlt!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721728900

Das Wort hat jetzt der Kollege Alexander Funk von

der CDU/CSU-Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Alexander Funk (CDU):
Rede ID: ID1721729000

Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! Die

SPD möchte also, dass das Privatkundengeschäft der Fi-
nanzagentur fortgesetzt wird. Wenn ich ehrlich bin, irri-
tiert mich der Antrag – sowohl der Zeitpunkt als auch
der Inhalt.


(Harald Koch [DIE LINKE]: Uns auch!)






Alexander Funk


(A) (C)



(D)(B)


Zum Zeitpunkt. Bereits am 2. Juni 2012 wurden die
Mitglieder des Finanzierungsgremiums über die Ent-
scheidung, das Privatkundengeschäft einzustellen, infor-
miert. Wieso Sie dann erst heute dieses Thema diskutie-
ren, bleibt Ihr Geheimnis.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So sind die!)


Wenn es Ihnen um die Sache gehen würde, müssten Sie
einsehen: Dieser Antrag kommt mindestens ein halbes
Jahr zu spät.

Aber auch der Inhalt verwirrt. Sie fordern ein Unter-
nehmen auf, weiter ein Produkt zu vertreiben, das jedes
Jahr Verluste bringt, immerhin 50 bis 70 Millionen Euro.
Jeder wirtschaftlich normal denkende Mensch kann da
nur mit dem Kopf schütteln.


(Johannes Kahrs [SPD]: Na, na, na, na!)


Sie glauben dies tun zu können, weil der Bund Eigentü-
mer ist – nach dem Motto: Ist ja nicht unser Geld. – Für
uns als christlich-liberale Koalition ist ein solches Fi-
nanzgebaren absolut unverständlich. Unsere Aufgabe ist
es, sparsam und verantwortungsvoll mit dem Geld der
Steuerzahler umzugehen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Wir sind auf dem Weg zu einem ausgeglichenen
Haushalt. Solide Staatsfinanzen sind unser Markenkern.


(Johannes Kahrs [SPD]: Seit wann?)


Deshalb überprüfen wir unwirtschaftliche Geschäfts-
zweige auch bei Unternehmungen des Bundes und han-
deln, zumal es Alternativen gibt.

Es ist ja nicht so, dass Anleger nun nicht mehr in
Bundeswertpapiere investieren könnten. Sie können
komfortablere und häufig preisgünstigere Erwerbswege
als den Kauf über die Finanzagentur nutzen. Das ist doch
das Problem, das zu der Entscheidung, das Privatkun-
dengeschäft einzustellen, geführt hat: Banken haben
vielfach preiswertere Angebote im Sortiment, und sie
haben der Finanzagentur hier den Rang abgelaufen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Aha!)


Genau darauf hat auch der Bundesrechnungshof
mehrfach kritisch hingewiesen. Ich hätte ja noch Ver-
ständnis gehabt, wenn Sie den Rechnungshofbericht
zum Thema gemacht und die Verluste der vergangenen
Jahre kritisiert hätten.


(Otto Fricke [FDP]: Ja, das wäre doch mal was gewesen!)


Aber heute so zu tun, als gäbe es diesen Bericht nicht,
ist schon mehr als seltsam.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Bettina Hagedorn [SPD]: Die Zeiträume sind komisch, die betrachtet werden!)


– Ja, die Zeiträume.

Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich aus den
Bemerkungen 2012 des Bundesrechnungshofes:

Das Bundesfinanzministerium stellt auf Empfeh-
lung des Bundesrechnungshofes bis zum Ende des
Jahres 2012 den Verkauf von Wertpapieren ein, die
es für Privatanleger anbietet. Dieses Privatkunden-
geschäft ist für die Kreditaufnahme des Bundes be-
deutungslos geworden, weil Privatanleger seit über
20 Jahren immer weniger Wertpapiere des Bundes
kaufen.

Und weiter:

Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäft
sank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 Mil-
liarden Euro auf unter 2 Milliarden Euro. Sein An-
teil an der gesamten Kreditaufnahme des Bundes
reduzierte sich damit von 40,9 Prozent auf 0,7 Pro-
zent.


(Otto Fricke [FDP]: 0,7 Prozent!)


Zudem entstanden im Privatkundengeschäft in den
letzten Jahren Verluste, teilweise in zweistelliger
Millionenhöhe.

Weiter:

Der Bundesrechnungshof hat bezweifelt, dass sich
das Privatkundengeschäft mit neuen Produkten
oder bei einem höheren allgemeinen Zinsniveau
deutlich ausweiten und kostendeckend betreiben
lässt.

Abschließend:

Privatanleger sind damit nicht von einer Geldanlage
beim Bund ausgeschlossen. Sie können weiterhin
Wertpapiere des Bundes über Kreditinstitute erwer-
ben.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und dafür Gebühren bezahlen!)


Meine Damen und Herren, damit ist eigentlich schon
alles gesagt. Es stellt sich für mich nur die Frage, ob Sie
den Bericht nicht gelesen oder was Sie an diesem Be-
richt nicht verstanden haben. Denn wie sonst ist es zu er-
klären, dass Sie alle Bürgerinnen und Bürger für diejeni-
gen zahlen lassen wollen, die Geld verleihen können.


(Otto Fricke [FDP]: Genau so ist es!)


Seien Sie sicher: Ihr Kanzlerkandidat kann mit seinen
Honoraren auch weiterhin den sicheren Hafen deutscher
Anleihen anlaufen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Was für ein Tiefschlag!)


Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich ankündige, dass
wir Ihren Antrag ablehnen werden.

Vielen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Sehr gute Rede!)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721729100

Als nächster Redner hat das Wort der Kollege Harald

Koch von der Fraktion Die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)







(A) (C)



(D)(B)



Harald Koch (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721729200

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Werte Zuhörer! „Günther“ verzieht sich in seinen Pan-
zer! Die Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur
GmbH, deren Maskottchen die Schildkröte Günther war,
hat sich mit Beginn des Jahres aus dem Privatkundenge-
schäft mit Bundeswertpapieren zurückgezogen. Seit län-
gerem meckerte der Bankenverband darüber, dass Pri-
vatanleger direkt über die Finanzagentur Bundeswert-
papiere erwerben und gebührenfrei auf dem Schuldbuch-
konto verwahren lassen können. Schon eilt die Regie-
rung der Bankenlobby willfährig zu Hilfe, statt sich eine
verbraucherfreundliche Regelung auszudenken. Verbrau-
cherschutz bleibt bei dieser Regierung eine Worthülse.


(Beifall bei der LINKEN)


Anleger müssen ab jetzt zum Beispiel Bundesanlei-
hen bei ihrer Hausbank kaufen. Dafür und für die Aufbe-
wahrung werden jedoch Gebühren fällig. Privatkunden
sind zudem nun stärker gefährdet, entgegen der eigenen
Risikoneigung und Anlageabsicht unpassende Finanzin-
strumente von „Bankberatern“, also Verkäufern, aufge-
drückt zu bekommen; denn an sicheren Tages- oder Fest-
geldkonten verdient eine Bank nichts. Provisionen für
den Verkäufer würden dabei schon gar nicht sprudeln.

Natürlich muss man zugeben: Das Privatkundenge-
schäft war am Ende nicht mehr sehr erträglich,


(Otto Fricke [FDP]: Es war nicht ertragreich! Erträglich war es immer!)


dafür aber arbeitsintensiv und teuer. Dennoch sollten wir
uns nicht vom Privatkundengeschäft der Finanzagentur
verabschieden. Zum einen bleibt viel zu vage, was mit
dem Personal geschieht. Rund 200 Mitarbeiter könnten
ihren Job verlieren. Die Linke ist auch hier gegen eine
Schrumpfkur im öffentlichen Dienst.


(Beifall bei der LINKEN)


Zum anderen sollte man sich neben einer Kompensa-
tion anfallender Mehrkosten besser überlegen, wie man
ohne Risikozunahme Bundeswertpapiere für Privatanle-
ger attraktiver gestalten könnte und damit langfristiges
Denken bei der Anlage unterstützt.

In Ihrem Antrag schreibt die SPD, dass Deutschland
von der Finanzmarktkrise dadurch profitiert hat, dass
Schuldtitel des Bundes stark nachgefragt worden sind.
Dies springt viel zu kurz. In Wahrheit profitierte
Deutschland auf Kosten anderer Staaten vor allem durch
Lohn-, Sozial- und Steuerdumping infolge der von der
SPD beschlossenen Agenda 2010. In Wahrheit profitiert
Deutschland von den exorbitanten Außenhandelsun-
gleichgewichten.

Es stimmt: Der Bund wird etwas unabhängiger von
Großinvestoren, und der Fiskus gewinnt, wenn das Pri-
vatkundengeschäft blüht. Aber es reicht nicht aus und ist
naiv, wenn Sie vorrangig Spareinlagen der einfachen
Bürger mobilisieren wollen, um in Not geratene Staaten
besser refinanzieren zu können. Auch das ist hier heute
schon einmal festgestellt worden.


(Otto Fricke [FDP]: Das ist aber eine schöne mathematische Rechnung!)


Sie entlassen so Auslöser und Profiteure der Finanz-
krise aus ihrer Verantwortung. Sie ignorieren mit Ihrem
Antrag Forderungen nach einer sozial gerechten Steuer-
und Lohnpolitik, die eine Umverteilung von oben nach
unten vorantreibt. Und Sie ignorieren Forderungen nach
einer europaweiten Vermögensabgabe von Millionären.


(Otto Fricke [FDP]: Was hat das damit zu tun?)


Die Staatsfinanzierung muss endlich der Willkür der
Finanzmärkte entzogen werden. Wir haben alle noch die
Jahre 2008 und 2009 in Erinnerung.

Neben einer rigorosen Regulierung der Finanzmärkte
brauchen wir Euro-Bonds. Die Europäische Zentralbank
muss ermächtigt werden, den Euro-Staaten günstige
Kredite zu geben, und zwar direkt oder über eine zwi-
schengeschaltete europäische Bank für öffentliche An-
leihen.


(Beifall bei der LINKEN)


Der Staat darf sich nicht zum Vorteil der Bankenlobby
und zum Nachteil der Verbraucher und seiner eigenen
Finanzierung in einen Schildkrötenpanzer zurückzie-
hen. Das wäre wieder einmal nicht nur ein falsches, son-
dern auch ein gefährliches Signal.

Danke schön.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721729300

Das Wort hat nun Otto Fricke für die FDP-Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Otto Fricke (FDP):
Rede ID: ID1721729400

Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine sehr geehrten

Damen und Herren! Was will die SPD eigentlich mit
dem Antrag bewirken? Der Kollege Funke hat es so
schön gesagt: Es geht um etwas ganz anderes. Carsten
Schneider hätte hier ehrlicherweise sagen sollen: Unser
ganz großes Projekt „Wir gegen die Banken“ wollen wir
heute fortsetzen, und jetzt machen wir es auch noch bei
der Finanzagentur.

Wissen Sie, wer eigentlich das Opfer Ihres Antrages
wäre, wenn nicht die Koalition wüsste, was sich gehört?
Das wären Genossen. Sie als Sozialdemokraten gehen
hier nämlich insbesondere gegen die Genossenschafts-
banken vor. Sie als Sozialdemokraten gehen gegen die
Sparkassen vor; denn das sind gerade diejenigen, die in
Konkurrenz mit einer staatlich subventionierten Finanz-
agentur arbeiten. Denen wollen Sie das Geschäft weg-
nehmen. Nur darum geht es Ihnen und um nichts ande-
res. Das zu sagen, wäre eigentlich auch Ihre Aufgabe
gewesen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Quatsch!)


Meine Damen und Herren, was will eigentlich ein
Staat mit einem Privatkundengeschäft?


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ihr wart schon immer dagegen! Das ist nichts Neues!)






Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


Warum soll er das machen? Na ja, vielleicht deswegen,
weil er so günstiger an Finanzmittel herankommt. Wenn
das der Fall wäre, dann sollten wir als Staat auch überle-
gen, ob wir diesen Weg wählen. Dann sollte man als Ers-
tes der Frage nachgehen – das sollten Haushälter eigent-
lich tun –: Wie viel kostet uns denn ein solches
Privatkundengeschäft pro Privatkunde, und wer sind ei-
gentlich die Privatkunden, denen wir hier möglicher-
weise etwas aus dem Steuersäckel, also aus dem Bun-
deshaushalt, schenken? Dann müssen wir feststellen: Es
sind Leute, die als Privatmenschen Geld haben und die-
ses Geld anlegen wollen. Jedem, der ein Konto bei der
Finanzagentur hat, geben wir pro Jahr – das können Sie
ja leicht ausrechnen – 200 Euro. Das heißt nichts ande-
res, als dass Sie wollen, dass der Staat Leuten, die Geld
haben, die über Vermögen verfügen, auch noch Geld aus
dem Steuersäckel gibt. Wie Sie das bei den Aufgaben,
die der Staat hat, begründen wollen, frage ich mich. Das
müssen Sie den Bürgern erst einmal erklären.

Ein nächster Punkt. Der Kollege Schneider hat es ge-
nau gesagt: Er möchte das wie in Italien haben. Ich füge
dazu: Er möchte dann wahrscheinlich auch die Verschul-
dung wie in Italien haben. – Er möchte mit seiner Partei,
dass im Endeffekt möglichst viele private Bürger sich zu
– ich will es vorsichtig formulieren – Komplizen der
Verschuldungspolitik machen,


(Bettina Hagedorn [SPD]: Das nennst du „vorsichtig ausgedrückt“?)


dass sie persönlich und direkt an der Verschuldungspoli-
tik des Staates hängen. Das wollen wir eben nicht.

Jetzt könnte man als zweiten Punkt zu dem Antrag sa-
gen: Na ja, aber wir sind doch der Meinung, dass der
Bürger eine sichere Anlage braucht, eine Anlage, bei der
er ganz sicher ist, dass er sein Geld zurückbekommt. –
Dann fragen Sie einmal andere Bürger in Europa, ob sie
noch glauben, dass ihr Geld, wenn sie es direkt beim
Staat anlegen, auch nur ein Jota sicherer ist als woan-
ders, wenn der Staat sich zu sehr verschuldet.

Nein, meine Damen und Herren, es geht um etwas an-
deres. Es geht hier um die Frage: Wo ist das Geld der
Privatanleger eigentlich sicher?


(Bettina Hagedorn [SPD]: Bei uns ist es das! – Zuruf von der LINKEN: Das kommt auf die Regierung an! – Norbert Barthle [CDU/CSU]: Da geht es um die Einlagensicherung!)


Es war doch bisher die Meinung der Sozialdemokraten,
der Grünen und auch der Linken: Gerade bei den Spar-
kassen und gerade bei den Genossenschaftsbanken ist
das Geld aufgrund der eigenen Sicherungssysteme viel
sicherer als irgendwo anders. Jetzt wollen Sie den Bür-
gern sagen: Geht nicht in die sicheren Formen, sondern
geht lieber zum Staat; denn dann können wir als Staat
viel stärker regulieren.


(Johannes Kahrs [SPD]: Seit wann ist denn der Staat unsicher? Unglaublich!)


Nein, meine Damen und Herren, das ist nicht das, was
die Koalition an der Stelle will. Wir müssen überlegen,

warum der Staat an dieser Stelle noch Geld ausgeben
muss.


(Johannes Kahrs [SPD]: Warum ist der Staat unsicher, Herr Fricke?)


Sie haben keinen einzigen Grund genannt, warum wir
auch künftig noch einen zweistelligen Millionenbetrag –
das mag für Sie ja wenig sein – für Privatkunden ausge-
ben müssen.

Diese Koalition sagt – der Kollege Funke hat all die
Punkte genannt –: Warum sollen wir bei abnehmendem
Interesse, bei abnehmendem Volumen – 0,7 Prozent An-
teil an der gesamten Kreditaufnahme des Bundes –, da-
für dann noch Geld ausgeben?


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Zu den Äußerungen, das wären norwegische Fonds
und irgendwelche Finanzhaie, die hier die Staatsanleihen
tätigen: Das ist doch gar nicht so. Kollege Schneider, Sie
wissen es besser. Die betriebliche Altersvorsorge, Ver-
sorgungswerke, Riester-Sparer und Lebensversicherun-
gen sind hier ganz wesentlich beteiligt.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Kosten alle Provision!)


Sie sagen an der Stelle: Die sind alle schlimm. – Das
Verständnis habe ich nicht. Hier versucht doch die SPD,
einen Weg zu gehen, den sie meinetwegen für sich ein-
schlagen kann, aber der vollkommen dem widerspricht,
was wir als Koalition als richtig ansehen. Sie vertrauen
dem Staat und glauben, dass der Staat das richtig macht.


(Johannes Kahrs [SPD]: Klar! Wir halten den Staat für sicher!)


Wir setzen darauf, dass der Staat eine Kernaufgabe hat,
ein schlanker Staat sein muss, der die Kernaufgabe
wahrnehmen muss; denn erst dadurch sorgt er für etwas,
was wir eigentlich am liebsten hätten, nämlich dass wir
überhaupt keine Finanzagentur bräuchten, dass wir we-
niger Schulden machten.

Ein nächster Punkt. Es wird hier gesagt, dass das
Geld, wenn die Bürger immer nur zu Sparkassen und
Genossenschaftsbanken gingen, so wenig Zinsen brächte
und nur Kosten verursachen würde. Erstens. Eine Kos-
tensubvention über den Steuerzahler wollen wir sicher-
lich alle nicht. Zweitens. Es ist doch ein Irrglaube, wenn
Sie hier weismachen wollen, dass das Geld dann ir-
gendwo auf dem Konto liegt. Warum brauchen denn
Sparkassen, Genossenschaftsbanken und Privatbanken
auch Geldeinlagen? Warum brauchen sie das Geld des
Sparers? Weil wir auf der anderen Seite – ich hatte das
immer so verstanden, dass Sie das auch so sehen; das
scheinen Sie inzwischen aufgegeben zu haben – die Ban-
ken auch zur Finanzierung des Mittelstands und der
Wirtschaft brauchen, damit sie denen, die investieren
wollen, die Arbeitsplätze sichern wollen, Kredite geben
können.

Dahinter steckt noch eine andere Ideologie. Sie wol-
len die Möglichkeiten der Banken, selber Kredite zu ver-





Otto Fricke


(A) (C)



(D)(B)


geben, immer weiter einschränken. À la WestLB, à la
NRW Bank, à la KfW


(Johannes Kahrs [SPD]: Jetzt werfen Sie aber Verschwörungstheorien auf!)


wollen Sie auf allen möglichen Wegen lieber dafür sor-
gen, dass es der Staat ist, der die Kredite gibt.

Wir vertrauen auf eine funktionierende Marktwirt-
schaft. Wir sind deswegen auch klar und deutlich der
Meinung, dass die Bürger auf einen Staat vertrauen kön-
nen müssen, in Brunsbüttel und auch an anderer Stelle,
der in der Lage ist, ihre Einlagen zu sichern, eben da, wo
sie liegen, weil es ein stabiler und sparsamer Staat ist
und nicht ein Staat, der einfach nur mehr Geld ausgeben
will und deswegen noch mehr Geld vom Bürger bekom-
men will.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721729500

Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,
die Verbliebenen im Saal kennen alle Günther Schild,
die Schildkröte, die für die Bundeswertpapiere gewor-
ben hat. Wenn nicht, ist es schade; denn Sie werden sie
nun nicht mehr kennenlernen.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Hat sie den Kopf eingezogen?)


Ich weiß nicht, ob sie sich nach Brunsbüttel zurückgezo-
gen hat. Auf jeden Fall wird sie nicht mehr auftauchen.

Das Problem ist doch unter anderem, dass die Finanz-
agentur seit 2006 fast 36 Millionen Euro für Werbung
ausgegeben hat, weil die Zahl der Anlagen in Bundes-
wertpapiere durch Privatanleger zurückging. Am An-
fang setzte man auf die falsche Werbestrategie, die dann
noch einmal geändert wurde. Dann wurde richtig ge-
klotzt, richtig viel Geld ausgegeben, um dann dennoch
2011 zu entscheiden, das Privatkundengeschäft auszu-
setzen. Ich finde, diese Strategie seitens der Bundesre-
gierung – erst bewerben, dann einstampfen – merkwür-
dig. Sie passt aber in das Chaoshandeln dieser
Regierung.

Viel ärgerlicher ist, dass ein zweites wichtiges Stand-
bein zur Aufrechterhaltung der deutschen Schuldenver-
waltung gekappt wird. Ein Grund ist, dass es eine güns-
tige Refinanzierung in der Euro-Krise gibt und große
Investoren nach Deutschland kommen. Das kann aber
ins Auge gehen. Wenn die Euro-Krise abflacht, wollen
wir vielleicht wieder die Privatanleger haben. Aber dann
werden sie nicht mehr zurückkommen.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: So weit denken die nicht! Das kapieren die nicht!)


Es ist ein echter strategischer Nachteil, wenn man den
Kreis der Anleger so begrenzt.

Lieber Otto Fricke, es geht nicht darum, dass man den
Genossenschaftsbanken und den Sparkassen ihre Kun-
den wegnimmt. Bislang war es so, dass die Privatkunden
hier und dort waren, aber auch bei der Finanzagentur ge-
kauft haben. Das ist die richtige Strategie. Wir wissen
doch auch, dass die Berater der Sparkassen und Genos-
senschaftsbanken nicht nur für Bundeswertpapiere oder
ihre eigenen Papiere werben, sondern vor allen Dingen
auch für Investmentfonds, die in der Welt gestreut sind.
Das ist der eigentliche Grund, warum die FDP schon im-
mer dagegen war, dass es eine Direktvermarktungsstra-
tegie der Finanzagentur gibt. Ihr wollt den Banken auf
jeden Fall die Provisionsgebühr sichern, und zwar zulas-
ten der Privatanleger. Wir finden, das ist der falsche Weg
und der falsche Schritt.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD – Bettina Hagedorn [SPD]: So ist es!)


Insofern ist das wieder ein Klientelgeschenk der FDP.
Leider hat die CDU mitgemacht. Die Banken machen
Gewinn und der Konkurrent, der Mitbewerber – das ge-
hört zu einer Marktwirtschaft, auch wenn es in dem Fall
der Staat ist – wurde von euch ausgeschaltet.


(Otto Fricke [FDP]: Der Staat als Wettbewerber?)


– Für die Direktvermarktung eines eigenen Produktes,
das es nicht auf dem Markt gibt, ist der Staat in dem Fall
ein Mitbewerber und ein Konkurrent.


(Otto Fricke [FDP]: Da gehen wir auseinander!)


Dieser wurde von euch ausgeschaltet. Wir bedauern das
sehr und werden dem Antrag der SPD zustimmen.

Danke schön.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN, bei der SPD und der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721729600

Das Wort hat nun Bartholomäus Kalb für die CDU/

CSU-Fraktion.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1721729700

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Frau Kollegin Hinz, ich weiß nicht genau, warum Sie die
Schildkröte nach Brunsbüttel verorten wollen. Vermut-
lich deswegen, weil wir dort die Schleuse sanieren und
eine neue Schleuse bauen. Da wird jeder Einsatz will-
kommen geheißen. Hoffentlich zieht die Schildkröte
dann nicht den Kopf ein.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)

Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchte

der SPD ausdrücklich danken. Im Vorspann zu diesem
Antrag hat sie in bemerkenswerter Objektivität die Pro-
bleme mit dem Privatkundengeschäft beschrieben.


(Bettina Hagedorn [SPD]: So sind wir!)






Bartholomäus Kalb


(A) (C)



(D)(B)


Ich darf zitieren:

Bundesschatzbriefe der Typen A und B sowie die
ein- und zweijährigen Finanzierungsschätze, die
das „traditionelle“ Privatkundengeschäft der Fi-
nanzagentur bilden, sind ökonomisch unattraktiv
geworden. Der Anteil des Privatkundengeschäfts an
der Kreditaufnahme des Bundes liegt derzeit unter
ein Prozent.

– Objektiv richtig.


(Harald Koch [DIE LINKE]: Der nächste Satz ist auch richtig!)


Ich nenne Ihnen ein zweites Zitat:

Die Finanzagentur leistet sehr erfolgreiche Arbeit.

Dem können wir uns in der Bewertung ausdrücklich an-
schließen und freuen uns, dass dies zutreffenderweise so
geschildert wird.

Ich will noch ein drittes Zitat nennen:

Grundlage

– für diese Entscheidungen –

seien Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, die auf der
Basis der Entwicklung seit 2006 und der geschätz-
ten Entwicklung über die kommenden fünf Jahre
hinweg durchgeführt worden seien. Ergebnis sei,
dass das Privatkundengeschäft etwa 50 bis 70 Mil-
lionen Euro Mehrkosten verursache …

Dann wird korrekterweise noch darauf hingewiesen,
dass auch der Bundesrechnungshof nach eigenen An-
gaben seit zehn Jahren dieses Privatkundengeschäft be-
obachtet und zu eindeutigen Empfehlungen gekommen
ist.

Ich denke, dass all das, was im Vorspann zu diesem
Antrag gesagt wird, zutreffend ist, dass Sie aber zu fal-
schen Schlussfolgerungen kommen. Sie stellen fest, dass
das Privatkundengeschäft rückläufig sei, dass es an Be-
deutung verloren habe und dass es an Bedeutung auch
für uns, für die Bundesseite, verloren habe. Wenn der
Gesamtbestand weniger als 1 Prozent der Finanzierun-
gen des Bundes ausmacht, dann kann man das nicht
ignorieren wollen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Aber etwas dagegen tun!)


Ohne aus dem Gremium, dem der Kollege Carsten
Schneider vorsteht, Geheimnisse auszuplaudern, darf ich
ganz offen sagen, dass wohl alle Kolleginnen und Kolle-
gen – so jedenfalls mein Eindruck in den Beratungen –
es gerne gesehen hätten, wenn das Privatkundengeschäft
fortgeführt worden wäre, wenn es sich denn rechtferti-
gen ließe.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)


Allerdings haben sich die Dinge völlig anders entwi-
ckelt als erwartet. So haben die Geldanleger – ganz of-
fensichtlich auch die Privatkunden – neue Anlagemög-
lichkeiten für sich erschlossen. Wir meinen daher, dass

50 bis 70 Millionen Euro Mehrkosten einfach nicht zu
rechtfertigen sind.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Zwangsbeglückung!)


– Wir wollen aber keine Zwangsbeglückung, wie es der
Kollege Norbert Barthle dazwischenruft, vornehmen,
sondern den Menschen die Wahlfreiheit geben


(Bettina Hagedorn [SPD]: Warum macht ihr das dann nicht?)


und nicht krampfhaft ein Produkt vorhalten, das so nicht
mehr nachgefragt wird.

Da ich dem Bundestag schon ziemlich lange ange-
höre, weiß ich, dass in den 90er-Jahren das Privatkun-
dengeschäft – im Übrigen bei einem völlig anderen Zins-
niveau – eine sehr viel größere Bedeutung für uns hatte.
Es war nicht nur für die Kunden, sondern auch für uns
auf der Bundesseite von Interesse, da wir uns auf dem
Privatkundensektor abstützen konnten.

Diese Funktion ist nicht mehr in dem Maße gegeben,
wie es sein sollte oder wie wir es gerne hätten und wie
wir meinen, dass eine Fortführung dieses Geschäfts un-
ter dann obwaltenden Umständen noch vertretbar wäre.
Darum können wir die Entscheidung des Bundesfinanz-
ministers und des Bundesfinanzministeriums nicht kriti-
sieren. Auch von uns bedauert es der eine oder andere,
dass es so gekommen ist. Es gibt aber keinen Anlass zur
Kritik. Das sollten wir so auch hinnehmen.

Der beste Gradmesser dafür, ob politisches oder ad-
ministratives Handeln richtig oder falsch ist, ist immer
noch die Reaktion der Bürger bei uns in den Bürger-
sprechstunden. Wenn ich zu einer Entscheidung keine
einzige Mail erhalte und zu dieser Sache keinen einzigen
Bürger in der Sprechstunde empfangen darf, dann kann
die Entscheidung so falsch eigentlich nicht sein und wird
von den Betroffenen zumindest akzeptiert.

Herzlichen Dank.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Harald Koch [DIE LINKE]: Oder die haben die Hoffnung aufgegeben!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721729800

Das Wort hat nun Bettina Hagedorn für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Bettina Hagedorn (SPD):
Rede ID: ID1721729900

Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Präsident!

Wenn man ein bisschen genauer hingehört hat, hat man
bei dem Kollegen Bartholomäus Kalb, dem Kollegen der
Union aus dem Haushaltsausschuss, gerade eben heraus-
gehört, dass ihm dieser Schritt doch schwerer fällt als
zum Beispiel dem Kollegen Fricke von der FDP.

So muss ich denn sagen: Wir wissen, dass es in der
Union viele Sympathisanten für den Antrag der SPD
gibt. Es ist nämlich in der Tat ein Fehler, dass Sie das
Privatkundengeschäft aufgeben. Sie verbrämen diesen





Bettina Hagedorn


(A) (C)



(D)(B)


Fehler immer mit dem Hinweis auf den Bundesrech-
nungshof. Darauf möchte ich kurz eingehen.

Der Bundesrechnungshof hat dieses Geschäft in der
Tat über lange Jahre, genauer seit 1990, kritisch beglei-
tet. Der Zeitraum, der da betrachtet worden ist, hat aller-
dings mit dem Zeitraum seit 2008, mit den Dingen, mit
denen wir es seitdem in diesem Lande und weltweit zu
tun haben, wenig gemein; er ist der falsche Maßstab.
Selbstverständlich haben wir im SPD-Antrag ehrlicher-
weise die derzeitige schwierige Situation geschildert;
Herr Kollege Kalb, Sie haben das zu Recht zitiert. Die
Frage ist dennoch, welche Konsequenzen man daraus
zieht.

Weil das Zitieren hier heute Abend so modern ist,
zitiere ich jetzt aus einem Schreiben des Finanzministe-
riums vom April 2010,


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das ist schon lange her! Schnee von gestern!)


in dem sich das Finanzministerium mit den Bemerkun-
gen des Bundesrechnungshofs zu diesem Thema ausein-
andergesetzt hat. Darin werden drei Varianten genannt:
die Einstellung des Privatkundengeschäfts, die markt-
schonende Modernisierung und die unveränderte Fort-
führung der Neupositionierung. Das BMF begründete
damals ausführlich, warum es nicht für die Einstellung,
sondern für die marktschonende Modernisierung votiert.
Sie sollten vielleicht einmal überlegen, ob Sie das heute
wirklich ganz anders sehen oder ob das vielleicht eher
mit der FDP zu tun hat als mit allem anderen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Das hat mit dem Markt zu tun!)


Das BMF plädierte dafür,

… eine marktschonende Modernisierung … weiter-
zuverfolgen, um das Privatkundengeschäft des
Bundes in nachhaltiger Weise auf eine wirtschaft-
lich gesicherte Grundlage zu stellen. In Gesprächen
mit der Kreditwirtschaft sollte die Finanzagentur
unter Aufsicht des BMF unter Beteiligung der …
Bundesbank die Möglichkeit des Abschlusses einer
Rahmenvereinbarung sondieren, die es der Kredit-
wirtschaft ermöglicht, sich auf die inhaltliche und
zeitliche Planung, welche die Finanzagentur bei der
Modernisierung des Privatkundengeschäfts ver-
folgt, einzustellen.

Gut gebrüllt, Löwe! Aber leider ist das Ministerium vom
Kurs abgewichen.


(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Susanne Kieckbusch [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Weil in den Unterlagen immer gern davon die Rede
ist, dass sich das alles nicht rechne, dass es ein altmodi-
sches Instrument sei, das es schon so lange gebe,


(Otto Fricke [FDP]: Nee! „Altmodisch“ hat keiner gesagt!)


will ich einmal sagen, dass wir hier sehr wohl über etwas
reden, das mit einer Wertedebatte, mit Tradition zu tun
hat.


(Johannes Kahrs [SPD]: Genau!)


Es hat damit zu tun, wie die Menschen, deren Glaube in
seinen Grundfesten ein Stück weit erschüttert wurde, ei-
gentlich auf die Finanz- und Wirtschaftskrise reagieren.
Wahr ist doch, dass uns nicht etwa die Staaten in die
Krise geführt haben,


(Otto Fricke [FDP]: Ja, ja, die Staaten haben keine Schulden gemacht! Nein, überhaupt nicht!)


sondern die Banken, die Manager, die eine falsche Ge-
schäftspolitik betrieben haben, solche, die geglaubt ha-
ben, dass Haftung und Risiko nicht zusammengehören;
aber sie gehören zusammen. Viele Bürgerinnen und
Bürger, die in die falschen Geschäftsmodelle investiert
haben, haben mit ihrem Privatvermögen bitter dafür
bezahlt. Die falsche Erwartung einer schnellen Rendite
hat sie um Kopf und Kragen gebracht.


(Otto Fricke [FDP]: Vor allem die, die griechische oder spanische Staatsanleihen hatten!)


– Nein, wir reden über deutsche Anleger und nicht über
griechische. –


(Otto Fricke [FDP]: Über Deutsche, die griechische Staatsanleihen hatten!)


Der Staat musste eingreifen, um das Schlimmste zu ver-
meiden.

Es ist heute modern, an die Bonität des Staates zu
glauben. Darum könnten die Instrumente, die Sie hier
gerade einstampfen, sehr wohl tragfähige Zukunftsmo-
delle sein. Nicht nur ich bin sicher, dass die Bürgerinnen
und Bürger in dieser Zeit der Unsicherheit im Grunde
genommen nicht die schnelle Mark machen wollen; sie
wären schon froh, wenn sie ihr hart Erspartes sicher an-
legen könnten. Sie vertrauen in Zeiten der Unsicherheit
glücklicherweise gerade und vor allen Dingen dem
Staat. Wir sollten als Demokraten gemeinsam stolz da-
rauf sein und denjenigen widersprechen, liebe Damen
und Herren der FDP, die es auch in dieser Zeit noch für
klug halten, den Staat verächtlich zu machen.


(Otto Fricke [FDP]: Es gibt auch Grenzen der Formulierung! Wissen Sie, was „verächtlich“ heißt? „Verächtlich“ ist das falsche Wort!)


Das entsprach einmal dem Zeitgeist; aber dieser
Zeitgeist hat sich überholt. Ich weiß, Otto, dass du dich
darüber aufregst. Aber du kannst mir eine Zwischen-
frage stellen.


(Otto Fricke [FDP]: Nein! Aber „verächtlich“ gehört sich nicht!)


Die SPD ist der Auffassung, dass dies der richtige
Antrag zum richtigen Zeitpunkt ist. Wir freuen uns, dass
die Kolleginnen und Kollegen der Opposition zustim-
men. Wir wissen, dass es viele in der Union auch gerne
tun würden und dass es nur eine Fraktion in diesem
Hause gibt, die diesen Antrag wirklich von Herzen
schlecht findet, und das ist die FDP.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)







(A) (C)



(D)(B)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721730000

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12062 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesord-
nungspunkt 17 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des
Fiskalvertrags

– Drucksache 17/12058 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss (f)

Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.

Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Antje Tillmann (CDU):
Rede ID: ID1721730100

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Schon zum zweiten Mal diskutieren wir heute das Fis-
kalvertragsumsetzungsgesetz. Wir tun das gerne – auch
um diese Uhrzeit –, weil wir davon überzeugt sind, dass
es ein gutes Gesetz ist und dass wir unsere Verpflichtun-
gen, die wir gegenüber der Europäischen Union einge-
gangen sind, jetzt endlich zeitnah umsetzen sollten.


(Lachen der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


– Sie lachen. Wir sind aber nicht schuld daran, dass es
erst heute dazu kommt.


(Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Doch!)


Nach der verfassungsrechtlichen Verankerung der
Schuldenbremse und der Schaffung des Stabilitätsrats
gehen wir mit dem Fiskalpakt den nächsten Schritt hin
zu einer nachhaltigen Haushaltspolitik und zu tragfähi-
gen Staatsfinanzen.

Peer Steinbrück plante im Haushaltsentwurf 2010
noch mit einer Neuverschuldung von über 86 Milliarden
Euro. Der Haushaltsabschluss 2011 unter Finanzminister
Schäuble sah nur noch ein Defizit von 17,3 Milliarden
Euro vor. Selbst unter Berücksichtigung der zwei Raten
an den Euro-Rettungsschirm und der Erhöhung des deut-
schen Kapitalanteils an der Europäischen Investitions-
bank schließt der Haushalt 2012 mit einem Defizit von
22,5 Milliarden Euro ab.

Bereits in diesem Jahr wird der Bund trotz Fälligwer-
dens zweier weiterer ESM-Raten die erst ab 2016 durch
die Schuldenbremse vorgegebene Grenze für die struktu-

relle Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts unterschreiten. Wir sind damit für die
europäische Schuldenregel gut aufgestellt.

Im Zuge der Einführung der Schuldenbremse haben
wir nach sehr intensiven Diskussionen eine Möglichkeit
geschaffen, um eine kreative Gestaltung, nämlich die be-
sonders positive Schätzung von Haushaltsdaten, zusätz-
lich zu verhindern. So haben wir der Gefahr der uner-
laubten Verschuldung durch besonders optimistische
Schätzung der Einnahmen und Ausgaben bei der Haus-
haltsaufstellung ein Kontrollkonto gegenübergestellt, bei
dem sich derartige Schätzfehler rächen, weil diese näm-
lich zeitnah in den nächsten Haushaltsjahren ausgegli-
chen werden müssen.

Damals haben wir nicht ernsthaft damit gerechnet,
dass wir einmal noch besser sein werden, als wir es bei
der sowieso schon ambitionierten Schuldenbremse sein
müssen. Deshalb gibt es bis heute keine befriedigenden
Regelungen, die vorschreiben, was mit positiven Salden
auf diesem Kontrollkonto passieren soll.

Nach unserer Auffassung – ich bin froh, dass die
Haushälter diese Auffassung immer geteilt haben – dür-
fen Positivsalden nicht als Ausgleichsmassen für
schlechtere Haushaltsjahre genutzt werden, um damit
eine höhere Neuverschuldung zu rechtfertigen. Deshalb
danke ich dem Finanzminister und dem Staatssekretär,
dass wir heute mit diesem Gesetz klarstellen, dass der
kumulierte Saldo des Kontrollkontos am Ende des Über-
gangszeitraums, also zum 31. Dezember 2015, gelöscht
wird.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das können wir doch gleich machen!)


– Das können Sie gleich in Ihrer Rede vorschlagen. Hät-
ten Sie seit dem Jahr 2005 den Haushalt ausgeglichen,
dann wären wir ein gutes Stück weiter vorangekommen.


(Johannes Kahrs [SPD]: Wer macht denn Schulden ohne Ende?)


– Herr Kahrs ist wieder da. Darüber freue ich mich.


(Johannes Kahrs [SPD]: Die ganze Zeit, gnädige Frau!)


Dann habe ich wieder einen Gesprächspartner. Er ist
jetzt auch viel leiser als zuvor.

Noch entscheidender sind die Auswirkungen auf die
Kommunen. Während die Länder im Zusammenhang
mit der Schuldenbremse innerhalb Deutschlands nach
außen noch signalisiert haben, dass sie sich für die
Schulden der Kommunen nicht zuständig fühlen, ist das
aufgrund dieses Fiskalvertragsumsetzungsgesetzes end-
lich Geschichte.

Mit § 51 Abs. 2 Satz 1 Haushaltsgrundsätzegesetz
sollen die Länder ganz klar in die Pflicht genommen
werden:

Das strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungs-
defizit von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozial-
versicherungen darf eine Obergrenze von 0,5 Pro-





Antje Tillmann


(A) (C)



(D)(B)


zent des nominalen Bruttoinlandsprodukts nicht
überschreiten.

Das ist eine sehr große Erleichterung für die Kommu-
nen, die seit der Einführung der Schuldenbremse in
Deutschland natürlich befürchten, die Länder könnten
sich auf ihre Kosten entschulden. Hierfür ist Nordrhein-
Westfalen ein gutes Beispiel. Es macht nämlich gar
keinen Sinn, wenn ein Land zwar keine zusätzlichen
Schulden macht, aber gleichzeitig die Schulden der
Kommunen steigen. Genau das ist nicht Sinn unserer
Schuldenbremse.

Dieser Gesetzentwurf bedeutet einen zweiten Quan-
tensprung für die Kommunen, weil sie noch intensiver
als bisher in die Überwachung der Einhaltung der Schul-
denbremse in Deutschland einbezogen werden. Über ei-
nen unabhängigen Beirat des Stabilitätsrats können
Kommunen mitentscheiden. Dieser Beirat tagt öffentlich
und fasst auch Beschlüsse. Diese werden auch im Parla-
ment und in den Unterausschüssen diskutiert, sodass die
Kommunen bei uns ein Ohr finden. Darüber hinaus wer-
den die vom Stabilitätsrat beschlossenen Empfehlungen
an die Landesregierungen weitergeleitet, die dann wie-
derum an die Parlamente weitergeleitet werden.

Die Landtagskollegen hatten sich bereits bei der Ein-
führung der Schuldenbremse darüber beschwert, dass sie
nicht hinreichend einbezogen wurden. Wir werden das
nun verändern. So werden auch die Landtagskollegen
und damit auch die kommunalen Vertreter bei der
Begrenzung der Schulden angehört. Das ist eine weitere
wesentliche Verstärkung der Beteiligung der Kommu-
nen.

Wir haben aber nicht nur die Kommunen im Auge.
Den Bundeshaushalt haben wir Gott sei Dank weitge-
hend saniert. Wir achten auch darauf, dass die Länder
nicht überfordert werden. Denn natürlich stehen die Län-
der durch die Fiskalpaktgrenze vor einer noch größeren
Herausforderung: nicht nur durch die Verschuldung der
Kommunen, sondern auch durch die strengere Schulden-
bremse bis 2020.

Wir haben den Ländern zugesagt, dass wir etwaige
Sanktionen der Europäischen Kommission komplett tra-
gen, obwohl sie nach unserer Verfassung anteilig von
Bund und Ländern zu tragen wären. Darüber hinaus
überweisen wir regelmäßig Geld an die Länder für Auf-
gaben, für die wir gar nicht zuständig sind. Wir haben in-
tensiv das Thema Kitaausbau besprochen. Neben den
4 Milliarden Euro, die wir sowieso schon zur Verfügung
gestellt haben, kommen heute noch einmal 580,5 Millio-
nen dazu. Wir haben für die Kommunen die Kosten für
die Grundsicherung in Höhe von 18,5 Milliarden Euro
übernommen. Wir haben in dieser Woche sichergestellt,
dass auch 2014 mehrere Milliarden Euro Entflechtungs-
mittel an die Länder fließen, und zwar für Aufgaben, die
eigentlich Ländersache sind. Aus unserer Sicht gibt es
überhaupt keinen Grund mehr – weder für die Opposi-
tion noch für die Vertreterinnen und Vertreter des Bun-
desrates – diesem Entwurf eines Gesetzes zur Umset-
zung des Fiskalpakts nicht zuzustimmen.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)


Wir sind in Europa sowieso schon spät dran, was ich
mittlerweile peinlich finde. Es gibt für Sie keinen Grund,
sich wieder aus der Verantwortung zu stehlen. Hören Sie
mit dem Pokern um noch mehr Bundesgelder auf; denn
ausschließlich darum geht es Ihnen ja. Sie sehen zu, wo
Sie vom Bund noch mehr Geld für die Länder bekom-
men können. Hören Sie auf damit, und kommen Sie end-
lich Ihrer Verantwortung nach, die Sie gegenüber der
Europäischen Union eingegangen sind! Ich fordere Sie
auf, unserem Gesetzentwurf endlich zuzustimmen,


(Lachen der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] und Johannes Kahrs [SPD])


damit wir unseren Verpflichtungen gerecht werden.

Ich danke Ihnen. Ich freue mich, dass meine Rede zu
so viel Erheiterung geführt hat.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)



Dr. Hermann Otto Solms (FDP):
Rede ID: ID1721730200

Das Wort hat nun Carsten Schneider für die SPD-

Fraktion.


(Beifall bei der SPD)



Carsten Schneider (SPD):
Rede ID: ID1721730300

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir haben

schon einmal über diesen Entwurf eines Gesetzes zur
Umsetzung des Fiskalvertrags diskutiert. Es wurden
auch Anhörungen im Haushaltsausschuss dazu durchge-
führt. Im Bundesrat gab es keine Einigung, weswegen
Sie den Gesetzentwurf heute erneut einbringen.

Wir als SPD-Fraktion haben eine klare Haltung: Wir
wollen keine Schulden.


(Ralph Brinkhaus [CDU/CSU]: Wie in Nordrhein-Westfalen! – Bartholomäus Kalb [CDU/ CSU]: So wie in Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg!)


– Jetzt warten Sie einmal! Ich bin doch noch gar nicht
fertig, ganz ruhig. – So wie wir die nationale Schulden-
regel in Deutschland 2009 hier im Deutschen Bundestag
beschlossen haben, wollen wir auch den europäischen
Fiskalvertrag goutieren und implementieren.

Was bedeutet das? Durch den Fiskalvertrag wird die
Schuldenregel in die nationalen Gesetze in Europa auf-
genommen, ob nun in Athen, in Madrid – oder in Bruns-
büttel.


(Heiterkeit der Abg. Priska Hinz [Herborn] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Das bedeutet aber nicht, dass deren Einhaltung kontrol-
liert wird. Das ist ein großer Fehler. Warum kann die
Einhaltung nicht im Rahmen des Fiskalvertrages kon-
trolliert werden? Sie kann nicht kontrolliert werden, weil
es nicht um europäisches Sekundärrecht geht, sondern
um einen zwischenstaatlichen Vertrag. Das ist der grund-





Carsten Schneider (Erfurt)



(A) (C)



(D)(B)


sätzliche Fehler, den die Regierung – vorneweg Frau
Merkel – gemacht hat. Es ist nicht gelungen, eine ein-
heitliche Regelung zu schaffen. Das europäische Recht
ist ein Flickenteppich. Das trägt nicht zu Glaubwürdig-
keit und Transparenz bei.

Nun zu Deutschland. Wir als SPD-Fraktion haben im
Zuge der letzten Beschlussfassung gemeinsam mit den
Grünen – bei den Linken bin ich mir nicht mehr ganz si-
cher – einen Änderungsantrag eingebracht. Wir haben
auch eine Anhörung dazu durchgeführt. Ich möchte das
hier und heute im Deutschen Bundestag noch einmal
aufgreifen. Es geht um die Frage: Welche Rolle spielt
das Parlament, der Deutsche Bundestag, eigentlich bei
der Kontrolle der nationalen Haushalte, sowohl ange-
sichts der zunehmenden europäischen Vernetzung als
auch angesichts der stärkeren Gouvernementalisierung?
Das bedeutet, dass immer mehr Aufgaben auf die Regie-
rung ausgelagert werden, ohne dass die Parlamente – so-
wohl was die Personalausstattung als auch die eigenen
Rechte betrifft – in der Lage sind, ihrer Haushaltsverant-
wortung gerecht zu werden.

Das Ergebnis der Anhörung war so eindeutig, wie ich
es noch nie erlebt habe. In diesem speziellen Punkt, in
der Frage, ob es ein unabhängiges Gremium gibt, das die
Finanzpolitik der Regierung auswertet, ihr keine Emp-
fehlungen gibt, aber ihre Politik bewertet, waren alle
Sachverständigen, auch die von der Union berufenen,
eindeutig der Auffassung, dass das, was vorgelegt
wurde, nicht ausreichend ist.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Sie implementieren ein
von der Kommission gefordertes unabhängiges Gre-
mium mit neun Mitgliedern, von denen sechs einer Par-
tei angehören und daher bestimmte Interessen verfolgen,
also mehr oder weniger weisungsgebundene Beamte
sind. Im Endeffekt sind es die Finanzminister selbst, die
über Strafzahlungen oder andere Interventionen ent-
scheiden. Letztendlich bleiben wir mit dieser Vereinba-
rung weit hinter den europäischen Vereinbarungen zu-
rück, die wir mit dem Six-Pack korrigiert haben. Das ist
ein Rückschritt. So wird die Finanzpolitik nicht glaub-
würdig. Auf dieser Basis kann das Parlament nicht ver-
nünftig im Bundestag diskutieren. So kann das Parla-
ment keine Auswertung vornehmen und keine Alterna-
tiven aufzeigen. Deshalb wäre es im Interesse des Haus-
haltsausschusses und des gesamten Parlaments klug, so
meine ich, diese Chance zu nutzen und im Gesetzge-
bungsverfahren auf die Vorschläge der Sachverständigen
einzugehen.

Es wäre klug, dem Bundestag die notwendigen Mittel
an die Hand zu geben,


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Du wolltest doch keine Schulden machen!)


damit wir über die Finanzpolitik – schließlich tragen wir
die Hauptverantwortung für die Budgetpolitik – disku-
tieren können, damit wir auf einer breiten, fundierten
Grundlage eine öffentliche Diskussion führen können.
Ich glaube, das wäre in unserem eigenen Interesse. Ich
hoffe, dass es uns gelingt, dies zu implementieren.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721730400

Das Wort hat nun Florian Toncar für die FDP-Frak-

tion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. Florian Toncar (FDP):
Rede ID: ID1721730500

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!

Eine der wichtigsten Reformen in Deutschland in den
letzten Jahren war die Schuldenbremse, die wir 2009 in
das Grundgesetz eingefügt haben. Das war mitten in der
Krise mutig. Ich glaube, das ist nicht nur Anlass, stolz
auf unser Land zu sein, sondern durchaus auch Anlass,
stolz auf das politische System in Deutschland zu sein,
das zumindest früher als viele andere erkannt hat, dass
zu viele Schulden eine Gefahr für Staaten, für Gesell-
schaften darstellen können. Wir können stolz darauf
sein, dass Deutschland sich früher als andere Länder da-
für entschieden hat, etwas dagegen zu tun.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Wir haben in der Bundesregierung und der Koalition
seit 2010 gewaltige Anstrengungen unternommen, um
den Haushalt zu konsolidieren.


(Johannes Kahrs [SPD]: Na ja!)


In der Krise stand eher das Geldausgeben im Vorder-
grund. Ich will das gar nicht kritisieren; aber es sind da-
mals immerhin 80 Milliarden Euro für Konjunkturpro-
gramme ausgegeben worden. Viele dieser Ausgaben
waren durchaus richtig; aber trotzdem mussten wir das
Geld in den Folgejahren wieder einsammeln, wieder ein-
sparen. Wir mussten die Haushalte wieder konsolidieren.
Wenn man fragt, was die eigentliche politische Leistung
ist, dann muss man sagen – für mich jedenfalls ist das
so –, dass Einsparen immer schwerer ist als Ausgeben.
Einsparen ist die eigentliche Leistung. Die haben wir er-
bracht.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das Ergebnis ist, dass wir bereits im abgelaufenen
Jahr 2012 die Zielmarke der Schuldenbremse in Deutsch-
land eingehalten haben: 0,32 Prozent Neuverschuldung
beim Bund. Dieses Ziel haben wir vier Jahre früher er-
reicht, als das Grundgesetz es von uns verlangt. Darauf
sind wir stolz. Ich glaube, vor drei, vier Jahren hätte es
niemand für möglich gehalten, dass wir das bereits im
Jahr 2012 erreichen würden. Das ist erfreulich. Das ist
eine gute Nachricht, auch für die Bürgerinnen und Bür-
ger in Deutschland.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Das haben wir geschafft, obwohl wir neue und gute
Schwerpunkte gesetzt haben – im Bereich Bildung und
Forschung beispielsweise haben wir 12 Milliarden Euro





Dr. Florian Toncar


(A) (C)



(D)(B)


mehr ausgegeben –, obwohl wir die Kommunen um an-
nähernd 20 Milliarden Euro entlastet haben und obwohl
wir mit dem ESM infolge der Staatsschuldenkrise eine
Verpflichtung übernommen haben, die uns bisher
17 Milliarden Euro gekostet hat. Trotz dieser ganzen
Sonderbelastungen haben wir es geschafft, den Haushalt
weitgehend zu konsolidieren. Jedenfalls sind wir auf ei-
nem sehr guten Weg.

Das Volumen, um das wir die Neuverschuldung
schneller gesenkt haben, als es das Grundgesetz von uns
verlangt, wurde auf einem sogenannten Kontrollkonto
gebucht. Auf dieses Konto wird kein Geld eingezahlt,
aber dort wird gebucht: Wenn man weniger Schulden ge-
macht hat, als erlaubt, darf man in den folgenden Jahren
etwas mehr Schulden machen. – Ein Vorwurf der Oppo-
sition lautete immer – ich habe das für eine Verschwö-
rungstheorie gehalten; aber ich erinnere mich gut, Kol-
lege Schneider, dass auch Sie das hier gesagt haben –:
Sie beschreiten diesen Abbaupfad, um sich eine Kriegs-
kasse für das Wahljahr 2013 anzulegen. 2013 werden Sie
dieses Kontrollkonto nutzen. Dann wird noch einmal
richtig Geld ausgegeben. Dann werden Sie mehr Schul-
den machen, um Wahlprogramme finanzieren zu kön-
nen. – Sie müssen jetzt, 2013, feststellen: Die Ausgaben
sind konstant. Wenn dieser Gesetzentwurf nach der Be-
ratung im Ausschuss vom Plenum beschlossen wird,
dann wird das Kontrollkonto, das Sie für unsere Wahl-
kampfkasse gehalten haben, gelöscht. 2016 beginnt das
Ganze wieder von vorne; dann beginnt man wieder bei
null. Das ist eine sinnvolle Regelung. Das zeigt aber
auch, dass Verschwörungstheorien oft einfach nur Ver-
schwörungstheorien sind und eben nicht richtig.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Bettina Hagedorn [SPD]: Betreuungsgeld!)


Mit dem Fiskalpakt haben wir es geschafft, diese
Politik der Konsolidierung, der finanziellen Stabilität auf
Europa zu übertragen. Lange galt eine Neuverschul-
dungsgrenze von 3 Prozent in Europa. Das wurde mit
dem Maastricht-Vertrag festgelegt, den Sie maßgeblich
mit ausgehöhlt haben, den Sie mit kaputtgemacht haben,
als Sie regiert haben. Das musste repariert werden. Wir
sind das angegangen. Das Wort „Fiskalpakt“ ist letzten
Endes nur ein Begriff dafür, dass es uns, dieser Regie-
rung, zusammen mit unseren europäischen Partnern ge-
lungen ist, die Fehlentscheidungen von damals zu korri-
gieren und in Europa wieder strenge Regeln gegen
Verschuldung einzuführen, damit Staaten nicht wieder in
die Situation kommen, in der sich einige Länder Europas
zurzeit befinden. Wir haben das übertragen. Dieser Fis-
kalpakt ist ein großer europapolitischer Erfolg der Bun-
desregierung. Er enthält strenge Regeln, klare Sanktio-
nen und auch ein Bekenntnis zum Abbau der bestehenden
Verschuldung.

Das wird jetzt mit diesem Gesetz – zumindest teil-
weise – ins deutsche Recht umgesetzt, sofern das erfor-
derlich ist. Im Haushaltsgrundsätzegesetz wird noch ein-
mal klargestellt, dass neben der Schuldenobergrenze von
0,35 Prozent die etwas anders berechnete Grenze nach
dem Fiskalpakt gilt, nämlich 0,5 Prozent. Der soge-

nannte Stabilitätsrat überwacht die Einhaltung des Fis-
kalpakts, damit das transparent und unabhängig ge-
schieht.

Ein besonders wichtiger Punkt sind die Strafzahlun-
gen der Länder. Der Bund hat sich im Rahmen eines
Kompromisses – um einen für Deutschland und Europa
elementar wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung,
nämlich den Fiskalpakt, zu retten – auch den Ländern
gegenüber verpflichtet, deren Strafzahlungen mit zu
übernehmen, wenn sie dazu beitragen, dass Deutschland
gegen den Fiskalpakt verstößt. Das war meines Erach-
tens eine sehr großzügige Geste des Bundes, mit der er
noch einmal gezeigt hat, dass ihm außenpolitische und
europapolitische Interessen sowie finanzielle Stabilität
wichtiger sind als das Klein-Klein um Zuständigkeiten
in unserem Föderalismus. Dafür muss man denen, die
das verhandelt haben, ein Kompliment machen. Wenn
der Fiskalpakt daran gescheitert wäre, wäre das für
Deutschland und Europa unverantwortlich gewesen.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)


Ich fasse zusammen: Europa denkt um – solide Finan-
zen statt Strohfeuer, ausgeglichene Haushalte als Ziel für
alle. Das ist ein Beitrag zur Lösung dieser Krise und
auch ein Beitrag für eine stabile Währungsunion in der
Zukunft. Mit dem heutigen Gesetz sorgt auch Deutsch-
land für noch mehr finanzielle Solidität, von Berchtesga-
den bis Brunsbüttel.


(Beifall bei der FDP und der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721730600

Der Kollege Roland Claus hat seine Rede zu Proto-

koll gegeben.1) – Damit sind wir wieder bei Priska Hinz
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.

Priska Hinz (Herborn) (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Frau
Tillmann, ich kann gleich aufklären, warum ich mich
über Ihre Rede gefreut habe. Ich finde es nämlich lustig,
dass wir hier zum zweiten Mal innerhalb eines Monats
ein Gesetz, dem auch wir zugestimmt haben, lesen und
Sie uns nun auffordern, diesem Gesetz doch endlich die
Zustimmung zu geben. Sie halten uns hier erst einen
Grundsatzvortrag, als wüssten wir gar nicht, worum es
geht. Dann fordern Sie uns auf, einem Gesetz zuzustim-
men, das Sie im Bundesrat versenkt haben, weil die Bun-
desregierung nicht in der Lage war, ihre Vereinbarung
mit den Ländern einzuhalten. Es ist Ihr handwerklicher
Fehler, dass wir dieses Gesetz hier noch einmal lesen
müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Es würde noch nicht einmal in Brunsbüttel vorkommen,
dass man etwas einbringt, es dann aufgrund handwerkli-
cher Fehler versenkt und hinterher die Opposition auf-
fordert, sie solle doch, bitte schön, alles reparieren und

1) Anlage 9





Priska Hinz (Herborn)



(A) (C)



(D)(B)


über das Ganze dann im Gleichschritt noch einmal mit
abstimmen.

Ich komme zu meinem Kollegen Toncar, den ich ei-
gentlich sehr schätze.


(Otto Fricke [FDP]: Aber?)


Aber auch bei ihm habe ich mich ein wenig gewundert.
Ich habe mich gewundert, dass Sie hier am späten Abend
so aufs Klötzchen hauen und erstens so tun, als hätten
Sie die Schuldenbremse erfunden bzw. eingeführt. So-
weit ich mich erinnere, hat die FDP damals auch nicht
zugestimmt.


(Johannes Kahrs [SPD]: Stimmt!)


Zweitens tun Sie so, als hätten Sie mit Schuldenmachen
nichts zu tun. Die wahren Schuldenkönige und -königin-
nen in diesem Land sind die Liberalen und CDU/CSU.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD sowie des Abg. Richard Pitterle [DIE LINKE] – Lachen bei der CDU/ CSU und der FDP)


Wir haben, gesamtstaatlich gesehen, über 2 Billionen
Euro Schulden. Allein unter der Kanzlerschaft Merkel
sind die Schulden um 500 Milliarden Euro gewachsen.

Aber Sie stellen sich hier hin und sagen: Jetzt endlich
werden mit diesem Gesetz die Schulden abgebaut. – Das
Gegenteil ist der Fall: Auch in diesem Jahr ist die Netto-
kreditaufnahme viel zu hoch. Es ist zu befürchten, dass
die Nettokreditaufnahme, wenn die Konjunktur lahmt,
noch höher wird als geplant.


(Bettina Hagedorn [SPD]: So ist es!)


Jetzt will ich darauf zu sprechen kommen, warum wir
dieses Gesetz zum zweiten Mal lesen. Wir wurden ge-
hetzt. Uns wurde gesagt, es müsse im Dezember gleich
nach unserer Anhörung beschlossen werden, obwohl
klar war, dass wir eigentlich eine bessere parlamentari-
sche Beteiligung beim Prozess der Umsetzung brauchen,
dass wir eine Art Budget Office brauchen. Danach ging
die Bundesregierung mit dem beschlossenen Gesetz in
den Bundesrat. Dort stellte sich heraus, dass das Ent-
flechtungsgesetz, das die Bundesregierung den Ländern
im Oktober letzten Jahres zugesagt hatte, schlicht und
einfach nicht vorhanden war. Darüber war noch nicht
einmal im Kabinett entschieden. Trotzdem wundern Sie
sich, dass die Länder das Gesetz haben durchfallen las-
sen.

Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Sie haben dieses
Thema heute weiträumig umschifft. Deswegen bringe
ich es hier so klar zur Sprache. Sie halten Grundsatz-
reden und sprechen darüber, dass alle anderen Schulden
machen, nur nicht Sie. Es geht aber darum, dass Sie das
Gesetz im Bundesrat versenkt haben und jetzt nachbes-
sern müssen.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)


Erstaunlich ist, dass Sie das Umsetzungsgesetz jetzt
einbringen, das Entflechtungsgesetz aber immer noch
nicht vorliegt. Es soll erst im Februar oder März in den

Bundestag kommen und im Mai verabschiedet werden.
Ich bin gespannt, ob sich die Länder darauf einlassen
oder ob Sie es schon wieder versenken, weil Sie seit Ok-
tober nicht in der Lage waren, ein Entflechtungsgesetz
vorzulegen, zumindest mit der Krücke „Weiterfinanzie-
rung bis 2014“; eigentlich müsste es bis 2019 finanziert
werden. Sie schaffen es noch nicht einmal, dies zeit-
gleich mit dem zweiten Gesetzgebungsverfahren zum
Entwurf eines Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung
des Fiskalvertrags einzubringen. So eine dilettantische
Regierung und so eine dilettantische Koalition hat dieses
Land nicht verdient.


(Johannes Kahrs [SPD]: Abwählen!)


Auch an diesem Punkt zeigt sich wieder: Wir brauchen
eine neue Regierung.


(Michaela Noll [CDU/CSU]: Nein!)


Wir sind bereit, diese zu übernehmen, damit so etwas
künftig nicht mehr passiert.

Danke schön.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der SPD)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721730700

Das Wort hat nun Bartholomäus Kalb.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1721730800

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich

habe den Eindruck: Brunsbüttel ist hier noch nie so zur
Geltung gekommen wie in dieser Debatte. Deshalb grü-
ßen wir die Bürgerinnen und Bürger von Brunsbüttel
sehr herzlich


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


und natürlich auch die Mitarbeiter der Wasser- und
Schifffahrtsverwaltung, zum Beispiel die Schleusenwär-
ter, all das Personal, das sich heute Abend noch mit Pro-
blemen herumschlagen muss. Herzliche Grüße!

Ich hoffe, dass die finanziellen Schleusen nicht wie-
der von der Opposition geöffnet werden, sondern dass
wir die Schleusen schließen,


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


damit die finanzpolitische Stabilität gewährleistet bleibt.
Mittlerweile hat sich ja nicht nur bei uns im Land, bei
unseren Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch in ganz
Europa und zum Teil weltweit die Erkenntnis durchge-
setzt, dass nachhaltige Haushaltspolitik, also Haushalts-
konsolidierung und finanzielle Disziplin, die Grund-
voraussetzung dafür ist, dass in einem Land, in einer
Region, auf einem Kontinent Finanzstabilität gewähr-
leistet werden kann, dass Wohlstand gewährleistet wer-
den kann, dass die Beschäftigung auf ein hohes Niveau
gebracht werden kann und damit letztlich auch die so-
ziale Sicherheit garantiert werden kann. Das sind ganz
hohe Güter, für die es sich lohnt, sich einzusetzen.





Bartholomäus Kalb


(A) (C)



(D)(B)


Deutschland ist hier, wie ich meine, mit gutem Bei-
spiel vorangegangen. Deutschland hat viele Diskussio-
nen und Beschlüsse auf europäischer Ebene und im Be-
reich der G 20 angestoßen und vorangebracht. Wir
haben uns damit nicht nur Freunde gemacht; aber in der
Zwischenzeit hat sich diese Erkenntnis allgemein durch-
gesetzt.

Carsten Schneider hat vorhin gesagt,


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Das war richtig!)


dass wir darin übereinstimmen, dass wir keine Schulden
wollen.


(Bettina Hagedorn [SPD]: Ja!)


Aber rufen wir uns einmal die Debatte von heute Mor-
gen in Erinnerung.


(Carsten Schneider [Erfurt] [SPD]: Welche?)


Dort habe ich gehört, wie sich der Finanzminister von
Nordrhein-Westfalen dazu eingelassen hat. Wenn ich mir
auch noch vor Augen halte, Kollege Norbert Barthle,
was die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg ver-
anstaltet, dann stelle ich fest: Das ist alles andere als das,
was Carsten Schneider hier zum Ziel erklärt.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Haus-
haltsabschluss, den wir in diesen Tagen vom Bundes-
finanzministerium bekommen haben, zeigt, dass wir auf
genau dem richtigen Weg sind. Wir konnten den Haus-
halt 2012 mit einem noch besseren Ergebnis abschlie-
ßen, als in den Planungen vorgesehen war. Wenn man
um 5 Milliarden Euro besser abschneidet, als erwartet,
ist das zumindest eine Erwähnung wert. Wenn man eine
niedrigere strukturelle Neuverschuldung ausweisen
kann, als vorgesehen, dann ist auch das eine besondere
Erwähnung wert.

Es muss betont werden – die Kollegin Tillmann hat
das schon erwähnt –, dass wir die Vorgaben der Schul-
denbremse viel schneller werden einhalten können. Das
schaffen wir bereits 2013, also drei Jahre früher als ge-
plant. Dazu waren große Anstrengungen erforderlich.
Insgesamt ist das natürlich sehr gut, nicht nur für unsere
Haushalte, sondern auch im Hinblick auf die Stabilität
der Finanzmärkte in Deutschland und Europa. Die ge-
wisse Beruhigung, die wir derzeit feststellen können, hat
sicherlich auch damit zu tun, dass die Finanzmärkte zur
Kenntnis nehmen, dass die Situation in Deutschland und,
von Deutschland ausgehend, in Europa besser ist, als
bisher zu vermuten war. Ganz offensichtlich werden von
den Finanzmärkten die Probleme in den USA und in an-
deren Regionen der Welt wieder stärker zur Kenntnis ge-
nommen.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Kollegin Tillmann hat vorhin darauf hingewiesen,
dass dieser Gesetzentwurf auch vorsieht, dass das soge-
nannte Kontrollkonto zum 31. Dezember 2015 gelöscht
wird. Das heißt, dann gibt es keine – wenn auch verfas-

sungsrechtlich zulässige – heimliche Möglichkeit mehr,
eine höhere Verschuldung einzugehen. Auch das unter-
streicht, dass wir es sehr ernst meinen.

Die Kollegin Tillmann und der Kollege Toncar haben
darauf hingewiesen, dass wir den Ländern sehr weit ent-
gegengekommen sind und ihnen sehr viel Hilfestellung ge-
geben haben, sodass sie jetzt in der Lage sind, die Vorgaben
des Fiskalpaktes innerstaatlich umzusetzen. Erwähnt wur-
den auch andere Maßnahmen: vom Kinderbetreuungsan-
gebot über das Entflechtungsgesetz, den Hochschulpakt,
die Grundsicherung bis hin zu der In-Aussicht-Stellung,
dass wir im Rahmen des Bundesleistungsgesetzes, also
für die Behinderten in dieser Republik, noch mehr tun
wollen.

Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir haben
seit 2008 die richtigen Maßnahmen zur Bewältigung der
Finanz- und Wirtschaftskrise ergriffen. Dadurch sind
auch für die Länder und die Kommunen Windfall Profits
angefallen,


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Nicht nur diese!)


die es ihnen erlauben, ihre Haushalte schneller zu konso-
lidieren – Gott sei Dank. Allerdings muss in diesem
Hause auch gesagt werden: Die Lasten hat hauptsächlich
– sogar fast alleine – der Bund getragen.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: So ist es!)


Das Statistische Bundesamt hat letzte Woche Zahlen
veröffentlicht. Bei der Zahl der erwerbstätigen Personen
in Deutschland ist der Höchststand in der gesamten
Nachkriegsgeschichte zu verzeichnen;


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


das muss erwähnt werden, und darüber sollten wir uns
freuen. Außerdem hat die Zahl sozialversicherungs-
pflichtig Beschäftigter einen Höchststand erreicht. Das
ist ein Garant dafür, dass die Situation unserer Sozialkas-
sen, wie heute in einer anderen Debatte bereits erwähnt
wurde, besser ist, als wir es noch vor ein, zwei Jahren
befürchten mussten.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Richtig!)


Letztlich sind all das Umstände, über die wir uns
freuen sollten. Denn dadurch werden die Menschen in
die Lage versetzt, aus eigener Kraft und durch eigene
Anstrengung ein Einkommen zu erzielen und für sich
und ihre Familien ein Auskommen zu sichern. Ich
denke, das ist etwas, worüber man sich freuen kann und
darf, auch wenn die Zeit heute Abend schon etwas fort-
geschritten ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721730900

Herr Kollege, Sie sollten mit dieser Freude zum

Schluss kommen.


Bartholomäus Kalb (CSU):
Rede ID: ID1721731000

Damit darf ich, Herr Präsident, zum Schluss kommen.

Ich wünsche Ihnen, wenn das erlaubt ist zu dieser späten





Bartholomäus Kalb


(A) (C)



(D)(B)


Stunde, dass es mit diesen schwäbischen Wecken keine
weiteren Probleme mehr gibt,


(Beifall des Abg. Norbert Barthle [CDU/ CSU])


dass sie wohlschmeckend sind, auch in Berlin.

Herzlichen Dank und einen schönen Abend.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721731100

Das Wort hat nun Johannes Kahrs für die SPD-Frak-

tion.


Johannes Kahrs (SPD):
Rede ID: ID1721731200

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und

Kollegen! Wir haben hier eine Debatte gehört, die mit
dem eigentlichen Thema nicht mehr viel zu tun hatte.
Aber ich möchte an den Kollegen Kalb anschließen: Es
ist leider so, dass CDU/CSU und FDP dem Thema
Brunsbüttel nie genug Bedeutung zugewiesen haben.
Das sieht man daran, dass, obwohl der Haushaltsaus-
schuss das Geld für den Bau der fünften Schleuse bewil-
ligt hat, noch immer kein einziger Bagger rollt. Das ist
tragisch.


(Norbert Barthle [CDU/CSU]: Wenn die Brunsbütteler das nicht können – wie die Berliner –, sind wir doch nicht schuld daran! Wir haben das Geld zur Verfügung gestellt!)


Wenden wir uns jetzt wieder der Sachebene zu. Im
Kern ist es doch so, dass Sie hier sagen: Der Haushalt ist
saniert, die wirtschaftliche Lage ist gut, die Koalition hat
etwas geleistet.


(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Otto Fricke [FDP])


Dass das nicht richtig ist, weiß jeder. Sie alle kennen den
schönen Spruch: Getretener Quark wird breit, nicht
stark.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Eines von zwei Sprichworten, die Sie immer wieder benutzen!)


So ist das mit der Lobhudelei, die Sie ständig betreiben.

Warum ist die Lage denn gut? Das ist doch ganz ein-
fach: Rot-Grün hat unter Gerhard Schröder Reformen
durchgesetzt, die dieses Land nach vorne gebracht ha-
ben.


(Zuruf von der CDU/CSU: Alte Kamellen! – Weitere Zurufe von der CDU/CSU und der FDP)


Rot-Grün hat es geschafft, etwas durchzusetzen, was der
FDP noch nie durchzusetzen gelungen ist: eine anstän-
dige Steuerreform.


(Zurufe von der CDU/CSU und der FDP: Oh!)


Rot-Grün hat es geschafft, Sozialreformen durchzuset-
zen, von denen wir heute noch profitieren.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Und von denen ihr gar nichts mehr wissen wollt!)


CDU/CSU und FDP haben so etwas in den letzten Jah-
ren nicht geschafft. Sie sollten sich alle bei Rot-Grün,
bei Gerhard Schröder bedanken;


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


denn Sie kassieren die Windfall Profits, Sie profitieren
von den Entscheidungen, die damals getroffen worden
sind.


(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Haben Sie schon einmal eine Umfrage gemacht, wer das in Ihrer Fraktion auch so sieht?)


Wir werden in vier, fünf oder sechs Jahren das Problem
haben, dass das, was Sie alles nicht geschafft haben, uns
auf die Füße fällt. Deswegen sollten Sie sich einmal be-
sinnen, wem Sie die gute Lage verdanken, und sich be-
danken. Gerhard Schröder wird sich bestimmt freuen.

Frau Tillmann hat in der Debatte gesagt, dass Sie da-
rauf achten, dass die Länder nicht überfordert werden.


(Beifall des Abg. Wolfgang Börnsen [Bönstrup] [CDU/CSU])


Diese Aussage muss Science-Fiction sein; denn selbst
die von Ihnen regierten Länder haben das überhaupt
nicht so gesehen. Beim Thema Entflechtungsmittel ver-
dienen Sie eine Fünf minus. Sie haben die Gewährung
um ein Jahr verlängert. Das Entflechtungsgesetz, auf das
die Länder warten, liegt bis heute nicht vor. Die Kollegin
Priska Hinz hat wunderbar dargestellt, was Sie nicht ge-
backen bekommen haben.

Im Bereich der Kinderbetreuung geben Sie die Mittel
für dieses unsinnige Betreuungsgeld aus. Deswegen gibt
es nicht genug Kitaplätze, deswegen haben Sie die Pro-
bleme.


(Lachen bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Deswegen haben die Länder Probleme, den Rechtsan-
spruch umzusetzen. Das sollten Sie irgendwann einmal
zur Kenntnis nehmen!


(Beifall bei Abgeordneten der SPD)


Ich glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist; aber das
werden auch Sie noch merken.

Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Die Länder
wollten Bund-Länder-Anleihen. Es wurde lange darüber
geredet und verhandelt. Sie haben die Länder dann hin-
ter die Fichte geführt. Sie haben nicht getan, was abge-
sprochen war, Sie haben keine Anleihe gemacht, bei der
sich der Bund das Geld leiht und es an die Länder wei-
tergibt. Entsprechend sind die Ergebnisse; deswegen
springen die Länder alle ab.


(Otto Fricke [FDP]: Die Länder sagen: Wir wollen mehr Geld!)


Wundern Sie sich nicht, wenn Sie mit diesem Entwurf
eines Gesetzes zur Umsetzung des Fiskalvertrages wie-
der in den Bundesrat gehen und die Länder Ihnen vor-





Johannes Kahrs


(A) (C)



(D)(B)


werfen: Sie haben uns alleingelassen; wir sind nicht ge-
fördert worden. – Frau Tillmann hat unrecht; denn die
Länder werden hier überfordert. Deswegen kann es gut
sein, dass Sie im Bundesrat wieder Probleme bekommen.
Dann dürfen Sie sich aber nicht bei uns beschweren, son-
dern müssen in den Spiegel schauen und – nachdem Sie
Gerhard Schröder gedankt haben – sich schämen.

Vielen Dank.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN – Zurufe von der CDU/CSU: Oh!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721731300

Ich schließe die Aussprache.

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-
fes auf Drucksache 17/12058 an die in der Tagesordnung
aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazu
anderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dann
ist die Überweisung so beschlossen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Michael
Gerdes, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Starke Forschung für die Energiewende

– Drucksache 17/11201 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss
Federführung strittig

b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Sylvia
Kotting-Uhl, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Energieforschung konsequent am Atomaus-
stiegsbeschluss des Deutschen Bundestages
ausrichten

– Drucksache 17/11688 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie (f)

Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung (f)

Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss
Federführung strittig

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
diesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –
Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/11201 und 17/11688 an die in der
Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.
Die Federführungen sind jedoch strittig.

Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschen
Federführung jeweils beim Ausschuss für Wirtschaft
und Technologie. Die Fraktionen von SPD und Bündnis
90/Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschuss
für Bildung und Forschung.

Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Fe-
derführung beim Ausschuss für Bildung und Forschung –
abstimmen. Wer stimmt für diese Überweisungsvor-
schläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
beiden Überweisungsvorschläge sind mit den Stimmen
der Regierungsfraktionen und der Linken gegen die
Stimmen von SPD und Grünen abgelehnt.

Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge der
Fraktionen von CDU/CSU und FDP – Federführung
beim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – ab-
stimmen. Wer stimmt für diese Überweisungsvor-
schläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
beiden Überweisungsvorschläge sind mit den Stimmen
der Regierungsfraktionen und der Linken gegen die
Stimmen der beiden anderen Fraktionen angenommen.

Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Kultur und Medien

(22. Ausschuss)


zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-
ropäischen Parlaments und des Rates zur Ein-
richtung des Programms Kreatives Europa
KOM(2011) 785 endg.; Ratsdok. 17186/11

hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-
gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grund-
gesetzes

– Drucksachen 17/8227 Nr. A.51, 17/11107 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Christoph Poland
Siegmund Ehrmann
Reiner Deutschmann
Dr. Lukrezia Jochimsen
Agnes Krumwiede

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einver-
standen.2)

Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschluss-
empfehlung auf Drucksache 17/11107, in Kenntnis der
Unterrichtung eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 2
des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-

1) Anlage 10 2) Anlage 11





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


men der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stim-
men der Oppositionsfraktionen angenommen.

Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:

a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Legalisierung von Cannabis durch Einfüh-
rung von Cannabisklubs

– Drucksachen 17/7196, 17/11556 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Angelika Graf (Rosenheim)


b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Katrin Göring-
Eckardt, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Gesundheitliche Risiken des Drogengebrauchs
verringern – Drugchecking ermöglichen

– Drucksachen 17/2050, 17/11911 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Karin Maag

Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlos-
sen.

Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort der
Kollegin Christine Aschenberg-Dugnus von der FDP-
Fraktion.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Christine Aschenberg-Dugnus (FDP):
Rede ID: ID1721731400

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Cannabis

ist und bleibt eine gefährliche Droge, die gravierende
Schäden verursachen kann.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Studien zeigen, dass Cannabiskonsum und -missbrauch
zu erheblichen geistigen Störungen führt.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wie Alkohol!)


Die Herausgeber der Zeitschrift SUCHT betonen
– Heft 3 aus Juni 2011 –, dass die gesundheitlichen Pro-
bleme, die sich aus Cannabismissbrauch ergeben, weder
verschwinden noch abnehmend sind. Für Verharmlosung
ist an dieser Stelle also überhaupt kein Raum.


(Beifall bei Abgeordneten der FDP)


Ganz im Gegenteil: Die Zahl der Behandlungssuchenden
wegen cannabisbezogener Störungen steigt weiterhin an.

Eine Langzeitstudie an der Duke University in Dur-
ham in North Carolina hat nachgewiesen, dass Canna-
biskonsum das zentrale Nervensystem unwiderruflich
schädigen und den IQ senken kann. Cannabiskonsum ist
also schädlich für das Gehirn und kann unter anderem zu
Schizophrenie führen.

Sehr erschreckend ist auch – das hat diese Studie er-
geben –, dass besonders der frühe Cannabiskonsum
schwerwiegende Folgen hat. Denn offenbar – so die Au-
toren der Studie – nimmt der IQ umso stärker ab, je frü-
her die Menschen beginnen, Cannabis zu konsumieren.
Man hat festgestellt, dass sich bestimmte Areale des Ge-
hirns von Dauerkonsumenten deutlich und irreversibel
verschlechtert haben. Darüber hinaus zeigten die Unter-
suchungen, dass Langzeitkiffer Erinnerungsprobleme
haben und sich auch schlechter konzentrieren können.

Als Gegenargument wird nun oft angeführt, man
wolle doch nur den Gelegenheitskonsum entkriminali-
sieren. Das funktioniert aber nicht. Denn insbesondere
Jugendliche laufen Gefahr, zu dauerhaften Konsumenten
zu werden, je früher sie in Kontakt mit der Droge kom-
men, auch wenn das nur gelegentlich passiert.

Eine Cannabislegalisierung hätte also gesundheitliche
und psychosoziale Folgen, die aus meiner Sicht nicht
hinnehmbar sind.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Denn, wie gesagt, das Gehirn der Jugendlichen ist offen-
bar nicht in der Lage, sich von den Folgen des Konsums
völlig zu erholen. Hier gibt es keinen Reset-Knopf.


(Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Wie beim Alkohol!)


Konkret bedeutet das: Dauerkiffen macht Jugendliche
dümmer. Dies dürfen wir durch eine Legalisierung nicht
auch noch befördern.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jugendschutz
muss in der Sucht- und Drogenpolitik eine ganz zentrale
Rolle einnehmen. Aber wie können wir Kinder und Ju-
gendliche effektiv schützen, wenn Cannabis wesentlich
leichter, weil ja legal, verfügbar ist? Elementar ist dabei
auch die Frage: Wie soll der fließende Übergang vom le-
galen Eigengebrauch, den Sie ja fordern, zur illegalen
Herstellung und zum illegalen Handel überhaupt kon-
trolliert werden? Glauben Sie denn wirklich ernsthaft,
dass in Cannabisklubs keine Kriminellen auftauchen, die
dann unter dem Deckmantel der staatlichen Legitimation
den Stoff anbauen und dann auf dem nächsten Schulhof
an Jugendliche weiterverkaufen? Das können Sie doch
überhaupt nicht verhindern.

Der reine Wunsch nach streng kontrolliertem und le-
galem Umgang wird nicht dafür sorgen, dass in der Rea-
lität auch tatsächlich so verfahren wird. Der niederländi-
sche Schwarzmarkt verdeutlicht das leider auf sehr
bittere Weise.





Christine Aschenberg-Dugnus


(A) (C)



(D)(B)


Meine Damen und Herren, den Realitätscheck hat Ihr
Antrag auf Rauschsozialismus bereits beim ersten Lesen
leider nicht bestanden.


(Lachen bei der LINKEN)


Ihr Antrag ist deshalb nicht mehr als ein utopisches
Wunschdenken.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ausdruck von uto-
pischem Wunschdenken ist auch der Antrag der Fraktion
der Grünen zum Drugchecking. Sie wünschen sich, dass
man die gesundheitlichen Risiken des Drogengebrauchs
durch Drugchecking verringern könnte.


(Bartholomäus Kalb [CDU/CSU]: Was ist das? Ich habe da keine Ahnung!)


Das ist aber ein gefährlicher Trugschluss. Denn beim
Drugchecking wird immer nur auf einzelne Substanzen
geprüft. Wenn zum Beispiel eine Partypille auf Ratten-
gift überprüft und diesbezüglich für negativ befunden
wurde, heißt das noch lange nicht, dass darin nicht an-
dere schädliche Substanzen wie zum Beispiel die bei Ih-
nen im Antrag erwähnten Milzbranderreger sind.

Einmal abgesehen davon, dass schon die reine Pille
an sich sehr schädlich ist: Ein Drugchecking wiegt den
Konsumenten deshalb nur in einer gefährlichen, in einer
trügerischen Sicherheit. Besonders bei Jugendlichen
kann damit der völlig falsche Eindruck entstehen, ein
unbedenkliches und ein von offizieller Stelle geprüftes
Produkt erworben zu haben.

Bei illegalen Drogen handelt es sich aber keinesfalls
um standardisierte und in einem kontrollierten Verfahren
hergestellte Produkte. Die vermeintliche Unbedenklich-
keit sagt doch zum Beispiel auch überhaupt nichts über
andere zum Beispiel nicht getestete Verunreinigungen in
dieser Pille oder andere gesundheitsgefährdende Beimi-
schungen aus.

Meine Damen und Herren, ein Drugchecking würde
nur suggerieren, es gäbe gesunde, unbedenkliche Sub-
stanzen in den Drogen. Das ist aber nicht so. In der An-
hörung hier im Bundestag wurde das ganz klar deutlich:
Drogenkonsumenten können sich keineswegs darauf
verlassen, dass die getesteten Drogen frei von Beimen-
gungen sind und keine überdosierten Stoffe enthalten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte die Dro-
genpolitik, wie sie mit Ihrem Antrag formuliert wird, für
schizophren. Auf der einen Seite verbieten Sie in NRW,
dass Raucher in von Rauchern betriebenen Eckkneipen
das legale Produkt Zigarette konsumieren dürfen, und
auf der anderen Seite fordern Sie hier mit Ihrem Antrag
gleichzeitig das Einführen von einem Drugchecking,
also einer regelmäßigen Analyse illegaler psychoaktiver
Substanzen in Diskotheken.


(Beifall bei der FDP)


Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Nach der Schicht
ist in der Kneipe die Zigarette zum Bier verpönt und ver-

boten, aber in der Disco steht jemand vom staatlichen
Drogen-TÜV bereit und bescheinigt einer möglicher-
weise verunreinigten Pille eine trügerische Unbedenk-
lichkeit.

Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Das ist Un-
sinn. Die vorgelegten beiden Anträge sind daher nicht
zielführend, sind völlig realitätsfremd und stellen auch
die Drogenprävention, so wie wir sie wollen, komplett
infrage.

Vielen Dank.


(Beifall bei der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721731500

Das Wort hat nun Angelika Graf für die SPD-Frak-

tion.


(Beifall bei der SPD)



Angelika Graf (SPD):
Rede ID: ID1721731600

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wer Drogen- und Suchtpolitik macht, der bekommt viel
Post, oft von Menschen, die sich aus persönlicher Be-
troffenheit für eine Legalisierung von Cannabis einset-
zen. Ich bin mir sicher, dass die Briefe- und Mailschrei-
ber diese Debatte aufmerksam verfolgen. Ich hätte mir
aber schon vorstellen können, den Tagesordnungspunkt
zu Protokoll zu geben. Wenn das mit einem Tagesord-
nungspunkt zur Forschung für die Energiewende mög-
lich ist, geht das auch mit diesem Tagesordnungspunkt.


(Beifall der Abg. Karin Maag [CDU/CSU])


Man hätte den Saaldienern damit einen großen Gefallen
getan.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Und Ihnen wahrscheinlich auch!)


Doch nun zum Thema. Klar ist, dass wir den medizi-
nischen Gebrauch, zum Beispiel im Rahmen einer
Schmerztherapie, von strafrechtlichen Konsequenzen
ausnehmen, den Betroffenen den Zugang zu Cannabis-
produkten erleichtern und die Forschung in diesem Be-
reich verstärken müssen.

Allerdings wird im Antrag der Linken die Droge Can-
nabis und deren psychischen und physischen Auswir-
kungen auf den Menschen aus meiner Sicht bagatelli-
siert. Sie führen nämlich eine drogenpolitische Debatte
nach dem Motto: Alkohol versus Cannabis. Dabei reden
Sie einer Benachteiligung der Cannabiskonsumenten ge-
genüber Alkoholkonsumenten das Wort.

Übrigens sind Sie dabei auch nicht konsequent. Wenn
Sie wirklich keinen Unterschied zwischen der schädli-
chen Wirkung von Alkohol und der von Cannabis sehen:
Warum wollen Sie dann laut Antrag am Verbot des Han-
delns festhalten?


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Das erkläre ich Ihnen noch!)






Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)


Warum soll man dann Cannabis nicht wie Bier oder Zi-
garetten im Supermarkt kaufen können? Ich habe so das
Gefühl, dass Sie Ihren eigenen Vorschlägen nicht trauen.


(Frank Tempel [DIE LINKE]: Ich erkläre Ihnen das dann ganz langsam!)


Ich möchte darauf hinweisen, dass es gerade im lega-
len Bereich bei Tabak und Alkohol Bemühungen gibt,
die Verfügbarkeit und die Attraktivität zu reduzieren,
und zwar mit gutem Recht. Bei Cannabis nun den umge-
kehrten Weg gehen zu wollen, halte ich für falsch. Viel-
leicht sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von
der Linkspartei, darüber nachdenken, ob Suchterkran-
kungen nicht auch durch die Begrenzung des Angebotes
vermieden werden können.


(Zuruf der Abg. Halina Wawzyniak [DIE LINKE])


So wünsche ich mir als Drogenbeauftragte der SPD-
Bundestagsfraktion – hören Sie mir zu –, dass es künftig
eine EU-weite restriktivere Politik bei Alkohol und Ta-
bak gibt. Der Europäische Rat hat sich auf seiner Tagung
vom 7. Dezember in Brüssel mit den wachsenden Pro-
blemen des gesundheitsschädlichen Alkoholkonsums
beschäftigt. Er fordert deshalb eine neue Alkoholstrate-
gie mit Einschränkungen in der Werbung, Warnhinwei-
sen und einer anderen Preispolitik.


(Zuruf von der FDP: Unerhört!)


Ich denke, Sie als Linke sitzen dem Irrglauben auf,
sich über eine liberale Drogenpolitik ein jugendliches
Image geben zu können. Dabei kommen dann Forderun-
gen wie die nach der Einrichtung von Cannabisklubs
oder die von 2011 auf Ihrem Parteitag nach einer Legali-
sierung aller Drogen heraus.

Ich behaupte: Man kann nicht EU-weit an der Redu-
zierung der Attraktivität von Alkohol oder Nikotin arbei-
ten und gleichzeitig mindestens eine, lieber auch alle
Drogen legalisieren. Das widerspricht doch jeder Logik.


(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der FDP)


Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ich
bedaure wirklich, dass Sie bei den Anhörungen des
Deutschen Bundestages offenbar recht selektiv wahrneh-
men.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja!)


Dort wurde eben nicht ausgeschlossen, dass der Canna-
biskonsum die Wahrscheinlichkeit für einen späteren
Konsum härterer Drogen erhöhen kann oder regelmäßi-
ger Konsum von größeren Mengen von Cannabis die
Gesundheit gefährdet. Im Gegenteil wurde von den
Suchtmedizinern – das ist schon erwähnt worden – sehr
deutlich gesagt, dass der Gebrauch von Cannabis, insbe-
sondere im Kinder- und Jugendalter, ganz verheerende
Folgen für die geistige und körperliche Entwicklung mit
sich bringen kann.

Die Erfahrungen in den Niederlanden und in Spanien
mit Cannabisklubs und ähnlichen Einrichtungen sind

auch nicht so positiv, wie Sie uns das in Ihrem Antrag
glauben machen wollen.

Ich vermisse zudem Angaben darüber, wie der Anbau
zum Eigenverbrauch definiert bzw. kontrolliert werden
soll. Auch auf Folgeprobleme wie die Kontrolle des
THC-Grenzwerts von Konsumenten im Straßenverkehr
wird lediglich ein kurzer Satz verschwendet, der zudem
vermeidet, sich auf irgendeine Höchstgrenze festzule-
gen.

Ich habe das Gefühl, die Linksfraktion macht sich bei
den aufkommenden ernsthaften Fragen einen schlanken
Fuß und will diese nicht beantworten. Liebe Kolleginnen
und Kollegen, Sucht bekämpft man nicht mit der Straf-
verfolgung von Süchtigen. Basierend auf der grundsätz-
lichen Strafbarkeit des Besitzes von Cannabis bin ich da-
her für eine bundesweit einheitliche Regelung im
Bereich der geringen Mengen für den Eigenbedarf. Hier-
für müssen wir meines Erachtens in § 31 a des Betäu-
bungsmittelgesetzes die Grenze festlegen.

Die derzeitige Regelung überlässt dies den Ländern.
Sie überlässt ihnen auch, ab wann sie strafrechtlich rele-
vante Verfahren einstellen. Ich denke, nur die konkrete
Festlegung im Bundesgesetz schafft eine Entkriminali-
sierung, Rechtssicherheit, eine bundeseinheitliche Ge-
richtspraxis und den Abbau der sinnlosen Beschäftigung
von Staatsanwaltschaften.

Die geringe Menge aber auf 30 Gramm getrocknete
Teile der Cannabispflanze, also die fünffache Dosis des
in einigen Bundesländern bislang Erlaubten, zu erhöhen,
ist für mich ein weiteres Zeichen der Bagatellisierung,
die ich am Anfang schon angesprochen habe. Ich glaube,
Sie nehmen die Droge Cannabis nicht ernst. Deswegen
werden wir Ihren Antrag ablehnen.

Zum Schluss noch eine Bemerkung zu dem Antrag
von Bündnis 90/Die Grünen. Er fordert vor dem Hinter-
grund, dass Drogen manchmal giftige Verunreinigungen
und Beimengungen enthielten, die Zulassung und Ein-
führung von Drugchecking-Projektmodellen. Ich er-
kenne sehr an, dass Ihnen das Wohl der User am Herzen
liegt. So verstehe ich übrigens auch die Koalitionsver-
träge in Schleswig-Holstein und Berlin, in denen das
auch zumindest Erwähnung findet. Ich befürchte aber,
dass das Signal, das von dieser Maßnahme ausgeht,
falsch ist.

Erstens sind Drogen, denke ich, auch ohne zusätzli-
che giftige Beimengungen gefährlich und schädlich.
Zweitens kann man von der untersuchten Droge nicht
zwingend auf die Reinheit der gesamten erworbenen
Drogen rückschließen. Davon abgesehen wären für eine
seriöse Analyse aufwendige Verfahren notwendig, die
zum Beispiel im Rahmen eines mobilen Drugcheckings,
wie es angedacht ist, gar nicht möglich sind.


(Zuruf von der FDP: Sehr richtig!)


Ich denke, dass wir dabei vor der Frage stehen, ob wir
mit dem Stempel des Drugcheckings nicht das Signal
aussenden, dass die Droge im Ganzen ungefährlich ist.
Das ist der Grund, weshalb wir nach ausführlicher inter-





Angelika Graf (Rosenheim)



(A) (C)



(D)(B)


ner Debatte innerhalb der SPD auch diesen Antrag ab-
lehnen.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören.


(Beifall bei der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721731700

Das Wort hat nun Karin Maag für die CDU/CSU-

Fraktion.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jens Spahn [CDU/CSU]: Das ist aber eine Schwäbin, Herr Präsident!)


– Ich ertrage es mit Fassung.


(Heiterkeit bei der CDU/CSU und der FDP)



Karin Maag (CDU):
Rede ID: ID1721731800

Wir reden nachher noch einmal darüber.

Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von den
Linken, ich empfinde es als starkes Stück, dass kein ein-
ziger Gesundheitspolitiker bei diesem gesundheitspoliti-
schen Thema anwesend ist.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo sind denn die Gesundheitspolitiker der Linken? – Gegenruf von der FDP: Champagner schlürfen! Austern schlürfen!)


Das halte ich mit dem Verständnis von Politik in diesem
Hause für schwer vereinbar.

Cannabisklubs und Drugchecking haben nur bedingt
etwas miteinander zu tun.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Typisch Linke! Klamauk, Klamauk, Klamauk!)


Die Klammer sind wahrscheinlich die illegalen Drogen,
aber nun gut.

Ich beginne mit Cannabis, und zwar vor allem mit den
Erkenntnissen aus der Anhörung. Dazu hat die Kollegin
Graf schon das Richtige gesagt. Die Anhörung scheint
von Ihnen nur sehr selektiv wahrgenommen worden zu
sein.

Strafrechtlich ist die Situation eindeutig: Es gibt kein
Recht auf Rausch – Ausrufezeichen! Unser Betäubungs-
mittelstrafrecht schützt eben nicht nur die Gesundheit
des Einzelnen, sondern auch die der Allgemeinheit, ins-
besondere der Jugendlichen. Es geht um den Schutz vor
organisierter Kriminalität, und es geht um die Gewähr-
leistung der internationalen Zusammenarbeit bei der
Suchtstoffkontrolle. Genau deswegen – weil es dieses
Recht auf Rausch nicht gibt – hat das Bundesverfas-
sungsgericht 2005 bestätigt, dass es richtig ist, die von
Cannabis ausgehenden Gefahren mit den Mitteln des
Strafrechts zu begrenzen. Es ist auch kein Verstoß gegen
den Gleichheitsgrundsatz, dass Alkohol und Nikotin er-
laubt sind, Cannabis aber verboten ist. Genau das hat das
Bundesverfassungsgericht auch so gesehen.

Der bloße Konsum ist straffrei. Genau deshalb lässt
auch unser Strafrecht bei der Strafverfolgung mit vielen
Ermessensvorschriften, ob ein Verfahren überhaupt ein-
geleitet werden soll, eine auf jeden Einzelfall abge-
stimmte Entscheidung und Beurteilung zu. Es funktio-
niert in der Praxis; auch das hat die Anhörung ergeben.
Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt hat ausdrück-
lich darauf hingewiesen, dass die weit überwiegende
Zahl der Fälle des bloßen Konsums von Cannabispro-
dukten eingestellt wird. Allein in Hessen waren es über
70 Prozent.

Herr Tempel, auch Sie wissen, dass Deutschland die
Suchtstoffkonvention der Vereinten Nationen unter-
zeichnet hat. Wir haben uns damit verpflichtet, die Ver-
wendung von Cannabis und von anderen Suchtstoffen
auf ausschließlich medizinische und wissenschaftliche
Zwecke zu beschränken. Logischerweise ist in Deutsch-
land wie übrigens auch in allen anderen europäischen
Staaten, die Vertragsstaaten dieser Suchtstoffkonvention
sind, der Verkehr mit Cannabis grundsätzlich strafbar.
Strafbar sind also Herstellung, Handel, Einfuhr, Abgabe,
Veräußerung, Erwerb, Besitz von entsprechenden Pflan-
zen und Pflanzenteilen.

Stichwort „Anhörung“, Herr Tempel: Die Produkte
sind in den letzten Jahren deutlich gefährlicher gewor-
den. Zum einen wurde kontinuierlich der THC-Gehalt
– das ist der Wirkstoffgehalt im Cannabis – hochgezüch-
tet und intensiviert. Zum anderen hat das Kriminalwis-
senschaftliche Institut des LKA Niedersachsen in einer
anderen Anhörung darauf hingewiesen, dass es allein in
den letzten Monaten drei gefährliche Beimischungen
nachgewiesen hat, die allesamt zu Gewichtserhöhung
eingesetzt wurden. Diese Beimischungen sind Bleistaub,
Glas und Haarspray. Da können Sie nur schwer behaup-
ten, dass das alles so ungefährlich ist, wie Sie es in Ih-
rem Antrag darstellen.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP)


Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat schon darauf
hingewiesen: Die Gesundheitsgefahren beim Cannabis-
missbrauch sind erwiesen. Der Einzelsachverständige
Professor Thomasius, immerhin der Leiter des Deut-
schen Zentrums für Suchtfragen des Kinder- und Ju-
gendalters am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, hat
dargelegt, dass vor allem der regelmäßige und intensive
Gebrauch zu körperlichen und psychischen Erkrankun-
gen führen kann. Cannabiskonsum steigert auch, wie wir
gehört haben, das Risiko für Schulversagen und Ent-
wicklungsstörungen. Außerdem erhöht der frühe Canna-
biskonsum die Wahrscheinlichkeit eines späteren Dro-
genmissbrauchs. Das hat nicht nur der Herr Professor
Thomasius festgestellt; auch die Begleitforschung zu
den niederländischen Coffeeshops, die Sie sicher ken-
nen, zeigt, dass niederländische Jugendliche im europäi-
schen Vergleich überdurchschnittlich viel Cannabis kon-
sumieren und früher einsteigen als der europäische
Durchschnitt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus un-
serer Sicht ist eins klar: Mit uns ist keine Freigabe denk-
bar und kein Cannabisklub zu realisieren.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Wolfgang Zöller [CDU/CSU]: So ein schönes Schlusswort!)






Karin Maag


(A) (C)



(D)(B)


Der Antrag auf Ermöglichung des Drugcheckings war
deutlich differenzierter. Nichtsdestotrotz werden wir
auch diesen Antrag ablehnen. Nur für die Kollegen, die
in diesen Themen nicht drin sind: Beim Drugchecking
geht es, kurz gesagt, um die Analyse illegaler Drogen
auf Verunreinigungen, entweder mobil in Discos oder
bei Veranstaltungen oder immobil in Drogenberatungs-
stellen. Auch davor hat der Internationale Suchtstoffkon-
trollrat der Vereinten Nationen gewarnt, vor allem mit
dem Argument, dass ein Testergebnis „Probe enthält
keine Verunreinigung“ von Jugendlichen als Aufmunte-
rung zum weiteren Konsum verstanden werden könnte.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Aber auch dieser Hinweis des Suchtstoffkontrollrats
wurde in der Anhörung eindrucksvoll bestätigt. Man
sollte nicht glauben, wenn man zuhört, was man aus An-
hörungen lernen kann.

Mit dem Drugchecking wird suggeriert, es gebe die
gesundheitlich unbedenkliche Droge. Genau das ist der
falsche Zungenschlag. Drogen sind generell gefährlich.
Beim Drogenkonsum geht es dem Konsumenten doch
gerade um deren toxische Wirkung. Dabei wird eine Si-
cherheit vorgespiegelt, die es nicht gibt. Drogen werden
nicht in standardisierten Verfahren hergestellt. Die ver-
meintliche Unbedenklichkeit hinsichtlich einer Tablette
sagt nichts über andere, nicht getestete Einheiten aus.
Selbst identisch aussehende Drogen, die aus dem glei-
chen Labor stammen, haben oftmals einen unterschiedli-
chen Wirkstoffgehalt und unterschiedliche Beimengun-
gen. Es müsste also jede einzelne Partie, jede einzelne
Tablette getestet werden.

Heute werden auch die unterschiedlichsten Drogenar-
ten gleichzeitig konsumiert, auch kombiniert mit Alko-
hol oder mit freiverkäuflichen Medikamenten. Das heißt,
die Wirkungen potenzieren sich und sind kaum oder gar
nicht vorauszusehen.

Der heutige Drogenmarkt ist dynamisch. Um den
Nachweis zu erschweren, wird täglich etwas Neues er-
funden, es werden Moleküle ausgetauscht, die Bestand-
teile in Nuancen verändert. Ich habe bereits bei Cannabis
darauf hingewiesen, dass auch die Beimischungen lau-
fend variiert werden und ständig neue Produkte auftau-
chen.

Schließlich wird durch Drugchecking der Eindruck
vermittelt, der Drogenbesitz sei legalisiert. Das ist eine
völlig falsche Zielrichtung. Das wird bei uns so nicht
funktionieren.

Ein Schmankerl am Rande. Bei einer Droge, die un-
tersucht und bei entsprechendem Befund anschließend
wieder an den Verbraucher herausgegeben werden
müsste, würde sich derjenige, der die Droge herausgibt,
jetzt strafbar machen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit all dem Wissen
lehnen wir beide Anträge ab. Ich bedanke mich insbe-
sondere bei meiner Fraktion für das zahlreiche Erschei-
nen bei diesem Thema.

Danke schön.


(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP – Zuruf von der CDU/CSU: Bravo!)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721731900

Das Wort hat nun Frank Tempel für die Linke.


(Beifall bei der LINKEN)



Frank Tempel (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721732000

Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen

und Herren! Damit es wenigstens eine Gemeinsamkeit
gibt, möchte auch ich mich für das Erscheinen bedan-
ken; denn das Wichtigste, das diese Debatte braucht, ist
eine gesellschaftliche und breite Debatte.


(Beifall bei der LINKEN)


Insofern finde ich es ausgezeichnet, dass Sie zu so später
Stunde heute noch einmal hergekommen sind. Es wäre
doch schade gewesen, wenn wir die Reden zu genau die-
sem Thema zu Protokoll gegeben hätten.


(Johannes Singhammer [CDU/CSU]: Besser wäre Versenkung!)


Ich bin übrigens stellvertretendes Mitglied des Gesund-
heitsausschusses, der sich genau mit dieser Thematik be-
schäftigt.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Und die ordentlichen?)


Deshalb bin ich auch ganz bewusst mit dieser Thematik
beauftragt worden.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Wie oft waren Sie denn da?)


– Ich komme jedes Mal, wenn es um dieses Thema geht,
weil es mein Thema ist.


(Jens Spahn [CDU/CSU]: Ja, aber wo sind die anderen?)


Ich möchte Ihnen auch gerne sagen, warum dies so ist.
Ich komme als Kriminaloberkommissar aus der Rausch-
giftbekämpfung. Meine Fraktion hat vor drei Jahren ein-
fach den Neustart bei dieser Thematik gemacht.


(Zurufe von der CDU/CSU)


– Sie können ruhig mal zuhören. – Man kann auch mal,
ohne gleich in Ohnmacht zu fallen, das Thema Rausch-
giftkriminalität, Rauschgiftkonsum und Drogenpolitik
diskutieren, indem man sich die Argumente anguckt und
wenn man sich vielleicht auch mal anguckt, was dazu
aufgeschrieben worden ist.

Ich habe von meiner Fraktion den Auftrag bekom-
men, einfach einmal zu ermitteln, wie ich es in 16 Jahren
Polizeidienst gelernt habe, was für ein Verbot spricht
und was gegen ein Verbot spricht.

Ich habe zum Konsum selbst keinerlei Affinität und
bin das Thema völlig offen angegangen. Hier geht es
eben nicht darum, infrage zu stellen, ob Cannabis mehr
oder weniger gefährlich ist. Das spielt in unserer ganzen
Debatte überhaupt keine Rolle. Es ist schön, dass Sie





Frank Tempel


(A) (C)



(D)(B)


dieses Thema ausführlich behandelt haben, es spielt aber
bei uns keine Rolle.

Ich habe das Thema deswegen zu vertreten, weil es
um die Frage geht: Ist ein Verbot erfolgreich, funktio-
niert ein Verbot? Wenn der Staat mit einem Verbot und
entsprechender Strafverfolgung in die Grundrechte sei-
ner Bürger eingreift, dann ist das ein sehr empfindlicher
Eingriff in die Rechte eines Bürgers, und dann muss man
gucken, wie das funktioniert. Gucken wir uns doch an,
ob es funktioniert.

Die Niederlande sind angesprochen worden. Ich habe
hierzu Zahlen aus den Niederlanden mitgebracht, auch
für Sie, Frau Maag, zur Lebensprävalenz bei Cannabis.
Dies sind bei den 15- bis 64-Jährigen in Deutschland
25,6 Prozent, in den Niederlanden 22,6 Prozent, also we-
niger. Sie sprachen von den jungen Leuten, von denen es
angeblich mehr in den Niederlanden gibt. Es sind in
Deutschland bei den 15- bis 24-Jährigen 34,6 Prozent, in
Holland 28,3 Prozent.

Wo ist denn da die Logik? In Holland geht man in sei-
nen Coffeeshop um die Ecke, kauft sich unbehelligt sei-
nen Eigenbedarf und wird nicht strafverfolgt. Trotzdem
funktioniert offensichtlich selbst der Jugendschutz unter
diesem Modell besser.


(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)


Damit Sie auch wissen, woher ich die Zahlen habe:
Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen und
Drogensucht hat diese Zahlen 2011 bekannt gegeben.
Die können Sie nachlesen. Das kann man googeln. Auch
über Drogenpolitik kann man sich kundig machen.


(Beifall bei Abgeordneten der LINKEN – Jens Spahn [CDU/CSU]: Wo sind jetzt die Gesundheitspolitiker?)


– Ich spreche über den Sinn oder Unsinn. Es gibt auch
Hörhilfen, wenn man da Schwierigkeiten hat.


(Beifall bei der LINKEN)


Ich spreche über den Erfolg oder Nichterfolg der
Strafverfolgung. Wir haben mit keinem Wort – mit kei-
nem Wort! – die Gesundheitsgefährdung durch Cannabis
in Abrede gestellt. Da sind wir d’accord. Da ist über-
haupt kein Problem. Es geht vielmehr darum: Funktio-
niert ein Verbot?

Schauen wir auf weitere Länder in Europa: Die
Schweiz verzichtet bei geringen Mengen auf Strafverfol-
gung; das ist eine Ordnungswidrigkeit, wesentlich nie-
derschwelliger. Was sich nicht verändert hat, ist die Zahl
der Konsumenten. Überall da, wo man auf eine Strafver-
folgung, auf ein Verbot verzichtet, steigt die Anzahl der
Konsumenten nicht. Das ist enorm wichtig. Ein Verbot
ist nur wirklich wirksam, wenn es dann auch eine Verän-
derung in den Zahlen gibt. Also muss man sagen: Wenn
Sie hier mit dem Mittel der Strafverfolgung arbeiten,
dann arbeiten Sie mit einem ungeeigneten Mittel.


(Beifall bei der LINKEN sowie des Abg. Dr. Harald Terpe [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])


Sie sagen, dass mit dem Ziel „Verringerung von
Nachfrage und Angebot“ gearbeitet werden muss. Die
Frage ist bloß, wie. Deswegen sagt die Linke: Aufklä-
rung statt Verfolgung, Hilfe statt Ausgrenzung. Dann
bekommt man übrigens auch Fragen wie die des THC-
Gehalts in den Pflanzen geregelt. Streckmittel gibt es
dann nicht mehr.

Ganz zum Schluss für Sie, Frau Graf, noch zu der
Frage, warum der Handel nicht legalisiert werden soll,
aber der Eigenanbau: Handel bedeutet immer Gewinner-
zielung. Einem illegalen Markt, der eine gewaltige Kri-
minalität erzeugt – die Kriminalität, die wir hier haben,
ist ein Nebenprodukt der Strafverfolgung –, entziehen
wir 3 bis 4 Millionen Kunden, Kunden, die auch nicht
auf einen legalen Markt kommen. Ein Verkäufer braucht
Absatz, neue Kunden, mehr Kunden, Kunden, die immer
mehr nehmen. Das fällt beim Eigenanbau weg und ist
auch im legalen Handel nicht zu finden. Deswegen
haben wir extra ein Modell gewählt – das ist eine Aus-
nahmeregelung für Cannabis –, bei dem Handel nicht le-
galisiert wird, sondern Kunden sich selbst versorgen und
dann nicht mehr auf Leute angewiesen sind, die wollen,
dass immer mehr Menschen Cannabis konsumieren.
Lediglich die 2 bis 4 Millionen, die jetzt schon Konsu-
menten sind, bekommen die Gelegenheit, ihren Bedarf
durch Eigenanbau zu decken.

Sie müssen Anträge auch dann lesen, wenn Sie sie
ablehnen wollen.


(Beifall bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721732100

Das Wort hat nun Harald Terpe für die Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721732200

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnen

und Kollegen! Auch von mir Hochachtung angesichts
der großen Teilnahme an der Diskussion!

Ich fange an mit einem Zitat von Dr. Gaßmann, dem
Geschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Sucht-
fragen, die den größten Teil der Suchtkrankenhilfe ver-
tritt. Zitat:

Nach so vielen Jahrzehnten ergebnisloser Diskus-
sionen sind wir nicht mehr an Glaubenssätzen, Mei-
nungen und Allgemeinplätzen zur Prohibition inte-
ressiert. Wir erwarten Beweise. Für die Vorteile von
Prohibition wurde noch kein einziger vorgelegt.
Diejenigen dagegen mehren sich von Jahr zu Jahr.
Ob uns das gefällt oder nicht, spielt überhaupt keine
Rolle. Es sei denn, Suchtpolitik wäre eine Ge-
schmacksfrage.

Ich denke, die Suchtkrankenhilfe steht nicht in dem
Ruf, die Risiken psychoaktiver Substanzen zu vernied-
lichen, und das machen wir auch nicht. Aber was
Dr. Gaßmann und auch wir einfordern, ist nichts weniger
als eine sachliche und faktenbasierte Auseinanderset-
zung mit den Folgen der herrschenden Drogenpolitik für
Konsumenten und für unsere Gesellschaft, im Übrigen
auch für andere Staaten.





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(D)(B)


Stattdessen erleben wir ideologische Ablenkungs-
manöver; ein Teil davon ist heute zur Sprache gekom-
men. Da geht es dann um Fragen wie: Ist der THC-
Gehalt gestiegen? Ist Cannabis eine Einstiegsdroge?
Dient Drugchecking der Förderung des Drogen-
konsums?

Einmal abgesehen davon, dass man alle diese Fragen
faktenbasiert klar verneinen muss, finde ich sie im Kern
irrelevant.


(Zuruf von der FDP: Ach was?)


Worauf es mir ankommt, ist: Wir müssen grundsätzlich
darüber diskutieren. Sie sind irrelevant, weil die eigentli-
che Kernfrage lauten muss: Was müssen wir tun, um die
Folgen riskanter Formen des Drogengebrauchs für den
Einzelnen und die Gesellschaft zu minimieren?


(Beifall bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/ DIE GRÜNEN und der LINKEN)


Also nicht „Drogengebrauch, ja oder nein?“, sondern
„Riskanter Drogengebrauch, ja oder nein?“ ist die Frage.
Sicher sind die von Union, FDP und – wie ich heute ge-
hört habe – SPD befürwortete Drogenprohibition und
Repression als Antwort und Lösung gänzlich ungeeignet
und gestrig.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)


Es gibt keinen einzigen seriösen wissenschaftlichen Be-
leg für den Nutzen der Prohibition. Wir wissen das auch
aus der Geschichte, beispielsweise der amerikanischen.
Stattdessen wird mit der Prohibition ein Schwarzmarkt
geschaffen, auf dem keine Regeln gelten und der die
roheste Form eines Marktes darstellt. Dort gibt es keinen
Jugendschutz, keine Öffnungszeiten, keinen Verbrau-
cherschutz, keine Preisregulierung. Das findet alles nicht
statt.

Nur in einem legalen Markt mit vernünftiger Regulie-
rung der Substanzen können Sie die gesundheitlichen
und gesellschaftlichen Schäden verringern. Prohibitive
Politik schafft zusätzliche Risiken und kriminalisiert die
Konsumentinnen und Konsumenten, mit häufig schlim-
men Folgen gerade für junge Menschen. Sie hat auch er-
hebliche Folgen für unsere Gesellschaft. Mehr als zwei
Drittel der gesamten drogenbezogenen Ausgaben des
Staates werden für repressive Maßnahmen ausgegeben,
gehen in die Verfolgung von Konsumentinnen und Kon-
sumenten. Dadurch fehlt es beispielsweise an Geld für
Prävention und Hilfsangebote. Die repressive Säule un-
serer Drogenstrategie erreicht das angestrebte Ziel über-
haupt nicht – in Deutschland nicht und in Europa nicht.

Lassen Sie mich zum Abschluss sagen, dass die Dro-
genpolitik auch ein internationales Problem ist. Viele
Beispiele zeigen, dass die Stabilität von Staaten gefähr-
det wird und elementare Menschenrechte eingeschränkt
werden. Beispielsweise gab es in Mexiko 50 000 Tote im
Drogenkrieg. Ein weiteres Beispiel ist Kolumbien, wo
Korruption und Drogenkartelle den Staat zerstören.
Ähnliche Entwicklungen gibt es in Brasilien, Kenia und
in anderen Staaten.

Ich frage Sie: Wollen wir auf diesem Weg immer wei-
tergehen? Ich glaube, die Antwort der beiden vorliegen-
den Anträge von den Grünen und den Linken auf diese
Frage ist ganz klar. Nein, so können wir nicht weiter-
machen. Das realitätsblinde Weiter-so in der Drogen-
politik muss ein Ende haben. Wir brauchen eine ehrliche
Analyse der derzeitigen Drogenpolitik und darauf auf-
bauend eine grundlegende Reform.

Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und guten
Heimweg.


(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und bei der LINKEN)



Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721732300

Ich schließe die Aussprache.

Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-
schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Legalisierung von Cannabis durch
Einführung von Cannabis-Clubs“. Der Ausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-
sache 17/11556, den Antrag auf Drucksache 17/7196
abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-
lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die
Beschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beiden
Koalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmen
der Linken und der Grünen angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesund-
heit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen
mit dem Titel „Gesundheitliche Risiken des Drogen-
gebrauchs verringern – Drugchecking ermöglichen“.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/11911, den Antrag der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2050 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissen
wie zuvor angenommen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:

Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Fünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Sol-
datengesetzes

– Drucksache 17/12059 –
Überweisungsvorschlag:
Verteidigungsausschuss (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss

Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zu
Protokoll zu geben. – Sie sind damit einverstanden.1)

Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12059 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt

1) Anlage 12





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


dazu, wie ich sehe, keine anderweitigen Vorschläge.
Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 22 sowie zu
Zusatzpunkt 6:

22 Beratung des Antrags der Abgeordneten Ulrich
Schneider, Katja Dörner, Sven-Christian Kindler,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN

Eigenständige Jugendpolitik – Selbstbestimmt
durch Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie und
Emanzipation

– Drucksache 17/11376 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss

ZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten Stefan
Schwartze, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD

Mit einer eigenständigen Jugendpolitik Frei-
räume schaffen, Chancen eröffnen, Rückhalt
geben

– Drucksache 17/12063 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (f)

Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Ausschuss für Kultur und Medien
Haushaltsausschuss

Auch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto-
koll zu geben. – Sie sind damit einverstanden.1)

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagen
auf den Drucksachen 17/11376 und 17/12063 an die in
der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-
gen. – Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir das
so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 23:

Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbeu-
gung vor und Bekämpfung von Tierseuchen

(Tiergesundheitsgesetz – TierGesG)


– Drucksache 17/12032 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz (f)

Rechtsausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Alois Gerig (CDU):
Rede ID: ID1721732400

Für die christlich-liberale Koalition hat der Tier-

schutz einen hohen Stellenwert – wir setzen uns für ei-
nen respektvollen Umgang mit Tieren und das Wohl
unserer Mitgeschöpfe ein. In diesem Sinne haben wir
im vergangenen Jahr das Tierschutzgesetz weiterent-
wickelt. In diesem Jahr widmen wir uns mit dem glei-
chen Anspruch der Novelle zum Arzneimittelgesetz und
auch dem Tiergesundheitsgesetz, das wir heute in ers-
ter Lesung beraten.

In der Werbung eines Tiernahrungsherstellers heißt
es: „Ist das Tier gesund, freut sich der Mensch.“ In
dieser Aussage steckt ein wahrer Kern. Die Erkran-
kung von Tieren beeinträchtigt das Tierwohl und ruft
bei uns Menschen häufig Mitleid hervor. In der Land-
wirtschaft stellen Tierkrankheiten ein großes wirt-
schaftliches Risiko für die Betriebe dar. Darüber hi-
naus können Tierkrankheiten eine große Gefahr für
Menschen sein. Wir sehen also: Auch die Gesundheit
von Tieren ist ein hohes Gut. Aus diesem Grund ist es
richtig, dass die Koalition die Förderung der Tierge-
sundheit auf eine neue gesetzliche Grundlage stellen
will. Die Bundesregierung hat deshalb den Entwurf für
ein Tiergesundheitsgesetz vorgelegt.

Mit dem Tiergesundheitsgesetz wollen wir das Tier-
seuchengesetz ersetzen. Das Tierseuchengesetz, des-
sen Ursprünge ins Jahr 1909 zurückreichen, ist vom
Aufbau und Regelungsansatz her veraltet. Es stellt die
Bekämpfung von ausgebrochenen Krankheiten und
Seuchen in den Vordergrund. Das neue Tiergesund-
heitsgesetz hingegen zielt neben der Krankheits- und
Seuchenbekämpfung auch darauf ab, Erkrankungen
und Seuchen vorzubeugen.

Zahlreiche Neuregelungen sorgen dafür, dass bei
der Tiergesundheit die Prävention größeres Gewicht
erhält. So können künftig zu Präventionszwecken in
Betrieben mit Tierbeständen eigenbetriebliche Kont-
rollen und verpflichtende hygienische Maßnahmen an-
geordnet werden. Der Personenkreis, der zur Anzeige
einer Tierseuche verpflichtet ist, wird erweitert. Neben
Amtsveterinären sollen auch Tiergesundheitsaufseher,
Veterinäringenieure, amtliche Fachassistenten und
Bienensachverständige bestimmte Erkrankungen mel-
den. Große Bedeutung kommt dem geplanten Monito-
ring zu. Durch systematische Beprobungen sollen die
zuständigen Behörden die Möglichkeit erhalten, Ge-
fahren für die Tiergesundheit frühzeitig zu erkennen
und gezielt Abwehrmaßnahmen einzuleiten.

Die Intention dieses Gesetzes lässt sich auf einen
einfachen Nenner bringen: „Vorbeugen ist besser als
Heilen.“ Die Vermeidung von Krankheiten dient nicht
nur unmittelbar dem Tierwohl. Gesunde Tiere schonen
auch den Geldbeutel des Tierhalters, weil beispiels-
weise weniger Ausgaben für Tierarzneimittel erforder-
lich sind. Durch bessere Prävention ist zu erwarten,
dass weniger Tierarzneimittel eingesetzt werden müs-1) Anlage 13





Alois Gerig


(A) (C)



(D)(B)


sen – dies gilt auch hinsichtlich Antibiotika. Das Tier-
gesundheitsgesetz unterstützt das Ziel der Koalition,
den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu reduzieren
und Antibiotikaresistenzen zu vermeiden.

Eine Schlüsselrolle bei der Prävention von Krank-
heiten und Seuchen kommt Impfungen zu. Das Tierge-
sundheitsgesetz sieht vor, am Friedrich-Loeffler-Insti-
tut eine Ständige Impfkommission Veterinärmedizin
einzurichten – vergleichbar mit der Ständigen Impf-
kommission für die Humanmedizin am Robert-Koch-
Institut. Aufgabe der Kommission ist es, auf wissen-
schaftlicher Grundlage Impfempfehlungen abzugeben.
Durch die amtlichem Empfehlungen wird es für Tier-
ärzte und Tierhalter, aber auch für Behörden und für
die Öffentlichkeit verständlicher, welche Impfungen
erforderlich sind und welche nicht.

Mehr Transparenz kann einen Beitrag dazu leisten,
die Impfbereitschaft zu erhöhen und auch die Akzep-
tanz von Impfungen bei Nutztieren zu verbessern. Es
ist wissenschaftlich erwiesen, dass Fleisch von geimpf-
ten und freigetesteten Tieren genauso sicher ist wie
Fleisch von nicht geimpften Tieren. Durch Impfungen
kann vermieden werden, dass bei der Eindämmung
von Seuchen nicht auch noch gesunde Tiere getötet
werden müssen – so wie es bei der Bekämpfung der
Klassischen Schweinepest leider viel zu häufig gesche-
hen ist. Auf europäischer Ebene muss in den Beratun-
gen zum EU-Tiergesundheitsrechtsakt erreicht werden,
dass unbedenkliches Fleisch von geimpften Tieren kei-
nen Handelsrestriktionen unterliegt.

Der Handel mit Tieren und tierischen Erzeugnissen,
die Träger von Tierseuchenerregern sein können,
nimmt sowohl innerhalb der Europäischen Union als
auch mit Drittstaaten zu. Zunehmende Handelsver-
flechtungen bringen die Gefahr mit sich, dass Tierseu-
chen nach Deutschland eingeschleppt werden. Um
Seuchengefahren frühzeitig erkennen zu können, sieht
das Tiergesundheitsgesetz sinnvollerweise vor, das
Friedrich-Loeffler-Institut zu beauftragen, das welt-
weite Seuchengeschehen zu beobachten – so können
wichtige Erkenntnisse gewonnen werden, um präventiv
Gegenmaßnahmen einzuleiten.

Der zunehmende Handel mit Tieren und tierischen
Erzeugnissen macht neben der Auswertung des welt-
weiten Seuchengeschehens noch eine weitere Schluss-
folgerung erforderlich. Wir müssen in Europa sowohl
bei der Bekämpfung von Tierseuchen als auch bei der
Prävention effektiv und auf der Grundlage gemeinsa-
mer Standards zusammenarbeiten. Ich begrüße es sehr,
dass die Bundesregierung in Brüssel für eine Harmo-
nisierung des Tierseuchenbekämpfungsrechts eintritt.
Mit dem geplanten EU-Tiergesundheitsrechtsakt sol-
len nicht nur bestehende Vorschriften zur Tiergesund-
heit zusammengefasst werden, auch das Prinzip „Vor-
beugen ist besser als Heilen“ wird größeres Gewicht
erhalten. Dem tragen wir mit dem neuen Tiergesund-
heitsgesetz Rechnung.

Lassen Sie uns im parlamentarischen Verfahren
prüfen, ob an dem guten Gesetzentwurf weitere Ver-
besserungen vorgenommen werden sollten. Ich wün-
sche mir dabei von der Opposition sachlichere Bei-
träge als in den zurückliegenden Debatten über die
landwirtschaftliche Tierhaltung.


Dr. Wilhelm Priesmeier (SPD):
Rede ID: ID1721732500

Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurf

eines Gesetzes zur Vorbeugung und Bekämpfung von
Tierseuchen (Tiergesundheitsgesetz – TierGesG).

Die Neufassung und Überarbeitung des bestehen-
den Tierseuchengesetzes ist längst überfällig. Mit dem
vorliegenden Gesetzentwurf und den Änderungs-
vorschlägen des Bundesrates, denen die Bundesregie-
rung auch in weiten Teilen folgen will, soll das Tier-
seuchenrecht den gestiegenen Herausforderungen auf
europäischer Ebene angepasst werden. Der Gesetzent-
wurf ist im Hinblick auf die erforderlichen Regelungen
zum Tierseuchenrecht in seinem Kern unstrittig.

Dem Anspruch eines Tiergesundheitsgesetzes wird
dieser Gesetzentwurf jedoch nicht gerecht. Es handelt
sich um einen klaren Fall von Etikettenschwindel. Das
Gesetz will mit seiner Bezeichnung mehr versprechen,
als es tatsächlich einhalten wird. Tiergesundheit ist
mehr als nur das Ziel, Tierseuchen zu vermeiden und
zu bekämpfen. Tiergesundheit erfordert einen ganz-
heitlichen Ansatz. Tiergesundheit in einem Tierbestand
bedeutet vor allen Dingen ein gutes betriebliches
Hygienemanagement im Bestand.

Und daher sage ich der Bundesregierung ausdrück-
lich: Es reicht nicht aus, ein paar Vorbeugemaßnah-
men ins Gesetz zu schreiben, die der Erhaltung und der
Förderung der Tiergesundheit dienen – und schon ha-
ben wir auf Bundesebene ein Tiergesundheitsgesetz. So
einfach geht es nicht!

Wir müssen bestehende Regelungen der Tierschutz-
Nutztierhaltungsverordnung und Schweinehaltungs-
hygieneverordnung durch weitere Rechtsgrundlagen
zum betrieblichen Hygienemanagement ergänzen und
weiterentwickeln.

Ich bin der Meinung, dass die Pflichten der Tierhal-
ter, der Tierärzte und anderer Beteiligter vom Stall bis
zur Schlachtung zu einem einheitlichen Rechtsrahmen
zusammengefasst werden. In diesem Rechtsrahmen
sollten die unabdingbaren hygienischen und baulichen
Voraussetzungen erfasst werden, die eine Übertra-
gung von Tierseuchen verhindern sollen. In diesem
Zusammenhang wären auch die daraus resultierenden
Vorgaben und Bestimmungen zur Stallhygiene zu er-
fassen. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse
– beispielsweise zu den Anforderungen an das Stall-
klima, zu Schadgaskonzentrationen und zu Luftwech-
selraten – sollten ergänzt werden. Eine Dokumenta-
tionspflicht für regelmäßig vorzunehmende Desin-
fektionsmaßnahmen in Tierhaltungsbeständen ab ei-
ner bestimmten Betriebsgröße wäre in diesem
Rechtsrahmen ebenfalls zu regeln.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wilhelm Priesmeier


(A) (C)



(D)(B)


Auch im Hinblick auf eine Antibiotikaminimie-
rungsstrategie und die dazu aktuell geführte Diskus-
sion über die Anwendung von Antibiotika in der Tier-
haltung ist eine weitergehende gesetzliche Regelung
dringend notwendig. Das hat auch die Anhörung zum
Arzneimittelgesetz gezeigt.

Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass
die Zahl der Verordnungen und damit die Menge der
eingesetzten Antibiotika überwiegend von der Stall-
hygiene abhängen. Die Mehrzahl der Antibiotika-
verordnungen erfolgt aufgrund von Atemwegserkran-
kungen. Hier gilt es, das Übel an der Wurzel zu
packen. Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssen
im Gesetz so geregelt werden, dass wir ein effizientes
Tiergesundheits- und Hygienemanagement auch im
Hinblick auf die Krankheitsverhütung und das Wohl-
befinden der Tiere erreichen. Die Leitlinien des tier-
ärztlichen Berufsstandes zur Bestandsbetreuung
zeigen vorbildlich, wie es geht. Ein regelmäßiges
Monitoring des Tierhygienestatus sowie die tierärzt-
liche Bestands- und Hygieneberatung sind also zwin-
gend vorzuschreiben.

Eine Rechtsgrundlage für das Monitoring über den
Gesundheitszustand der Tiere findet sich zwar im
Gesetz, aber am Ende reicht dies alleine nicht aus. Ich
vermisse wesentliche Durchgriffsrechte und Anord-
nungsbefugnisse für Kontrollbehörden, wenn sie gra-
vierende Hygiene- und Haltungsmängel in tierhalten-
den Betrieben feststellen. Warum berücksichtigen Sie
nicht vorhandenes Wissen und legen ein Gesetz vor,
das dem anspruchsvollen Titel „Tiergesundheitsge-
setz“ in vollem Umfang gerecht wird?

In der Anhörung des Deutschen Bundestages zur
Novelle des Tierschutzgesetzes spielten Tierwohlindi-
katoren eine große Rolle. Auf europäischer Ebene gibt
es bereits weitreichende Vorarbeiten zur Definition
von Tierwohl.

Der Gesundheitsstatus innerhalb einer Tierhaltung
kann anhand weniger Parameter beurteilt werden: Ich
nenne in diesem Zusammenhang Mortalitäts- und
Morbiditätsraten sowie physiologische Kenngrößen,
Verhalten und Leistungswerte.

Die Mortalitätsrate wird bisher als wichtigstes Kri-
terium nicht erfasst. Auch die Zahl erkrankter Tiere
kann objektiv bestimmt und kontrolliert werden. Die
Dokumentation von Behandlungen findet heute schon
statt. Jedoch werden Organbefunde bei der Schlach-
tung und erkennbare äußerliche Verletzungen nicht
ausreichend erfasst. Auch sie geben Auskunft über die
Tiergesundheitsstatus des Herkunftsbetriebes. Und
schließlich geben Leistungsdaten wie tägliche Zunah-
men, Futterverwertung und Fruchtbarkeit Auskunft
über den Gesundheitsstatus der Tiere.

Diese Erkenntnisse werden bereits seit langem wis-
senschaftlich belegt. Hier hätte die Bundesregierung
Anknüpfungspunkte für ein ganzheitliches Tiergesund-
heitsgesetz finden können. So hat die Bundesregierung
ihre Hausaufgaben nur teilweise erledigt. Die tierseu-

chenrechtlichen Regelungen gehen zwar so weit in
Ordnung. Die Bundesregierung muss zur Tiergesund-
heit jedoch noch nacharbeiten.


Dr. Christel Happach-Kasan (FDP):
Rede ID: ID1721732600

Das alte Tierseuchengesetz hat ausgedient. Es

wurde 1909 im Kaiserreich beschlossen und geht auf
ein Gesetz aus dem Jahr 1880 zurück. Trotz einiger
Änderungen besteht es in seinen Grundzügen noch
heute. Es wird den aktuellen Herausforderungen nicht
mehr gerecht, die entstanden sind durch globale Han-
delsströme, durch umfangreiche Reiseaktivitäten der
Menschen über Kontinente hinweg und sich ändernde
klimatische Bedingungen. Tierseuchenerreger können
so über unzählige Wege nach Deutschland gelangen.
Vor diesem Hintergrund und angesichts eines stetig zu-
nehmenden internationalen Handels mit Tieren und
tierischen Erzeugnissen werden wirksame Vorbeugung
und schnelle Krisenreaktion immer wichtiger. Das Auf-
treten völlig neuer, unbekannter Krankheitserreger wie
des Schmallenberg-Virus und des Blauzungenvirus, die
afrikanischen Virenstämmen ähneln, haben uns das
deutlich vor Augen geführt.

Wir Liberale haben bereits im März letzten Jahres
gefordert, das Tierseuchengesetz zu modernisieren. Im
Hinblick auf die umfangreichen Änderungen, die das
BMELV und die christlich-liberale Koalition in den
letzten Monaten erarbeitet haben, ist der Begriff
„Tiergesundheitsgesetz“ wesentlich angemessener.
Denn mit der Namensänderung verbindet sich ein
neuer, verbesserter Ansatz. Wir wollen auftretende
Seuchen und neue Krankheiten nicht erst dann be-
kämpfen, wenn sie bei uns in Erscheinung treten, son-
dern wir wollen ihnen mit dem neuem Gesetz wir-
kungsvoll vorbeugen. Das Gesetz dient damit der
Erhaltung und Förderung der Tiergesundheit. Mittel-
fristig sollte das Tiergesundheitsgesetz auch um den
Bereich der Tierarzneimittel ergänzt werden, um alle
Aspekte der Tiergesundheit in einem Gesetz zu verei-
nen.

Eine der wichtigsten Neuerungen ermöglicht es
jetzt, für neue Tierseuchen sehr zügig eine Anzeige-
pflicht ohne vorherige Zustimmung des Bundesrates
einzuführen. Entsprechenden Verordnungen musste
bisher immer der Bundesrat zustimmen. Dies kann
jetzt auch nachträglich erfolgen. Die Anzeigepflicht
ermöglicht es den Landwirten, von der Tierseuchen-
kasse finanzielle Hilfen für ihre erkrankten und ver-
storbenen, aber auch für vorsorglich gekeulte Tiere zu
erhalten. Ebenso wird es durch eine Anzeigepflicht
einfacher, das epidemiologische Geschehen zu verfol-
gen und Strategien gegen die weitere Ausbreitung und
zukünftige Ausbrüche zu entwickeln. In dem neuen Ge-
setz stehen die Vorbeugung und der Schutz vor Tier-
seuchen im Vordergrund. Aber auch die Bekämpfung
und die Überwachung des Seuchengeschehens werden
optimiert. Dazu wurde der Personenkreis, der zur An-
zeige einer anzeigepflichtigen Tierseuche verpflichtet
ist, erweitert. Es wurden die Befugnisse ausgedehnt,

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Christel Happach-Kasan


(A) (C)



(D)(B)


vorbeugende Maßnahmen anzuordnen, beispielsweise
eigenbetriebliche Kontrollen und die Durchführung
hygienischer Maßnahmen. Dazu gehört auch die Ein-
führung einer Ständigen Impfkommission Veterinärme-
dizin. Dem Grundsatz „Impfen statt Töten“, den wir
Liberale auch bereits seit langem fordern, wird damit
noch stärker Rechnung getragen. Dieses Ziel wird von
allen Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsam
verfolgt.

Ein weiterer Schwerpunkt des Tiergesundheitsgeset-
zes ist die Möglichkeit eines Monitorings über den
Gesundheitsstatus von Tieren. Das beginnt mit einer
ständigen Beobachtung der weltweiten Tiergesund-
heitslage, die zukünftig vom Friedrich-Loeffler-Insti-
tut, FLI, mit Blick auf eine mögliche Einschleppung
von Tierseuchenerregern durchgeführt wird. Es setzt
sich fort mit einer Bewertung der möglichen Gefahren-
situation beim Auftreten einer Tierseuche und mit der
Beratung der zuständigen Behörde und des neuen Zen-
tralen Krisenstabs „Tierseuchen“ zur Vorbeugung, Er-
kennung und Verhinderung der Verschleppung. Wir
Liberale begrüßen es, dass die Bundesregierung diese
sinnvolle Forderung des Bundesrates im weiteren Ver-
fahren umsetzen wird. Auch wenn das FLI diese Aufga-
ben grundsätzlich bereits jetzt wahrnimmt, werden sie
nun rechtlich bindend festgeschrieben und den aktuel-
len Entwicklungen angepasst.

Bei diesem Monitoring setzen wir auf die freiwillige
Mitarbeit von Schwerpunktbetrieben, welche sich in
Gebieten mit erhöhtem Gefährdungspotenzial befin-
den. Diese können beispielsweise in der Nähe interna-
tionaler Flughäfen, der Landesgrenze, in Gebieten mit
klimatischen Besonderheiten oder anderen Hotspots
liegen. So liegen die Orte des ersten Auftretens der
Blauzungenkrankheit und des Schmallenberg-Virus
nicht weit voneinander entfernt. Das neue Monitoring
soll Erkenntnisse darüber bringen, wo neue Krankhei-
ten zuerst auftreten und wie sie sich verbreiten. Auch
können mit Schwerpunktbetrieben die Folgen des
Krankheitsgeschehens auf den Bestand insgesamt und
mögliche Immunisierung erkrankter aber nicht ver-
storbener Tiere effizienter und langfristig untersucht
werden. Die FDP setzt sich für eine bestmögliche Aus-
stattung der Forschung auf diesen Gebieten ein. Denn
Vorsorge ist langfristig immer besser als die Bekämp-
fung von Epidemien und zahlt sich aus. Grundsätzlich
begrüßenswert ist das Ziel der Bundesregierung,
Nachweismethoden für Tierseuchen, insbesondere so-
genannte In-vitro-Diagnostika, erst zuzulassen, wenn
deren Qualität nachgewiesen ist. Die FDP-Bundes-
tagsfraktion wird sich im parlamentarischen Verfahren
dafür einsetzen, dass eine praktikable Ausgestaltung
des Zulassungsverfahrens erfolgt. Wir setzen uns dafür
ein, dass vor allem kleine und mittelständische Unter-
nehmen und Forschungseinrichtungen, die häufig bei
neuen oder seltenen Erregern besonders schnell und
innovativ reagieren, nicht ausgegrenzt werden.

Eine bessere Tiergesundheit ist im Interesse der ge-
samten Gesellschaft. Zusammen mit der Novellierung

des Arzneimittelgesetzes schaffen wir beim Tierge-
sundheitsgesetz gute rechtliche Grundlagen zur steti-
gen Verbesserung der Tierhaltung. Vorbeugen statt
heilen, impfen statt keulen, dies sind wichtige Grund-
sätze nicht nur in der christlich-liberalen Koalition.
Wir stärken die Tierhaltungsbetriebe, erleichtern die
Hilfen über die Tierseuchenkassen und mindern den
Medikamenteneinsatz. So können wir den kommenden
Herausforderungen durch alte und neue Tierseuchen
gestärkt und energisch entgegenwirken.


Dr. Kirsten Tackmann (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721732700

Im Jahr 2012 trat eine neue Tierseuche mit großen

Schäden vor allem in Schafbeständen auf. Als Ursache
wurde später ein bislang völlig unbekanntes Virus
identifiziert, das nach dem ersten Ort benannt wurde,
wo die Erkrankung auftrat: das Schmallenberg-Virus.
Aber auch in den Jahren davor erkrankten Nutztierbe-
stände an neuen oder bislang hier unbekannten Krank-
heiten. Erinnert sei an die Blauzungenkrankheit bei
Schafen und Ziegen oder das Blutschwitzen der Käl-
ber. Das sogenannte Vogelgrippe-Virus verbreitete
sich in einer bislang nicht gekannten Geschwindigkeit
von Asien bis nach Europa und löste eine Debatte über
das Risiko von Pandemien aus, also Infektionserkran-
kungen, die sich ohne zeitliche und räumliche Be-
schränkungen ausbreiten und damit besonders riskant
sind. Es gibt auch Bestandserkrankungen, deren Ursa-
che sehr lange ungeklärt bleiben, wie beim sogenann-
ten chronischen Botulismus der Rinder.

Fazit: Tiererkrankungen und Tierseuchen sind un-
terdessen zu existenzbedrohenden Risikofaktoren für
Landwirtinnen und Landwirte geworden, ganz davon
abgesehen, dass solche Situationen Bäuerinnen und
Bauern auch emotional stark belasten. Auch deshalb
muss das Thema Tiergesundheit in der Politik viel hö-
here Priorität bekommen. Das gilt selbstverständlich
auch für Kontrollbehörden und Tierärzteschaft. Ge-
meinsam tragen wir die Verantwortung für gesunde
landwirtschaftliche Nutztierbestände und ihren Schutz
vor Erkrankungen und Tierseuchen. Dazu werden
auch tiergerechtere Haltungsbedingungen gebraucht
und eine integrierte tierärztliche Bestandsbetreuung.
Das hat die Linksfraktion auch im Zuge der Diskus-
sionen zur Novelle zum Arzneimittelgesetz und den zu
Recht kritisierten hohen Antibiotikaverbrauch in
Deutschland gefordert.

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnen
seit langem vor steigenden Infektionsrisiken durch den
globalisierten Handel und Personenverkehr. Auch die
Folgen des Klimawandels tragen zu neuen Risiken bei,
insbesondere wenn Infektionskrankheiten durch Insek-
ten oder andere Vektoren übertragen werden. So haben
unterdessen selbst die Afrikanische Pferdepest, Afri-
can Horse Sickness, AHS, die Chikungunya-Infektion,
die Afrikanische Schweinepest und das West-Nil-Virus,
WNV, ein Gefährdungspotenzial für europäische Tier-
bestände.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Kirsten Tackmann


(A) (C)



(D)(B)


Ein „Einfach weiter so“ kann es deshalb aus meiner
Sicht nicht geben. Die Agrarforschung, insbesondere
die epidemiologische Forschung, muss dringend ge-
stärkt werden, um die Ausbruchs- und Verbreitungsri-
siken besser zu kennen und Handlungskonzepte zu ih-
rer Vermeidung bzw. zur Schadensbegrenzung zu
entwickeln. Doch leider handeln seit vielen Jahren die
Bundesregierungen aller Farbenspiele jenseits richtig
Rot entweder nicht oder genau entgegengesetzt. Ge-
rade weil die Bedrohungen immer größer werden, for-
dert die Linksfraktion ein epidemiologisches Zentrum,
das sich mit den drängenden angewandten Fragestel-
lungen befasst, die sich in den Tierhaltungsbetrieben
stellen.

Die Linksfraktion hat sich im Jahr 2012 intensiv mit
der problematischen Tiererkrankungssituation be-
schäftigt und einen eigenen Antrag dazu vorgelegt,
Bundestagsdrucksache 17/9580. Immer häufiger sehen
sich tierhaltende Betriebe unverschuldet und unge-
schützt mit bisher unbekannten oder zurückkehrenden
Infektionsrisiken konfrontiert. Zusätzlich tragen hohe
Bestandsdichten in den Ställen und in einigen Regio-
nen zum steigenden Tierseuchenrisiko bei, deren Folge
das Töten großer Bestände aus Gründen des Seuchen-
und Verbraucherschutzes bedeuten kann. Klimawandel
und Globalisierung erhöhen das Risiko von Tierseu-
chen und -erkrankungen, die existenzgefährdend für
landwirtschaftliche Betriebe sind. In solchen bedrohli-
chen, aber kaum vermeidbaren oder zumindest nicht
selbst verschuldeten Situationen greifen die bisher ver-
fügbaren Regularien – staatliche Feststellung, Tier-
seuchenkassen – nicht oder zu spät. Daher hält die
Linksfraktion einen Notfonds für tierhaltende Betriebe
für dringend notwendig. Der Antrag wurde leider ab-
gelehnt.

Der heute vorliegende Entwurf eines Tiergesund-
heitsgesetzes geht aus Sicht der Linksfraktion in die
richtige Richtung. Viele Forderungen der Tierärzte-
schaft wurden in den Gesetzentwurf eingearbeitet. Das
ist gut so. Die Kritikpunkte der Agrarwirtschaft sollten
wir im Ausschuss diskutieren.

Dem Ansatz der Vorbeugung wird im Tiergesund-
heitsgesetz eine neue, ebenso wichtige Priorität gege-
ben. Im bisherigen Tierseuchengesetz war dies nicht
so. Das ist ein Fortschritt. Der Schutz der Menschen
vor Zoonosen sollte allerdings auch im Gesetzeszweck
festgehalten werden, finde ich. Unverständlich ist, wa-
rum die umfangreichen Änderungsvorschläge des
Bundesrates so wenig berücksichtigt werden. Das wird
im Agrarausschuss noch zu diskutieren sein. Für die
Linksfraktion geht es darum, weiterhin eine möglichst
hohe Effektivität bei der Verhütung und Bekämpfung
von Tiererkrankungen zu sichern. Dabei sind auch
Tierhalterinnen und Tierhalter stärker in die Pflicht zu
nehmen. Sie haben direkten Einfluss auf ihre Tiere und
die Haltungsbedingungen. Gesunde Tierbestände sind
ein Gemeinschaftswerk.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Immer mehr lebende Tiere und tierische Produkte
werden innerhalb der EU transportiert, und auch der
Handel mit Drittländern nimmt stetig zu. Damit steigt
auch die Gefahr der Übertragung von Tierseuchen.
Das Tiergesundheitsgesetz – für mich eigentlich immer
noch besser das Tierseuchengesetz – rückt die Präven-
tion in den Mittelpunkt. Das ist richtig. Das wollen wir
Grüne. Und auch die geplante Möglichkeit für
Monitoringprogramme sowie die ständige Impfkom-
mission am Friedrich-Loeffler-Institut sind prinzipiell
sinnvoll.

Vor allem aber ist es richtig, „Impfen statt Töten“
endlich zum Grundsatz zu erheben. Dafür haben wir
uns bereits in einem fraktionsübergreifenden Antrag
im Bundestag ausgesprochen. Gleiches fordert nun der
Bundesrat in seiner Stellungnahme zum Tiergesund-
heitsgesetz. Dem müssen wir folgen.

Jeder von uns sieht noch die grauenvollen Bilder
von Bergen in Großbritannien gekeulter, brennender
Tiere mit Vogelgrippe oder Maul- und Klauenseuche
vor sich. Dieses unnötige Töten Zighundert, Tausender
Tiere müssen wir verhindern. Bei vielen Tierkrank-
heiten wird die Impfung längst als völlig selbstver-
ständlich angesehen, auch bei lebensmittelerzeugen-
den Tieren. Das muss, wo immer möglich, zum
Normalfall werden. Und wir müssen überlegen, wie
wir die in den Verordnungen festgelegten, oft übergro-
ßen Sperrkreise, die um den Seuchenherd gezogen
werden, flexibler handhaben können.

Bei aller Hygiene und Prävention müssen wir uns
aber auch fragen: Wohin führt unsere Art der immer
weiter industrialisierten tierischen Produktion?
Längst ist bekannt, dass Regionen mit viel zu hohen
Tierdichten übermäßig anfällig sind für Tierseuchen.
Damit gefährden sie auch Regionen mit vernünftigen
Viehdichten. Trotzdem geht der Aufwuchs an Ställen in
den völlig überlasteten Regionen weiter. Alleine im
Kreis Vechta wurden in den letzten drei Jahren 3 Mil-
lionen Tierplätze für Masthühnchen beantragt, und
das, obwohl Vechta bereits zu den viehdichtesten Re-
gionen Deutschlands gehört. Betriebe mit mehreren
Hunderttausenden Tieren stellen potenzielle Brand-
herde für Tierseuchen dar.

Trotz aller bekannten Fakten will die schwarz-gelbe
Bundesregierung nicht steuernd eingreifen oder
wenigstens den Kommunen brauchbare Instrumente
zur Steuerung von Tierfabriken an die Hand geben.

Auch Tiertransporte verbreiten Tierkrankheiten.
Trotzdem hat die Zahl der Tiertransporte in den letzten
Jahren immer weiter zugenommen. Innerhalb der EU
nimmt Deutschland bei den Lebendtiertransporten
eine wichtige Rolle ein: 70 Prozent der in der EU
transportierten Schweine gehen nach Deutschland.
Viele Zehntausende lebende Schweine, die bis zum
Ural transportiert werden, führen dazu, dass jede
lokale Epidemie zur globalen Gefahr wird. Es ist also

Zu Protokoll gegebene Reden





Friedrich Ostendorff


(A) (C)



(D)(B)


eine zweifelhafte Strategie, die die Bundesregierung
betreibt.

Ebenso sieht es bei der Antibiotikaproblematik aus.
Gerne wird betont, dass Schutzimpfungen auch die
Gaben von Arzneimitteln, insbesondere Antibiotika,
senken können. Das ist zwar richtig, aber auch hier
ignoriert die Bundesregierung beharrlich, dass vor al-
lem die Haltungsbedingungen in der Nutztierhaltung
verbessert werden müssen, wenn wir den Antibiotika-
einsatz wirksam senken wollen.

Tatsache ist: Tiere, die artgerecht mit ausreichend
Platz, Auslauf und artgerechtem Futter gehalten
werden, sind widerstandsfähiger und gesünder. In bäu-
erlichen Betrieben mit ein paar Hundert Tieren ist der
Tier-Mensch-Kontakt größer als in automatisierten
Anlagen mit Tausenden von Tieren, und Krankheiten
werden schneller erkannt. Tritt eine Tierseuche auf,
kann sie sich nicht so rasch verbreiten wie in einer
Intensivtierhaltung mit mehreren Hunderttausend Tie-
ren.

Das Tiergesundheitsgesetz kann daher nur ein Bau-
stein in einer Strategie für gesunde Tierbestände sein.
Wichtiger ist, dass wir die Haltungsbedingungen
grundsätzlich ändern, unter dem Motto: Für eine neue
Haltung.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721732800

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/12032 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt
dazu, wie ich sehe, keine anderweitigen Vorschläge.
Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.

Tagesordnungspunkt 26:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung (15. Ausschuss) zu dem Antrag
der Abgeordneten Steffen Bilger, Peter Götz,
Armin Schuster (Weil am Rhein), weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Werner Simmling, Birgit
Homburger, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP

Projektbeiratsbeschluss bei der Rheintalbahn
umsetzen

– Drucksachen 17/11652, 17/11932 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Steffen Bilger (CDU):
Rede ID: ID1721732900

Die Rheintalbahn ist eines der ganz besonders

wichtigen deutschen Schienenprojekte – auch interna-
tional gesehen: Immerhin gibt es bereits seit 1998 eine
Vereinbarung mit der Schweiz darüber; dazu führt die
Strecke von Rotterdam bis nach Genua über diesen Ab-

schnitt. Es war und ist in unseren Beratungen immer
unstrittig gewesen: Besondere Projekte verdienen be-
sondere Behandlung. Für dieses Verständnis bin ich
allen Kollegen sehr dankbar. Nicht zuletzt deshalb gibt
es jetzt bereits den zweiten Antrag der Koalitionsfrak-
tionen zur Rheintalbahn in dieser Wahlperiode. An der
Umsetzung dieses Bahnvorhabens sind die Bürgerin-
nen und Bürger vor Ort maßgeblich beteiligt. Ich bin
froh darüber, wie konstruktiv die Anwohner sich in
Bürgerinitiativen oder über ihre kommunalen Vertreter
einbringen. Dafür möchte ich mich an erster Stelle
ganz herzlich bedanken.

Die berechtigten Anliegen der Anwohner und deren
Engagement für die Umsetzung der Rheintalbahn ver-
dienen und erhalten unsere Unterstützung aus der
Politik. Auch deshalb haben CDU/CSU und FDP die-
sen Antrag eingebracht. Mit der Verabschiedung des
Antrags machen wir den Weg frei dafür, dass das Bun-
desverkehrsministerium die im Projektbeirat bespro-
chenen Mehrkosten für den Bund umsetzen kann. Dazu
haben wir diesen Antrag schnell – und im Einverneh-
men mit der Opposition – durch die parlamentarischen
Gremien gebracht. So herrscht nun für alle Beteiligten
Klarheit.

Viele haben daran gezweifelt, dass die Rheintalbahn
tatsächlich Modellprojekt für die Abschaffung des
Schienenbonus werden wird, ja sogar daran, dass der
Schienenbonus insgesamt abgeschafft wird und dass
die Mehrkosten für den menschen- sowie umwelt-
verträglichen Ausbau der Rheintalbahn wirklich von
Bund und Land übernommen werden. Aber der Bund
hat geliefert. Die christlich-liberale Koalition steht zu
ihren Zusagen und hat sie umgesetzt. Der sogenannte
Schienenbonus wurde im letzten Jahr abgeschafft. Nun
ist auch gesetzlich klar: Lärm ist Lärm, es gibt keinen
Unterschied mehr zwischen gutem oder schlechtem.
Die bereits beschlossenen und angekündigten Verbes-
serungen sind auch ein Erfolg der Region für die Re-
gion. Hieran haben einen maßgeblichen Anteil die
Bürgerinitiativen entlang der Rheintalbahn. Mit ihrer
Rückendeckung haben sich in Berlin meine Kollegen
vor Ort eingesetzt. Stellvertretend möchte ich hier vor
allem Armin Schuster und Peter Weiß erwähnen. Da-
neben waren es viele andere Kollegen aus der CDU-
Landesgruppe Baden-Württemberg und die Verkehrs-
politiker der Koalition. Dieser geballte Einsatz machte
den Erfolg möglich. Vielen Dank auch an dieser Stelle
für die gute Zusammenarbeit.

Durch dieses gemeinsame Vorgehen konnten drin-
gend notwendige Nachbesserungen in Weil am Rhein
und Eimeldingen erreicht werden. Nach der Optimie-
rung des kürzlich fertiggestellten Katzenbergtunnels er-
folgt jetzt die Umsetzung der Kernforderungen 3 und 4,
auf die mein Kollege Ulrich Lange in seinem Beitrag
im Detail eingehen wird, wobei der die Gemeinde Rie-
gel betreffende Bereich nochmals gesondert betrachtet
werden soll.

Doch nun zum Katzenbergtunnel. Er ist der längste
zweiröhrige Tunnel im deutschen Netz, und Bundes-





Steffen Bilger


(A) (C)



(D)(B)


verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat diesen per-
sönlich im letzten Dezember in Betrieb genommen. An
dieser Stelle gilt mein Dank auch ihm und seinem Haus
– besonders den Staatssekretären Professor Klaus-
Dieter Scheurle und Michael Odenwald – für die große
Unterstützung bei der Rheintalbahn. Staatssekretär
Odenwald wird übrigens am kommenden Montag die
Region bereisen, um mit den betroffenen Städten, Ge-
meinden und Bürgermeistern zu sprechen. Dankbar
bin ich auch für die kooperative Haltung der Deut-
schen Bahn AG.

Bei den besprochenen Nachbesserungen gegenüber
der ursprünglichen Planung bei der Rheintalbahn war
immer klar, dass sich Bund und das Land Baden-
Württemberg die Kosten je zur Hälfte teilen. Nur durch
dieses gemeinsame Vorgehen konnte dieser Erfolg er-
reicht werden. So war es mit der CDU-Landesregie-
rung abgesprochen gewesen, und so waren die Signale
der grün-geführten Nachfolgeregierung – und so sieht
es der einstimmige Landtagsbeschluss vom 8. De-
zember 2011 ebenfalls vor. Nun bin ich mit meinen
Unionskollegen etwas irritiert darüber, dass sich die
Begeisterung über diesen Landtagsbeschluss bei Mi-
nisterpräsident Kretschmann offensichtlich in Grenzen
hält. Zumindest war der Presse zu entnehmen, dass er
sich beim Bürgerempfang in Heitersheim dahin ge-
hend äußerte, „nicht glücklich“ über die Kofinanzie-
rung zu sein. Was heißt das für die kommenden Ab-
schnitte? Sollte ein Kompromiss am fehlenden
Engagement des Landes scheitern, so wissen wir be-
reits, an wen sich die Bürger wenden müssen – das
Land Baden-Württemberg und seine Regierung. Das
übliche Spielchen von Herrn Kretschmann, immer nur
nach einer Finanzierung durch den Bund zu rufen, ist
ein Offenbarungseid seiner Politik, wie wir es auch bei
Fragen der Bildung, Betreuung, Energiepolitik und
fast in jedem anderen Bereich erleben. Wir werden
Herrn Kretschmann jedenfalls an den Landtagsbe-
schluss erinnern, wenn er nichts mehr davon wissen
will.

Es ist schließlich noch viel zu tun. Eine Lösung für
Offenburg muss noch genauso her wie für den Ab-
schnitt zwischen Offenburg und Freiburg und für die
niveaufreie Verknüpfung bei Buggingen. Bedauerlicher-
weise bekommen die Kollegen im Stuttgarter Landtag
keine vernünftigen Antworten, wie sich die Landes-
regierung hier verhalten will. Das Verhalten der Lan-
desregierung ist umso merkwürdiger, da es immer die
Grünen im Bundestag gewesen waren, die am lautes-
ten eine Mitfinanzierung des Landes gefordert haben.
Nun, da Landesverkehrsminister Winfried Hermann
nicht mehr Oppositionspolitiker im Bundestag, son-
dern Regierungspolitiker im Land ist, zeigt sich mal
wieder: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Sprich:
Regieren ist schwerer als opponieren. Die Koalition
mit unserer Mehrheit im Bundestag und die von uns
getragene Bundesregierung jedenfalls stehen weiter-
hin zu ihren Zusagen, um die Menschen entlang der
Rheintalbahn bestmöglich bei ihren berechtigten For-
derungen zu unterstützen.

Ein schönes Zeichen für die Anwohner war zumin-
dest schon einmal, dass der federführende Ausschuss
des Deutschen Bundestages, der für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung, in seiner Sitzung am 12. Dezember
2012 einstimmig dem vorliegenden Antrag der Regie-
rungsfraktionen zugestimmt hat. Die Ausschüsse für
Haushalt und Tourismus haben sich ebenso verhalten.
Merkwürdigerweise haben sich im Finanzausschuss
SPD und Grüne enthalten sowie in den Ausschüssen
für Wirtschaft und Umwelt die Grünen. Ich hoffe und
werbe dafür, dass der Deutsche Bundestag sich dem
Votum des federführenden Verkehrsausschusses an-
schließt und einstimmig unserem CDU/CSU-FDP-An-
trag zustimmt.


Ulrich Lange (CSU):
Rede ID: ID1721733000

Wir sind uns alle darin einig, dass wir mehr Güter

auf die Schiene bringen wollen. Damit wollen wir auf
der einen Seite unser Straßennetz entlasten, gleichzei-
tig aber auch den CO2-Ausstoß reduzieren.

Die Ausbau- und Neubaustrecke Karlsruhe–Basel
ist Bestandteil des wichtigsten europäischen Güter-
korridors Rotterdam–Köln–Basel–Mailand–Genua.
Die Verkehrsachse zwischen den holländischen Häfen
und dem Mittelmeer zählt zu den durch die EU-
Verkehrspolitik als vorrangig eingestuften transeuro-
päischen Netzen, TEN, die mit modernster Technologie
Europa näher zusammenbringen sollen.

Die genannte Strecke ist der wichtigste nördliche
Zulauf zur Neuen Eisenbahn-Alpentransversale,
NEAT, mit ihren zentralen Projekten Gotthard- und
Lötschberg-Basistunnel. Mit der Fertigstellung der
NEAT in der Schweiz wird die Strecke zu einem der
wichtigsten Schienenstränge in Europa, der über
Mailand bis nach Genua führt. Die Realisierung der
leistungsfähigen Alpenquerung schafft die Vorausset-
zungen, um im Eisenbahnverkehr zwischen der
Schweiz und Deutschland den Schwerlastverkehr von
der Straße auf die Schiene zu verlagern.

Die Aus- und Neubaustrecke Karlsruhe–Basel ist
damit auch eines der wichtigsten Verkehrsinfrastruk-
turprojekte des Bundes. Die 182 Kilometer lange
Strecke gehört zu den am stärksten befahrenen Magis-
tralen im Netz der Bahn. Die Fertigstellung der Aus-
und Neubaumaßnahme ist für 2020 geplant.

Wir sind uns natürlich auch darüber im Klaren,
dass dieser Ausbau zu einer Zunahme des Schienen-
lärms führen wird. Für 2025 werden bis zu 335 Güter-
züge täglich auf der Strecke prognostiziert. Aus diesem
Grund wurden viele Bürgerinitiativen gegen den Bau
gegründet. Um zu einer einvernehmlichen Lösung zu
kommen, wurden die Bürgerinnen und Bürger bei den
Planungen einbezogen. Hierzu wurde am 5. September
2009 der sogenannte Projektbeirat gegründet. Im Pro-
jektbeirat sitzen neben Vertretern der Bundesregie-
rung, der Deutschen Bahn AG, der Landesregierung
und Landkreise auch Mitglieder der IG BOHR, dem

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulrich Lange


(A) (C)



(D)(B)


Dachverband der Bürgerinitiativen entlang der
Rheintalbahn.

Im Projektbeirat einigte man sich darauf, dass
zusätzlich zu den geplanten Schutzmaßnahmen im
Zuge der Ausbaumaßnahmen weitere Investitionen, die
über das gesetzlich erforderliche Maß hinausgehen,
durchgeführt werden sollen.

Die letzte Sitzung des Projektbeirates fand am
5. März 2012 statt. Schwerpunktthemen waren die so-
genannten Kernforderungen 3 und 4, die Güterumfah-
rung Freiburg sowie die Bürgertrasse. Im Rahmen der
Güterumfahrung Freiburg ist die Realisierung von
Einhausungen und Galerien sowie von zusätzlichen
Schall- und Habitatschutzwänden in einer Größenord-
nung von maximal 84 Millionen Euro beschlossen
worden.

Die weitere Kernforderung betrifft im Bereich der
Bürgertrasse im Markgräflerland die Realisierung ei-
ner ebenerdig geplanten Antragstrasse in Tieflage
durch Trogbauwerke und steil geböschte Polsterwände
mit Überführungen als Landschaftsbrücken sowie ei-
ner, soweit rechtlich möglich, westlichen Umfahrung
Buggingen mit einem Kostenaufwand von maximal
166 Millionen Euro.

Bund und Land Baden-Württemberg haben sich bei
der Finanzierung von zusätzlich maximal 250 Millio-
nen Euro darauf geeinigt, die Kosten jeweils zur Hälfte
zu tragen.

Abschließend möchte ich noch betonen, dass die
Bildung des Projektbeirates ein sehr gutes Beispiel für
die Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Ver-
kehrsprojekten ist. Den gewachsenen Ansprüchen
nach mehr Teilhabe an Infrastrukturentscheidungen
wurde ausgezeichnet nachgekommen. Es führt zu einer
Akzeptanzverbesserung bei den kommenden vor uns
liegenden Infrastrukturmaßnahmen. Ein Danke an
dieser Stelle an unseren Bundesverkehrsminister
Dr. Peter Ramsauer, der sich die größere Bürgerbetei-
ligung auf die Fahnen geschrieben hat!


Ute Kumpf (SPD):
Rede ID: ID1721733100

Großprojekte müssen nicht aus dem Ruder laufen,

es geht auch anders. Ein positives Beispiel ist der Aus-
bau der Rheintalbahn. Dank mehr Bürgerbeteiligung
und einer Politik des Zuhörens wird es transparenter
und sachorientierter. Dank auch den Menschen vor
Ort in Südbaden: Seit Jahren begleiten sie konstruktiv
den viergleisigen Ausbau von Karlsruhe bis Basel. Sie
haben sich sachkundig gemacht, Gespräche mit Politi-
kern und Verantwortlichen geführt und Überzeugungs-
arbeit geleistet. Mit großem Engagement und Sach-
verstand wurden Vorschläge gemacht und das Konzept
„Baden 21“ erarbeitet.

Wenn die Bahn und die Politik auf Landes- und
Bundesebene diesen Weg weiter verfolgen, kann der
Ausbau der Rheintalbahn eine Geschichte erfolgrei-
cher Bürgerbeteiligung werden, ein Beispiel aktiver
Zivilgesellschaft: Bürgerinnen und Bürger, Vertreter

von Kommunen entlang der Bahnstrecke, Bürgerinitia-
tiven wie die Interessengemeinschaft Bahnprotest an
Ober- und Hochrhein „IG BOHR“ Gemeinderäte,
Stadträte und Bürgermeister wie zum Beispiel aus
Lahr, Kenzingen, Herbolzheim, Riegel, Hohberg,
Ettenheim, Kappel-Grafenhausen und Meißenheim,
die Anfang März 2012 nach Berlin gereist sind, um mit
Mitgliedern des Verkehrsausschusses zu diskutieren.
Alle setzen sich über Parteigrenzen hinweg ein für ihr
Anliegen, für ihre Region. Sie wollen mitreden, haben
eigene Ideen. Die Menschen im Südwesten stehen zu
einem menschen- und umweltverträglichen Ausbau
der Rheintalbahn. Sie bekennen sich zur Verlagerung
der Güter von der Straße auf die Schiene und unter-
stützen den Ausbau der Schiene. Das ist wichtig.

Nur der viergleisige Ausbau verhindert den
Verkehrskollaps entlang der Rheinschiene. Nur mit
mehr Kapazitäten auf der Schiene wird eine Verkehrs-
verlagerung von der Straße auf die Schiene erreicht.
Nur so gibt es eine Entlastung auf den Straßen in
Baden-Württemberg und somit weniger Staus und
Abgase. Dies steht im Einklang mit der EU-Verkehrs-
politik, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verla-
gern. Der Neu- und Ausbau der Rheintalbahn für den
Güterverkehr ist nicht nur für Baden-Württemberg von
zentraler Bedeutung, sondern auch für Deutschland
und unsere europäischen Nachbarn. Mehr Güter von
der Straße auf die Schiene zu bringen, ist so möglich.

Und Deutschland ist in der Pflicht gegenüber der
Schweiz. Die Bundesregierung muss den Vertrag von
Lugano 1996 umsetzen. Sie hat sich verpflichtet, die
Rheintalstrecke zwischen Karlsruhe und Basel als
Zulaufstrecke zu den NEAT-Tunneln, Neue Eisenbahn-
Alpentransversale, Gotthard und Lötschberg vierglei-
sig auszubauen.

Wir, die SPD auf kommunaler, Landes- und Bundes-
ebene, unterstützen die alternative Trassenführung
„Baden 21“, ein Konzept, das Kommunen und die IG
BOHR entwickelt haben, eine Alternativplanung, die
über 90 Kilometer von Offenburg bis südlich von
Buggingen im Markgräflerland reicht, eine Alternativ-
planung, die von den Menschen selbst erarbeitet
wurde, die akzeptiert wird am Oberrhein, wovon ich
mich selbst bei zahlreichen Terminen vor Ort, bei vie-
len Gesprächen überzeugen konnte. „Baden 21“
bedeutet ein Güterzugtunnel durch Offenburg; eine
autobahnparallele Trasse von Offenburg bis Riegel,
die Lärm meidet und Ackerland schont; Mittel- und
Teiltieflagen mit lokal verstärkten Lärmschutzmaß-
nahmen von Riegel bis Mengen; eine teilgedeckelte
Tieflage von Mengen bis südlich Buggingen.

Beim Ausbau der Rheintalbahn werden bei der
Planung neue Wege gegangen. Im Juli 2009 wurde in
der Großen Koalition von Bundesverkehrsminister
Tiefensee der Projektbeirat Rheintalbahn ins Leben
gerufen. Darin diskutieren Vertreterinnen und Vertre-
ter der Deutschen Bahn AG, der Bundes- und der
Landesregierung, Landräte, Bürgermeister und Mit-
glieder der Bürgerinitiativen. Gemeinsam führen der

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Kumpf


(A) (C)



(D)(B)


Bund und das Land Baden-Württemberg den Vorsitz.
Der Projektbeirat bewertet noch vor dem jeweiligen
Planfeststellungsbeschluss die vorgeschlagenen Vari-
anten, schlägt alternative Lösungen vor und lässt Ver-
besserungen zum Beispiel zum Lärmschutz einfließen.
Für viele Streckenabschnitte zwischen Karlsruhe und
Basel wurden bereits Lösungen gefunden, bei manchen
mussten Kompromisse gemacht werden, bei manchen
wird noch verhandelt. Der Projektbeirat Rheintalbahn
ist ein gelungenes Beispiel für Beteiligung, ein
Beispiel wie Konflikte im Vorfeld geklärt werden kön-
nen, ein Beispiel, wie Bürgerinnen und Bürger in die
Planungen einbezogen werden und ein Projekt gesell-
schaftlich akzeptiert und mitgetragen wird.

Bürgerbeteiligung ist für die SPD kein Modethema.
Willy Brandt hat seine 1. Regierungserklärung 1969
unter das Motto gestellt: „Mehr Demokratie wagen“.
Beteiligungsformen müssen daher künftig so gestaltet
sein, dass sie möglichst vielen Menschen die Teil-
nahme ermöglichen. Dies bedeutet einen grundlegen-
den Wechsel in der Planungskultur: Transparenz statt
Diskussionen hinter verschlossenen Türen, eine
umfassende Öffnung der Planungsverfahren und ein
neues, auf Dialog ausgerichtetes Selbstverständnis
von Politikern und Verwaltungen. Informationen müs-
sen rechtzeitig offengelegt, Verfahren und Planungen
verständlich gemacht, die Öffentlichkeit frühzeitig und
umfassend eingebunden, die Anliegen, Ideen und
Bedenken von Betroffenen vor Ort ernst genommen
werden. Verfahren müssen gestrafft und zusammen-
gelegt, Bürgerbeteiligung durch Bürgeranwälte ein-
geführt sowie die Informationspflichten von Verwal-
tung und Vorhabenträger ausgebaut und verbindliche
Standards bei den Verfahren festgelegt werden.

Allein kosmetische Änderungen sind zu wenig, ein
grundlegend neuer Politikansatz ist notwendig. Betei-
ligung ist nicht Mittel zum Zweck, um nachträglich
Akzeptanz zu schaffen für Beschlüsse, die vorher unter
Ausschluss der Öffentlichkeit gefasst worden sind. Die
Bürgerinnen und Bürger müssen von Anfang an mit-
genommen werden, nicht erst wenn die wesentlichen
Entscheidungen gefallen sind. Vor allem kann man es
Behörden und öffentlichen Planungsträgern nicht frei-
stellen, ob sie die Bürgerinnen und Bürger beteiligen
wollen oder nicht. Manche befürchten, dass der Bau
neuer Großprojekte dann noch länger braucht als
bisher. Das Gegenteil ist richtig: Planungs- und Um-
setzungszeiten lassen sich gerade für umstrittene Pro-
jekte am besten dadurch verkürzen, dass frühzeitig alle
eingebunden werden und Transparenz hergestellt wird.

Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, teilen die Forde-
rung, beim Ausbau der Rheintalbahn Karlsruhe–Basel
im Abschnitt von Kilometer 187,8 – Gemeinde Tenin-
gen – bis Kilometer 235,5 – Gemeinde Hügelheim –
der Planfeststellungsabschnitte 8.1 Riegel–March,
8.2 Freiburg–Schallstadt, 8.3 Bad Krozingen–Heiters-
heim und 9.0 a Buggingen–Müllheim die Maßnahmen
der Kernforderungen 3 und 4 entsprechend den Fest-
legungen zwischen Bund und dem Land Baden-

Württemberg als expliziten Teil des Bedarfsplan-
vorhabens umzusetzen.

Wir stimmen dem Antrag „Projektbeiratsbeschluss
bei der Rheintalbahn umsetzen“ zu und begleiten den
Ausbau der Rheintalbahn weiterhin konstruktiv. Der
Ausbau der Rheintalbahn muss Modell für Bürger-
beteiligung, Lärm- und Landschaftsschutz werden.


Werner Simmling (FDP):
Rede ID: ID1721733200

Die Rheintalbahnstrecke ist eine der wichtigsten

Ausbaumaßnahmen der Schieneninfrastruktur der
Bundesrepublik. Seit 25 Jahren steht der Ausbau der
Rheintalbahn auf der Agenda des Bundesverkehrsmi-
nisteriums. Anfangs ging es darum, den Personenzug-
verkehr zu beschleunigen. Aber als die Schweiz in den
90er-Jahren den Bau der Neuen Alpentransversale,
NEAT, beschloss, bekam der Ausbau der Rheintal-
strecke eine neue Dimension. Als nördlicher NEAT-
Zubringer ist sie Teil der wichtigsten europäischen
Transitstrecke für Güterverkehr, die die Häfen von
Genua und Rotterdam miteinander verbindet. Die
Schweiz und Deutschland schlossen im Jahr 1996 ei-
nen Staatsvertrag, in dem sie sich verpflichten, „den
grenzüberschreitenden Eisenbahnpersonen- und -güter-
verkehr zwischen der Schweiz und der Bundesrepublik
Deutschland durch aufeinander abgestimmte Maßnah-
men der Schieneninfrastruktur in seiner Leistungsfähig-
keit zu sichern“. Doch während der Bau der NEAT zügig
voranschritt und der Gotthard-Basistunnel voraussicht-
lich schon vor dem anvisierten Termin im Jahr 2017
fertiggestellt sein wird, verzögerte sich der Ausbau auf
deutscher Seite immer wieder. Gründe sind Finanzie-
rungsengpässe, aber auch Proteste seitens der An-
wohner. Denn die gesellschaftliche Akzeptanz des
Schienenverkehrs ist geringer geworden, und das aus
verständlichen Gründen. Es geht hier vor allem zum ei-
nen um den sensiblen Eingriff in die Landschaft. Zum an-
deren ist der Lärm von Güter- und Personenzügen für
Anwohner an Gleisstrecken schwer zu ertragen. Und
perspektivisch wird dieser Lärm speziell an der Rhein-
talbahn nicht abnehmen, sondern stetig zunehmen. Ins-
besondere für die geplante viergleisige Strecke Karls-
ruhe–Basel wird die höchste Belastung durch den
Güterzugverkehr im gesamten deutschen Güterverkehr
erwartet. Für das Jahr 2025 sind Zugzahlen von bis zu
490 pro Tag prognostiziert – alle drei Minuten ein Zug.
Auf diese Entwicklung gehen wir mit dem vorliegenden
Antrag ein und bekräftigen so auch noch einmal unser
Vorhaben der Reduzierung von Lärmimmissionen beim
wichtigen Ausbau der Rheintalbahn.

Im Zuge dessen konnten im Projektbeirat durch die
konstruktive Zusammenarbeit von Bund, Land, der
Bahn, regionalen Vertretern und der Bürgerinitiativen
am 5. März 2012 Beschlüsse gefasst werden, welchen
wir mit diesem Antrag entsprechen wollen. Denn nur
dann erhalten die betroffenen Anwohner den Lärm-
schutz, der ihnen nach den Verhandlungen im Projekt-
beirat zusteht. Somit werden den Kernforderungen
3 und 4 Rechnung getragen. Das bedeutet, dass man

Zu Protokoll gegebene Reden





Werner Simmling


(A) (C)



(D)(B)


sich bei der Güterumfahrung Freiburg für die Reali-
sierung von Einhausungen und Galerien sowie für zu-
sätzliche Schall- und Habitatschutzwände ausgespro-
chen hat. Hier werden konkret Kosten in Höhe von
84 Millionen Euro angesetzt.

Bei der Bürgertrasse im Markgräflerland soll die
Realisierung der ebenerdig geplanten Antragstrasse in
Tieflage durch Trogbauwerke und steil geböschte Pols-
terwände mit Überführungen als Landschaftsbrücken
sowie einer – soweit rechtlich möglich – westlichen
Umfahrung Buggingen erfolgen. Hier werden Kosten
von maximal 166 Millionen Euro erwartet. Die Ge-
samtkosten belaufen sich auf 250 Millionen. Das Land
Baden-Württemberg hat am 8. Dezember 2011 be-
schlossen, dass die Landesregierung sich mit bis zu
50 Prozent an den Mehrkosten, die über das gesetz-
liche Erfordernis hinausgehen, an der Rheintalbahn
zur Sicherstellung eines menschen- und umweltgerech-
ten Ausbaus beteiligt. Für diese Entscheidung bin ich
dankbar, vor allem, dass wir uns über alle Frak-
tionsgrenzen hinweg einig sind und so den Ausbau der
Rheintalbahn unter weitgehendem Schutz der Bevölke-
rung voranbringen.


Karin Binder (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721733300

Die Linke begrüßt die politische Umsetzung der Be-

schlüsse des Projektbeirats bei der Rheintalbahn. In
Absprache mit unseren Gesprächspartnern in der Re-
gion können wir dem vorliegenden Koalitionsantrag
zustimmen.

Mit dem heute gefassten Beschluss des Bundestages
verbinden wir aber auch die Erwartung, dass weitere
Kernforderungen der Interessengemeinschaft Bahn-
protest an Ober- und Hochrhein ebenso ernst genom-
men werden. Der Projektbeirat hat bisher eine her-
vorragende Arbeit geleistet und entscheidend zur
Beseitigung der Konflikte zwischen Bahn und Bevölke-
rung vor Ort beigetragen.

Eine weitere positive Begleitung durch den Bundes-
tag, mit entsprechenden Beschlüssen, wäre ein Anlie-
gen der gesamten Region am südlichen Oberrhein und
kann helfen, weitere Verzögerungen bei diesem so
wichtigen Projekt zu verhindern.

Uns ist klar, dass insbesondere durch die Kernforde-
rung einer zweigleisigen Tunnelröhre im Raum Offen-
burg mit zusätzlichen Kosten zu rechnen ist. Wer die
Lage Offenburgs aber kennt und wem die enorme Be-
deutung der Rheintalbahn bewusst ist, der muss diese
Forderung ernst nehmen. Den oft in diesem Zusam-
menhang verwendeten Begriff „Mehrkosten“ halte ich
zudem für irreführend. Es handelt sich vielmehr um
Realkosten; denn die tatsächlichen Erfordernisse der
Region wurden bisher nur unzureichend berücksich-
tigt.

Angesichts stetiger Baupreissteigerungen fordern
wir die Projektbeteiligten auf, für das ganze Projekt
eine transparente Kostenplanung vorzunehmen. Not-
wendige Mittel in Höhe der zu erwartenden Baupreis-

steigerungen sind vorzuhalten und etwaige Risiken be-
reits jetzt zu berücksichtigen. Die sicher zu erwartende
Projektteuerung bis zur Fertigstellung darf nicht dazu
führen, dass die heute bewilligten Mehrkosten von
166 Millionen Euro zu einer Kürzung der Bauleistun-
gen führen. Auf ein Desaster wie bei Stuttgart 21 und
dem neuen Berliner Flughafen kann und will die Re-
gion gut und gerne verzichten. Die Kostenübernahme
durch Bund und Land muss sofort durch klare Be-
schlüsse geklärt werden.

Sosehr wir es begrüßen, dass hier am Oberrhein
auch der Schienenbonus für die überarbeiteten Pla-
nungen nicht mehr angewendet werden soll, so sehr
bedauern wir, dass dies nur hier und nicht bundesweit
jetzt schon erfolgen soll. Andernorts besteht ebenfalls
der verständliche Wunsch, den Schienenbonus sofort
zu streichen. Hier war die Koalition bestenfalls halb-
herzig. Immerhin ist das Land Baden-Württemberg be-
reit, die Mehrkosten, die ein besserer Lärmschutz be-
dingt, zu tragen. Aber das darf nur die Ausnahme sein;
denn Lärmschutz nach Kassenlage ist keine Lösung.
Wie man am Beispiel des Oberrheintals sieht, wird der
Schienengüterverkehr nur dann akzeptiert, wenn alles
für den Lärmschutz der Anwohnerinnen und Anwohner
Notwendige getan wird. Daran hapert es bei den meis-
ten Schienen- und Straßenbauprojekten leider noch
ganz erheblich.

An dieser Stelle möchten wir als Linke noch einmal
festhalten, dass ein guter Lärmschutz an der Rheintal-
bahn auch mit einer klugen Streckennutzung zu tun
hat. Unseres Erachtens darf es nicht sein, dass der
Neubau im Wesentlichen dem schnellen Fernverkehr
vorbehalten sein soll. Die Strecke muss auch dazu ge-
nutzt werden, laute sowie gefährliche Güterverkehre
aus den Ortschaften herauszubekommen. Denn auch
mit dem vorliegenden Antrag sind Entlastungen der
durch die Orte verlaufenden Altstrecke nicht zu erwar-
ten. Die von der DB gewünschte Verkürzung der Reise-
zeiten zwischen Karlsruhe und Basel ordnen wir die-
sem Ziel nach. Auch eine optimale Nutzung der
gesamten Strecke für den regionalen Bahnverkehr
sollte Vorrang haben.

Das unmissverständliche Signal muss sein, nicht zu
feilschen, sondern fertig zu werden. Das Projekt
Rheintalbahn soll endlich im Einvernehmen mit den
Menschen in der Region umgesetzt werden, damit es
nicht am Ende heißt, die Planungs- und Bauzeit war
länger als die prognostizierte Nutzungsdauer der
neuen Rheintalbahn von circa 100 Jahren.

Mit dem Wechsel der Landesregierung, aber auch
im Zusammenhang mit den bevorstehenden Bundes-
tagswahlen ist nun die Bewegung in das Projekt ge-
kommen, die sich die Menschen in der Region seit Jah-
ren gewünscht haben und für die sie zu Tausenden auf
die Straße gegangen sind. Für die Linke ist klar, dass
sich die Zehntausenden Stunden ehrenamtliche Arbeit
in den Initiativen vor Ort jetzt auszahlen und auch als
eine Investition in die Zukunft verstanden werden soll-
ten.

Zu Protokoll gegebene Reden





Karin Binder


(A) (C)



(D)(B)


Großprojekte dieser Dimension müssen immer zu-
sammen mit den Menschen vor Ort entwickelt werden,
müssen sich den räumlichen, sozialen und ökologi-
schen Interessen einer Region fügen – von Anfang an
und nicht erst dann, wenn der Widerstand in einer Re-
gion zu groß wird. Zudem muss von Anfang an kosten-
transparent und ehrlich geplant werden. Wenn sich mit
dem heutigen Beschluss auch diese Erkenntnis im Bun-
destag durchsetzt, sind wir endlich auch grundsätzlich
einen wichtigen Schritt weitergekommen – nicht nur
am Oberrhein.


Harald Ebner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721733400

Eines unserer wichtigsten verkehrspolitischen Ziele

ist eine stärkere Verlagerung des Güterverkehrs auf
die Schiene. Nicht nur aus umweltpoltischen, sondern
auch aus verkehrspolitischen Zwängen müssen wir
umdenken, weg vom Gütertransport auf der Straße,
denn unsere Straßeninfrastruktur ist nicht beliebig er-
weiter- und finanzierbar, wie uns ja auch Herr Minis-
ter Ramsauer mittlerweile täglich in den Medien er-
läutert. Gut, dass diese Erkenntnis damit auch bei der
Union angekommen ist.

Der zügige Ausbau der Rheintalbahn, darin besteht
bei uns allen Einigkeit, zählt zu den wichtigsten Schie-
neninfrastrukturprojekten in der Bundesrepublik
Deutschland. Die herausragende Bedeutung der
Rheintalschiene im Hinblick auf den europäischen Gü-
terverkehrskorridor wird durch unsere Pflichten aus
dem Staatsvertrag mit der Schweiz zusätzlich betont.
Deshalb ist es wirklich erfreulich, dass es nun auch der
Koalition endlich gelungen ist, einen Antrag vorzule-
gen, der die Bedeutung des Projekts aufgreift und die
Beschlüsse des Projektbeirates vom März des vergan-
genen Jahres unterstützt. Die fraktionsübergreifende
Zustimmung für die Forderungen des Antrages ist da-
her richtig, sie ist wichtig und sie setzt ein deutliches
Signal an die lärmbetroffenen Bürgerinnen und Bürger
der Region. Das heißt aber nicht, dass sich das Parla-
ment auf dem bisher Erreichten ausruhen und die Au-
gen vor den noch vielen offen Fragen und Problemen
beim lärmarmen Ausbau der Rheintalbahn verschlie-
ßen darf.

Der Durchbruch bei der Optimierung der Güter-
zugumfahrung Freiburg und der Bürgertrasse im
Markgräflerland, also den Kernforderungen 3 und 4
der Region, konnte im Wesentlichen aus zwei Gründen
erreicht werden. Zum Ersten ist das Engagement der
vielen Bürgerinnen und Bürger in den Initiativen an
dieser Stelle zu nennen. Gerade die Beteiligung zu ei-
nem frühen Zeitpunkt unterscheidet dieses Projekt von
Stuttgart 21, wo erst in äußerster Not eine Art
Schlichtung versucht wurde, aber viel zu spät, nämlich
nachdem alle entscheidenden Planfestlegungen bereits
erfolgt und die wesentlichen Finanzierungsvereinba-
rungen getroffen waren. Stuttgart 21 zeigt, wie notwen-
dig, die Rheintalbahn zeigt, wie sinnvoll und erfolg-
reich es sein kann, wenn betroffene Bürgerinnen und
Bürger rechtzeitig eine umfassende Mitsprache bei der

Realisierung von Großprojekten einfordern und be-
kommen.

Und zum Zweiten, weil sich das Land Baden-Würt-
temberg bereit erklärt hat, einen Teil der Mehrkosten
für einen angemessenen Lärm- und Landschaftsschutz
zu zahlen, und somit das Land an dieser Stelle Verant-
wortung für seine Bürgerinnen und Bürger übernom-
men hat. Langfristig kann es aber sicher nicht die Auf-
gabe der Bundesländer sein, die Kosten für einen
menschenverträglichen Ausbau der Bundesschienen-
wege zu übernehmen, denn hier ist und bleibt der Bund
in der Pflicht.

Ja, Lärmschutz kostet Geld, und ja, unsere finan-
ziellen Mittel sind begrenzt. Daher muss es endlich
eine Konzentration auf die wichtigen Verkehrsprojekte
wie den Ausbau der Rheintalbahn geben. Es kann doch
nicht sein, dass wir ständig über fehlende Finanzen
klagen und gleichzeitig zusehen, wie die Kosten für
den überflüssigen und wahnsinnig teuren Tiefbahnhof
in Stuttgart exorbitant, nämlich in mehrfacher Milliar-
denhöhe aus dem Ruder laufen und wirklich notwen-
dige Infrastrukturprojekte deshalb bis zum Sankt-Nim-
merleins-Tag verschoben werden. Hier müssen Worten
auch Taten folgen, statt weiter an teuren Prestigeob-
jekten mit unkalkulierbarem Ausgang festzuhalten,
ganz abgesehen davon, dass die Bahn ganz offenbar
nicht einmal in der Lage zu sein scheint, das Projekt
Stuttgart 21 ordnungsgemäß, sicher und im avisierten
Zeitraum durchzuführen.

Die vom Projektbeirat für die Rheintalbahn be-
schlossenen Lösungen für die Kernforderungen 3 und
4 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wie
vor wichtige Punkte im nördlichen Verlauf der Trasse
ungeklärt sind. Insbesondere die sogenannten Kern-
forderungen 1 und 2, also die Untertunnelung in Of-
fenburg und der Trassenverlauf südlich davon. Denn
hier ist der Lärmschutz für die betroffenen Anwohne-
rinnen und Anwohner bislang nicht annähernd befrie-
digend gewährleistet. Hier ist eine offene Prüfung not-
wendig, um die wirklich beste Lösung für Mensch und
Natur zu finden. Jede der denkbaren Trassen betrifft
ökologisch höchst wertvolle und sensible Gebiete,
auch Natura-2000-Flächen, deren Schutzbedürfnisse
nicht hintanstehen dürfen. Denn der Schutz der ökolo-
gischen Lebensgrundlagen ist auch ein Schutz der
Menschen. Gerade deshalb ist darauf zu achten, dass
die Naturschutzbelange objektiv bewertet werden. Es
dürfen nicht die vom Vorhabenträger bisher ungewoll-
ten Trassenvarianten mit fiktiv hohen Kosten für die
Bewältigung der Naturschutzbelange künstlich hoch-
gerechnet und damit verhindert werden.

Der Projektbeirat steht hier vor weiteren Heraus-
forderungen. Wir erwarten an dieser Stelle von der
Bundesregierung, dass sie sich weiterhin ernsthaft im
Projektbeirat für gute und vor allem lärmarme Lösun-
gen für die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohner
einsetzt. Denn nur mit wirksamen Lärmschutzmaßnah-
men werden wir die allgemeine Akzeptanz der Bevöl-

Zu Protokoll gegebene Reden





Harald Ebner


(A) (C)



(D)(B)


kerung für den Ausbau der Rheintalbahn und auch an-
derer Schieneninfrastrukturprojekte erhalten können.

Eine sehr wirksame Lärmschutzmaßnahme wäre die
sofortige Abschaffung des Schienenbonus, statt diese
Abschaffung erst in einigen Jahren wirksam werden zu
lassen. Was Sie als Gesetzentwurf noch am Ende des
vergangenen Jahres vorgelegt haben, widerspricht
doch ihren Forderungen im vorliegenden Antrag. Ei-
nerseits mehr Schallschutzmaßnahmen über das ge-
setzliche Maß hinaus fordern und anderseits den
Anwohnerinnen und Anwohnern einen sofortigen
Rechtsanspruch für den Bau leiser Schienenwege im
Rheintal verwehren, das ist scheinheilig und nimmt die
Sorgen, Ängste und Anliegen der Betroffenen nicht
ernst.

In diesem Sinne lassen Sie uns den Ausbau der
Rheintalbahn gemeinsam als ein Modellprojekt für
lärmarmes, umweltverträgliches, zügiges Bauen ohne
Schienenbonus mit Beteiligung der Bürgerinnen und
Bürger gestalten.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721733500

Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss

für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11932, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/11652 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Empfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.

Tagesordnungspunkt 25:

Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Durch Humanarzneimittel bedingte Umwelt-
belastung reduzieren

– Drucksache 17/11897 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Gesundheit

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Ingbert Liebing (CDU):
Rede ID: ID1721733600

Wasser ist unser wichtigstes Lebensmittel, unsere

gesamte Nahrung und unser Leben hängen davon ab.
Als Lebensmittel Nummer eins muss Trinkwasser ho-
hen Anforderungen genügen. Dank der nachhaltigen
und konsequenten Maßnahmen der Bundesregierung
wird dem seit Jahren Rechnung getragen.

Bereits seit den 70er-Jahren hat die Bundesrepublik
Deutschland unbestreitbare Erfolge im Wasserschutz
erzielt und die Wasserqualität konsequent verbessert.
Auf der anderen Seite hat die SED-Vorgängerpartei
der Antragsteller sich sprichwörtlich einen Dreck um
die Qualität ihrer Gewässer und der Umwelt geschert,
was wir nach der Wende flächendeckend erfahren

mussten. Deshalb sind Sie von den Linken als Antrag-
steller die Letzten, die sich so zu Wasserschutz melden
dürfen. Doch auch dieses Defizit aus der Zeit der DDR
haben wir aufgeholt.

Die qualitativen Eigenschaften unseres Trinkwas-
sers bekommen nach wie vor ausschließlich Bestnoten;
denn die Trinkwasserverordnung gibt diese verbind-
lich vor. Es dürfen zum Beispiel keine Krankheitserre-
ger, Schwermetalle oder andere gesundheitsschädi-
genden Stoffe im Trinkwasser enthalten sein. Unser
Ziel ist es, Wasser als ein großes Gut in ausreichender
Menge und Qualität weiterhin flächendeckend zu ga-
rantieren. Hier ist Deutschland beispielgebend für
viele Länder. Durch eine konsequente Ausweitung und
Modernisierung von Kläranlagen und die innovativen
Entwicklungen der Analyseverfahren der Spurenstoffe
im Wasser ist eine bessere Untersuchung der Wasser-
qualität möglich geworden. Verfahren, die vor Jahren
nicht bekannt waren, werden heute erfolgreich zur
Qualitätsverbesserung unseres Trinkwassers ange-
wendet. Dies waren übrigens in vielen ostdeutschen
Kommunen mit die ersten Infrastrukturmaßnahmen,
die mit dem Aufbau Ost angepackt worden sind, meine
Kolleginnen und Kollegen der Opposition.

Mit dem gleichen wissenschaftlichen Eifer arbeiten
unsere Pharmakologen an hochwirksamen Arzneimit-
teln, die wir als Verbraucher und Patienten in einer al-
ternden Gesellschaft einfordern. Der medizinische
Fortschritt dient uns, den Menschen. Aber es handelt
sich auch um Arzneimittel, die als biologisch aktive
Stoffe nicht nur bei Mensch und Tier ihre Wirkung zei-
gen, sondern auch bei ihren Ausscheidungen und der
Entsorgung ins Abwasser- bzw. Grundwassersystem
eindringen. Diesen Konflikt gilt es aufzulösen. Diese
hocheffizienten medizinischen Wirkstoffe sind uns am
Ende der Kette bei ihrer Abscheidung in der genauen
Wirkung von Kleinstelementen, wie wir sie heute wis-
senschaftlich analysieren können, bedingt durch Tier-
und Humanarzneimittel, noch unzureichend bekannt.
Auch die Frage, ob von den in Gewässern gemessenen
Stoffkonzentrationen ein grundsätzliches oder tatsäch-
liches Risiko ausgeht, kann bis heute nicht eindeutig
für jeden Stoff beantwortet werden.

Der Antrag der Linken befasst sich mit dem Risiko
von Verunreinigungen der Abwässer durch Humanarz-
neimittel, also einem hinlänglich bekannten Sachver-
halt. Liest man den Antrag der Linken, entsteht das
Gefühl, dass dem Thema Schutz der Umwelt vor Risi-
ken aufgrund von Arzneimitteleinträgen bislang kein
ausreichendes Gewicht beigemessen wird. Das ist aber
nicht der Fall. Nicht erst seit heute haben wir klare
europäische und nationale Regelungen für die Zulas-
sung von Arzneimitteln zum Schutz der Patienten und
zum besseren Schutz der Umwelt. Hier werden im Rah-
men von Zulassungsverfahren Umweltauswirkungen
abgeschätzt und bewertet. Bereits in der Amtszeit un-
serer Bundeskanzlerin Angela Merkel als Bundesum-
weltministerin wurde das Umweltbundesamt, UBA,
federführend seit 1997 als mitprüfende Behörde einge-





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)


setzt. Man unterscheidet von der Systematik her aller-
dings zwischen Tier- und Humanarzneimitteln. Bei
Tierarzneimitteln ist das Umweltbundesamt als soge-
nannte Einvernehmensbehörde tätig. Das heißt, es
kann bei der Zulassung von Tierarzneimitteln Auflagen
bestimmen, wenn es Gefahren für die Umwelt sieht, die
sogar bis zur Versagung der Zulassung gehen können.
So weitgehende Befugnisse gelten jedoch nicht für Hu-
manarzneimittel. Bei diesen gibt es seit 2001 entspre-
chende Vorschriften zur Umweltprüfung, die aller-
dings nur für neue Arzneimittel gelten, während ältere
auf dem Markt befindliche Arzneimittel erst einmal au-
ßen vor bleiben. Über die Machbarkeit einer solchen
rückwirkenden Prüfung von etablierten Arzneimitteln
kann man diskutieren.

Rückstände von Arzneistoffen und Kosmetikrück-
ständen, Waschmittelinhaltstoffe, Rückstände von
Pflanzenschutz- und Düngemitteln oder Nanopartikeln
gelangen ins Abwasser und damit in die Umwelt, und
dies alles selbstverständlich grenzüberschreitend.
Deshalb werden derzeit anthropogene Spurenstoffe in
Gewässern bzw. im Trinkwasser zunehmend wegen der
Vielfalt an Stoffen, deren Auswirkungen auf Mensch
und Umwelt zum großen Teil noch nicht bekannt sind,
als komplexes Problem erkannt und diskutiert. Dieses
Thema hat in den letzten Jahren sowohl die Fachwelt,
die Medien als auch die Öffentlichkeit zunehmend be-
schäftigt. So war gerade die Belastung von Gewässern
durch Arzneimitteleinträge Gegenstand einer sechs-
jährigen Beratung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe der
Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft für Chemikalien-
sicherheit. Hier wurden richtungsweisende Messver-
fahren entwickelt. Aber es gibt noch Einiges zu tun;
das ist uns allen bewusst. Uns muss aber auch allen
klar sein, dass eine Lösung nur im europäischen Rah-
men Sinn macht. Nicht nur Deutschland hat mittler-
weile umfangreiche gesetzliche Regelungen im Bereich
des Emissionsschutzes bzw. im Bereich der Chemika-
lienbewertung, sodass genau geprüft werden kann, ob
und welche Schadstoffe ins Wasser gelangen. Wir sind
uns alle einig, dass die Belastung von Gewässern so
gering gehalten werden muss wie nur möglich, aber
gerade im Kleinstpartikelbereich lässt sich dies noch
nicht überall realisieren.

Was die Prüfung von gefährlichen Stoffen angeht, so
ist der Standard auf europäischer Ebene weitgehend
harmonisiert worden. Ständig werden die Bedingun-
gen für eine sichere Nutzung im Rahmen des Stoffrech-
tes geprüft. So führt die REACH-Verordnung dazu,
dass bis 2018 für einen Großteil der chemischen Stoffe
Einstufungen und Kennzeichnungen verfügbar sind.
Schon heute sind über 100 000 Stoffe so in einem Da-
tenpool erfasst. Die bestehenden Informationslücken
bei den sogenannten Altstoffen im Bereich Biozide, In-
dustriechemikalien und Arzneimittel, werden bis 2020
abgebaut sein. Aber auch der Grundsatz der Verringe-
rung der Spurenstoffe an der Quelle ist für uns die Ba-
sis zur Vermeidung der Umweltverschmutzung durch
Spurenstoffe.

Unser primäres Ziel muss also sein, diese Stoffe erst
gar nicht in den Wasserkreislauf gelangen zu lassen.
Die Information der Verbraucher über den verantwor-
tungsvollen Umgang mit Produkten, die solche Stoffe
enthalten, gilt es ständig zu verbessern, und es sollen
Umweltverträglichkeit und mögliche Substitution kriti-
scher Stoffe sowie Verwendungsbeschränkungen vor-
angetrieben werden.

Um mögliche toxische Stoffe nicht in den Wasser-
kreislauf gelangen zu lassen, müssen alle wichtigen In-
formationen für den Patienten bzw. Bürger über den
Umgang mit Produkten zugänglich gemacht werden.
Daran arbeiten wir. Um die Bevölkerung zu sensibili-
sieren und die Bürgerinnen und Bürger aufzuklären,
damit Verhaltensveränderungen in der Entsorgung von
Arzneimitteln eintreten, stellt die Bundesregierung ein
breites Angebot an Informationsmedien zur Verfügung.
Hier möchte ich als Beispiel den Blauen Engel erwäh-
nen oder auf die Informationen zur Vermeidung von
Biozideinsatz seitens des Umweltbundesamtes auf-
merksam machen. Außerdem werden von der Bundes-
regierung zahlreiche Institutionen im Rahmen der Ver-
bändeförderung gefördert, die die Bürger zum Thema
Chemikalien in Produkten aufklären.

Sie sehen, das Bundesumweltministerium und die
Bundesregierung wirken konstruktiv daran mit, die re-
levanten Fakten zu erfassen, zu analysieren und poten-
zielle Risiken zu bewerten und Lösungswege zu erar-
beiten. Aber damit nicht genug: Die Bundesregierung
sieht weiterhin Forschungsbedarf bei anthropogenen
Stoffen in Gewässern und Böden durch Arzneimittel-
rückstände. Es werden derzeit mehrere Projekte geför-
dert oder sind in Planung. Da sind zum Beispiel For-
schungsarbeiten, die sich mit der Frage befassen, ob
die Belastung durch endokrine Disruptoren, das heißt
Umwelthormone zunehmen oder nicht. Mit einem an-
deren Forschungsvorhaben soll das Biomonitoring
von Arzneimitteln vorangetrieben werden. Das Bundes-
ministerium für Bildung und Forschung fördert im
Rahmen seines Förderschwerpunktes „Nachhaltiges
Wassermanagement“ insgesamt zwölf Verbundfor-
schungsprojekte mit einem Finanzvolumen von 30 Mil-
lionen Euro. Hier werden Fragen zu den ökotoxiko-
logischen Folgen von Gewässern und Böden durch
Arzneimittelrückständen angegangen und beantwortet.
Außerdem gibt es Bemühungen, eine bessere Daten-
grundlage hinsichtlich der Belastung von Umweltme-
dien mit Arzneistoffen zu erhalten. In diesem Zusammen-
hang hat auch die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft
für Chemikaliensicherheit das Thema „Umweltrisiken
durch Arzneimittel“ wieder aufgegriffen und wird wei-
teren Handlungsbedarf prüfen. Des Weiteren fördert
das Bundesumweltministerium regelmäßig aus Mitteln
des Umweltforschungsplans Vorhaben, die das Thema
Erkennung der Risiken durch Arzneimittel für die Um-
welt und Möglichkeiten der Risikominderung zum Ge-
genstand haben.

Der vorliegende Antrag der Linken fordert die Ein-
führung einer gesetzlichen Verpflichtung für Zulas-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingbert Liebing


(A) (C)



(D)(B)


sungsnehmer und ein umfassendes Messprogramm
zum Nachweis von Arzneistoffen in Umweltmedien
durchzuführen. Grundsätzlich ist gegen ein solches
Nachzulassungsmonitoring nichts einzuwenden. Es
geht aber in der Form, wie der Antrag es vorschlägt,
zu weit und wäre nicht gerechtfertigt. Selbst bei Pflan-
zenschutzmitteln gibt es keine Vorschriften, die so weit
reichen.

Des Weiteren fordert der Antrag eine gesetzliche
Rücknahmeverpflichtung der nicht verbrauchten Arz-
neimittel durch die Apotheken. Dies wäre viel zu auf-
wendig und würde einen enormen bürokratischen Auf-
wand bedeuten. Auch hier sei auf die umfangreichen
abfallrechtlichen Vorschriften verwiesen, die wir in
den letzten Jahren in diesem Haus auf den Weg ge-
bracht haben.

Schließlich fordert der Antrag eine Änderung des
deutschen Rechtes dahin gehend, dass bislang nicht
durchgeführte Umweltprüfungen von Altarzneimitteln
in der Verantwortung und auf Kosten der Zulassungs-
nehmer nachgeholt werden. Auch diese Forderung ist
schlichtweg unrealistisch; denn eine solche Gesetzes-
änderung hätte nur auf EU-Ebene eine Chance auf
Durchsetzung und Erfolg. Deshalb setzt sich die Bun-
desregierung auf europäischer Ebene für eine bessere
Vernetzung von Wasserrecht und Stoffrecht ein. Aus al-
len diesen Gründen wird die Unionsfraktion den An-
trag der Fraktion der Linken ablehnen.


Waltraud Wolff (SPD):
Rede ID: ID1721733700

Ungefähr 3 500 Arzneimittelwirkstoffe sind in

Deutschland zugelassen. Etliche davon werden im
Körper nicht abgebaut. Über die Toilettenspülung ge-
langen sie in Bäche, Seen und Flüsse. Ungefähr
150 Arzneimittelwirkstoffe wurden bisher in den Ge-
wässern nachgewiesen.

Bereits 2003 hat das Monitoringprogramm der
Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaft für Chemikaliensi-
cherheit, BLAC, ein realistisches Bild der Belastung
der Umwelt mit Arzneimitteln geliefert. Arzneimittel
wurden flächendeckend in den Oberflächengewässern
nachgewiesen. Röntgenkontrastmittel haben die höchs-
ten Konzentrationen, gefolgt von Diclofenac und dem
Antiepileptikum Carbamazepin.

Das Rheuma- und Schmerzmedikament Diclofenac
– auf Nummer zwei dieser Liste – hat nachgewiesene
ökotoxikologische Effekte: Am Bayerischen Landes-
amt für Umwelt wurde 2004 untersucht, wie in der
Realität vorkommende Konzentrationen auf Forellen
wirken. Das Ergebnis: Nach vier Wochen waren die
Kiemen verändert und die Nieren geschädigt.

Diclofenac soll daher – so hat es die EU-Kommis-
sion vorgeschlagen – auf die Liste der prioritären
Stoffe, also auf die Liste der Stoffe, die langfristig nicht
mehr in die Gewässer gelangen sollen. Sowohl im
Europäischen Parlament als auch im Bundesrat hat
die Debatte darüber deutlich gemacht: Es ist unklar,

ob die wissenschaftliche Bewertung so weit ist, für
Gewässer Umweltqualitätsnormen für Arzneimittel fest-
zulegen. Außerdem müssen den Patientinnen und Pa-
tienten weiterhin wirksame Medikamente zur Verfü-
gung stehen.

Dies entbindet uns aber nicht davon, den Eintrag
von Arzneimitteln in die Gewässer zu vermindern. Das
Umweltbundesamt hat dazu ja Vorschläge gemacht.
Letztendlich schlägt das UBA eine Minimierungsstra-
tegie vor, die von einem umfassenden Umweltmonito-
ring begleitet wird. Das ist ein vernünftiges Konzept.

Eine Umweltbewertung ist mittlerweile für neu zu-
zulassende Arzneimittel vorgesehen. Bei Tierarznei-
mitteln kann die Umweltbewertung zur Nichtzulassung
führen, bei Arzneimitteln für den Menschen können
Auflagen festgelegt werden. Dies ist ein wichtiger
Schritt. Kümmern müssen wir uns um die Medika-
mente, die noch ohne Umweltbewertung zugelassen
wurden. Eine nachträgliche Umweltbewertung für all
diese Medikamente schießt aber über das Ziel hinaus.
Eine Kombination aus Umweltmonitoring und Bewer-
tung der Wirkstoffe mit Umweltrelevanz scheint mir
angemessen.

Wir wollen, dass weniger Arzneimittel in die Ge-
wässer gelangen. Problematisch ist, dass es sich viel-
fach um diffuse Einträge handelt. Während Rönt-
genkontrastmittel in Krankenhäusern herausgefiltert
werden können, bevor sie ins Abwasser gelangen, wird
Diclofenac zu Hause eingenommen. Das macht es
schwer, die Wirkstoffe wieder aus dem Wasser zu fil-
tern. Eine vierte Reinigungsstufe bei kommunalen
Kläranlagen ist nicht zu finanzieren, sie macht nur
Sinn bei Punkteinträgen – wie zum Beispiel den Kon-
trastmitteln im Krankenhaus.

Was kann man tun? Das UBA empfiehlt eine Infor-
mationskampagne, um die Bevölkerung über die rich-
tige Entsorgung von Arzneimitteln zu informieren und
einheitliche Entsorgungswege zu schaffen. Es muss
klar sein: Altmedikamente gehören in die graue Tonne.
In den Müllverbrennungsanlagen werden die arznei-
lichen Wirkstoffe so zerstört, dass kein Eintrag in die
Umwelt mehr erfolgen kann. Sie gehören nicht ins Klo
gespült. Das UBA empfiehlt weiter, Ärzte und Apothe-
ker über die Umweltwirkungen von Arzneimitteln zu
informieren und ein Klassifikationssystem zu schaffen.
Damit könnte die Umweltwirkung in die Auswahl der
Medikation einfließen. Zusätzlich müssen wir den Ein-
trag von Arzneimitteln aus der Tierhaltung minimie-
ren.

Mit der Umweltbewertung von neuen Arzneimitteln
ist bereits ein wichtiger Schritt gemacht. Es geht – und
das mahnt die Linke in ihrem Antrag zu Recht an – jetzt
darum, weiterzugehen. Das bedeutet für mich: Wir
brauchen ein Umweltmonitoring, und wir brauchen
eine umsetzbare und finanzierbare Minimierungsstra-
tegie, die auch den Interessen der Patienten und Pa-
tientinnen gerecht wird. Das müssen wir anpacken.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Horst Meierhofer (FDP):
Rede ID: ID1721733800

Die Linke macht einen Vorschlag, und – wie sollte

es anders sein – der Vorschlag ist unreif, weil er ein-
fach nicht zu Ende gedacht wurde. Sie werfen ein Pro-
blem auf, das die Koalition und die Bundesregierung
seit einiger Zeit bereits beschäftigt. Es ist richtig, dass
Altarzneimittel in relevanten Größenordnungen
fälschlicherweise über Toiletten und Spülbecken ins
Abwasser gelangen. Es ist auch richtig, dass einige
Wirkstoffe zum Teil unverändert über Ausscheidungen
ins Abwasser gelangen. Diese Fakten haben dazu ge-
führt, dass wir in Europa auf Bestreben der Bundesre-
gierung Hormone zum Beispiel bei der Antibabypille
oder auch Wirkstoffe wie Diclofenac als prioritäre
Stoffe stärker beobachten und entsprechende Maßnah-
men wie zusätzliche Reinigungsstufen in besonders be-
troffenen Gebieten durchführen lassen.

Jetzt geht es Ihnen aber natürlich nicht darum, sich
mit unseren Maßnahmen auseinanderzusetzen. Sie
bringen zwei Vorschläge, mit denen Sie das Wasser
noch stärker von Medikamenten befreien wollen. Das
eine ist die verpflichtende Einführung eines Medika-
mentenrücknahmesystems für Apotheken, und das an-
dere die Einführung eines ständigen Umweltmonito-
rings für jeden zugelassenen Arzneistoff. Beide
Vorschläge überzeugen mich nicht. Neben der Rück-
nahmepflicht alter Medikamente durch die Apotheken
wollen Sie auf diese Abgabemöglichkeit auf jedem Bei-
packzettel hinweisen. Dadurch hoffen Sie, das Gegen-
argument zu entkräften, dass eine solche Rücknahme-
pflicht nichts bringt. Ich muss Sie leider trotzdem
darauf hinweisen: Diese Rücknahmepflicht bringt
nichts. Sie schaffen zusätzliche Vorschriften und erzie-
len keine positive Wirkung. Wie Sie sicherlich wissen,
machen die Apotheken mit den Medikamenten nichts
anderes als das, was passiert, wenn man sie über den
Hausmüll entsorgt. Sie werden verbrannt. Gelegent-
lich gibt es sogar Apotheker, die Chemikalien und Me-
dikamente nicht sachgerecht entsorgen. So hat zuletzt
im Mai vergangenen Jahres ein Apotheker in Memmin-
gen durch die Entsorgung über das Abwasser für einen
Großeinsatz der Polizei und Feuerwehr gesorgt.

Der entscheidende Punkt ist aber: Einige von denje-
nigen, die bereits jetzt Medikamente sachgerecht im
Hausmüll entsorgen, machen sich dann vielleicht die
Mühe, alte Arzneimittel tatsächlich zur Apotheke zu
bringen. Die meisten anderen tun dies aber vermutlich
nicht. Mit Ihrem Vorschlag werden Sie diese meisten
anderen jetzt aber nicht mehr darüber informieren
können, dass die Entsorgung über den Hausmüll die
richtige Alternative ist. Damit steigt mangels Informa-
tion voraussichtlich der Anteil derjenigen, die Medika-
mente falsch entsorgen. Unser größtes Interesse ist
aber vor allem, die Berührung mit Wasser weitgehend
zu vermeiden. Ihr Vorschlag führt damit nicht nur
dazu, dass überhaupt kein Vorteil erzielt wird. Er birgt
sogar das Risiko, dass das Gegenteil von dem passiert,
was Sie sich wünschen. Ich bin dafür, im Beipackzettel
auf die richtige Entsorgungsart hinzuweisen: die Rest-

mülltonne. Ihr Vorschlag ist allerdings kontraproduk-
tiv.

Auch für die andere Frage liefert die Linke eine fal-
sche Antwort. Sie glauben, durch ein umfassendes Um-
weltmonitoring die Gewässer besser zu schützen. Ich
glaube, Sie verrennen sich. Nicht, dass Sie mich falsch
verstehen, der Gewässerschutz steht für mich an
oberster Stelle. Und dennoch: Ihr Vorschlag wird der
Sache nicht gerecht. In Deutschland führt das Bundes-
institut für Arzneimittel und Medizinforschung mo-
mentan 91 482 zugelassene Arzneimittel auf. Darunter
sind Arzneimittel und Wirkstoffe, die in großer Menge
abgesetzt werden, und solche, die nur in sehr geringen
Stückzahlen und ausschließlich in Krankenhäusern
eingesetzt werden. Bei jedem neu zugelassenen Arznei-
mittel findet eine Umweltbewertung statt. Sie wollen
nach der Zulassung für jede Substanz eine Überwa-
chung der Auswirkungen einführen. Mir ist nicht klar,
ob Sie den Umfang dieser Überwachungsmaßnahmen
richtig einschätzen können. Für fast 100 000 Medika-
mente sollen ständige Prüfungen im Wasser und Boden
durchgeführt werden. Die dafür erforderlichen Labor-
kapazitäten und Kosten sind gigantisch. Für viele der
Wirkstoffe bestehen noch überhaupt keine Messverfah-
ren. Wie gehen Sie mit diesen um? Und was ist dann?
Einmal angenommen, Sie hätten für jeden erdenkli-
chen Wirkstoff eine belastbare, natürlich unter Berück-
sichtigung der regionalen Besonderheiten erstellte
Aussage über die Konzentration in den verschiedenen
Gewässern. Dann wollen Sie einen Auftrag an das
Umweltbundesamt erteilen, inwieweit stärkere Aufla-
gen für die Anwendung von Arzneimitteln zu einer Ver-
besserung der Wasserqualität führen. Und dann?
Dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Wenn es
sich nämlich um ein nutzbringendes Medikament han-
delt – und genau das wird in der Zulassung bekannt-
lich geprüft –, dann hilft Ihnen die Aussage, dass es
wassergefährdend ist, nicht weiter. Sollte etwa ein
wassergefährdendes, aber hochwirksames Krebsmedi-
kament erlaubt oder nicht erlaubt werden? Sie müssten
dann zwischen Gesundheit und Umwelt abwägen.
Denn das kann das Umweltbundesamt mit Sicherheit
nicht.

Ich finde unseren Weg deutlich besser. Wir konzen-
trieren unsere Kapazitäten auf die Wirkstoffe, die wir
aufgrund der Menge und durchgeführten Umweltbe-
wertungen für besonders problematisch halten, und
suchen nach sinnvollen Lösungen, um den Eintrag in
das Wasser effektiv zu verringern. Damit erreicht man
schneller und besser Ergebnisse als mit Ihrem Vor-
schlag.

Die Linke will ein bürokratisches Monster erschaf-
fen, Unsummen finanzieller Mittel der Hersteller auf-
wenden und wird am Ende dabei nichts erreichen. Ich
halte Ihren Vorschlag für das gut gemeinte und
schlecht gemachte Unterfangen, durch viel zu viele
Aufgaben die Verwaltung zu erdrosseln und damit für
niemanden einen Vorteil zu erzielen. Das ist bedauerli-
cherweise ein Wesenszug Ihrer Politik.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Ralph Lenkert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721733900

Proben aus unseren Flüssen erschrecken Fachleute,

immer mehr Reste von Arzneimitteln, Kontrastmitteln
und Hormonpräparaten finden sich im Wasser. Das
Umweltbundesamt stellte fest: Einer unserer beliebtes-
ten Speisefische, der Zander, hat Probleme. Den Zan-
derfamilien gehen die Männer aus, es gibt nur noch
halb so viele Kerle wie üblich und nötig. Damit die
Zanderpopulation überleben kann, braucht es wieder
mehr Männer unter der Wasseroberfläche.

Der Zander ist nur ein Beispiel. Viele Tierarten lei-
den unter den Abfällen der Wirtschaft und in diesem
Fall unserer Gesundheitswirtschaft. Die Naturfreunde
und Umweltschützer in EU und UBA haben auch so-
fort die passende technische Lösung parat: Die vierte
Reinigungsstufe für Klärwerke muss her. Anfangen
will man in den Großstädten und dann das Problem
Klärwerk für Klärwerk abarbeiten.

Die Projektbüros frohlocken, die Bauindustrie reibt
sich die Hände, und die Klärwerkslobby träumt von
neuen Rekorden. Zwischen 2 und 3 Euro Mehrkosten je
Kubikmeter Abwasser würden entstehen, schätzte man
im Schweriner Umweltministerium. Ich will das mal
für eine Thüringerin hochrechnen. Also, wir brauchen
im Thüringer Durchschnitt etwa 80 Liter Wasser am
Tag. Das sind bei 365 Tagen im Jahr 29 200 Liter oder
29 Kubikmeter. Da wir Politiker uns bei Preisen, wie
zum Beispiel bei Stuttgart 21, eher zu niedrig orientie-
ren, rechne ich mit 3 Euro weiter. 29 Kubikmeter mal
3 Euro pro Kubikmeter sind 87 Euro Mehrkosten im
Jahr. Für uns 2,4 Millionen Thüringerinnen und Thü-
ringer ergibt das ein zusätzliches jährliches Geschäfts-
volumen von 210 Millionen Euro allein in Thüringen.

Wer soll das bezahlen? Die Bürgerinnen und Bür-
ger, die Unternehmen im Freistaat? Schon jetzt zahlt
die Thüringer Landesregierung jährlich über 73 Mil-
lionen Euro, damit die Kostenexplosion bei Abwasser-
gebühren und Beiträgen, durch die zweite und dritte
Reinigungsstufe und zentralisierte Abwasserbehand-
lung ausgelöst, sozialverträglich abgemildert wird.

Vor dem Thüringer Verfassungsgericht liegt der An-
trag eines Volksbegehrens, von mehr als 25 000 Unter-
zeichnerinnen und Unterzeichnern getragen, der sich
gegen überhöhte Kommunalabgaben richtet, auch und
insbesondere beim Abwasser.

Wer in dieser Situation eine weitere Gebührenerhö-
hung auslöst, gefährdet den sozialen Frieden unserer
Republik und im Übrigen auch seine eigene Wieder-
wahl.

Was tun? Die Umwelt schreit nach Hilfe, und viele
Bürgerinnen und Bürger können diese nicht mehr
schultern. Keine Medikamente sind auch keine Lö-
sung.

Die Linke hat deshalb ein Konzept ausgearbeitet,
wie es gelingen könnte, die Flüsse vom Medikamenten-
cocktail zu entlasten, ohne dass der Abwasserpreis ex-
plodiert. Heute sprechen wir über unseren Antrag im

Bundestag, der die Bundesebene umfasst, und meine
Kolleginnen und Kollegen werden ergänzende Anträge
auf Länderebene einbringen.

Die Langzeitwirkungen von Arzneimitteln in Ge-
wässern müssen besser bekannt werden, die Wirkung
ihrer Substanzen und Zerfallsprodukte auf Tiere und
Pflanzen müssen wir kennen. Deshalb fordern wir,
dass die Bundesregierung dies zum Bestandteil der Zu-
lassung von Medikamenten auf der EU-Ebene macht.
Auch national müssen die Überwachung und Unter-
suchung der Verbreitung und Wirkung von Medika-
menten in der Umwelt entsprechend dem geschätzten
Gefahrenpotenzial erfolgen. Als Ziel wollen wir errei-
chen, dass Wirkstoffe und Medikamente, welche keinen
medizinischen Extranutzen im Vergleich zu anderen
Mitteln haben, aber die Umwelt stärker belasten als
andere wirkungsgleiche Medikamente, die Zulassung
verlieren. Das ist ein Schritt, der langfristig für Entlas-
tung in den Gewässern sorgen wird.

Bis zur Änderung der Verpackungsverordnung im
Jahr 2009 gab es ein herstellerfinanziertes Rücknah-
mesystem für Altarzneimittel. Dies wurde abgeschafft.
Wohin also mit den Medikamenten, die übrig sind oder
deren Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist? Dies fragen
sich viele, wenn die Apotheke deren Annahme verwei-
gert. Einige werfen Altarzneimittel in den Hausmüll –
dies ist meistens richtig. Aber einige fabrizieren Müll-
trennung: Die Verpackungen zu Verpackungen – und
die Tabletten, die Tropfen ab in den Ausguss. Unend-
lich viele Punkte stehen auf den Beipackzetteln, aber
der Entsorgungsweg von Resten fehlt zumeist. Eine ge-
setzliche Verpflichtung für ein erneutes herstellerfi-
nanziertes Rücknahmesystem, das 2015 funktioniert,
und eine Verpflichtung, dass der Entsorgungsweg auf
der Verpackung und auf dem Beipackzettel steht, wäre
ein erster, zwar kleiner, aber schneller Schritt, um ei-
nen Teil der Arzneimittelfracht aus dem Wasser zu be-
kommen.

Auf der Länderebene fordert die Linke eine gezielte
Vorreinigung oder getrennte Erfassung und Entsor-
gung der besonders mit Arzneimitteln belasteten Ab-
wässer zum Beispiel aus Kliniken und Pflegeeinrich-
tungen. Das reduziert die Mengen des zu reinigenden
Abwassers und erleichtert wegen der höheren Konzen-
tration von Schadstoffen die Klärtechnik.

Als Mann, Vater und Liebhaber von gebratenem
Zanderfilet habe ich Angst, Angst, dass wir uns über
das Essen selbst vergiften, Angst, dass die Männer, wie
die Zander, zeugungsunfähig werden und ich vielleicht
keine Enkel erlebe. Und als Vater und Bürger habe ich
Angst, dass für viele Mitbürger das Leben unbezahlbar
wird und es deshalb zu sozialen Unruhen mit unabseh-
baren Folgen kommt. Deshalb bitte ich Sie: Folgen Sie
unseren Vorschlägen, notfalls kopieren Sie diese. Wir
stellen diese Vorschläge nicht unter das Urheberrecht.

Helfen Sie bitte mit, damit sich die Zanderfamilien
gesund in sauberem Wasser vermehren und sich alle
die Abwassergebühren leisten können, damit wir ohne

Zu Protokoll gegebene Reden





Ralph Lenkert


(A) (C)



(D)(B)


den Wahnsinn einer vierten Reinigungsstufe in kom-
munalen Klärwerken die Umwelt und unsere Gesund-
heit schützen und ich ohne Angst und Gewissensbisse
Zander genießen kann.


Dorothea Steiner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721734000

Verbraucherinnen und Verbraucher wissen derzeit

nicht, wohin mit abgelaufenen Arzneimitteln. Uns al-
len ist bekannt, dass eine sachgerechte Entsorgung
derzeit nicht sichergestellt ist. Viele Apotheken verwei-
gern seit einer Änderung der Verpackungsverordnung
die Annahme von Altmedikamenten. Bis 2009 gab es
ein etabliertes Rückgabesystem bei den Apotheken, or-
ganisiert durch Hersteller und Handel. Heute gibt es
kein flächendeckendes Entsorgungssystem; nur einige
wenige Apotheken nehmen Altmedikamente weiterhin
an und sorgen für die sichere Entsorgung – meist auf
eigene Kosten.

Die Bundesregierung empfiehlt, Altmedikamente
über den normalen Hausmüll zu entsorgen. Der Minis-
ter scheint dies als ausreichend anzusehen, zumindest
ergibt dies die Antwort auf eine Kleine Anfrage der
Grünen im Juni 2011. Wie wir ist auch das Umwelt-
bundesamt anderer Ansicht. Es empfiehlt auf seiner
Internetseite nachdrücklich: „Medikamentenreste
NICHT über den Ausguss und das Klo oder den Haus-
müll entsorgen!“ Das UBA fordert weiterhin, „unver-
brauchte Arzneimittel über Apotheken und Schadstoff-
sammelstellen zu entsorgen“.

Zu viele Altmedikamente, insbesondere flüssige Arz-
neien, werden jetzt über die Toilette entsorgt. Viele
Wirkstoffe können aber in den Kläranlagen nicht abge-
baut werden. Diese finden wir anschließend in unseren
Gewässern wieder – mit unangenehmen Folgen. So
wurden unterhalb der Kläranlagen bereits Verweibli-
chungen bei männlichen Fischen nachgewiesen. Au-
ßerdem endet der giftige Cocktail im Trinkwasser.

Ursache sind letztlich auch die Unklarheiten bei der
Entsorgung. Es gab bis 2009 einen gut funktionieren-
den Entsorgungsweg, der von der Bevölkerung ange-
nommen wurde: die kostenlose Annahme in den Apo-
theken. Weil dieses vernünftige System abgeschafft
wurde, haben wir jetzt einen Flickenteppich an „Lö-
sungen“. Diese sind von Kommune zu Kommune un-
terschiedlich. Damit nimmt das Ministerium die stei-
gende Gefahr durch unsachgemäße Entsorgung über
Toiletten und Abflüsse in Kauf. Wir brauchen die Mög-
lichkeit der Rückgabe in den Apotheken als sinnvolles
Angebot an Verbraucherinnen und Verbraucher. Eine
Pflicht zur Abgabe in Apotheken, wie von der Fraktion
der Linken gefordert, halten wir jedoch für falsch.

Wir haben aber noch weitere Probleme; denn Medi-
kamente gelangen auch über andere Wege in die Ge-
wässer. Sie werden zum Beispiel von Menschen und
Tieren ausgeschieden, und ihre Bestandteile sind wei-
terhin wirksam. Gülle und Klärschlamm, die häufig als
Dünger eingesetzt werden, enthalten neben Nährstof-
fen auch Substanzen wie Schwermetalle und Arznei-

mittelrückstände. Dringend notwendig ist daher die
Begrenzung von Schadstoffeinträgen in Böden und
Grundwasser in den verschiedenen Verordnungen, die
Gewässer-, Bodenschutz-, Landwirtschafts- und Ab-
fallpolitik betreffen.

Über den heute zur Beratung anstehenden Linken-
Antrag hinaus sehen wir die Notwendigkeit, auch das
Chemikalien- und das Arzneimittelrecht auf diese Pro-
bleme einzustellen. Es sind neben den Rückständen
von Arzneimitteln auch Chemikalien aus Alltagspro-
dukten, die die Gewässer massiv belasten. Ein bekann-
tes Beispiel sind die perfluorierten Tenside (PFT). PFT
sind langlebige organische Chemikalien, die in der
Natur nicht vorkommen. Sie werden in einer Vielzahl
von Alltagsprodukten verwendet. Bei jedem Waschen
aber lösen sich kleinste PFT-Partikel von den Produk-
ten und gelangen über kurz oder lang in die Umwelt.
Lange wurde das Problem unterschätzt und negative
Auswirkungen der PFT auf verschiedenste Organis-
men negiert. Mittlerweile sind diese nachgewiesen. Im
Rahmen des europäischen Chemikalienrechts wurde
der Einsatz von zumindest einer PFT-Stoffgruppe weit-
gehend verboten. Was bleibt, sind jedoch weiterhin die
Belastungen durch das sich bereits in der Umwelt be-
findliche PFT und andere PFT-Stoffgruppen.

Wir brauchen einen vorsorgenden Gewässerschutz,
bevor sich die Umweltprobleme massiv ausweiten. Wir
Grüne wollen ein fachrechtübergreifendes Vorsorge-
konzept mit strengen Grenzwerten für Stoffeinträge al-
ler Art in unsere Gewässer und ein systematisches,
bundesländerübergreifendes Arzneimittelmonitoring.
Dies geht über den Antrag der Linken noch deutlich
hinaus.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721734100

Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/11897 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann haben wir das so beschlossen.

Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b sowie Zusatz-
punkt 7:

28 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)


– zu dem Antrag der Abgeordneten Jens Spahn,
Dietrich Monstadt, Michael Grosse-Brömer,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Heinz
Lanfermann, Jens Ackermann, Rainer
Brüderle und der Fraktion der FDP

Revision der europäischen Medizin-
produkte-Richtlinien: Vertrauen wieder
herstellen – Patientensicherheit bei Medi-
zinprodukten muss erste Priorität sein

– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. Harald
Terpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Sicherheit, Wirksamkeit und gesundheitli-
chen Nutzen von Medizinprodukten besser
gewährleisten

– Drucksachen 17/11830, 17/8920, 17/12088 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dietrich Monstadt

b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, Petra
Ernstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der SPD

Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten

– Drucksachen 17/9932, 17/11312 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Harald Terpe

ZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(14. Ausschuss)

Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE

Opfer des Brustimplantate-Skandals unter-
stützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizi-
nischer Notwendigkeit

– Drucksachen 17/8581, 17/12092 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Marlies Volkmer

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Dietrich Monstadt (CDU):
Rede ID: ID1721734200

Wenn man die aktuelle öffentliche Debatte zur Si-

cherheit von Medizinprodukten verfolgt, soll man den
Eindruck gewinnen, die Politik wäre erst durch einen
Skandal um schadhafte Brustimplantate aus dem
Dornröschenschlaf erwacht und würde dem Thema
keine Aufmerksamkeit schenken. Dies ist unzutreffend.
Wir handeln. Wir haben in der letzten Legislaturpe-
riode das Medizinproduktegesetz, MPG, welches die
Umsetzung dreier europäischer Richtlinien in nationa-
les Recht darstellt, überarbeitet. Unter anderem trat
im Frühjahr 2010 die Medizinprodukte-Klinische-Prü-
fungsverordnung, MPKPV, in Kraft, welche eine Ver-
einheitlichung des Einreichungsverfahrens von klini-
schen Prüfungen und eine Bündelung in den einzelnen
Bundesländern beim Deutschen Institut für Medizini-
sche Dokumentation und Information, DIMDI,
brachte. Dieses System hat sich bewährt und stellt eine
bürokratische Erleichterung dar.

Seit der zweiten Jahreshälfte 2011 arbeitete man in
Brüssel an einer Überarbeitung der europäischen Me-
dizinprodukterichtlinien, die auch in Deutschland mit
Spannung erwartet wurde, regeln diese Richtlinien

doch die deutsche Medizinproduktegesetzgebung weit-
gehend durch harmonisierte Rechtsvorschriften. Es
wurde der Probebetrieb eines von der Industrie und
den Krankenkassen finanzierten Endoprothesenregis-
ters aufgenommen, welcher von der Bundesregierung
finanziell unterstützt wurde. Durch die Allgemeine
Verwaltungsvorschrift zur Durchführung des Medizin-
produktegesetzes wird die Überwachung im Medizin-
produktebereich durch die zuständigen Behörden der
Bundesländer ab dem 1. Januar 2013 zentralisiert und
spürbar optimiert.

Ende Dezember 2011 wurde der Fall des französi-
schen Herstellers für Brustimplantate Poly Implant
Prothese, PIP, bekannt. Wie man heute weiß, hatte die
Firma Brustimplantate, die auch nach Deutschland
geliefert wurden, nicht mit Silikon medizinischer Qua-
lität, sondern mit billigerem Industriesilikon befüllt,
welches ein zwei- bis sechsfach erhöhtes Risiko für
Rupturen, Risse, aufweist. Die Folge war, dass Frauen
sich aufgrund drohenden oder bereits erfolgten Sili-
konaustritts die Implantate explantieren lassen muss-
ten. Dieser für die Betroffenen äußerst bedauernswerte
Fall ist nun Ausgangspunkt einer Debatte über die Si-
cherheit von Medizinprodukten und deren Marktein-
führung und Marktüberwachung generell geworden.
Es ist in der Sache richtig, dass wir uns mit dem Thema
Sicherheit von Medizinprodukten beschäftigen. Des-
halb erörtere ich hier den Antrag der Regierungskoali-
tion. Ich möchte aber betonen, dass es nicht zielführend
ist, einen kriminellen Fall wie PIP zu emotionalisieren
und die Fakten aus dem Blick zu verlieren. Wir brau-
chen kein hastiges Rufen nach Verschärfungen im
Zuge eines aufgetretenen Skandals, sondern müssen
eine an der Sache orientierte Debatte führen.

Welches sind die großen Streitfragen beim Thema
Medizinproduktesicherheit? Erstens. Marktzugangs-
voraussetzungen. Für die CDU/CSU-Fraktion hat
Patientensicherheit oberste Priorität, weshalb wir
kurzfristig eine spürbare Verbesserung der Sicherheit
erreichen wollen – hauptsächlich im Bereich der
Marktüberwachung. Dem Patienten soll dabei gleich-
zeitig weiterhin der schnelle Zugang zu innovativen
Medizinprodukten erhalten bleiben. Auch die Opposi-
tionsfraktionen haben den Vorfall PIP zum Anlass ge-
nommen, Änderungen an bestehenden gesetzlichen Re-
gelungen bei Medizinprodukten zu fordern. In einigen
Punkten, die den Bereich Marktüberwachung tangie-
ren, stimmen diese Anträge der Koalitionsmeinung zu.
Die Regierungskoalition ist sich jedoch einig, dass wir
eine staatliche oder behördliche Zulassung von Medi-
zinprodukten der hohen Risikoklassen II b und III mit
einer Nutzenbewertung wie bei Arzneimitteln – anders
als die Opposition – ablehnen. An dieser Stelle sei in
Kürze der Antrag der Fraktion Die Linke erwähnt, der
weniger weitreichend ist. Hier wurde lediglich gefor-
dert, die Folgekosten des PIP-Skandals nicht den Be-
troffenen und den Krankenkassen in Rechnung zu stel-
len wie aktuell nach § 52 Abs. 2 SGB V. Wir lehnen
diesen Antrag ab. Schon eine oberflächliche Betrach-
tung zeigt die Unzulänglichkeiten. Der PIP-Hersteller,





Dietrich Monstadt


(A) (C)



(D)(B)


der laut der Fraktion Die Linke zu belangen wäre, ist
längst insolvent. Ginge es nach der Fraktion Die
Linke, wäre den Opfern noch heute nicht geholfen.
Dem deutschen Steuerzahler die Kosten für Explanta-
tionen für in der Mehrzahl freiwillige Schönheitsope-
rationen aufzubürden, entspricht ebenfalls nicht mei-
nem Weltbild.

Die Lösungsansätze der Regierungskoalition su-
chen wir primär innerhalb des derzeitigen Marktzu-
gangs- und Überwachungssystems. Damit Medizin-
produkte auf dem europäischen Markt in Verkehr
gebracht oder in Betrieb genommen werden können,
müssen sie mit einer CE-Kennzeichnung versehen wer-
den. Die CE-Kennzeichnung darf nach europäischem
Recht nur angebracht werden, wenn das Produkt die in
den einschlägigen Richtlinien vorgegebenen grundle-
genden Sicherheits- und Leistungsanforderungen er-
füllt hat. Diese sind umfangreicher als offensichtlich
manch einem Kritiker bekannt ist. Durchgeführt wer-
den muss eine Risikobewertung, ein Verfahren des Ri-
sikomanagements zur Minimierung von Risiken, eine
klinische Bewertung auf der Grundlage klinischer
Daten, eine Analyse des Verhältnisses von Patienten-
nutzen zu vorhandenen Risiken. Zudem muss ein der Ri-
sikoklasse des Produkts angemessenes Konformitätsbe-
wertungsverfahren erfolgreich durchgeführt werden.

Bei Produkten mit höherem Risiko muss der Her-
steller eine unabhängige Prüforganisation, eine be-
nannte Stelle, in Deutschland zum Beispiel Dekra oder
TÜV, in die Konformitätsbewertung des Produktes ein-
beziehen. Die benannten Stellen werden durch staatli-
che Behörden zugelassen und überwacht. Einfluss auf
den Marktzugang von Medizinprodukten übt der Staat
damit über die Akkreditierung, Benennung und Über-
wachung der benannten Stellen aus. Daneben unter-
liegen die Hersteller der Marktüberwachung, die in
Deutschland von den Behörden der Bundesländer aus-
geführt wird. Der Unterschied in der Zulassung zwi-
schen Medizinprodukten und Arzneimitteln ist somit
kleiner als häufig von der Opposition behauptet. Dass
bei Medizinprodukten eine benannte Stelle die Einhal-
tung der strengen Kriterien überprüft, hat gute
Gründe. Die Bandbreite bei Medizinprodukten ist
wesentlich größer als bei Arzneimitteln. Rollstühle,
Beatmungsgeräte, Kontaktlinsen, Endoskope, Herz-
schrittmacher, Gefäßklemmen oder Stents sind in den
Anforderungen an Bewertungsexpertise sehr verschie-
den voneinander. Somit müsste im Vergleich eine staat-
liche Behörde einen Personalstab vorhalten, der nicht
finanzierbar wäre. Eine staatliche Behörde müsste als
Beispiel einen Experten für künstliche Herzklappen
ganzjährig in Vollzeit anstellen, wobei er wahrschein-
lich nur zwei Produkte pro Jahr zulässt. Gleichzeitig
interagieren Medizinprodukte in der Regel nicht che-
misch mit dem menschlichen Körper, weshalb die Stu-
dien oft technischer angelegt sind. Darüber hinaus
kommen bei Medizinprodukten oft viel kleinere Stück-
zahlen im Verkauf zum Einsatz und die Modellspanne
ist sehr groß.

Ein Arzneimittel kann, einmal getestet, jahrelang
unverändert und in hoher Anzahl verkauft werden. Me-
dizinprodukte hingegen werden ständig weiterentwi-
ckelt. Kniegelenksprothesen oder Herzschrittmacher
beispielsweise werden permanent minimal optimiert
und den Patientenbedürfnissen angepasst, noch dazu
oft von kleinen bis mittelständischen und sehr innova-
tiven Unternehmen. Für diese wäre es schlicht nicht
leistbar, wenn bedeutend längere Zulassungsdauern,
Innovationszyklen und höhere Studienkosten wie bei
Arzneimitteln etabliert würden.

Weiterhin gestaltet sich ein randomisiertes und dop-
pelt verblindetes Studiendesign wie bei Arzneimitteln
als nicht durchführbar. Einen Placebo-Herzschrittma-
cher habe ich jedenfalls noch nicht zu Gesicht be-
kommen. Und ich denke, Sie können mir nicht viele
gesunde Freiwillige zeigen, die sich für Studien ein
künstliches Kniegelenk einsetzen lassen. Selbstver-
ständlich soll die Sicherheit und der Nutzen für den
Patienten überprüft werden – dies geschieht bereits
jetzt. Jedoch kann die Arzneimitteltestung nicht eins zu
eins auf Medizinprodukte übertragen werden. Zwei-
tens. Marktüberwachung. Die Koalition aus CDU/
CSU und FDP sieht grundsätzlich keinen Änderungs-
bedarf am New Approach mit Konformitätsbewertung
als Marktzugangsvoraussetzung. Teilweise erhebli-
chen Nachbesserungsbedarf gibt es jedoch im Rahmen
der Marktüberwachungsprozesse. Erst der jüngst im
British Medical Journal veröffentlichte Fall, bei dem
benannte Stellen in Ungarn, der Tschechischen Repu-
blik und der Slowakei bereit gewesen sein sollen, Me-
dizinprodukte zu zertifizieren, die kein CE-Kennzei-
chen hätten erhalten dürfen, macht deutlich, dass eine
stärkere Kontrolle der benannten Stellen durch die Zu-
lassungsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten erfol-
gen muss. Vollzugsdefizite müssen aufgehoben werden
und eine Reakkreditierung sollte erfolgen. Es ist des-
halb zwingend erforderlich und richtig, die Markt-
überwachung EU-weit zu vereinheitlichen, die Zulas-
sung der benannten Stellen besser zu überwachen und
der Kommission Kontrollrechte einzuräumen, sodass
die Möglichkeit eines Einschreitens besteht. Deshalb
begrüßen wir den Entwurf einer EU-Verordnung, der
dies so vorsieht und in Verordnungsform das richtige
Rechtsmittel darstellt. Gleichzeitig benötigen die be-
nannten Stellen weitergehende Rechte, Stichproben
beim Hersteller zu nehmen. Die Kontroll- und Über-
wachungsbehörden der Länder müssen Kontrollen von
im Markt befindlichen Medizinprodukten in Form von
Stichprobennahmen durchführen.

Auch das von der Opposition ins Feld geführte Ar-
gument, Medizinprodukte könnten zu einfach über die
Regelung der Substantial Equivalence bzw. Pro-
duktgleichheit in den Markt kommen, ist streng genom-
men kein Problem der Zulassung. Teilweise wird diese
Regelung zu großzügig bei der Überprüfung von Pro-
dukten durch die benannten Stellen herangezogen, für
die sie nicht ausgelegt ist – Beispiel Metall-auf-Metall-
Hüftendoprothesen. Scheinbar besteht hier bei den

Zu Protokoll gegebene Reden





Dietrich Monstadt


(A) (C)



(D)(B)


benannten Stellen Ermessensspielraum. Dies gilt es zu
konkretisieren oder abzuschaffen.

Die sich hieraus ergebenden Forderungen der Ko-
alition: Mit dem Antrag der Koalition aus CDU/CSU
und FDP, der als einziger im Gesundheitsausschuss
eine Mehrheit gefunden hat, fordern wir eine Beibe-
haltung des New Approach und insbesondere eine Ver-
besserung der Marktüberwachung. Wir begrüßen den
Entwurf einer Verordnung – Verordnung des Europäi-
schen Parlaments und des Rates über Medizinprodukte
und zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Ver-
ordnung (EG) Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG)
Nr. 1223/2009 –, der im Duktus mit unseren Forderun-
gen übereinstimmt, an einigen Stellen jedoch einiger
Präzisierung bedarf.

Unsere Forderungen zur Umsetzung im EU-Recht
in einzelnen Punkten sind: bessere Überwachung der
benannten Stellen, Sanktionsmöglichkeiten der Kom-
mission bei Nichteinhaltung, mehr Rechte für unange-
meldete Kontrollen und Produktprüfungen durch be-
nannte Stellen beim Hersteller, obligatorische,
unangemeldete Kontrollen durch nationale Behörden
bei Produkten der Klassen II b und III im Handel und
bei Gesundheitseinrichtungen, Einführung eines Sys-
tems zur eindeutigen Identifizierung von Medizinpro-
dukten mit weltweit einheitlichem Mindestdatensatz,
obligatorisches Aushändigen eines Implantatepasses
mit relevanten Identifizierungsdaten und Patienten-
informationen wie Haltbarkeit und Termine der Kon-
trolluntersuchungen an Patienten durch die entspre-
chende Gesundheitseinrichtung, Verpflichtung aller
Mitgliedstaaten zur Etablierung eines Implantatregis-
ters mit einem einheitlichen Mindestdatensatz, im
Sinne des Patientenschutzes Gleichbehandlung von
Einmal- und Mehrfachprodukten bei der Inverkehr-
bringung, Weiterentwicklung des CE-Kennzeichens in
ein medizinproduktspezifisches Gütesiegel, beispiels-
weise CE-med. Im nationalen Recht muss die bereits
bestehende Aufzeichnungs- und Meldepflicht gemäß
Medizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung durch
eine Sanktion bewehrt werden.

Sollten die Verdachtsfälle bestätigen, dass in eini-
gen europäischen Ländern Mängel bei der Überwa-
chung der benannten Stellen bestehen, fordern wir die
Bundesregierung auf, sich bei den Verhandlungen ei-
ner EU-Verordnung für eine zeitnahe Lösung einzuset-
zen. In einem europäischen Binnenmarkt mit freiem
Warenverkehr wäre ein solcher Zustand unhaltbar.

Gleichzeitig fordern wir die Bundesregierung auf,
darauf hinzuwirken, dass bei der Umsetzung einer EU-
Verordnung das bestehende hohe Regelungsniveau im
deutschen Medizinprodukterecht nicht unterschritten
werden darf. Wie ich dargelegt habe, besteht kein An-
lass, grundsätzlich vom bewehrten Zulassungssystem
der Konformitätsbewertung und CE-Zertifizierung Ab-
stand zu nehmen. Kriminelles Handeln wie beim PIP-
Skandal verhindert man bedauerlicher Weise auch
durch das strengste Gesetz nicht. Es besteht allerdings
ein Regelungs- und Vollzugsdefizit im Bereich der

Marktüberwachung. Um eine schnelle und spürbare
Verbesserung der Patientensicherheit zu erreichen, un-
terstützen wir den Entwurf einer Verordnung der Euro-
päischen Kommission, MDD, und fordern die Bundes-
regierung auf, diese Ziele bei den Verhandlungen in
Brüssel umzusetzen.


Dr. Marlies Volkmer (SPD):
Rede ID: ID1721734300

Vor etwa einem Jahr sorgte der Vorfall um Brustim-

plantate der französischen Firma PIP für umfassende
Diskussionen über das bestehende Medizinprodukte-
recht. Das Unternehmen hatte illegalerweise billiges
Industriesilikon zur Herstellung verwendet. Die Im-
plantate zersetzten sich im Körper und standen im
Verdacht, das Krebsrisiko zu erhöhen. Bereits vorher
hatte es Vorfälle mit gebrochenen Endoprothesen oder
Absonderungen von Schwermetallen bei Implantaten
gegeben. Die Betroffenen erhielten oft keinerlei Unter-
stützung und die Kosten für den Austausch wurden von
den Herstellern auf die Sozialversicherung oder
– noch schlimmer – auf die Patientinnen und Patienten
abgewälzt. Es ist offensichtlich, dass es nicht nur bei
der Marktüberwachung und Schadensregulierung von
Medizinprodukten deutliche Defizite gibt, die Patien-
tinnen und Patienten gefährden.

Obwohl das potenzielle Gesundheitsrisiko einiger
Medizinprodukte mit dem von Arzneimitteln durchaus
vergleichbar ist, gelten für den Marktzugang von
Produkten hoher Risikoklassen bislang andere Anfor-
derungen als für Medikamente. Sie werden als techni-
sche Güter angesehen und nicht als medizinische,
daher wird ein CE-Siegel als ausreichend betrachtet,
wie es zum Beispiel auch Toaster und andere Haus-
haltsgeräte erhalten. Mit dem Kennzeichen erklärt der
Hersteller, dass sein Produkt den geltenden Anforde-
rungen genügt. Dafür hat er in einem Konformitäts-
verfahren einer benannten Stelle gegenüber nach-
gewiesen, dass die grundlegenden Anforderungen des
Medizinproduktegesetzes eingehalten werden, dass
das Medizinprodukt sicher ist und dass es die ihm zu-
geschriebenen medizinischen Leistungen erbringt.

Dieses Zulassungsverfahren ist anfällig für Mani-
pulationen. Die benannten Stellen sind private Unter-
nehmen und verdienen an Beratung sowie Zulassung.
Sie stehen zueinander in einem europaweiten Wett-
bewerb und konkurrieren um den Preis, die Geschwin-
digkeit und Erfolgsaussichten einer Zertifizierung.
Eine Undercover-Recherche des British Medical Jour-
nal hat aufgedeckt, wie bereitwillig benannte Stellen
über fehlende Unterlagen und sogar Konstruktions-
mängel hinwegsehen.

Bereits im Juni vergangenen Jahres haben wir von
der SPD daher mit dem heute ebenfalls vorliegenden
Antrag Vorschläge gemacht, wie die Situation für die
Patientinnen und Patienten wirksam verbessert wer-
den kann. Eine sichere Behandlung mit sicheren
Medizinprodukten ist aus unserer Sicht ein essenzielles
Patientenrecht. Neben einer Vielzahl anderer wichti-
ger Aspekte fehlt auch dieser Punkt im aktuellen Pa-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Marlies Volkmer


(A) (C)



(D)(B)


tientenrechtegesetz vollkommen. Unser Ziel ist, dass
nur solche Medizinprodukte zugelassen werden, für
die der Patientennutzen im Verhältnis zu den Risi-
ken wissenschaftlich nachgewiesen und vertretbar
ist. Daher setzen wir uns für eine europaweite amt-
liche Zulassung für die Medizinprodukte höherer
Risikoklassen, also beispielsweise Implantate und
Herzschrittmacher, ein. Um schnell einen besseren
Schutz der Patientinnen und Patienten in Deutsch-
land zu erreichen, sollen die Kosten für neu auf den
Markt kommende Medizinprodukte der hohen Risi-
koklassen von den gesetzlichen Krankenkassen nur
dann getragen werden, wenn ihr Patientennutzen im
Verhältnis zu den Risiken nachgewiesen und vertretbar
ist.

Zudem muss auch die Sicherheit von schon auf dem
Markt befindlichen Medizinprodukten verbessert wer-
den. Unter anderem müssen die Fertigungsstätten
durch die benannten Stellen bei unangekündigten Be-
suchen kontrolliert werden. Auch ist es notwendig,
Stichproben von Medizinprodukten aus dem Produk-
tionsprozess zu ziehen und zu überprüfen. Durch ein
Medizinprodukt geschädigte Patientinnen und Patien-
ten müssten dadurch abgesichert werden, dass
Hersteller zum Abschluss einer Haftpflichtversiche-
rung verpflichtet werden und der Austausch von
fehlerhaften Implantaten bei Serienfehlern auf Kosten
der Hersteller erfolgt. Zur schnellen Ermittlung be-
troffener Patientinnen und Patienten im Falle des
Bekanntwerdens von Problemen ist zudem ein entspre-
chendes Verzeichnis notwendig.

Damit für Medizinprodukte Versorgungsforschung
möglich wird, muss ein Implantateregister geschaffen
werden. Dieses gibt Auskunft über regelmäßig auftre-
tende Komplikationen bei Behandlungsmethoden und
den dabei verwendeten Medizinprodukten.

Um eine Verbesserung der völlig unzureichenden
Informationslage zu erreichen, müssen Verstöße gegen
bestehende Meldeverpflichtungen bei fehlerhaften
Medizinprodukten wirksam überwacht und spürbar
sanktioniert werden. Überdies sollte bei unterlassenen
Meldungen durch einen Arzt oder ein Krankenhaus
eine Beweislastumkehr bei einem vermuteten Behand-
lungsfehler greifen, sodass Patientinnen und Patienten
bei späteren gerichtlichen Auseinandersetzungen bes-
ser als heute gestellt werden.

Sie sehen, wir haben uns intensiv mit der Thematik
beschäftigt. Und was hat die schwarz-gelbe Regierung
das ganze letzte Jahr getan? Nichts. Sie blieb das ge-
samte letzte Jahr über völlig untätig. Auch der von den
Fraktionen der Union und FDP vorgelegte Antrag ist
ein Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten.
Die Koalition hält noch immer an dem Irrglauben fest,
dass das bestehende System ausreichende Sicherheit
für die Patientinnen und Patienten gewährleistet. Die
Koalition versteckt sich hinter der EU-Gesetzgebung
und bekennt sich zu einem Zulassungssystem, das er-
wiesenermaßen eine Gefährdung für Patientinnen und
Patienten darstellt.

Auf nationaler Ebene sehen die Kolleginnen und
Kollegen von CDU, CSU und FDP keinerlei Hand-
lungsbedarf. Folglich leistet ihr Antrag nur eins: Er
beruhigt die Hersteller von Medizinprodukten. Sie
können sich sicher sein, dass sich unter dieser Bundes-
regierung nichts ändern wird, weder auf europäischer
noch auf nationaler Ebene.


Jens Ackermann (FDP):
Rede ID: ID1721734400

Nicht erst seit dem Aufdecken der skandalösen Be-

trügereien mit Implantaten im Dezember 2011 ist die
Politik angehalten, sinnvolle Maßnahmen zur Verbes-
serung der Sicherheit für Medizinprodukte zu entwi-
ckeln. Diese Position wurde im Antrag der CDU/CSU-
Fraktion und der FDP-Fraktion sehr deutlich.

Was sind eigentlich Medizinprodukte? Jeder von
uns benutzt sie wahrscheinlich im alltäglichen Ge-
brauch. Das fängt an bei den immer wieder diskutier-
ten Brustimplantaten, geht über Herzschrittmacher;
aber auch Verbandmittel oder Kondome sind Beispiele
für Medizinprodukte. In der aktuellen Diskussion geht
es aber vor allem um Medizinprodukte der Klasse II b
und Klasse III, zu denen die eben bereits erwähnten
Herzschrittmacher oder Brustimplantate oder auch
künstliche Gelenke gehören.

Was uns in diesem Zusammenhang nicht hilft, sind
populistische Ansätze zur Eigenprofilierung, die hier
auf dem Rücken der Patienten und der Unternehmen
ausgetragen werden. Sowohl die Linke-Fraktion als
auch die Grünen-Fraktion hatten versucht, im Früh-
jahr 2012 daraus Kapital zu schlagen.

Im vergangenen September machte dann die Euro-
päische Kommission einen Vorschlag zur Revision der
Medizinprodukte-Richtlinie für Medizinprodukte und
In-vitro-Diagnostika. Die Kommission schlug vor, die
Rechtsbestimmungen für Medizinprodukte klarer und
breiter zu fassen, die Kontrollen über unabhängige
Prüfungsstellen zu verschärfen, den Verbrauchern,
Patienten und Mitarbeitern im Gesundheitswesen
mehr Schutz zu bieten. Zudem möchte man den Zugriff
auf innovative Produkte erleichtern und nur sichere
Produkte auf den EU-Markt lassen.

Wir haben uns anschließend in den Fachgremien
der Koalitionsfraktionen mit dem Vorschlag der Kom-
mission intensiv auseinandergesetzt und konnten im
Dezember 2012 den vorliegenden Antrag einbringen.
Dieser fordert eine schärfere Medizinprodukte-Richtli-
nie und soll heute beschlossen werden.

Seit dem ersten Bekanntwerden des Skandals im De-
zember 2011 wurde zunächst sehr viel, in jüngster Ver-
gangenheit wieder weniger über die Sicherheit von
Medizinprodukten in der Öffentlichkeit diskutiert. Es
ist genau aus diesem Grund sehr wichtig, den Patien-
ten Sicherheit zu bieten; auf der anderen Seite benöti-
gen Patienten ebenfalls einen schnellen Zugang zu in-
novativen Medizinprodukten. Man muss doch nur
einmal die Entwicklung der Medizin in den letzten
zehn Jahren betrachten. Der rasante Fortschritt durch

Zu Protokoll gegebene Reden





Jens Ackermann


(A) (C)



(D)(B)


das Nutzen der modernen Informationstechnologie
darf nicht durch schärfere Zulassungen behindert wer-
den.

Und politischer Aktionismus ist an dieser Stelle
überhaupt nicht hilfreich, sondern politische Sachar-
beit, die realistische und nachhaltige Lösungsansätze
aufbieten kann, beschreibt den richtigen Weg. Die Lö-
sungsansätze sollten innerhalb des bestehenden Sys-
tems gesucht werden, da eine Übergangsphase in ein
neues System wiederum Jahre dauern könnte. Das
heißt, zunächst sollen die bestehenden Gestaltungs-
möglichkeiten ausgereizt werden, bevor man einen
vollständigen Systemwechsel in Erwägung zieht.

Das heißt aber auch, dass wir keine Verschärfung
der Zulassungskriterien möchten, da die Standards be-
reits heute sehr hoch angesetzt sind. Es geht um ein-
heitliche internationale Standards, letztlich auch bei
den Kontrollen und Produktprüfungen, die unangekün-
digt durchzuführen sind.

Es müssen die Anforderungen an die staatlich ak-
kreditierten Überwachungsstellen, die die Herstellung
der Medizinprodukte überwachen, deutlich erhöht
werden. Es soll zudem eine Verbesserung der Maßnah-
men zur Überwachung durch staatliche Behörden ge-
ben. Zusätzlich fordern wir eine Verpflichtung zu un-
angemeldeten Produktprüfungen bei den Herstellern
sowie die Einführung europäischer Marktüberwa-
chungsprogramme.

Es soll bei entsprechender Umsetzung mindestens
für Implantate und andere gefährliche Medizinpro-
dukte ab Klasse II b unangemeldete stichprobenartige
Kontrollen im Handel und in den Gesundheitseinrich-
tungen geben. Das gibt den Bürgerinnen und Bürgern
mehr Sicherheit. Die Patienten und das Gesundheits-
personal, beide Seiten müssen sich auf die Zuverläs-
sigkeit eines Herzschrittmachers, eines künstlichen
Gelenks oder Ähnlichem verlassen können.

Die Lösungsansätze sollen aber nach unseren Vor-
stellungen primär innerhalb des derzeitigen Marktzu-
gangs- und Überwachungssystems gefunden werden.
Wir möchten kein neues staatliches Zulassungssystem.
Eine Veränderung bei den Zulassungskriterien kann
für die Bürgerinnen und Bürger ein böses Erwachen
haben, wenn sie nicht mehr die neuesten innovativen
Produkte im Medizinsektor nutzen können, weil gesetz-
liche Schranken beispielsweise die Einführung einer
neuen Generation von Herzschrittmachern verhin-
dern. So eine Politik ist mit der FDP nicht zu machen.

Und hier unterscheiden wir uns fundamental von
der Opposition; die möchte nämlich am liebsten die
Zulassungskriterien verschärfen. Und ich kann Ihnen
versprechen, es würde große Probleme bei der Markt-
einführung neuer Produkte geben. Das hätte, wie eben
gesagt, zur Folge, dass die Patienten länger auf inno-
vative Produkte warten müssten. Diese Art von Politik
kann man sich im Bereich Gesundheit einfach nicht er-
lauben. Das kann nicht der richtige Weg sein. Deshalb
bieten wir Ihnen hier einen sehr guten Vorschlag zur

Beschlussfassung an, der die Sicherheit der Patienten
nachhaltig stärken wird und weiterhin Innovation er-
möglicht.

Man muss auch mal ehrlich sein, liebe Opposition:
Bei krimineller Energie helfen Ihre Vorschläge auch
nicht.

Ein sinnvoller Weg zur Verbesserung der Sicherheit
der Patienten sind mehr Kontrollen sowie Sanktionen
bei Nichteinhaltung der Regelungen, statt alle Unter-
nehmen unter Generalverdacht zu stellen oder gar die
Zulassungsbedingungen zu verschärfen. Wir benötigen
hier keinen Systemwechsel, das bestehende System
bietet gute Ansätze. Es muss nur besser durch die
staatlich akkreditierten Stellen kontrolliert werden.
Und da habe ich, ehrlich gesagt, am Markt lieber we-
niger Institutionen, die kontrollieren, dafür aber im In-
teresse der Bürgerinnen und Bürger für mehr Sicher-
heit bei Medizinprodukten sorgen.

Zum Abschluss möchte ich noch auf die Wichtigkeit
der Weiterentwicklung der CE-Kennzeichnung hin zu
einem EU-weiten Prüf- und Qualitätssiegel „CE-Med“
verweisen, womit gekennzeichnet wird, dass Medizin-
produkte die höchsten Sicherheitsanforderungen erfül-
len, und deren Leistungsfähigkeit nachgewiesen ist.

Die Bürgerinnen und Bürger benötigen Medizinpro-
dukte in höchster Qualität. Sie sind Bestandteil unse-
res Alltags. Deshalb lassen Sie uns für mehr Sicherheit
sorgen, und stimmen Sie der Beschlussempfehlung des
Gesundheitsausschusses zu.


Harald Weinberg (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721734500

Der Koalition scheint die Sicherheit der Patientin-

nen und Patienten, die eine Herzklappe, ein Kniege-
lenk oder ein anderes Medizinprodukt brauchen, recht
egal zu sein. Anders kann ich mir beim besten Willen
nicht mehr erklären, was hier veranstaltet wird. Die
Debatte um die Sicherheit von Medizinprodukten zieht
sich schon lange hin, und immer wieder gibt es
Meldungen, dass Patientinnen und Patienten Gesund-
heitsschäden davontragen oder gar sterben, weil die
Medizinprodukte in Deutschland – und der EU insge-
samt – vor und nach dem Verkaufsstart viel zu schlecht
geprüft werden. Umso enttäuschender ist es, wenn die
Koalition erst jetzt und erstmals eine parlamentari-
sche Initiative dazu vorlegt, und dann noch eine so
schlechte und folgenlose.

Die Koalition und die Regierung haben die Auf-
gabe, bei drängenden Problemen zu handeln. Die rich-
tige Methode wäre hier ein Gesetzentwurf, der die
Zulassung von Medizinprodukten strenger reglemen-
tiert. Stattdessen finden sich gerade einmal vier Fach-
politiker der Koalition dafür, einen dünnen Antrag zu
schreiben, der bloß Forderungen an die Bundesregie-
rung enthält, die so weichgespült sind, dass sie kaum
das Papier wert sind, auf dem sie stehen. Außerdem
bin ich mir sicher: Niemand in diesem Parlament
glaubt ernsthaft, dass in dieser Wahlperiode sich die
Bundesregierung dieser schwachen Forderungen an-

Zu Protokoll gegebene Reden





Harald Weinberg


(A) (C)



(D)(B)


nimmt und sie in einen Gesetzentwurf gießen wird.
Und dann behandelt die Koalition dieses Thema im
Bundestag noch zu einer Zeit, in der die Reden gar
nicht gehalten werden, sondern zu Protokoll gehen.
Die Menschen draußen bekommen nichts mit, auch
weil zu dem Koalitionsantrag keine Anhörung statt-
fand.

Dabei ist die Situation ernst. Ein Beispiel für die
laschen Zulassungsregeln: Stellen Sie sich vor, Sie hat-
ten einen Schlaganfall. Man stellt fest, dass in Ihrem
Gehirn ein Blutgefäß verengt ist und dies die Ursache
für den Schlaganfall war. Man will nun natürlich alles
tun, damit sich der Schlaganfall nicht wiederholt. Die
Standardtherapie sind Medikamente, die Blutgerinnsel
verhindern. Die Medizinproduktindustrie bietet seit ei-
nigen Jahren auch eine Alternative an, nämlich soge-
nannte Stents. Das sind kleine Röhrchen, die in das
verengte Blutgefäß eingesetzt werden, sich dort auf-
weiten und so das Gefäß offenhalten sollen. Hört sich
gut an. Aber ist diese Therapie denn besser als die
Gabe von Medikamenten? Sind diese Stents sicher,
oder verursachen sie vielleicht Krankheiten oder
Todesfälle? Zum Zeitpunkt der Zulassung wusste man
das nicht. Man hat diese Stents aber dennoch, nach-
dem sie das CE-Zeichen hatten, unbeschränkt zugelas-
sen und alleine von 2008 bis 2010 insgesamt
3 500 Menschen in Deutschland eingesetzt. In den
USA gab es auch schon 2005 eine Zulassung, aller-
dings mit Auflagen, dass zum Beispiel das Blutgefäß zu
mindestens 50 Prozent verengt sein muss. Die Kran-
kenkassen waren skeptisch und haben in den USA zu-
dem das Recht zu sagen: „Das bezahlen wir aber nur,
wenn das in jedem einzelnen Fall überwacht wird.“
Bei dieser Überwachung hat man festgestellt, dass
diese Stents das Risiko, einen erneuten Schlaganfall zu
erleiden oder zu sterben, gegenüber der Medikamen-
tentherapie um das Zweieinhalbfache erhöht haben.
Sofort hat man diese Behandlung eingestellt und darf
diese Stents nur noch einsetzen, wenn die Medikamen-
tentherapie nachgewiesenermaßen nichts bringt, das
Blutgefäß zu mindestens 70 Prozent verengt ist, noch
einige Kriterien erfüllt sind und zudem eine Ethikkom-
mission zugestimmt hat.

Was passierte in Deutschland? Nachdem diese
furchtbaren Ergebnisse bekannt wurden, hielten die
deutschen Aufsichtsbehörden Einschränkungen für
nicht nötig. Ein halbes Jahr später, im Februar 2012,
gab es eine freiwillige Einschränkung durch den Her-
steller auf Patienten, die nicht auf die Medikamente
ansprechen und deren Blutgefäß zu 50 Prozent verengt
ist. Was fällt auf? Erstens. So weit waren die USA
schon 2005, weit bevor man wusste, dass an diesem
Stent Menschen sterben können. Zweitens. Der Her-
steller ist in Deutschland offensichtlich strenger mit
sich selbst als die Aufsichtsbehörden. Das darf nicht
sein, und wenn das so ist, ist es die Aufgabe der Bun-
desregierung, daran etwas zu ändern. Genau das
macht sie allerdings nicht. Das verbietet ihr das liebste
Kind des Gesundheitsministeriums, die Gesundheits-
wirtschaft. Und selbst die vier der 20 Gesundheits-

experten der Koalition, die sich trauen, einen wir-
kungslosen Antrag zu stellen, schreiben darin von
„pauschalen Verdächtigungen gegen deutsche Medi-
zinproduktehersteller“ und auch, dass „die berechtig-
ten Interessen der Medizinprodukteunternehmen be-
rücksichtigt werden“ müssen.

Die Linke hat bereits Ende November einen Ent-
schließungsantrag zum Patientenrechtegesetz gestellt,
Bundestagsdrucksache 17/11722, und acht konkrete
Forderungen zur Verbesserung der Sicherheit gefor-
dert, so etwa die Zulassung durch eine zentrale Bun-
desbehörde statt durch den TÜV und andere Stellen, so
auch, den Nutzen und die Risiken vor der Zulassung zu
prüfen, denn die Patientinnen und Patienten sind keine
Versuchsobjekte, so auch, dass nach der Zulassung die
Ärztinnen und Ärzte mögliche Nebenwirkungen an
eine zentrale Datenbank übermitteln sollen, und noch
einiges mehr. Dreimal dürfen Sie raten, ob Schwarz-
Gelb diesen Antrag angenommen hat.

In den USA schaut man übrigens besorgt nach
Europa, was die Sicherheit der Medizinprodukte an-
geht. In einer Studie der FDA, der US-amerikanischen
Zulassungsbehörde, von Mai 2012, „Unsafe and inef-
fective devices approved in the EU that were not
approved in the US“, also frei übersetzt „Unsichere
und nutzlose Medizinprodukte, die in der EU, aber
nicht in den USA zugelassen wurden“, schreibt die
FDA als Schlussfolgerung ebenso frei übersetzt:
„Stents und andere Medizinprodukte kosten europäi-
sche Patienten ihr Leben, ohne dass sie irgendeinen
Nutzen hätten.“ Und: „Andere Medizinprodukte wie
Brust- und Ellenbogenimplantate oder Roboter für
Hüft-OPs verursachen ernsthafte Verletzungen und
damit auch kostenintensive Behandlungen, um den
Gesundheitsschaden zu beheben, den sie verursacht
haben.“

Für die Linke ist klar: Patienteninteresse geht vor
Wirtschaftsinteresse. Die Medizinprodukteindustrie ist
kein Selbstzweck, sondern sie ist da, um nützliche und
sichere Produkte herzustellen, die den Menschen
helfen. Wir brauchen Zulassungsregelungen, die die
Industrie auf diesen Grundsatz verpflichten. Wir brau-
chen keine Bundesregierung, die im Zweifel gegen die
Patienteninteressen entscheidet.

Nochmal zur Klarstellung: Die von den Koalitions-
abgeordneten geforderten Maßnahmen sind grund-
sätzlich nicht falsch. Sie würden, wenn man sie auch
tatsächlich umsetzte, das Sicherheitsniveau bei Medi-
zinprodukten in Deutschland ein wenig verbessern.
Der Antrag ist aber unzureichend und packt viele der
Probleme, die wir bei den Medizinprodukten haben,
überhaupt nicht an. Deshalb enthalten wir uns.


Dr. Harald Terpe (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721734600

Um es klar zu sagen: Der heute hier neben unserem

und anderen Anträgen der Opposition zur Abstimmung
stehende Antrag von Union und FDP zu Medizinpro-
dukten ist schwach – nicht wegen der Forderungen, die

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Harald Terpe


(A) (C)



(D)(B)


darin stehen, sondern wegen derer, die nicht darin ste-
hen.

In ihrem Antrag listet die Koalition eine Reihe von
Vorschlägen auf, die die Bundesregierung bei den lau-
fenden Beratungen um das neue EU-Medizinproduk-
terecht einbringen soll. Im Kern entsprechen die
Vorschläge weitgehend dem, was ohnehin bereits Ge-
genstand des EU-Verordnungsentwurfs ist. Insofern ist
ihr Antrag eigentlich überflüssig. Der Antrag verdeut-
licht aber, dass diese Koalition nicht willens ist, sich
darüber hinaus mit einem eigenen Beitrag für die Pa-
tientensicherheit bei Medizinprodukten einzusetzen.

Ein scheinbar kleines Detail ihres Antrags zeigt dies
ganz klar. Im vergangenen Jahr hatte die AG Gesund-
heit der CDU/CSU-Fraktion ein Positionspapier zu
Medizinprodukten beschlossen. Schon dieser Be-
schluss ist verhältnismäßig dürftig. Immerhin findet
sich dort zumindest aber die sinnvolle, im Übrigen seit
Jahren als geeignet angesehene Forderung, dass in ei-
nem Register für hochriskante Medizinprodukte neben
Produkt- und Patientendaten auch besondere Ereig-
nisse, Komplikationen und Nebenwirkungen beispiels-
weise im Zusammenhang mit Implantaten registriert
werden sollen. Das würde zumindest die Möglichkeit
schaffen, dass man relativ schnell sieht, wenn sich bei
einem bestimmten Implantat Wechseloperationen oder
andere Komplikationen häufen.

In ihrem hier vorliegenden Antrag fehlt genau diese
Forderung. Es ist mir daher absolut rätselhaft, wie mit
einem solchen Register ohne die Daten zu Vorkomm-
nissen eine bessere Langzeitüberwachung von Medi-
zinprodukten erreicht werden soll. Besser kann man
nicht klarmachen, dass sie hier nicht die Sicherheit der
Patientinnen und Patienten, sondern vor allem die In-
teressen der Medizinproduktehersteller vertreten. Es
ist das, was ein zuständiger Mitarbeiter des Bundesge-
sundheitsministeriums im Sommer des vergangenen
Jahres bei einer Veranstaltung des Herstellerverban-
des als „Abwehrkampf“ gegen eine grundlegende Re-
form des Medizinproduktesystems bezeichnet hat.

Dabei ist in diesem System so viel im Argen. Er-
schreckendes dazu war zum Beispiel im Oktober ver-
gangenen Jahres im „British Medical Journal“ über
die sogenannten benannten Stellen zu lesen. Die Auto-
ren konnten dort nachweisen, wie einfach es in Europa
ist, eine Zertifizierung für ein erfundenes, aber schon
nach Aktenlage hochgefährliches Implantat zu bekom-
men.

Es ist unverantwortlich gegenüber den Patientinnen
und Patienten, bei Medizinprodukten der höchsten
Risikostufe weiter auf ein Zulassungssystem zu ver-
zichten, bei dem nicht die erforderlichen, staatlich
vorgegebenen Nachweise der Patientensicherheit im
Vordergrund stehen. Es ist unverantwortlich, bei Pro-
dukten der höchsten Risikostufe keine klinischen Stu-
dien durchzuführen, mit dem Nutzen, dass Risiko und
Wirksamkeit von Produkten untersucht werden kön-
nen. Und es ist unverantwortlich, bei derartigen Pro-

dukten kein wirksames Stufenplanverfahren zu etablie-
ren, mit dem problematische Produkte schnell vom
Markt genommen werden können.

Es ist zweifellos nicht falsch, dass es künftig unan-
gemeldete Kontrollen der benannten Stellen bei den
Herstellern geben soll. Sie können aber noch so häufig
und noch so unangemeldet bei den Herstellern anrü-
cken, sie werden so nichts daran ändern, dass manche
Produkte für die Patientinnen und Patienten gefähr-
lich sind. Sie können so nicht mal im Ansatz verhin-
dern, dass Hüftimplantate aus Metall eingesetzt wer-
den, die deutlich häufiger als andere Prothesen wieder
ausgetauscht werden müssen und sogar Tumorerkran-
kungen oder andere Organschäden auslösen können,
und auch nicht verhindern, dass etwa Stents in den
Umlauf geraten, mit denen das Schlaganfall- oder In-
farktrisiko erhöht wird, statt es, wie beabsichtigt, zu
verringern. Sie werden mit den von ihnen vorgeschla-
genen Maßnahmen nichts dagegen ausrichten, dass
Patientinnen und Patienten völlig wirkungslosen oder
sogar gefährlichen Behandlungen ausgesetzt werden.
Dazu sind anstelle von eher oberflächlichen Produkt-
prüfungen seriöse klinische Studien mit patientenrele-
vanten Endpunkten nötig.

Der Herstellerverband, aber auch diese Koalition
verweisen häufig darauf, alles dafür tun zu wollen,
dass medizinische Innovationen ohne bürokratische
Hürden so schnell wie möglich den Patientinnen und
Patienten zur Verfügung stehen. Dann sollten sie sich
aber auch der Frage stellen, was überhaupt eine Inno-
vation ist. Wie innovativ ist eigentlich eine Therapie,
wenn sie den Patientinnen und Patienten schaden, ihre
Gesundheit oder gar ihr Leben gefährden kann? Auch
innovative Produkte müssen vor allem sicher sein,
auch im Interesse der Hersteller, und für die Patientin-
nen und Patienten einen Nutzen haben. Sicherheit,
Wirksamkeit und Nutzen müssen bei der Markteinfüh-
rung neuer Medizinprodukte gewährleistet sein. Das
kann, wie auch die Untersuchungen im „British Medi-
cal Journal“ zeigen, ganz offensichtlich nur durch eine
letztlich staatlich verantwortete Zulassung vor allem
der riskanteren Medizinprodukte gewährleistet wer-
den.

Vor diesem Hintergrund fordere ich die Bundes-
regierung und die beiden Regierungsfraktionen auf,
nicht länger mit den Herstellern herumzukungeln, son-
dern sich endlich den Patienteninteressen verpflichtet
zu fühlen und sich auf europäischer Ebene für ein
wirksames Zulassungs- und Überwachungssystem ein-
zusetzen. Wenn Sie nicht wissen, wie Patientenschutz
geht, dann schauen Sie einfach in den grünen Antrag,
den SPD-Antrag oder in den Beschluss des Europäi-
schen Parlaments. Dort finden Sie viele hilfreiche Vor-
schläge.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721734700

Wir kommen zur Abstimmung zunächst über die Be-

schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit auf
Drucksache 17/12088. Der Ausschuss empfiehlt unter





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Buchstabe a seiner Empfehlung die Annahme des
Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/11830 mit dem Titel „Revision der euro-
päischen Medizinprodukte-Richtlinien: Vertrauen wie-
der herstellen – Patientensicherheit bei Medizinproduk-
ten muss erste Priorität sein“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –
Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den
Stimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung der
Linken angenommen.

Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen auf Drucksache 17/8920 mit dem Titel „Sicherheit,
Wirksamkeit und gesundheitlichen Nutzen von Medizin-
produkten besser gewährleisten“. Wer stimmt für diese
Beschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-
haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den glei-
chen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.

Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesund-
heit zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel
„Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten“. Der Aus-
schuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache
17/11312, den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck-
sache 17/9932 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-
tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichen
Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.

Zusatzpunkt 7. Beschlussempfehlung des Ausschus-
ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion Die
Linke mit dem Titel „Opfer des Brustimplantate-Skan-
dals unterstützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizi-
nischer Notwendigkeit“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-
ner Empfehlung auf Drucksache 17/12092, den Antrag
der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8581 abzu-
lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –
Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-
empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-
nen und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Ent-
haltung der Grünen angenommen.

Tagesordnungspunkt 27:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales

(11. Ausschuss) zu dem Antrag der Abgeordne-

ten Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke,
Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Für eine angemessene Praxis bei Anträgen auf
Kindergeldabzweigung durch die Sozialhilfe-
träger

– Drucksachen 17/10863, 17/11748 –

Berichterstattung:
Abgeordneter Pascal Kober

Wie der Tagesordnung zu entnehmen ist, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Maria Michalk (CDU):
Rede ID: ID1721734800

Wir beraten heute abschließend einen Antrag der

Fraktion Bündnis 90/Die Grünen, der sich für eine an-
gemessene Praxis bei Anträgen auf Kindergeldabzwei-
gung durch die Sozialhilfeträger einsetzt. Hintergrund
dieses Antrags ist offensichtlich die in einigen Bundes-
ländern etablierte Praxis, verstärkt und teilweise flä-
chendeckend Anträge auf Kindergeldabzweigung zu
stellen. Die Zahl der Abzweigungsanträge ist tatsäch-
lich gestiegen.

Was ist die Rechtslage?
Für ein Kind mit Behinderung können Eltern auch

über das 18. Lebensjahr hinaus und ohne altersmäßige
Begrenzung Kindergeld erhalten, wenn das Kind auf-
grund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, sich
selbst zu versorgen. Voraussetzung ist, dass die Behin-
derung des Kindes vor dem 25. Lebensjahr eingetreten
ist. Im Einkommensteuergesetz ist geregelt, dass die
Familienkassen das eigentlich den Eltern zustehende
Kindergeld an die Stelle auszahlen dürfen, die dem
Kind Unterhalt gewährt. Diese Anrechnung kommt
dann in Betracht, wenn das Sozialamt dem Kind Un-
terhalt erbringt.

Der unter Umständen lebenslange Anspruch auf die
Leistung ist darin begründet, dass der Mehrbedarf der
Eltern, der mit dem Kindergeld zum Wohle des Kindes
ausgeglichen werden soll, bei Menschen mit Behinde-
rung eben nicht regelmäßig mit ihrer Volljährigkeit en-
det. Selbst wenn die Unterhaltspflicht nicht mehr voll
besteht, geht der Gesetzgeber davon aus, dass den El-
tern durch die Beeinträchtigung ihrer Kinder regelmä-
ßig durch zusätzlichen Aufwand Kosten entstehen, die
andere Eltern mit Kindern ohne Behinderung in dieser
Form nicht haben. Es handelt sich daher um einen in-
direkten Nachteilsausgleich.

Auch mich haben Beschwerden betroffener Eltern
erreicht, die sich über die Praxis beklagen, das offen-
sichtlich in der Abzweigung des Kindergeldes ein nicht
zu rechtfertigender Automatismus eingetreten ist. Nun
muss man aber wissen, dass die Sozialämter nicht nur
aufgrund von Sparzwängen so vorgehen, sondern sich
auch auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofes
vom 17. Dezember 2008 sowie weitere Entscheidungen
des Bundessozialgerichts berufen. Nach diesen Recht-
sprechungen darf das Kindergeld an den Sozialleis-
tungsträger, in der Regel die Landkreise, tatsächlich
abgezweigt werden. Voraussetzung ist, dass der Kin-
dergeldberechtigte, zumeist die Eltern, nicht zum Un-
terhalt des volljährigen behinderten Kindes verpflich-
tet sind, weil das Kind Leistungen der Grundsicherung
nach dem SGB XII erhält.

Grundsätzlich darf das Kindergeld für ein Kind mit
Behinderung, das die Eltern beziehen, nicht bedarfs-
mindernd auf die Grundsicherung angerechnet wer-
den. Eine Anrechnung kann nur erfolgen, wenn das
Kindergeld entweder von den Eltern an das Kind wei-
tergeleitet oder direkt an das Kind ausgezahlt wird.





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


Allerdings kam es in der Vergangenheit immer wie-
der vor, dass Sozialämter trotzdem auch Grundsiche-
rungsempfänger aufgefordert haben, einen Antrag bei
der Familienkasse auf Auszahlung des Kindergelds an
das Sozialamt zu stellen. Die Begründung lautete, dass
dies das Einkommen des Kindes erhöhen würde und
die Grundsicherung dementsprechend gekürzt werden
müsste. Grundsätzlich sind Sozialhilfeträger, sobald
sie für Sozialleistungen von Menschen mit Behinde-
rung aufkommen, auch befugt, bei den Familienkassen
diese sogenannten Abzweigungsanträge zu stellen. Bei
positiver Entscheidung der Familienkasse über den
Abzweigungsantrag wird das Kindergeld dann nicht
mehr an die Eltern ausgezahlt, sondern an den Sozial-
hilfeträger direkt überwiesen.

Die Familienkassen haben bei diesen Entscheidun-
gen einen Ermessensspielraum. Für die Entscheidung,
ob und in welcher Höhe abgezweigt wird, müssen so-
wohl die Antragsteller als auch die betroffenen Eltern
gewissenhaft angehört und in jedem Einzelfall muss
entsprechend den Gegebenheiten eine Einzelfallent-
scheidung gefällt werden. Wenn die Voraussetzungen
für eine Abzweigung vorliegen, hat die Familienkasse
bezüglich des „Ob“ einer Abzweigung angesichts der
geltenden Rechtsprechung allerdings keinen Spiel-
raum mehr. Dann muss sie der Abzweigung zustimmen.
Dies kann auch bei einem volljährigen Kind mit einer
Behinderung der Fall sein, das zu Hause bei den El-
tern lebt.

Als Konsequenz aus der Gesetzeslage und der gel-
tenden Rechtsprechung dürfen Eltern das Kindergeld
nur dann vollständig behalten, wenn sie auch nachge-
wiesene Kosten in Höhe des Kindergeldes haben. Das
hat zur Folge, dass für die zusätzlichen Aufwendungen
Belege beigebracht werden müssen, zum Beispiel die
Kinokarte oder der Beförderungsbeleg. An dieser
Stelle ist der bürokratische Aufwand nicht zu leugnen.
Aber der Nachweis ist unumgänglich; denn es handelt
sich dabei um öffentliche Mittel.

Die Rechtslage für den Anspruch des Kindergeldes
ist klar. Trotzdem stelle auch ich fest, dass es leider im-
mer wieder Fälle gibt, bei denen die Sozialhilfeträger
einen Antrag auf Abzweigung auch dann stellen, wenn
die Eltern mit ihren Kindern in einem Haushalt leben
und entsprechend hohe Ausgaben für ihre Kinder tra-
gen. Der Ärger ist entsprechend groß, weil Eltern nicht
ausreichend über die Belegnachweise informiert wer-
den oder Bescheide ohne Begründung ergehen. In die-
sen besonderen Fällen ist den Betroffenen zu raten,
das direkte Gespräch zu suchen und bei verhärteten Si-
tuationen entsprechende Rechtsmittel einzulegen.

Fundierte Hilfestellungen für betroffene Familien
gibt auch der Bundesverband für körper- und mehr-
fachbehinderte Menschen, dem ich an dieser Stelle
sehr herzlich für seine wertvolle und fachlich erstklas-
sige Arbeit danken möchte. Hier bekommen die betrof-
fenen Eltern gut verständliche Informationen an die
Hand. Sie finden auf der Internetseite ein Muster-
schreiben, verbunden mit einer ausführlichen Argu-

mentationshilfe. Dies ist konkrete Hilfe zur Selbsthilfe,
die für die Betroffenen oftmals schnell zum gewünsch-
ten Ergebnis führt und Klageverfahren und damit Kos-
ten vermeiden kann.

Grundsätzlich also gilt – und darin sind wir uns si-
cher alle einig –, dass diese Anträge tatsächlich nur in
begründeten Ausnahmefällen gestellt werden dürfen,
wo seitens der Behörden der Verdacht besteht, dass El-
tern nicht zum Unterhalt ihrer Kinder mit Behinderung
beitragen. Das hat das zuständige Bundesministerium
noch einmal auch gegenüber den Bundesländern klar-
gestellt. Bereits im Jahr 2011 wurden die Länder von
der Bundesregierung dezidiert auf den Sachverhalt
aufmerksam gemacht, dass die Abzweigung von Kin-
dergeld für ein volljähriges Kind mit Behinderung nur
in begründeten Ausnahmefällen in Betracht kommt.
Daraufhin haben die Länder ihre Sozialhilfeträger
entsprechend unterrichtet.

Die Praxis hat gezeigt, dass sich vor allem in den
Großstädten die Sozialhilfeträger der Rechtsauffas-
sung der Bundesregierung angeschlossen haben und
umsichtig im jeweiligen Einzelfall handeln. Dass von-
seiten einzelner Sozialhilfeträger auf ihre Pflicht ver-
wiesen wird, Einnahmemöglichkeiten der Sozialhilfe
zu realisieren, ist eher die Folge von einem gewissen
Druck, Einsparungen angesichts einer angespannten
finanziellen Lage der Kommunen bzw. der jeweils zu-
ständigen Behörde zu erzielen. Ich finde diese Argu-
mentation sehr scheinheilig. Was den betroffenen Men-
schen zusteht, muss ihnen auch gegeben werden. Und
da der Bund die Übernahme der Kosten für die Grund-
sicherung im Alter in erheblicher Größenordnung
übernommen hat, ist dieses Argument nicht mehr
nachvollziehbar bzw. trägt nicht.

Die Antragsteller bekräftigen in ihrem Antrag
selbst, dass die in einigen Bundesländern etablierte
Praxis mit der bestehenden Rechtslage nicht vereinbar
ist. Damit ist einvernehmlich klargestellt, dass wir
keine Gesetzesänderung brauchen, wie im Antrag ge-
fordert. Vielmehr brauchen wir eine gesetzestreue Pra-
xis, die „kundenfreundlich“ ist und in den Amtsstuben
verantwortet werden muss.

Das ist auch der Grund, warum wir den vorliegen-
den Antrag ablehnen. Allerdings möchte ich versöhn-
lich hinzufügen, dass wir als Parlament durch diesen
Antrag die leider notwendige sowie wünschenswerte
Möglichkeit haben, den Sachverhalt als solchen noch
einmal öffentlich darzustellen und eine möglichst un-
bürokratische Umsetzung der rechtlichen Regelung
einzufordern.

Den betroffenen Eltern wollen wir durchaus den Rü-
cken stärken, damit sie alle Möglichkeiten der Teil-
habe ihrer Kinder mit Behinderung am gesellschaftli-
chen Leben nutzen, weil ihnen der Ausgleich des
Mehraufwandes in genannter Höhe, also des Kinder-
geldes, zusteht.

Wir sind dankbar für die Leistung, die viele, viele
Eltern erbringen. Sie leisten de facto mehr an Werten,

Zu Protokoll gegebene Reden





Maria Michalk


(A) (C)



(D)(B)


als ihnen in der Summe je ausgeglichen werden kann.
Das liebevolle Zusammenleben ist Tag für Tag eine
neue Herausforderung. Das wissen wir. Aber wir wis-
sen ebenso, dass es leider auch gelegentlich eine miss-
bräuchliche Verwendung der für die Kinder zugedach-
ten Leistungen gibt. Vor diesem Hintergrund ist der
Nachweis der Mehraufwendungen für erwachsene
Kinder durch das Kindergeld im Vergleich zu minder-
jährigen Kindern gerechtfertigt.

Nicht gerechtfertigt sind Automatismen zum Nach-
teil der Eltern, die sich zu Hause um ihre Kinder küm-
mern. Sie leben unseren Grundsatz „ambulant vor sta-
tionär“ vor. Es ist zu wünschen, dass dies weiterhin
viele tun, was vor allem unter dem Aspekt der demo-
grafischen Entwicklung eine große Herausforderung
bleibt. Und weil dies so ist, will ich noch einmal die
Dinge aufzählen, die von dem Kindergeld als Mehrauf-
wand auf Nachweis erstattet werden: der Unterhalts-
beitrag für die Kosten der dem Kind geleisteten Ein-
gliederungshilfe bzw. Hilfen zur Pflege; die Ausgaben
für Bekleidung, die aufgrund der Behinderung geän-
dert werden muss oder schneller verschleißt; die
Fahrtkosten für Behördengänge oder die Kosten für
Therapiebesuche sowie für Arzt- und Therapiebehand-
lungen, Zahnersatz oder Medikamente, die nicht von
der Krankenkasse finanziert werden; die Kosten für
Sehhilfen, die grundsätzlich nicht mehr von der Kran-
kenkasse übernommen werden; die Kosten für die Er-
satzbeschaffung von Einrichtungsgegenständen, etwa
Matratzen bei Kindern mit Inkontinenz; die Kosten für
Freizeitunternehmungen; die Unterhaltsgewährung in
Form von kostenfreier Unterkunft, wenn das Kind tat-
sächlich kostenlos bei seinen Eltern lebt und dafür
keine Unterkunftskosten im Rahmen der Grundsiche-
rung geltend macht; die Aufwendungen für notwendige
Betreuungsleistungen durch andere Personen, die
nicht von der Pflegekasse oder dem Sozialhilfeträger
erstattet werden; die Aufwendungen für notwendige
Betreuungsleistungen durch die Eltern selbst, die nicht
von der Pflegekasse oder dem Sozialhilfeträger erstat-
tet werden.

Diese Aufzählung zeigt einmal mehr, dass unser So-
zialstaat durchaus die Lebenssituationen erfasst und
ausgleicht. Sie zeigt aber auch sehr deutlich, mit wel-
chen Mehraufwendungen Eltern von Kindern mit Be-
hinderung alleine fertigwerden müssen und dass sie
damit keinerlei Bevorteilung erfahren, wie manch ei-
ner leider behauptet.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Rechts-
lage ist klar und lebensnah, die Umsetzung ist komplex
und manchmal auch kompliziert, weil nicht jeder Ein-
zelfall im Gesetz abgebildet werden kann. Deshalb bit-
ten wir um eine verantwortungsvolle Umsetzung der
genannten gesetzlichen Regelungen.


Gabriele Hiller-Ohm (SPD):
Rede ID: ID1721734900

Ein behindertes Kind ist für viele Eltern eine Le-

bensaufgabe. Sie versorgen es oft bis ins hohe Alter.
Als Ausgleich für finanzielle Mehrbelastungen erhal-

ten sie dann auch für ihr erwachsenes Kind noch das
Kindergeld, wenn es sich wegen seiner Behinderung
nicht selbst unterhalten kann. Dieser Anspruch kann
bis zum Tod bestehen. Das betrifft Eltern, deren Kinder
im Schwerbehindertenausweis entweder das Merkmal H
haben, eine volle Erwerbsminderungsrente beziehen
oder wegen der Schwere der Behinderung nicht dem
ersten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Mit dem
lebenslangen Kindergeld sollen Mehrausgaben der
Eltern abgegolten werden. Schauen wir uns einmal an,
was das für Ausgaben sein können: zusätzliche Kosten,
die anfallen, wenn Eltern mit ihren Kindern in einer
gemeinsamen Wohnung leben; Kosten für Begleitfahr-
ten zu Freunden, zu Kultur- und Sportveranstaltungen;
zusätzliche Aufwendungen für einen gemeinsamen
Urlaub, der durch die Behinderung des erwachsenen
Kindes finanziell oft ganz andere Dimensionen an-
nimmt; günstige Alternativen wie die U-Bahn-Fahrt
zum Flughafen oder die Übernachtung auf dem
Campingplatz fallen unter Umständen flach; Kosten,
die entstehen, wenn Eltern ihre Kinder zu Behandlun-
gen, Kuren und Arztbesuchen begleiten oder bei Hilfs-
und Heilmitteln und Medikamenten Geld aus eigener
Tasche zuschießen; zusätzliche Kosten für ein speziel-
les Auto, um Rollstuhl und Zubehör unterbringen zu
können.

Das sind nur einige wenige Beispiele. Schon sie zei-
gen: Diese Eltern leisten Großes – oft auf Kosten ihrer
eigenen Bedürfnisse und oft ihr Leben lang. Deshalb
ist es gerecht, dass sie einen finanziellen Ausgleich für
zusätzliche Kosten erhalten. Ihre Kinder werden näm-
lich nicht, wie andere, einmal auf eigenen Beinen ste-
hen und sich selbst versorgen können. Aber ist es der
richtige Weg, für den Ausgleich dieser Kosten ausge-
rechnet das Kindergeld zu wählen? Menschen mit
schwerer Behinderung haben genauso das Recht auf
Respekt wie alle anderen auch. Kinder mit Behinde-
rung bleiben nicht ihr Leben lang Kinder. Auch sie
werden erwachsen. Und dieser Umstand muss in unse-
ren Gesetzen nachvollzogen werden.

Ich komme zum Antrag der Grünen. Menschen mit
Behinderung, die ihren Lebensunterhalt nicht selbst
verdienen können, sind häufig auf Sozialhilfe angewie-
sen. Das trifft auch auf Kinder zu, die als Erwachsene
bei ihren Eltern leben oder in Pflegeeinrichtungen von
ihnen umsorgt werden. Die Sozialhilfeträger können
bei den Familienkassen sogenannte Abzweigungsan-
träge stellen. Das heißt, das Kindergeld wird dann
nicht weiter an die Eltern, sondern an die Sozialhilfe-
träger ausgezahlt. Somit kommt in diesen Familien
kein Kindergeld an. Früher ging dies nur, wenn das
Kind in einer vollstationären Einrichtung lebte, die
anfallenden Unterhaltskosten vom Sozialamt über-
nommen wurden und die Eltern keine oder nur geringe
Aufwendungen für das Kind hatten. Seit drei Jahren
gibt es eine andere Rechtsprechung. Das Kindergeld
kann nun auch Eltern gestrichen werden, die sich
nachweislich liebevoll und mit hohem finanziellem
Engagement um ihre Kinder in Pflegeeinrichtungen
kümmern, sie oft besuchen und ihnen das Leben ver-

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Hiller-Ohm


(A) (C)



(D)(B)


schönern. Und der Sozialhilfeträger kann das Kinder-
geld jetzt sogar dann abzweigen, wenn das Kind im
Haushalt der Eltern lebt, was in der Regel mit
Mehrkosten verbunden ist, die nicht alle ausgeglichen
werden. Diese Rechtslage nutzen die Sozialhilfeträger
und zweigen immer mehr Kindergeld ab. Sie tun es, um
Geld zu sparen. Den Eltern bleibt in diesem Fall nur
der Widerspruch. Das darf nicht sein.

Es muss dringend darauf hingewirkt werden, dass
Sozialhilfeträger keine ungerechtfertigten Abzwei-
gungsanträge stellen. Jetzt muss man überlegen, wie
man das hinbekommt. Das haben Sie, liebe Kollegin-
nen und Kollegen der Grünen, ja auch gemacht: recht-
lich die Situation noch mal klarstellen und die Beweis-
last umkehren.

Das sind gute Vorschläge, aber sie helfen über das
Grundproblem leider nicht hinweg. Natürlich haben
Familien mit behinderten Kindern Nachteile und
Mehraufwendungen – auch die Eltern –, aber bitte
schön: Die behinderten Kinder sind irgendwann er-
wachsen. Und sie sollten nicht darauf angewiesen
sein, dass Mama und Papa zusätzliche Kosten, die
durch die Behinderung entstehen, für sie tragen. Und
sie sollten genauso wenig darauf angewiesen sein,
dass Mama und Papa dafür mit Kindergeld abgespeist
werden. Wir stehen für eine Politik, die auf die Selbst-
bestimmung behinderter Menschen zielt. Nachteils-
ausgleiche müssen den Menschen mit Behinderung
selbst gewährt werden. Mehraufwand der Eltern darf
nicht mit einem lebenslangen Kindergeld ausgeglichen
werden. Hier brauchen wir neue Konzepte. Die haben
wir in unserem Antrag „UN-Konvention jetzt umsetzen –
Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen“, Bun-
destagsdrucksache 17/7942, beschrieben. Wir wollen
weg vom Prinzip der Fürsorge und hin zur Teilhabe,
weg vom SGB XII in das SGB IX. Wir wollen die Mög-
lichkeit eines einkommens- und vermögensunabhängi-
gen Teilhabegeldes prüfen. Wir haben unseren Antrag
zusammen mit behinderten Menschen erarbeitet. Und
die haben ihren Anspruch ganz klar formuliert: Sie
möchten unabhängig sein! Das muss der Weg sein. Die
vielen unrechtmäßigen Kindergeldabzweigungen müs-
sen wir stoppen, keine Frage. Aber die Problematik
jetzt einzelgesetzlich neu zu regeln, wäre Flickschuste-
rei.

Wir sollten den großen Wurf wagen und konsequent
den Weg hin zu Teilhabe und Selbstbestimmung be-
schreiten. Das tun Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
der Grünen, mit Ihrem Antrag nicht. Deshalb werden
wir uns hier enthalten.


Pascal Kober (FDP):
Rede ID: ID1721735000

Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,

den wir hier beraten, spricht ein Problem an, das in
der Vergangenheit vereinzelt existierte. Er ist dennoch
überflüssig, da diese christlich-liberale Bundesregie-
rung durch ihr schnelles Handeln eine rechtliche
Klarstellung herbeigeführt hat.

Das Kindergeld erhält grundsätzlich der Elternteil,
der das Kind in seinen Haushalt aufnimmt und ihm
Unterhalt leistet. Nur in Ausnahmefällen kann das
Kindergeld von der zuständigen Familienkasse an
Dritte, entweder das Kind selbst oder den Sozialhilfe-
träger, ausbezahlt werden. Dies darf jedoch nur dann
geschehen, wenn der Elternteil seiner Unterhalts-
pflicht gegenüber dem Kind tatsächlich nicht nach-
kommt.

Während der Anspruch auf Kindergeld in der Regel
spätestens mit dem 25. Geburtstag endet, kann er bei
Menschen mit Behinderung auch über das 25. Lebens-
jahr hinaus bestehen, wenn sie aufgrund der Beein-
trächtigung nicht in der Lage sind, sich selbst zu unter-
halten. Die Behinderung muss in diesen Fällen jedoch
vor dem 25. Lebensjahr eingetreten sein.

Hier haben die Sozialhilfeträger, die für die jeweili-
gen Sozialleistungen zuständig sind, die Möglichkeit,
einen Abzweigungsantrag zu stellen. Diesem ist jedoch
nur dann stattzugeben, wenn die Eltern nicht für den
Unterhalt des Kindes sorgen.

Wenn jedoch einzelne Kommunen mittlerweile
verstärkt Anträge auf Kindergeldabzweigung stellen,
dann ist das mit der bestehenden Rechtslage nicht ver-
einbar.

Deshalb hat das Bundesministerium für Arbeit und
Soziales auch klargestellt, dass sich die Rechtslage
nicht geändert hat und dass solche Anträge nur in Aus-
nahmenfällen positiv beschieden werden können. Die
dafür erforderlichen Kriterien haben sich nicht geän-
dert. Diese Rechtsauffassung hat das Bundesministe-
rium für Arbeit und Soziales den Ländern für die Kon-
ferenz der obersten Landessozialbehörden am 7. April
2011 mitgeteilt.

Seit diesem Zeitpunkt ist festzustellen, dass in der
Sozialhilfepraxis, insbesondere in den Großstädten,
der Rechtsauffassung der Bundesregierung gefolgt
wird. Eine gesetzliche Änderung ist daher nicht not-
wendig.

Im Übrigen möchte ich die Gelegenheit nutzen, um
etwas zu den Kindergeldplänen der Kolleginnen und
Kollegen der SPD-Fraktion zu sagen. Sie fordern über
die gesamte Legislaturperiode immer wieder, dass
statt in das Kindergeld viel mehr in Infrastruktur für
Kinder investiert werden müsse. Noch 2010 haben sie
sogar eine Senkung des Kindergeldes gefordert.

Diese Bundesregierung hat bei der Infrastruktur ge-
handelt. Wir haben in die Infrastruktur für Kinder zu-
sätzlich investiert. Wir haben über 580 Millionen Euro
zusätzlich als Investitionszuschüsse für die Betreuung
von Kindern bereitgestellt. So können 30 000 zusätz-
liche Plätze für die öffentlich geförderte Betreuung von
Kindern unter drei Jahren geschaffen werden.

Zusätzlich hat das Bundesministerium für Familie,
Senioren, Frauen und Jugend gemeinsam mit der
Kreditanstalt für Wiederaufbau ein zweijähriges För-
derprogramm für den Ausbau von Kindertagesstätten

Zu Protokoll gegebene Reden





Pascal Kober


(A) (C)



(D)(B)


aufgelegt. Hier stehen für den Zeitraum 350 Millionen
Euro zur Verfügung.

Sie sehen, dass diese Regierungskoalition handelt –
sowohl bei der Verbesserung der Infrastruktur für Kin-
der wie auch bei der Entlastung von Familien. Wir ha-
ben das Kindergeld pro Kind um 20 Euro im Monat
und den Kinderfreibetrag erhöht – und dabei trotzdem
den Haushalt konsolidiert. Ich würde mir wünschen,
dass die Länder hier genauso handeln würden.

Diese haben aber beim Ausbau der Kinderbetreu-
ungsplätze noch Nachholbedarf, und durch die Blo-
ckade des Gesetzes zum Abbau der kalten Progression
verhindern die von SPD, Grünen und Linken regierten
Länder eine Entlastung der Familien.

Der Höhepunkt der Unredlichkeit sind dann ihre
Pläne zur Umgestaltung des Kindergeldes. Jetzt wol-
len sie das Kindergeld für bestimmte Familien erhö-
hen, für andere soll die Förderung hingegen geringer
ausfallen. Das zeigt, dass sie nicht wissen, was sie
wollen. Mal fordern sie eine Absenkung, mal eine teil-
weise Erhöhung.

Wir handeln lieber im Interesse der Kinder in unse-
rem Land – und das mit in sich stimmigen Konzepten.


Dr. Ilja Seifert (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721735100

Hat Ihr Kind einen hohen Verschleiß an Kleidung

und Schuhen? Wenn ja, legen Sie bitte die Gründe dar,
und teilen Sie mit, was im Jahr an Kosten für Schuhe
und Kleidung anfallen. Muss Ihr Kind öfters ins Kran-
kenhaus? Bitte teilen Sie mit, wie hoch Ihre gesamten
Kosten für die Renovierung des Zimmers des Kindes
waren. Wie oft renovieren Sie das Zimmer Ihres Kin-
des? Eigenartige Fragen. Können Sie sich vorstellen,
dass die Familienkasse die Beantwortung solcher und
weiterer ähnlich gelagerter Fragen fordert, bevor Sie
das Kindergeld bzw. den Kinderfreibetrag gewährt be-
kommen? Sicher nicht, denn das staatliche Kindergeld
soll – zumindest teilweise – die finanziellen Belastun-
gen ausgleichen, die Eltern durch den Unterhalt ihrer
Kinder entstehen. Kindergeld ist ein Recht, kein Gna-
denakt.

Es gibt aber solche Fragen von Familienkassen,
gestellt an Eltern von Kindern über 25 Jahren mit Be-
hinderungen. Und dann bzw. schon zuvor erfolgt die
Kindergeldabzweigung. Was das ist? Dazu ein anony-
misiertes Beispiel aus dem Landkreis Harz.

„Im Oktober 2011 kam Post von der Familienkasse,
FK, für die Eltern von Erika Mustermann. Erikas El-
tern waren erstaunt, hatten sie doch erst vor kurzem,
wie in jedem Jahr, den Bescheid von der FK erhalten,
dass sie weiterhin Kindergeld für Erika bekommen.
Erika ist auf den Rollstuhl angewiesen. Sie lebt bei ih-
ren Eltern im Haushalt. Da sie wirtschaftlich nicht
selbstständig und auf Hilfe angewiesen ist, erhält sie
vom Sozialamt des Landkreises Grundsicherung nach
dem Sozialgesetzbuch XII. Außerdem steht den Eltern
entsprechend Einkommensteuergesetz § 32 Kindergeld
auch nach dem 25. Lebensjahr ihres Kindes – Erika ist

über 30 Jahre alt – auf Dauer zu. Doch in diesem
Schreiben der FK steht, dass das Sozialamt des Kreises
ab November 2011 das Kindergeld für sich beantragt.
Was passierte dann? Der Abzweigungsantrag des
Landkreises an die FK bewirkt, dass die Kindergeld-
zahlung ab 1. November 2011 eingestellt wird, obwohl
noch nichts entschieden ist. Innerhalb von 14 Tagen
müssen die Eltern der FK mitteilen, welche finanziel-
len Aufwendungen ihnen für ihr Kind entstanden sind,
die über die Grundsicherung oder Leistungen anderer
– Kranken- oder Pflegekasse – hinausgehen. Dafür
sind der FK Nachweise – Quittungen, Belege usw. –
vorzulegen. Dann kommt die Mitteilung von der FK,
dass die Belege unzureichend seien, verbunden mit
Fragen wie zum Beispiel nach höherem behinderungs-
bedingten Verschleiß von Kleidung und Schuhen.
Nachweise müssen nachgereicht werden, noch weitere
werden von der FK gefordert. Monate vergehen.

Im Frühjahr 2012 kommt endlich der Bescheid von
der FK. Doch was ist das? Erikas Eltern sollen nur
noch etwa ein Drittel des bisherigen Kindergeldes von
184 Euro erhalten, der Landkreis bekommt etwa zwei
Drittel. Eine Nachzahlung ab November wird den El-
tern angekündigt. Doch dazu kommt es nicht. Der
Landkreis gibt sich mit einer Teilabzweigung nicht zu-
frieden und legt Einspruch gegen diesen Bescheid bei
der FK ein. Er will alles. Bis zum letzten Herbstmonat
des Jahres 2012 ist noch keine Entscheidung gefallen.
Erikas Eltern bekommen jetzt bereits seit einem Jahr
kein Kindergeld, obwohl sie sich wie seit über 30 Jah-
ren liebevoll um ihre Tochter kümmern. Die natürlich
weiterhin anfallenden behinderungsbedingten Mehr-
aufwendungen können sie seit einem Jahr nur noch er-
bringen, indem sie selbst auf Nötiges für sich verzichten.
Der Landkreis hat die Mittel, die er 2012 aus Kinder-
geldabzweigungen eingenommen hat – 180 000 Euro –,
inzwischen als Deckungsquelle für eine überplanmä-
ßige Ausgabe eingesetzt. Das Geld im Haushaltsplan
2012 hat nicht für die Zahlung der Sozialhilfe – dafür
ist ebenfalls der Landkreis zuständig – an alte Men-
schen gereicht, die von ihrer geringen Rente nicht le-
ben können. Sie erhalten jetzt das Geld, das den Eltern
erwachsener behinderter Kinder abgezweigt wurde.“

Dies wurde auf Grundlage einer Vielzahl von Ge-
sprächen mit betroffenen Eltern vom Kreistagsabge-
ordneten Eberhard Schröder, Die Linke, am 16. No-
vember 2012 aufgeschrieben. Ähnliche Berichte kenne
ich auch aus Gera in Thüringen, Gemeinden in Bayern
und anderen Kommunen. Am 5. Dezember 2012 über-
gab eine Elterninitiative 2 305 Unterschriften an den
Landrat Dr. Michael Ermrich anlässlich der Harzer
Kreistagssitzung. Inzwischen sind weitere 400 Unter-
schriften hinzugekommen. Nachfolgend die Worte von
Frau Birgit Kortum, Vertreterin der Elterninitiative
Quedlinburg, anlässlich der Übergabe der 2 305 Un-
terschriften gegen die Kindergeldabzweigung: „Sehr
geehrter Herr Landrat, sehr geehrte Mitglieder des
Kreistages, ich spreche heute für mich und für alle
Eltern, denen der Landkreis per Verfügung das Kin-
dergeld, welches wir für unsere behinderten Kinder

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Ilja Seifert


(A) (C)



(D)(B)


von der Kindergeldkasse erhalten haben, abspricht.
Der Landkreis unterstellt uns damit, dass wir uns nicht
ausreichend um unsere behinderten Angehörigen küm-
mern. Uns wird weiter unterstellt, dass wir das Kinder-
geld nicht für unsere Kinder ausgeben, und wir müssen
detailliert aufführen, was wir mit dem Kindergeld ma-
chen und wie wir es verwenden, damit wir es ganz oder
teilweise weiter bekommen. Als seinerzeit das Gesetz
erlassen wurde, dass Kindergeld länger für ein behin-
dertes Kind gezahlt werden kann, hat man sicherlich
bedacht, dass Eltern, die ihr behindertes Kind zu
Hause haben, ständig gefordert sind und mehr Ausga-
ben haben als mit einem gesunden Kind, welches ein-
mal selbstständig leben kann.

Wir fordern deshalb die Rücknahme der Abzwei-
gungsanträge durch den Landkreis. Nicht nur wir, son-
dern auch viele Bürger unseres Landes unterstützen
unsere Forderung mit ihrer Unterschrift, und deshalb
möchte ich Ihnen heute einen Teil der Listen unserer
Unterschriftenaktion übergeben.“

Auf Antrag der Fraktion Die Linke im Landtag
Sachsen-Anhalt gab es am 14. Dezember 2012 dazu
eine Debatte in der Landeshauptstadt Magdeburg
– „Abzweigung von Kindergeld für erwachsene Behin-
derte stoppen“, Drucksache 6/1671 –, auch in den
Landtagen Bayern und Thüringen stand das Thema
schon auf der Tagesordnung. Auch der Bundesregie-
rung ist das Problem seit längerem bekannt. Ich ver-
weise diesbezüglich unter anderem auf meine Anfra-
gen aus den Jahren 2010 und 2011 sowie die
abwiegelnden Antworten und äußerst halbherzigen
Reaktionen der Bundesregierung dazu. Schon damals
erklärte die Bundesregierung, dass hier gegen gelten-
des Recht verstoßen wird und sie Maßnahmen zur Än-
derung der kritisierten Praxis ergreift. Und trotzdem
wird das Kindergeld Familien mit behinderten Jugend-
lichen vorenthalten. Deswegen unterstützt die Linke
auch den hier zur Abstimmung stehenden Antrag der
Grünen. Absurd sind die Begründungen von CDU/
CSU, FDP und SPD für ihre Ablehnung bzw. Stimm-
enthaltung, nachzulesen in der Beschlussempfehlung,
Drucksache 17/11748. Selbstverständlich: Es gibt bes-
sere Möglichkeiten für Nachteilsausgleiche als das ge-
genwärtige Kindergeldsystem. Ich nenne dafür die
Vorschläge der Linken, nachzulesen in unserem Antrag
für ein Teilhabesicherungsgesetz, Drucksache 17/7889.
Aber solange diese Form von bedarfsgerechten, ein-
kommens- und vermögensunabhängigen Teilhabeleis-
tungen nicht verwirklicht ist, muss das vorhandene
System im Sinne der Betroffenen umgesetzt werden.
Und das heißt unter anderem, dass Kindergeldabzwei-
gungen nur in wenigen begründeten Ausnahmefällen
möglich sein dürfen.

Und auf ein weiteres, großes Problem möchte ich an
dieser Stelle hinweisen. Wenn Eltern, in deren Haus-
halt ein erwachsenes behindertes „Kind“ lebt, selbst
Hartz IV – SGB II – oder Grundsicherung – SGB XII –
beziehen, wird ihnen in jedem Fall das Kindergeld als
Einkommen angerechnet und von ihrem Regelsatz ab-

gezogen. Hinzu kam die Einführung der Regelbedarfs-
stufe 3, mit der die Regelsätze für junge Menschen, die
bei den Eltern leben, gekürzt wurden. Hier geht es
nicht um den Umgang von einzelnen Kommunen mit
Bundesgesetzen, sondern um bestehendes Bundesrecht
selbst. Hartz IV und die Agenda 2010 sind Armut per
Gesetz.

Für mich bleibt es ein Skandal, wenn immer wieder
bei den Ärmsten in der Gesellschaft gespart wird,
wenn bei Familien mit Kindern und vor allem bei
Familien mit Kindern bzw. Jugendlichen mit Behinde-
rungen Geld abgezweigt wird. Dabei gibt es andere
Möglichkeiten, Geld für klamme Haushalte in Bund,
Ländern und Kommunen abzuzweigen, denke ich nur
an unnötige Ausgaben für Banken, Konzerne, für un-
sinnige Großprojekte, für Rüstung und Kriegseinsätze.


Markus Kurth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721735200

Niemand hier stellt infrage, dass Eltern, deren er-

wachsene behinderte Kinder ihren Lebensunterhalt
nicht durch Erwerbsarbeit bestreiten können, weiter-
hin Kindergeld beziehen sollen. Nur in begründeten
Einzelfällen, wenn zum Beispiel zwischen Eltern und
Kind kein Kontakt besteht, ist eine Kindergeldzahlung
nicht gerechtfertigt. Die Diskussion, die wir im Aus-
schuss über den hier zur Debatte stehenden Antrag
hatten, hat die Einigkeit zwischen den Fraktionen in
dieser Hinsicht sehr deutlich gemacht. Da angenom-
men werden kann, dass den Eltern in Folge der Beein-
trächtigung ihres Kindes höhere Kosten entstehen als
Eltern nichtbehinderter Kinder, erhalten sie auch eine
staatliche Leistung länger. Die Einigkeit darüber, dass
es bei der Umsetzung dieses Rechtsanspruchs erhebli-
che Probleme gibt, war im Ausschuss ebenfalls relativ
groß. Kein Wunder, denn die Zahl der Klagen ist in die-
ser Sache hoch, und ich nehme an, dass sich betroffene
Familien nicht nur an mich gewandt haben.

So hat mir beispielsweise ein Vater aus Thüringen
vom Rechtsstreit berichtet, den die Familie im Zusam-
menhang mit dem Kindergeld für die erwachsene be-
hinderte Tochter hat. Nachdem die Familienkasse
nach Prüfung der von den Eltern eingereichten Unter-
lagen den Antrag des Sozialhilfeträgers auf Abzwei-
gung abgelehnt hatte, klagte der Sozialhilfeträger. Das
Sozialamt klagte aber nicht nur in diesem Fall, son-
dern in dieser Stadt gleich in über zehn Fällen. In mei-
nem Wahlkreis Dortmund hat die Stadt im vorletzten
Jahr bei 550 infrage kommenden Fällen 458 Abzwei-
gungsanträge gestellt. Bei nahezu allen von der Fami-
lienkasse abgelehnten Fällen hat der Sozialhilfeträger
Einspruch eingelegt. Aus anderen Bundesländern ist
mir Ähnliches bekannt. Den Eltern entsteht durch
diese Praxis der Sozialhilfeträger zum einen der Auf-
wand, kleinteilig nachzuweisen, in welchem Umfang
sie für ihre Kinder aufkommen. Zum anderen entsteht
Unsicherheit, inwiefern sie sich auf diese Leistung
finanziell verlassen können. So war diese Leistung
nicht gedacht.

Zu Protokoll gegebene Reden





Markus Kurth


(A) (C)



(D)(B)


Ich habe es schon gesagt: Das Kindergeld darf nur
in besonders begründeten Ausnahmefällen entzogen
werden, in dieser Frage sind sich alle Fraktionen ei-
nig. Es ist leicht nachzuweisen, dass die Sozialhilfeträ-
ger nicht nach diesem Prinzip agieren. Ich kann das
angesichts der prekären finanziellen Lage der Träger
auch nachvollziehen. Das ändert aber nichts daran,
dass sie mit ihrer Praxis der Intention des Gesetzge-
bers widersprechen, von den Kosten, die durch die
zahlreichen Gerichtsverfahren entstehen, ganz zu
schweigen. Eine Klarstellung scheint also tatsächlich
geboten zu sein.

In Anbetracht der großen interfraktionellen Einig-
keit in der Sache würde man annehmen, dass unser An-
trag auch auf große Zustimmung stößt. Dies ist leider
nicht der Fall. Die Koalitionsfraktionen meinen, die
Rechtslage sei klar, und die Bundesregierung steuere
der kritisierten Entwicklung bereits entgegen. Warum
bei klarer Rechtslage derart viele Prozesse geführt
werden, leuchtet mir nicht ein. Aber ich hoffe wirklich,
dass dieses Gegensteuern bald positive Effekte zeitigt.
Die Probleme sind ja nun lang genug bekannt.

Erstaunt haben mich mit ihrem Abstimmungsverhal-
ten zum wiederholten Male die Sozialdemokraten.
Denn die SPD kann sich ebenfalls nicht zu einer Zu-
stimmung durchringen. Zwar hat auch die SPD infolge
unseres Antrags geprüft, ob es tatsächlich ein Problem
gibt mit vermehrten Abzweigungsanträgen, und dabei
festgestellt, dass dies der Fall ist. Insbesondere einen
Grund hat die Fraktion im Ausschuss genannt, der ihr
an unserem Antrag Bauchschmerzen bereitet. Denn
das Geld, das jetzt die Familien bekommen, müsse ei-
gentlich an die Menschen mit Behinderung selbst aus-
gezahlt werden. Ich halte dies ebenfalls für das rich-
tige langfristige Ziel, deshalb haben wir es auch in
unseren Antrag aufgenommen. Es „muss eine Lösung
gefunden werden, die Menschen mit Beeinträchtigun-
gen entsprechend ihrer behinderungsbezogenen,
individuellen Mehrbedarfe einen einkommens- und
vermögensunabhängigen Nachteilsausgleich garan-
tiert. Solange eine solche Neuregelung im Sinne von
Menschen mit Behinderungen nicht gefunden ist, muss
die Praxis der nicht gerechtfertigten flächenmäßigen
Kindergeldabzweigung beendet werden.“ Warum die
SPD einem Antrag nicht zustimmen kann, der Familien
mit behinderten Kindern entlastet, ohne dabei aus dem
Blick zu verlieren, dass langfristig das System der
Nachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderung
neu geordnet werden muss, ist schlicht nicht nachvoll-
ziehbar. Es ist die Weigerung, die konkreten Probleme
anzugehen, mit denen Menschen mit Behinderung und
ihre Familien zu kämpfen haben. Oder anders gesagt:
Ich freue mich darauf, die SPD an ihre weitgehenden
Forderungen zu erinnern, sollte sie in Regierungsver-
antwortung kommen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721735300

Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für

Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/11748, den Antrag der Fraktion Bünd-

nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10863 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Empfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.

Tagesordnungspunkt 30:

Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung

(Personenstandsrechts-Änderungsgesetz – PStRÄndG)


– Drucksache 17/10489 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss (f)

Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll genommen.


Helmut Brandt (CDU):
Rede ID: ID1721735400

In der heutigen Debatte beschäftigen wir uns in ers-

ter Lesung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Ände-
rung personenstandsrechtlicher Vorschriften. Bei In-
krafttreten des Reformgesetzes zum 1. Januar 2009
standen die für die Einführung der elektronischen Re-
gisterführung erforderlichen technischen Komponen-
ten und Verfahren noch nicht zur Verfügung. Deshalb
wurde für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember
2013 auch weiterhin die Beurkundung in Papierregis-
tern zugelassen. Die fünfjährige Übergangsphase für
die verbindliche Einführung der elektronischen Beur-
kundungs- und Mitteilungsverfahren im Personen-
standswesen gab den Ländern Gelegenheit, erste Er-
fahrungen der Standesämter und Rechenzentren mit
dem neuen Recht und den elektronischen Prozessen
auszuwerten und für eine Überprüfung der entspre-
chenden Vorschriften zu nutzen. Die von den Personen-
standsrechtsreferenten der Länder am 25. Februar 2010
beschlossene Evaluierung hat gezeigt, dass das neue
Recht sich bei der praktischen Anwendung in den
Standesämtern grundsätzlich bewährt hat. Regelungs-
lücken werden durch den jetzt vorgelegten Änderungs-
entwurf geschlossen.

Viele der Änderungen sind lediglich redaktioneller
Art. An dieser Stelle möchte ich niemanden mit Details
langweilen. Dennoch ist das Thema wichtig, denn es
betrifft jeden einzelnen Bürger und jede einzelne Bür-
gerin in unserem Land im täglichen Leben. Bei Geburt,
Umzug, Hochzeit, Scheidung, Kindern und Tod spielt
das Personenstandsrecht eine wichtige Rolle. Deshalb
möchte ich insbesondere auf die Änderungen einge-
hen, die dazu dienen sollen, den betroffenen Menschen
das Leben zu erleichtern, und die ich deshalb als be-
sonders hervorhebenswert erachte.

Da ist zum einen: Die Antragsberechtigung für
Sterbefälle von Deutschen im Ausland. Diese wird er-
weitert. Das betrifft einerseits Personen, die nach dem
Verstorbenen erbberechtigt sind. Diese Personen ha-





Helmut Brandt


(A) (C)



(D)(B)


ben zwar einen Rechtsanspruch auf Ausstellung einer
Sterbeurkunde – § 62 Abs. 1 Satz 2 PStG –, konnten je-
doch bisher die Nachbeurkundung eines nicht im In-
land beurkundeten Sterbefalls nicht verlangen. Dies
kann jedoch – wie die Praxis zeigt – erforderlich sein,
wenn der Verstorbene in einem Land verstorben ist,
das für ausländische Staatsangehörige keine Sterbeur-
kunden ausstellt. Darüber hinaus wird den deutschen
Auslandsvertretungen insbesondere für Sterbefälle von
Bundeswehrsoldaten, Polizeibeamten und sonstigen
im Dienst der Bundesrepublik Deutschland stehenden
Personen, die im Auslandseinsatz versterben, eine An-
tragsberechtigung eingeräumt.

Besonders wichtig erscheint mir auch, dass der jetzt
vorgelegte Änderungsentwurf für Eltern die Möglich-
keit schafft, eine Fehlgeburt dem Standesamt gegen-
über anzuzeigen und ihr totgeborenes Kind – unabhän-
gig von dessen Gewicht – über den Eintrag in das
Personenstandsregister juristisch als Person anerken-
nen zu lassen. Eine Fehlgeburt ist für die betroffenen
Familien schrecklich. Ich kann das Bedürfnis von El-
tern, ihrem totgeborenen Kind einen Namen und damit
eine Identität geben zu wollen und es beerdigen zu
können, gut nachvollziehen.

Eine Schutzmöglichkeit eröffnet auch der Ände-
rungsentwurf gemäß § 62 Transsexuellen vor einer Of-
fenbarung ihrer Transsexualität. Durch das Änderungs-
gesetz zum Transsexuellengesetz vom 17. Juli 2009 ist
die Ledigkeit des Antragstellers nicht mehr Vorausset-
zung für die gerichtliche Feststellung der Geschlechts-
zugehörigkeit. Dadurch können verheiratete Trans-
sexuelle ihre bestehende Ehe oder Lebenspartnerschaft
trotz des Wechsels der Geschlechtszugehörigkeit fort-
führen. In der Ehe- und Lebenspartnerschaftsurkunde
wird in solchen Fällen durch die Anpassung der Leit-
texte „Ehemann“ und „Ehefrau“ oder durch die An-
gabe eines geänderten Vornamens mittelbar die Tatsa-
che der Transsexualität eines Partners offensichtlich.
Mit der beabsichtigten Regelung wird deshalb der
bisher nur für Geburtsurkunden bestehende Offen-
barungsschutz auch auf die Erteilung von Ehe- und
Lebenspartnerschaftsurkunden erweitert. Nach § 62
Abs. 3 Personenstandsgesetz gilt diese Beschränkung
auch für die Auskunft aus einem und Einsicht in einen
Registereintrag sowie Auskunft aus den und Einsicht in
die Sammelakten des Standesamts.

Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehung
der Länder zustande gekommen ist, ist fachlich und
politisch zu begrüßen. Es ist notwendig, das Personen-
standsrecht den Anforderungen und den Bedürfnissen
unserer Zeit anzupassen und Gesichtspunkte wie Dere-
gulierung, Verwaltungsvereinfachung und Kostenredu-
zierung zu berücksichtigen. Durch die jetzt vorgesehenen
Änderungen wird eine nachhaltige Harmonisierung
des Personenstandsrechts in Deutschland und eine
effektive Durchführung des personenstandsrechtlichen
Beurkundungsverfahrens erreicht. Soweit an der einen
oder anderen Stelle möglicherweise noch Optimie-

rungsbedarf besteht, können wir dies im Verfahren be-
rücksichtigen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.


Gabriele Fograscher (SPD):
Rede ID: ID1721735500

Im November 2006 haben wir in der Großen Koali-

tion das Gesetz zur Reform des Personenstandsrechts
verabschiedet. Dieses Gesetz, das 2007 in Kraft getre-
ten ist, basiert auf einem Entwurf der rot-grünen Ko-
alition aus der 15. Wahlperiode und wurde nur wenig
verändert. Es hat das Personenstandsrecht von 1937
in der Fassung von 1957 abgelöst. Die Schwerpunkte
der damaligen Reform waren die Einführung elektro-
nischer Personenstandsregister anstelle der bisheri-
gen papiergebundenen Personenstandsbücher, die Be-
grenzung der Fortführung der Personenstandsregister
durch das Standesamt sowie die Abgabe der Register
an die Archive, die Ersetzung des Familienbuchs durch
Beurkundungen in den Personenstandsregistern, die
Reduzierung der Beurkundungsdaten auf das für die
Dokumentation des Personenstandes erforderliche
Maß, die Neuordnung der Benutzung der Personen-
standsbücher sowie die Schaffung einer rechtlichen
Grundlage für eine Testamentsdatei. Da das damalige
Gesetz eine tiefgreifende Änderung, nämlich die Um-
stellung von papiergestützter Beurkundung auf ein
elektronisches Register bedeutete, wurde damals eine
Übergangsfrist in § 75 PStG aufgenommen. Diese
Übergangsfrist endet am 30. Juni diesen Jahres. In den
letzten Jahren hat sich gezeigt, dass sich die Reform
des Personenstandsrechts bewährt hat.

Das nun vorliegende Personenstandsrechts-Ände-
rungsgesetz setzt die Ergebnisse der Evaluierung des
Personenstandsrechts von 2007 um. Es sind nur punk-
tuelle Verbesserungen notwendig. Leider beschränkt
sich dieser Gesetzentwurf nur auf technische und for-
melle Fragen und lässt Menschen, die Probleme mit
der personenstandsrechtlichen Eintragung haben, au-
ßer Acht. Der Deutsche Ethikrat hat im Februar 2012
eine Stellungnahme zum Themenschwerpunkt „Inter-
sexualität“ vorgelegt. In dieser Stellungnahme, die der
Ethikrat im Auftrag der Bundesregierung erstellt hat,
gibt er auch Empfehlungen an die Politik. In den Emp-
fehlungen zum Personenstandsrecht heißt es: „Der
Deutsche Ethikrat ist der Auffassung, dass ein nicht zu
rechtfertigender Eingriff in das Persönlichkeitsrecht
und das Recht auf Gleichbehandlung vorliegt, wenn
Menschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Kon-
stitution weder dem Geschlecht ‚weiblich‘ noch
‚männlich‘ zuordnen können, rechtlich gezwungen
werden, sich im Personenstandsregister einer dieser
Kategorien zuzuordnen.“

Der Ethikrat schlägt vor, ein sogenanntes drittes
Kästchen, zu ermöglichen und auch auf eine Eintra-
gung zu verzichten, bis sich der oder die Betroffene
selbst entscheiden kann. Diese Änderungen fordert
auch der Bundesrat in seiner Stellungnahme.

Die Bundesregierung hingegen äußert sich wie folgt
dazu: „Eine Lösung der komplexen Probleme insbe-
sondere unter Berücksichtigung medizinischer Aspekte

Zu Protokoll gegebene Reden





Gabriele Fograscher


(A) (C)



(D)(B)


kann in diesem schon weit fortgeschrittenen Gesetzge-
bungsverfahren nicht kurzfristig gefunden werden.“
Diese Aussage ist eine Enttäuschung für die Betroffe-
nen. Die Stellungnahme des Ethikrates ist vom Fe-
bruar 2012. Im Mai 2012 wurde der Gesetzentwurf
dem Bundesrat zugeleitet. Es wäre also hinreichend
Zeit gewesen, sich mit diesem Thema zu befassen, die
Empfehlungen des Ethikrates aufzunehmen oder einen
Änderungsantrag vorzulegen. Offensichtlich nimmt
die Bundesregierung die Probleme und Sorgen der Be-
troffenen nicht ernst. Es wird, wie in vielen anderen
Bereichen auch, so zum Beispiel beim Transsexuellen-
gesetz, das durch mehrere Bundesverfassungsgerichts-
urteile in vielen Teilen verfassungswidrig ist, nur an-
gekündigt und vertröstet, aber nicht gehandelt.

Ein weiteres Problem, das durch diesen Gesetzent-
wurf nicht gelöst wird, ist das Problem der „Weißen
Karteikarten“. Dabei geht es um den Schutz des Erb-
rechts und der Verfahrensbeteiligungsrechte nichtehe-
licher und einzeladoptierter Kinder im Nachlassver-
fahren. Die Standesämter führen in Deutschland seit
Ende des 19. Jahrhunderts die Personenstandsregister.
Der Staat beurkundet dort den Personenstand jedes
Bürgers – und damit seine Stellung innerhalb der
Rechtsordnung einschließlich des Namens. Während
eheliche Kinder schon ab 1935 beim Heiratseintrag
oder im Familienbuch registriert wurden, war die Pra-
xis bei nichtehelichen Kindern uneinheitlich. So gab es
zum Beispiel von 1958 bis 1970 keine Hinweise bei den
Geburtseinträgen der Eltern, von 1970 bis 2009 wur-
den die Geburtsregister der Eltern über die Geburt
nichtehelicher Kinder mittels Weißer Karteikarten un-
terrichtet, die von den Geburtsstandesämtern der Kin-
der übersandt wurden. Im Personenstandsregister der
Eltern wurde ein Vermerk angebracht. Nach der
Wende galt dieses Verfahren ab 1990 auch in den
neuen Bundesländern. Vergleichbare Regelungen gab
es über die Jahrzehnte für einzeladoptierte Kinder. Seit
1. Januar 2009 wird einheitlich am Geburtseintrag
beider Eltern ein Hinweis auf alle Kinder mit den Kin-
desdaten angebracht. Eine Unterscheidung zwischen
ehelichen, nichtehelichen und einzeladoptierten Kin-
dern findet nicht statt. Die Frage, die sich nun stellt
und die der Gesetzentwurf nicht löst, ist der weitere
Umgang mit diesen Weißen Karteikarten. Der Bundes-
rat schlägt in einem Gesetzentwurf vor, die Weißen
Karteikarten zusammen mit den sogenannten Gelben
Karteikarten, die Verwahrungsnachrichten über Testa-
mente und Erbverträge enthalten, an das zentrale
Testamentsregister der Bundesnotarkammer zu über-
führen. Dann könnte die Bundesnotarkammer die
Nachlassgerichte wenigstens über nichteheliche und
einzeladoptierte Kinder, die in den alten Bundeslän-
dern zwischen 1970 und 2008 und in den neuen Bun-
desländern zwischen 1990 und 2008 geboren wurden,
unterrichten. Die Bundesregierung lehnt dies ab. Sie
kümmert sich leider überhaupt nicht um dieses Pro-
blem. In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage der
SPD-Fraktion vom November des vergangenen Jahres
hat sie ausgeführt, es sei gar nicht nötig, das Vorhan-

densein nichtehelicher Kinder im Sterbefall dem Nach-
lassgericht mitzuteilen. Die Bundesregierung hat wei-
ter mitgeteilt, es sei richtig, dass die Standesämter die
Weißen Karteikarten vernichten dürften. Die Bundes-
regierung habe sich jedoch dieser Problematik ange-
nommen und sei mit den Ländern im Gespräch. Die
Bundesregierung gehe davon aus, dass eine angemes-
sene Regelung gefunden wird. Geschehen ist seither
nichts. Auch in diesem Gesetzentwurf findet sich kein
Wort dazu. Der Bundesrat hat das bemängelt. Jetzt
schlägt die Bundesregierung in ihrer Erwiderung vor,
dass die Länder selbst in einer Rechtsverordnung die
Aufbewahrung und Nutzung der Weißen Karteikarten
regeln sollen. Das ist keine ernsthafte Lösung, sondern
eine unangemessene Abschiebung des Problems. In
der Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD hat die
Bundesregierung noch erklärt, die Länder könnten gar
keine Schutzregelungen erlassen. Wir brauchen für ei-
nen wirksamen Schutz des Erbrechts der betroffenen
Kinder einen einheitlichen Standard und Vollzug, und
dafür muss der Bundesgesetzgeber sorgen.

Wir begrüßen es ausdrücklich, dass dieser Gesetz-
entwurf die personenstandsrechtliche Registrierung
von sogenannten Sternenkindern vorsieht. Kinder, die
mit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm tot zur
Welt kommen, werden Sternenkinder genannt. Bisher
sieht das derzeit gültige Personenstandsrecht keine
personenstandsrechtliche Erfassung dieser Kinder vor.
Deshalb begrüßen wir als SPD-Bundestagsfraktion es
ausdrücklich, dass es hier eine Veränderung gibt. Ich
selbst habe von vielen Eltern von Sternenkindern
Briefe bekommen, in denen sie mir erklärt haben, dass
eine solche Eintragung ihrer Kinder, die sie verloren
haben, ein wichtiger Beitrag zur Verarbeitung dieses
Verlustes ist. Eine Frage, die mir von Eltern gestellt
wurde, ist, ob wir nicht auch eine rückwirkende Ein-
tragung der Sternenkinder ermöglichen können. Den
Eltern ist durchaus klar, dass sich aus einer solchen
Eintragung keine finanziellen oder sonstigen Ansprü-
che ergeben. Für sie geht es nur darum, dass ihr Kind
nicht einfach nur eine Fehlgeburt ist, sondern auch
rechtlich als Kind anerkannt wird. Für viele Eltern von
Sternenkindern hat diese Eintragung eine hohe emo-
tionale Bedeutung. Auch wenn die Vorschrift des § 31
des Gesetzentwurfes wohl eine rückwirkende Regis-
trierung der Sternenkinder ermöglicht, so wäre für die
Betroffenen eine explizite Formulierung in dieser Vor-
schrift sicherlich ein gutes Signal. Darüber sollten wir
in den Beratungen sprechen.

Das Gesetz enthält klarstellende und vor allem re-
daktionelle Änderungen, bringt aber keine Verbesse-
rungen für intersexuelle und transsexuelle Menschen.
Deren Anliegen scheinen die Bundesregierung und die
Koalitionsfraktionen nicht zu interessieren. Auch wol-
len sich die Bundesregierung und die Koalitionsfrak-
tionen ihrer Verantwortung bezüglich der nichteheli-
chen und einzeladoptierten Kinder nicht stellen.

Ich hoffe, dass wir in den anstehenden Beratungen
doch noch zu Fortschritten kommen.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Manuel Höferlin (FDP):
Rede ID: ID1721735600

Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Per-

sonenstandsgesetz von 2007 durch die christlich-libe-
rale Koalition nachhaltig verbessert. Die Änderung
des Gesetzes ist nötig, weil einige Aspekte des Gesetzes
sich als nicht zeitgemäß herausgestellt haben und an
die Gegebenheiten und an die gesellschaftlich gelebten
Realitäten angepasst werden müssen.

In unserem Land kommt es tragischerweise immer
wieder dazu, dass Kinder tot geboren werden und we-
niger als 500 Gramm wiegen. Bisher hat das Perso-
nenstandsrecht diese Sternenkinder nicht erfasst. Für
den Staat haben sie rechtlich sozusagen nicht existiert.

Das trifft aber überhaupt nicht die brutale Realität,
mit der die Eltern konfrontiert sind, die eine Bindung
zu ihrem ungeborenen Kind aufgebaut haben und die
mit den Rechtsfolgen des alten Personenstandsgeset-
zes konfrontiert sind. So kam es in der Vergangenheit
leider vor, dass Friedhöfe die Bestattung dieser Kinder
verweigerten, so wie es einem Ehepaar aus Hessen ge-
schehen ist.

Das ist nicht hinnehmbar. Eltern sollen immer ein
Recht auf Anerkennung ihrer Elternschaft haben. Sie
sollen die Möglichkeit bekommen, um ihr Kind ange-
messen trauern zu können, wenn sie es so früh verloren
haben, und sie sollen die Möglichkeit bekommen, sei-
ner anständig gedenken zu können.

Das möchten wir mit Ihrer Zustimmung im Perso-
nenstandsrechts-Änderungsgesetz schaffen. Und da-
rum bitte ich Sie alle herzlich um Ihre Zustimmung.

Doch damit hört es nicht auf: Viele Deutsche halten
sich immer wieder im Ausland auf. Sie gehen als Ent-
wicklungshelfer oder Katastrophenschützer oder als
Freiwillige im Entwicklungsdienst ins Ausland, sie die-
nen als Bundeswehrsoldaten oder Polizisten. Sie be-
richten als Korrespondenten aus Krisengebieten, oder
sie machen Urlaub auf den Kanarischen Inseln. Immer
wieder kommt es dabei zu Todesfällen. Ein Sprengsatz,
ein bewaffneter Raubüberfall, ein Verkehrsunfall, ein
Badeunfall: All diese Ereignisse haben in der Vergan-
genheit zum tragischen Tod von Deutschen im Ausland
geführt. Die Hinterbliebenen stehen derzeit vor großen
Problemen. Sie haben einen schmerzhaften persönli-
chen Verlust erlitten und müssen sich zusätzlich um die
Rückführung ihres verstorbenen Angehörigen küm-
mern. Und sie haben behördlichen Aufwand, da sie
derzeit noch bei ihrem örtlichen Standesamt die Ster-
beurkunde des Angehörigen ausfertigen lassen müs-
sen.

Dass Menschen in einer solch schwierigen Situation
auch noch mit bürokratischem Ärger behelligt werden
– ja sogar Probleme bekommen können, da eventuell
wichtige Unterlagen nicht sofort beigetrieben werden
können –, halte ich für inakzeptabel.

Daher passen wir im neuen Personenstandsgesetz
die Verwaltungsarbeit an die Realität an. Zukünftig
können auch deutsche Auslandsbehörden die Ausstel-

lung der Sterbeurkunde in Auftrag geben und die An-
gehörigen so entlasten. Das ist eine Verbesserung.

Daneben werden wir noch eine Reihe technischer
Anpassungen im Gesetz durchführen, um das Perso-
nenstandswesen zeitgemäßer und moderner zu machen
und es stärker an der Lebensrealität der Bürgerinnen
und Bürger zu orientieren. So wollen wir die Erfassung
der Geschlechtszugehörigkeit in bestimmten Fällen
zukünftig genauer bestimmen und harmonisieren,
nicht zuletzt, um damit auch Transsexuellen zukünftig
die Möglichkeit zu geben, ihr rechtliches Geschlecht
richtig dokumentieren zu lassen.

Insgesamt kann man sagen: Mit dem Personen-
standsrechts-Änderungsgesetz schaffen wir mehr Mög-
lichkeiten und Verbesserungen für die Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland. Ich bitte Sie daher, dieses
Gesetzesvorhaben zu unterstützen.


Ulla Jelpke (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721735700

Im Jahr 2006 hat der Bundestag eine weitreichende

Reform des deutschen Personenstandsrechts beschlos-
sen, die 2009 in Kraft getreten ist. Mit dieser Reform
wurde das Personenstandsrecht in der Bundesrepublik
entschlankt und zugleich auf eine elektronische Füh-
rung der Personenstandsdaten umgestellt. Dieses Ge-
setz soll nun nach den ersten Erfahrungen mit der Ein-
führung der elektronischen Register in den Ländern
nochmals gestrafft und klarer formuliert werden. Dem
ist zunächst einmal nichts entgegenzuhalten. Doch an
den seinerzeit umstrittenen Punkten ändert sich nichts,
ohne dass der Gesetzentwurf sich dazu weiter äußert.
Diese Punkte seien hier nochmals ins Gedächtnis ge-
rufen. Durch eine Länderöffnungsklausel ist die
Schließung einer Lebenspartnerschaft vor dem Stan-
desamt weiterhin nicht in allen Ländern obligatorisch.
In Bayern wird die Lebenspartnerschaft immer noch
vor dem Notar geschlossen und dann vom Standesamt
lediglich eingetragen. Gleichgeschlechtlichen Paaren
bleibt damit der feierliche Rahmen, den die Standes-
ämter bieten, verwehrt. Im Übrigen bleibt auch die
Übertragung der Daten über die Schließung einer Le-
benspartnerschaft an die Kirchen erhalten. In Einrich-
tungen der katholischen Kirche kann das Bekanntwer-
den einer eingetragenen Lebenspartnerschaft zur
Kündigung führen.

Um bei den Kirchen zu bleiben: Die Aufnahme der
Religionszugehörigkeit in die Geburtenregister wurde
mit der Reform im Jahr 2009 auf eine freiwillige Basis
gestellt. Weiterhin ist aber die Frage offen, wozu die-
ses Datum denn überhaupt in den Geburtenregistern
eingetragen werden soll. Im Sinne der Datensparsam-
keit hätte dieses Merkmal nun ganz gestrichen werden
können, denn schließlich ist es für keine Behörde au-
ßer das Finanzamt von Relevanz.

Ich will noch auf einen letzten Punkt eingehen. Der
Bundesrat hat in seiner Stellungnahme von der Bundes-
regierung gefordert, sie möge die Einführung einer Ka-
tegorie „anderes“ als dritte Alternative bei der Angabe
des Geschlechts in personenstandsrechtlichen Angele-

Zu Protokoll gegebene Reden





Ulla Jelpke


(A) (C)



(D)(B)


genheiten prüfen. Es ist bekannt, dass trans- und inter-
sexuelle Menschen durch die geltende Rechtslage mas-
siv diskriminiert werden, weil man ihnen verweigert,
ihre Geschlechtsidentität in ihrem Pass und weiteren
Urkunden amtlich dokumentieren zu lassen. Der Bun-
desrat schließt sich deshalb mit seiner Stellungnahme
einer Empfehlung des Nationalen Ethikrates vom Fe-
bruar 2012 an. Die Bundesregierung weist dieses An-
sinnen mit der Begründung zurück, die mit Intersexua-
lität verbundenen Probleme seien hochkomplex, und
man müsse erst Betroffene und Sachverständige anhö-
ren. Ich will darauf hinweisen, dass es schon 2007 im
Innenausschuss des Bundestages ein öffentliches
Fachgespräch zum Thema Transsexuellenrecht gab.
Von einzelnen Betroffenen und ihren Verbänden liegen
zahlreiche Stellungnahmen vor. Die komplexen Pro-
bleme als auch mögliche Lösungsansätze sind also
schon lange bekannt. Es gibt zahlreiche Modelle, wie
die Interessen und Bedürfnisse von Inter- und Transse-
xuellen im Personenstandsrecht berücksichtigt werden
können. So ist es in Australien möglich, statt männlich
oder weiblich ein X in den Pass eintragen zu lassen.
Staaten rund um die Welt haben ähnliche Lösungsan-
sätze. Die Diskriminierung von inter- und transsexuel-
len Menschen muss endlich beendet werden.


(BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)


Für den Protagonisten von B. Travens weltberühm-
tem Roman „Das Totenschiff“ wird der Verlust seiner
Papiere zu einer kafkaesken Reise ins Nichts, gleichbe-
deutend mit dem Verlust von Identität und Hoffnung.
Alles kein Problem, werden Sie ganz nüchtern entgeg-
nen, er kann ja eine neue Geburtsurkunde beantragen.
Dafür braucht es aber ein funktionierendes Personen-
standswesen.

Das moderne bundesdeutsche Personenstandsrecht
verfügt die Erfassung und Beglaubigung der Bundes-
bürger in für rechtlich relevant erklärten Personen-
standsereignissen wie Geburt, Heirat, Tod, Adoption,
Vaterschaftsanerkennung oder auch Namensände-
rung, weil an diese Ereignisse wichtige Rechtsfolgen
geknüpft werden. Zuständig sind bei uns die Standes-
ämter der Kommunen, die Erfassung erfolgt – das Be-
urkundungsmedium Papier hat abgedankt – in unter-
schiedlichen elektronischen Registern. Über den
Umfang und Inhalt der Einträge wird regelmäßig ge-
stritten.

Die wesentliche Reform des Personenstandswesens
erfolgte in der letzten Legislaturperiode. Die schwarz-
rote Koalition war in der glücklichen Lage, im Wesent-
lichen auf die Vorarbeiten der rot-grünen Koalition zu
dieser komplexen Fachmaterie zurückgreifen zu kön-
nen. Im Ergebnis wurden insbesondere die Beurkun-
dung in elektronischen Personenstandsregistern und
der standardisierte elektronische Informationsaus-
tausch zwischen den Standesämtern gesetzlich umge-
setzt. Für die tatsächliche Umsetzung dagegen wurde
eine fünfjährige Übergangsperiode und die Evaluie-

rung der Erfahrungen durch eine Bund-Länder-Ar-
beitsgruppe festgesetzt. Die Ergebnisse der Evaluie-
rung liegen nach Angaben der Bundesregierung im
Wesentlichen dem nun vorgelegten Gesetzentwurf zu-
grunde.

Der heute zu diskutierende Gesetzentwurf umfasst
vor allem klarstellende und redaktionelle Änderungen,
die wir mittragen können. Hervorzuheben sind die ver-
schiedentlich geforderte neu geschaffene Möglichkeit
der Anzeige auch einer Fehlgeburt gegenüber dem
Standesamt und die Erlangung einer amtlichen Be-
scheinigung hierüber. Ferner ausdrücklich zu begrü-
ßen ist die Erweiterung der Antragsmöglichkeiten für
die gerichtliche Feststellung der Geschlechtszugehö-
rigkeit auch auf Verheiratete. Dadurch können verhei-
ratete Transsexuelle ihre bestehende Ehe oder Le-
benspartnerschaft fortführen.

Bedauerlich bleibt, dass die Bundesregierung im Rah-
men dieser Reform keine Bereitschaft zeigt, auf die auch
vom Bundesrat unter Bezugnahme auf die Stellung-
nahme des Deutschen Ethikrates angeratene Berück-
sichtigung von Intersexuellen einzugehen. Wir haben
dazu in einem eigenen Antrag, Bundestagsdrucksache
17/5528, und in Übereinstimmung mit dem Ethikrat
eine eigene Berücksichtigung Intersexueller im Perso-
nenstandsrecht eingefordert bzw. eine Überprüfung
der Notwendigkeit der Eintragung des Geschlechts,
gegebenenfalls deren Ausdifferenzierung.

Das Personenstandswesen wird in dem Maße im
Umbruch bleiben, wie der gesellschaftliche Wandel
Veränderungen von Ehe, Familie oder auch Identitäts-
vorstellungen allgemein nach sich zieht. Gerade bei
der von uns maßgeblich erstrittenen Lebenspartner-
schaft werden wir weiter darauf hinwirken, dass die
Gleichbehandlung auch im Rahmen des Personen-
standsrechts gewahrt bleibt. Datenschutz und Daten-
sicherheit der mittlerweile auf digitale Verarbeitung
umgestellten Personenstandsregister bleiben ebenfalls
aktuell. Von besonderer Bedeutung bleiben dabei die
Einhaltung des Erforderlichkeitsgrundsatzes und die
Beschränkung der Erfassung von personenbezogenen
Daten auf das zur Zweckerreichung unbedingt Erfor-
derliche.

Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fa-
milie, Senioren, Frauen und Jugend:

Das Bundeskabinett hat im Mai 2012 Änderungen
des Personenstandsrechts auf den Weg gebracht. Der
Gesetzentwurf ist für eine kleine Gruppe von Eltern
ganz besonders wichtig, für Eltern nämlich, deren
Kind mit einem Gewicht von unter 500 Gramm tot zur
Welt gekommen ist. Er sieht vor, dass sie ihr Kind beim
Standesamt namentlich anmelden können. Sie können
seine Geburt so dauerhaft dokumentieren lassen und
ihm damit offiziell eine Existenz geben. Das war bisher
nicht möglich. Sogenannte Fehlgeburten, also Kinder,
die mit unter 500 Gramm tot geboren wurden, waren
grundsätzlich von der Beurkundung ausgeschlossen.
Eltern, die mit einer Fehlgeburt im fortgeschrittenen

Zu Protokoll gegebene Reden





Bundesministerin Dr. Kristina Schröder


(A) (C)



(D)(B)


Schwangerschaftsstadium schon einen schweren
Schicksalsschlag erlitten hatten, mussten auch noch
hinnehmen, dass ihr totes Kind behandelt wird, als
hätte es nie existiert. Ich bin sehr froh, dass ich dem
Kabinett zusammen mit meinem Kollegen Herrn Bun-
desminister Dr. Friedrich einen Regelungsvorschlag
vorlegen konnte, der endlich einen würdigen Umgang
mit diesen „Sternenkindern“, wie viele Eltern sie nen-
nen, ermöglicht. Das Thema liegt mir sehr am Herzen,
weil solche Schicksale mir auch persönlich sehr nahe-
gehen. Immer wieder bekomme ich dazu Briefe betrof-
fener Eltern.

Besonders bewegt hat mich der Brief einer Frau,
die mir ein Foto ihrer totgeborenen Zwillinge ge-
schickt hat. Sie hatte in der 22. Schwangerschaftswo-
che eine Fehlgeburt. Ihre Zwillinge haben zu diesem
Zeitpunkt 420 Gramm und 450 Gramm gewogen. Ich
habe dieses Bild gesehen, das zwei winzige und doch
so vollständige Menschen zeigt, und konnte das tiefe
Bedürfnis der Eltern so gut verstehen, ihren Kindern
einen Namen zu geben und damit auch deutlich zu ma-
chen: Wir sind Mutter und Vater, auch wenn unsere
Kinder nicht mehr leben. Diesen Brief und das Foto
habe ich damals an meinen Kollegen, Bundesminister
Dr. Friedrich, geschickt. Wir waren uns einig, dass wir
diesen Eltern helfen müssen. Dieser Meinung sind, wie
ich weiß, auch viele Kolleginnen und Kollegen hier im
Deutschen Bundestag, und das ist auch und vor allem
ein Verdienst der Familie Martin. Ihre Geschichte hat
mich darin bestärkt, dass es richtig war, eine Gesetzes-
änderung anzustoßen. Das Ehepaar Martin kämpft
unter anderem mit einer Petition an den Deutschen
Bundestag um einen würdigen Umgang mit allen Ster-
nenkindern. Sie haben ihre drei Kinder verloren. Nur
eines wog über 500 Gramm und zählt im rechtlichen
Sinne. Die anderen beiden existieren nur in ihrer Er-
innerung. Sie wollen Paaren helfen, die Ähnliches
durchleiden müssen wie sie. Ich habe vor ihrem Enga-
gement großen Respekt.

Nicht nur aus persönlichem Erleben heraus, son-
dern auch aus familienpolitischen Erwägungen ist die
derzeitige Regelung nicht hinnehmbar: Mütter und Vä-
ter haben zu ihrem ungeborenen Kind in einem fortge-
schrittenen Stadium der Schwangerschaft meistens
eine intensive Bindung entwickelt. Wenn sie es verlie-
ren, brauchen sie einen Raum für ihre Trauer und ih-
ren Schmerz. Sie brauchen einen Raum, um Abschied
zu nehmen, und sie wollen als Familien wahrgenom-
men werden. Ich halte die derzeitige Gesetzeslage da-
her insgesamt für ethisch nicht vertretbar. Deshalb
habe ich mich für eine Änderung des Personenstands-
rechts eingesetzt. Dabei war es mir wichtig, dass die
neue Regelung rückwirkend auch für Mütter und Väter
gilt, die diesen schweren Schicksalsschlag bereits er-
leiden mussten, wie beispielsweise Familie Martin und
das Elternpaar, das mir das Foto ihrer toten Zwillinge
geschickt hat.

Die neue Regelung mag den Schmerz nicht lindern,
den der Verlust eines Kindes bedeutet. Aber sie ermög-

licht Eltern wenigstens einen würdigen Abschied von
ihrem Kind. Deshalb bin ich auch froh, dass viele Bun-
desländer inzwischen betroffenen Eltern die Möglich-
keit geben, ihre zu früh geborenen Kinder zu bestatten,
und dass viele Kommunen sich Gedanken machen, wie
sie für Eltern würdige Orte der Erinnerung schaffen
können. Auf vielen Friedhöfen gibt es zum Beispiel
mittlerweile einen „Garten der Sternenkinder“.

Personenstandsrecht, Familienrecht und ethische
Erwägungen sind eng miteinander verknüpft. Hinter
nüchternen Regelungen für Verzeichnisse, Register
und Dokumente stehen Familiengeschichten und per-
sönliche Schicksale. Das dürfen wir nicht aus den Au-
gen verlieren. Deshalb ist die Änderung des Personen-
standsrechts zugunsten der vielen Mütter und Väter
eines Sternenkindes nicht nur rechtlich und familien-
politisch notwendig, sondern vor allem eine Frage der
Menschlichkeit. Und deshalb bitte ich Sie: Begleiten
Sie diesen Gesetzentwurf in den parlamentarischen
Beratungen konstruktiv.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721735800

Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-

wurfs auf Drucksache 17/10489 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ich
sehe, es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann ha-
ben wir das so beschlossen.

Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b:

a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Eva
Bulling-Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE

Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-
Emissionshandels

– Drucksache 17/12064 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Haushaltsausschuss

b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-
neten Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, Bettina
Herlitzius, weiteren Abgeordneten und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-
ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes

– Drucksache 17/156 –

Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-
ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-
heit (16. Ausschuss)


– Drucksache 17/9780 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Michael Paul
Ute Vogt
Dr. Lutz Knopek





Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse


(A) (C)



(D)(B)


Ralph Lenkert
Oliver Krischer

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll genommen.


Jens Koeppen (CDU):
Rede ID: ID1721735900

Die Energieversorgung muss sicher, bezahlbar und

klimafreundlich erfolgen. Diesem Ziel haben sich die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ver-
pflichtet. Zu dieser Zielsetzung bekennt sich auch die
Opposition.

In der laufenden Legislaturperiode wurden viele
wichtige Vorhaben fortgeführt, angeschoben und be-
schlossen, die eine saubere Energieversorgung der
Bürgerinnen und Bürger langfristig absichern. Die er-
neuerbaren Energien sichern mittlerweile 25 Prozent
unserer Stromversorgung ab. Das ist ein großer Erfolg.

Wir wären sicherlich in Deutschland auch noch ein
Stück weiter, wenn die SPD nicht durch ihre gegenwär-
tige Mehrheit im Bundesrat richtige Vorhaben behin-
dern würde, Stichwort: Gebäudesanierung. Die Ener-
giewende wäre auch für die Verbraucher deutlich
kostengünstiger, wenn wichtige Änderungen und
Anpassungen am Erneuerbaren-Energien-Gesetz nicht
von der SPD im Bundesrat torpediert würden.

Ich finde es auch bedauerlich, dass die Opposition
an ihrem Gesetzesvorschlag aus dem Jahr 2009 fest-
hält. Mit der Gesetzesinitiative wird nicht mehr oder
weniger gefordert als der unverzügliche Kohleaus-
stieg. Die im Gesetzesvorschlag genannten Effizienz-
und Wirkungsgrade sind von den modernsten Kraft-
werken der Welt nicht erreichbar. Mit der modernsten
Technologie kann man die geforderten Kriterien nicht
erreichen. Gerade vor dem Hintergrund des von uns
allen beschlossenen Atomausstiegs und der noch zu
lösenden Herausforderungen beim Umbau der Ener-
gieversorgung halte ich den Vorschlag daher für ab-
solut falsch.

Wir, die Koalitionsfraktionen, wollen, dass unsere
Energieversorgung schnellstmöglich durch erneuer-
bare Energie abgedeckt wird. Es gibt auch vielverspre-
chende Ansätze, bisherige Probleme mit der starken
Volatilität zu lösen. Ich halte es aber nicht für verant-
wortungsvoll, alle bisherigen Säulen der Energie-
versorgung aufzugeben, ohne dass wir andere starke
und tragfähige Säulen errichtet haben. Die Gesetzes-
initiative der Grünen riskiert dunkle und kalte Wohn-
zimmer genauso wie abgeschaltete Industrieanlagen.
So wollen wir die Energiewende nicht gestalten.

Die Kohlekraftwerke sind mittlerweile viel flexibler,
als oftmals unterstellt, und wir brauchen diese Kraft-
werke als Übergang. Wir brauchen auch neue Kohle-
kraftwerke, um die Energiewende erfolgreich und be-
zahlbar zu gestalten.

Das ist kein uneingeschränktes Ja zur weiteren
Kohleverstromung für Jahrzehnte. Ganz im Gegenteil:
Wir weisen den Kohlekraftwerken eine klare Funktion

zu. Diese Kraftwerke haben eine Brückenfunktion, um
vorhandene Schwankungen und Versorgungslücken
auszugleichen. Der Ausbau der erneuerbaren Energie
ist auf einem guten Weg, und wir setzen Anreize für zü-
gige Innovationen sowohl bei den Erzeugungsanlagen
selbst als auch im Bereich der Speichertechnologien.
Gleichzeitig wird der Netzaus- und -umbau vorange-
trieben.

Der heimischen Kohle wollen die Oppositionsfrak-
tionen kurzfristig eine Absage erteilen. Der Gasimport
soll zum Ausgleich gesteigert werden. Unsere Abhän-
gigkeit von teurem russischem Gas würde also steigen.
Dass Russland gerne weiteres Gas nach Deutschland
exportiert und die eigene russische Stromversorgung
dann mit Kohle absichert, spielt bei der Betrachtung
der Oppositionsfraktionen keine Rolle. Dass die russi-
schen Kohlekraftwerke eine wesentlich geringere Effi-
zienz besitzen als die Anlagen in Deutschland, dürfte
aber bekannt sein. Folglich steigt in Deutschland mit
den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht nur der Ener-
giepreis, sondern im Ergebnis auch der CO2-Ausstoß.
Das können wir nicht befürworten.

Die ständigen Attacken auf die Kohle verunsichern
die Menschen, die von der Kohle leben. Allein in
meinem Bundesland sind deutlich mehr als 10 000 Ar-
beitsplätze aufs Engste mit der Braunkohle verbunden.
Diese Menschen wissen, dass die Braunkohleverstro-
mung endlich ist, und das ist in den Kohlerevieren
auch weitgehend akzeptiert. Die ständigen Nadelstiche
und das Drohen mit dem sofortigen Ausstieg schaffen
aber Verunsicherung und Zukunftsängste. Diese
Verunsicherung schadet der Energiewende und der
notwendigen Akzeptanz für Netzausbau und Anlagen
im Bereich der erneuerbaren Energien insgesamt.
Hören Sie bitte damit auf!

Sie wissen doch genauso wie wir, dass nicht der
schnellstmögliche Kohleausstieg den Erfolg der Ener-
giewende sichert. Durch den Einspeisevorrang für er-
neuerbare Energien sind Kohlekraftwerke gar keine
Konkurrenz für die Stromerzeugung aus erneuerbaren
Energien. Der Erfolg der Energiewende ist abhängig
von der Verbesserung der Energieeffizienz, vom Aus-
bau innovativer marktfähiger Erzeugungsanlagen für
erneuerbare Energien, von Speicherlösungen und von
Fortschritten beim Netzaus- und -umbau. Hierauf
sollte auch endlich die Opposition ihre Aufmerksam-
keit richten.


Dr. Michael Paul (CDU):
Rede ID: ID1721736000

„Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-

Emissionshandels“, so heißt der Antrag der Linksfrak-
tion, über den wir heute hier beraten. Dadurch wird
zumindest klar ausgesprochen, was auch die Grünen
schon seit Beginn der Legislaturperiode im Dezember
2009 mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes verfolgen: Nach
den Kernkraftwerken wollen Sie nun auch den Braun-
und Steinkohlekraftwerken in Deutschland den Garaus
machen.





Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)


Diese Deutlichkeit ist allerdings auch schon der
einzige positive Aspekt an Ihrem Antrag. Denn der
schnellstmögliche und vollständige Ausstieg aus der
Kohleverstromung in Deutschland, den Sie im End-
effekt anstreben, hätte nicht nur gravierende Nachteile
für die Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeit
des Stroms in unserem Land. Er wäre auch ökologisch
nachteilig.

Linke und Grüne strengen sich zwar auch heute an,
den Eindruck zu erwecken, es ginge ihnen um wirk-
same CO2-Vermeidung und damit um Fortschritte
beim Klimaschutz. Tatsächlich aber versagen sie,
wenn es um die Realisierung der wirklich großen
Potenziale von CO2-Einsparung geht: Der Wärmebe-
darf unserer Wohn- und Geschäftsgebäude macht mit
49,8 Prozent beinahe die Hälfte der in Deutschland
verbrauchten Energie und damit des freigesetzten CO2
aus. Zum Vergleich werden für die Stromerzeugung
„nur“ 20,5 Prozent der Energie verbraucht.

Trotz dieses riesigen Potenzials haben sich alle
Landesregierungen, an denen die Grünen oder die
Linken beteiligt sind, im Bundesrat gegen die steuerli-
che Förderung der energetischen Gebäudesanierung
entschieden. Sie haben damit dem Klimaschutz in die-
sem Land einen Bärendienst erwiesen. Und nun stellen
Sie sich heute hier hin und fordern publikumswirksam,
wie Sie glauben, letztlich die Beseitigung von großen
Kohlekraftwerken in Deutschland. Aber im Bundesrat
haben Sie Ihr wahres Gesicht gezeigt: Es geht Ihnen
um politische Machtspiele und nicht darum, wirklich
etwas für den Umwelt- und Klimaschutz in diesem
Land zu erreichen. Ich bedanke mich deshalb aus-
drücklich bei der Bundesregierung, dass sie nun ein
Bundesprogramm auflegt, um die energetische Gebäu-
desanierung – trotz der Blockade im Bundesrat –
voranzubringen.

Wie widersprüchlich die Grünen handeln, zeigt ein
näherer Blick auf die von Ihnen vorgeschlagene Geset-
zesänderung: Noch im Jahr 2004 hat der grüne Um-
weltminister Trittin die Einführung einer Ausnahme im
§ 5 Abs. 1 Satz 4 des Bundes-Immissionsschutzgesetzes
betrieben, die Anlagen von der Anwendung von Min-
destwirkungsgraden ausnimmt, die am europäischen
Emissionshandel teilnehmen. Das war auch denk-
logisch; denn die Verringerung des CO2-Ausstoßes
durch Großemittenten wie Kraftwerke sollte europa-
weit einheitlich in allen Mitgliedstaaten mit demselben
Instrument erreicht werden: dem Handel mit CO2-
Emissionszertifikaten. Und dieser Emissionshandel
hat – allen Anfeindungen zum Trotz – seinen eigent-
lichen Zweck bisher erfüllt. Der Treibhausgasausstoß
ist in der EU im beabsichtigten Umfang zurückgegan-
gen.

Und obwohl es logisch war und ist, die Teilnehmer
am Emissionshandel von weitergehenden Verpflichtun-
gen auszunehmen, will die Grünen-Bundestagsfrak-
tion jetzt ihre eigene Regelung wieder streichen. Grad-
linige Politik sieht anders aus!

Auch die Linke zeigt durch ihren Antrag, dass sie
die Notwendigkeit einer globalen Strategie zum Klima-
schutz nicht verstanden hat. Dem weltweiten Klima-
schutz ist nicht gedient, wenn man ständig alle interna-
tionalen Anstrengungen auf diesem Gebiet anzweifelt
und alle getroffenen Regelungen – etwa zum EU-
Emissionshandel – regelmäßig infrage stellt. Und dem
globalen Klimaschutz ist erst recht nicht gedient – ge-
rade wenn man sich vor Augen führt, dass unser Land
nur für circa 1 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßes
verantwortlich ist –, wenn man den deutschen Bürgern
und Unternehmen ständig weitere Sonderlasten auf-
bürdet.

Richtig ist, dass Deutschland die größtmöglichen
Anstrengungen unternimmt, um unser im Energiekon-
zept 2010 gestecktes, auch im internationalen Ver-
gleich sehr ehrgeiziges Ziel von 40 Prozent CO2-Ein-
sparung bis 2020 gegenüber 1990 zu erreichen. Mit
dieser Vorbildfunktion auch die übrigen EU-Staaten zu
größeren Anstrengungen bei der CO2-Einsparung an-
zureizen, halte ich für sinnvoller, als die in Europa ge-
meinsam verabredeten Einsparungsziele infrage zu
stellen.

Das Gleiche gilt für die Kritik des Antrags der
Linken am Zertifikatesystem des Clean Development
Mechanism, CDM. Das System sorgt dafür, dass inter-
national getätigte Investitionen in den Klimaschutz im
nationalen Emissionshandelssystem berücksichtigt
werden können. Für das Weltklima ist schließlich uner-
heblich, wo die CO2-Emissionen vermieden werden.
Entscheidend ist, dass für jeden investierten Euro die
größtmögliche Menge Treibhausgas eingespart wird.
Deshalb ist es richtig, Investitionen dort vorzunehmen,
wo mit dem investierten Geld die größte CO2-Einspa-
rung erzielt werden kann. Nationale Scheuklappen
sind hier fehl am Platz.

Noch viel bedenklicher ist aber, wie leichtfertig
durch beide Vorlagen die Stabilität der – derzeit ohne-
hin durch die Energiewende stark herausgeforderten –
Versorgungssicherheit aufs Spiel gesetzt wird. Noch im
Herbst des letzten Jahres hat die Bundesnetzagentur
auf die äußerst angespannte Versorgungssicherheits-
lage im Februar 2012 hingewiesen und dabei die wich-
tige Funktion der grundlastfähigen Kraftwerke – zu-
meist Kohlekraftwerke – betont. Wer wie die Linken in
ihrem Antrag von einer „Verstopfung der Netze durch
Kohlestrom“ spricht, zeigt, dass er technische Zusam-
menhänge nicht begreift oder begreifen will.

Wenn beide Vorlagen nun – durch ein direktes Ver-
bot oder mit unerreichbaren Mindestwirkungsgraden –
die Stromerzeugung durch Kohlekraftwerke faktisch
unmöglich machen wollen, lässt das nur zwei Schlüsse
zu: Entweder ist Ihnen die gesicherte Versorgung unse-
rer Bevölkerung und unserer Wirtschaft mit lebens-
wichtiger elektrischer Energie unwichtig, oder Sie
haben sich jeder realistischen Einschätzung der der-
zeitigen Lage im Stromerzeugungssektor verschlossen.

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Michael Paul


(A) (C)



(D)(B)


Dass dieser Gesetzentwurf eher das Ergebnis einer
realitätsfernen Sacheinschätzung ist, zeigt sich, wenn
man die Folgen der Regelung bis zum Ende denkt.
Denn die für alle Kohlekraftwerke im Gesetzentwurf
der Grünen vorgesehenen Mindestwirkungsgrade kön-
nen zurzeit und auch in den nächsten Jahren weder
Alt- noch Neuanlagen technisch erreichen. 58 Prozent
Wirkungsgrad wird zurzeit nur durch neue hochmo-
derne Gaskraftwerke erreicht. Modernste Kohlekraft-
werke können dies nicht schaffen; so hat das kürzlich
in Betrieb gegangene Braunkohlekraftwerk Greven-
broich-Neurath einen Wirkungsgrad von 43 Prozent.
Auch die Grünen wollen also den Ausstieg aus der
Kohle, obwohl Braunkohle der einzige heimische fos-
sile Energieträger ist, aus dem zu konkurrenzfähigen
Preisen subventionsfrei Strom gewonnen wird.

Das Gesetz macht den Bau der Anlagen faktisch un-
möglich – was im Titel des Linken-Antrags auch deut-
lich zum Ausdruck kommt. Dasselbe gilt aber auch für
die Bestandskraftwerke: Eine Nachrüstung auf das von
den Grünen geforderte Niveau von 38 Prozent bei
Steinkohle und 36 Prozent bei Braunkohle bis 2015 ist
völlig unrealistisch.

Wer eine solche Erdrosselung politisch fordert, ver-
kennt sowohl die rechtlichen als auch die tatsächli-
chen Rahmenbedingungen. Ein – wenn auch nur fak-
tisches – Verbot von Kohlekraftwerken muss sich
insbesondere mit Blick auf die Altanlagen an der Ver-
fassung messen lassen. An der Zulässigkeit einer sol-
chen Regelung bestehen erhebliche Bedenken.

Sie ist aber darüber hinaus auch umweltpolitisch
vollkommen widersinnig. Denn durch das faktische
Verbot des Kraftwerkneubaus einerseits und den ver-
fassungsrechtlichen Bestandsschutz für Altanlagen an-
dererseits wird erreicht, dass die alten, ineffizienten
und stark emittierenden Kraftwerke nicht durch
moderne Anlagen ersetzt werden. Stattdessen setzen
sie ihren Betrieb fort, weil dieser für die Stabilität des
deutschen Stromnetzes und damit für unsere Versor-
gungssicherheit unerlässlich ist.

Beide Vorlagen sind daher rechtlich sowie umwelt-
politisch komplett verfehlt und daher abzulehnen.


Ute Vogt (SPD):
Rede ID: ID1721736100

Seit der Kehrtwende der Bundesregierung hin zum

Atomausstieg und dem damit verbundenen Einstieg in
die Energiewende sind wir uns in diesem Haus zum
Glück zumindest in einer Sache einig: dass Deutsch-
land bis 2050 seine Energieversorgung ausschließlich
über regenerative Energien decken soll.

Der uns heute vorliegende Antrag der Fraktion Die
Linke und der uns seit längerem bekannte Entwurf der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen versuchen, das Pro-
blem unserer Treibhausgasemissionen zu lösen. Beide
Anträge schießen jedoch – aus unterschiedlichen
Gründen – über das Ziel hinaus.

Die Energieproduktion aus Kohlekraftwerken linear
zu reduzieren, wie von der Fraktion Die Linke gefor-

dert, ist eine Wunschvorstellung, die so in der Realität
nicht umsetzbar ist, auch wenn zugleich die Analyse,
dass die einstmals einkalkulierte Lenkungswirkung des
Emissionshandels momentan nicht funktioniert, si-
cherlich richtig ist.

Den im Antrag gezogenen Schlussfolgerungen kann
ich jedoch nicht folgen. Denn wenn ein von uns einge-
führtes Lenkungssystem, also der Handel mit CO2-Zer-
tifikaten, nicht funktioniert, wie ursprünglich vorgese-
hen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass das
Lenkungssystem an sich falsch ist – was aber der An-
trag impliziert. Die Frage der aktuellen Umsetzung
des Zertifikatehandels stellt sich mir hier eher, als über
andere Reformvorschläge zu diskutieren.

Die Forderung der Grünen-Bundestagsfraktion,
hohe Effizienzgrade bei Neubauten von Kohlekraft-
werken als Mindestwirkungsgradforderung zu formu-
lieren, begrüßen wir grundsätzlich. Bei dem vorliegen-
den Gesetzentwurf wird aber de facto eine sofortige
Abschaffung von Kohlekraftwerken gefordert. Unse-
rem Ansatz, Kohlekraftwerke (noch) als Back-up-Last
zu nutzen, widerspricht dies aber.

Bei dem grundsätzlichen Ziel, auf Dauer auf Kohle
zu verzichten, sind wir uns sicher alle einig, zumal die
in unseren Kraftwerken verwendete Kohle zum Groß-
teil importiert wird und meist unter menschenunwürdi-
gen und umweltschädlichen Bedingungen abgebaut
wird.

Einig sind wir uns sicher außerdem darin, dass wir
bis 2050 ausschließlich regenerative Energien in
Deutschland verwenden wollen. Wenn wir jedoch vor-
her das bestehende System zum unkontrollierten Kol-
laps bringen, ist dem gemeinsamen Ziel der Energie-
wende nicht gedient.

Unabhängig davon sind die bisher technisch mögli-
chen höchsten Wirkungsgrade – ob bei Gas oder Kohle –
nur dann zu erreichen, wenn das entsprechende Kraft-
werk möglichst gleichmäßig läuft. Der durch die hohe
Volatilität von erneuerbaren Energien geschuldeten
aktuellen Anforderung an Kraftwerke, immer flexibler
am Netz zu sein, widerspricht der hier formulierte An-
satz.

Vielmehr brauchen wir dringend einen funktionie-
renden Emissionshandel mit angemessenen Zertifika-
tepreisen. Und es ist allerhöchste Zeit, die groben
Versäumnisse der Bundesregierung in Sachen Emis-
sionshandel zu korrigieren. Denn die Blockadehaltung
des Wirtschaftsministers hinsichtlich einer Reform des
Emissionshandels zugunsten unserer Umwelt vorder-
gründig zum Schutz der deutschen Wirtschaft schadet
dieser langfristig aber mehr, als es nutzt, und wider-
spricht nebenbei dem Ziel der Energiewende.

Wäre das Handeln unserer Bundesregierung so ver-
antwortungsvoll wie das Reden, müssten wir hier nicht
über Probleme von steigenden Treibhausgasen durch
Kohlekraftwerke diskutieren; denn dann wäre aus

Zu Protokoll gegebene Reden





Ute Vogt


(A) (C)



(D)(B)


Kohle produzierter Strom schlicht und ergreifend zu
teuer.

Wir enthalten uns der Stimme beim Antrag der
Fraktion Bündnis 90/Die Grünen für einen Gesetzent-
wurf zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzge-
setzes. Dem Antrag der Fraktion Die Linke über ein
Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-Emis-
sionshandels werden wir nicht zustimmen.


Michael Kauch (FDP):
Rede ID: ID1721736200

Anders als der Titel des Antrags der Linken nahe-

legt, ist der EU-Emissionshandel nicht gescheitert,
und er steht auch nicht kurz vor dem Scheitern. Zwar
ist der Preis für CO2-Emissionszertifikate dramatisch
eingebrochen und liegt nun bei ungefähr 6 Euro pro
Tonne CO2. Allerdings ist das Ziel des Emissionshan-
dels nicht ein bestimmter Zertifikatepreis, sondern die
Einhaltung des Cap, das heißt, der EU-weit gedeckel-
ten Gesamtmenge an CO2, die emissionshandelspflich-
tige Anlagen ausstoßen. Dieses Ziel wird bislang er-
reicht; von einem Scheitern kann also keine Rede sein.

Ganz unproblematisch ist die Situation allerdings
auch nicht. Der niedrige Zertifikatepreis führt zu ei-
nem niedrigeren Anreiz, in CO2-arme und nachhaltige
Technologien zu investieren. Diesen Anreiz aber benö-
tigen wir, wenn die EU, wie in Doha zugesagt, bis 2014
überprüfen wird, ob ein über die Reduktion von
20 Prozent hinausgehendes Klimaschutzziel übernom-
men werden kann. Daneben brechen die Einnahmen
des Energie- und Klimafonds ein, der eine wesentliche
Rolle bei der Finanzierung der Energiewende spielt.

Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, zur Stabili-
sierung des CO2-Preises das sogenannte Backloading
anzuwenden, das heißt, Zertifikate in der beginnenden
Handelsperiode zurückzuhalten. Die Forderung der
Linken, diese Zertifikate endgültig stillzulegen, führt in
jedem Fall zu weit. Denn die EU-Kommission würde
so ein Instrument aus der Hand geben, um bei einer
Überhitzung des CO2-Zertifikatemarktes zu reagieren,
etwa wenn die europäische Wirtschaft wieder an Fahrt
gewinnt.

Neben dem Emissionshandel hat der Antrag der
Linken noch ein zweites Thema: ein Verbot des Neu-
baus von Kohlekraftwerken. Dies ist im Übrigen auch
der Inhalt des grünen Gesetzentwurfs, der ebenfalls
unter diesem Tagesordnungspunkt debattiert wird. Was
die Linken klar benennen, wollen die Grünen durch die
Hintertür erreichen: Der in ihrem Gesetzentwurf ge-
forderte Mindestwirkungsgrad für neue Kohlekraft-
werke lässt sich ohne vorhandene Wärmesenken am
Standort rein technisch nicht erreichen. Aber wie der
Atomstrom stabil ersetzt werden soll, bis dies auch er-
neuerbare Energien leisten können, wird nicht erklärt.
In Wahrheit werden wir für eine Übergangszeit auf
Kohle nicht verzichten können, schon alleine aus
Gründen der Netzstabilität. Wer den Bau neuer effi-
zienterer Kohlekraftwerke verhindert, trägt Schuld am

Weiterbetrieb alter ineffizienter Dreckschleudern und
erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst.


Eva-Maria Bulling-Schröter (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721736300

Die CO2-Emissionen in Deutschland liegen zwar

knapp 27 Prozent unter denen von 1990. Das ist gut,
wir wissen aber alle, dass daran der Zusammenbruch
der ostdeutschen Wirtschaft einen gehörigen Anteil
hat.

Natürlich gab es auch echten Klimaschutz, keine
Frage; denken wir nur an den rasanten Ausbau der er-
neuerbaren Energien.

Dagegen hat sich in der Energiewirtschaft insge-
samt und in der Industrie seit langer Zeit kaum mehr
etwas bewegt. Und das sind ausgerechnet die emis-
sionshandelspflichtigen Sektoren. Diese haben ihre
Treibhausgasemissionen seit 2005 – so lange gibt es ja
den Emissionshandel – gerade einmal um magere
5 Prozent verringert. Im letzten Jahr stieg gar der An-
teil der klimaschädlichen Braun- und Steinkohle am
Strommix von 43 auf 45 Prozent. Super Emissionshan-
del, kann ich da nur sagen.

Offenbar stimmt etwas nicht mit dem tollen Han-
delssystem. Und wir wissen, warum. Es sind schlicht
zu viele Emissionsberechtigungen am Markt. Der CO2-
Preis liegt dementsprechend im Keller. Unter 6 Euro
kostet die Tonne momentan – Ramschware.

Sprechen wir es aus: Der Emissionshandel steht am
Rande des Scheiterns, weil Massen an windigen Zerti-
fikaten aus dem globalen Süden einflogen, weil die In-
dustrie zu viele Rechte erhielt und auch wegen der
Wirtschaftskrise. Anreize, in den Klimaschutz zu inves-
tieren, sind aus diesem System nicht mehr zu erwarten.
Es sei denn, es würde radikal reformiert.

Die Hälfte der überschüssigen Emissionsrechte le-
diglich für drei Jahre zurückzuhalten, wie es die EU-
Kommission als ersten Schritt vorhat, nutzt dem Kli-
maschutz dabei gar nichts. Nein, Zertifikate über etwa
2 Milliarden Tonnen CO2 müssen verschwinden, und
zwar dauerhaft, sonst kracht der EU-Emissionshandel
zusammen. Zudem muss der CO2-Ausstoß bis 2020
mindestens doppelt so schnell reduziert werden, wie
gegenwärtig im System vorgesehen, sonst purzeln die
Zertifikatpreise gleich wieder in den Keller.

Darum müssen die Regierungen in Europa die lang-
fristig wirkenden Reformvorschläge des Kohlenstoff-
marktberichtes der Kommission aufgreifen. Und genau
das fordern wir Linke in unserem Antrag.

Die Gesamtmenge der Emissionszertifikate für die
kommende Handelsperiode muss um jenes Volumen
gekürzt werden, das in der laufenden Handelsperiode
entstanden ist. Es geht also um besagte 1,4 Milliarden
bis 2 Milliarden Zertifikate, die nicht nur zeitweise,
sondern endgültig stillzulegen sind.

Die sind übrigens nur in zweiter Linie krisenbedingt
oder aufgrund der Überausstattung entstanden. Rund
zwei Drittel der Gesamtmenge kommen aus oft zweifel-

Zu Protokoll gegebene Reden





Eva Bulling-Schröter


(A) (C)



(D)(B)


haften Projekten des Clean Development Mechanism,
CDM. Diese dürfen künftig nicht mehr anrechenbar
sein.

Zudem muss das jährliche Minderungsziel für emis-
sionshandelspflichtige Anlagen in der dritten Handels-
periode von den momentan festgelegten 1,74 auf rund
3,9 Prozent erhöht werden. Das vorbehaltsose Minde-
rungsziel für EU-Treibhausgasemissionen ist entspre-
chend von 20 auf mindestens 30 Prozent für den Zeit-
raum 1990 bis 2020 anzuheben.

Die Bundesregierung hat sich leider immer noch
keine Meinung zu den Optionen der EU-Kommission
gemacht. Denn Herr Rösler blockt wieder einmal und
steht einmal mehr auf der Bremse beim Klimaschutz.
Wahrscheinlich wird das Ganze auch in Europa nicht
durchsetzbar sein.

Darum fordert die Linke im Falle des Scheiterns der
Reformvorschläge ein Kohleausstiegsgesetz. Mit dem
Antrag wird also eine Alternative aufgemacht: Entwe-
der die Mitgliedstaaten schaffen es gemeinsam, bis
zum Frühjahr den EU-Emissionshandel, ETS, radikal
zu reformieren, um ihn klimaschutztauglich zu ma-
chen, oder die Bundesregierung muss politisch das
Scheitern dieses Instruments feststellen und ein natio-
nales Kohleausstiegsgesetz formulieren.

Greenpeace Deutschland hatte im Mai letzten Jah-
res ein solches Gesetz gefordert, da damals schon
klar war, dass der Emissionshandel als Lenkungsin-
strument versagt. Die Organisation legte gleichzeitig
Grundzüge eines entsprechenden Gesetzentwurfs vor.
Wir greifen auf diese Idee zurück.

Daran angelehnt könnten ab 2014 die jährlichen
Strommengen aus Kohlekraftwerken begrenzt und in
den Folgejahren stetig und weitgehend linear reduziert
werden. Der Neubau von Kohlekraftwerken und der
Neuaufschluss von Tagebauen müssten entsprechend
verboten werden. Infolge eines solchen Gesetzes
könnte spätestens 2040 das letzte deutsche Kohlekraft-
werk vom Netz gehen. Die Reststrommengen sind in
diesem System an die Betreiber von Kohlekraftwerken
anhand von Effizienz-Benchmarks unter Berücksichti-
gung der bisherigen Laufzeit zu vergeben.

Vielfach wurde in den vergangenen Jahren ge-
mahnt: Der EU-Emissionshandel ist die letzte markt-
wirtschaftliche Ausfahrt im Klimaschutz. Wird sie auf-
grund profitorientierter Lobbyinteressen verfehlt, so
muss striktes Ordnungsrecht her. Denn wir dürfen
nicht zulassen, dass unser Planet verhökert wird.

Das Scheitern des Emissionshandelssystems muss
also ein Kohleausstiegsgesetz zur Folge haben. Wir er-
warten von der Bundesregierung, entsprechend zu
handeln.


Bärbel Höhn (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721736400

Die europäische Klimapolitik steckt in der Krise.

Die Klimaziele der EU hinken der Wirklichkeit hinter-
her. Der Emissionshandel liegt auf der Intensivstation.

Und ausgerechnet die Bundesregierung stellt sich den
notwendigen Rettungsmaßnahmen in den Weg.

Der Emissionshandel gibt den klimaschädlichen
CO2-Emissionen aus Fabriken und Kraftwerken einen
Preis. Die Höhe des CO2-Preises ist ein Indikator für
den Ehrgeiz der europäischen Klimaschutzpolitik. Und
dieser CO2-Preis befindet sich seit Monaten im freien
Fall. Wer das Klima mit einer Tonne CO2-Ausstoß be-
lasten will, muss dafür heute nicht einmal 6 Euro be-
zahlen. Vor anderthalb Jahren waren es noch 17 Euro.
Das hat fatale Konsequenzen: Investitionen in Klima-
schutz und Energieeffizienz lohnen sich kaum noch.
Klimaverschmutzer kommen billig davon. Und im
Bundeshaushalt brechen die eingeplanten Einnahmen
aus der Versteigerung der Emissionszertifikate weg,
aus denen die Bundesregierung wichtige Projekte der
Energiewende finanzieren wollte.

Das Problem ist seit Monaten auf dem Tisch. Aber die
Bundesregierung findet nicht die Kraft und Geschlossen-
heit für eine Lösung. Nicht einmal Minischritte wie die
von EU-Klimakommissarin Heedegaard geforderte Ver-
schiebung anstehender CO2-Auktionen möchte die
Bundesregierung mitgehen. Statt dessen streiten sich
Umweltminister Altmaier und Wirtschaftsminister
Rösler öffentlich über die Medien. Dieser Streit lähmt
derzeit die ganze EU. Das ist eine Blamage für die
deutsche Klimapolitik.

Notwendig sind schnelle und tiefgreifende Refor-
men im Emissionshandel. 1,4 Milliarden überschüs-
sige CO2-Zertifikate müssen endgültig vom Markt ge-
nommen werden. Der Zufluss billiger und ökologisch
fragwürdiger Emissionszertifikate aus China und In-
dien gehört eingeschränkt. Und wir brauchen einen
CO2-Mindestpreis, um drastischen Preiseinbrüchen
vorzubeugen. Vor allem muss das überholte EU-Kli-
maziel von 20 Prozent Emissionsminderung bis 2020
endlich auf 30 Prozent angehoben werden. Dass wir
das 30-Prozent-Ziel immer noch nicht haben, liegt
nicht nur an polnischen Bedenken. Es liegt auch da-
ran, dass die Bundesregierung die Anhebung nur halb-
herzig unterstützt. Wenn sich die Kanzlerin mit Nach-
druck für den Klimaschutz eingesetzt hätte, könnten
wir das 30-Prozent-Ziel längst haben.

Die Kohleverstromung ist eine der klimaschädlichs-
ten Formen der Stromerzeugung. Deshalb erfordert
der Klimaschutz die Ablösung der Kohlekraft durch er-
neuerbare Energien, Energieeffizienz und effiziente
Gaskraftwerke. Doch der niedrige CO2-Preis hat die
gegenteilige Wirkung: Er hat dazu geführt, dass der
Anteil der Kohle an der Stromversorgung im letzten
Jahr massiv gestiegen ist, während klimaverträgli-
chere Gaskraftwerke stillstanden. Dieser Kohleboom
ist kein Ergebnis des Atomausstiegs oder der Energie-
wende. Er ist die Folge der verfehlten Klimapolitik der
Bundesregierung.

Die Erfahrung zeigt, dass auch gestärkter Emis-
sionshandel allein nicht genügend Anreize setzt, die
Kohle zurückzudrängen. Deshalb brauchen wir dafür

Zu Protokoll gegebene Reden





Bärbel Höhn


(A) (C)



(D)(B)


weitere Instrumente jenseits des Emissionshandels: ein
nationales Klimaschutzgesetz mit strikten CO2-Minde-
rungszielen und verbindliche Mindestwirkungsgrade
für fossile Kraftwerke.

Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen zeigt,
wie man mit ambitionierten Vorgaben an die Effizienz
von Kohle- und Gaskraftwerken Ressourcen sparen
und gleichzeitig das Klima schützen kann. Ich fordere
Sie auf: Stimmen sie diesem Gesetzentwurf zu. Und
machen sie endlich den Weg frei für die überfällige Re-
form des europäischen Emissionshandels.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721736500

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/12064 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keinen Wi-
derspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.

Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss
für Umwelt empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/9780, den Gesetzentwurf der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/156 ab-
zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung
von SPD und Linken abgelehnt. Damit entfällt nach un-
serer Geschäftsordnung die weitere Beratung.

Tagesordnungspunkt 31:

Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Auf europäischer Ebene ein betrugssicheres,
transparentes und bürokratiearmes Mehr-
wertsteuersystem schaffen

– Drucksache 17/12065 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss (f)

Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.


Manfred Kolbe (CDU):
Rede ID: ID1721736600

Mit dem vorliegenden Antrag wollen die Grünen

den Bundestag feststellen lassen, die Reformpläne der
Europäischen Kommission zur Überarbeitung des eu-
ropäischen Mehrwertsteuerrechts im Europäischen
Rat und im Ministerrat aktiv zu unterstützen. Damit
solle ein betrugssicheres und bürokratiearmes Mehr-
wertsteuersystem geschaffen werden. Es wird hier
grundsätzlicher Handlungsbedarf im europäischen
Mehrwertsteuerrecht gesehen. Die Grünen fordern in
Ihrem Antrag auch wieder einmal Verbote –„Keine
Mehrwertsteuerbefreiungen und -ermäßigungen auf

umweltschädliche Produkte und Dienstleistungen“–
und wollen die Umsatzsteuersätze erhöhen, „dass die
Bemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer in der
Europäischen Union … verbreitert wird.“ Wir haben
es hier wieder einmal mit einem Schaufensterantrag zu
tun, der die Realität nicht richtig darstellt. Aus diesem
Grund hier noch einmal einige Gedanken zur Entwick-
lung der letzten Jahre der Umsatzsteuerbetrugsbe-
kämpfung auf EU-Ebene. Damit möchte ich deutlich
machen, dass die EU-Kommission und die Bundesre-
gierung bereits seit langem engagiert für ein effizien-
tes, einfaches und robustes Umsatzsteuersystem ein-
steht.

Die EU-Kommission hat in ihrem Grünbuch vor
über drei Jahren bereits analysiert, dass aufgrund der
Komplexität der Mehrwertsteuervorschriften den Un-
ternehmen ungeheure Verwaltungslasten aufgebürdet
werden. Dadurch besteht die Gefahr, dass die EU ihre
wirtschaftliche Anziehungskraft verliert. Anlass zur
Besorgnis geben insbesondere verschiedene Kernbe-
standteile des Systems wie mehrwertsteuerliche Pflich-
ten, Vorsteuerabzug und die unterschiedlich hohen und
sehr differenziert anwendbaren Steuersätze. Diese
Faktoren, so die Analyse, können KMU stärker belas-
ten, weil es für sie zu kostspielig sein kann, für die zu-
nehmend komplexer werdenden Umsatzsteuerbestim-
mungen die Hilfe von Fachleuten in Anspruch zu
nehmen. Auch Professor Mario Monti sprach in einem
Bericht an Kommissionspräsident Barroso im Mai
2010 davon, dass eine „binnenmarktorientierte Re-
form der Mehrwertsteuervorschriften“ in der EU not-
wendig sei. Damit soll der Kontinent wirtschaftlich at-
traktiver werden.

Vorgehen in Deutschland. Auch die Bundesregie-
rung stimmt einer Reform des Mehrwertsteuersystems
zu, und in einer Antwort an die SPD-Fraktion auf
Drucksache 17/8748 vom 27. Februar 2012 stellt sie
sich grundsätzlich hinter die Aussage, dass ein EU-
Mehrwertsteuersystem einfach, effizient und neutral,
robust und betrugssicher sein muss. Dies ist ein deutli-
ches Zeichen gewesen, dass bereits vor einem Jahr
deutlich gemacht wurde: Wir sind uns einig, dass nur
eine abgestimmte Reform sinnvoll und deswegen eine
Zusammenarbeit mit der EU-Kommission wichtig ist.
Im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir als
CDU/CSU in Deutschland den Umsatzsteuerbetrug
bekämpft. Bereits 2009 hat die CDU-geführte Bundes-
regierung eine Anhebung der Grenze für die Istbe-
steuerung auf 500 000 Euro durchgesetzt. Damit
wurden nicht nur kleine und mittelständische Unter-
nehmen noch besser unterstützt, sondern auch dem
Umsatzsteuerbetrug wurde entgegengewirkt. Weiter-
hin hat sich die Union für Betrugsmöglichkeiten bei
der umsatzsteuerfreien Lieferung von Waren und
Dienstleistungen innerhalb der EU eingesetzt. Die er-
dachte Gelangensbestätigung ist zwar alleine zu büro-
kratisch, doch gemeinsam mit der Wirtschaft wird und
wurde an einer bürokratiearmen und wirtschaftsent-
lastenden Ausgestaltung gearbeitet.





Manfred Kolbe


(A) (C)



(D)(B)


Wir wollen auch die Möglichkeiten des Reverse-
Charge-Verfahren ausdehnen, weil wir darin ein effi-
zientes Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämp-
fung sehen. Mit dem Jahressteuergesetz 2013 wollten
wir dieses sinnvolle Instrument auch auf die Strom-
und Gaslieferung von inländischen Unternehmen aus-
dehnen. Da aber Rot-Grün dieses Gesetz im Bundesrat
und Vermittlungsausschuss gestoppt hat, kommt es
hier nicht zu einer verbesserten Betrugsbekämpfung.
Die Grünen hätten hier zeigen können, dass sie nicht
gut im Fordern sind, sondern ihren Worten auch Taten
folgen lassen können. Dem war wieder einmal nicht
so.

Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir uns auf EU-
Ebene grundsätzlich über grundlegende Maßnahmen
zur Reform der Umsatzsteuersystematik in Europa ab-
stimmen und die entsprechende Mehrwertsteuersys-
temrichtlinie überarbeiten. Mit mehr Einfachheit und
Klarheit machen wir die Umsatzsteuer weniger anfäl-
lig für Betrug. Dabei müssen nationale Interessen und
Unterschiede beachtet werden. Außerdem ist eine Ak-
zeptanz der Reform in den Mitgliedsländern notwen-
dig, damit diese dann auch konsequent umgesetzt wer-
den – alles andere macht keinen Sinn.

Schluss und kritischer Ausblick. Aber ich sage auch,
dass wir vorher im eigenen Land über die Reform des
Umsatzsteuersystems diskutieren müssen. Die christ-
lich-liberale Koalition hat richtigerweise im Koalitions-
vertrag die Reform ermäßigter Mehrwertsteuersätze
niedergeschrieben. Hier wurde ein Handlungsbedarf
bereits analysiert. Hier bedauere ich, dass die einge-
setzte Kommission aus Termingründen noch nicht ta-
gen konnte. Ein wenig mehr Engagement der Beteilig-
ten wäre hier aber sicherlich sinnvoll gewesen. Die
Überarbeitung und die Beseitigung von Benachteili-
gungen bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen ist
nach über 40 Jahren des Bestehens unserer Umsatz-
steuersystematik zwingend geboten.

Wir als christlich-liberale Koalition werden weiter-
hin an einem effizienten, robusten und einfachen Um-
satzsteuersystem für Deutschland und Europa arbeiten
und müssen uns nicht von überholten Schaufenster-
anträgen treiben lassen.

Aus diesem Grund werden wir den vorliegenden An-
trag ablehnen.


Sabine Bätzing (SPD):
Rede ID: ID1721736700

Ein betrugssicheres, transparentes und bürokratie-

armes Mehrwertsteuersystem, wer wollte das denn
nicht?

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von der
Fraktion der Grünen, es ist ein sehr ehrenwertes An-
liegen, zu versuchen, auf ein solches System hinzuwir-
ken. Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber ich
befürchte, es nicht mehr zu erleben, dass wir in ganz
Europa ein Mehrwertsteuersystem haben werden, das
Betrug verhindert, ohne Bürokratie zu verursachen,
und dabei noch für jeden Bürger verständlich ist.

Nichtsdestotrotz ist es natürlich richtig, an Verbesse-
rungen zu arbeiten und den Optimismus nicht zu ver-
lieren. Aber wieso muss die Opposition die Regierung
darauf hinweisen? Das ist nur deswegen notwendig,
weil CDU/CSU und ihr FDP-Anhängsel eine systema-
tische Beschäftigung mit der Mehrwertsteuer sowohl
auf nationaler Ebene als auch in der EU scheuen wie
der Teufel das Weihwasser. National war die Klientel-
koalition mit dem Ansatz gestartet, die Mehrwertsteuer
neu zu ordnen. Der Katalog der Mehrwertsteuerermä-
ßigungen sollte durchgearbeitet werden und unnötige
Ermäßigungen gestrichen werden. So ist es im Koali-
tionsvertrag vereinbart. Es kam anders. Statt einer
Neuordnung des Systems wurde eine Steuerermäßi-
gung für Hoteliers beschlossen, im Nachhinein doch
etwas ganz Besonderes, weil es das Einzige ist, was die
FDP in der Regierungszeit erreicht hat. Na, das ist
doch mal eine Bilanz.

Die Kommission zur Reform der Mehrwertsteuer-
sätze hat nicht ein einziges Mal getagt, ja sie hat sich
nicht einmal konstituiert. Lediglich Herr Schäuble
deutet nun an, dass für die nächste Legislatur geplant
ist, die Mehrwertsteuerermäßigungen komplett zu
streichen. Daraus kann man aber wohl nur schließen:
Herr Schäuble rechnet nicht mehr damit, 2014 Bun-
desfinanzminister zu sein.

Nun, die Fehler auf nationaler Ebene kann eine rot-
grüne Bundesregierung in der nächsten Legislatur
korrigieren. Die Vernachlässigung der Arbeit auf EU-
Ebene wird jedoch alle in der EU Zeit und Geld kosten.
Zum Grünbuch der EU zur Zukunft der Mehrwert-
steuer hat die SPD-Fraktion eine inhaltlich detaillier-
tere und umfassendere Stellungnahme geschrieben als
die Bundesregierung. Dieser Satz wäre übrigens auch
richtig, wenn wir statt von der SPD-Fraktion von Lob-
byistengruppen sprechen würden; denn auch diese ha-
ben umfassendere Stellungnahmen geschickt als die
Bundesregierung. Dies mag mit der Missachtung er-
klärbar sein, die die Bundesregierung gegenüber den
EU-Institutionen vielfach zu haben scheint; es ist aber
kurzsichtig. Es wäre ausgesprochen wichtig, deutsche
und europäische Interessen bei der EU frühzeitig gel-
tend zu machen und auf eine Fortentwicklung des
Mehrwertsteuersystems zu drängen. Mir ist bewusst,
dass das ein schwieriger Weg sein wird, weil eine Än-
derung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie Einstim-
migkeit braucht. Aber ist dies ein Grund, sofort von
vornherein auf Weiterentwicklung zu verzichten? Die
EU zeigt sich bereit, an Verbesserungen zu arbeiten.
Solange ein wichtiger Staat wie Deutschland dies blo-
ckiert, werden sie nicht möglich sein. Und wenn ich
auch nicht alles teile, was Sie, liebe Kolleginnen und
Kollegen von den Grünen, in ihren Forderungskatalog
geschrieben haben, so haben sie recht mit der Auffor-
derung an die Bundesregierung: Sie müssen jetzt bei
der EU handeln. Wir zählen ihre letzten 248 Tage rück-
wärts.

Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.

Zu Protokoll gegebene Reden






(A) (C)



(D)(B)



Holger Krestel (FDP):
Rede ID: ID1721736800

Liebe Antragsteller: Sie stellen hier einen bunten

Strauß an Forderungen zur Behandlung der Mehr-
wertsteuer auf europäischer Ebene, wie sie zum Teil
auch schon von der Europäischen Kommission vorge-
schlagen wurden. Einige dieser Punkte sind sinnvoll,
verkörpern aber keine Neuigkeiten, da sie sich bereits
in der Umsetzung oder Prüfung befinden. Andere grei-
fen zentrale Punkte der Hoheitsrechte von Mitglied-
staaten an und sind daher abzulehnen.

SPD und Grüne haben in dieser Legislatur bereits
kleine Anfragen zum Umsetzungsstand des von Ihnen
aufgeführten Grünbuchs beziehungsweise der allge-
meinen Pläne der Europäischen Kommission zu einem
europäischen Mehrwertsteuersystem gestellt. An den
Positionen der Koalitionsfraktionen beziehungsweise
denen der Bundesregierung hat es seitdem keine ele-
mentaren Wechsel gegeben und für detaillierte Einzel-
fragen kann ich Ihnen nur die Lektüre der Antworten
der Bundesregierung empfehlen.

So ist beispielsweise die Einführung eines EU-
Mehrwertsteuer-Forums bereits beschlossen und die
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Mehr-
wertsteuer wird ebenfalls unterstützt, um die Betrugs-
möglichkeiten einzudämmen und sich sinnloser und
teurer Subventionen zu entledigen. Zudem trägt eine
breitere Bemessungsgrundlage zur Haushaltskonsoli-
dierung der Mitgliedstaaten bei, welche höchste Prio-
rität genießt und durch einem guten Mix von Maßnah-
men zum einen auf der Einnahme- vor allem aber auch
auf der Ausgabenseite erfolgen sollte. Durch Regelun-
gen zu elektronischen Rechnungen auf Unionsebene
wurde zudem der Bürokratieaufwand für Unternehmen
bereits stark reduziert. Ihre Forderung für die Einfüh-
rung eines Reverse-Charge-Verfahrens im Business-to-
Business-Bereich ist ebenfalls hinfällig, da das gel-
tende Mehrwertsteuerrecht dies bereits für die über-
wiegende Zahl von grenzüberschreitenden Dienstleis-
tungen zwischen Unternehmen vorsieht und die
Bundesregierung des Weiteren eine punktuelle Aus-
dehnung des Verfahrens stets unterstützt hat.

Auch wenn wir schon viel erreicht haben, muss man
bei all diesen Maßnahmen jedoch verstehen, dass es
bei der Vielzahl der Regelungen der europäischen Ein-
zelstaaten und der Union als Ganzes nicht einfach
möglich ist, diese im Tabula-Rasa-Verfahren umzusto-
ßen. Es handelt sich um einen schrittweisen Prozess
zur Vereinfachung und Effizienzsteigerung. Wir sind
also stets bemüht, den europäischen Wirtschaftsraum
durch einfache und klare Regelungen für Unternehmen
und Bürger noch attraktiver zu machen. Viele Vor-
schläge sind jedoch nicht oder nur sehr langsam um-
setzbar, da in einer Gemeinschaft auch Einigkeit bei
der Durchführung herrschen muss. Projekte wie bei-
spielsweise die Schaffung von nationalen Anlaufstellen
für Unternehmen, über die sie ihre mehrwertsteuerli-
chen Pflichten in diesem Land abwickeln können fin-
den in der Union keinen Konsens.

Eine standardisierte europäische Mehrwertsteuer-
erklärung ist unserer Auffassung nach jedoch nicht
realisierbar: Art. 113 des Vertrags über die Arbeits-
weise der Europäischen Union beschränkt den Har-
monisierungsauftrag auf die materiell-rechtlichen
Mehrwertsteuerbestimmungen. Es mangelt damit an ei-
ner primärrechtlichen Rechtsgrundlage. Es liegt ganz
in der Hand der souveränen Mitgliedstaaten, wie sie
ihr Verfahrensrecht, ihre Steuerverwaltung und Ar-
beitsweise ausgestalten. Es ist nicht im Interesse der
Bundesrepublik diese Hoheit anzugreifen.

Das Gleiche gilt für die Vorstöße, ein gemeinsames,
grenzübergreifendes Mehrwertsteuerprinzip auf Ur-
sprungslandbasis zu schaffen. Die damit zwingend
notwendige Angleichung der Steuersätze, Zulassung
eines grenzübergreifenden Vorsteuerabzugs und Ein-
führung eines Clearing-Verfahrens greift abermals
massiv in die Souveränität der Mitgliedstaaten ein. Mit
der Verabschiedung des – von der deutschen Wirt-
schaft geforderten – Mehrwertsteuerpakets vom 1. Ja-
nuar 2010 hat die Bundesrepublik einen Paradigmen-
wechsel hin zum Bestimmungslandprinzip vollzogen.
Eine erneuter Systemwechsel gegen den Wunsch der
Betroffenen hätte keinerlei Basis oder Nutzen vorzu-
weisen.

Die FDP ist stets Europapartei gewesen. Der Ge-
winn einer solchen Gemeinschaft entspringt aber in
seiner Diversität und dem Austausch und nicht in der
erzwungenen Gleichmacherei und der Untergrabung
von Souveränität. Bis zu einem gewissen Maß ist es da-
her durchaus sinnvoll, gemeinsame Normen zu schaf-
fen, um die Interaktion miteinander zu vereinfachen.
Eine Aushöhlung von Hoheitsrechten wie Haushalt,
Steuererhebung und -verwaltung gefährdet jedoch un-
ser gemeinsames europäisches Projekt. Kein Staat in
der Union darf sich durch die Gemeinschaft gegängelt
oder unterworfen fühlen. Die Akzeptanz der Bürger
Europas für die Union ist der Nährboden, auf dem sie
gedeiht. Europa war stets erfolgreich und ein Garant
für Freiheit, weil Barrieren eingerissen und nicht weil
neue Regeln geschaffen wurden.

Wir werden dem Antrag daher nicht zustimmen.


Richard Pitterle (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721736900

Bei der Mehrwertsteuer gibt es ohne Frage noch

sehr viel zu tun. Deshalb stand sie völlig zu Recht auf
der To-do-Liste der Bundesregierung für diese Legis-
laturperiode. Doch im Koalitionsvertrag 2009 stand
viel – und jetzt nach fast 4 Jahren Regierungszeit steht
dort noch immer viel – Unerledigtes. Sie wollten eine
Kommission einsetzen, die sich mit der Systemumstel-
lung bei der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der er-
mäßigten Mehrwertsteuersätze befasst. Doch diese
Kommission hat noch nicht ein einziges Mal getagt,
obwohl sie bereits vor drei Jahren eingesetzt wurde.
Dabei gibt es gerade bei der Mehrwertsteuer viel zu
tun, wie der vorliegende Antrag noch einmal aufge-
zeigt hat.

Zu Protokoll gegebene Reden





Richard Pitterle


(A) (C)



(D)(B)


Wenn wir nur mal die weit verbreiteten Umsatz-
steuer-Karussellgeschäfte herausgreifen. Dabei wird
die Umsatzsteuerfreiheit bei grenzüberschreitenden
Lieferungen ausgenutzt und dem Lieferanten in
Deutschland von dem deutschen Finanzamt die Vor-
steuer erstattet, obwohl die Umsatzsteuer im Empfän-
gerland nicht abgeführt wurde. Das wird vor allem
dadurch ermöglicht, dass bundesweit Tausende Steuer-
fahnderinnen und Steuerfahnder sowie Betriebsprüfe-
rinnen und Betriebsprüfer fehlen. Der Abbau von Stel-
len in den Finanzverwaltungen in den Bundesländern
hat dazu geführt, dass Umsatzsteuererklärungen nur
unzureichend überprüft werden können. Eine lücken-
hafte Zusammenarbeit der Steuerbehörden untereinan-
der erleichtert die Betrügereien. Die seit vielen Jahren
stattfindenden Karussellgeschäfte führen in Europa zu
Steuerausfällen im Milliardenhöhe. Es besteht also
nicht nur großer, sondern vor allem auch dringender
Handlungsbedarf. Darum fordern wir die Einrichtung
einer Bundesfinanzpolizei, die schlagkräftig nicht nur
gegen den Umsatzsteuerbetrug, sondern auch gegen
nationale und internationale Geldwäsche tätig sein
kann. Zusammen mit dieser und der Aufstockung des
Personals der zuständigen Bundesländer ließen sich
Milliarden von Umsatzsteuerausfällen vermeiden. Und
die Bundesregierung könnte sich ersparen, die Steuer-
ausfälle durch Kürzungen der Sozialleistungen bei den
Armen wieder reinzuholen.

Bei den Mehrwertsteuersätzen besteht ebenfalls Re-
gelungsbedarf. Doch es ist Streit in Ihrer Regierung
angesagt, wenn Sie beispielsweise Korrekturen bei der
ermäßigten Mehrwertsteuer angehen würden. Außer-
dem gäbe es erheblichen Widerstand aus den den Re-
gierungsparteien nahestehenden Kreisen. Bei Kürzun-
gen von Sozialleistungen wird man sich dagegen
schnell einig.

Einen weiteren Punkt in dem Antrag, den ich aus-
drücklich hervorheben möchte, ist der Bürokratie-
abbau. Vereinheitlichung der Formulare in Europa
und Annäherung der immer noch unterschiedlichen
Rechtsvorschriften bei der Mehrwertsteuer stellen ei-
nen wesentlichen Beitrag zum Bürokratieabbau dar
und sorgen für Kosteneinsparungen sowohl bei Unter-
nehmen als auch bei Behörden. Das hatten die Regie-
rungsparteien 2009 ebenso erkannt und widmeten dem
Bürokratieabbau ein eigenes Kapitel in ihrem Koali-
tionsvertrag. Doch auch hier gilt das Gleiche wie
oben: Es ist noch zu erledigen.

Es besteht, wie der Antrag aufzeigt, großer und
auch dringender Handlungsbedarf auf vielen Feldern
der Umsatzbesteuerung. Doch in den letzten Monaten
bis zu den Wahlen ist von dieser Bundesregierung nicht
mehr viel zu erwarten. Daran ändert auch dieser An-
trag nichts, dem wir zustimmen werden.

Wir teilen die Auffassung, dass das Mehrwertsteu-
ersystem einer gründlichen Überarbeitung bedarf.
Doch das wird nicht mit dieser Bundesregierung erfol-
gen. Sie wird nicht der Treiber sein, sondern steht auf
der Bremse. Die Betrüger und Bürokraten freut es.

Und der Koalitionsfrieden ist gesichert, zumindest bei
dem Thema Mehrwertsteuer.


Dr. Thomas Gambke (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721737000

Eine gerechte und ergiebige Steuerpolitik und die

Sicherstellung der auf diesen politischen Vorgaben be-
ruhenden Steuereinnahmen sind Kernelemente einer
zukunftsfähigen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Und
darum geht es uns bei dem vorgelegten Antrag zur
Unterstützung der europäischen Initiative, das Mehr-
wertsteuerregime betrugssicherer und bürokratieärmer
zu machen. EU-Steuerkommissar Semeta hat im Ge-
spräch mit dem Finanzausschuss des Deutschen Bun-
destages im letzten November die Einnahmeverluste
durch Steuerbetrug und aggressive Steuergestaltung
mit der gewaltigen Summe von 1 000 Milliarden Euro
beziffert. Die Schweizer Bank Wegelin musste kürzlich
erklären, gezielt ein Geschäftsmodell verfolgt zu ha-
ben, das Steuerhinterzieher aus anderen Ländern anlo-
cken sollte. Und einige Angestellte der Deutschen
Bank sind angeklagt, bei sogenannten Karussellge-
schäften, also Umsatzsteuerbetrug, Beistand geleistet
zu haben. Es ist vollkommen klar, das wir da dringend
und zielgerichtet Maßnahmen ergreifen müssen, die-
sem Treiben nicht nur Einzelner, sondern auch von
ganzen Organisationen, Einhalt zu gebieten.

Und da klingt es schon wie Hohn und zeigt die Dop-
pelzüngigkeit der Bundesregierung, wenn der Bundes-
finanzminister heute Morgen in der Debatte um die
Bankenunion seiner Sorge um den Steuerbetrug und
die Steuergestaltung Ausdruck verleiht und ganz be-
sonders den Umsatzsteuerbetrug anspricht und gleich-
zeitig in Brüssel auf der Bremse steht. Das ist einfach
nicht hinnehmbar. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-
gen von der Regierungskoalition, mit einer Zustim-
mung zu unserem heute vorgelegten Antrag haben Sie
Gelegenheit, endlich Farbe zu bekennen und daran zu
arbeiten, Ihr völliges Versagen beim Thema Mehrwert-
steuer zu korrigieren.

Ihr Versagen auf diesem Gebiet ist unverantwort-
lich. Diesen Schluss ziehen nicht nur wir Grüne, son-
dern auch der Bundesrechnungshof, wie aus seinem
gestern vorgelegten Bericht zur Umsatzsteuer hervor-
geht. Und da uns heute Morgen verschiedene Redner
der Koalition Besserwisserei vorgeworfen haben: Wer
hat denn im Koalitionsvertrag vollmundig die Mehr-
wertsteuerreform angekündigt? Wer hat denn die Bil-
dung einer Kommission angekündigt, um den Dschun-
gel der Ausnahmeregelungen der Mehrwertsteuer zu
lichten, die dann kein einziges Mal getagt hat? Wer hat
denn bei der einzigen Änderung der Mehrwertsteuer in
die richtige Richtung, nämlich der Abschaffung einzel-
ner ungerechtfertigter Ausnahmeregelungen, sich zu
diesen Maßnahmen erst durch den Europäischen Ge-
richtshof zwingen lassen müssen? Die schwarz-gelbe
Koalition.

Nicht, dass die Koalition ganz untätig war. Sie hat
schon gearbeitet, aber leider auf der falschen Bau-
stelle, und dabei nicht etwa die Staatsfinanzen im Blick

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)


gehabt, sondern schlicht ihre Klientel. Denn was hat
die Koalition geändert? Die Steuer auf Übernachtun-
gen wurde gesenkt, die Ermäßigung für Pferde wurde,
wie gesagt, auf Druck der EU-Kommission abge-
schafft, um dann aber zeitgleich über den Weg des Um-
satzsteuer-Anwendungserlasses neue Möglichkeiten zu
schaffen, wie Züchter und Landwirte ihre Pferde doch
zu 7 Prozent verkaufen können. Und sie hat es fertigge-
bracht, den Verkauf von Maultieren weiterhin mit dem
verminderten Steuersatz zu unterstützen. Ein Hoch auf
die unterstützungsbedürftigten Maultierbesitzer in die-
sem Land! Das ist wirklich alles andere als eine syste-
matische Überarbeitung unserer Ermäßigungen, das
ist in manchen Punkten wirklich ein schlechter Witz, in
der Substanz ein Offenbarungseid dieser Koalition.
Denn es gibt und gab noch einige wirklich wichtige
Baustellen, bei denen die Koalition erst einmal gar
nichts getan hat.

So wurde die Wirtschaft mit der Einführung der Ge-
langensbestätigung als alleinigem Liefernachweis für
EU-Exporte völlig verunsichert. Das BMF hat nach
langem Protest diese Neuregelung wieder kassiert. Bei
der Reform der Istbesteuerung dagegen musste die
Bundesregierung zum Jagen getragen werden. Erst
durch unseren Druck wurde die Grenze für die Besteu-
erung nach tatsächlich vereinnahmten Entgelten auf
500 000 Euro festgesetzt und Unternehmen so wert-
volle Liquidität gesichert. Und die Baustelle vermin-
derte Mehrwertsteuersätze wurde zwar ausgeschildert,
aber weder Bauleitung noch irgendein Arbeiter wur-
den je zu dieser Baustelle geschickt. Deutlich mehr als
3 Milliarden Euro ungerechtfertigter Branchensubven-
tionen wurden nicht angepackt, und da reden wir noch
nicht einmal über verrückte Regelungen der aktuellen
Trüffel- und Mineralwasserbesteuerung.

Diese Liste beweist, dass wir steuerpolitisch fast
vier Jahre verschenkt haben. Zum nationalen Dilettan-
tismus von Herrn Schäuble und seiner Koalition aus
Hotel- und Pferdefreunden kommt auf Ebene der EU
das internationale Versagen. Seit Ausbruch der Fi-
nanzkrise wird über eine verbesserte Koordination der
Wirtschafts- und Finanzpolitiken verhandelt. Gleich-
zeitig werden Wege gesucht, wie die haushalterisch an-
geschlagenen Mitgliedstaaten der EU zu einer Erhö-
hung ihrer Einnahmebasis kommen können. Leider
wurde die Mehrwertsteuer in diesem Prozess nicht auf-
gegriffen. Es ist noch schlimmer: Die Bundesregierung
bremst auf europäischer Ebene bei neuen Maßnahmen
gegen Mehrwertsteuerbetrug, wie bei einem Schnell-
reaktionsmechanismus gegen Betrug, den die Euro-
päische Kommission vorgeschlagen hat. So verhindert
die Bundesregierung wirksame Änderungen, von de-
nen die Haushalte aller Mitgliedstaaten profitieren
würden. Wie bereits ausgeführt, entgehen den Haus-
halten nach Schätzungen der EU durch Steuerhinter-
ziehung und Betrug jährlich Einnahmen in Höhe von
1 Billion Euro. Auf die Mehrwertsteuer entfällt dabei
ein dreistelliger Milliardenbetrag. Es ist mehr als
fahrlässig, hier nicht tätig zu werden.

Genau aus diesem Grund fordern wir die Bundesre-
gierung auf, die Europäische Kommission bei einer
europaweiten Reform der Mehrwertsteuer zu unter-
stützen. Die Kommission hat 2010 einen Prozess in
Gang gesetzt, der die Steuer europaweit stärker har-
monisieren soll und so zu mehr Einnahmen für die Mit-
gliedstaaten und einfacheren Regeln für die Steuerzahler
führen soll. Besonders die Themen Betrugsbekämp-
fung und Vereinfachung durch europäische Harmoni-
sierung sollten ernsthaft vom Deutschen Bundestag
und der Bundesregierung unterstützt werden. Durch
diese Änderungen wird auch der europäische Binnen-
markt ein Stück weit effektiver.

Konkret fordern wir die europaweite Umkehr der
Steuerschuldnerschaft bei der Umsatzsteuer, das Re-
verse-Charge. So fallen Steuerschuld und Vorsteuerer-
stattung an ein Unternehmen. Damit würde besonders
Karussellbetrug wirksam erschwert. Fälle wie jüngst
bei der Deutschen Bank, die den Betrug mit Emissions-
zertifikaten zumindest begünstigt haben soll, würden
der Vergangenheit angehören. Es ist wichtig, dass eu-
ropaweit eine einheitliche Regelung für das Reverse-
Charge getroffen wird, weil Betrug sonst nicht verhin-
dert würde und das System kompliziert bleiben würde.
Aber allein dieser Schritt reicht nicht aus, um Betrug
völlig zu verhindern. Wir wollen einheitliche Stan-
dards und Formulare für die Mehrwertsteuer in der
gesamten EU. Gleichzeitig müssen die Finanzbehör-
den untereinander enger kooperieren und gemeinsame
Datenbanken nutzen. Nur diese bessere Zusammenar-
beit kann verhindern, dass Betrüger weiter darauf ver-
trauen können, dass sie schneller untertauchen kön-
nen, als ihnen die Finanzbehörden auf die Schliche
kommen.

Die Harmonisierung der Mehrwertsteuer hat wei-
tere positive Effekte. Für Unternehmen werden Liefe-
rungen von Waren und Dienstleistungen in den euro-
päischen Binnenmarkt erleichtert. Sie müssen nicht
mehr für jeden Mitgliedstaat andere umsatzsteuerliche
Pflichten und Regeln erfüllen. Auch müssen sie sich
nicht mehr überall steuerlich registrieren, um Vorsteu-
erbeträge erstattet zu bekommen, denn die Steuer-
schuldnerschaft liegt bei Ihren Abnehmern. Dies wäre
die größtmögliche bürokratische Entlastung für expor-
tierende Unternehmen. Die Bundesregierung beschäf-
tigt sich an dieser Stelle leider lieber mit der Gelan-
gensbestätigung, eine Bankrotterklärung.

Zum Schluss möchte ich noch auf die Ermäßigungen
und Befreiungen eingehen. Auch hier brauchen wir
einheitliche Regeln für alle Mitgliedstaaten. Sonder-
regelungen für einzelne EU-Mitglieder darf es nicht
geben. Nur so kann verhindert werden, dass etwa
Luxemburg als Steueroase für Amazon E-Books mit
3 Prozent Mehrwertsteuer belegt, während sie im Rest
der EU mit dem normalen Mehrwertsteuersatz des je-
weiligen Landes belegt werden müssen. Nur so kann
verhindert werden, dass die CSU über den Steuersatz
für Übernachtungen in Österreich debattiert und des-

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Thomas Gambke


(A) (C)



(D)(B)


wegen auch den deutschen Hoteliers Steuergeschenke
macht.

Gleichzeitig widerspreche ich an dieser Stelle expli-
zit der EU-Kommission, die die Steuerbefreiung für die
öffentliche Hand komplett infrage stellt. Es ist ganz
klar, dass Leistungen, die zur öffentlichen Daseinsvor-
sorge zählen, wie etwa Bildung, weiter steuerfrei sein
müssen. Nur an Stellen, wo private und kommunale
Anbieter im Wettbewerb stehen, müssen Lösungen ge-
funden werden, die einen fairen Wettbewerb erlauben,
aber ohne nachteilige Regelungen für die Kommunen.

Sie sehen, bei der Mehrwertsteuer gibt es viele Bau-
stellen. Leider hat die Koalition nicht eine angepackt.
Den Schaden haben die Bürger, die – ob sie wollen
oder nicht – über die Umsatzsteuer für die Lobbygrup-
pen der Koalition bezahlen. Den Schaden haben die
Unternehmen, die mit einem komplizierten Umsatz-
steuerrecht leben müssen, und den Schaden haben die
Mitgliedstaaten der EU, denen wirksame Instrumente
gegen Mehrwertsteuerbetrug vorenthalten bleiben.
Diese Bundesregierung hat steuerpolitisch versagt, in
Deutschland und in Europa. Zum Glück ist spätestens
im September Schluss für Schwarz-Gelb, und so be-
steht Hoffnung, dass die nächste Bundesregierung die
Zeichen der Zeit erkennt und auch bei der Mehrwert-
steuer für ein Mehr an Europa kämpft.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721737100

Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf

Drucksache 17/12065 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist das so beschlossen.

Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b:

a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Petermann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
derung des Grundgesetzes – Herstellung der
institutionellen Unabhängigkeit der Justiz

– Drucksache 17/11701 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Petermann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Herstel-
lung der institutionellen Unabhängigkeit der
Justiz

– Drucksache 17/11703 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss (f)

Innenausschuss

Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll genommen.


Elisabeth Winkelmeier-Becker (CDU):
Rede ID: ID1721737200

Die vorliegenden Gesetzesentwürfe der Fraktion

Die Linke zielen auf eine organisatorische Unabhän-
gigkeit der Justiz von der Exekutive und damit auf eine
umfassende und tiefgreifende Reform der Justizstruk-
turen. Neben den dafür notwendigen Änderungen des
Grundgesetzes müssten zahlreiche Änderungen auf
einfachgesetzlicher Ebene vorgenommen werden. Die
in Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz normierte Unabhängig-
keit der Richter zählt zu den verfassungsgestaltenden
Strukturprinzipien des Grundgesetzes. Die richterliche
Unabhängigkeit ist nicht nur Ausdruck des Gewalten-
teilungsprinzips, sie gehört auch zum Standard rechts-
staatlichen Handelns. Die Gewährung des grundrecht-
lich garantierten effektiven Rechtsschutzes ist nur
durch unabhängige Richter möglich, es gehört zum
Wesen richterlicher Tätigkeit, dass sie durch einen
nicht beteiligten Dritten in persönlicher und sachli-
cher Unabhängigkeit ausgeübt wird. Sie steht, wie der
ehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts,
Dr. Hans-Jürgen Papier, zu Recht beschrieben hat, au-
ßerdem in engem Zusammenhang mit der in Art. 20
Abs. 3 Grundgesetz hervorgehobenen Bindung der
Rechtsprechung an Gesetz und Recht. Eine Abhängig-
keit, gar inhaltliche Steuerung der richterlichen Tätig-
keit durch die Exekutive wäre mit Art. 97 Grundgesetz
nicht vereinbar. Aber müssen wir uns Sorgen machen,
dass es hier Abhängigkeiten und unzulässige Einfluss-
nahmen gibt, wie uns die Anträge der Linken glauben
machen wollen? Gibt es tatsächlich Strukturen, die
eine umfassende Reform der Justizstrukturen erforder-
lich machen? Und sollten uns dafür die Beispiele
anderer europäischer Länder mit organisatorisch
selbstständiger Justiz als Vorbild dienen?

Als Richterin am Amtsgericht habe ich selbst durch-
aus erlebt, dass mit dem zuständigen Justizministerium
des Landes um knappe Gelder gerungen werden
musste, dass hohe Fallzahlen, geringe Personalaus-
stattung im richterlichen Dienst ebenso wie auf den
Geschäftsstellen und in der Verwaltung durchaus
Wünsche offen ließen. Oft ist es nur ein besonders en-
gagierter Einsatz der Richter, aber auch der Mitarbei-
ter in der Verwaltung und auf den Geschäftsstellen, der
die gewohnte zügige und fachlich hochwertige Bear-
beitung der Streitfälle ermöglicht, die nicht zuletzt
auch einen echten Standortvorteil Deutschlands im in-
ternationalen Vergleich ausmacht. Wir haben uns in
dieser Legislaturperiode mit der Dauer von Gerichts-
verfahren befasst und erstmals Rechtsmittel gegen
überlange Verfahren eingeführt – auch in diesem Zu-
sammenhang wurde deutlich, dass eine knappe Aus-
stattung nicht ohne Auswirkung auf die Effizienz der
grundgesetzlich geschützten Rechtsgewährung bleibt.
Und dennoch kann ich die Analyse der vorliegenden
Anträge nicht teilen. Dort wird geradezu der Eindruck
vermittelt, dass die Entscheidungsbefugnisse der Exe-
kutive in Bezug auf die Ausstattung der Justiz oder
auf Personalentscheidungen die Unabhängigkeit der
Rechtsprechung infrage stellen und die deutsche Justiz





Elisabeth Winkelmeier-Becker


(A) (C)



(D)(B)


in großem Maße verfassungswidrig agiere. Dies
möchte ich klar zurückweisen.

Insbesondere habe ich keine Einflussnahme der
Exekutive auf die Justiz bei Personalentscheidungen
erlebt: Ich selbst habe mich vor meiner Einstellung in
den Richterdienst ausschließlich beim zuständigen
OLG-Präsidenten vorgestellt. Beurteilungen wurden
selbstverständlich ausschließlich von Richtern der je-
weiligen Gerichtsverwaltung vorgenommen. Dass hier
Befugnisse der Justizverwaltung, die in Personalunion
von den Präsidentinnen und Präsidenten der Gerichte
wahrgenommen werden, für eine Beeinflussung der
Justiz genutzt werden, wird auch in den vorliegenden
Anträgen nicht behauptet.

Bei der personellen und sachlichen Ausstattung der
Gerichte bleiben immer Wünsche offen; dies gilt für
die Justiz ebenso wie für die Exekutive auf allen staat-
lichen Ebenen, das gilt gleichermaßen auch für die
Ausstattung der Verfassungsorgane mit eigenem Haus-
halt. Oder könnten Sie nicht noch mehr wissenschaft-
liches Personal, mehr Hilfe bei der Presseauswertung,
bei der Organisation und Vorbereitung von Terminen
gebrauchen, wenn es ein noch größeres Personalbud-
get gäbe? Beim Bundestag, vermutlich ähnlich beim
Bundesrat, aber ebenso in jeder Schule, jeder Stadt-
verwaltung, jeder sonstigen öffentlichen Verwaltung
wird es ähnlich sein. Knappe Mittel sind also keines-
wegs ein Sonderproblem der Justiz. Vor allem ist mir
wichtig: Zu keinem Zeitpunkt habe ich erlebt, dass
Fragen der Ausstattung mit Personal oder Sachmitteln
davon abhängig gemacht wurden, dass inhaltliche
Vorgaben für die Rechtsprechung eingehalten wurden,
dass bestimmte Verfahren vorgezogen oder anders be-
handelt wurden, als es die jeweils zuständigen Richter
in ausschließlich eigenverantwortlicher Entscheidung
bestimmt haben. Hier gab und gibt es keinerlei synal-
lagmatischen Zusammenhang zwischen den Ausstat-
tungs- oder Personalentscheidungen der Justizverwal-
tung auf der einen und richterlichen Entscheidungen
auf der anderen Seite. Das ist nicht nur mein eigener
subjektiver Eindruck, sondern das kann objektiv belegt
werden. Der Global Competitiveness Report 2012 bis
2013 des Weltwirtschaftsforums kommt zu dem Ergeb-
nis, dass die deutsche Judikative im Bereich der Un-
abhängigkeit weltweit auf dem siebten Platz und damit
deutlich vor den klassischen Vertretern einer selbstver-
walteten Justiz liegt. Die Studie zeigt außerdem, dass
die von den Linken vorgeschlagenen Organisations-
strukturen gerade keine Gewähr bieten, zu mehr tat-
sächlicher Unabhängigkeit der Rechtsprechung zu
kommen. Klassische Vertreter einer selbstverwalteten
Justiz wie Frankreich, Spanien und Italien liegen auf
den Plätzen 39, 60 und 68 dieses Reports deutlich hin-
ter Deutschland. Wenn es in der Antragsbegründung
heißt: „Deutschland muss wieder den Anschluss an
den aktuellen europäischen Standard der Rechtsstaat-
lichkeit finden“, ist das demnach – gelinde gesagt –
absurd. Ein Missstand, eine Abhängigkeit der Justiz
von der Exekutive, die aus verfassungsrechtlichen
Gründen eine grundlegende Justizreform erfordern

würde, ist also keinesfalls festzustellen. Ob die Länder
eine etwaige Grundgesetzänderung mittragen würden,
ist eher zweifelhaft.

Gleichwohl: Jede Organisationsstruktur muss von
Zeit zu Zeit überdacht werden. Vorschläge von Kolle-
gen – schließlich basieren die Vorschläge der Linken
auf Positionen der Neuen Richtervereinigung – werden
aus Prinzip selbstverständlich ernst genommen. Wir
werden dazu ebenso selbstverständlich die Stellung-
nahmen des Deutschen Richterbundes, der Berufsver-
tretungen und Kammern im Bereich der Justiz, der
Lehre etc. berücksichtigen und dann die einzelnen
Vorschläge bewerten. Das ist uns unsere Justiz wert.


Dr. Edgar Franke (SPD):
Rede ID: ID1721737300

Brauchen wir eine funktionierende oder eine selbst-

verwaltete Justiz? Nach meiner Meinung brauchen wir
eine funktionierende Justiz, die die Kriminalität er-
folgreich bekämpft und die Bürgerrechte schützt, eine
Justiz, die das Recht überall in der Gesellschaft durch-
setzt. Wir wollen, dass alle Bürgerinnen und Bürger
unabhängig von Geld und Vermögen ihre Rechte, auch
und gerade im zivilrechtlichen Bereich, in angemesse-
ner Zeit durchsetzen können.

Bedarf es dazu einer selbstverwalteten Justiz? Sie
fordern in Ihrem Gesetzentwurf, dass Deutschland
wieder den Anschluss an den europäischen Standard
der Rechtsstaatlichkeit finden und die Justiz in Bund
und Ländern institutionell unabhängig ausgestalten
muss. Dabei verweisen Sie auf eine große Mehrheit an-
derer europäischer Demokratien.

In der Tat wird seit Jahren von einem europäischen
Trend zu einer Selbstverwaltung der Justiz gespro-
chen. Wir dürfen aber nicht einem Trend folgen, son-
dern haben zu fragen, wie die Stellung der Justiz in
unserer Staatsverfassung zu begreifen ist. So hat das
der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts
Hans-Jürgen Papier, Vorgänger des heutigen Präsiden-
ten Andreas Voßkuhle, schon in einem Vortrag beim
Hamburgischen Richterverein am 16. Februar 2004
sinngemäß formuliert.

Sie sehen, ich stehe der Einführung einer Selbstver-
waltung der Justiz eher kritisch gegenüber. Papier hat
schon damals festgestellt, „dass in der Diskussion noch
nicht hinreichend geklärt ist, welche Verbesserungen
mit einer Selbstverwaltung der Justiz erreicht werden
sollen und auch tatsächlich erreicht werden könnten“.

Sie schreiben von einer Begünstigung informeller
Abhängigkeitsstrukturen. Jetzt frage ich zurück: Gibt
es ein Problem in Deutschland mit der Unabhängigkeit
der Richter? Im Gegenteil: Es gibt genügend Bei-
spiele, die belegen, dass wir keine willfährigen Richter
haben, die auf Beförderungsposten schielen und des-
halb regierungs- oder verwaltungsfreundliche Ent-
scheidungen treffen.

Bedarf es einer Gewaltentrennung, um die Gewal-
tenteilung zu sichern, wie Sie meinen? Hierzu wäre
dann eine Grundgesetzänderung erforderlich. Doch

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Edgar Franke


(A) (C)



(D)(B)


gerade das Grundgesetz will eine effektive Erfüllung
staatlicher Aufgaben durch ein Zusammenwirken der
Teilgewalten; das Grundgesetz zeichnet sich gerade
durch eine vielfältige Verschränkung aus.

Sichert eine selbstverwaltete Justiz die Interessen
und Bedürfnisse der Bürger? Es ergeben sich bei mir
Zweifel darüber, ob eine selbstverwaltete Justiz diesen
Interessen der Bürger folgen würde oder vielmehr den
eigenen.

Und wie steht es um die demokratische Legitimation
der Selbstverwaltungsorgane? Wäre nicht eine selbst-
verwaltete Justiz der demokratischen Kontrolle mit
parlamentarischer Verantwortlichkeit entzogen?

Für die SPD-Bundestagsfraktion stelle ich hier fest,
dass die richterliche Unabhängigkeit, die verfassungs-
garantierte richterliche Unabhängigkeit, nicht von ei-
ner Selbstverwaltung der Justiz berührt wird oder von
ihr abhängig ist.

Eine Selbstverantwortung würde auch den Staat
nicht von seiner Pflicht entbinden, die Justiz so zu or-
ganisieren und auszustatten, dass diese ihrer verfas-
sungsrechtlichen Verpflichtung entsprechen kann.


Dr. Marco Buschmann (FDP):
Rede ID: ID1721737400

Deutschland kann stolz sein auf sein Justizsystem.

Unsere Richterinnen und Richter, unsere Staatsanwäl-
tinnen und Staatsanwälte leisten hervorragende Ar-
beit. Die deutsche Justiz zeigt sich im internationalen
Vergleich als hochqualifiziert, effektiv, kostengünstig
und auch unabhängig. Das zeigen beispielsweise in-
ternationale Vergleichsstudien. Die deutsche Justiz be-
legte etwa im Global Competitiveness Report 2011 bis
2012 den siebten Platz – wohlgemerkt weltweit. Ge-
meinsam sollten wir hier im Hause jedenfalls festhal-
ten, dass die Bürgerinnen und Bürger darauf vertrauen
können, dass in Deutschland justizielle Entscheidun-
gen auf Recht und Gesetz beruhen. Wir sollten dem
Eindruck entgegentreten, es gebe Gefälligkeitsent-
scheidungen, wie die Begründung des vorliegenden
Gesetzentwurfes mit Formulierungen wie „informellen
Abhängigkeitsstrukturen“ in der Justiz vielleicht anzu-
deuten versucht.

Die Diskussionen um eine weitere Stärkung der in-
stitutionellen Unabhängigkeit der Justiz sind grund-
sätzlich gut und wichtig. Dabei ist die Debatte um eine
Selbstverwaltung der Justiz nicht neu. Bereits im Jahr
1953 beschäftigte sich der 40. Deutsche Juristentag
mit der Frage: „Empfiehlt es sich, die vollständige
Selbstverwaltung aller Gerichte im Rahmen des
Grundgesetzes gesetzlich einzuführen?“. Die vorlie-
genden Entwürfe von Gesetzen zur Herstellung der in-
stitutionellen Unabhängigkeit der Justiz gehen zudem
auf die Gesetzentwürfe der Neuen Richtervereinigung
e.V. aus dem Jahr 2010 zurück, die damals bereits aus-
führlich diskutiert wurden. Zweifelhaft ist aus meiner
Sicht jedoch, ob die vorgeschlagenen strukturellen Än-
derungen in der deutschen Justiz ihren anerkannt ho-
hen Standard wirklich steigern. Der internationale

Vergleich weckt daran jedenfalls Zweifel. In dem ein-
gangs erwähnten Global Competitiveness Report
jedenfalls liegen Länder mit ähnlichen Selbstverwal-
tungsstrukturen, wie sie der Entwurf vorschlägt, wie
etwa Frankreich, Italien und Spanien weit hinter
Deutschland mit aktuellen Rängen von 37, 60 und 65.
Daher ist mein Eindruck nach vielen Gesprächen mit
der Richterschaft, dass der eigentliche Treiber der Re-
formbestrebungen die Hoffnung ist, dass die Selbstver-
waltung dringend notwendige Verbesserungen für die
Finanz- und damit Personal- und Sachausstattung der
Justiz insbesondere in den Ländern erleichtert. Daran
habe ich jedoch große Zweifel. Sollten Gerichte und
Staatsanwaltschaften nicht mehr durch die Landesjus-
tizministerien verwaltet werden, wird es – so befürchte
ich – einen Trend zur Zusammenlegung der „Rumpf-
kompetenzen“, der dann nur noch sogenannten Justiz-
ministerien mit anderen Ministerien, zum Beispiel mit
den Innenministerien geben. Das heißt, dass in den
Kabinetten dieser Republik bei den Aufstellungen der
Haushaltsgesetzentwürfe den Finanzministern kein In-
teressenvertreter der Justiz mehr mit Kabinettsrang
gegenübersteht. Meine große Sorge ist, dass das die
Stellung der Justiz in den Haushaltsverhandlungen,
also bei der Grundlegung für Finanz- und damit Per-
sonal- und Sachmittelausstattung nicht verbessert,
sondern enorm schwächen wird.

Wir sind gespannt, ob sich diese Sorgen im Rahmen
der Ausschussberatungen entkräften lassen, und freuen
uns auf konstruktive Beratungen zum Besten der deut-
schen Justiz mit ihren vielen hochqualifizierten und
engagierten Richterinnen und Richtern sowie Staats-
anwältinnen und Staatsanwälten.


Jens Petermann (Plos):
Rede ID: ID1721737500

Mit den Gesetzentwürfen zur Herstellung der insti-

tutionellen Unabhängigkeit der Justiz hat nun endlich
ein Thema den Bundestag erreicht, das auf europäi-
scher Ebene seit vielen Jahren auf der Tagesordnung
steht. EU-Beitrittskandidaten müssen eine personell
und institutionell unabhängige Justiz vorweisen. Das
wäre für Deutschland ein Problem: Würde die Bundes-
republik heute einen Antrag auf Aufnahme in die Euro-
päische Union stellen, müsste Brüssel die Aufnahme
verweigern. Grund dafür ist unser Justizsystem, das
aus dem 19. Jahrhundert stammt und den heutigen An-
forderungen der Europäischen Union an eine unabhän-
gige rechtsprechende Gewalt nicht mehr gerecht wird.
Die Parlamentarische Versammlung des Europarates,
in der unsere heutige Justizministerin Leutheusser-
Schnarrenberger einst als Berichterstatterin agierte,
hat am 30. September 2009 explizit von der Bundes-
republik Deutschland gefordert, erstens zur Sicherung
der Unabhängigkeit der Justiz in der Zukunft ein Sys-
tem der gerichtlichen Selbstverwaltung unter Berück-
sichtigung der föderalen Struktur der deutschen Justiz
einzurichten, und zwar nach dem Vorbild der bestehen-
den Justizräte in der überwiegenden Mehrheit der eu-
ropäischen Staaten, zweitens schrittweise die Gehälter
von Richtern und Staatsanwälten sowie die zur Verfü-

Zu Protokoll gegebene Reden





Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)


gung stehenden Mittel für Prozesskostenhilfe zu erhö-
hen, drittens die Möglichkeit der Minister, der Justiz
für die Strafverfolgung Anweisungen in einzelnen Fäl-
len zu geben, abzuschaffen.

Nach mehr als drei Jahren muss sich die Bundesre-
gierung fragen lassen, welche dieser Forderungen er-
füllt wurde. Die Antwort lautet: keine. Stattdessen sol-
len die Ansprüche auf Prozesskostenhilfe erschwert
und gekürzt werden. In einer Antwort auf eine Kleine
Anfrage aus dem Jahre 2010 macht das Justizministe-
rium im Hinblick auf die notwendige Änderung des
Grundgesetzes deutlich, dass es nicht gewillt ist, die
Forderungen des Europarates umzusetzen. Die Links-
fraktion hat sich des Themas angenommen und zeigt,
dass eine Umsetzung der Forderung möglich ist.

Gemäß Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz sind die Richte-
rinnen und Richter „unabhängig und nur dem Gesetze
unterworfen“. Bekanntermaßen ist damit die richterli-
che Unabhängigkeit gemeint. Der preußische Justiz-
minister Leonhardt hatte einst zur Unabhängigkeit der
Richter zutreffend bemerkt: „Solange ich über die Be-
förderung bestimme, bin ich gerne bereit, den Richtern
ihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren.“ Das
Zitat aus dem 19. Jahrhundert ist auch heute noch zu-
treffend und geeignet, die herrschenden Zustände zu
beschreiben. An der Stellung der Richterinnen und
Richter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwälte
hat sich seither kaum etwas geändert. Auch heute hat
die Politik die Justiz fest im Griff. Das geben die Ent-
scheidungsträger in der Justiz natürlich nicht zu.
Durch das Leugnen dieses Einflusses funktioniert die-
ses System seit Jahrzehnten fast reibungslos. Und es
sind nicht nur die hohen Justizämter, die nach Partei-
proporz vergeben werden. Schon bei den Einstellungen
und Beförderungen kann die Parteizugehörigkeit des
Kandidaten unter Umständen eine entscheidende
Rolle spielen. Nach meinem Verständnis ist damit be-
reits frühzeitig eine Beeinträchtigung der Unabhän-
gigkeit möglich und findet auch statt.

Es werden zum Beispiel Vorgaben gemacht, nach
denen die richterliche Arbeit durch die Gerichtspräsi-
denten zu bewerten ist. Aufgrund dieser Beurteilungen
werden dann die Beförderungsstellen vergeben. Es ist
nicht vorstellbar, dass Fachwissen, Denk- und Urteils-
vermögen, Verhandlungsgeschick, Kooperationsbe-
reitschaft oder Arbeitseinstellung bemessen werden,
ohne gleichzeitig Aussagen über den Umgang mit dem
„unabhängigen Amt“ zu treffen. Insofern ist es für die
eigene Karriere dienlich, die Rechtsauffassung des
Gerichtspräsidenten zu teilen. In der Folge kommt es
dazu, dass sich die Fallbearbeitung auch an der Kar-
rierenützlichkeit orientiert. Natürlich wird diese Tatsa-
che von den entscheidungsbefugten Personen in den
Gerichten bestritten.

Man hört indes immer wieder, die Justiz sei, trotz ih-
rer Abhängigkeit von der Exekutive, leistungsfähig.
Das stimmt nur bedingt und liegt ausschließlich an
dem hohen Einsatz der Richterinnen, Richter,
Staatsanwältinnen, Staatsanwälte, Rechtspflegerin-

nen, Rechtspfleger sowie der Angestellten. Personell
sowieso chronisch unterbesetzt, sind die meisten Ge-
richte auf dem baulichen und technischen Stand der
70er-Jahre stecken geblieben. Dafür sind derzeit die
Justizministerien zuständig, deren vornehmste Auf-
gabe es sein müsste, gegenüber der Legislative die
hohe Bedeutung der dritten Gewalt auch über die
Höhe des geforderten Budgets zu verdeutlichen. Doch
hier lässt die Leidenschaft in manchen ministeriellen
Amtsstuben allzu oft zu wünschen übrig.

Negativbespiele gibt es en masse, beispielsweise die
damalige Diskussion um die Auflösung des Bayeri-
schen Obersten Landgerichts durch Herrn Stoiber, um
Tatkraft und Sparsamkeit der neuen Landesregierung
zu demonstrieren, oder aber das Oberlandesgericht
Koblenz in Rheinland-Pfalz, welches aufgelöst werden
sollte, weil die Landesregierung ihren Wunschkandi-
daten für den Präsidentenposten nicht durchsetzen
konnte und nun dem Gericht gezeigt werden sollte,
dass es nur eine nachgeordnete Behörde sei und die
Landesregierung doch am längeren Hebel säße. Ein
besonders negatives Beispiel liefert Hessen ab, wo der
derzeitige FDP-Justizminister die hessischen Richte-
rinnen und Richter um Verständnis für Einsparungen
bittet. Dabei geht es um Stellenabbau und Gerichts-
schließungen, und das, obwohl die Justizhaushalte zu
den kleinsten in Bund und Ländern gehören und bei
hoher Deckungsquote – mindestens 30 Prozent – mit
1 bis 3 Prozent einen geringen Teil des Gesamthaus-
halts ausmachen. Für eine Haushaltskonsolidierung
ist diese Spielwiese der Finanzminister wirklich unge-
eignet. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger,
dass die selbstverwaltete Richterschaft ein eigenes
Budget entwirft und dieses direkt mit dem Parlament
verhandelt; den Ministern fehlt dazu in der Regel die
unmittelbare Erfahrung.

Durch den Einfluss der Exekutive auf die rechtspre-
chende Gewalt wird der Gewaltenteilungsgrundsatz
des Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz ad absurdum geführt.
Art. 92 Grundgesetz konkretisiert für die Judikative,
dass die rechtsprechende Gewalt den Richtern anver-
traut ist. Diese Verfassungsnormen sollen Machtkon-
zentration und Machtmissbrauch verhindern. Deshalb
darf der, der Gesetze schafft, nicht mit ihrer Durch-
setzung betraut sein. Wer Gesetze ausführt, ist ein
schlechter Schiedsrichter, wenn es um ihre richtige An-
wendung geht. Und das ist auch der Grund, warum wir
Legislative, Exekutive und Judikative unterscheiden.
Dazu passt es eben nicht, wenn die Exekutive be-
stimmt, wem in der Judikative die Rechtsprechung
übertragen wird, wer dort Karriere macht, wie viel
Personal für wie viele Eingangszahlen erforderlich ist,
welche technische Ausstattung und welchen baulichen
Zustand die Gerichtsgebäude haben.

Unsere Kritik richtet sich nicht an die einzelnen
Justizminister, die nun langsam erkennen sollten, dass
das obrigkeitsstaatliche Modell der Justizverwaltung
ein alter Zopf ist, der abgeschnitten gehört. Sie sind
nur ein kleines Zahnrad im großen Getriebe. Meine

Zu Protokoll gegebene Reden





Jens Petermann


(A) (C)



(D)(B)


Kritik richtet sich an politische Positionen, die
krampfhaft an einem System festhalten, das mittler-
weile 135 Jahre weitgehend unverändert als letzte
Trutzburg des spätfeudalen Deutschen Kaiserreichs
fortbesteht. Die Reformforderungen auch aus den
Richterverbänden sind unüberhörbar. Die Zeit für eine
gemeinsame Diskussion ist überreif.

Mit den vorgelegten Gesetzentwürfen lade ich Sie,
verehrte Kolleginnen und Kollegen, herzlich dazu ein.


Ingrid Hönlinger (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721737600

Die Rechtsprechung ist als eine der drei Staatsge-

walten im Grundgesetz fest verankert. Sie ist unabhän-
gig. Das ist Kern der Rechtsstaatlichkeit.

Heute debattieren wir über Maßnahmen zur orga-
nisatorischen Stärkung dieser Unabhängigkeit. Die
Linke schlägt tiefgreifende Reformen der Justiz vor.
Deren Basis ist eine Änderung der Verfassung. Ein-
fachgesetzliche Regelungen sollen sich anschließen.

Verfassungsändernde Maßnahmen müssen aber wohl
überlegt sein.

Über ein Mehr an Autonomie in der Justiz ist schon
lange diskutiert worden. Die Debatte hat an Schub-
kraft gewonnen, als der Deutsche Richterbund ein
Eckpunktepapier und einen Landesgesetzentwurf for-
mulierte. Der frühere grüne Justizsenator von Ham-
burg hat ein eigenes Modell für die Autonomie der Jus-
tiz entwickelt und ist dazu in einen Diskursprozess
getreten. Die Neue Richtervereinigung hat Diskussions-
entwürfe für die Bundesebene vorgeschlagen. Diese
Vorschläge hat die Linke ihren Gesetzentwürfen zu-
grunde gelegt.

Allerdings sind die Reformen, die die Linksfraktion
vorschlägt, sehr weitreichend. Für solche Umstruktu-
rierungen der Justiz bedarf es neben der Grundgesetz-
änderung vieler Änderungen einfachgesetzlicher Vor-
schriften. Dies betrifft sowohl die Bundes- als auch die
Länderebene; denn Justiz ist vorwiegend Länder-
sache. Wollen wir einen neuen Aufbau der Justiz er-
möglichen, so können wir dies sinnvoll nur in Zusam-
menarbeit mit den Ländern erreichen. Das muss
umfassend aufbereitet und diskutiert werden.

Wir Grüne stehen Reformen der Justizstrukturen of-
fen gegenüber. Auch die Länder mit grüner Regie-
rungsbeteiligung zeigen hier Offenheit. So haben in
Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Regie-
rungskoalitionen vereinbart, die Unabhängigkeit der
Justiz zu stärken. Die grün-rote Regierung in Baden-
Württemberg hat bereits einen Gesetzentwurf erarbei-
tet, der bald weiter beraten wird und neben der Recht-
sprechung auch die Staatsanwaltschaft als Teil der
Justiz in den Blick nimmt.

Tatsächlich aber wäre es auch Sache des Bundes-
justizministeriums gewesen, die Zeichen der Zeit zu
erkennen. Es hätte diese Legislaturperiode nutzen kön-
nen, um die Autonomie der Justiz thematisch anzupa-
cken. Das ist leider nicht geschehen.

Nun zu den Gesetzentwürfen der Linken: Das Rich-
terbild, das unserem Grundgesetz zugrunde liegt,
zeichnet sich dadurch aus, dass die Richterschaft ge-
genüber der Exekutive unabhängig und dem Gesetz
verpflichtet ist. Zur Verwirklichung der rechtsprechen-
den Gewalt ist ein hohes Maß – aber nicht unbedingt
ein umfassendes Maß – an Selbstverwaltung notwen-
dig. Verbesserungen der aktuellen Gesetzeslage sind
hier sicher möglich. Wir Grünen unterstützen das An-
liegen, der Richterschaft im Bund und in allen Ländern
ein entscheidendes Mitspracherecht bei der Richter-
einstellung und Beförderung zuzusprechen. Gleichzei-
tig müssen wir aber auch die Grenzen der Unabhän-
gigkeit berücksichtigen. Die Richterschaft kann nicht
völlig losgelöst von der Exekutive agieren, mit voll-
ständiger finanzieller, personeller und organisatori-
scher Selbstständigkeit.

Bei den Staatsanwaltschaften stellt sich die Frage,
inwieweit diese überhaupt eine justizielle Selbstver-
waltung ausüben sollten. Hier spielen ganz andere
verfassungsrechtliche Erwägungen eine Rolle. Die
Staatsanwaltschaften sind ein Organ der Rechtspflege,
aber nicht der Rechtsprechung. Sie sind Teil der Exe-
kutive. Nach Art. 92 des Grundgesetzes ist die recht-
sprechende Gewalt den Richtern anvertraut.

Die Linke will daraus jetzt machen: „Die rechtspre-
chende Gewalt liegt in den Händen der Richter und
Staatsanwälte.“ Damit verkennt sie, dass die Tätigkeit
von Staatsanwälten funktionell keine Rechtsprechung
ist. Staatsanwälte entscheiden eben nicht verbindlich
in einem geregelten Verfahren, was im konkreten Fall
rechtens ist. Die Staatsanwaltschaft erfüllt einen ande-
ren Zweck als die Rechtsprechung. Sie führt das Recht
und damit exekutive Gewalt aus.

Die Richter brauchen Unabhängigkeit, weil sie
Recht sprechen. Die Staatsanwaltschaften müssen in
ihrer Tätigkeit unmittelbare demokratische Rückan-
bindung haben, bis hin zur politischen Verantwortung
der jeweiligen Ministeriumsspitze für die generelle Or-
ganisation der Arbeit der Staatsanwaltschaft.

Das heißt nicht, dass wir Grünen die Staatsanwalt-
schaften von der Justizreform ausnehmen wollen. Ins-
besondere das einzelfallbezogene Weisungsrecht der
Politik gegenüber der Staatsanwaltschaft sollte abge-
schafft werden. Es darf nicht sein, dass aus politischen
Gründen Ermittlungen gegen einzelne Personen blo-
ckiert oder forciert werden können. Das widerspricht
der Gleichheit aller vor dem Gesetz.

Dagegen halten wir es für sinnvoll, ein allgemeines
Weisungsrecht der Politik gegenüber der Staatsan-
waltschaft zu erhalten. Das ist nötig, um Richtlinien
für die Handhabung der Strafverfolgung jenseits von
Einzelfällen aufzustellen. Das sichert die Einheitlich-
keit des Vorgehens in gleichgelagerten Fällen und ist
manchmal erforderlich, um Defizite zu beseitigen. Ich
nenne nur als Beispiel den früheren Umgang mit Ver-
fahrenseinstellungen bei Fällen häuslicher Gewalt, in

Zu Protokoll gegebene Reden





Ingrid Hönlinger


(A) (C)



(D)(B)


denen allzu leicht ein öffentliches Interesse an der
Strafverfolgung verneint wurde.

Meine Damen und Herren von der Linksfraktion,
eine weitere Kritik kann ich Ihnen nicht ersparen: Bei
den Kosten der Gesetzesumsetzung machen Sie es sich
zu leicht. Der Gesetzentwurf formuliert lapidar, dass
bei den Ländern Kosten entstehen können, deren Höhe
„nicht absehbar“ ist.

Natürlich hängen die Kosten von der konkreten
Ausgestaltung im Einzelnen ab. Aber schaut man in die
Vorlagen der Neuen Richtervereinigung hinein, wird
erkennbar, dass die Reformvorschläge aufgrund der
Änderung der Besoldungsstruktur der Richterschaft
auf eine vermutlich ganz erhebliche Kostensteigerung
hinauslaufen, zumindest während einer längeren
Übergangszeit. In Zeiten knapper Kassen ist das aber
nicht realistisch. Da gibt es – auch innerhalb der Jus-
tizpolitik – andere Prioritäten. Da müssen wir zum
Beispiel für ausreichend Personal in der Justiz und ge-
gen eine Kürzung von Prozesskosten- und Beratungs-
hilfe kämpfen.

Außerdem werden wir noch mit der gesamten Rich-
terschaft zu diskutieren haben, ob die angestrebte Ein-
heitlichkeit der Besoldung aller Richterinnen und
Richter, unabhängig davon, welche Funktion sie aus-
üben, welche Qualifikation sie haben – und damit der
Wegfall von Leistungsanreizen –, wirklich in ihrem
Sinne ist. Das würde ich bezweifeln. Zwar haben Sie
nicht die altersdiskriminierende Besoldungsregelung
aus dem Gesetzentwurf der NRV übernommen, aber
die Ersetzung durch eine reine Dienstaltersregelung
stellt keinen Anreiz dar, andere Funktionen anzustre-
ben und sich dafür zu qualifizieren.

Wichtig ist mir bei der Justizreform noch ein weite-
rer Aspekt, der in der Diskussion bisher weder von den
Richterverbänden noch von anderen Fraktionen auf-
gegriffen wurde: Das ist die Durchsetzung der Ge-
schlechtergleichstellung in der Justiz.

Der Anteil der Frauen in der höheren Richterschaft
ist gering, obwohl an den Amtsgerichten zu über
40 Prozent Richterinnen beschäftigt sind. Hier kann
die Politik im Rahmen einer Umstrukturierung neue
Bedingungen schaffen. Der Gesetzentwurf der Linken
bleibt eine Antwort auf die Frage schuldig, wie der
Gleichstellungsauftrag des Grundgesetzes in der Jus-
tiz umzusetzen wäre.

Wir sollten eine unabhängige und eine diskriminie-
rungsfreie Justiz schaffen. Eine Justizreform muss
gründlich beraten werden, vielleicht sogar vorbereitet
durch eine Bund-Länder-Kommission, um zu bestmög-
lichen Ergebnissen zu kommen. Das wird uns in dieser
Wahlperiode und mit dieser Regierung nicht mehr
möglich sein. Aber wir nehmen die Diskussion als
Leuchtturmprojekt mit in die nächste Legislaturpe-
riode.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721737700

Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-

würfe auf den Drucksachen 17/11701 und 17/11703 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Es gibt keinen Widerspruch. Dann haben wir
das so beschlossen.

Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:

Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-

(3. Ausschuss)

Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise
Beck (Bremen), weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN

Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bun-
deswehr entwickeln – Unterrichtung und Eva-
luation verbessern

– Drucksachen 17/5099, 17/8697 –

Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller (Köln)


Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll genommen.


Roderich Kiesewetter (CDU):
Rede ID: ID1721737800

Die aktuelle Situation in Mali und das Eingreifen

französischer Truppen führt uns vor Augen, wie kom-
plex die Lage bei Auslandseinsätzen sein kann. Selbst
mit den besten Informationen lassen sich die Gegeben-
heiten vor Ort oft nicht vollständig einschätzen. Die
Ziele der beteiligten Nationen – das haben wir auch in
Afghanistan erfahren – müssen deshalb kontinuierlich
angepasst werden. In diesem Zusammenhang ist die
Forderung nach exakten Prüfkriterien und festgeleg-
ten Evaluationsverfahren zwar leicht ausgesprochen,
sie bedarf aber einiger grundsätzlicher Überlegungen,
die von den Antragstellern bisher nicht gemacht
wurden.

Zunächst einmal muss klar festgestellt werden, dass
grundsätzliche und sehr starke Kriterien für unsere
Auslandseinsätze bereits formuliert sind. Mit den
Verteidigungspolitischen Richtlinien 2011, dem neuen
strategischen Konzept der NATO 2010, dem EU-
Vertrag von Lissabon 2009, dem Weißbuch der Bun-
desregierung zur Bundeswehr 2006 oder der Europäi-
schen Sicherheitsstrategie 2003 verfügen wir über
Grundlagendokumente, die – entweder ressortspezi-
fisch ausgerichtet oder auf hohem Abstraktionsgrad –
die sicherheitspolitischen Herausforderungen und die
Handlungsspielräume der Bundesregierung beschrei-
ben.

Das erste entscheidende Kriterium sind für Deutsch-
land immer der völkerrechtliche Rahmen und beson-
ders die Existenz eines Mandats der Vereinten Natio-
nen. Ein Einsatz könnte darüber hinaus nach Art. 1





Roderich Kiesewetter


(A) (C)



(D)(B)


– Wahrung der internationalen Sicherheit – Art. 2
– Verbrechen gegen die Menschlichkeit – oder im Rah-
men der Nothilfe nach Art. 51 – Selbstverteidigungs-
recht – der VN-Charta erfolgen. Schließlich ist auch
ein Einsatz im Rahmen von Bündnisverpflichtungen
einschließlich Art. 5 des NATO-Vertrags möglich.

Das zweite herausragende Kriterium ist die Frage,
welche anderen Partner aus NATO und/oder EU
teilnehmen. Die multilaterale Ausrichtung deutscher
Außen- und Sicherheitspolitik ist unverzichtbarer
Bestandteil unserer politischen Kultur.

Drittes entscheidendes Kriterium ist, den Einsatz
militärischer Mittel sorgsamst und im Verbund anderer
Möglichkeiten abzuwägen. Wesentlich ist, Konfliktlö-
sung im Vorfeld möglicher militärischer Maßnahmen
durch Diplomatie, Nachbarschaftspolitik, abgewoge-
nes Krisenmanagement und Vorsorge zu erreichen.
Militärische Eingriffe können nur als Ultima Ratio
gelten. Das schließt möglicherweise abgestimmte prä-
ventive Maßnahmen nicht von vornherein aus.

Diese Kriterien sind gute Leitlinien für die Ent-
scheidungen über einen Einsatz und den Umfang eines
Einsatzes sowie für die anschließende Bewertung. Der
Deutsche Bundestag ist bekanntlich über den Einsatz-
auftrag, das Einsatzgebiet, die rechtlichen Grundlagen
des Einsatzes, die Höchstzahl der einzusetzenden Sol-
daten, die Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte,
die geplante Dauer des Einsatzes sowie dessen voraus-
sichtliche Kosten und Finanzierung zu informieren. Im
Anschluss trifft das Parlament eine Entscheidung.

Neben diesem sehr transparenten Verfahren werden
zurzeit Maßnahmen ergriffen, um eine neue sicher-
heitspolitische Gesamtstrategie zu erarbeiten. Die
erfolgreiche Bundesakademie für Sicherheitspolitik
soll weiterentwickelt werden und ihre Rolle als höchst-
rangige und ressortübergreifende Plattform des
Bundes noch stärker ausüben. Schon heute vernetzt sie
sicherheitspolitische Akteure und organisiert Diskus-
sionen über strategische Fragestellungen. Ein so-
genanntes Nationales Sicherheitsforum soll noch in
diesem Jahr erstmalig stattfinden. Des Weiteren arbei-
ten die distinguierten Think Tanks Stiftung „Wissen-
schaft und Politik“ und German Marshall Fund an
einem breit angelegten Projekt zu Elementen einer au-
ßenpolitischen Strategie für Deutschland. Das
Auswärtige Amt ist hier federführend beteiligt, und ei-
nige von uns Abgeordneten auch. Auf dem Gebiet der
strategischen Gesamtausrichtung ist sicher noch eini-
ges zu tun, aber die zuständigen Minister haben dies
erkannt, und es wird gehandelt.

Man könnte in diesem Zusammenhang noch über
eine Beteiligung unseres internationalen Personals bei
den Vereinten Nationen, der Europäischen Union und
bei der NATO nachdenken. Sie haben sicher auch
einen guten Blick auf die Erwartungen unserer Bünd-
nispartner an die strategische Grundausrichtung
Deutschlands.

Zum Schluss möchte ich noch einmal konkret auf die
Auslandseinsätze zu sprechen kommen und ein Bei-
spiel für eine gelungene Evaluation und ein nachhalti-
ges Arbeiten aufführen: der Übergang von IFOR über
SFOR zu EUFOR ALTHEA im ehemaligen Jugos-
lawien. Der erfolgreiche Friedenseinsatz ist ein Bei-
spiel wie koordiniert und nachhaltig ein Auslandsein-
satz von A bis Z organisiert wird. Anfangs sorgten
unsere Truppen in den NATO-geführten Einsätzen
IFOR bzw. SFOR für Schutz und Hilfe, nun sind sie im
Rahmen von EUFOR unter der Führung der EU tätig.
Zuletzt beschloss das Parlament am 1. Dezember 2011
auf Antrag der Bundesregierung eine Fortsetzung der
Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte an
EUFOR ALTHEA im Rahmen der Überwachung und
Umsetzung des Dayton-Abkommens. Insgesamt liefen
die Übertragung der Verantwortung, die Anpassung
der Truppenstärke und die internationale Zusammen-
arbeit während der Mission bis zur Beendigung der
deutschen Beteiligung reibungslos. Der Deutsche Bun-
destag war zu jedem Zeitpunkt umfassend informiert
und hat die entscheidenden Schritte mitentschieden.
Wir sehen an diesem Beispiel, dass wir über ausrei-
chende Einsatzkriterien und transparente Verfahren
verfügen und in der Lage sind, Einsätze im Nachgang
zu bewerten und gegebenenfalls weiterzuführen. Ein
kleinteiliges Evaluationsverfahren des Bundestages,
wie in dem Antrag gefordert, war hier nicht notwendig.

Dennoch halte ich viel davon, sämtliche bisher
durchgeführten Einsätze weiter auszuwerten, um Emp-
fehlungen für die Begleitung künftiger Einsätze zu ge-
winnen. Insbesondere ist es hierbei vorteilhaft, auch
auf die Erfahrungen unserer Partner in NATO und EU
zurückzugreifen. Eine Regierung braucht für Einsätze
Flexibilität und politischen Handlungsspielraum und
wir als Parlament brauchen Hintergrundwissen, um
die Einsätze wirksam mandatieren und kontrollieren zu
können. Kleinteilige Kriterien wie im Antrag vorgese-
hen helfen uns da aber nicht weiter.

Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die betei-
ligten Ausschüsse aus guten Gründen den vorliegen-
den Antrag abgelehnt haben.


Dr. Wolfgang Götzer (CSU):
Rede ID: ID1721737900

Die Entscheidung, deutsche Soldaten in einen Aus-

landseinsatz zu entsenden, ist wahrlich keine leichte.
Sie bedarf in jedem einzelnen Fall einer individuellen,
eingehenden Prüfung. Diese jedoch anhand im Vorfeld
festgelegter Prüfkriterien für Auslandseinsätze zu
fällen, lehnen wir ab. Ein derartiges pauschalisiertes
Vorgehen würde unserer moralischen Verantwortung,
die wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestages
für die Einsätze deutscher Soldaten im Ausland über-
nehmen, und außerdem der unverzichtbaren konkreten
Einzelfallbeurteilung nicht gerecht werden. Auch wenn
wir uns in der CDU/CSU-Fraktion nicht auf Prüfkrite-
rien für Auslandseinsätze festlegen wollen bzw. es auf-
grund der unüberschaubaren Bandbreite sicherheits-
politischer Herausforderungen gar nicht können, so

Zu Protokoll gegebene Reden





Dr. Wolfgang Götzer


(A) (C)



(D)(B)


müssen doch bei jedem einzelnen Auslandseinsatz der
Bundeswehr unabdingbare Voraussetzungen erfüllt
sein. Sie müssen vor allem als Ultima Ratio einer wer-
teorientierten deutschen Außenpolitik zum Ziel haben,
die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleisten
und Frieden zu stiften.

Ich habe in den letzten Jahren, in denen ich Mitglied
im Auswärtigen Ausschuss war, eine ganze Reihe von
Mandatierungen neuer Auslandseinsätze und Verlän-
gerungen von bestehenden Einsätzen mitgetragen.
Natürlich wäre es leichter, wenn eine Art Kriterien-
katalog einem dabei die Gewissheit geben könnte, die
richtige Entscheidung zu treffen. Nur leider kann ei-
nem ein steifer Kriterienkatalog eine Gewissensent-
scheidung – und um eine solche handelt es sich letzt-
lich in diesem Fall – nicht abnehmen. Ich habe mich
bei Mandatierungen, genau wie meine Kollegen der
Unionsfraktion, immer vor allem von folgenden Erwä-
gungen leiten lassen: Gibt es eine völkerrechtliche
Grundlage für den Einsatz? Welchen Zielen dient er?
Welches außenpolitische Interesse Deutschlands steht
hinter dem Einsatz? Welche Länder bzw. welche Orga-
nisationen beteiligen sich? Was kann der Einsatz be-
wirken? Was wären die möglichen Konsequenzen eines
Nichthandelns? Können wir die Verantwortung für un-
sere Soldaten in diesem Einsatz übernehmen? Ich
glaube, wenn man eine Art Komplexitätsreduktion
versucht, dann sind das die wesentlichen Punkte, auf
deren Basis man eine derart gewichtige Entscheidung
treffen kann.

Ich finde es wichtig und richtig, dass diese letzte
Lesung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/die Grü-
nen uns mit der Notwendigkeit konfrontiert, uns noch
einmal fraktionsübergreifend über die Werte auszutau-
schen, die einem solchen Einsatz zugrunde liegen müs-
sen. Denn es ist vor allem auch eine ethische Entschei-
dung, das Leben unserer Soldaten für die Sicherheit in
mitunter entlegenen Regionen der Welt aufs Spiel zu
setzen. Ein Auslandseinsatz deutscher Soldaten ist und
bleibt nach der deutschen Staatsraison immer das
letzte Mittel.

Aktuell stellt sich beispielsweise die Frage, ob wir
den französischen Einsatz in Mali unterstützen und
Mali mit logistischen und humanitären Mitteln zu Hilfe
eilen können. Oftmals muß es nicht gleich ein Einsatz
deutscher Soldaten mit Waffengewalt sein, der eine ge-
fährliche Krisenlage entschärfen hilft. Bei diesen
Überlegungen müssen wir uns auch immer die Konse-
quenzen eines Nichteingreifens vor Augen halten.
Diese Debatte sollten wir nicht nur unter uns, sondern
auch mit einer breiten Öffentlichkeit führen. Auslands-
einsätze der Bundeswehr müssen besser kommuniziert
werden. Dies ist auch ein Teil der Verantwortung, die
wir gegenüber unseren Soldaten im Auslandseinsatz
haben. Sie leisten einen wichtigen Dienst, der in den
letzten Jahren fester Bestandteil der deutschen Außen-
politik geworden ist. Diese Leistung gilt es unseren
Bürgern deutlich zu machen und entsprechend zu
würdigen.

Hilfreich hierzu wären, da stimme ich mit dem
Antrag überein, Evaluierungen der Auslandseinsätze
bei Mandatsverlängerungen oder am Ende eines Ein-
satzes. Gerade abschließende Evaluierungen wären
gut geeignet, unter Einbeziehung der Öffentlichkeit die
längst fällige Debatte um Kosten und Nutzen von Aus-
landseinsätzen zu führen.


Johannes Pflug (SPD):
Rede ID: ID1721738000

Das Recht des Deutschen Bundestages, über militä-

rische Auslandseinsätze zu entscheiden, ist ein sehr
hohes Gut, das nicht viele Parlamente besitzen. Dieses
Recht hat seine historischen Wurzeln in der deutschen
Vergangenheit, aus der die Lehre gezogen wurde, dass
das Militär niemals wieder „Staat im Staate“ sein
darf. Die Entscheidung über den Einsatz der Bundes-
wehr im Ausland mit all ihren weitreichenden Konse-
quenzen für die deutschen Soldatinnen und Soldaten
sowie die Menschen vor Ort in den Einsatzgebieten
soll durch eine öffentliche Debatte und eine breite
politische Willensbildung zustande kommen.

Mit diesem Recht geht jedoch eine große Verant-
wortung für die Abgeordneten einher, die diese Ent-
scheidung zu fällen haben. Wir Abgeordneten bekom-
men damit eine Verantwortung für die deutschen
Soldatinnen und Soldaten, die wir in eine Gefahren-
situation schicken, und deren Familien. Ebenso müs-
sen wir der Verantwortung gerecht werden, die wir für
die Menschen in den Ländern, in denen die Einsätze
stattfinden, haben. Unser ehemaliger Kollege Michael
Groschek hatte in seiner Rede zu diesem Thema in der
ersten Lesung darauf hingewiesen, dass wir genauso
eine Verantwortung für die potenziellen Opfer eines
militärischen Einsatzes haben, egal welcher Herkunft
sie sind und ob sie in Uniform oder in Zivil umkom-
men. Es handelt sich hierbei also um Gewissensent-
scheidungen, die sich sicherlich kein Abgeordneter
leicht macht.

Um eine solch schwere Entscheidung jedoch guten
Gewissens treffen zu können, bedarf es einer guter
Entscheidungsgrundlage. Wir Abgeordnete müssen
abschätzen, ob ein Einsatz der Bundeswehr im Aus-
land wirklich geboten und alternativlos ist und ob er
voraussichtlich mehr Gutes als Schlechtes bewirken
wird. Um diese Einschätzung vorzunehmen, brauchen
wir Informationen über die Lage vor Ort und die Mög-
lichkeiten und Grenzen des Militäreinsatzes. Das Par-
lamentsbeteiligungsgesetz verpflichtet daher die Bun-
desregierung, den Abgeordneten zur Wahrnehmung
ihrer parlamentarischen Verantwortung und Kontroll-
funktion alle erbetenen Informationen zur Verfügung
zu stellen.

Der Antrag der Grünen ist in einem Punkt vollkom-
men richtig: In Einklang mit dieser Gesetzesvorschrift
fordert er eine verbesserte Unterrichtungspraxis des
Bundestages vonseiten der Bundesregierung. Denn es
ist wahr, dass diese bislang unzureichend ist. Zwar
werden wir wöchentlich über Lagevorfälle in den Ein-
satzgebieten der Bundeswehr mit der sogenannten Un-

Zu Protokoll gegebene Reden





Johannes Pflug


(A) (C)



(D)(B)


terrichtung des Parlaments informiert, jedoch besteht
hier noch erheblicher Verbesserungsbedarf. Es fängt
damit an, dass die Information nicht ganzheitlich ge-
nug ist. Der Antrag fordert völlig zu Recht, dass so-
wohl über militärische als auch über polizeiliche und
zivile Entwicklungen in den Einsatzländern in ausrei-
chendem Maße informiert werden muss. Dabei sollte
genauso über Entsendungen von Polizisten, unbewaff-
neten Soldaten und Zivilisten unterrichtet werden.

Es geht damit weiter, dass sehr viele Informationen
über Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht oder nur
an wenige weitergegeben werden mit dem Verweis auf
die Qualifizierung der Information als geheim. Dabei
ist es oft fraglich, ob diese Qualifizierung tatsächlich
immer notwendig ist. Denn diese nimmt nur der jewei-
lige Autor eines Textes vor, und sie wird in der Regel
danach nicht mehr geprüft oder revidiert. Eine Infor-
mation ist also ruck zuck als geheim eingestuft und
bleibt damit für die allermeisten Abgeordneten für im-
mer verborgen. Selbstverständlich gibt es in der Au-
ßen- und Sicherheitspolitik sensible Informationen, die
durchaus geschützt werden müssen. Jedoch sollten
wirklich nur Informationen vorenthalten werden, die
handelnde Personen oder die laufende Operation ge-
fährden könnten. Und wenn dieses Gefährdungspoten-
zial wegfällt, beispielsweise weil die Operation been-
det ist, so spricht auch nichts dagegen, die Information
freizugeben. Dies gilt ganz genauso für die Einsätze
der KSK.

Die unzulängliche Informierung des Bundestages
wird auch nicht durch die exklusive Unterrichtung der
Obleute aufgewogen. Die Bundeswehr ist eine Parla-
mentsarmee, und das gesamte Parlament trägt die Ver-
antwortung, über Auslandseinsätze zu entscheiden.
Also muss auch das gesamte Parlament so weit wie
möglich mit den erforderlichen Informationen hierzu
versorgt werden. Es darf keine zwei Klassen von Abge-
ordneten geben. Ich halte es deshalb ebenfalls für eine
gute Idee, im Anschluss an die Unterrichtung der Ob-
leute die Aufzeichnungen der Regierungsvertreter in
der Geheimschutzstelle des Bundestages für alle Abge-
ordneten zur Einsicht zu hinterlegen.

Was die Evaluierungspraxis von Auslandseinsätzen
der Bundeswehr anbelangt, so sehe ich gleichermaßen
großes Verbesserungspotenzial. Es ist kaum zu glau-
ben, dass über abgeschlossene Einsätze wie beispiels-
weise die Operation „Enduring Freedom“ bislang kei-
nerlei Evaluierungsberichte vorliegen. Zwar gibt es
seit 2010 den halbjährlichen Fortschrittsbericht „Af-
ghanistan“ der Bundesregierung für das ISAF-Man-
dat, jedoch weiß jedes Kind, dass eine Selbstbeurtei-
lung niemals so objektiv sein kann wie eine externe
Beurteilung. Die SPD-Fraktion fordert deshalb ge-
meinsam mit der Fraktion der Grünen seit Jahren eine
Evaluierung des deutschen Afghanistan-Einsatzes, die
von unabhängigen Experten durchgeführt wird und
den Zeitraum von 2001 an umfassen soll. Und dies hat
nichts mit Outsourcing zu tun, wie es einige Kollegen
von der Regierungskoalition behauptet haben. Sicher-

lich hat die Bundesregierung die Berichtsfunktion
inne, sie hat ja gerade die Berichtspflicht. Aber eine
unabhängige Evaluierung ist keine Ausgliederung von
Regierungsaufgaben, sondern eine wertvolle und nütz-
liche Ergänzung zu den Einschätzungen, die uns die
Regierung gibt. Leider haben sich die Koalitionsfrak-
tionen unserer Forderung verweigert und unserem An-
trag aus dem Jahr 2010 nicht zugestimmt. Damit wurde
eine gute Chance vertan. Nehmen wir die Fortschritts-
berichte „Afghanistan“ als Beispiel. Im Allgemeinen
fallen diese positiver aus als Lagebeurteilungen von
unabhängigen Think Tanks. Aber erst unterschiedliche
Perspektiven können uns ein möglichst objektives Bild
von der tatsächlichen Lage vor Ort geben. Dabei finde
ich den Punkt, den der Kollege Dr. Bijan Djir-Sarai in
seiner Rede in der ersten Lesung gemacht hat, einen
Evaluierungsbericht zu erstellen, der mittel- bis lang-
fristig ausgerichtet ist, da der Erfolg eines Einsatzes
oft erst im Laufe der Zeit erkennbar wird, gar nicht
verkehrt. Jedoch heißt dies ja nicht, dass wir nicht so-
wohl zeitnahe wie auch langfristige Evaluierungen
vornehmen können.

Nun möchte ich gleichwohl zu unserem Kritikpunkt
an dem Antrag der Grünen kommen. Wir halten es für
wenig hilfreich, einen statischen Kriterienkatalog auf-
zustellen, der bei Entscheidungen über künftige Aus-
landseinsätze herangezogen werden kann. Sich über
Ziele eines Einsatzes im Vorfeld zu verständigen, eine
umfassende und kohärente Strategie zu erarbeiten, wie
diese Ziele erreicht werden sollen, und im Anschluss
den Einsatz anhand der Bilanz der erreichten oder
eben nicht erreichten Ziele zu bewerten, ist eine Forde-
rung, die auch wir immer wieder machen und die ich
ausdrücklich teile. Jedoch muss trotzdem jeder Einsatz
individuell betrachtet und politisch entschieden wer-
den. Eine Einsatzentscheidung des Bundestages ist ja
nicht nur ein verfassungsrechtlich gebotener Verwal-
tungsakt. Auch wenn unser Engagement im Ausland in
eine außen- und sicherheitspolitische Gesamt-Agenda
eingebettet sein sollte, so müssen die jeweiligen Um-
stände eines jeden Einsatzes für sich betrachtet wer-
den. Die jeweiligen Realitäten, Bedingungsgeflechte
und Machtkonstellationen sind zu komplex, als dass
die Entscheidung zu einem Auslandseinsatz der Bun-
deswehr anhand eines Kriterienkatalogs gefällt wer-
den könnte.

Ich fasse zusammen: Wir brauchen eine verbesserte
Versorgung mit Informationen des gesamten Parla-
ments – und nicht nur einiger weniger Abgeordneter –
mit den relevanten Informationen zu den Auslandsein-
sätzen der Bundeswehr. Diese Information muss um-
fassend alle Gesichtspunkte einer Mission abdecken.
Und diese Information muss sowohl laufend als auch
in Form einer Gesamtevaluierung nach Beendigung
eines Einsatzes geschehen. Die abschließende Eva-
luierung sollte dabei von unabhängigen Experten vor-
genommen werden. Wir müssen bereit sein, aus Feh-
lern, die in der Vergangenheit gemacht wurden, zu
lernen. Es ist nichts Verwerfliches daran, dass Politik
auch immer ein Prozess des „Trial and Error“ ist, so-

Zu Protokoll gegebene Reden





Johannes Pflug


(A) (C)



(D)(B)


lange die Politik sich nicht scheut, Fehler einzugeste-
hen und aus ihnen Lehren zu ziehen. Wir brauchen au-
ßerdem endlich eine außen- und sicherheitspolitische
Gesamtstrategie, die uns ebenfalls dabei helfen würde,
über künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr zu
entscheiden. Im Vorfeld einer Operation muss sich mit
den Partnern über die angepeilten Ziele und eine ge-
meinsame Strategie zur Erreichung dieser Ziele ver-
ständigt werden. Diese festgelegten Ziele sollten dann
zur nachgelagerten Beurteilung eines Auslandseinsat-
zes herangezogen werden. Was wir jedoch nicht brau-
chen, ist ein starrer Kriterienkatalog für künftige
Auslandseinsätze, den es angesichts der höchst unter-
schiedlichen Gegebenheiten von jedem einzelnen Ein-
satz auch nicht geben kann.

Deshalb werden wir uns bei dem vorliegenden An-
trag der Stimme enthalten.


Dr. Rainer Stinner (FDP):
Rede ID: ID1721738100

Noch nie hat eine Bundesregierung das Parlament

so ausführlich, so offen, so präzise und so schnell über
Auslandseinsätze der Bundeswehr informiert wie die
heute amtierende. Eine so detaillierte und auch selbst-
kritische Evaluierung eines Einsatzes vorzulegen, wie
es der Fortschrittsbericht Afghanistan darstellt, hat
keine vorhergehende Bundesregierung gewagt. Ich be-
danke mich vor allem bei den zuständigen Ministern,
federführend bei Außenminister Westerwelle und Ver-
teidigungsminister de Maizière, die immer für die In-
formation des Parlamentes zur Verfügung stehen und
vor allem auch im Vorfeld von Mandatsentscheidungen
die enge Abstimmung mit dem Parlament suchen. Na-
türlich gibt es Einsatzszenarien, bei denen Geheimhal-
tung notwendig ist, und es kann auch Fälle geben, bei
denen Geheimhaltung bezüglich der Details über das
Ende des Einsatzes hinaus notwendig ist. Hier müssen
wir weiterhin bei der politischen Abwägung bleiben,
was darf bekannt werden und was nicht. Hier ist die
Obleuteunterrichtung die bewährte und geeignete
Form, in der meine Fragen ausnahmslos vollständig
beantwortet werden. Die von Ihnen kritisierte Mangel-
haftigkeit bei der Unterrichtung kann ich nicht im
Mindesten erkennen.

Weiter fordern Sie in dem Antrag die Bundesregie-
rung auf, einen Kriterienkatalog zu erarbeiten, nach
dem Auslandseinsätze beurteilt werden. Damit habe
ich erhebliche Probleme. Erst einmal möchte ich mir
als Parlamentarier von keiner Bundesregierung vor-
schreiben lassen, nach welchen Kriterien ich die Ent-
scheidung treffe, ob ich einem Auslandseinsatz der
Bundeswehr zustimme oder nicht. Diese Gedanken
müssen wir uns als Parlamentarier schon selber ma-
chen. Und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass
es bei diesen Entscheidungen nicht darum gehen kann,
einzelne Kriterien abzuhaken.

Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen:
Wir sind uns wohl alle einig, dass es äußerst wün-
schenswert ist, als völkerrechtliche Grundlage für ei-
nen Einsatz einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates

zu haben. Wenn wir das aber ausdrücklich zur Voraus-
setzung machen würden, hätte Deutschland dem Ko-
sovo-Einsatz nicht zustimmen dürfen.

Und wir sind uns wohl auch alle einig, dass die Ein-
bettung eines Einsatzes in eine politische Gesamtkon-
zeption sehr wünschenswert ist. Wenn wir das aber zur
unabdingbaren Voraussetzung machen, dann könnten
auch die Kollegen von den Grünen heute nicht fordern,
dass sich die Bundeswehr in Mali beteiligt; denn hier
sind wir noch nicht so weit.

Schon diese beiden Beispiele zeigen, dass jeder Ein-
satz für sich bewertet werden muss und es mit dem Ab-
haken von Kriterien nicht getan ist.

Ähnlich ist es mit der Evaluierung von Einsätzen.
Natürlich muss bei jedem Einsatz geprüft werden: Was
war gut, was hätte anders laufen sollen? Die Bundes-
wehr selber macht das ja auch im Detail. Die Gesamt-
bewertung eines Einsatzes und die Frage, welche Leh-
ren aus einem Einsatz zu ziehen sind, das sind eminent
politische Fragen, auf die es keine objektive Antwort
gibt. Aus dem Afghanistan-Einsatz werden sehr unter-
schiedliche Lehren gezogen: zum einen die, dass sol-
che Einsätze länger dauern und schwieriger sind, als
anfänglich gedacht, sodass man sie in Zukunft eher
lassen sollte; zum anderen die, dass die anfängliche
Strategie falsch war, mit nur sehr geringen Kräften vor
Ort zu sein. Auch diese Bewertung kann und darf das
Parlament nicht outsourcen.

Ich bin seit langem der Ansicht, dass wir eine viel
grundsätzlichere Debatte über die deutsche Außen-
und Sicherheitspolitik in der Öffentlichkeit, aber auch
hier im Parlament brauchen. Deshalb plädiere ich für
die Formulierung einer deutschen außen- und sicher-
heitspolitischen Strategie, aus der sich dann auch Fol-
gerungen für Einsatzentscheidungen ableiten lassen.
Dabei darf es aber nicht nur um Kriterien für Bundes-
wehreinsätze gehen. Wir müssen im Gegenteil insge-
samt unsere Werte und Interessen definieren und uns
dann mit der Frage befassen, welche Mittel und Instru-
mente wir dafür einsetzen wollen und können. Das
geht dann von Entwicklungshilfe über Außenpolitik,
Außenwirtschaftspolitik bis zur Ultima Ratio eines mi-
litärischen Einsatzes. Eine solche umfassende Debatte
führen wir gerne, und wir halten sie auch für dringend
notwendig. Denn nur wenn wir uns in Deutschland da-
rüber im Klaren sind, was wir wollen, können wir
diese Positionierung auch in eine gemeinsame euro-
päische Außen- und Sicherheitspolitik einbringen.

Das Klein-Klein Ihres Antrages wird dieser Auf-
gabe in keiner Weise gerecht, und deshalb lehnen wir
ihn ab.


Inge Höger-Neuling (DIE LINKE.):
Rede ID: ID1721738200

Der Ernstfall Frieden gehört für die Bundeswehr

ganz offensichtlich der Vergangenheit an. Die Bundes-
wehr ist zur globalen Interventionsarmee umgebaut
worden. Inzwischen beteiligt sich die Bundeswehr in
zahlreichen Regionen dieser Welt an Kriegs- und Be-

Zu Protokoll gegebene Reden





Inge Höger


(A) (C)



(D)(B)


satzungseinsätzen. An dieser Entwicklung waren von
Rot-Grün bis Schwarz-Gelb alle Parteien in diesem
Parlament gleichermaßen beteiligt. Einzig die Linke
hat sich diesem Kriegskurs bisher konsequent verwei-
gert und wird sich ihm auch in Zukunft nicht anschlie-
ßen.

Immer stärker dominiert das Militär die deutsche
und europäische Außenpolitik. Etwa 300 000 Solda-
tinnen und Soldaten wurden aufgrund von Entscheidun-
gen des Bundestages in Auslandseinsätze geschickt.
Alle wesentlichen Entscheidungen in diesem Bereich
werden namentlich abgestimmt. Es entspricht durch-
aus der besonderen Bedeutung einer Abstimmung über
Krieg und Frieden, dass Abgeordnete hier jeweils eine
individuelle Entscheidung treffen und sich für diese
auch öffentlich verantworten müssen.

Um eine fundierte Entscheidung treffen zu können,
ist eine umfangreiche Information vor, während und
nach einem Militäreinsatz notwendig. Den entsprechen-
den gesetzlichen Anspruch gibt es im Parlamentsbeteili-
gungsgesetz. Die Umsetzung dieses Informationsan-
spruchs ist äußerst unzureichend. Es ist zum Beispiel
nicht nachvollziehbar, warum nicht alle Abgeordnete
die Unterrichtungen des Parlaments über die Lage in
den Einsatzgebieten der Bundeswehr bekommen. Aber
auch die sogenannten Fachpolitikerinnen und Fach-
politiker werden meist nur oberflächlich informiert. So
ist es absolut inakzeptabel, dass die Abgeordneten we-
sentliche Informationen über die Tätigkeit von Spe-
zialeinheiten wie dem Kommando Spezialkräfte bes-
tenfalls aus den Medien erfahren. Deswegen begrüßen
wir jede Initiative, diese Geheimnistuerei zu beenden.

Die Linke ist jedoch realistisch genug, um zu wis-
sen, dass das erste Opfer des Krieges immer die Wahr-
heit ist. Wir vertrauen deswegen nicht darauf, dass
eine umfassendere Unterrichtungspflicht die Schatten-
seiten von Krieg und Militär wirklich angemessen of-
fenlegt. Wir sind davon überzeugt, dass die Risiken
und Nebenwirkungen von Militäreinsätzen dem ver-
sprochenen Nutzen bei weitem überwiegen. Deswegen
halten wir es für nicht erstrebenswert, Prüfkriterien
für „gute“ oder „gerechte“ Kriege zu entwickeln. Die
entsprechende Forderung in dem hier vorliegenden
Antrag der Grünen klingt sehr danach, als sollte hier
eine Art Gütesiegel für zukünftige Kriege vorgeschla-
gen werden. Die Aufstellung vermeintlich neutraler
Entscheidungskriterien für einen Krieg halten wir für
gefährliche Augenwischerei.

Außerdem ist völlig unklar, woher denn tatsächlich
zuverlässige und neutrale Informationen kommen sol-
len, auf die sich diese Kriterien anwenden lassen. Ge-
rade in der wichtigen Zeit vor einer Entscheidung im
Bundestag sind die Debatten so geprägt von Lügen
und Halbwahrheiten, dass eine objektive Beurteilung
der Situation kaum möglich ist.

Wesentlich sinnvoller ist deshalb ein grundsätz-
liches Nein zu Auslandseinsätzen. Kriegführung und
demokratische Ansprüche lassen sich schwer mitein-

ander vereinbaren. Deswegen setzt die Linke auf eine
rein zivile Außenpolitik.


Omid Nouripour (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Rede ID: ID1721738300

Zunächst möchte ich mich für die lebhafte Debatte

zu unserem Antrag in erster Lesung bedanken. Das gilt
insbesondere für den Kollegen Kiesewetter.

Wir von Bündnis 90/Die Grünen fordern Prüfkrite-
rien für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Dies soll
keinesfalls, wie vom Kollegen Kiesewetter behauptet,
eine Checkliste sein, die einfach abgehakt wird. Viel-
mehr fordern wir Grundkoordinaten für eine gemein-
same Debatte und gewissenhafte Bewertung.

Daher verwundert es mich doch sehr, dass der Kol-
lege Kiesewetter gleich noch weiter hervorprescht und
selbst sieben handfeste Prüfkriterien benennen kann,
die aus seiner Sicht erfüllt sein müssen. Wir könnten
uns auf vieles einigen, Herr Kollege Kiesewetter, bei-
spielsweise auf die Formulierung von realistischen
und überprüfbaren Zielen bei künftigen Mandaten, die
Berichterstattung über Maßnahmen zur zivilen Krisen-
prävention und die ganzheitliche Evaluierung von ak-
tuellen Einsätzen.

An anderer Stelle wurde kritisiert, dass durch die
Einbindung externer und unabhängiger Experten Ver-
antwortung abgegeben wird. Das Gegenteil ist der
Fall.

Durch die Einbindung von Expertise werden wir als
Abgeordnete erst unserer Verantwortung gegenüber
den Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern in Uniform
genauso wie gegenüber der Öffentlichkeit gerecht.
Denn nur umfassendes Informieren, kritisches Hinter-
fragen und Über-den-Tellerrand-Hinausschauen ist
auch verantwortliches Entscheiden. Sie, Herr Kollege
Kiesewetter, und andere haben selbst eine umfassen-
dere Unterrichtung der Abgeordneten gefordert.

Sehen wir uns deshalb beispielhaft den zweiten so-
genannten Fortschrittsbericht der Bundesregierung zu
Afghanistan an. Hier hatte die Bundesregierung doch
die Möglichkeit, die Öffentlichkeit umfassend zu infor-
mieren. Doch wo finden sich in dem Fortschritts-
bericht die von Ihnen geforderten entwicklungs- und
wirtschaftspolitischen Sichtweisen? Wieder einmal
hält der Bericht nicht, was versprochen wurde. Er be-
inhaltet keinerlei selbstkritische Evaluation des zivilen
und militärischen Engagements und schönt in Teilen
die entwicklungs- und sicherheitspolitische Lage. Wie
soll auf Basis eines solchen Berichts eine umfassende
Evaluation möglich sein?

Meine Kollegin Katja Keul stellte daher bei unserer
letzten Debatte im Plenum zu Recht fest, dass jeder Ab-
geordnete, der Verantwortung übernimmt, auf eine
umfassende Berichterstattung angewiesen ist. Eine
umfassende Unterrichtung schließt auch Berichte mit
ein, die der Geheimhaltung unterliegen. Gelten die
Prämissen „so viele Informationen wie möglich und so
wenig Geheimhaltung wie nötig“, besteht kein Konflikt
zwischen notwendiger Information und dem Schutz be-

Zu Protokoll gegebene Reden





Omid Nouripour


(A) (C)



(D)(B)


teiligter Personen. Hierauf weisen wir in unserem An-
trag ebenfalls hin.

Die Praxis der Berichterstattung im Hinterzimmer
führt nicht zu einer konstruktiven Berichterstattung im
Parlament und leistet erst recht keinen Beitrag zu ei-
ner öffentlichen Debatte, die angesichts der vielen
Konflikte weltweit dringend notwendig ist.

Gerade aktuelle Umfragen des Sozialwissenschaft-
lichen Instituts der Bundeswehr bezüglich des Einsat-
zes in Afghanistan zeigen doch, dass die Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland Bedarf an mehr Informa-
tion haben. Die Bürgerinnen und Bürger wollen wis-
sen, warum neben Erfolgen auch Misserfolge und
Rückschläge zu verzeichnen sind. Was sind die Lehren,
um in Zukunft Misserfolge zu verhindern?

Aus dieser Verantwortung gegenüber unseren Bür-
gerinnen und Bürgern heraus haben wir aus voller
Überzeugung den vorliegenden Antrag gestellt. Doch
genau dieser Verantwortung wollen sich CDU/CSU,
FDP und die Linke durch eine Ablehnung nicht stellen.
Dabei verpflichten gerade die Auslandseinsätze der
Bundeswehr zu einem verantwortungsvollen und
selbstbewussten Agieren von uns Parlamentariern.

Deshalb bitte ich Sie, verehrte Kolleginnen und
Kollegen der Koalition und der Linken, unserem An-

trag im Gegensatz zum Abstimmungsverhalten in den
Ausschüssen zuzustimmen.


Dr. h.c. Wolfgang Thierse (SPD):
Rede ID: ID1721738400

Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-

schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8697, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5099 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Linken und Grünen bei Enthal-
tung der SPD angenommen.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.


(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)


Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 30. Januar 2013, ein.

An diesem Tag findet um 12 Uhr hier im Plenarsaal
die Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages für
die Opfer des Nationalsozialismus statt. Aus diesem
Grund beginnt die Plenarsitzung erst um 13.30 Uhr.

Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
friedliche Nacht.