Gesamtes Protokol
Nehmen Sie bitte Platz. Die Sitzung ist eröffnet.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich und fange dabei mit denSchriftführerinnen an.
Bevor wir in unsere heutige Tagesordnung eintreten,gibt es eine Reihe von Geburtstagen zu würdigen. Heutebegeht die Kollegin Dr. Rosemarie Hein ihren 60. Ge-burtstag, zu dem ich ihr ganz herzlich gratulierenmöchte.
Das krönt gewissermaßen die Reihe der Geburtstage, diein der Weihnachtspause und unmittelbar danach stattge-funden haben: am 20. Dezember die Kollegin MarleneRupprecht, am selben Tag die Kollegin LenaStrothmann und am 29. Dezember die Kollegin SylviaKotting-Uhl. Sie alle haben ihren 60. oder 65. Geburts-tag gefeiert. Wer dies ganz präzise haben möchte, denverweise ich auf den Kürschner, in dem Sie all die Infor-mationen finden, wenn Sie diese nicht ohnehin im Kopfhaben.
– Ich bin noch nicht durch. – Am 31. Dezember hat derKollege Klaus Hagemann seinen 65. Geburtstag gefei-ert, am 6. Januar der Staatsminister Bernd Neumannseinen 71., am 7. Januar der Kollege Bernd Scheelenseinen 65., am 12. Januar der Kollege FriedrichOstendorff seinen 60., am 13. Januar der KollegeNorbert Geis seinen 74. und gestern der KollegeGregor Gysi seinen 65. Geburtstag.
Ihnen allen einzeln und gemeinsam alle denkbar gutenWünsche für das neue Lebensjahr. Wir freuen uns aufeine weitere gute, bewährte und hinreichend eingeübteZusammenarbeit.
Der Kollege Fritz Kuhn hat, wie den meisten von Ih-nen aufgefallen sein wird, eine neue Aufgabe übernom-men
und deswegen mit Wirkung vom 7. Januar 2013 aufseine Mitgliedschaft im Deutschen Bundestag verzich-tet.
Ich habe mir fast gedacht, dass die Begeisterung über diebeiden Hälften dieser Mitteilung unterschiedlich aus-fällt.
Für ihn ist die Kollegin Susanne Kieckbusch nachge-rückt, die ich herzlich begrüße.
Auch der Kollege Christian Ahrendt, der zum Bundes-rechnungshof gewechselt ist, hat mit Wirkung vom 8. Ja-nuar 2013 auf seine Mitgliedschaft im Deutschen Bun-destag verzichtet. An seiner Stelle begrüße ich als neuenKollegen Hagen Reinhold in der FDP-Fraktion.
Ihnen beiden ein herzliches Willkommen und gute Zu-sammenarbeit.Schließlich möchte ich Sie darauf aufmerksam ma-chen, dass es eine interfraktionelle Vereinbarung gibt,den Tagesordnungspunkt 24 abzusetzen. Die Tagesord-nungspunkte der Koalitionsfraktionen rücken entspre-chend vor.Außerdem soll die Tagesordnung um die in der Zu-satzpunktliste aufgeführten Punkte erweitert werden:
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26746 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Präsident Dr. Norbert Lammert
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ZP 1 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:Steuerbeschlüsse der SPD sowie Steuererhö-hungspläne des SPD-Kanzlerkandidaten undihre Auswirkungen auf Wachstum und Be-schäftigungZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN gemäß Anlage 5Nummer 1 Buchstabe b GO-BTzu den Antworten der Bundesregierung aufdie Frage 8 auf Drucksache 17/12041
ZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, PeterAumer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, HolgerKrestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPSchärfere und effektivere Regulierung der Fi-nanzmärkte fortsetzen– Drucksache 17/12060 –ZP 4 Beschlussempfehlungen des Vermittlungsaus-schussesa) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
kommen vom 21. September 2011 zwischender Bundesrepublik Deutschland und derSchweizerischen Eidgenossenschaft über Zu-sammenarbeit in den Bereichen Steuern undFinanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012– Drucksachen 17/10059, 17/11093, 17/11096,17/11635, 17/11693, 17/11840 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas Oppermannb) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
und Vereinfachung der Unternehmensbesteue-rung und des steuerlichen Reisekostenrechts– Drucksachen 17/10774, 17/11180, 17/11189,17/11217, 17/11634, 17/11694, 17/11841 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Michael Meisterc) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
der kalten Progression– Drucksachen 17/8683, 17/9201, 17/9202,17/9644, 17/9672, 17/11842 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Michael Meisterd) Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
Förderung von energetischen Sanierungsmaß-nahmen an Wohngebäuden– Drucksachen 17/6074, 17/6251, 17/6358,17/6360, 17/6584, 17/7544, 17/11843 –Berichterstattung:Abgeordneter Stefan Müller
e) Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
2013– Drucksachen 17/10000, 17/10604, 17/11190,17/11191, 17/11220, 17/11633, 17/11692,17/11844 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas OppermannZP 5 Vereinbarte Debattezu steuerpolitischen BeschlüssenZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten StefanSchwartze, Sönke Rix, Petra Crone, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion der SPDMit einer eigenständigen Jugendpolitik Frei-räume schaffen, Chancen eröffnen, Rückhaltgeben– Drucksache 17/12063 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Ausschuss für Kultur und Medien HaushaltsausschussZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEOpfer des Brustimplantate-Skandals unter-stützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizi-nischer Notwendigkeit– Drucksachen 17/8581, 17/12092 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Marlies VolkmerDabei soll wie üblich von der Frist für den Beginn derBeratungen, soweit erforderlich, abgewichen werden.
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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Schließlich darf ich noch auf eine nachträgliche Aus-schussüberweisung im Anhang zur Zusatzpunktliste auf-merksam machen:Der am 29. November 2012 überwie-sene nachfolgende Gesetzentwurf soll zusätzlich demAusschuss für Kultur und Medien zurMitberatung überwiesen werden:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-kung der Innenentwicklung in den Städtenund Gemeinden und weiteren Fortentwick-lung des Städtebaurechts– Drucksache 17/11468 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Tourismus Ausschuss für Kultur und MedienIch frage Sie, ob Sie mit all diesen Vereinbarungeneinverstanden sind. – Das ist offenkundig der Fall. Dannhaben wir eine einvernehmliche Tagesordnung.Bevor ich den ersten Tagesordnungspunkt aufrufe,darf ich Sie über eine weitere Veränderung in Kenntnissetzen. Mit Beginn des Jahres hat Herr Dr. Risse diePosition des Direktors beim Deutschen Bundestag ein-genommen.
Den meisten wird er hinreichend bekannt sein; aber wirbegrüßen ihn heute das erste Mal in dieser neuen Auf-gabe und freuen uns auf die Zusammenarbeit.Nun rufe ich die Tagesordnungspunkte 9 a bis 9 c auf:a) Abgabe einer Regierungserklärung durch denBundesminister für Wirtschaft und TechnologieJahreswirtschaftsbericht 2013 – Wettbewerbs-fähigkeit – Schlüssel für Wachstum und Be-schäftigung in Deutschland und Europab) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahreswirtschaftsbericht 2013 der Bundesre-gierung– Drucksache 17/12070 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für Tourismus Haushaltsausschussc) Beratung der Unterrichtung durch die Bundesre-gierungJahresgutachten 2012/13 des Sachverständi-genrates zur Begutachtung der gesamtwirt-schaftlichen Entwicklung– Drucksache 17/11440 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Finanzausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für Tourismus Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache im Anschluss an die Regierungserklärungeine Debattenzeit von 90 Minuten vorgesehen. – Auchdazu höre ich keinen Widerspruch. Dann können wir soverfahren.Das Wort zur Abgabe einer Regierungserklärung hatder Bundesminister für Wirtschaft und Technologie,Philipp Rösler.
Dr. Philipp Rösler, Bundesminister für Wirtschaftund Technologie:Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren Abgeordnete! Schauen wir uns dieZahlen des Jahreswirtschaftsberichts doch einfach ein-mal an:
0,7 Prozent Wachstum waren im letzten Jahr zu ver-zeichnen, und das, obwohl die Wirtschaft im übrigenTeil der Euro-Zone seit mehr als vier Quartalenschrumpft.
Wir liegen damit bei den Wachstumswerten europaweitan der Spitze.
In der Folge gibt es mehr Chancen für mehr Menschen,Rekordbeschäftigung, höhere Einkommen, niedrigereSchulden.
Ich sage Ihnen, meine sehr verehrten Damen und Her-ren: Es ist kein Zufall, dass Deutschland europaweit ambesten durch die Krise gekommen ist. Es ist kein Zufall,dass wir wirtschaftlich gut dastehen. Es ist auch kein Zu-
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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fall, dass jeden Tag neue Arbeits- und Ausbildungsplätzegeschaffen werden. Das ist ein Verdienst der Menschenin unserem Lande, aber es ist auch ein Verdienst derPolitik dieser Regierungskoalition aus CDU, CSU undFDP.
Während die Opposition ihre eigenen Leute und ihreeigenen Mitarbeiter mit Hausbesuchen beglückt, arbei-ten Union und FDP weiter an der nächsten Etappe dieserdeutschen Erfolgsgeschichte:
für die Unternehmen, auf dem Arbeitsmarkt, für die öf-fentlichen und für die privaten Haushalte. Ich sage Ih-nen: Die deutsche Wirtschaft hat alle Chancen. Für dasJahr 2013 erwarten wir ein Wachstum von 0,4 Prozent.
Diese technische Zahl darf nicht darüber hinwegtäu-schen, dass wir für das Jahr 2013 natürlich ein starkesWachstum und für das Jahr 2014 mit 1,6 Prozent einnoch viel stärkeres Wachstum erwarten. Auch in diesemund in den nächsten Jahren bleibt Deutschland der Stabi-litätsanker in Europa und der Wachstumsmotor in Eu-ropa und für Europa, meine sehr verehrten Damen undHerren.
Warum haben wir reduzierte Wachstumszahlen? DerGrund dafür liegt allein in der Wachstumsdelle im Win-terhalbjahr 2012.
Diese wiederum hat ihre Ursache zum einen in der welt-wirtschaftlichen Lage, zum anderen aber auch in derVerunsicherung innerhalb der Euro-Zone.
Insofern ist es richtig, dass wir alles dafür tun, die Euro-Zone weiter zu stabilisieren.
Wenn Sie sich die entsprechenden Zahlen und dieStimmung auch auf den europäischen Märkten ansehen,dann werden Sie feststellen: Wir sind auf einem ausge-sprochen guten Weg. Die Märkte fassen wieder Ver-trauen in die Euro-Zone; das sieht man an den niedrige-ren Zinsen. Vor allem aber fassen auch die Unternehmenund die Menschen wieder Vertrauen in unsere gemein-same Währung. Das ist ein Verdienst unserer Bundes-kanzlerin Angela Merkel, des Finanzministers WolfgangSchäuble, aber auch der gesamten Regierungskoalition.Wir haben Schluss gemacht mit Schulden. Wir haben füreinen neuen Stabilitätspakt, für eine Stabilitätsunion ge-sorgt.
Deswegen vertrauen die Menschen unserer gemeinsa-men Währung, dem Euro.Vergessen wir nicht, wie verheerend Ihre Europapoli-tik war: Sie waren es doch, die den Stabilitätspakt I wil-lentlich aufgelöst haben. Jetzt wollen Sie eine Verge-meinschaftung der Schulden durch Euro-Bonds, und Siewollen an die Einlagensicherung der kleinen Sparer inDeutschland gehen. Wenn wir uns Ihre Europapolitik an-sehen, angefangen bei Gerhard Schröder und JoschkaFischer bis hin zu Ihrer Trümmer-Troika, dann wissenwir doch eines: Die rot-grüne Europapolitik war auchdas historische Versagen von Rot und Grün in Deutsch-land und in Europa.
Wir müssen und wir werden gemeinsam die Währungstabilisieren, und wir sind dabei auf einem guten Wege.Wir sind bereit, einen Preis dafür zu zahlen; denn wiralle kennen den Wert Europas für unser Land.
Den Preis, den die Sozialdemokraten offensichtlichgerne zahlen würden, sind wir aber nicht zu zahlen be-reit: Das ist der Preis der Geldwertstabilität.
Eine Schwächung der Währung, Inflation, ein Zusam-menbruch der Währung träfe nicht die Reichen und dieSuperreichen. Durch eine Inflation oder einen Zusam-menbruch der Währung würde die Mitte in unserer Ge-sellschaft enteignet, diejenigen, die ihr Leben lang hartgearbeitet und sich für das Alter etwas zur Seite gelegthaben. Einer solchen Enteignung dürfen wir niemals zu-stimmen. Deswegen kämpfen wir für die Unabhängig-keit der Europäischen Zentralbank.
Wir kämpfen
auch für die wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit unse-res Landes. Die beste Basis für eine starke Wirtschaft
sind solide Haushalte im Bund und in den Ländern. Des-wegen treten wir für eine wachstumsorientierte Konsoli-dierungspolitik ein. Wir sind dabei sehr erfolgreich.
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Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Vier Jahre früher, als es die Schuldenregel vorgibt, habenwir im Rahmen der Schuldenbremse solide Haushalteauf den Weg gebracht.
Wir haben gemeinsam vor, für das Jahr 2014 einenstrukturell ausgeglichenen Bundeshaushalt vorzulegen.Damit gerät das Ziel, das wir uns vorgenommen haben– einen ausgeglichenen Bundeshaushalt für 2016 –, ingreifbare Nähe. Das wäre dann, meine Damen und Her-ren, der erste ausgeglichene Bundeshaushalt seit mehrals 50 Jahren. Das zeigt die Solidität, die Stabilität in derHaushalts- und Finanzpolitik dieser Regierungskoali-tion.
Schauen wir uns nun Ihre Politik an: Sie sind gegeneine Schuldenbremse in den Bundesländern. Das besteBeispiel ist Niedersachsen, wo die Sozialdemokraten ge-rade eine entsprechende Verfassungsänderung abgelehnthaben. In Nordrhein-Westfalen hat Rot-Grün gerade be-schlossen, die Schuldenbremse bis zum Jahre 2020 nichteinhalten zu wollen. Das, meine Damen und Herren, istVerfassungsbruch mit Ansage.
Die Schulden in Deutschland, die Schulden im Bund undin den Ländern, haben zwei Farben, nämlich Rot undGrün.
Sie belasten nicht nur die nachfolgenden Genera-tionen, Sie wollen schon heute den Menschen in die Ta-sche greifen. Nach dem Steinbrück-Papier, nach denSteinbrück-Thesen würden, wie im Tagesspiegel zu le-sen war, nicht nur Familienunternehmer, sondern auchAngestellte um bis zu 16 Prozent stärker belastet.
Wenn man das, was die Grünen vorschlagen, hinzurech-net, erkennt man: Rot und Grün sind gut für 40 Milliar-den Euro Mehrbelastung der Menschen. Sie können garnicht genug kriegen vom Abkassieren. Das ist Ihre Poli-tik: Entweder Sie machen Schulden, und/oder Sie holensich das Geld bei den Menschen. Das Gegenteil ist not-wendig: Sie müssen daran arbeiten, die Menschen zuentlasten.
Ich sage Ihnen: All das, was Sie sich vorgenommen ha-ben, was Sie sich erträumen für Deutschland, das könnenwir in Europa schon heute umgesetzt sehen, sei es dieEinführung einer Vermögensteuer, die Erhöhung derErbschaftsteuer oder ein hoher Spitzensteuersatz.
Es wäre egal, wenn dann einige Schauspieler unserLand verlassen.
Aber wenn dank Ihrer Politik mittelständische Unterneh-men darüber nachdenken, Deutschland zu verlassen,dann müssen wir aufmerksam werden; denn es sind un-sere Mittelständler, die neue Arbeits- und Ausbildungs-plätze schaffen. Dafür müssen wir gemeinsam kämpfen.
Anstatt die Menschen zu belasten, wie Sie das gemein-sam vorhaben, wäre es klug, diejenigen zu entlasten,
die uns das Wachstum und den Wohlstand in Deutsch-land erarbeiten.Kommen wir einmal zu der Entlastung. In diesemJahr, 2013, hat ein durchschnittlicher Angestellter lautGesellschaft für Konsumforschung 550 Euro mehrNetto. 550 Euro mögen für Sozialdemokraten nicht vielsein – dafür bekommt man vielleicht ein paar FlaschenPinot Grigio; ich weiß es nicht genau –,
aber für die Menschen da draußen ist das verdammt vielGeld.
Fast 7 Milliarden Euro Entlastung durch die Senkungdes Rentenversicherungsbeitrages, fast 1 Milliarde EuroEntlastung durch die Anhebung des Grundfreibetragesund 1,8 Milliarden Euro Entlastung durch die Abschaf-fung der Praxisgebühr in Deutschland:
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26750 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Bundesminister Dr. Philipp Rösler
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Das ist Politik für die Mitte in unserem Lande, das istPolitik, die bei den Menschen ganz konkret ankommt.
Kommen wir zu den Energiepreisen. Es bedeutet eineBelastung und eine Schwächung der Wettbewerbsfähig-keit, wenn wir es nicht schaffen, die Energiepreise in denGriff zu bekommen.
Deswegen brauchen wir eine grundlegende Reform desGesetzes zur Förderung der erneuerbaren Energien.
Das, was wir jetzt haben, ist ein planwirtschaftlichesSystem. Damit kennt sich vielleicht die Linkspartei aus,aber damit werden wir die Preise nicht in den Griff be-kommen.
Deswegen haben wir uns vorgenommen, diese Reformanzugehen.
Wir wollen drei Dinge gemeinsam: Umweltverträg-lichkeit, Versorgungssicherheit und Bezahlbarkeit vonEnergie für 4 Millionen Unternehmen in Deutschland,vor allem aber auch für 40 Millionen Haushalte, die alleunter den Strompreisen zu leiden haben.
Schauen Sie sich die Ergebnisse dieser Politik aufdem Arbeitsmarkt doch einmal an: die höchste Beschäf-tigungszahl seit Bestehen der Bundesrepublik Deutsch-land, 41,6 Millionen Erwerbstätige, die niedrigste Ar-beitslosenquote seit der deutschen Wiedervereinigung,die Arbeitslosigkeit im Vergleich zu rot-grünen Zeitenabgebaut, 2 Millionen Menschen mehr in Lohn undBrot, 2 Millionen Chancen mehr für Menschen und ihreFamilien.
Schauen Sie sich die Zahlen wirklich an! 117 SeitenJahreswirtschaftsbericht. Was die Menschen wirklichspüren: Sie bemerken die Verbesserungen nicht anhandder Kennzahlen, aber in ihrem eigenen persönlichen Le-ben. Ich sage Ihnen: Deutschland geht es gut, den Men-schen in unserem Lande geht es gut, und wir als Regie-rungskoalition stehen dafür, dass genau dies auch inZukunft so bleibt. Das ist unser gemeinsamer Auftrag,und das sagt der Jahreswirtschaftsbericht für 2013.
Es wird der richtige Weg sein, alles dafür zu tun, dieEuro-Zone weiter zu stabilisieren, damit das Vertrauender Menschen und der Unternehmen noch weiter zuneh-men kann,
damit sie wieder anfangen, zu investieren, und die Inves-titionsbereitschaft zunimmt, für stabiles Geld zu sorgen –für Menschen und Unternehmen gleichermaßen.
Es wird der richtige Weg sein, die Wettbewerbsfähigkeitzu verbessern, neben Rohstoffversorgung und Fachkräf-tesicherung vor allem dafür zu sorgen, dass Energie auchin Zukunft bezahlbar bleibt, und diejenigen am Ende zuentlasten, die uns diesen Wohlstand erwirtschaften, näm-lich die Menschen in unserem Lande. Das ist die Politik,die Deutschland braucht, um Wachstum zu verstetigenund für Wohlstand und Beschäftigung zu sorgen. DerJahreswirtschaftsbericht drückt das nicht nur in seinenZahlen aus, sondern er zeigt auch, dass dieser Politikan-satz richtig ist.Sie denken nur ans Abkassieren, Weitergeben undUmverteilen.
Es muss eben auch eine Koalition geben, so wie wir, diean diejenigen denkt, die uns all das erwirtschaften.
Sie gilt es zu stärken und zu entlasten. Das ist unserepolitische Botschaft für das Wirtschaftsjahr 2013.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich eröffne nun die Aussprache. Das Wort erhält zu-
nächst der Kollege Hubertus Heil für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Herr Bundesminister für Wirtschaft, der Sie ja seinsollen, Herr Rösler,
ich finde einen Satz in Ihrer launigen Rede von eben sehrbemerkenswert, nämlich den schönen Satz, es sei nichtschlimm, wenn Schauspieler Deutschland verließen. Ichsage Ihnen, es wäre gut, wenn schlechte Laiendarstellerdiese Regierung verließen. Das sage ich Ihnen ganzdeutlich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26751
Hubertus Heil
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Wenn es wirklich so wäre, Herr Rösler, dass dieWachstumsentwicklung in diesem Land etwas mit Ihnenzu tun hätte,
Wir haben hier keine Rede eines Bundeswirtschafts-ministers erlebt, sondern die eines FDP-Vorsitzenden,der um sein nacktes Überleben als Politiker kämpft.
Das, Herr Rösler, ist angesichts der wirtschaftlichenLage in diesem Land nicht angemessen.Gucken wir uns die wirtschaftlichen Daten an! Siemussten die Wachstumserwartung für dieses Jahr auf0,4 Prozent herunterschrauben. Das hat nicht nur Gründein Deutschland, sondern das hat vor allen Dingen damitzu tun, dass die Krise, die wir bis dato besser überstan-den haben als andere Volkswirtschaften in Europa, jetztnach Deutschland zurückkommt.Wir als Exportnation erleben, dass die Nachfrage imAusland, vor allen Dingen in der Euro-Zone, zusammen-gebrochen ist. Das hat Folgen für die deutsche Wirt-schaft. Deshalb müssen Sie sich nicht zurechnen lassen,dass in anderen Ländern tatsächlich auch Fehler gemachtwurden – das ist nicht Ihr Problem –, aber Sie, FrauMerkel, haben in den letzten drei Jahren die Krise inEuropa nicht gelöst, sondern mit der Art und Weise, wieSie sie gemanagt haben, diese Krise verschärft. Dahertragen Sie, Frau Merkel, die Verantwortung für die wirt-schaftliche Entwicklung, die jetzt nach Deutschland zu-rückkommt.
Wir haben erlebt, dass Sie sich drei Jahre lang inDeutschland auf guten konjunkturellen Entwicklungen,auf Entscheidungen der Vorgängerregierung ausgeruhthaben.
Sie haben keine Zukunftsvorsorge getroffen. Sie habentatsächlich von dem Mut Ihrer Vorgängerregierungen fürVeränderungen in diesem Land profitiert. Sie haben da-von profitiert, dass die Große Koalition mit Olaf Scholzveränderte Regeln zur Kurzarbeit eingeführt hat, Sie ha-ben davon profitiert, dass wir Konjunkturprogramme aufden Weg gebracht haben. Das hat Deutschland in denletzten drei Jahren stabilisiert.
Aber Sie, Herr Rösler, haben in diesen Jahren dieChance verpasst, sich für schwierigere Zeiten zu wapp-nen. Ich kann Ihnen das an einzelnen Stellen nachwei-sen. Sie haben es ja geschafft, nach drei Jahren guterkonjunktureller Entwicklung und nach recht positivenEntwicklungen am Arbeitsmarkt jetzt bei der Bundes-agentur für Arbeit ein Milliardendefizit in die Kasse zureißen.
Sie müssen sich fragen lassen, ob das tatsächlich dasist, was wir brauchen; denn möglicherweise brauchenwir wieder veränderte Regeln zur Kurzarbeit, und zwarweit über das hinaus, wie Sie jetzt zaghaft einräumen,was in diesem Land notwendig ist. Es ist sinnvoller, Ar-beit statt Arbeitslosigkeit zu finanzieren. Deshalb wer-den wir entsprechende Vorschläge in den DeutschenBundestag einbringen.
Was haben Sie in drei Jahren guter konjunkturellerEntwicklung mit der Art und Weise, wie Herr Schäublemit dem Haushalt umgegangen ist, gemacht? Sie hättendie Neuverschuldung in diesem Land stärker senkenkönnen, aber Sie haben mit Buchungstricks versucht,Ihre Haushaltszahlen zu schönen, indem Sie beispiels-weise die Kasse der Kreditanstalt für Wiederaufbauplündern, und zwar gegen die über Jahrzehnte hinwegpraktizierte Übung.
Die KfW, die Kreditanstalt für Wiederaufbau, wird inZukunft dringend gebraucht, und die braucht tatsächlichUnterstützung in diesem Land und keinen Bundesfinanz-minister, der seine klebrigen Finger in das Portfolio derKfW steckt.
Nein, meine Damen und Herren, Zukunftsvorsorgesieht anders aus. Wir brauchen eine aktive Wirtschafts-politik, die jetzt anpackt,
die auch dafür sorgt, dass das, was strukturell in diesemLand notwendig ist, stattfinden kann. Die deutsche Wirt-schaft muss wettbewerbsfähig bleiben, gar keine Frage.Dafür brauchen wir stärkere Unterstützung für Investi-tionen in Deutschland, beispielsweise steuerliche For-schungsförderung; die haben Sie versprochen, aber andieser Stelle eben nicht geliefert.
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26752 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
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Wir brauchen nicht nur eine stärkere Wettbewerbsfä-higkeit, sondern wir bleiben in Deutschland auch hin-sichtlich der Binnennachfrage weit unter unseren Mög-lichkeiten. Der Schlüssel dazu sind nicht irgendwelcheStellschrauben allein im Steuersystem, der Schlüsseldazu ist, dafür zu sorgen, dass wir eine faire Entwick-lung bei Löhnen und Gehältern in diesem Land bekom-men. Wir brauchen eine neue Ordnung am Arbeitsmarkt,damit die Menschen tatsächlich faire Löhne bekommen.Das stützt die Kaufkraft und die Binnennachfrage in die-sem Land. Auch das verweigert diese Bundesregierung.
Ich schaue einmal in diesen Jahreswirtschaftsbericht,in dieses Dokument Ihrer Untätigkeit, und zitiere mit derErlaubnis des Herrn Präsident aus dem Bericht, Seite 47.Frau Merkel, hören Sie gut zu; denn das ist kennzeich-nend für Ihre Regierung.
– Sie werden erlauben müssen, dass eine Opposition ei-ner Regierung aus Ihrem eigenen Bericht vorliest. Odermacht Sie schon das nervös?
Ich lese Ihnen einen Satz auf Seite 47 vor – Zitat –:Die Meinungsbildung zu einer allgemeinen gesetz-lichen Lohnuntergrenze ist innerhalb der Regie-rungskoalition nicht abgeschlossen.Wie lange diskutieren wir in Deutschland über den ge-setzlichen Mindestlohn? Sie müssen hier vorankommen.Sie sind eine Koalition der wechselseitigen Blockade.Aber Sie schaffen keinen gesetzlichen Mindestlohn indiesem Land.
Herr Kollege Heil, darf Ihnen der Kollege Lindner
eine Zwischenfrage stellen?
Bitte schön.
Herr Kollege Heil, ich stelle Ihnen eine Frage, weil
Sie uns gerade erzählten, dass diese Koalition nicht für
Schuldenabbau steht. – Haben Sie heute den General-
Anzeiger Bonn gelesen? Minister Walter-Borjans – ken-
nen Sie den? – sagt: Schulden sind kein Drama. – Das ist
die Überschrift. – Er sprach davon, dass es in Deutsch-
land ein gesundes Verhältnis von Schulden, Vermögen
und Einkommen gebe. Die gesamten Schulden beliefen
sich auf etwa 6 Milliarden Euro. Er wolle damit nicht sa-
gen, dass die Landesschulden nicht zurückgezahlt wer-
den müssten. Aber das sei alles gar kein Problem. Pro-
blematisch sei es, wenn die Menschen das Gefühl hätten,
dass sie das Geld nicht mehr zurückbekämen, das sie
dem Staat liehen.
Das ist genau das Gegenteil von dem, was Sie uns
hier erzählen. Dort, wo Sie Verantwortung tragen, in
Nordrhein-Westfalen und anderswo, machen Sie genau
das Gegenteil dessen, was Sie gesagt haben: noch mehr
Schulden und eine Aushebelung der Schuldenbremse.
Sie wollen Inflation, Sie bekennen sich zur Inflation.
Aber das ist genau das Gegenteil von dem, was der Mit-
telstand, die Mittelschicht braucht. Die Mittelschicht in
Deutschland legt ihr Geld in Lebensversicherungen und
Barvermögen an. Das unterscheidet übrigens die Mittel-
schicht in Deutschland von der US-Mittelschicht.
Wenn Sie hier diesen Kurs in Deutschland realisieren,
sei es in Niedersachsen oder sonst wo, dann entwerten
Sie das Vermögen der ganz normalen Menschen in der
Mittelschicht, die hart für dieses Geld gearbeitet haben.
Das ist die Wahrheit. Das ist der große Unterschied zu
dem, was Sie uns hier erzählen.
Sind Sie zu Ende, Herr Lindner?
Herr Dr. Lindner, ich danke Ihnen für die Gelegenheit,auf diese – ich sage es einmal so – Zwischenbemerkung
– auf diese Zwischenintervention – zu antworten. Dasmache ich sehr gern. Ich will Ihnen Folgendes sagen:Was den Bundeshaushalt betrifft, so haben Sie dieChance verpasst, tatsächlich dafür zu sorgen, dass wirvon der hohen Neuverschuldung in Deutschland herun-terkommen. In Zeiten guter konjunktureller Entwicklunghaben Sie Folgendes gemacht: Sie haben mit Ihrer Ho-telsteuer Klientelinteressen bedient.
Sie haben gleichzeitig mit dem unsinnigen Betreuungs-geld 2 Milliarden Euro verschleudert. Sie verschleudernSteuergeld, weil Sie den Mindestlohn nicht einführen.Was ist denn die Realität? Die Realität ist, dass immermehr Menschen in Deutschland zwar Vollzeit arbeiten,aber sich dann ergänzend dazu Arbeitslosengeld II, alsoSteuergeld, vom Amt abholen müssen.
Wir sagen: Mit einem Mindestlohn hätten wir Steuer-mehreinnahmen für Investitionen. Diese Investitionensind bei Kommunen, Ländern und im Bund notwendig:in Schulen, in Bildung, in Infrastruktur. Diese Möglich-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26753
Hubertus Heil
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keiten verspielen Sie mit der Art und Weise, wie SiePolitik gemacht haben.
Sie haben das Ergebnis von drei Jahren guter Konjunkturverfrühstückt. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Deshalb, Herr Lindner, herzlichen Dank für diese Gele-genheit.
Wenn wir über die wirtschaftspolitische Bilanz vonHerrn Rösler und dieser Bundesregierung reden, dannmüssen wir auch über Energiepolitik in diesem Land re-den. Herr Rösler, Sie haben eben gesagt: man müssteeinmal, man sollte einmal. Deutschland könnte mit einergelungenen Energiewende, die im Kern eine Riesen-chance für dieses Land ist, in einer Welt, die einen gro-ßen Energiehunger hat, Ausrüster der Welt sein: bei er-neuerbaren Energien, bei Energieeffizienz, bei modernenEnergieversorgungssystemen.Sie haben in Ihrer Amtszeit aus der Chance der Ener-giewende ein wirtschaftliches und ein soziales Risiko fürDeutschland gemacht. Die Strompreise steigen, die Ver-sorgungssicherheit ist gefährdet, und Rösler undAltmaier als Mitglieder dieser Bundesregierung zankensich wie zwei Kinder um – –
– Das passiert Ihnen natürlich nie. Herr Hinsken, es regtmich wirklich auf, wie sich Herr Altmaier und HerrRösler wechselseitig blockieren, wenn es um die not-wendigen Maßnahmen geht. – Wo ist denn Ihr Master-plan zur Energiewende? Die Art und Weise, wie Sie dieEnergiewende gegen die Wand fahren, wird zu einemwirtschaftlichen Risiko in diesem Land.
Die Strompreise sind dramatisch gestiegen, insbeson-dere für Unternehmen, die nicht von den Ausnahmerege-lungen profitieren, die Sie auf eine Art und Weise ausge-weitet haben, die nur noch unsinnig zu nennen ist. DieStromzahler, die Verbraucher und diese Unternehmen,haben die Kosten dafür zu wuppen. Wir erleben, dass eszum sozialen Problem wird, wenn Strompreise steigen.Wo sind Ihre Sofortmaßnahmen, und wo ist Ihr Mas-terplan, um die Energiewende zum Erfolg zu führen?Nein, Herr Rösler, das nenne ich Energiewendeversager.In der Art und Weise, wie Sie das machen, werden Siezum wirtschaftlichen Risiko. Wenn Sie das nicht glau-ben, dann fahren Sie einmal in unsere niedersächsischeHeimat und informieren sich darüber, wie gerade dieSIAG Nordseewerke in die Insolvenz getrieben wurden,weil Sie die Planungs- und Investitionssicherheit für dieEnergieversorgung in Deutschland kaputtgemacht ha-ben. Das ist die Schadensbilanz Ihrer Energiepolitik.
Unterm Strich erleben wir zurzeit eine Situation, diewir realistisch einschätzen müssen. Deutschland hat guteVoraussetzungen, aus dieser schwierigen Situation he-rauszukommen. Aber das liegt nicht an dieser Bundesre-gierung, sondern daran, dass wir in diesem Land einebreite industrielle Wertschöpfungskette haben: von denGrundstoffindustrien über die kleinen und mittelständi-schen Unternehmen bis zu den Hightechschmieden.Wir haben in Deutschland die Möglichkeit, mit derSozialpartnerschaft zwischen Arbeitgebern und Gewerk-schaften, die es bei uns gibt, vernünftige Lösungen zufinden. Was wir brauchen, ist eine politische Rahmenset-zung und eine aktive Wirtschaftspolitik, die diese Vo-raussetzungen und Chancen nutzt. Wir dürfen nicht zu-gucken, wie die Energiepreise steigen und eine Spaltungvon Gesellschaft und Arbeitsmarkt entsteht.Zum Thema Fachkräftesicherung habe ich eben nurwarme Worte gehört, Herr Rösler. Was ist denn notwen-dig, um die Spaltung am Arbeitsmarkt abzuwenden? Wirhaben zurzeit die Situation, dass auf der einen Seite im-mer mehr Unternehmen, vor allem kleine und mittelstän-dische Unternehmen, in einzelnen Regionen händerin-gend qualifizierte Fachkräfte suchen und auf der anderenSeite Menschen in prekärer Arbeit und Langzeitarbeits-losigkeit abgehängt sind. Diese Spaltung der Gesell-schaft zu überwinden, wäre Aufgabe dieser Bundesre-gierung. Aber Sie legen nichts vor. Im Gegenteil: Sievertiefen die Spaltung, weil Sie die prekäre Arbeit inDeutschland mit Ihren unsinnigen Maßnahmen zu denMinijobs noch ausweiten, weil Sie sich dem Mindest-lohn verweigern und weil Sie keinen gleichen Lohn fürgleiche Arbeit für Männer und Frauen und für Stamm-und Leihbelegschaften in Unternehmen ermöglichen.Das ist der Zusammenhang. Sie haben nicht begriffen,dass wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeitkeine Gegensätze, sondern wechselseitige Bedingungensind. Wir brauchen eine vorausschauende Wirtschafts-politik, die die Chancen dieses Landes nutzt, statt zuzu-gucken, wie die Gesellschaft dabei zerfällt.Herr Rösler, wenn ich daran denke, welche Gesetzge-bungsinitiativen Sie in den letzten drei Jahren an dieWand gefahren oder gar nicht erst ergriffen haben,
dann muss ich sagen: Wir haben leider Gottes im Mo-ment einen Totalausfall im Bundeswirtschaftsministe-rium, der zum Risiko für dieses Land wird. Deshalbbrauchen wir den Politikwechsel in der Wirtschaftspoli-tik in Deutschland.
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26754 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Hubertus Heil
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– Herr Kauder, angesichts Ihrer Zwischenrufe müssenSie heute wirklich sehr nervös sein.
Ich sage Ihnen, Herr Kauder: Wenn wir ernsthaft überdie wirtschaftliche Situation in diesem Land diskutierenwollen, dann werden auch Sie in diesem Zusammenhangnicht bestreiten können, dass wir einen Bundeswirt-schaftsminister haben, der ein Problem für diese Koali-tion geworden ist. Er ist mehr mit der Krise seiner Parteials mit der Krise der Wirtschaft beschäftigt. Das nimmtviel Arbeitskraft weg.
Wenn andere Teile der Regierung das kompensierenwürden, wäre es gut. Aber die Wahrheit ist: Sie sind eineKoalition, die sich bei den Themen wechselseitig blo-ckiert. Beim Mindestlohn sagen die einen hü, die ande-ren hott. Bei der Fachkräftesicherung gibt es keine Ini-tiative, bei der Energiewende wechselseitige Blockaden,bei der steuerlichen Forschungsförderung einen Total-ausfall, und bei der Krise, die wir in Europa zu bewälti-gen haben, gab es – daran sei erinnert – das unverant-wortliche Gerede durch den Bundeswirtschaftsministerim vergangenen Jahr, das die Krise eher verschärft hat.Nein, meine Damen und Herren, wir brauchen denPolitikwechsel in der Wirtschafts- und in der Sozialpoli-tik in Deutschland.
Der Jahreswirtschaftsbericht ist ein Dokument der Hand-lungsunfähigkeit dieser Regierung. Wir müssen darüberreden, wie wir in dieser Gesellschaft die Chancen, diewir haben, tatsächlich nutzen können. Deutschland istbisher Gott sei Dank ein starkes Land.
– Deutschland ist ein starkes Land trotz dieser Regie-rung, Herr Hinsken. – Wir brauchen schleunigst denWechsel im Land. Wir brauchen veränderte Mehrheits-verhältnisse. Durch die Niedersachsenwahl am Sonntagist das im Bundesrat schon möglich. Aber wir brauchensie auch im Bund,
damit Deutschland wirtschaftlich wieder auf Erfolgskurskommt, statt bei 0,4 Prozent Wachstum weiterzudüm-peln. Sie nehmen Wirtschaftspolitik nicht ernst. Genaudas ist Ihr Problem.Herzlichen Dank.
Michael Fuchs ist der nächste Redner für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Heil, ichkann durchaus verstehen, dass Sie aufgeregt sind. Ichkann auch durchaus verstehen, dass Sie bei den Umfra-geergebnissen der letzten Tage von 23 Prozent meinen,hier etwas retten zu können. So werden Sie das abernicht erreichen.
Die Bevölkerung hat schon lange kapiert, dass diese Ko-alition die richtige Arbeit macht, und deswegen sind dieUmfrageergebnisse so gut, wie sie sind.Deutschland geht es gut. Diese Koalition war erfolg-reich und hat dazu beigetragen, dass die Wirtschaftsleis-tung steigt. Wir hatten in den letzten drei Jahren einWirtschaftswachstum von kumuliert 8 Prozent, HerrHeil. Das ist eine exzellente Zahl. Zahlen wie diese fin-den Sie in keinem einzigen Land in Europa; die findenSie in fast keinem anderen Industrieland der Welt. Beieinem Bruttoinlandsprodukt von circa 2,5 BillionenEuro hat Deutschland in den letzten drei Jahren einWachstum in Höhe von gut 200 Milliarden Euro zu-stande gebracht. Das entspricht beispielsweise demBruttoinlandsprodukt von Hongkong, von Singapur oderauch von Finnland. Das ist doch eine Erfolgsstory. Dieskönnen Sie auch mit noch so viel dümmlichem Geschreinicht bestreiten.
Die Erwerbstätigenzahl ist – der Bundeswirtschafts-minister hat völlig zu Recht darauf hingewiesen – auf41,6 Millionen gestiegen. Eine so hohe Zahl hatten wirnoch nie in Deutschland. Das heißt ganz konkret – ichliebe es, solche Zahlen herunterzubrechen, weil man dasdann wesentlich besser versteht –, dass in Deutschlandpro Tag im Durchschnitt 1 000 Menschen mehr erwerbs-tätig sind.Noch beachtlicher ist die Entwicklung bei den sozial-versicherungspflichtigen Beschäftigungen. Deren Zahlist um 1,5 Millionen, von 27,5 Millionen auf jetzt29 Millionen, angestiegen. Das sind deutlich mehr als1 000 sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze proTag, seitdem diese Regierung an der Macht ist, HerrHeil. Der BDI hat vor kurzem bekannt gegeben, dassvon diesen 1 000 Arbeitsplätzen allein 500 industrielleArbeitsplätze sind. Daher können Sie nicht behaupten,dass das alles prekäre Arbeit sei.
Ich denke nicht, dass die deutsche Industrie prekäre Ar-beitsplätze anbietet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26755
Dr. Michael Fuchs
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Gleichzeitig ist die Arbeitslosigkeit deutlich gesun-ken. Pro Tag sind über 400 Menschen in Arbeit gekom-men, die vorher nicht in Arbeit waren, seitdem AngelaMerkel diese christlich-liberale Regierung führt.
In der gesamten EU ist Deutschland die Wachstumsloko-motive.Eines muss ich Ihnen sagen – ich empfehle die Lek-türe des Handelsblatts; Sie haben es ja vor sich liegen –:In den Ländern, wo Sie etwas zu sagen haben, sieht dieSituation schlecht aus. Heute wird bekannt gegeben,dass Hamburg ein Nettonehmerland wird. Das reicheHamburg war über Jahrzehnte ein Geberland. Jetzt wirdes ein Nehmerland. Das haben Sie mit Ihrer Politik inHamburg fertiggebracht.
Es gibt überhaupt nur noch drei Geberländer: Das ist anallererster Stelle Bayern, das ist Hessen, und das ist Ba-den-Württemberg; ich befürchte, das kriegen Sie auchnoch kaputt. Sie arbeiten ja daran.
Meine Damen und Herren, das alles ist kein Selbst-läufer, das alles ist nicht selbstverständlich. Da sind mitder Politik der Bundeskanzlerin vernünftige Weichen-stellungen vorgenommen worden. Wir stehen vor strate-gischen Voraussetzungen für unseren Standort. Wir sindlange noch nicht am Ende. Wir brauchen wettbewerbsfä-hige Energiepreise, und vor allen Dingen müssen wirfreien Zugang zu den Rohstoffmärkten der Welt haben.Beides sind Faktoren, die sich immer mehr zu ganzwichtigen Standortfaktoren entwickeln.Mir macht die Situation mit Blick auf die Amerikanererhebliche Sorge. Ich hatte vor kurzem ein längeres Ge-spräch mit amerikanischen Senatoren, die mir gesagt ha-ben, dass sie eine Reindustrialisierung der USA erwir-ken möchten. Wie wollen sie das machen? Indem sie fürdie niedrigsten Energiepreise in der ganzen Welt sorgen.Und wie machen sie das? Indem sie Schiefergas undSchieferöl ausbeuten und sich von jeglichen Importenunabhängig machen. Sie können sich überlegen, was dasfür uns bedeutet. Dann werden energieintensive Unter-nehmen in die USA abwandern. Das darf nicht passie-ren. Wenn wir heute unsere Wertschöpfungsketten ka-puttmachen, liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, dannhaben wir à la longue Probleme mit unseren Arbeitsplät-zen. Deswegen sollten wir alle daran arbeiten, dass dieIndustriestrompreise niedriger werden.
Unsere Industriestrompreise sind 40 Prozent höher alsdie Frankreichs; ich will jetzt gar keine anderen Verglei-che ziehen. Das zeigt, wie notwendig es ist, dass wir eineEnergiepolitik betreiben, die dafür sorgt, dass zumindestunsere exportintensive Wirtschaft von Schwankungender Industriestrompreise nicht betroffen ist.Der nächste Punkt betrifft das gesamte Thema Roh-stoffsicherheit. Ich empfinde es als völlig richtig, dassdie Bundeskanzlerin in die Mongolei gereist ist, um dortein Rohstoffabkommen abzuschließen. Ich halte es auchfür notwendig, dass wir das noch viel intensiver machen.Die Chinesen zum Beispiel tun das in vielen Ländern be-reits sehr intensiv, besonders in Schwarzafrika. Das kannuns nicht egal sein.Wir sind sehr gut im Recycling; da sind wir vermut-lich das Land, das in der Welt an der Spitze steht. Wennman weiß, dass schon heute über 50 Prozent unsererKupfervorkommen aus recyceltem Material stammen,dann sieht man die Erfolgsstory. Man kann der deut-schen Wirtschaft nur dazu gratulieren, dass sie das hin-bekommen hat. Aber das reicht nicht. Wir müssen zu-sätzlich sicherstellen, dass alle Rohstoffe zu beschaffensind; denn die sind das Rückgrat der deutschen Wirt-schaft.Meine Damen und Herren, auch den Menschen gehtes gut unter dieser Koalition, zumal ich weiß, dass es inden letzten drei Jahren erstmalig dreimal hintereinanderjeweils rund 3 Prozent Lohnerhöhung gab. Das war un-ter Rot-Grün nie der Fall. Unter Rot-Grün gab es vielniedrigere Lohnerhöhungen. Jetzt zeigt sich, dass dievon der Koalition betriebene Politik in einer Zeit, in derdie Wirtschaft wächst und stärker wird, auch dazu führt,dass die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer mehr inder Tasche haben. Darüber können wir froh sein.
Die Unternehmen haben ausreichende Mittel für In-vestitionen. Es wird viel mehr investiert als in den Jah-ren zuvor, und der Staat hat deutlich höhere Steuerein-nahmen. Jedes Jahr gab es ein neues All-Time High; imletzten Jahr waren es über 600 Milliarden Euro. Daszeigt – das haben Sie alle nicht kapiert –, dass in Län-dern, in denen eine vernünftige Haushaltspolitik ge-macht wird, Wachstum möglich ist. Sie behaupten ja im-mer, mit unserer Sparpolitik würden wir Wachstumverhindern. Das ist völliger Unsinn. Mit einer vernünfti-gen Haushaltspolitik ist Wachstum möglich, und dasmuss auch so sein.
Der Bundeswirtschaftsminister hat es gesagt: Zu An-fang dieses Jahres haben wir die Bürger erneut entlastet,nämlich um 12 Milliarden Euro. Wenn Sie die Senkungdes Rentenversicherungsbeitrags, die Abschaffung derPraxisgebühr – das war ja einer der wenigen Beschlüsse,denen Sie zugestimmt haben – und die Erhöhung desGrundfreibetrags – das konnten Sie im Bundesrat nichtverhindern – zusammenrechnen, dann stellt dies einedeutliche Entlastung der Bürger dar. Alle anderen Ent-lastungsschritte, die wir darüber hinaus in die Wege lei-ten wollten, haben Sie doch im Bundesrat verhindert.Das ist eine Schande;
denn gerade die Mittelschicht hätte weitere Entlastungenverdient gehabt. Sie aber haben dies verhindert. Trotz-dem – auch da haben Sie eben wieder Unsinn geredet,
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26756 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Michael Fuchs
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Herr Heil – sind die Sozialversicherungen sehr gut auf-gestellt. In allen Versicherungen haben wir Überschüsse.
Die Bundesagentur für Arbeit hat im letzten Jahr einPlus in Höhe von rund 2,5 Milliarden Euro gemacht.
Das liegt daran, dass wir wesentlich weniger Arbeitslosehaben als noch zu Ihrer Zeit. Angela Merkel hat vonGerhard Schröder 5 Millionen Arbeitslose übernommen.Im letzten Jahr sind es im Jahresdurchschnitt 2,8 Millio-nen gewesen. Das zeigt, dass wir die richtige Politik ge-macht haben, dass wir einen guten Schritt weitergekom-men sind.
Genau auf diesem Wege werden wir weitergehen.Es macht keinen Sinn, in dem Maße, in dem Sie dasgeplant haben, Steuern zu erhöhen. Ich nenne nur dieEinkommensteuer. Die können Sie natürlich erhöhen.Aber was bedeutet das denn? Bei allen Personengesell-schaften ist die Gesellschaftsteuer die Einkommensteuer.Das heißt, Sie belasten im Falle einer Erhöhung der Ein-kommensteuer die Mittelständler ganz gewaltig. Wirwerden das verhindern.Ich gehe davon aus, dass wir die erfolgreiche Politikfortführen können.
Sie werden das am Sonntag merken.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun der Kollege Gregor Gysi für die
Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! HerrRösler, ich habe Ihrem Bericht zugehört. Aber wissenSie, was mich am meisten ärgert? Bevor Sie Ihren Be-richt dem Kabinett zeigen und bevor Sie ihn gestern demAusschuss gezeigt haben und heute dem Plenum, bera-ten Sie mit allen Wirtschaftsbossen, ob der Jahreswirt-schaftsbericht so in Ordnung sei. Mein Gott! BrauchenSie immer die Genehmigung der Wirtschaftsbosse?Wann stellen wir denn endlich wieder das Primat derPolitik über die Wirtschaft her statt des Primats der Wirt-schaft über die Politik? Das wird wirklich höchste Zeit.
Ihr Bericht ist schöngefärbt; das wissen Sie. Das liegtnatürlich an der Wahl in Niedersachsen. Deshalb spre-chen Sie auch heute hier. Aber nun muss ich Ihnen einessagen, meine Damen und Herren von der FDP: WillyBrandt hat bei einer Bundestagswahl damit angefan-gen, seine Wählerinnen und Wähler aufzufordern, mitden Zweitstimmen der FDP zu helfen, damit sie überdie 5-Prozent-Hürde kommt. McAllister und die CDU inNiedersachsen machen jetzt dasselbe. Ich weiß nicht, obFrau Merkel und die CDU bei der Bundestagswahl auchdasselbe machen werden. Das heißt, Ihr Ergebnis basiertnicht auf eigener Leistung, sondern auf Leihstimmen.Wir haben es viel schwerer, weil weder Union noch SPDihre Wählerinnen und Wähler jemals aufrufen würden,mit der Zweitstimme die Linke zu wählen. Wir müssendas ganz alleine schaffen. Ich will nur darauf hinweisen,dass wir hier eine größere Leistung erbringen.
Noch etwas: Das Ding hat eine Kehrseite. WennUnion und FDP in den Landtag Niedersachsen einziehen– damit rechnen jetzt viele –, haben Sie von Rot-Grün inNiedersachsen höchstwahrscheinlich keine Mehrheit.Jetzt müssten Sie Ihre Wählerinnen und Wähler dochaufrufen, mit der Zweitstimme die Linke zu wählen. DaSie das aber nicht machen werden, ersetze ich Sie undsage es ihnen selbst.
Kommen wir einmal zu dem Bericht. Das Brutto-inlandsprodukt ist immer der Gradmesser für die Leis-tungsfähigkeit einer Wirtschaft. Das Wachstum desBruttoinlandsprodukts sinkt von 3 Prozent im Jahr 2011über 0,7 Prozent im letzten Jahr nach Ihrer Einschät-zung, Herr Rösler, 2013 auf 0,4 Prozent. Darf ich viel-leicht noch an etwas erinnern? Sie haben den Fiskalpaktbeschlossen. Im Fiskalpakt steht, dass ein Staat nichtmehr als 60 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts alsSchulden haben darf. Gleichzeitig ist geregelt, dass man,wenn man darüber liegt – wir liegen bei über 80 Prozent –,die Schulden pro Jahr um 5 Prozent zu senken hat. Ichweiß noch, dass ich, als Herr Schäuble und ich beimBundesverfassungsgericht saßen, gefragt habe, welcheKürzungen eigentlich geplant sind; denn die Regelungbedeutet ja, dass wir die Schulden jährlich um 25 Mil-liarden Euro senken müssen. Darauf hat er geantwortet,dass das, was ich sage, völlig falsch sei, weil ja die Wirt-schaftsleistung, das Bruttoinlandsprodukt, so zunehmenkann, dass der Schuldenstand gemessen daran geringerwird; ich will das gar nicht weiter erklären.
– Ja, das stimmt. – Nur, das Problem ist: Dann brauchenwir eine Wirtschaftsleistungssteigerung von 1 Prozentpro Jahr. Sie gehen in Ihrer Prognose aber von einemWachstum von 0,4 Prozent aus. Wir hatten auch schoneinmal Jahre mit Minuswerten. Was ist denn dann? Siemüssen die Schulden abbauen. Das heißt, dann werdenSie wieder Sozialkürzungen vornehmen. Man hört jaauch schon von Geheimplänen im Bundesfinanzministe-rium, Stichwort „Witwenrente“ und vieles andere.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26757
Dr. Gregor Gysi
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Genau so geht es nicht!
Ich sage Ihnen auch: Sie dürfen nicht vergessen, dassdas sinkende Wachstum der Wirtschaftsleistung – 0,4 Pro-zent Wachstum in 2013 ist doch wirklich nicht erheblich –damit zu tun hat, dass wir in einer Euro-Finanzkrise sindund dass Sie eine völlig falsche Politik gegenüber Süd-europa machen. Sie bauen Südeuropa ab. Die Wirtschafts-leistung nimmt dort ab. Die Steuereinnahmen nehmen ab.Von „sozial“ kann man gar nicht mehr reden. Es wirdimmer extremer unsozial. Die Folge ist, dass die ExporteDeutschlands in diese Länder zurückgehen. Ich habe mirdas bei Opel angesehen. Bei Opel ist die Krise angekom-men; die Opelaner in Bochum werden aus diesen Grün-den kaputtgemacht. Übrigens: Ich habe auch mit demBetriebsratsvorsitzenden von VW gesprochen. Der hatgesagt, VW habe einen dramatischen Rückgang der Ver-käufe nach Italien, Portugal usw., aber könne das nochausgleichen durch eine Steigerung des Exports nachChina, nach Brasilien und in die USA.Wir leben doch über unsere Verhältnisse. Dieses Un-gleichgewicht zwischen Export und Import innerhalb derEuro-Zone kann nicht funktionieren. Wir alle wissen,dass der Export wahrscheinlich nachlassen wird. Danngibt es nur eine mögliche Gegenmaßnahme: Sie müssendie Binnenwirtschaft stärken. Die können Sie nur stär-ken, wenn Sie sich endlich sozialer verhalten und dieRenten, Löhne und Sozialleistungen erhöhen. Es gibtkeinen anderen Weg, um die Binnenwirtschaft zu stär-ken; das wissen Sie auch.
Ich komme zum Arbeitsmarkt. Herr Rösler, was micham meisten ärgert, ist, wenn Sie überall sagen: Es gibtjetzt eine wunderbare Arbeitslosenstatistik. Im nächstenJahr wird es nur 60 000 Arbeitslose mehr geben. – Im-merhin sagen Sie ja, dass es mehr geben wird. WissenSie, was mich daran so stört? Wenn man es sich genaueransieht, stellt man fest: Das Problem ist, dass die Zahlder Vollzeitarbeitsplätze in den letzten zehn Jahren abge-nommen hat, Herr Kauder. Es sind 1,6 Millionen weni-ger geworden. Wenn Sie sagen könnten, dass es mehrgeworden sind, dann könnten Sie stolz sein. Es sind aberweniger geworden. Das Einzige, was zugenommen hat,ist die prekäre Beschäftigung. Deshalb können Sie einebessere Statistik vorweisen.
Ein Viertel aller Beschäftigten arbeitet im Niedrig-lohnsektor; das sind 7,9 Millionen. Davon sind 4,66 Mil-lionen Vollzeitbeschäftigte. Diese Zahl hat seit 2005 um677 000 zugenommen. Die Leiharbeit weitet sich aus.Machen Sie etwas, um diese zu begrenzen? Nein, nichts!Sie lassen alles laufen. Im Jahre 2003 hatten wir einmal5,5 Millionen Minijobs. Jetzt sind es 7,4 Millionen. Sieweiten dies noch aus, indem Sie die Verdienstgrenze von400 Euro auf 450 Euro erhöht haben. Die Zahl der Teil-zeitbeschäftigten stieg um 1,6 Millionen; jetzt haben wir8,7 Millionen.Zudem haben wir 1,3 Millionen Aufstockerinnen undAufstocker. Wissen Sie, was die Steuerzahlerinnen undSteuerzahler über die Jobcenter jährlich für die Aufsto-ckerinnen und Aufstocker zahlen? 10 Milliarden Euro.Man muss sich das einmal vor Augen führen: HerrBrüderle, da geht ein Arbeitnehmer eine ganze Woche,einen Monat, ein Jahr den ganzen Tag arbeiten und ver-dient damit so wenig, dass er zum Jobcenter gehen muss,um zusätzlich Steuergelder zu erhalten. Das ist ein Skan-dal. Wer einen Vollzeitjob hat, muss Anspruch auf einenLohn haben, von dem er in Würde leben kann. Das wirdhöchste Zeit.
Dafür brauchen wir den flächendeckenden gesetzlichenMindestlohn. Ich garantiere Ihnen, dass der flächen-deckende gesetzliche Mindestlohn trotz des Widerstan-des der FDP spätestens im Jahre 2014 beschlossen wird.Darum kommen Sie gar nicht umhin. Man kann sich ei-nem solchen Trend auf Dauer nicht widersetzen.Auf der anderen Seite müssen wir uns mit den Real-löhnen beschäftigen. Die Reallöhne sind in den letztenzehn Jahren um 4,5 Prozent gesunken. Bei den 10 Pro-zent, die am schlechtesten verdienen, ist der Reallohnsogar um 9 Prozent gesunken. Die Armut nimmt zu.
– Natürlich nimmt sie zu. – Zwar ist die Arbeitslosen-quote von 11,7 auf 7,1 Prozent gesunken; doch in dersel-ben Zeit, so das Statistische Bundesamt, ist das Armuts-risiko von 14,6 Prozent auf 15,3 Prozent gestiegen. Wiekommt das, wenn Sie doch eine so tolle Arbeitslosensta-tistik haben? Wieso nimmt die Armut zu? Ich sage Ih-nen: Dass Vollzeitbeschäftigte von Armut bedroht sind,hat es früher nicht gegeben. Jetzt aber ist es Realität.Mich interessiert auch die andere Seite. Man könntedarüber diskutieren und sagen: Na gut, das Vermögen inDeutschland nimmt insgesamt ab. Wenn das Vermögenabnimmt, muss man sich überlegen, wie man es gerech-ter verteilen kann. – Aber das Gegenteil ist der Fall.1992 hatten wir in Deutschland ein Vermögen von4,6 Billionen Euro; im Jahre 2012 betrug es 10 BillionenEuro. Seit der Finanzkrise im Jahre 2007 gab es eine Zu-nahme von 1,4 Billionen Euro. Hier hat eine gigantischeUmverteilung von unten nach oben stattgefunden. Da-rum kommen Sie nicht herum. 0,6 Prozent der Haushaltein Deutschland besitzen ein Vermögen von 1,9 BillionenEuro; das sind 20 Prozent. Die unteren 50 Prozent derHaushalte besaßen 1998 einen Anteil von 4 Prozent amGesamtvermögen; heute ist es nur noch ein Anteil von1 Prozent. Erklären Sie doch einmal diesen 50 Prozentder Haushalte, weshalb sie immer stärker in Armut ge-stürzt werden? Warum berichten Sie so etwas nicht, HerrRösler?
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26758 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Gregor Gysi
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Sie betreiben nur Schönfärberei. Das ist meines Erach-tens nicht hinzunehmen. Sie weigern sich, Vermögen zubesteuern. Meinen Sie nicht, dass es Zeit wird, dass dieKosten für die Finanzkrise von denjenigen getragen wer-den, die sie erstens verursacht haben und die zweitensdavon profitieren?
– Ich rede nicht vom Mittelständler. Ich rede von denwirklich Vermögenden. – Herr Fuchs, wir fordern eineVermögensteuer von 5 Prozent auf ein privates Vermö-gen von mehr als 1 Million Euro. Mein Gott, die merkengar nicht, wenn das abgebucht wird. Es würde aber einStück weit mehr Gerechtigkeit in Deutschland entstehen.
Dasselbe gilt übrigens auch für Griechenland. Siemüssen einmal den griechischen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmern, den Rentnerinnen und Rentnern, denFrauen, die entbinden wollen, erklären, warum sie dieKrise zu bezahlen haben. Welchen Schuldanteil habendiese Menschen an der Krise?Ich erinnere mich daran, wie Herr Schäuble begründethat, dass zur Sanierung des Haushaltes das Elterngeldfür Hartz-IV-Empfänger gestrichen wird. Da habe ichSie gefragt, Herr Kauder, was die Hartz-IV-Empfängerfalsch gemacht haben. Sie sollten sich hier hinstellenund die fünf Gründe nennen, warum die Hartz-IV-Emp-fänger die Krise verursacht haben. Das konnten Sienicht. Es waren nämlich doch die Ackermänner, die dieKrise verursacht haben. Aber genau die werden nicht he-rangezogen. Das ist das Problem der sozialen Ungerech-tigkeit bei uns.
Jetzt steuern wir auf eine Altersarmut zu, und Sie vonder CSU und der FDP weigern sich, etwas dagegen zuunternehmen. Selbst der Vorschlag von Frau von derLeyen zur Zuschussrente wird abgelehnt. Das Renten-niveau soll bei 43 Prozent liegen. Viele verdienen nurnoch 1 000 Euro. Ich sage Ihnen, hier entsteht eine Ar-mut, die nicht zu rechtfertigen ist.
Herr Rösler, Sie haben den Jahreswirtschaftsberichtgeschönt und ein bisschen frisiert. Dasselbe haben Sieschon mit dem Armuts- und Reichtumsbericht gemacht.Der bleibt trotzdem skandalös. Ich will gar nicht sagen,an welche Zeiten mich das erinnert, in denen Berichtederart getürkt wurden. Das haben Sie doch nicht nötig.
Da haben Sie aber fast Glück, dass dafür auch gar
keine Zeit mehr besteht.
Herr Bundestagspräsident, ich werde mir jetzt einmal
notieren, wann Sie Geburtstag haben. Dann werde ich
Ihnen eine neue Uhr schenken.
Ich muss Ihnen Folgendes erklären: Es gibt hier Leute,
die elf Minuten reden, und das kommt mir dann wie eine
halbe Stunde vor. Bei mir rennt Ihre Uhr immer.
Aber ich danke Ihnen trotzdem. Alles Gute.
Herr Kollege Gysi, falls Sie den verwegenen Gedan-
ken mit der Uhr weiterverfolgen wollen, bitte ich herz-
lich darum, die Wertgrenzen einzuhalten, da Sie mich
ansonsten zwingen würden, zunächst beim Bundestags-
präsidenten die Genehmigung einzuholen.
Nächster Redner ist der Kollege Dr. Hermann Otto
Solms für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Gysi, ich gratuliere Ihnen nachträglich zuIhrem 65. Geburtstag;
aber das ist alles, was ich Ihnen an Nettigkeiten sagenkann.
Ihre Reden hier haben einen hohen Unterhaltungswert;
aber das kommt dadurch zustande, weil sie mit Faktenüberhaupt nichts zu tun haben.
Ich will Sie auf zwei Fakten hinweisen. Sie sprachendavon, dass die Zahl der sozialversicherungspflichtigVollzeitbeschäftigten in den letzten zehn Jahren abge-nommen hätte. Sie vergessen jedoch, dass die Union seit2005 und die FDP seit 2009 an der Regierung sind undseitdem die Zahl der sozialversicherungspflichtig Be-schäftigten um rund 2 Millionen gestiegen ist. Das ist einwichtiges Faktum, wenn Sie sich mit dieser Regierungauseinandersetzen und nicht mit der Vorgängerregie-rung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26759
Dr. Hermann Otto Solms
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Außerdem möchte ich Sie auf Folgendes hinweisen:Wenn Sie sich einmal die Statistik der Länder an-schauen, die einen Mindestlohn haben, und einen Ver-gleich mit den Ländern anstellen, die keinen Mindest-lohn haben, dann kommen Sie zu dem Ergebnis, dass inden Ländern mit Mindestlohn die Arbeitslosigkeit signi-fikant höher ist als in den Ländern ohne Mindestlohn. Soviel in diesem Zusammenhang.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchteausdrücklich bestätigen, was der Bundeswirtschafts-minister eben vorgetragen hat: Deutschland geht es gut.
Wir haben Wirtschaftswachstum, wir haben Preisstabili-tät, wir haben ein steigendes Einkommen der Arbeitneh-mer, wir haben einen hohen Beschäftigungsstand.
In anderen Ländern Europas fragt man mich: Wie machtihr das? Wir wären froh, wenn wir in der Situation wä-ren, in der Deutschland jetzt ist. – Diese Bundesregie-rung hat die Voraussetzung dafür geschaffen, dass dieEntwicklung so positiv verlaufen konnte. Das ist einFaktum. Jetzt sorgen wir dafür, dass auch in Zukunft dieEntwicklung positiv verläuft. Das ist doch das Entschei-dende.
Auf dem Arbeitsmarkt verzeichnen wir einen Rekord-stand. Die Einkommen steigen. Die Schuldenbremsewird eingehalten, und das vier Jahre, bevor sie eingehal-ten werden müsste. Im Jahr 2014 werden wir einenstrukturell ausgeglichenen Haushalt haben. Das wardoch gar nicht vorauszusehen.Ich möchte daran erinnern, was der Kollege Lindnervorhin zitiert hat: Der fabelhafte Herr Walter-Borjans inNordrhein-Westfalen wirbt jetzt dafür, die Schuldendurch Inflation zu bekämpfen. Das ist die unsozialstePolitik, die man sich vorstellen kann.
Inflation belastet diejenigen, die fixe Einkommen haben,die ihre Einkommen nicht anpassen können. Inflationbelastet außerdem die Sparer, deren Sparvermögen ent-wertet wird. Das können wir doch nicht zulassen. Daskann auch gar nicht ernst gemeint sein.Obwohl es im Umfeld, insbesondere in Europa, aber inden letzten Monaten auch in Asien und in den USA, zu ei-ner schwachen Rezession gekommen ist – in Europaschon zu einer stärkeren –, geht es Deutschland gut. Dasist doch das Herausragende. Und jetzt zieht die Kon-junktur in Asien, in China und neuerdings auch in denVereinigten Staaten wieder an, sodass wir eine steigendeExportnachfrage und damit eine positive Entwicklungerwarten können. Das wird dazu beitragen, dass wir ausder leichten Depression, in der wir im letzten Quartalwaren, wieder herauskommen und in ein steigendesWachstum hineinkommen.Wo liegen eigentlich die Risiken? Die Risiken liegenin der zu geringen Investitionsquote in Deutschland. In-vestiert wird nur, wenn man Vertrauen hat. Es gelingt derBundesregierung mit vereinten Kräften – insbesondereder Bundeskanzlerin in Europa –, Stabilität wiederherzu-stellen, was den Euro anbetrifft, und das wird Vertrauenzurückbringen.Das zweite Risiko liegt in den Bundestagswahlen.Denn die Menschen haben die Sorge,
dass das, was Sie ihnen versprechen, nämlich Steuerer-höhungen in voller Bandbreite, realisiert wird. Das, wasder Kollege Fuchs gesagt hat, stimmt genau: Die Ein-kommensteuer ist die Betriebsteuer für den Mittelstand.Wenn Sie die Einkommensteuer anheben – man mussbedenken, dass die mittelständischen Unternehmen fastdie gesamten Gewinne reinvestieren –, dann geht das zu100 Prozent zulasten der Investitionsquote. Die Investi-tionen von heute sind die Arbeitsplätze von morgen.Wenn Sie die Investitionen erschweren, dann sorgen Siefür Arbeitslosigkeit in der Zukunft. Das können Sie sicheinmal hinter den Spiegel stecken.
Man muss erreichen, dass die Unternehmen investieren.Das erreicht man nicht durch Belastung, sondern durchEntlastung und Flexibilisierung der Rahmenbedingun-gen für Investitionen in der Wirtschaft.Weil Ihnen jetzt nichts anderes mehr einfällt, HerrSteinbrück, kommen Sie jetzt auf die Steuerhinterzie-hung,
als ob Deutschland ein Land von Steuerhinterziehernwäre. Also, das muss ich mit allem Nachdruck zurück-weisen. Die Deutschen zahlen ehrlich ihre Steuern.
Es gibt wie immer und überall Ausnahmen. Aber dieLeute, die Geld beispielsweise in die Schweiz gebrachthaben, werden jetzt von Ihnen geschont:
Sie haben das Abkommen mit der Schweiz verhindert.
Wenn das realisiert worden wäre, hätten sie nicht nur inZukunft, sondern auch für die Vergangenheit Steuernzahlen müssen. Weil Sie das verweigert haben, sind Sieder Schutzpatron der Steuerhinterzieher.
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26760 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Hermann Otto Solms
(C)
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Wenn Sie sich jetzt hingegen in der Öffentlichkeit alsderjenige präsentieren, der die Steuerhinterziehung be-kämpfen will, dann ist das nun wirklich doppelte Moral;das ist doppelzüngig.
– Sie wissen genau, dass das ein Fehler war; denn Siesind in diesem Zusammenhang viel zu informiert undgescheit. Da hat Ihnen Herr Walter-Borjans wirklich ei-nen Tort angetan.
Das ist nicht nur falsch; das ist eine absolute Dummheit.Es perpetuiert die Steuerungerechtigkeit, mit der wir eshier zu tun haben.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Die Kollegin Kerstin Andreae ist die nächste Redne-
rin für Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrter Herr Rösler, der Titel des Jahreswirt-schaftsberichts lautet: „Wettbewerbsfähigkeit – Schlüs-sel für Wachstum und Beschäftigung in Deutschland undEuropa“. Und was ist das Hochrelevante für unsereWettbewerbsfähigkeit in den nächsten Jahren? Es ist dieFrage, ob wir in der Lage sind, die Energiewende zuschaffen. Das Energieeinspeisegesetz, das EEG, schufdie Grundlage für das große industrielle Projekt der letz-ten Dekade. Das ist zukunftsorientierte Industriepolitik,wie wir sie brauchen. Das schafft Arbeitsplätze, dasschafft neue Märkte, das schafft Zukunft, und das ist vorallem auch umweltpolitisch sinnvoll. Deswegen sageich: Ja, wir müssen das EEG reformieren; aber wir müs-sen es nicht abschaffen und vor allem nicht durch einQuotenmodell ersetzen.
Anstatt dass der Wirtschaftsminister hergeht und sagt:„Wir nutzen die Energiewende als großen Konjunktur-push, um hier wirklich etwas voranzubringen“, stellt erdas Quotenmodell in den Raum, das in anderen Länderngescheitert ist und dessen Umsetzung zur Folge hätte,dass Windenergie onshore gefördert würde, was einengigantischen Netzausbau nach sich ziehen würde undvor allem unseren Vorsprung bei Innovationen, unserentechnologischen Vorsprung bei weltweit nachgefragtenEnergieprodukten, kaputtmachen würde. Das ist nichtdas, was ein Wirtschaftsminister leisten muss. Er mussvorangehen bei diesem Thema.
Natürlich sind die Kosten der Energiewende ein äu-ßerst wichtiges Thema. Nichts treibt die Unternehmengerade mehr um als die Frage der Entwicklung der Ener-giepreise. Im Übrigen ist das auch für die privaten Haus-halte ein großes Problem.Dann muss man aber fair bleiben und für eine faireVerteilung sorgen. Was erleben wir aber? Wir erlebeneine enorme Schieflage. Die Großunternehmen werdenimmer weiter befreit, während die kleinen und mittel-ständischen Unternehmen sowie die Privaten diese Be-freiung bezahlen müssen. Gleiches gilt für die Netzent-gelte.Wir haben es ausgerechnet, und das können Sie sichgenau anschauen. Wenn wir das zurückfahren und dieAusnahmen auf die Unternehmen begrenzen, die ener-gieintensiv produzieren und die wirklich im internatio-nalen Wettbewerb stehen, dann können wir ein Einspar-volumen von 4 Milliarden Euro erzielen. Das senkt dieEnergiepreise für Mittelständler und Privathaushalte.
Nach wie vor herrscht große Unsicherheit aufgrundder europäischen Entwicklung. Die Krise hat und hatteEuropa fest im Griff. Dann griff die EZB ein. Das warnicht die beste Lösung. Die EZB musste aber eingreifen,weil die Bundesregierung nicht zu einem entschiedenengemeinsamen europäischen Vorgehen in der Lage war.Erst durch das Eingreifen der EZB haben sich die Fi-nanzmärkte beruhigt.Überwunden ist die Eurokrise aber noch lange nicht.Das weiß auch der Wirtschaftsminister. Denn im Jahres-wirtschaftsbericht steht als Begründung für diese Wahl-kampfzahl „1,6 Prozent im nächsten Jahr“:Als zentrale Annahme über den Fortgang derSchuldenkrise wird unterstellt: Es kommt zu keinerweiteren negativen Entwicklung, in deren Folge dieVerunsicherung der Marktteilnehmer steigt.
Diese Annahme wird zugrunde gelegt für die Pro-gnose des Wirtschaftswachstums von 1,6 Prozent. Wennman das aber zugrunde legt, dann muss man auch etwasdafür tun.
Sie sprechen vom Fiskalpakt. Zentral bei den Ver-handlungen des Fiskalpakts war aber nicht nur, dass dieSchuldenbremse in den Ländern implementiert wird,sondern zentral war vor allem, dass wir gesagt haben:Wir brauchen Investitionen zur wirtschaftlichen Ent-wicklung in den Ländern.Wir – SPD und Grüne – haben in zähen Verhandlungenmit Ihnen durchgesetzt, dass die Finanztransaktionsteuerkommt, dass Investitionen in Schiene, Energienetze undDatentransfer getätigt werden, dass Maßnahmen gegenJugendarbeitslosigkeit und Maßnahmen für mehr Ener-gieeffizienz ergriffen werden.Was sehen wir jetzt aber? Vereinbarte Maßnahmenwerden nicht oder nur schleppend umgesetzt. Am ekla-
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tantesten zeigt sich das meines Erachtens bei der Frageder Energieeffizienzrichtlinie.
Alle – vor allem Mittelstand und Handwerk – wollen dieEnergieeffizienzrichtlinie. Was aber unternimmt dasWirtschaftsministerium? Es arbeitet an Studien, die derFrage nachgehen, wie man um diese Energieeffizienz-richtlinie herumkommen kann, anstatt zu sagen: Ja, wirnehmen das als Konjunkturpush zur wirtschaftlichenEntwicklung für unseren Mittelstand und für unserHandwerk.
Jetzt wende ich mich den Linken zu. Dabei bitte ichdringend um Ihre Aufmerksamkeit. Für die Menschen inden Krisenländern ist die Situation teilweise wirklicheine Katastrophe. Die Probleme wie zum Beispiel diehohe Arbeitslosigkeit und massive Einsparungen treibenuns alle um. Wir müssen aufpassen, dass die Menschenihre Hoffnung in Europa und ihren Glauben an die Wir-kung von Strukturreformen nicht verlieren.Es geht aber nicht an, dass Ihr Oskar Lafontaine imMorgenmagazin uns alle in Haftung nimmt für persönli-che Dramen bis hin zu Selbstmorden. Das ist schäbigerPopulismus und absolut inakzeptabel.
Herr Rösler, Sie sagen, Haushaltskonsolidierung seizentral für Wettbewerbsfähigkeit. Das stimmt. Die Bun-desregierung lobt sich für eine weiter sinkende Neuver-schuldung. Damit haben Sie aber gar nichts zu tun.Tatsache ist, dass Sie erstens viel weniger eingesparthaben, als Sie Zuwächse an Einnahmen hatten. ZweiteTatsache ist, dass Sie im Augenblick nur aufgrund derniedrigen Zinsen einen solchen Haushalt vorlegen kön-nen, wie Sie ihn vorlegen. Dritte Tatsache ist, dass Siedie Kassen der Sozialversicherung um fünf MilliardenEuro geplündert haben. Die Bundesagentur für Arbeitsagt Ihnen: Uns fehlen die Gelder, um die Kurzarbeit zufinanzieren, uns fehlen die Gelder für die Förderung derLangzeitarbeitslosen. – In Bezug auf den Konsolidie-rungsbeitrag gibt es nichts, wofür Sie sich auf die Schul-ter klopfen könnten.
In Zukunft wird es nicht mehr nur um die Frage ge-hen: Wie hoch ist die Neuverschuldung? Vielmehr gehtes um die Frage: Sind wir in der Lage, den Schuldenbergabzubauen? Sie sagen immer – nicht nur sonntags, son-dern auch montags bis samstags –: Der Abbau vonSchulden ist wichtig. Dann verraten Sie uns doch ein-mal, wie Sie das machen wollen. Wo ist denn Ihr Vor-schlag, wie wir von diesem Schuldenberg herunterkom-men können?
Sie haben kein Konzept. Aber Sie wagen es allen Erns-tes, uns für den Vorschlag, eine Vermögensabgabe einzu-führen, anzugreifen. Zum ersten Mal legt jemand einKonzept vor, das zeigt, wie man von dem Schuldenbergvon über 80 Prozent des Bruttoinlandsprodukts herunter-kommt. Wir reißen die Kriterien von Maastricht doch je-des Jahr. Sie haben keinen Vorschlag, was man dagegentun könnte. Hören Sie also auf, uns Vorschriften zu ma-chen!
Das nächste Sparschwein, das Rösler schlachten will,ist die KfW. Sie wollen ohne Rücksicht auf die anstehen-den Aufgaben, die auf die KfW zukommen, im nächstenJahr 1 Milliarde Euro herausnehmen. Ich warne Sie: Öff-nen Sie nicht die Büchse der Pandora! Sie dürfen es garnicht. Es ist gesetzlich nicht erlaubt, dass Sie sich an denErträgen der KfW bedienen. Das ist auch richtig so.Lernen Sie von Mappus! Mappus hat irgendwann inder Endphase seiner Regierungszeit als Ministerpräsi-dent in Baden-Württemberg sogar unterjährig die För-derbank in Baden-Württemberg geschröpft. Sie wissen,was aus Mappus geworden ist. Grundsätzlich ist es ein-fach falsch: Wir brauchen diese Förderbank für die Mit-telstandsfinanzierung und für Energiemaßnahmen. Ichsagen Ihnen: Hände weg von der KfW!
Über Weihnachten hat der Wirtschaftsminister nocheine Sau durchs Dorf getrieben: Privatisierung. Ganztoll! Durch Privatisierung die Neuverschuldung schnel-ler abzubauen, das ist ein Märchen aus Absurdistan. EinTeil der Privatisierung, die Sie in den Raum gestellt ha-ben, wird schon seit langem gemacht. Aber entscheidendist doch, dass wir hier – im Übrigen in einem, wie ichwahrgenommen habe, sehr breiten Konsens – dafür ent-schieden haben, dass die Bahn nicht privatisiert wird,weil es eine Aufgabe der Daseinsvorsorge ist und weildas Schienennetz ein natürliches Monopol ist.
Lassen Sie die Hände weg! Da irrt der OrdnungspolitikerRösler gewaltig.Mich interessiert, ob die Sozialministerin in diesemBericht ebenso herumgestrichen hat, wie Sie es im Ar-mutsbericht getan haben.
Was Sie sich da geleistet haben, das war schon grandios.Man kann Armut nicht dadurch bekämpfen, indem mansie aus einem Bericht herausstreicht. Das funktioniertnicht.
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Was wurde denn verändert zwischen Entwurf und Ab-schluss? Die Lohnuntergrenze ist raus, der Schutz vonatypischen Beschäftigungsverhältnissen ist raus, es wirdnicht mehr überprüft, wie sich das Betreuungsgeld aufdie Erwerbstätigkeit von Frauen auswirkt, und es sollauch nicht mehr geprüft werden – nicht einmal nur ge-prüft werden! –, ob privater Reichtum stärker zur Finan-zierung öffentlicher Aufgaben herangezogen werdensollte. All das ist draußen. Dabei wissen wir: 1,4 Millio-nen Menschen beziehen ergänzendes Arbeitslosengeld II.Statt hier sinnvoll gegenzusteuern, weiten Sie die Nied-riglohnfalle Minijobs weiter aus.Der Gedanke, dass Menschen von ihrem Lohn lebenkönnen müssen und dass das etwas mit Menschwürde zutun hat, trägt sich inzwischen auch weit in diese Koali-tion hinein. Wer es verhindert, ist die FDP mit ihremWirtschaftsminister. Machen Sie den Weg frei für einegesetzliche Lohnuntergrenze! Das werden Ihnen im Üb-rigen auch viele Mittelständler danken.Eines kann ich Ihnen versprechen: Nach der Bundes-tagswahl 2013 werden wir einen Mindestlohn einführen,und vor allem werden wir die Energiewende zum Kon-junkturprogramm für Deutschland und für Europa ma-chen.Herzlichen Dank.
Das Wort zu einer Kurzintervention erhält der Kol-
lege Schlecht.
Frau Andreae, Sie sind auf die Folgen der deutschen
Politik in den südeuropäischen Ländern wie Griechen-
land eingegangen. Ich selbst war im Oktober in Athen.
Das war der Tag, an dem auch die Kanzlerin dort unter-
wegs war. Wir haben ein Kinderkrankenhaus besucht. In
diesem Kinderkrankenhaus ist uns vom Leiter der psych-
iatrischen Abteilung mitgeteilt worden, dass eine der
Folgen der Veränderungen des desaströsen Kurses, der
dort gefahren wird, darin besteht, dass die Anzahl der
Kinder, die bei ihnen mit Depressionen und anderen
derartigen psychiatrischen Erkrankungen eingeliefert
werden, dramatisch gestiegen ist. Uns ist auch berichtet
worden, dass der Anteil der Kinder – wohlgemerkt: Kin-
der –, die Suizid begehen, deutlich angestiegen ist. Das
ist wirklich eine der skandalösesten und dramatischsten
Folgen dieser Politik. Das, was in den südeuropäischen
Ländern, vor allen Dingen in Griechenland, passiert ist,
ist Folge der Kürzungsauflagen, ist Folge der bestiali-
schen Politik, die maßgeblich von Deutschland, auch
vom Deutschen Bundestag ausgeht. Sie drückt sich in
solch zugespitzten Situationen aus. Für diese Folgen
trägt die Regierung, aber auch SPD und Grüne, die die-
sen ganzen sogenannten Maßnahmen mit übergroßer
Mehrheit zugestimmt haben, Verantwortung. Insofern
zieht die deutsche Politik mittlerweile mindestens durch
Südeuropa eine breite Blutspur, und das ist ein Skandal.
Zur Erwiderung Frau Andreae, bitte sehr.
Herr Kollege, ich hatte eigentlich gehofft, dass Sie sa-
gen, dass Sie durchaus anerkennen, dass uns dies alle
umtreibt. Mit Ihrem letzten Satz haben Sie das aber ka-
puttgemacht. Ja, uns alle treibt um, wie es den Menschen
in Griechenland und in den anderen Krisenländern geht.
Und ja, diese Berichte sind erschreckend. Aber stellen
Sie sich bitte die Frage: Was wäre gewesen, wenn wir
Griechenland nicht geholfen hätten? Und stellen Sie sich
die Frage: Wie bekommen wir die griechische Regie-
rung dazu, dass sie in ihrem Land endlich Strukturrefor-
men vollzieht, dass sie bessere Einnahmen erzielt, dass
sie an die Besitzer der Jachten herangeht, dass sie die
Steuerpolitik überarbeitet? All das müssen wir jetzt ma-
chen, und zwar gemeinsam. Mit diesem populistischen
Vortrag spalten Sie. Man kann sich in der Sache streiten:
Ist das die richtige oder die falsche Maßnahme? Was
man aber nicht machen darf, ist, auf dem Rücken der
Menschen, die wirklich extrem leiden, billigen Wahl-
kampf zu machen. Wer von „Blutspur“ und Haftung für
Selbstmorde spricht, macht billigen Wahlkampf.
Das Wort erhält nun die Kollegin Nadine Schön fürdie CDU/CSU-Fraktion.
Nadine Schön (CDU/CSU):Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Jahreswirtschaftsbericht 2013 – das klingt tro-cken, wissenschaftlich und abstrakt. Das klingt nachZahlen und Diagrammen. An der lebhaften Debatteheute Morgen merkt man aber, dass mehr dahintersteckt,dass das ein besonderer Bericht ist. Das Besondere andiesem Bericht ist, dass er ein Indikator dafür ist, wie esden Menschen in unserem Land geht. Er lässt Rück-schlüsse zu, wie die Menschen in unserem Land konkretleben, wie sich die Lebensbedingungen verändern, wiewir im Konzert der europäischen Nachbarstaaten daste-hen.
Hinter all den abstrakten Zahlen, die dem Bericht zu-grunde liegen, stehen Menschen. Dahinter stehen Le-bensbedingungen und reelle Lebenssituationen. Hinter allden Zahlen und Diagrammen steht eine Botschaft – auchwenn Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von der Op-position, diese Botschaft nicht gerne hören –: Seit dieseKoalition regiert,
geht es den Menschen besser. Seit Angela Merkel in die-sem Land Verantwortung trägt, geht es den Menschen
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besser. Es hat sich vieles zum Besseren verändert. Genaudeswegen vertrauen die Menschen dieser Koalition unddieser Bundeskanzlerin.
41,6 Millionen Beschäftigte –
das sind 41,6 Millionen Menschen, die wissen, dass siesich ihren Lebensunterhalt selbst verdienen können, dieselbst ihres Glückes Schmied sind. Diese Menschen wis-sen, weshalb sie morgens aufstehen. Das sind 41,6 Mil-lionen Menschen, so viele wie noch nie seit der Wieder-vereinigung.Die Jugendarbeitslosigkeit war im November mit8,1 Prozent die geringste in ganz Europa. Die meistenjungen Menschen in Deutschland haben einen Job. Dassind Tausende junger Menschen, die sich ihre Zukunftselbst aufbauen, die sich mit ihrem eigenen Geld ihreWünsche, ihre Träume erfüllen können.
500 Milliarden Euro – auch diese Zahl ist wichtig. Indieser Höhe exportiert unser Land Güter in alle Welt,Güter und Produkte, die von klugen Köpfen in unseremLand entwickelt worden sind, die von fleißigen Men-schen produziert worden sind. Dahinter stehen TausendeUnternehmer. Das sind Unternehmer, die den Weg in dieSelbstständigkeit gegangen sind und Verantwortung fürsich und für ihre Mitarbeiter übernommen haben. Sie ha-ben Mut, Risiken in Kauf zu nehmen, die Zukunft zu ge-stalten und anderen Menschen einen Arbeitsplatz zu er-möglichen. Hinter all diesen Zahlen stehen Menschen,Schicksale und Lebensbedingungen. Diese Zahlen sa-gen: Den meisten Menschen in unserem Land geht esgut.
Liebe Kollegen, gerade weil es um Menschen geht,muss man bei der Betrachtung der wirtschaftlichen Lageselbstverständlich auch kritisch auf das schauen, wasnicht so gut ist; denn auch davon sind Menschen betrof-fen. So etwa die Beschäftigten im Niedriglohnbereich.Natürlich sind das noch zu viele. Weiter gilt das für dieEinkommensunterschiede zwischen Mann und Frau. Diesind noch zu groß. Das kann uns nicht zufriedenstellen,und deshalb arbeitet diese Regierung mit Hochdruck da-ran, dass das weiter besser wird.
Falsch ist es allerdings, die Zahlen zu verallgemei-nern. Es war wirklich ärgerlich, dass Sie sich heute Mor-gen hier hingestellt und ein Bild von Deutschland gemalthaben, das – nur weil Sie alles verallgemeinern – raben-schwärzer nicht sein könnte. Es ist falsch, zu sagen, dassvorwiegend prekäre Beschäftigung geschaffen wird unddass überwiegend Minijobs dazugekommen sind. ImGegenteil: In Deutschland entstehen in erster Linie so-zialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse.
In erster Linie entsteht gute Arbeit in Deutschland. Da-bei geht es um gute Jobs, nicht um Minijobs. Natürlichsteigt auch die Zahl der Minijobs, wenn die Anzahl derBeschäftigten insgesamt steigt. In weit überwiegendemMaße aber entstehen zur Zeit sozialversicherungspflich-tige Arbeitsverhältnisse. Das sind gute Arbeitsplätze,echte Jobs. Darauf können wir stolz sein.Es ist auch falsch, zu sagen, dass der Niedriglohnsek-tor explodiert. Das Gegenteil ist der Fall. Die Wahrheitist nämlich, dass unter Gerhard Schröder der Niedrig-lohnsektor zugenommen hat. Seit die CDU regiert, gehter zurück. Das ist die Wahrheit. Sie sollten da auch mitIhren Darstellungen bei der Wahrheit bleiben.
Im Übrigen ist nicht alles, was Sie als prekär bezeich-nen, wirklich prekär.
Wollen Sie etwa dem Studenten, der einen Minijob hat,sagen, dass er prekär beschäftigt sei? Oder können Siedas etwa dem Rentner sagen, der sich nebenher noch et-was dazuverdient, indem er beim Nachbarn den Rasenmäht?
Ich will die Probleme, die es im Niedriglohnsektor, beiZeitarbeit und bei geringfügiger Beschäftigung gibt,nicht kleinreden. Das Horrorszenario aber, das Sie, liebeKollegen der Opposition, hier heute gemalt haben, ent-spricht schlicht nicht der Realität.
Noch ein Wort zum Thema Löhne. Auch hierzu habenSie wieder Horrorszenarien gemalt. Die Wahrheit ist:Seit wir an der Regierung sind, steigen die Löhne inDeutschland. Jahrelang sind sie immer nur gesunken.Seit drei Jahren aber steigen die Löhne in Deutschland.Die Frankfurter Rundschau hat gestern getitelt: „Auf-schwung begünstigt Arbeiter“. Das ist wahr. Vom Auf-schwung in Deutschland profitieren die Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer. Das ist die Wahrheit.
Für den Arbeitnehmer ist allerdings nicht nur interes-sant, was er verdient, sondern vor allem auch, was er da-von später in der Tasche hat. Seit die CDU an der Regie-rung ist, haben die Menschen mehr in ihrer Tasche. DerArbeitnehmer hat im letzten Jahr durchschnittlich550 Euro mehr verdient. Er hätte im nächsten Jahr nochmehr in der Tasche haben können. Das wäre nämlich derFall gewesen, wenn Sie im Bundesrat unsere Pläne zurBekämpfung der kalten Progression nicht verhindert hät-ten.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn heute ein Ar-beitnehmer eine Lohnerhöhung bekommt, wird sie nichtselten durch die kalte Progression bei der Steuer kom-plett aufgefressen. Das ist es, was wir gerne abschaffenwollen, was Sie aber im Bundesrat verhindert haben.Wegen Ihrer Blockadehaltung im Bundesrat sind Sie da-für verantwortlich, dass die Lohnerhöhungen derjenigen,die sich anstrengen, weiter von der Steuer aufgefressenwerden. Wir wollten Leistung belohnen, Sie haben dasverhindert. Auch diesen Vorwurf müssen Sie sich gefal-len lassen. Sie können sich deshalb nicht hier hinstellenund über kleine Löhne sowie mangelnde Möglichkeitenklagen, in diesem Land Geld auszugeben.Mit der Blockadehaltung im Bundesrat haben Sieauch verhindert, dass die Binnenkonjunktur weiter ge-stärkt wird. Sie haben sich heute Morgen hier hingestelltund haben gesagt: Wir müssen unbedingt etwas für dieStärkung der Binnenkonjunktur machen. Auf der ande-ren Seite verhindern Sie im Bundesrat aber alles, was dieBinnenkonjunktur stärken würde, etwa die Abschaffungder kalten Progression oder auch das Gebäudesanie-rungsprogramm. Das wäre ein wirkliches Konjunktur-programm für unser Handwerk gewesen. Sie aber habensich dazu im Bundesrat verweigert. Deshalb kann ich anSie nur appellieren: Es bringt nichts, hier nur zu redenund zu sagen, dass wir die Binnenkonjunktur stärkenmüssen. Wenn es konkret wird, müssen Sie auch mit da-bei sein. Sie müssen da mitmachen. Damit können Sieetwas für unser Land tun. Vielleicht, liebe Kollegen,lenkt das dann auch ein wenig von Redehonoraren,Weinpreisen oder auch Eierlikör ab.
Es ist Fakt, dass Deutschland zurzeit sehr gut dasteht.Fakt ist aber auch, dass wir zurzeit konjunkturell in einerSchwächephase sind. Das ist auch klar; denn als export-starke Nation bleiben wir nicht unverschont von denEntwicklungen auf den Weltmärkten und in Europa.Deshalb stehen wir vor zwei Herausforderungen: Zumeinen müssen wir in Europa wieder auf Wachstumskurskommen; die Kollegen haben einiges dazu gesagt. Es istrichtig, dass wir die Euro-Stabilisierung und auch dieStrukturmaßnahmen in der EU vorantreiben. Zum ande-ren müssen wir selbst stark bleiben.Die Parameter dafür sind genannt. Wir brauchen ei-nen soliden Haushalt. Denn auf Schulden kann mankeine Zukunft bauen. Wir brauchen eine gute Infrastruk-tur, Rohstoffe und bezahlbare Energie.
Wir brauchen wachstumsfördernde Rahmenbedingun-gen. Wir brauchen Fachkräfte: Junge, Alte, Frauen undMänner, Menschen mit und ohne Migrationshintergrund.Um sie alle müssen wir werben.
Wir brauchen kluge Köpfe, und wir machen dazu dierichtige Politik.
Schließlich brauchen wir Innovationen. Denn derSchlüssel zum Erfolg liegt in der Innovation. Deutsch-land ist das Land der Ideen, der Innovationen. Deutsch-land war schon immer eine Innovationsschmiede in derWelt. Aus Deutschland kommen der Hybrid und dasMP3-Format. Der Computer wurde in Deutschland er-funden. Unser Maschinenbau ist weltweit bekannt. Wirsind das Land der Ideen, und wir wollen, dass aus denIdeen Produkte werden, dass aus den Ideen Wertschöp-fung wird.Mir fehlt die Zeit, noch länger darauf einzugehen. Da-her nur so viel: Ideen und Innovationen entstehen dort,wo investiert wird. Auch das tun wir. Noch nie wurde soviel in Bildung und Forschung investiert wie unter dieserRegierung. Gerhard Schröder hatte es zwar groß ange-kündigt und sich vorgenommen, gemacht hat er es abernicht. Gemacht hat es erst die CDU-geführte Bundesre-gierung. Wir investieren mittlerweile 2,9 Prozent desBruttoinlandsprodukts für Bildung und Forschung. Da-mit liegen wir im Spitzenbereich in Europa. Das istwirklich Investition in Köpfe. Das ist Investition inIdeen. Das ist Investition in unsere Zukunft, und das istdie richtige Politik.
Ich bin überzeugt: Wir haben die richtigen Weichengestellt, dass es Deutschland und den Menschen in unse-rem Land gut geht, dass es ihnen besser geht. Der Jahres-wirtschaftsbericht gibt Zeugnis davon. Ich bin sicher,dass wir diesen Kurs auch in Zukunft weiterfahren wer-den. Wir nehmen die Herausforderungen an. Ich kannIhnen nur empfehlen, uns auf diesem Weg zu begleiten.Denn er ist gut für Deutschland und gut für die Men-schen in unserem Land.
Das Wort erhält nun der Kollege Wolfgang Tiefensee
für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! 115 SeitenBundeswirtschaftsbericht – ich will ihn einmal in fünfSchlagworten zusammenfassen. Deutschland geht esgut.
Die Bundesregierung hat daran keinen Anteil.
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Wolfgang Tiefensee
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Die Konjunktur trübt sich in Europa und zunehmendauch in Deutschland ein.
Die Bundesregierung hat kein Konzept, wie sie dagegenvorgehen soll.
Fünftens. Es wird Zeit, dass wir eine aktive Wirtschafts-politik mit einer anderen Regierung machen.
Sehr verehrter Herr Minister, ich habe Sie zum erstenMal in Niedersachsen, in Hannover erlebt. Wir hattenauf der Hannover Messe ein gutes Gespräch geführt; Sieentsinnen sich vielleicht. Ich persönlich bin erschrockendarüber, welche Wandlung in Ihnen vorgegangen ist. Wirhaben einen Wirtschaftsbericht, der schönfärbt, der dieProbleme nicht beim Namen nennt
und der vor allen Dingen voll von Zielstellungen ist undkeine Konzeption aufweist, wie wir dieses Land dort, woes im Umfeld schwieriger wird, tatsächlich stabilisierenkönnen. Fehlanzeige!Ein Wirtschaftsbericht ist eine Momentaufnahme.Entscheidend ist: Wo kommen wir her, und wo gehenwir hin? Ist es eine aufsteigende oder eine absinkendeLinie? Darauf muss man reagieren. Zuerst bedarf es ei-ner Analyse, warum es Deutschland gut geht. Es gehtDeutschland gut – Sie schreiben es in Ihrem Geleit-wort –, weil wir leistungsstarke Menschen und Unter-nehmen haben. Deutschland hat aber keine leistungs-starke Bundesregierung. Sie bauen mit Ihrer Politik aufden Maßnahmen auf, die unter Rot-Grün und in der Gro-ßen Koalition eingeleitet worden sind, und heften sichden Erfolg ans Revers.Was waren das für Maßnahmen? Zunächst einmal ha-ben die Unternehmen umstrukturiert. Von dieser Stelleaus sollte man noch einmal denjenigen danken, die dieZeichen der Zeit Anfang der 2000er-Jahre erkannt ha-ben.
Wir haben Arbeitsmarktreformen durchgeführt und da-für gesorgt, dass in der schwierigen Zeit 2008/2009 dasKurzarbeitergeld eingeführt wurde; das hat die Unter-nehmen stabilisiert. Ich durfte damals die Konjunktur-programme für den Bereich Verkehr und Bau schreiben,und wir haben sie gemeinsam durchgesetzt.
Das sind die Grundlagen dafür, dass es uns jetzt gut geht.
Sie sind die Nutznießer der Vorräte, die andere angelegthaben; das ist das Erste.
Das Zweite. Wir befinden uns momentan in einer kri-tischen Situation, und zwar deshalb, weil Deutschland inEuropa eingebettet ist und es Deutschland selbst in die-sem und im nächsten Jahr nicht so gut geht. Denken Siezum Beispiel an die Aussagen des DIW. Das DIW sagt,dass es frühestens 2014 wieder zu einer Konjunkturbele-bung kommen wird. Fragen Sie auch einmal Unterneh-mer – und zwar nicht nur Verantwortliche in großen Un-ternehmen, sondern auch Mittelständler –, wie sie dieZukunft sehen. Sie prognostizieren ein Dreijahrestief.Oder nehmen Sie die Aussagen der Weltbank. Die Welt-bank spricht davon, dass bis 2014 ein deutlicher Ab-schwung zu verzeichnen sein wird. Was tut die Bundes-regierung dagegen? Nichts! Sie ruht sich aus und hofft,dass der lange Bremsweg durch die vorangegangenenMaßnahmen schon ausreichen wird. Von einer Dellebzw. einer vorübergehenden Schwäche zu sprechen, wieSie, Herr Minister Rösler, es in Ihrem Bericht tun, hilfthier nicht weiter.Ich will kurz einige Bereiche aufzählen, in denen wirdringend ein Umsteuern brauchen.Zunächst zur Investitionstätigkeit. Wir stellen fest – esist bereits angeklungen –: Die Ausrüstungsinvestitionensind im Laufe des letzten Jahres um 4,4 Prozent gesun-ken. Das, so schreiben Sie ehrlich in Ihrem Bericht, hatetwas mit mangelndem Zutrauen zu tun. Was tun Siealso, um eine Exportnation zu stabilisieren und Investi-tionen zu ermöglichen bzw. zu festigen? Sie gehen andie GRW. Die Mittel für diese Gemeinschaftsaufgabewurden gekürzt. Dabei geht es um die Förderung struk-turschwacher Regionen und die Förderung von Unter-nehmen, die dringend investieren müssen. Sie wissen,dass die Strukturförderung der EU zurückgeht. Sie wis-sen auch, dass wir dunkle Wolken am Horizont sehen,nicht zuletzt in Ostdeutschland. Aber was tun Sie? Siekürzen diese Mittel.Ein anderes Beispiel ist die in Ihrer Koalitionsverein-barung verankerte steuerliche Forschungsförderung.Fehlanzeige! Es ist nichts zu sehen.Zu einem weiteren schwierigen Thema, Herr Rösler.Investitionen kommen zustande, wenn wir exportieren.Wenn Sie aber die südeuropäischen Länder verunsichern
und in Griechenland, Spanien, Italien und Portugal keineWachstumsimpulse setzen, sondern über einen Ausstiegdieser Länder aus der Euro-Zone schwadronieren, dannbrauchen Sie sich nicht zu wundern, dass dort keineKaufkraft entsteht und dass dort nicht investiert wird.Ein solches Verhalten ist sträflich, auch für Deutschland,und es ist eines Wirtschaftsministers nicht würdig.
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Zum Stichwort „Investitionen“ gehört ein weitererAspekt. Dabei geht es nämlich auch um die Arbeits-kräfte, die unsere Werte schaffen. In dem Bericht, denSie uns vorgelegt haben, steht nahezu nichts zu der fürDeutschland – aber nicht nur für Deutschland – elemen-taren und existenziellen Frage: Wie gehen wir eigentlichmit unserem Fachkräftebedarf um? Auch dies ist einwichtiges Thema.Sie wissen genau, dass wir in Zukunft Frauen undMänner, junge Leute und ältere Arbeitnehmer brauchen.Aber was tun Sie, damit Familie und Beruf besser zuvereinbaren sind? Sie führen ein Betreuungsgeld ein undbelasten damit die Kassen. Das Betreuungsgeld mussweg! Es ist das genaue Gegenteil dessen, was wir brau-chen, um Fachkräfte für unsere Wirtschaft zu gewinnen.
In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht lese ich, dass dieMeinungsbildung über eine einheitliche gesetzliche Lohn-untergrenze noch nicht abgeschlossen sei. Das ist einefromme, eine kindliche Umschreibung für die Tatsache,dass Sie sich in einem für Deutschland wichtigenThema, nämlich der Frage eines gesetzlichen Mindest-lohns, nicht einigen können.
Lösen Sie endlich die Blockaden und führen Sie als un-terste Haltelinie einen allgemeinen gesetzlichen Min-destlohn in Ost und West ein! Dann kann die unsäglichePraxis der Aufstockerei, die ja eine Belastung der Steu-erzahlerinnen und Steuerzahler mit sich bringt, ein Endehaben.
Jedes Jahr verlassen 50 000 Jugendliche die Schuleohne Ausbildung. Die Bundesagentur für Arbeit pro-gnostiziert, dass wir mit relativ einfachen Maßnahmen5,2 Millionen zusätzliche Arbeitskräfte generieren könn-ten. In Ihrem Jahreswirtschaftsbericht steht dazu nichts.Lassen Sie mich schließlich zu einem weiteren wich-tigen Thema kommen, der Energiewende. Dieses Mega-projekt, das von Rot-Grün angeschoben wurde, ist beiIhnen in schlechten Händen. Sie haben von den dreiwichtigen Zielen gesprochen: Wir wollen zum Erstenden CO2-Ausstoß minimieren, den Klimawandel verhin-dern, erneuerbare Energien einführen. Wir wollen zumZweiten die Versorgungssicherheit garantieren, und wirwollen zum Dritten, dass die Energiewende bezahlbarbleibt.Fangen wir am Ende an: Sie haben es mit einer unsäg-lichen Politik geschafft, dass die Risiken des Netzaus-baus beim Privatkunden und beim kleinen Mittelstandlanden. Ihre Ministerin Aigner – Bayern, CSU – hatjetzt, wie ich hören musste, den Vorschlag gemacht, wirsollten die Netze nationalisieren. Hat nicht gerade dersehr verehrte Herr Kollege Glos die Netze verkauft, zumBeispiel an TenneT? TenneT, ein niederländisches Un-ternehmen mit staatlicher Eigentümerschaft, hat nichtgenug Eigenkapital, um den Ausbau der Netze zu bezah-len. Wer bezahlt diesen Unsinn? Die Privatkunden undder Mittelstand. Das muss sich ändern, und das werdenwir ab 2013 ändern.
Wie sieht es mit der Versorgungssicherheit aus? Imletzten Jahr hat die Bundesnetzagentur zehnmal so oftwie sonst eingreifen müssen, um die Netzstabilität zu ge-währleisten. Sehr verehrter Herr Rösler, Sie werden sichdarum kümmern müssen, dass es nicht zu Stromabschal-tungen kommt. Wir brauchen endlich eine Art Master-plan, damit die Länder nicht untereinander streiten. Esmuss Koordination zwischen Bund und Ländern stattfin-den, und es darf nicht sein, dass in der Bundesregierungzwei Minister ein Hü und Hott, ein Links und Rechts,ein Vor und Zurück praktizieren. Damit wir einerseitsunsere Energieziele erreichen und andererseits mit neuenProdukten und Technologien Arbeitsplätze schaffen,brauchen wir für die Energiewende zwingend einenFahrplan. Auch hier ist bei Ihnen auf der gesamten LinieFehlanzeige.Dieser Jahreswirtschaftsbericht stellt entlarvend dar,dass wir in der Wirtschaftspolitik eine Umkehr brau-chen. Auf allen Feldern – sei es Europa, seien es Investi-tionen, sei es die Demografie, sei es die Energiewende,seien es die Finanzen, sei es die Wirtschaftsförderung –,überall ist nur das Minimale getan.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habeneinen guten Stand in Deutschland. Mit der Regierung hatdas nichts zu tun. Die aufkommende Konjunkturschwä-che gilt es zu bekämpfen – aber nicht mit dieser Regie-rung.Vielen Dank.
Ich erteile nun das Wort dem Kollegen Martin
Lindner für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen! Meine Herren! Esgibt Dinge, die jährlich wiederkehren, zum BeispielNeujahrsfeste und -empfänge
– sowie der Jahreswirtschaftsbericht.Seit Januar 2010 ist es ein immer wiederkehrendesErlebnis, dass sich Vertreter der Opposition, der SPD,wie Herr Heil und Herr Tiefensee, hier hinstellen und sa-gen: Die wunderbaren Zahlen, die der Bundeswirt-schaftsminister vorstellen kann, haben mit allem zu tun,
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Dr. Martin Lindner
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nur nicht mit der aktuellen Bundesregierung – sie hättenetwas mit der SPD zu tun.
Wenn wir hier im kommenden Jahr über den nächstenJahreswirtschaftsbericht sprechen, werden – das verspre-che ich Ihnen – Herr Tiefensee und Herr Heil wieder hierstehen
und erklären, die guten Zahlen hätten mit der alten SPDzu tun. Gewisse Traditionen muss man einfach bewah-ren.Derzeit entstehen in Deutschland jeden Tag 500 In-dustriearbeitsplätze. Mit 6,5 Prozent haben wir die nied-rigste Arbeitslosenquote seit vielen Jahren. 1,6 Millio-nen sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze sindunter Schwarz-Gelb geschaffen worden – keine Spurvon Dumpinglöhnen und ähnlichem Kokolores,
den wir vom ewigen Herrn Gysi – der ist auch so einMurmeltier, das immer wiederkehrt – hier hören. UnsereZahlen können sich nicht nur in Europa, sondern auchweltweit wirklich sehen lassen.Auch die Armut ist gesunken; auch das muss man se-hen. Alleine die Kinderarmut ist von 2006 bis 2011 um13,5 Prozent gesunken.
Es gibt in Deutschland eine Zunahme an Armutsberich-ten, aber keine Zunahme an Armut. Das muss man andieser Stelle auch klarmachen.
Wir versuchen nicht nur, den Menschen zu helfen, insozialversicherungspflichtige Arbeit zu kommen, son-dern sie parallel dazu auch zu entlasten. Wenn Sie sichdiesen Jahreswirtschaftsbericht anschauen, dann könnenSie genau lesen, wie dramatisch die Reallöhne gerade inden letzten Jahren seit 2010 gestiegen sind. Das hat Ur-sachen.Das hat mit der jüngst abgeschafften Praxisgebühr zutun, und das hat mit der zweimaligen Absenkung desRentenbeitragssatzes auf 18,9 Prozent zu tun, trotzdemwir übrigens dafür gesorgt haben, dass sowohl in derKranken- als auch in der Rentenversicherung Rücklagenin zweistelliger Milliardenhöhe gebildet wurden.
Herr Kollege Lindner, lassen Sie nun auch eine Zwi-
schenfrage zu, und zwar des Kollegen Birkwald?
Gerne.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Lindner, vielen
Dank, dass Sie die Frage zulassen.
Sie haben eben behauptet, die Armut in Deutschland
sinke und steige nicht. Ich tue jetzt einmal etwas Unge-
wöhnliches und zitiere einfach. Der Paritätische Gesamt-
verband sagt zum Beispiel in seinem Statement zur re-
gionalen Armutsentwicklung 2012: „Deutschland ist,
was Armut anbelangt, ein tief zerrissenes Land“. Ein
weiteres Zitat: „Die Krise ist in Deutschland angekom-
men. Die Armut ist auf Rekordhoch.“
Weiter heißt es: „Die Armutsgefährdungsquote über-
sprang erstmals die 15-Prozent-Schwelle und befindet
sich damit auf einem absoluten Rekordhoch seit der Ver-
einigung. Es sind 12,4 Millionen Menschen betroffen –
vier Prozent, rund eine halbe Million mehr als noch im
Vorjahr.“ Mehr, nicht weniger, Herr Kollege!
Hier steht weiter:
Interessanterweise stieg die Armutsgefährdungs-
quote in den letzten fünf Jahren trotz sinkender Ar-
beitslosigkeit und trotz sinkender Hartz-IV-Quo-
ten. … Viele Menschen haben Arbeit, aber immer
weniger können von ihrer Arbeit leben.
Das alles sind Originalzitate des Deutschen Paritäti-
schen Wohlfahrtsverbandes, der bekanntermaßen keine
Vorfeldorganisation der Linken ist.
Deutschland ist dreigeteilt. Mittlerweile hat sich auch
die Ost-West-Spaltung verändert: Bremen hat die Rote
Laterne übernommen usw.
Ein wichtiger Punkt kommt hinzu: Am schlimmsten
sind die Befunde in Nordrhein-Westfalen und Berlin.
Das ist das Letzte, was ich Ihnen jetzt noch vortragen
will: In Nordrhein-Westfalen stieg die Armutsgefähr-
dungsquote von 15,4 Prozent auf 16,6 Prozent und in
Berlin von 19,2 Prozent auf 21,1 Prozent, und im Ruhr-
gebiet ist die Entwicklung dramatisch.
Erkennen Sie also bitte an, dass das, was Sie hier ge-
rade eben gesagt haben, eine falsche Aussage war!
Herr Kollege, zunächst einmal hat die Situation inBerlin vielleicht damit zu tun, dass die Linke und dieSPD von 2001 bis vor kurzem dort gemeinsam regierthaben. Alles hat seine Wirkungen; nichts ist ohne Wir-kung und Gegenwirkung.
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26768 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Martin Lindner
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Zweitens. Wenn man bei Ihren Ausführungen geradedie Ohren spitzte, dann hat man natürlich die Differen-zierung zwischen Armut und Armutsgefährdung zurKenntnis nehmen müssen. Ich sage Ihnen: In diesemLande gibt es eine Armutsdefinition, die aus sich herausdafür sorgt, dass Armut niemals abgeschafft werdenkann. „Armut“ wird nämlich so definiert, dass jeder, derweniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens be-zieht, in Armut lebt.
– Es sind 60 Prozent! D’accord! Das ändert aber nichtsan dem Umstand, dass Menschen, die im Jahr vorhernoch nicht in der Armutsstatistik waren, automatisch indie Armut rutschen, wenn der Volkswohlstand, derReichtum, in der Breite relativ steigt.
Das ist ein relativer und kein absoluter Armutsbegriff.
Hinzu kommt: Nachdem die Armut in den letztenJahren gesunken ist, gibt es jetzt einen neuen Armutsbe-griff, nämlich die „Armutsgefährdung“.
Vom Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband undanderen wird jetzt der Begriff Armutsgefährdung ver-wendet. Das weitet den Kreis noch aus.Das kann man natürlich tun, aber das alles hat nichtsdamit zu tun, dass wir hier dafür gesorgt haben, dassdie Zahl der sozialversicherungspflichtigen Arbeits-plätze – sie sind keine Aufstocker oder das, was Sie im-mer propagieren – dramatisch gestiegen ist. Das ist das,was ich vorhin meinte: Die Anzahl der Berichte über Ar-mut oder Armutsgefährdung ist gestiegen, aber nicht dieArmut unter dieser Regierung. Nehmen Sie das bitte zurKenntnis.
Das hat eben Ursachen, die ich gerade genannt hatte.Wenn Sie – zu Recht – einfordern, dass wir etwas fürdie Binnenkonjunktur tun müssen, warum tun Sie denneigentlich in Ihren Parteiprogrammen genau das Gegen-teil? Warum veranstalten Sie denn geradezu eine Orgievon Vorschlägen zu Steuererhöhungen? Jeden Tag wer-den Ihre Vorschläge radikaler, sie beschränken sich janicht auf Vermögensteuer, auf Substanzbesteuerung, dienatürlich kleine und mittlere Unternehmen angreifen.Herr Gysi,
Sie werden uns doch nicht ernsthaft weismachen wollen,dass man Privatvermögen und betriebliches Vermögensystematisch trennen kann. Das gibt es doch gar nicht.Die kleinen und mittleren Betriebe – das geht beimHandwerksunternehmen los und geht bis zum Mittel-stand – thesaurieren einen erheblichen Teil ihrer Ge-winne und belassen sie im Unternehmen. Da gibt es garkeine Differenzierung zwischen betrieblichem Vermö-gen und privatem Vermögen. Sie glauben immer, dasseien alles Dagobert Ducks, die zu Hause einen Gold-speicher haben, in dem sie baden gehen und aus demman einfach einmal 5 Prozent Goldbarren herausschaf-fen könnte. Das ist doch nicht die Wahrheit, das ist dochnicht die Realität in Deutschland. Das Vermögen ist inden kleinen und den mittleren Betrieben, und da muss esauch bleiben.
Der Staat darf nicht versuchen, seine Probleme – esist erstaunlich, Kollegin Andreae, dass das ausgerechnetvon Ihnen kommt – durch die Wegnahme von schonzehnmal versteuertem Vermögen zu lösen und so seineSchulden abzubauen. Schauen Sie sich doch einmal Ih-ren Großmeister Hollande an, der ja nicht ohne Grundbeim 150. Geburtstag der SPD gesprochen hat.
– Na ja, ich fasse Sie da jetzt einfach einmal zusammen;denn das ist doch alles eine Soße, was Rot-Grün hierproduziert.
Schauen Sie sich doch einmal an, was der in Frankreichmacht! Der hat eine wunderbare Reichensteuer einge-führt, und nach eigener Einschätzung
kommen dabei gerade einmal 230 Millionen Euro he-raus.Das Einzige, was er produziert hat, ist eine großflä-chige Flucht. Da rede ich gar nicht von einzelnen Schau-spielern, die nach Russland oder Belgien flüchten, son-dern von kleinen und mittleren Unternehmen, die geradeaus Frankreich abhauen. Damit geht dem Staat nicht nurder erhöhte Steuerbetrag verloren, sondern er verliert diegesamten Steuern und Abgaben, die diese Unternehmenvorher geleistet haben. Dieser Weg ist ein Irrweg. Es ist inden letzten 100 Jahren mindestens schon 80- bis 100-malbewiesen worden, dass das nicht funktioniert. Der Staatmuss seine Ausgaben reduzieren. So kann er die Haus-halte konsolidieren, aber nicht dadurch, dass er glaubt, erkönne immer mehr kassieren.
Aber Sie wollen ja auch die Familienfreibeträge redu-zieren, höre ich von Herrn Gabriel. Das wird auch immerradikaler. Sie glauben, überall zuschlagen zu können,und meinen, Sie könnten Ihre Probleme, die wir in Nord-rhein-Westfalen und anderswo sehen, auf Kosten derMittelschicht lösen.
Das, sage ich Ihnen, wird nicht funktionieren. Das wer-den wir auch nicht zulassen, und das wird vor allen Din-gen der Bürger nicht zulassen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26769
Dr. Martin Lindner
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Ich möchte zum Schluss auf ein paar Gefahren hin-weisen, die ich natürlich sehe und über die wir ernsthaftreden müssen. Wir haben eine Situation, die ich so ein-schätze: Viele Bürgerinnen und Bürger in diesem Landvergessen manchmal, dass der Zuwachs an Wohlstand inden letzten 50, 60 Jahren natürlich auch etwas mit Infra-struktur zu tun hat und dass es kein freies Mittagessengibt.
Heute haben wir beispielsweise in normalen Super-märkten ein Angebot von bis zu 20 000 Produkten. Inden 70er-Jahren lag das Angebot noch bei 700 Produk-ten. Die Leute vergessen manchmal – darin werden siedurch Sie bestärkt –, dass diese Waren auch transportiertwerden müssen, dass Straßen, Schienen und auch derLuftverkehr ausgebaut werden müssen. Dieser Ausbauin den vergangenen Jahren hat in der Breite für Mobilitätgesorgt. Menschen, die es sich in den 70er-, 80er-Jahrennoch nicht leisten konnten, mit dem Flugzeug in den Ur-laub zu fliegen, können es jetzt. Aber das hat seinenPreis, und das führt natürlich auch zu Belästigungen.Dazu muss man als Regierung, als Partei, als Koalitionstehen, und man darf sich nicht bei jeder Gelegenheit,wenn irgendwo Flugrouten geschaffen werden, wenn ir-gendwo Flugplätze ausgebaut werden, wenn irgendwoSchienen verlegt werden, populistisch hinter lokale Pro-testbewegungen stellen und sich gegen den Ausbau derInfrastruktur wenden.
Wir brauchen diese Infrastruktur. Ohne Infrastrukturaus-bau wird es in diesem Land keinen Wohlstand geben.
Eine Regierung, die verantwortungsbewusst ist, mussdafür sorgen, dass das gemacht wird.Ein anderer Punkt ist die Investitionsquote. Wir redenoft über Mieten oder Ähnliches: Die teilweise zu hohenMietpreise sind doch nicht die Folge von zu viel Markt-wirtschaft, sondern von zu wenig Marktwirtschaft. Wirhaben einen völlig überregulierten Wohnungsbau inDeutschland. Die Anforderungen, vom Bürgermeisterüber den Ministerpräsidenten bis hin zur Bundesebene,an das Bauen sind einfach zu hoch. Das Geld steht zurVerfügung, wird aber nicht in den Wohnungsbau inves-tiert.
Herr Kollege.
Ich komme zum Schluss. – Wenn Sie jetzt glauben,
man könne das Problem der hohen Mieten durch drama-
tische Mietpreisdeckelungen lösen, dann werden Sie ge-
nau das Gegenteil erleben: Es wird noch weniger in den
Wohnungsbau investiert, und es wird noch mehr speku-
liert. Damit sind diejenigen, die Eigentum besitzen, bes-
ser gestellt. Aber wir wollen doch, dass alle Menschen in
einer vernünftigen Wohnung mit einer bezahlbaren
Miete wohnen können. Daher müssen wir dafür sorgen,
dass Investitionen in diesem Lande weiterhin möglich
sind und ausgebaut werden können.
Deswegen ist es gut, dass wir regieren. Deswegen ist
es gut, wenn wir weiterregieren, egal auf welcher Ebene.
Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Ernst Hinsken.
Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Zu Beginn des Jahres ist jeder von uns bei vielenVeranstaltungen und wird gefragt: Wie geht es dir? – Diemeisten antworten: Mir geht es gut. Die Bundesregie-rung unter Angela Merkel arbeitet hervorragend.
Deutschland ist auf einem guten Weg, die anstehendenProbleme zu lösen.
Wir haben Vertrauen in diese Regierung. – Recht habendie, die so argumentieren.
Ich meine auch, gerade die hervorragende Rede desBundeswirtschaftsministers Herrn Dr. Rösler – das warheute eine Regierungserklärung –
wäre es wert gewesen, dass sie auch die Fraktionsvorsit-zenden der Grünen, Frau Künast und Herr Trittin, gehörthätten.
Beide glänzen durch Abwesenheit. Vielleicht befindensie sich im Moment in Niedersachsen.Hier spielt die Musik. Hier geht es um Deutschland.Hier geht es um weitreichende Entscheidungen. Hiergeht es darum, dass der Jahreswirtschaftsbericht beratenwird, der uns als Ganzes vorliegt und den wir heute teil-weise durchleuchten möchten, um daraus die notwendi-gen Schlüsse zu ziehen, um weiterhin voranzukommen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Herr KollegeHeil, ich schätze Sie sehr.
Aber heute haben Sie ein bisschen überzogen. Schwarz-malerei und Panikmache sind wahrlich nicht angebracht.Genauso wenig ist es angebracht, in Euphorie zu verfal-
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Ernst Hinsken
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len; denn es gibt natürlich einige Probleme. Es gibt ei-nige kleine dunkle Wolken am Himmel. Aber ich bin derfesten Überzeugung: Wir werden im Laufe des Jahres zubesseren Ergebnissen kommen.Es wird sich zeigen, dass die deutsche Wirtschaft inder Lage ist, das, was sie bisher erarbeitet hat, nicht auf-zugeben, und die Projekte, die sie bisher nur aufgescho-ben hat, jetzt umzusetzen. Die Wirtschaft wird Gas ge-ben, damit wir auch in diesem Jahr nach vorne kommen.
Es ist doch unbestreitbar: Vieles wurde in den letztenJahren erreicht, auch in der Großen Koalition; dasmöchte ich nicht beiseiteschieben. Deutschland steht imVergleich zu anderen Nationen wirklich und wahrlichblendend da. Ich darf ergänzen, weil ich davon über-zeugt bin: Wir haben zurzeit die beste Bundesregierungseit der Wiedervereinigung Deutschlands.
Es gibt einige Probleme, die gelöst werden müssen.So ist zum Beispiel die Staatsschuldenkrise noch nichtbewältigt. Hier liegt noch viel Arbeit vor uns, um dieseHerausforderungen zu meistern. Auf das Geleistete soll-ten wir alle stolz sein. Dabei gilt es, die guten Zahlen zuwürdigen, weil sie insbesondere auf die Leistungsfähig-keit und Robustheit unserer Wirtschaft, unseres Mittel-standes und der deutschen Arbeitnehmer zurückzuführensind.Deutscher Arbeitnehmerfleiß, deutscher Unterneh-mergeist und vernünftige Rahmenbedingungen, die dieseBundesregierung setzt, sind die Grundlagen dafür, dasses weiter aufwärtsgeht und dass Deutschland ein Hortvon Stabilität nicht nur in Europa, sondern in der ganzenWelt bleiben wird;
denn in keinem anderen Land funktioniert das Ganzebesser als bei uns.Überall im Ausland werden wir gefragt: Wie machtihr Deutschen das bloß? Denn wir haben, wie heuteschon mehrmals gesagt worden ist, 41,6 Millionen so-zialversicherungspflichtig Beschäftigte. Wir können da-rauf verweisen – darauf können wir stolz sein –, dass wirso gut durch die Krise gekommen sind wie kein anderesLand und dass sich Deutschland in einer sehr guten Ver-fassung präsentiert, und das trotz des schwierigen Um-felds weltweit und in Europa.Die Auftragseingänge zeigen eine Stabilisierung, unddas Geschäftsklima hellt sich von Tag zu Tag mehr auf.Auch wenn in den letzten Monaten des vergangenen Jah-res die Wirtschaft schwächelte, erreichte unser Land an-ders als die Euro-Zone insgesamt auch in 2012 ein be-achtliches Wachstum von 0,7 Prozent. Für 2013 werdenderzeit 0,4 Prozent Wachstum erwartet. Ich wiederholemich: Ich meine, dass diese Zahl zu niedrig angesetzt istund höher ausfallen wird.Ich bin überzeugt, dass, wenn die außenwirtschaftli-chen Unsicherheiten und die Belastungen durch die Ver-trauenskrise im Euro-Land nachlassen, erwartet werdenkann, dass sich die derzeitige Investitionszurückhaltungnach und nach auflösen wird. Dann wird sich zeigen,dass die Investitionen der Unternehmen nicht aufgeho-ben, sondern nur aufgeschoben sind. Dazu dürfte beitra-gen, dass die Wachstumsraten im Verlauf des Jahres zu-nehmen.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, unsere Wirt-schaft ist aber auch auf stabile Rahmenbedingungen imEuro-Raum angewiesen. Die Euro-Mitgliedstaaten müs-sen jetzt Strukturreformen nachholen und ihre Wettbe-werbsfähigkeit stärken. Deutschland ist solidarisch.Aber Solidarität darf keine Einbahnstraße sein. UnsereUnterstützung ist Hilfe zur Selbsthilfe; sie ist kein Ersatzfür Reformen.Ich darf erwähnen, dass der Export von Waren madein Germany eine tragende Säule dieser Entwicklung ist.Bereits im November 2012 übertraf der Wert deutscherExporte die Schwelle von 1 Billion Euro. Damit wurdezum zweiten Mal nach 2011 die Schwelle von 1 BillionEuro geknackt, nur dieses Mal weit früher als in früherenJahren.Die außenwirtschaftlichen Impulse werden erheblichschwächer sein als im Vorjahr. Deshalb wird die Kon-junktur durch die Binnennachfrage getragen. Diese giltes zu stärken. Bürgerinnen und Bürger sowie Unterneh-men werden deshalb 2013 um 8 Milliarden Euro entlas-tet. Dass die Binnenkonjunktur angekurbelt werdenmuss, ist aber leider bei Ihnen von Rot-Grün und Knall-rot nicht angekommen. Sagen Sie uns doch, verehrteKolleginnen und Kollegen, warum Sie im Bundesratwichtige steuer- und wirtschaftspolitische Maßnahmenwie den Abbau der kalten Progression, die energetischeGebäudesanierung, das Jahressteuergesetz, die 8. GWB-Novelle usw. blockieren!
Es ist in dieser Zeit erforderlich, dass wir diese Maß-nahmen durchsetzen. Aber Sie treten auf die Bremse undwollen den Erfolg ausschließen. Sie wollen ihn nicht ha-ben.
Denn ein Erfolg ist dann gegeben, wenn die gute Kon-junktur aufbauend auf Reformen sich weiter entwickelnkann. Eine der größten Herausforderungen seit der Wie-dervereinigung ist die Bewältigung der Energiewende.
Dazu ist eine grundlegende Reform des EEG erforder-lich. Diese muss Investitionssicherheit, ein besseres Zu-sammenspiel der erneuerbaren Energien mit den Strom-netzen und den grundlastfähigen Kraftwerken sowiegünstige Strompreise für die Bürger und die Betriebe ge-währleisten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26771
Ernst Hinsken
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Ich möchte noch eines in die Debatte mit einführen.
Ja, aber ganz knapp, Herr Kollege Hinsken.
Ja, sehr wohl, Herr Präsident.
Es trifft Gerechte und Ungerechte, Herr Kollege Gysi.
Was zum Beispiel BASF in der Bundesrepublik
Deutschland an Strom benötigt, ist genauso viel wie das,
was das ganze Land Dänemark an Strom pro Jahr ver-
braucht. Da können wir doch nicht zuschauen! Da muss
etwas gemacht werden,
damit die Betriebe bei uns in der Bundesrepublik
Deutschland auch weiterhin bereit sind, mitzuhelfen und
zu investieren, und Arbeitsplätze vorhalten. Denn davon
profitieren nicht nur die Firmen und der Staat, sondern
zu guter Letzt auch der Arbeitnehmer, der einen Arbeits-
platz erhält, den er sich immer sehnlichst wünschte, als
er keinen hatte. Und der Arbeitnehmer, der einen sol-
chen hat, möchte ihn behalten. Dafür sorgen wir. Das
wird gewährleistet. Das weist gerade dieser Jahreswirt-
schaftsbericht aus. Ich wünsche, dass die Bundesregie-
rung mit Wirtschaftsminister Rösler und Herrn Bundes-
finanzminister Schäuble so erfolgreich bleibt.
Herr Kollege.
Dann ist mir nicht bange, dass es mit der Bundesrepu-
blik Deutschland unter Angela Merkel weiterhin auf-
wärtsgeht.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Heinz Riesenhuber für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Am Ende dieser faszinierenden Debatte stellenwir fest: Von zwei Seiten werden wir angegriffen. Die ei-nen sagen: Wir sparen nicht entschieden genug. Die an-deren sagen: Wir geben nicht genug Geld für Wachstumaus.
Ja, Freunde, das ist immer ein Zielkonflikt. Geld hat mannur einmal. Aber ob es gelingt, diesen Zielkonflikt auf-zulösen, zeigen die Resultate. Das, was der Wirtschafts-minister und die anderen glanzvollen Redner der Koali-tion mit wohlerwogenen Argumenten hier vorgetragenhaben, zeigt eindeutig, dass die Ergebnisse in allem, wasdie handfesten Zahlen hergeben, von überzeugenderStandfestigkeit sind. Ich rede jetzt nicht davon, dass wirJahre vor dem angezeigten Termin die Konsolidierungder Haushalte erreichen. Ich rede nicht davon, dass wirdie höchste Zahl von Arbeitsplätzen haben. Ich redenicht davon, dass wir die seit vielen Jahren niedrigsteZahl von Arbeitslosen haben. Ich rede nicht von all denZahlen, die der Jahreswirtschaftsbericht so triumphalund mit wohlbegründeten Argumenten vorträgt. Das istdas eine.Das andere ist: Herr Tiefensee, den ich mag, weil erein netter Mensch ist, sagt, die Bundesregierung habekein Konzept. Ja, lieber Herr Tiefensee, wie sieht dieWelt aus? Wir sind nicht einem majestätischen und hek-tischen Aktionismus verfallen, sondern wir machen eineverlässliche, vertrauenschaffende, stetige Politik, dieSchritt für Schritt das Richtige aufbaut. Das haben wirschon gemacht, als Sie, Herr Steinbrück, noch mit in derRegierung gewesen sind. Gell, längst vergangene Zei-ten! Schon damals hat Angela Merkel eine klare Liniegefahren, und wir alle haben mit Freude gesehen, wie er-folgreich sie sich auf den Märkten niedergeschlagen hat.Was mich in dieser Debatte gefreut hat: Es hat nie-mand den durchaus entschlossenen Titel des Jahreswirt-schaftsberichts „Wettbewerbsfähigkeit – Schlüssel fürWachstum und Beschäftigung in Deutschland und Eu-ropa“ angegriffen. Das heißt, unser Ziel ist, dass wir sotüchtig sind, wie wir sein können. Da haben wir nochnicht alles erreicht, was wir wollen; aber wir haben dierichtigen Instrumente. Dort, wo es notwendig ist, habenwir sehr viel Geld in die Hand genommen.In der Forschung kommt es nicht nur darauf an, dasswir hohe Milliardenbeträge – mehr als jemals zuvor –ausgegeben haben.
Es kommt auch darauf an, dass man die Mittel intelligentausgibt. Und wir haben deshalb mehr und mehr Gelderim Wettbewerb vergeben. Die Vergabe der Mittel imWettbewerb ist auch ein Instrument. Ich verweise auf dieExzellenzinitiative, den Spitzencluster-Wettbewerb, denfrüheren „BioRegio“-Wettbewerb und den Leibniz-Preis. Einst waren die orthodoxen Finanzer hier über-zeugt, dass Preise wie dieser unsittliche Anschläge seien.Wir sind in vielen relevanten Bereichen dank unsererPolitik stetig weitergekommen. Wir sind nicht fertig,sonst könnten wir aufhören. Und weil wir nicht fertigsind, müssen wir weitermachen.
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26772 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Heinz Riesenhuber
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Wir haben hier in einer Vielzahl von Bereichen nochgroße Arbeitspakete vor uns, auch wenn wir vorange-kommen sind.
Es gab die Diskussion, ob wir es uns erlauben könn-ten, auf tüchtige Frauen im Arbeitsleben zu verzichten.Vor wenigen Tagen kam die Nachricht, 72 Prozent derFrauen seien jetzt schon in Arbeit, mehr als die Hälfte inVollzeit. Von dem Rest wollen vier Fünftel oder mehrnicht mehr als Teilzeit arbeiten. Um Frauen im Berufnoch besser zu unterstützen, müssen wir einiges tun.Deshalb gibt die Bundesregierung für Kinderbetreuungbis 2014 5,4 Milliarden Euro aus und wird sich danachan den Betriebskosten in einer Größenordnung von845 Millionen Euro jährlich beteiligen. Die Vereinbar-keit von Familie und Beruf ist eine Voraussetzung nichtnur für den wirtschaftlichen Erfolg unseres Landes, son-dern auch für Freude an der Arbeit, damit die Menschendie Chance haben, auch das, was sie wünschen, aus ih-rem eigenen Leben zu machen.Da gibt es die Frage, wie weit die Älteren im Berufbleiben. Ich kann Ihnen versichern: Es gibt hier Leuteauch über 60, die mit Freude ihre Arbeit machen. Gell,Herr Gysi?
Es gibt hier Leute über 60, die mit fröhlicher Entschluss-kraft jeden Morgen aufstehen und in das einsteigen, waszu tun ist.
Die Tatsache, dass sich die Zahl der über 60-Jährigen inArbeit in den letzten 20 Jahren verdoppelt hat, die Tatsa-che, dass wir heute schon fast die Hälfte der über 60-Jäh-rigen in Arbeit haben, ist eine exzellente Geschichte, aufder wir weiter aufbauen können. Das ist wichtig für dieRente; das ist wichtig für die Wirtschaft; das ist aberauch wichtig für die Lebenserfülltheit, den Lebenssinn,die Freude daran, täglich aufzustehen und wieder in dieArbeit einzusteigen.Meine Damen und Herren, die Bundesregierung istinsoweit in den verschiedensten Bereichen tätig gewor-den. Wenn wir versuchen, das zu bewerten, kann ich aufdie Zahlen des Jahreswirtschaftsberichts verweisen. Esgibt natürlich auch eine Reihe von qualitativen Indikato-ren in sensiblen Bereichen. Unsere entsprechende En-quete-Kommission arbeitet hier an einem umfassendenganzheitlichen Wohlstandsindikator.Das ist ein bisschen schwierig, aber schauen wir unseinmal die einzelnen Bereiche an: Der Nachhaltigkeits-indikator 2012 der KfW, der uns im Dezember auf denTisch geflattert ist, zeigt, dass Deutschland in den rele-vanten Bereichen noch nie so nachhaltig war. Der Nach-haltigkeitsindikator insgesamt hat den höchsten Wert seitsechs Jahren erreicht. Der Nachhaltigkeitsindikator imTeilbereich Wirtschaft hat den höchsten Wert. Im Teilbe-reich Umwelt hat er den höchsten Wert. Im Teilbereichdes sozialen und gesellschaftlichen Zusammenhalts hater den höchsten Wert.Das alles bedeutet nichts anderes, als dass diese Bun-desregierung nicht nur eine Politik betreibt, die ökono-misch erfolgreich ist – jawohl, das wollen wir –, sondernauch eine Politik, die den Menschen weitere Lebens-chancen eröffnet, die das Vertrauen der Menschen in ei-ner Weise gewonnen hat, dass man mit dieser Politikauch gerne in die Zukunft schreitet, im Bund, in denLändern oder wo auch immer darüber zu entscheiden ist.Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Bericht,den Sie, Herr Rösler, hier vorgelegt haben, handelt vonDeutschland und von Europa. Mit den gleichen Ideen,auf deren Grundlage wir in Deutschland arbeiten, versu-chen wir mit allen Kräften, in Europa zu helfen. Aberauch unsere Kraft als starke Industrienation ist nicht un-begrenzt. Wo wir jedoch helfen, beruht die Hilfe auf derIdee, dass die Länder, die in Schwierigkeiten sind, dieMöglichkeit erhalten, sich selber zu helfen. Wir unter-stützen sie dabei, dass sie Reformen in Gang bringen,dass sie neue Strukturen schaffen, dass sie die Idee derWettbewerbsfähigkeit in ihre eigene Wirklichkeit umset-zen, und das nicht nur, damit die Zahlen stimmen, son-dern weil das die eigentliche Art ist, menschlich mit derWirklichkeit und mit dem Leben umzugehen: sich in sei-nen Leistungen gefordert zu sehen, sich in seinen Fähig-keiten gefordert zu sehen, zugleich aber zu wissen, dassandere dann helfen, wenn es schwierig ist, wenn eshängt, wenn man nicht mehr so kann, wie man will.Wenn wir aus diesem Geist heraus – das ist der Geistder sozialen Marktwirtschaft – unsere Politik auch in denkommenden Jahren aufbauen, dann werden wir in einerschwierigen Zeit mit einer klaren Linie Deutschland vo-ranbringen und unseren Beitrag dazu leisten, dass Eu-ropa steht. Da vertrauen wir auf unsere tatendurstige Re-gierung und ihre hohe Kompetenz.
Da vertrauen wir auf die faire Begleitung durch unseretüchtige Opposition. Möge sie uns noch lange so beglei-ten, wie sie uns heute begleitet hat!
Herr Riesenhuber.
Wir vertrauen auch darauf, dass wir hier in diesem
Geist in einem neuen Jahr wieder das hinbekommen,
was wir uns vorgenommen haben: dass uns Deutschland
gelingt, dass uns mit unseren Partnern Europa gelingt
und dass wir frohgemut in das nächste Jahr schreiten –
mit einem Erfolg, den wir gemeinsam erarbeitet haben.
Ich schließe die Aussprache.Zwischen den Fraktionen ist es verabredet, die Vorla-gen auf den Drucksachen 17/12070 und 17/11440 an dieAusschüsse zu überweisen, die Sie in der Tagesordnung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26773
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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angegeben finden. – Damit sind Sie einverstanden. Dannist das so beschlossen.Jetzt rufe ich Tagesordnungspunkt 10 sowie Zusatz-punkt 3 auf:10 Beratung des Antrags der Abgeordneten PeerSteinbrück, Joachim Poß, Ingrid Arndt-Brauer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDsowie der Abgeordneten Dr. Gerhard Schick,Kerstin Andreae, Dr. Thomas Gambke, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEin neuer Anlauf zur Bändigung der Finanz-märkte – Für eine starke europäische Banken-union zur Beendigung der Staatshaftung beiBankenkrisen– Drucksache 17/11878 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union HaushaltsausschussZP 3 Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Michael Meister, Klaus-Peter Flosbach, PeterAumer, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der CDU/CSU sowie der AbgeordnetenDr. Volker Wissing, Dr. Daniel Volk, HolgerKrestel, weiterer Abgeordneter und der Fraktionder FDPSchärfere und effektivere Regulierung der Fi-nanzmärkte fortsetzen– Drucksache 17/12060 –Es ist hierzu verabredet, eineinhalb Stunden zu debat-tieren. – Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch.Ich gebe das Wort dem Kollegen Peer Steinbrück fürdie SPD-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Lieber Herr Riesenhuber, ichglaube, wir kennen uns seit der zweiten Hälfte der 70er-Jahre. Nehmen Sie mir deshalb das folgende Kompli-ment als aufrichtig ab: Sie sind mit Abstand der elegan-teste Tänzer am Podium dieses Deutschen Bundestages.
Der gerade debattierte Jahreswirtschaftsbericht,meine Damen und Herren, zeigt sehr deutlich eine Ver-unsicherung der deutschen Wirtschaft hinsichtlich derPerspektiven für dieses Jahr und wahrscheinlich auchnoch für das nächste Jahr. Diese Verunsicherung ist na-türlich ganz maßgeblich geprägt von den wirtschaftlichenSchwierigkeiten, mit denen wir es in Europa mit Blickauf die Situation in vielen europäischen Partnerländernzu tun haben. Das ist kein Wunder, kein Wunder bei denwirtschaftlichen Verflechtungen, mit denen wir es zu tunhaben, und kein Wunder bei einem so exportgetriebenenWachstums- und Wirtschaftsmodell, wie wir es inDeutschland haben.Fünf Jahre nach Ausbruch der internationalen Finanz-krise, 2007/08 eskalierend, haben wir es immer noch mitderen nicht bewältigten Folgen zu tun. Die Krise stelltdie Frage nicht nur nach dem Zusammenhalt in Europa,sondern auch nach der Zukunft in Europa. Sie hat einigeLänder nicht nur in eine Rezession, ja in eine Depres-sion, sie hat einige Länder in eine Situation der Austeri-tät getrieben, angesichts der sich die Frage nach der so-zialen und politischen Stabilität dieser Länder stellt.
Deshalb bleibe ich dabei, dass diese Krise sehr viel mehrkosten könnte als Geld. Das wird gelegentlich unter-schätzt in all den europapolitischen Debatten, die wirführen.Die ungelöste Krise hat auch etwas mit der Ursachen-analyse gerade dieser schwarz-gelben Bundesregierungzu tun. Viel zu lange hat die Regierung von Frau Merkelso getan, als ginge es im Wesentlichen um eine Ver-schuldungskrise anderer Länder, einzelner Staaten. Dasist aber nur ein Teil der Wahrheit. Die fällt Ihnen und dendeutschen Steuerzahlern jetzt auf die Füße; denn dieKonsequenz dieser Ursachenanalyse ist, dass wir mit un-serem politischen Gewicht, mit unserer ökonomischenKraft in Europa einen Sparkurs, Konsolidierungszwängedurchgesetzt haben, was von den betroffenen Ländernzunehmend nicht nur als nachteilig, sondern sogar alsgefährlich empfunden wird.
Diese Länder fragen sich, ob das Spardiktat, für das wirverantwortlich sind, eine lebensbedrohende Dosis odereine lebensfördernde Dosis enthält. Das ist exakt dieFrage, vor der wir stehen.Die Krise in Europa ist also nicht maßgeblich auf eineVerschuldungskrise zurückzuführen, sondern sie ist inweiten Teilen nach wie vor eine Krise labiler Bankenund ungezähmter Finanzmärkte.
Das lässt sich leicht belegen; denn in der sehr kurzenZeit zwischen Oktober 2008 und Dezember 2010 wur-den die Banken europaweit mit insgesamt – stellen Siesich das einmal vor! – 1,6 Billionen Euro Staatshilfengerettet. Das entspricht ziemlich exakt dem Jahresein-kommen aller Deutschen zusammen. Hier liegt deshalbder Hase im Pfeffer.Es gibt Finanzinstitute in Europa, denen es gelungenist, Infektionskanäle in die Staatshaushalte zu legen. Siehaben ein Drohpotenzial, das lautet: Wenn ihr mich nichtrettet, bricht eure Volkswirtschaft zusammen; und imÜbrigen bin ich so groß, dass ich gar nicht scheiterndarf, und deshalb werden mich die Staaten finanzieren
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26774 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Peer Steinbrück
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müssen. – Diejenigen, die die Haftenden in letzter In-stanz sind, sind die Steuerzahler in diesen Staaten. DieFolge ist die steigende Schuldenlast gewesen, die jetztaber als Ursache dargestellt wird, obwohl sie eine Kon-sequenz, eine Folge dieser Entwicklung ist.
Das beste Beispiel ist übrigens Irland. Irland galt ein-mal als Musterknabe der Europäischen Wirtschafts- undWährungsunion. Ich kann mich erinnern, dass es vorüber zehn Jahren Empfehlungen aus den Reihen der FDPgab, wir sollten uns an Irland ein Beispiel nehmen,
auch und gerade ordnungspolitisch, auch und geradehinsichtlich der Deregulierung und der Privatisierung.Es ist erstaunlich, dass das Kurzzeitgedächtnis einigenParteien mehr nützt als anderen, wenn man sich daranerinnert, dass die FDP uns dieses Irland in mehreren Re-den im Deutschen Bundestag als nachahmenswert vor-gehalten hat.Irland musste inzwischen Mittel in der sagenhaftenGrößenordnung von 269 Prozent seiner jährlichen Wirt-schaftsleistung aufwenden, um seine Banken zu stützen– fast 270 Prozent; das entspricht fast dreimal seinerjährlichen Wirtschaftsleistung –, um die irischen Bankenvor einem Kollaps zu bewahren. Deshalb war es keinWunder, dass die irische Staatsverschuldung, die imJahre 2007 mit 25 Prozent, gemessen am Bruttoinlands-produkt, relativ niedrig war, nun inzwischen über100 Prozent beträgt.Die Finanzmarktkrise als Verursacher der Staatsver-schuldung kommt aber in der Analyse der Bundesregie-rung schlichtweg nicht vor. Ich zitiere die Bundeskanzle-rin aus einer Regierungserklärung vom Oktober desletzten Jahres:… die Probleme, mit denen wir zu kämpfen haben,… sind auf eine mangelnde Wettbewerbsfähigkeit,– nicht falsch –sie sind auf die Überschuldung einzelner Mitglied-staaten sowie auch auf Gründungsfehler des Eurozurückzuführen.Das alles ist nicht zu dementieren. Der Punkt ist aber:Der labile Bankensektor und die Finanzmarktkrise kom-men dabei nicht vor.
Das Gegenteil stimmt aber nicht nur für Irland, wieSie wissen. Das Gegenteil stimmt auch für Spanien, dasübrigens vorher eine günstigere Verschuldungsquotehatte als Deutschland. Und der nächste Fall, der uns hierim Deutschen Bundestag beschäftigen dürfte, wird, wieich befürchte, im März Zypern sein. Es hat einen Ban-kensektor, dessen Bilanzsumme so aufgebläht ist, dasssie fünf- bis sechsmal so hoch wie die jährliche zyprioti-sche Wirtschaftsleistung ist. Auch andere Faktoren, dieim Fall von Zypern eine Rolle spielen, werden uns inden Debatten hier noch sehr stark beschäftigen.Das Ergebnis dieser Politik ist, dass sich die deut-schen Steuerzahlerinnen und Steuerzahler sowie auchdie anderer europäischer Länder in einer riesigen Haf-tungsunion befinden und vom Geschäftsgebaren einzel-ner Banken abhängig sind. Sie sind abhängig von Fehl-entscheidungen der Risikoignoranz, der Renditejagddieser Banken und haften in letzter Instanz. Das ist gro-tesk und verletzt zunehmend das Gerechtigkeitsempfin-den der Bürgerinnen und Bürger.
Das berührt eine Gretchenfrage der sozialen Markt-wirtschaft, nämlich, ob in einer sozialen MarktwirtschaftHaftung und Risiko zusammenfallen. Deshalb sage ichhäufiger, dass diese Krise nicht nur Geld und Vertrauenkosten kann, sondern eventuell auch das Vertrauen in un-sere wirtschaftliche Ordnung, weil viele Menschen denEindruck haben, dass sie die Geschädigten sind und fürSchäden haften müssen, die andere verursacht haben, dieaber zu deren Folgekosten nicht herangezogen werden.Bei der Bundesregierung wird die neue Bankenunionzu einer Umwälzanlage von Kapital aus den Staatshaus-halten in Bankbilanzen; denn anstatt beim EuropäischenRat Ende Juni 2012 endlich einen europäischen Abwick-lungsmechanismus zu etablieren und damit die Staatshaf-tung zu beenden oder zumindest deutlich einzugrenzen,haben die Bundesregierung und die Koalitionsfraktionenzugestimmt, dass der Europäische Stabilitätsmechanis-mus in Zukunft – jetzt kommt es – Banken direkt rekapi-talisieren kann, und das, obwohl weite Teile von Ihnenim Haushaltsausschuss vorher aus einer richtigen Er-kenntnis heraus explizit das Gegenteil beschlossen ha-ben. Jetzt haften die Steuerzahler in Deutschland nichtnur für die Banken im eigenen Land – siehe das Finanz-marktstabilisierungsgesetz und Folgegesetze, die wirhier gemeinsam beschlossen haben –, sondern auch fürBanken in der gesamten Euro-Zone.Richtig ist, Sie haben eine Konditionierung vorge-nommen, Herr Schäuble und Frau Merkel. Sie haben dieKonditionierung vorgenommen, dass vorher eine Ban-kenunion geschaffen werden muss. Es fällt auf, wielange Sie die Schaffung der Bankenunion vor sich her-schieben, sodass diese Union garantiert nicht vor demmagischen Datum im September 2013 gegeben sein wird– das hätte nämlich zur Folge, dass Banken dann direktrekapitalisiert werden könnten und eine gewisse Empö-rungswelle auch bei deutschen Steuerzahlerinnen undSteuerzahlern zu erwarten wäre –, sondern erst im Fol-gejahr nach der Bundestagswahl. Das ist das, was ich alsSchleiertanz bezeichne, Herr Kauder.
Was, so frage ich, nützt eine bessere Bankenaufsichtauf europäischer Ebene, wenn das Kind bereits in denBrunnen gefallen ist und der Steuerzahler weiterhin derHaftende in letzter Instanz ist? Sagen Sie den Bürgerin-
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Peer Steinbrück
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nen und Bürgern im Sinne von Wahrhaftigkeit endlich,was Sie im Juni beschlossen haben. Sie haben mit IhrerZustimmung auf dem Europäischen Rat Ende Juni 2012eine Staatshaftung für Bankenrisiken in Europa geschaf-fen.Wir brauchen, meine Damen und Herren, einen klarenBlick auf den Kern dieser Krise. Fünf Jahre nach demBankrott von Lehman sind die Infektionskanäle aus denBankenbilanzen in die Staatshaushalte immer noch nichttrockengelegt. Das heißt, wir brauchen endlich einenSchutz der öffentlichen Haushalte vor den Gefahren derFinanzmärkte. Wir brauchen ein Ende der Staatshaftung,und wir brauchen eine Beendigung des Erpressungs-potenzials großer, systemrelevanter Banken, die unsauch hier im Deutschen Bundestag Entscheidungen ab-nötigen, weil wir wissen, dass ein Scheitern dieser Ban-ken Konsequenzen hätte, die wir dem öffentlichen Wohlschlechterdings nicht mehr zumuten können.
Wir brauchen einen wirksamen Schutz der Steuerzahle-rinnen und Steuerzahler als Haftende in letzter Instanz.Sie legen heute einen Antrag vor mit dem Titel:„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanz-märkte fortsetzen“. Nehmen Sie es mir nicht übel – fernjedes Florettangriffs –, aber Sie haben sich mit dem Be-griff „fortsetzen“ einfach vergriffen.
Sie erwecken nämlich den falschen Eindruck, als hättenSie bereits in den letzten drei Jahren Grundlegendes odergar Wegweisendes zur Regulierung der Finanzmärkteunternommen. Das haben Sie nicht!
– Ihre Broschüre oder Ihre Anträge mögen ja schön sein.Das ist ja alles in Ordnung. In denen muss man auchnicht wahrhaftig sein.
– Gemach, Gemach, keine Aufregung, keine Blutdruck-steigerung. – Das, was Sie in diesem Antrag aufführen,ist ganz interessant. Sie führen beispielsweise das Re-strukturierungsgesetz auf, weiterhin die Bankenabgabe,die Reform der Vergütungssysteme und ein Verbot unge-deckter Leerverkäufe. Das sind jedoch Reformmaßnah-men, die aus der Zeit der Großen Koalition resultieren.Dafür haben Sie gar kein Urheberrecht.
Sie sollten mit dem Urheberrecht vorsichtiger sein. DieMaßnahmen sind alle in der Großen Koalition angelegtworden. Die Vorarbeiten zum Restrukturierungsgesetz inDeutschland stammen noch aus der Feder von FrauZypries und von mir. Die Bankenabgabe ist angelegtworden in der Großen Koalition. Dem Thema des Ver-bots von Leerverkäufen habe ich mich erstmals zuge-wandt.
– Entschuldigen Sie, Sie haben das dann nachgemacht,und das werfe ich Herrn Schäuble auch gar nicht vor.Das hat er ja richtig gemacht.
– Entschuldigen Sie, ich würde sehr vorsichtig sein;denn ich hatte mich auch mit anderen Ländern darüberabgestimmt, dass das Ganze nicht nur auf Deutschlandzu begrenzen ist, sondern sich auch auf Europa erstreckt.Unbenommen dessen: Das, was Sie hier betreiben, istschlicht und einfach die Verletzung von Copyrights. DieReformen stammen alle aus der Großen Koalition.
Im Übrigen verweisen Sie auf Initiativen, die durch-aus richtig sind: die Regulierung von Ratingagenturen,Hedgefonds und Derivatemärkten – nur, dies sind allesInitiativen der Europäischen Kommission, und Sie kom-men gar nicht darum herum, diese nach europäischemRecht umzusetzen.
Unsere Vorschläge liegen auf dem Tisch. Gemeinsammit der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen haben wir hiereinen Antrag zu einem Aspekt vorgelegt. Die weiterenAspekte finden sich in umfangreicheren Papieren, zu de-nen ich auch etwas gesagt oder beigetragen habe. Wiräußern uns hier in unserem Antrag ganz gezielt zu einereuropäischen Bankenunion und zeigen die wirklichenProbleme und Lösungen auf. Wir fordern eine europäi-sche Abwicklungsbehörde, ein europäisches Abwick-lungsregime und einen Restrukturierungsfonds, meineDamen und Herren, der nicht von den Steuerzahlern ge-speist wird – nein! –, sondern von den Banken selberund damit die deutschen Steuerzahler entlastet.
Eine europäische Bankenaufsicht ist wichtig. Ich sagekein böses oder kritisches Wort dazu. Selbstverständlichist es richtig, dass die europäische Bankenaufsicht beför-dert wird. Ich bin sehr froh darüber, dass die Lösung he-rausgekommen ist, die sich jetzt anbahnt, die sich jeden-falls in einem ersten Schritt auf die systemrelevanten,großen Banken erstreckt. Es ist auch richtig, die Banken-aufsicht bei der EZB anzusiedeln, wenn es eine klareTrennung der Zuständigkeiten gibt. Aber in der Haf-tungsfrage verbessert sich durch die Verbesserung derBankenaufsicht zunächst einmal gar nichts. Vielmehrentspricht der Umgang mit der Haftungsfrage dem Satz
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Peer Steinbrück
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des von Herrn Schäuble und mir sehr respektierten Chefsder Bank of England, Mervyn King, der gesagt hat:„Global in life, but national in death.“ Das gilt für dieBanken: Sie sterben immer noch auf nationaler Ebene,mit der Folge, dass Steuerzahler und Steuerzahlerinnendafür aufkommen müssen.Wir brauchen eine europäische Abwicklungsbehörde,um künftig die von der EZB beaufsichtigten systemrele-vanten Banken in einem grenzüberschreitenden Verfah-ren geordnet restrukturieren oder auch abwickeln zukönnen. Das ist übrigens eine Forderung, die gar nicht sooriginell ist; sie ist in den Reihen meiner Fraktion schonvor drei, vier Jahren geäußert worden. Ich würde gernewissen: Was haben Sie denn seitdem gemacht, um dasauf der europäischen Ebene durchzusetzen?
Meine Damen und Herren, unsere Aufgabe in diesemHaus ist es, die Steuerzahlerinnen und Steuerzahler inEuropa zu schützen, vor den Risiken in Europa, aberauch vor Steuerbetrug und Steuerhinterziehung. HerrSolms ist vorhin darauf eingegangen. Ich will Ihnen dieZahlen in Erinnerung rufen: Allein in Deutschland feh-len aufgrund illegaler Steuerpraktiken nach seriösenSchätzungen jährlich bis zu 150 Milliarden Euro; inganz Europa, sagen einige Fachleute, sind es 900 Mil-liarden Euro. Das heißt, eine Reihe von Problemen, mitdenen wir uns hier beschäftigen, gäbe es nicht, wenn wirbei der Erzielung dieser Steuerzahlungen erfolgreicherwären.Wenn ein so traditionsreiches Haus wie die SchweizerWegelin-Bank offen zugeben muss: „Wir haben betro-gen“, wenn Beihilfe zum Steuerbetrug zum Geschäfts-modell geworden ist, dann ist der Weckruf in meinenAugen unüberhörbar. In meinen Augen gehört es zurWiederherstellung der Grundprinzipien der Marktwirt-schaft – darum geht es –, das Thema der Bekämpfungdes Steuerbetruges sehr ernst zu nehmen
und uns nicht durch den Entwurf eines deutsch-schwei-zerischen Steuerabkommens ablenken zu lassen, dasnichts anderes als einen Ablasshandel darstellen würde –mehr nicht. Sie wedeln mit Mehreinnahmen; aber Siesind bereit, dafür Grundprinzipien über Bord zu schmei-ßen. Was Sie verschweigen, ist, dass Steuerstraftäter lautdiesem Entwurf nach dem Willen der Bundesregierungauch noch Rabatt bekommen sollten. Was Sie ver-schweigen, ist, dass diese Steuerstraftäter anonym blei-ben sollten, dass sie der Strafverfolgung entzogen wer-den sollten. Sie von der Bundesregierung wolltenSteuerbetrüger entkriminalisieren und zugleich der deut-schen Steuerfahndung Fesseln an die Füße legen, um zuverhindern, dass sie auch mithilfe von Steuer-CDs dastut, wozu sie da ist.
Herr Steinbrück, Sie müssten zum Ende kommen.
Steuergerechtigkeit, meine Damen und Herren, ist
nicht nur eine Frage der Staatseinnahmen – darauf will
ich hinaus –, sondern sie ist, ebenso wie die Bändigung
des Raubtierkapitalismus, von dem Helmut Schmidt
schon vor über zehn Jahren gesprochen hat, sehr viel
mehr: Steuergerechtigkeit ist eine Demokratiefrage. Sie
betrifft die Balance und das Gleichgewicht in unserer
Gesellschaft.
Vielen Dank.
Der Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble hat dasWort.
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finan-zen:Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrKollege Steinbrück, wir haben gut zusammengearbeitetin der Regierung der Großen Koalition. Ich habe einGrundverständnis – das mag altmodisch sein – einer ge-wissen Solidarität zwischen Amtsvorgängern und Amts-inhabern.
Das macht es mir ein bisschen schwer, auf Sie einzuge-hen. Da ich Protestant bin, habe ich auch ein bisschenMitleid. Das macht es mir darüber hinaus schwer, aufSie einzugehen.
Was werfen Sie uns eigentlich vor? Im ersten Teil Ih-rer Rede werfen Sie uns vor, wir hätten alles falsch ge-macht. Im zweiten Teil Ihrer Rede werfen Sie uns vor,wir hätten nur das gemacht, was Sie gemacht haben. Ent-weder das eine oder das andere, aber doch nicht beideszusammen und das auch noch in einer Rede. Das gehtdoch nicht.
Natürlich sind Lehren zu ziehen aus der Finanz- undBankenkrise, die ihren Ursprung übrigens in Amerika,bei Lehman Brothers, und nicht im Euro-Raum hatte.Daran muss man auch einmal erinnern. Natürlich ist dasZiehen der Konsequenzen mit dem Ziel einer besserenRegulierung des Finanzmarkts eine große Aufgabe, dieübrigens nicht über Nacht bewältigt werden kann. Viel-mehr müssen in einem langwierigen beharrlichen Pro-zess auf globaler, europäischer und nationaler Ebene dierichtigen Konsequenzen gezogen werden.
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Angesichts der Volatilität in den modernen Finanz-märkten geht es doch gar nicht anders. Ich kann hier jedeRegel einführen, aber wenn mit einem Knopfdruck alleAktivitäten aus Deutschland heraus verlagert werden,habe ich nichts erreicht. Infolgedessen geht es doch nichtso einfach, wie Sie es hier gesagt haben.
Es hat doch keinen Sinn, den Menschen, wie es dieLinken in Ihrer Partei tun, mit uralten klassenkämpferi-schen Parolen einzureden, nur die Banken seien an allenProblemen schuld. Das haben wir schon 100 Jahre langgehört, und das war schon immer falsch.
Das hat schon einmal Deutschland und Europa geteilt,und das ist überwunden. Das sind so alte Hüte, dass ichmich eigentlich wundere, dass Sie uns das hier vorgetra-gen haben.
Ursache der Euro-Krise ist, dass wir in der gemeinsa-men europäischen Währungsunion unterschiedlicheFinanzpolitiken in den Ländern haben. Das ist nicht nurim Euro-Raum, sondern überall in der Welt der Fall. ImÜbrigen ist die Staatsverschuldung außerhalb des Euro-Raums höher als innerhalb des Euro-Raums. Großbritan-nien hat eine höhere Staatsverschuldung als der Durch-schnitt des Euro-Raums. Die Vereinigten Staaten vonAmerika will ich gar nicht erwähnen.Ich füge hinzu, dass mir die Politik der neu gewähltenjapanischen Regierung ziemlich große Sorgen bereitet.Wir haben ein Übermaß an Liquidität in den globalenFinanzmärkten. Dieses wird durch ein falsches Verständ-nis von Notenbankpolitik weiter geschürt. Das alles sindunsere Herausforderungen und unsere Aufgaben, denenwir uns stellen.Wir haben ein unterschiedliches Maß an Wettbe-werbsfähigkeit in den europäischen Volkswirtschaften.Das ist in einer gemeinsamen Währungsunion natürlichein Riesenproblem, das in Angriff genommen werdenmuss.Natürlich haben wir den Fehler gemacht – wir alle,sowohl in der Regierung als auch in der Opposition; ichwar auch lange genug dabei –, zu glauben: Je wenigerRegulierung, umso besser für den Finanzplatz Deutsch-land. Am Schluss hatten wir überall auf der Welt so we-nig Regulierung, dass die Finanzmärkte begonnen ha-ben, sich ohne Regeln und Grenzen selbst zu zerstören.So ist die Wirklichkeit, und das müssen wir ändern.Es ist aber nicht getan mit einer einfachen Beschimp-fung der Banken oder mit der Behauptung, dass dieFinanzinstitute Infektionskanäle in die Staatshaushalte inEuropa gelegt hätten. Das ist eine Verschwörungstheo-rie, die nun wirklich zum Himmel schreit, und zwarschreit sie nach Erbarmen.
– In Spanien haben wir eine Immobilienkrise,
ausgelöst übrigens möglicherweise durch ein falschesVerständnis von Wachstumsförderung, indem man näm-lich glaubt, dass man mit schuldenfinanzierten Anreiz-programmen in den Immobiliensektor eingreifen kann.Das Entstehen der spanischen Immobilienblase könnenSie doch exakt verfolgen. Diese wiederum hat den spani-schen Sparkassensektor so infiziert, dass sich darausweitere Probleme ergeben haben.Irland ist ein Sonderproblem. Die spanische Immobi-lienkrise hat übrigens ziemlich viel Ähnlichkeit mit demEntstehen der Subprimekrise in den Vereinigten Staatenvon Amerika – um auch daran zu erinnern.
Ich sage noch einmal: Wir sind auf dem richtigenWeg, Schritt für Schritt. Wir sind nicht über den Berg,aber wir sind auf dem richtigen Weg, die Vertrauenskrisein Bezug auf den Euro – denn aus all dem ist eine Ver-trauenskrise entstanden – Schritt für Schritt zu lösen.
Die realen Zahlen um den Jahreswechsel belegendies. Die Haushaltssituation in allen Ländern – mit Pro-gramm oder auch in solchen Ländern ohne Programm –hat sich verbessert. Die Unterschiede bei den Lohnstück-kosten sind geringer geworden. Das betrifft das ThemaWettbewerbsfähigkeit und die zu großen Verzerrungen.Die Zinsdifferenzen werden geringer. Das Vertrauen indie Finanzmärkte kommt Schritt für Schritt zurück. Wirsind nicht über den Berg, aber wir sind auf dem richtigenWeg.Aber eines dürfen wir nicht machen – und das ist dergrundlegende Unterschied –: exakt die Fehler fortsetzen,die zu der Krise geführt haben. Sie haben einen richtigenSatz gesagt. Die Gretchenfrage jeder wirtschaftlichenOrdnung ist: Haftung und Entscheidung, Risiko undChance dürfen nicht auseinanderfallen. Das ist imFinanzsektor so – „too big to fail“, das kennen wir –, unddas gilt natürlich auch für eine Politik der Vergemein-schaftung in Europa: keine Vergemeinschaftung vonHaftung, wenn wir nicht auch eine Vergemeinschaftungder Entscheidung beschließen. Wer Schulden machenkann, für die andere das Risiko tragen, macht sie. Des-wegen ist Ihr Weg der Vergemeinschaftung von Haftungein Weg, der die Krise verschlimmert, statt sie zu lösen.
Ich habe mit dem Sachverständigenrat darüber disku-tiert. Sie übernehmen ja den Vorschlag des Sachverstän-
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Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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digenrates. Ein Altschuldentilgungsfonds, wie vomSachverständigenrat vorgeschlagen, setzt, um es recht-lich zu sagen, zumindest eine Vertragsänderung voraus,denn mit dem Bail-out-Verbot ist er nicht zu vereinba-ren; dafür müsste man die Verträge ändern.Aber unterstellen wir einmal, dass wir das Risiko derzusätzlichen Haftung – das sind über 60 Prozent der Ge-samtverschuldung der Mitgliedsländer in der Euro-Zone –in einer Größenordnung des deutschen Bruttoinlandspro-dukts zulasten der deutschen Wirtschaft übernehmenwürden. Die unmittelbare Folge wäre, dass die deutscheWirtschaft die Last nicht mehr tragen könnte, dass wirheruntergeratet werden würden und dass das Vertrauenin die Solidität der deutschen Wirtschaft zerstört würde.Damit zerstören Sie übrigens Europa; denn wir sind derAnker für Europa. Das dürfen wir schon aufgrund unse-rer Verantwortung für Europa nicht machen. Deswegenist Ihr Vorschlag nicht zu verwirklichen.
Nächstes Beispiel. Sie schlagen in Ihrem Antrag ei-nen europäischen Bankenfonds mit einem Volumen von200 Milliarden Euro vor, den die Banken schnell aufle-gen sollen. Sie wissen genau: Wenn die Banken zu denAnforderungen – zusätzliches Eigenkapital, Umsetzungvon Basel III; wir sind ja in der Endphase der Verhand-lungen mit dem Europäischen Parlament; es geht inEuropa halt nicht so schnell, wie ich mir das wünschenwürde, aber das Parlament muss seine Rolle wahrneh-men – noch 200 Milliarden Euro zusätzliches Kapitalaufbringen sollen,
dann wird das eine dramatische Kreditverknappung fürdie gesamte europäische Wirtschaft zur Folge haben; dasheißt, wir erleben einen weiteren wirtschaftlichen Ab-sturz, und das, wo wir gerade dabei sind, uns aus derweltwirtschaftlichen Konjunkturdelle herauszubewe-gen. Das wäre das Dümmste, was man machen kann,völlig unverantwortlich.
Sie müssen sich inzwischen schon so weit nach linksbewegen, dass Sie von Herrn Trittin rechts überholt wer-den.
– Reden Sie doch nicht andauernd dazwischen, das nütztsowieso nichts.
Selbst Herr Trittin hat gesagt, es wird einige Zeit dauern,bis die 200 Milliarden Euro aufgebracht werden können.Daraufhin haben Sie einen noch intelligenteren Vor-schlag gemacht. Sie haben gesagt: Der europäische Ban-kenfonds soll für diese 200 Milliarden Euro Anleihenausgeben. Wer nimmt die? Wie werden sie refinanziert?Durch die EZB. Sagen Sie doch gleich: Wir lösen dieProbleme, indem wir die Banknotenpresse anwerfen undso viel Geld drucken, wie wir brauchen. Sie untergrabenjedes Vertrauen in die Stetigkeit unserer wirtschaftlichenEntwicklung. Exakt deswegen werden wir das nicht ma-chen.
– Das ist ein grundlegender Unterschied. Darüber werdenwir noch öfter streiten. Wenn Sie wollen, dass die Noten-bank nicht nur für die Stabilität des Geldes, in erster Liniefür die Preisstabilität, verantwortlich ist, sondern wir mitder Banknotenpresse alle unsere wirtschaftspolitischen,sozialpolitischen und sonstigen Probleme lösen,
dann schaffen Sie Inflation als Grundlage aller politi-schen Entscheidungen.Aus genau diesem Grund haben wir schon vor 60 Jah-ren, zu Beginn der Bundesrepublik Deutschland, denpolitischen Mehrheiten die Banknotenpresse entzogen,die Unabhängigkeit der Notenbank beschlossen und eineBeschränkung auf das eng ausgelegte geldpolitischeMandat vorgenommen. Dabei hat uns die Erkenntnis ge-leitet, dass politische Mehrheiten lieber Geld ausgeben,als den Bürgern die Rechnung für die Ausgaben zu prä-sentieren.Wenn Sie das ändern wollen, können wir darüberstreiten. Ich sage Ihnen: Die große Mehrheit der Deut-schen weiß, dass Inflation die schlimmste soziale Unge-rechtigkeit ist
und wir nachhaltiges Wirtschaftswachstum nur auf derGrundlage von Stabilität erreichen.
Jeder internationale Vergleich belegt doch inzwi-schen, dass die Länder, die eine einigermaßen verant-wortliche Finanzpolitik betreiben, wirtschaftlich sehrviel besser dastehen als die anderen. Warum lassen Siesich durch diese Tatsache nicht belehren?
Wir wissen inzwischen – das hat selbst der frühere Chef-ökonom des Internationalen Währungsfonds, Herr Rogoff,nachgewiesen –, dass ab einer bestimmten Höhe derStaatsverschuldung eine weitere Erhöhung der Staats-verschuldung Wachstum nicht mehr fördert, sondernmittelfristig behindert. Genau deswegen machen wir dasnicht. Weil wir das nicht machen, sind wir im europäi-schen Vergleich diejenigen mit den besten Stabilitäts-erfolgen und den besten nachhaltigen Wirtschaftserfol-gen. Genau diese Politik werden wir fortsetzen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26779
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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– Ich weiß, warum Sie dauernd dazwischenreden.
– Oh Gott, Sie sind ja sowieso – – Das lohnt ja gar nicht.
– Sie wollen das nicht hören. Wir hören uns Ihre Auffas-sungen doch auch mit großer Ruhe an. Wir hören auf-merksam zu, setzen uns damit auseinander und sagen,warum wir Ihre Auffassungen für falsch halten. Das istder Sinn einer parlamentarischen Debatte. Es ist nie an-genehm, wenn man gesagt bekommt, dass ein anderernicht die eigene Meinung teilt. Trotzdem sage ich Ihnen:Wir können mit realen ökonomischen Zahlen und mitErfolgen belegen, dass unser Weg zwar anstrengend ist,er uns aber Schritt für Schritt voranführt. Das ist auch inder Debatte über den Jahreswirtschaftsbericht sichtbargeworden. Deswegen werden wir exakt diesen Weg wei-tergehen.Wir haben jetzt einen einheitlichen Bankenaufsichts-mechanismus für die systemrelevanten Institute geschaf-fen. Dieser Mechanismus macht aber nur Sinn, wenn dieBankenaufsicht mindestens die gleiche Qualität wie diein Deutschland hat. Natürlich gibt es Länder in Europa,in denen die Bankenaufsicht nicht die Qualität unsererBankenaufsicht erreicht. Deswegen sage ich Ihnen: DerMechanismus einer europäischen Bankenaufsicht ist mitBlick auf grenzüberschreitende Problematiken richtig,aber nur unter der Voraussetzung, dass die Bankenauf-sicht so gut ist wie die, die wir haben. Es kann nicht sein,dass wir auf europäischer Ebene ein schlechteres Niveauhaben. Das ist auch die Position der Europäischen Zen-tralbank. Daher müssen die Regeln für die Trennmauerzwischen Geldpolitik und Bankenaufsicht so streng wiemöglich sein. Wir haben auf der Grundlage der gelten-den Verträge – das haben Sie anerkannt – das Bestmögli-che, das Optimale herausgeholt. Deswegen werden wirdas Schritt für Schritt umsetzen.Im Übrigen bleibt es dabei: Die Interpretation der Be-schlüsse zur direkten Bankenrekapitalisierung warfalsch, Herr Steinbrück. Auch in der Entscheidung derStaats- und Regierungschefs vom frühen Morgen des29. Juni 2012 – ich habe den Tag noch gut in Erinne-rung – steht ausdrücklich:
Wenn eine europäische Bankenaufsicht die Arbeit aufge-nommen hat, unter Beteiligung der EZB, dann könnendie Banken bei Erfüllung der übrigen Voraussetzungendes ESM-Vertrages direkt Kapital bekommen. Die übri-gen Voraussetzungen sind: Der ESM bleibt Lender ofLast Resort, das heißt subsidiär. Nur wenn die Bankensich das Kapital nicht selbst besorgen können und auchder Mitgliedstaat das Kapital nicht besorgen kann, kannder Mitgliedstaat beim ESM einen Antrag stellen.
Dann muss ein Anpassungsprogramm vereinbart wer-den, ein Memorandum of Understanding. Nur so undnicht anders geht es. Würden wir es anders machen,wäre der ESM innerhalb von vier Wochen völlig leer-gelaufen. Damit würden wir alles vergemeinschaften.Das wäre exakt der falsche Weg; es wäre eine Fehlinter-pretation der Beschlüsse. Es gibt manche in Europa, diedas wollen. Deswegen muss ich hier klarstellen: Wirwerden es nicht machen. Die Verträge sind völlig anderszu verstehen.
Ein letztes Wort, weil Sie auch in dieser Debatte nochauf das Thema der Steuerhinterziehung zu sprechengekommen sind. Herr Kollege Steinbrück, Steuerhinter-ziehung ist – das wissen Sie – ein Riesenproblem. AuchSie haben in Ihrer Amtszeit – das habe ich Ihnen nie vor-geworfen – an der Wirklichkeit nicht sehr viel ändernkönnen. Die moderne Verflechtung der Wirtschaft bringtunglaubliche Möglichkeiten mit sich. Denken Sie an dieMehrwertsteuer. Für die organisierte Kriminalität ist dieAusnutzung der Tatsache, dass wir die Mehrwertsteuernotwendigerweise nach vereinbarten Entgelten erheben,ein unglaubliches Geschäftsmodell. Denken Sie daran,dass mit der großen Mobilität der Geschäftsaktivitätenim Internet – ich habe das Thema zum ersten Mal auf-gegriffen und auf die G-20-Ebene gehoben – eine starkeErosion der Steuerbasis verbunden ist.Ich muss jetzt aber noch etwas zur Schweiz sagen.Das Abkommen ist gescheitert; es konnte nicht zum1. Januar in Kraft treten. Sie haben dazu aber schon wie-der etwas gesagt, was mit meinem Respekt vor Ihneneinfach nicht zu vereinbaren ist. Sie sagen etwas, vondem ich nicht glaube, dass das von dem „richtigenSteinbrück“ stammt. Sie waren federführend dafür zu-ständig und verantwortlich, dass bei der Besteuerungvon Kapitalerträgen eine Abgeltungsteuer eingeführtwurde. Wenn ein deutscher Steuerpflichtiger bei deut-schen Banken und Sparkassen bzw. RaiffeisenbankenKapitalerträge erzielt, behalten diese von den Kapital-erträgen – von den Zinsen, Dividenden etc. – die Kapi-talertragsteuer ein und führen sie an das Finanzamt ab.Gäbe es das Abkommen, dann hätten wir seit dem 1. Ja-nuar in der Schweiz exakt dieselbe Praxis; dann würdenauch Schweizer Banken das machen. Wir haben dasAbkommen jetzt aber nicht. Sie haben es blockiert undverhindert. Deswegen sind wir seit dem 1. Januar daraufangewiesen, dass uns die Schweizer Banken freiwilligdie Daten nennen – oder auch nicht.Wenn Sie Steuerhinterziehung bekämpfen wollen,
müssen Sie zu internationaler Kooperation bereit sein.
Internationale Kooperation kann nur heißen, dass dieRegeln, die bei uns gelten, auch im Nachbarland gelten.Das genau haben Sie zerstört.
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26780 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble
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Es gibt nur einen Grund dafür: parteipolitisch motivier-ten Missbrauch.Herzlichen Dank.
Jetzt hat Richard Pitterle das Wort für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-
ginnen und Kollegen! Die IWF-Chefin, Madame
Lagarde, urteilte Ende letzten Jahres – ich zitiere –: „Das
Finanzsystem als Ganzes ist noch nicht viel sicherer, als
es zur Zeit des Zusammenbruchs von Lehman Brothers
war.“ Die Koalition hingegen hat in ihrem gestern hastig
vorgelegten Antrag aufgezählt, was die Bundesregierung
alles getan habe. Ein Großteil des Reformprogramms sei
abgearbeitet, heißt es dort. Außerdem habe Deutschland
eine Vorreiterrolle übernommen. Wesentliche Ursachen
der Finanzkrise seien beseitigt worden. Ich sage Ihnen:
Eigenlob stinkt.
Wie sieht Ihre Bilanz tatsächlich aus? Die von Ihnen
genannten Vorschriften bezüglich eines höheren Eigen-
kapitals für Banken sind Vorgaben von europäischen
Gremien. Ich nenne nur die Stichworte Basel III und
CRD IV. Sie sind aber doch nicht das Ergebnis Ihrer
Regierungspolitik.
Sie loben sich wegen des neuen gesetzlichen Selbst-
behalts von 5 Prozent bei Verbriefungen, also bei der
Umverpackung schlechter und besserer Kredite zu neuen
Bündeln, deren Verteilung rund um den Globus als eine
der Hauptursachen für den Ausbruch der Finanzkrise
gilt. Doch schon vor Ihrem Gesetz lag der sogenannte
Selbstbehalt in der Praxis bei mindestens 10 bis 15 Pro-
zent der Kreditforderungen.
Sie preisen die neuen Vergütungsregeln für Manager
und Mitarbeiter von Banken. Doch wie die Bankenauf-
sicht selber zugibt, sind sie nur sehr schwer bei ausländi-
schen Tochtergesellschaften deutscher Banken durch-
zusetzen, bei ausländischen Banken ohnehin nicht.
Ratingagenturen tragen, wie Sie richtig erkannt ha-
ben, eine große Mitverantwortung an der Finanzkrise.
Seit 2010 müssen sich Ratingagenturen registrieren und
beaufsichtigen lassen. Wo ist da ein Fortschritt?
Kannten wir vorher ihre Anschrift nicht? Wussten wir
vorher nicht, wer Geschäftsführer ist? Wie soll die deut-
sche bzw. europäische Aufsicht bei den drei dominieren-
den Ratingagenturen mit Sitz in den USA stattfinden?
Die Koalition verkündet stolz: Kundeneinlagen sind
bis zu einem Betrag von 100 000 Euro gesetzlich ge-
schützt. Schön. Aber die Sparkassen und Genossen-
schaftsbanken hatten schon immer die Institutssiche-
rung, und die privaten Banken haften seit Jahrzehnten
mit 30 Prozent ihres Eigenkapitals für die Einlagen der
Bürgerinnen und Bürger.
Ich frage Sie: Wo bitte sind Einschränkungen beim
spekulativen Eigenhandel, also den Geschäften, die
Banken im eigenen Namen und auf eigene Rechnung
tätigen? Die Finanzkrise hat gezeigt, dass in diesen
Geschäften enorme Risiken liegen. Etliche große Ban-
ken gerieten ins Schlingern und wurden mit Milliarden-
beträgen der Steuerzahlerinnen und Steuerzahler geret-
tet. Die Linke ist daher für ein grundsätzliches Verbot
des spekulativen Eigenhandels.
Denn im Gegensatz zu diversen Vorschlägen der EU-
Kommission oder der Anhänger eines Trennbankensys-
tems wollen wir den Spekulanten nicht einen Extraraum
zur Verfügung stellen, in dem sie sich austoben können,
sondern wir wollen, dass das Zocken der Banken endlich
aufhört.
Wir halten von einem Trennbankensystem gar nichts.
Lehman Brothers war eine reine Investmentbank in ei-
nem grundsätzlichen Trennbankensystem. Die großen
US-Investmentbanken sind bis auf eine Ausnahme unter
das Dach von Geschäftsbanken geschlüpft. Das soll für
Deutschland die Zukunft sein? Wie man gestern im
Handelsblatt lesen konnte, liebäugelt Herr Schäuble ge-
rade mit der französischen Trennbankenreform. Doch
das ist ein Reförmchen. Das hochspekulative Handels-
geschäft soll nicht unterbunden, sondern lediglich in
eine Tochtergesellschaft ausgegliedert werden. Nein, da
gehen wir nicht mit.
Die Linke will das bewährte Universalbankensystem be-
halten.
Sie behaupten in Ihrem Antrag außerdem, dass Sie die
Eingriffsbefugnisse der Bankenaufsicht gestärkt hätten.
Doch auch hier sind Sie wieder auf halber Strecke stehen
geblieben. Gestern in der Anhörung zum Hochfrequenz-
handel hat die Bankenaufsicht einräumen müssen, dass
ihr das Personal für eine echte Kontrolle fehlt. Markt-
manipulationen finden statt, ohne dass die BaFin sie
überhaupt entdecken könnte.
Das ist doch keine Erfolgsgeschichte.
Die Bundesregierung schmückt sich mit fremden
Federn und zündet Nebelkerzen. Ihr Antrag ist mit
„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanz-
märkte fortsetzen“ überschrieben. Was heißt hier „fort-
setzen“? Fangen Sie doch erst einmal richtig an!
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Volker Wissing fürdie FDP-Fraktion.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26781
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr KollegeSteinbrück, zwei Dinge zeichnen Sie aus: Erstens wissenSie hinterher immer alles besser, und zweitens wurdenalle erfolgreichen Gesetze, die CDU/CSU und FDP hierim Bundestag – im Übrigen mit Gegenstimmen derSPD-Fraktion – durchgesetzt haben, heimlich von PeerSteinbrück geschrieben. Das haben wir heute dazu-gelernt.
Das ist, Herr Steinbrück, im besten Falle lächerlich.Aber sich hier hinzustellen, nachdem Ihre eigeneFraktion und Sie persönlich das Restrukturierungsgesetzabgelehnt haben, nachdem Sie unsere Regulierungs-gesetze hinsichtlich Leerverkäufen und anderer Dingeabgelehnt haben, und zu sagen, Sie hätten sie eigentlichgeschrieben
und wir hätten bei Ihnen abgeschrieben, das ist, HerrSteinbrück, wirklich eine maßlose Täuschung derÖffentlichkeit.
Sie haben hier die Probleme der Finanzwirtschaft inden letzten Jahren eindringlich beschrieben. Es ist wahr:Es gab dramatische Exzesse mit erheblichen Problemen.Aber man fragt sich doch: Wie konnte sich der Banken-sektor unter einem nordrhein-westfälischen Finanz-minister Peer Steinbrück eigentlich so entwickeln? Wiekonnte sich der Finanzsektor unter einem Ministerpräsi-denten Peer Steinbrück so weiterentwickeln?
Wie konnte sich der Finanzsektor unter einem Bundes-finanzminister Peer Steinbrück so weiterentwickeln,dass es zu einer Zuspitzung der Krise kam? Ja, wie wardenn das alles möglich? Wollen Sie der Öffentlichkeitdas vielleicht irgendwann einmal sagen? Das ist eineFrage des Anstands und der Aufrichtigkeit.
Sie stellen sich hier hin und sagen, dass Sie gemein-sam mit den Grünen einen neuen Anlauf zur Bändigungder Finanzmärkte unternehmen wollen. Wo ist denn Ihrdamaliger Anlauf gewesen?
Sie haben damals, vom Zeitgeist geprägt – HerrSchäuble hat das richtig ausgeführt –, Hedgefonds zu-gelassen und die Deregulierung der Finanzmärkte be-trieben.
Das war ein breiter Konsens.
Das war damals aber auch die Auffassung von Rot-Grün. Es war Ihre Regierung, die das betrieben hat. Siehaben die Finanzmärkte dereguliert. Sie haben also garkeinen ersten Anlauf unternommen. In Ihrer ganzenAmtszeit haben Sie kein einziges Gesetz zur Regulie-rung der Finanzmärkte auf den Weg gebracht.
Wir, liebe Kolleginnen und Kollegen, haben mit anse-hen müssen, dass Finanzminister Peer Steinbrück, als dieKrise in Amerika eskalierte, der deutschen Öffentlich-keit – selbstbewusst wie immer – mitgeteilt hat, das seiein amerikanisches Problem, das in Deutschland nichtankommen werde. Wir haben im Rahmen eines Untersu-chungsausschusses herausarbeiten müssen – sonst hättenSie auch das verschwiegen –, dass Peer Steinbrück dieBerichte der Finanzaufsicht im Jahre 2008, also mittenin der Krise, noch nicht einmal gelesen hat;
das war eine eklatante Fehleinschätzung der Bedrohungs-und Gefährdungslage. Aber Sie stellen sich hier hin undsagen, man müsse den Steuerzahler schützen. Was habenSie denn letztlich anderes gemacht, als die Banken aufSteuerzahlerkosten zu rekapitalisieren? Sie haben ja nochnicht einmal die warnenden Hinweise der Bankenaufsichtin Deutschland gelesen, Herr Steinbrück. Das ist dieWahrheit. Das ist die Bilanz Ihrer Verantwortung als Bun-desfinanzminister.
Meine Damen und Herren, wir als christlich-liberaleRegierung haben die richtige Reaktion auf die Krise ge-zeigt. Wir haben einen Selbstbehalt bei Verbriefungeneingeführt. Wir haben ein Leerverkaufsverbot durchge-setzt, das im Übrigen in ganz Europa Schule macht. Wirhaben die Beaufsichtigung von Ratingagenturen umge-setzt. Wir haben ein Hochfrequenzhandelsgesetz auf denWeg gebracht. Wir setzen strenge Eigenkapital- undLiquiditätsvorschriften für Banken durch. Wir haben dienationale Bankenaufsicht reformiert und sie unabhängi-ger von der Wirtschaft gemacht; in Zukunft wird es dasrot-grüne Modell, nach dem die Beaufsichtigten selbstals Mitglieder in den Gremien der Bankenaufsicht sit-zen, nicht mehr geben. Wir haben für Unabhängigkeitvon der Wirtschaft gesorgt. Wir haben in Deutschlandein Restrukturierungsregime aufgebaut, einen Banken-restrukturierungsfonds geschaffen und eine Banken-abgabe durchgesetzt. Wir haben uns dafür starkgemacht,dass wir auch auf europäischer Ebene eine schlagkräf-tige Bankenaufsicht bekommen. Das alles ist christlich-
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26782 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Volker Wissing
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liberale Politik zur Stabilisierung der Finanzmärkte,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Sie, Herr Steinbrück, haben hier gesagt, wir bräuchteneinen europäischen Bankenrestrukturierungsfonds.
Dann haben Sie der Öffentlichkeit erklärt, er sei notwen-dig, um den deutschen Steuerzahler vor Risiken zuschützen. Ich sage Ihnen: Wir müssen einen europäi-schen Restrukturierungsfonds verhindern, um den deut-schen Steuerzahler und die deutsche Steuerzahlerin zuschützen. Das Gegenteil von dem, was Sie vorschlagen,ist richtig.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Sie vergessen etwas– Herr Schäuble hat es Ihnen eben schon gesagt –:
Sie vergessen, dazuzusagen, woher das Geld für dieBankenrekapitalisierung aus einem europäischen Fondsam Ende kommen soll.
Wir sagen: Wir wollen die Stabilisierung des Finanz-sektors in Europa, die in unserem nationalen Interesseist, unterstützen, aber nur dann, wenn auch ein Auf-lagenprogramm durchgesetzt wird, damit die Wett-bewerbsfähigkeit der Volkswirtschaften, die heute nichtwettbewerbsfähig sind, gestärkt wird. Das muss manallerdings über den ESM machen, und das darf man aufkeinen Fall über einen europäischen Restrukturierungs-fonds machen. In diesem Rahmen kann man nämlichkeine Auflagen durchsetzen, sondern muss am Ende inNotaktionen bedingungslos helfen und Risiken für dendeutschen Steuerzahler übernehmen, die man überhauptnicht kontrollieren kann.
Sie wollen die Kasse öffnen. Das wollen wir verhindern.Wir setzen uns für Stabilität in der Euro-Zone ein. Siehingegen suchen – auch in den Papieren, die Sie vorle-gen – immer wieder nach Auswegen, um letzten Endesdie Notenpresse anwerfen zu können.
Genau das unterscheidet Sie von dieser christlich-libera-len Regierung.
Das, was Herr Steinbrück in seinen Papieren sonst sovorschlägt, sind entweder Dinge, die längst umgesetztsind oder auf europäischer Ebene auf dem Weg sind,
oder es sind Nebelkerzen.
Das beste Beispiel für eine Ihrer Nebelkerzen, HerrSteinbrück, ist diese Braunschweiger Erklärung, in derSie vorgeschlagen haben, das Kreditwesengesetz so zuändern, dass Banken die Lizenz entzogen werden kann,wenn sie fortgesetzt Beihilfe zum Steuerbetrug leisten.Herr Steinbrück, ich weiß nicht, ob Sie das nicht wissenoder ob Sie die Öffentlichkeit bewusst täuschen; aberdas, was Sie herbeiführen wollen, ist in Deutschland be-reits geltendes Recht: Nach dem Kreditwesengesetzkann die Bankenaufsicht bei fortgesetztem Verstoß ge-gen deutsches Recht schon heute Managern die Zulas-sung und Banken die Lizenz entziehen. Wir brauchendazu keine SPD und keinen Peer Steinbrück und keineBraunschweiger Erklärung. Die Neue Zürcher Zeitunghat Ihnen bescheinigt, dass es offenbar selbst Ihrer eige-nen Partei peinlich ist, dass Sie Dinge vorschlagen, dielängst geltendes Recht in Deutschland sind.Das, was Sie in der Vergangenheit beigetragen haben,war kein sinnvoller Beitrag zur Stabilisierung des Fi-nanzsektors, und was Sie heute vorschlagen, sind Nebel-kerzen. Ich sage Ihnen: Sie liegen in allen Punktenfalsch. Sie sind in diesem Sektor nicht Vorreiter, sondernhinken hinterher.Vorreiter in Europa ist die christlich-liberale Koali-tion, die zur Stärkung des Wettbewerbs die Finanz-märkte reguliert –
Herr Wissing.
– ich komme zum Ende, Frau Präsidentin – und mit
strengen Auflagen dafür sorgt, dass die Wettbewerbsfä-
higkeit zu- und nicht abnimmt. Wir sind stolz auf diese
Regierung und haben da, wo Sie die Dinge haben schlei-
fen lassen, vieles erreicht.
Der Kollege Dr. Gerhard Schick hat jetzt das Wort fürBündnis 90/Die Grünen.
Liebe Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Her-ren Kollegen! Es gibt auch in der Frage der Finanz-marktregulierung verschiedene Punkte, bei denen manunterschiedlicher Auffassung sein kann. Das hört aller-dings da auf, wo die Fakten, die Sie schildern, Herr Bun-desfinanzminister, genau das Gegenteil sind von dem,was in der Wirklichkeit stattfindet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26783
Dr. Gerhard Schick
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So war es gerade beim Thema Inflation. Natürlich gibtes Blasen an den Finanzmärkten, die uns Sorgen bereitenmüssen. Aber es gibt zurzeit nur zwei Berufsgruppen,die mit der Angst der Menschen vor Inflation unverant-wortlich spielen: Das sind windige Anlageberater unddas sind Politiker der Koalition wie der Wirtschafts-minister heute morgen und Sie, Herr Bundesfinanz-minister. Das ist unverantwortlich.
Lesen Sie, was die Europäische Zentralbank zu diesemThema schreibt: Es gibt im Moment keine konkrete In-flationsgefahr in dieser Form. – Das ist genau die Stel-lungnahme.Natürlich müssen wir aufpassen, dass nicht die Euro-päische Zentralbank die entscheidenden Aufgaben über-nimmt. Aber da war das, was Sie erzählt haben, HerrSchäuble, faktisch falsch: Nicht die Vorschläge, die wirmachen, führen dazu, dass die Europäische Zentralbankdie Märkte mit Geld flutet. Wenn die Europäische Zen-tralbank in den letzten Monaten mit Billionen auf denMärkten interveniert hat, dann deswegen, weil die Bun-desregierung die entscheidenden Reformen in Europablockiert. Sagen Sie den Menschen die Wahrheit, sagenSie ihnen, wie die Zusammenhänge sind, und machenSie ihnen nicht etwas vor!
Das Ziel unseres Antrages ist klar: Wir müssen denAutomatismus brechen, dass immer dann, wenn eineBank in Europa ein Problem hat, der Steuerzahler ein-springen muss. – Man könnte meinen, das müsste eigent-lich selbstverständlich sein.
2008, als die Banken mit Milliarden gerettet wurden, ga-ben alle politischen Akteure das Versprechen, dass so et-was nie wieder passieren soll. Dieses Versprechen wurdegebrochen. Die Logik einer Bankenrettung durch denSteuerzahler geht unvermindert weiter, nicht nur überdie Bilanz der Europäischen Zentralbank. Was passiertdenn in Zypern? Der Steuerzahler muss einspringen, umBanken zu retten. Was passiert denn in Spanien? Derspanische Steuerzahler muss sich mit Milliarden beteili-gen, um die Banken zu retten. Was passierte denn imSeptember 2012 – das ist gar nicht so lange her – in un-serem Nachbarland Frankreich? Wieder musste eineBank, Crédit Immobilier de France, vom Steuerzahlergerettet werden. Das sind doch alles keine Petitessen.Hier werden in den verschiedenen europäischen StaatenMilliarden aufgewendet. Muss das so sein? Nein, dasmuss nicht so sein;
denn wir wissen aus den USA, dass es anders geht.Das sind ja keine Riesenbanken, die man nicht rettenkönnte, sondern das sind Banken – nehmen wir als Bei-spiele die Crédit Immobilier de France, eine Bank mit ei-nem Kreditvolumen von 33 Milliarden Euro, die AlphaBank in Griechenland mit einem Kreditvolumen von70 Milliarden Euro und die spanische Banco de Valenciamit einem Kreditvolumen von 20 Milliarden Euro –, diein den USA selbstverständlich abgewickelt werden wür-den. Über 400 Banken sind in den USA seit Ausbruchder Krise ohne Kosten für den Steuerzahler abgewickeltworden. Wir wollen dasselbe endlich auch für Europa er-reichen.
Warum gelingt das denn in den USA und bei unsnicht? Es gibt zwei Vorgehensweisen, wenn eine Bank inder Schieflage ist. Die eine ist, dass Aktionäre, Gläubi-ger und Investoren daran beteiligt werden, die Kosten zutragen, der andere Weg ist, dass dies die Steuerzahlertun.Die Kanzlerin hat im November 2010 beim G-20-Gipfel gesagt, die privaten Gläubiger sollen das tun. Ichzitiere: Die Lasten der Krisenbewältigung dürfen nichteinfach wieder dem Steuerzahler aufgebürdet werden. –Auch dieses Versprechen wurde gebrochen; denn genaudas passiert doch.In Irland hat man den Staat daran gehindert, die In-vestoren zu beteiligen. Wenn Sie die Leute in Irland fra-gen, wer sie denn daran gehindert hat, dann sagen sie:the Germans. Die Tatsache, dass die europäischen Staa-ten Irland daran gehindert haben, die Investoren zu be-teiligen, sollten wir ernst nehmen. In Spanien gelingt dieBeteiligung der Investoren auch nicht.Insgesamt können wir sagen, dass sich die Investorenbei der gesamten Bankenrettung in Europa nirgends mitmehr als 10 Prozent beteiligt haben. Das Gros hat derSteuerzahler getragen. Das ist falsch; das müssen wir än-dern;
denn es geht um eine massive Umverteilung weg vonden Steuerzahlern hin zu den Menschen, die in Bankeninvestiert und diese finanziert haben.Man muss jetzt einmal die Frage stellen, warum dasin Europa nicht gelungen ist. Liegt das daran, dass wirdas in einer Finanzkrise nicht tun können? Es wird uns jaimmer weisgemacht, die Finanzmärkte würden dann er-schüttert. Warum sollte das aber in Europa nicht gehen,wenn das doch in den USA geht? Es ist doch ein Am-menmärchen, dass das nicht gehen könnte – oder sagenwir vielleicht eher: Es ist ein Merkel-Märchen.
Die Vorschläge lagen auf dem Tisch: schon im Okto-ber 2009 von der Europäischen Kommission und im Juli2010 vom Europäischen Parlament. Der Vorschlag des
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26784 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Gerhard Schick
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grünen Berichterstatters Sven Giegold, einen europäi-schen Abwicklungsfonds für Banken einzurichten, dervon den Banken finanziert wird, wurde vom Europäi-schen Parlament aufgenommen.Wer hat das verhindert? Der Rat der EuropäischenUnion. Wer ist die führende Kraft im Rat der Europäi-schen Union? Das ist diese Bundesregierung. Aufgrundihrer Blockade eines Bankenabwicklungsfonds, mit dersie den Weg der Abwicklung und der Investorenbeteili-gung versperrt hat, trägt die Bundesregierung die direkteVerantwortung für die Bankenrettungen der letzten zweiJahre in Europa, für die Milliarden Steuergelder gezahltwurden.
Hier passiert jetzt etwas sehr Krasses. Unter Mitwir-kung der Bundesregierung arbeiten Sie schon konkretdaran, dass der Steuerzahler über den Europäischen Sta-bilitätsmechanismus, ESM, einspringt, der die Bankendirekt kapitalisieren soll. Den anderen, besseren Weg,dass nämlich die Investoren beteiligt werden, wenn eineBank in Schieflage gerät, bringen Sie aber nicht voran,sondern den blockieren Sie. Das ist doch genau falschherum. Genau das ist das gebrochene Versprechen derBundeskanzlerin Merkel.
Manche Krokodilsträne, die Sie gerade vergießen,muss man hier schon noch einmal erwähnen. HerrSchäuble, Sie haben gesagt, es sei schwierig, dass jetztdieselben Personen über die Geldpolitik und über dieBankenrettung entscheiden sollen. Es ist doch der per-sönliche Vorschlag von Angela Merkel gewesen, das aufArt. 127 des EU-Vertrages zu stützen. Daraus folgtdas doch. Übernehmen Sie die Verantwortung für das,was Sie in Europa tun.
Glauben Sie denn, wir würden nicht über die Telefonap-parate mit Brüssel verbunden sein und nicht mitbekom-men, was Sie in Europa tun? Ich glaube, man mussernsthaft darangehen.Sie haben jetzt schnell und in aller Kürze selber nocheinen Antrag zur Finanzmarktregulierung vorgelegt.Hier wird ein zentraler Unterschied zwischen der Regie-rung und der Opposition deutlich:
Für Sie ist diese Finanzkrise ein Betriebsunfall, nachdem man ein paar Schrauben anziehen muss,
für uns ist diese Finanzkrise die Folge einer systemati-schen Fehlentwicklung, die wir korrigieren müssen. Dareichen ein paar Schrauben nicht aus; denn der Finanz-sektor ist insgesamt zum Kostgänger der Realwirtschaftgeworden. Er kostet uns mehr, als er bringt. Das sehenwir in den Bilanzen. Deswegen müssen wir wesentlichfundamentaler herangehen.
Wir haben Sie getrieben. Wir haben Sie in den letztenJahren getrieben und werden das weiter tun. Sie wolltendie Finanztransaktionsteuer nie. Wir haben sie in dieVerhandlungen eingebracht. Sie wollten nie über dasTrennbankensystem nachdenken. Sie haben den Antragder Grünen noch vor Jahresfrist abgelehnt. Plötzlichheißt es, man sei offen für die Gedanken. Ja, warum? –Weil wir das als SPD und Grüne hier zum Thema ma-chen.
Im Herbst wollten Sie noch einmal die Versicherungs-gesellschaften retten – Sie haben das jetzt noch auf demTisch liegen – zulasten von vielen Kundinnen und Kun-den. Wir haben es geschafft, Sie daran zu hindern, undwerden jetzt schauen, dass wir endlich einmal eine rich-tige Versicherungsregulierung hinkriegen; denn die Ver-sicherungen dürfen bei der Finanzmarktregulierungnicht ausgespart werden.
Wenn man sich Ihren Antrag einmal genau anschaut,dann stellt man ein Muster fest, und wenn man sich an-schaut, was in den letzten Jahren gelaufen ist, dann stelltman ein schönes Muster fest: Sie regulieren – darumgeht es in dem Antrag, den Sie uns vorgelegt haben –den Hochfrequenzhandel.
– Ja, ja. Da soll ein bisschen reguliert werden, aber dasZentrale fehlt: ein Tempolimit, mit dem endlich dieseWahnsinnsgeschwindigkeit am Finanzmarkt beendetwird. Das ist notwendig.
Sie reden davon, dass die Beratung am Bankschalterbesser werden muss. Das ist ja richtig. Aber an denKern, an die provisionsorientierte Fehlberatung, wollenSie nicht herangehen. Deswegen bleibt das Grundpro-blem. Sie machen wieder den Fehler, nicht an die Ursa-chen heranzugehen.Genauso ist es beim Trennbankensystem. Sie sagenjetzt, wir wollen ein wenig prüfen, aber gleichzeitig si-gnalisieren Sie, es soll sich am Universalbankenmodellnichts ändern, und für die Deutsche Bank soll alles blei-ben, wie es ist. Ja, wenn alles bleibt, wie es ist, dannwird sich an den Märkten auch nichts ändern, und dannwird die nächste Finanzkrise kommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26785
Dr. Gerhard Schick
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In Deutschland und in Europa muss eine sehr wich-tige Sache geändert werden; wir haben dazu unseren ge-meinsamen Antrag vorgelegt. Das Thema Finanzmarkt-regulierung muss endlich bei Ihnen einmal aus derAbteilung Marketing in die Abteilung Produktion wan-dern, und wir werden Sie darauf festlegen.Danke schön.
Für die CDU/CSU hat jetzt der Kollege Klaus-Peter
Flosbach das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir haben hier in den letzten drei Jahren über 50-malüber die Finanzmarktregulierung gesprochen. Ich binfroh, dass Herrn Steinbrück hier heute auch einmal dabeiist.
Nach dieser Rede, in der er sich einen schlanken Fußmit Blick auf die Vergangenheit gemacht hat, möchte ichdoch auf Folgendes hinweisen: Ich empfehle jedem Bür-ger, jedem SPD-Anhänger, sich einmal den WDR-Filmvon Klaus Balzer im Internet anzusehen, der die Ge-schichte der Westdeutschen Landesbank und die Verqui-ckung mit der SPD darstellt.
Da geht es nämlich unter dem Titel „Größenwahn undSelbstbedienung“ um die Entwicklung von einer Pro-vinzbank zu einer Zockerbude. Vor allen Dingen wer-den, Herr Steinbrück, einmal die Jahre dargestellt, in de-nen Sie Finanzminister und Ministerpräsident waren.
Denn in dieser Zeit ist der gesamte Schrott von der West-deutschen Landesbank gekauft worden, für den wirheute bürgen müssen, meine Damen und Herren.
Sie haben hier gesagt, die ganze Krise habe mit derStaatsschuldenkrise nichts zu tun. Dazu sage ich Ihnen:Hypo Real Estate war bisher unser größter Fall. Sie hatte80 Prozent ihrer gesamten Darlehen kurzfristig finan-ziert. Deswegen musste sie damals durch unsere Bürg-schaften aufgefangen werden. Aber der größte konkreteSchaden, der entstanden ist, ist durch die Abschreibungder Griechenland-Anleihen erfolgt. Dass Griechenlandin der Euro-Zone ist, fällt in Ihre Verantwortung, in dievon Rot-Grün.
– Reden Sie nicht daran vorbei.Ich komme jetzt zu dem Bankenthema. Das größteProblem, das wir heute in Europa haben, ist, dass Sievon Rot-Grün den Stabilitätspakt gebrochen haben. Soentstanden die Probleme in der Euro-Zone, auf die wirheute hinweisen müssen.
Sie haben einen Antrag zur Bankenunion gestellt. Esgeht darin um neue Wege. Es ist für die Antragstellervon SPD und Grünen die schlimmste Strafe in den letz-ten Tagen gewesen, dass bis auf zwei Zeitungen imGrunde genommen niemand über diesen Antrag berich-tet hat.Warum hat niemand über diesen Antrag berichtet?Erstens geht es darin entweder um Dinge, die wir längstumgesetzt haben oder die sich im Umsetzungsprozessbefinden. Zweitens sind in diesem Antrag keine neuenIdeen enthalten, die uns auf den Gedanken bringenkönnten, etwas besser zu machen. Drittens ist in demAntrag von einem Abwicklungsfonds und einem Alt-schuldentilgungsfonds die Rede, über die wir schonlängst diskutiert haben. Der Bundesfinanzminister hatgenau auf den entscheidenden Punkt hingewiesen: Siehaben in keiner Weise gesagt, was das für die Haftungder deutschen Steuerzahler bedeutet. Um die Antwortauf diese Frage haben Sie sich geschickt gedrückt.
Es ist eben kein neuer Anlauf zur Bankenregulierung,stattdessen laufen Sie der gesamten Entwicklung hinter-her. Schon der G-20-Beschluss 2009 hat gezeigt, dassdie systemrelevanten Banken reguliert werden müssen.Der Financial Stability Board, also der internationaleFinanzstabilitätsrat, hat Standards vorgegeben.Unsere Koalition war in der Tat die Erste, die dasRestrukturierungsgesetz umgesetzt hat. Wir waren schonzum 1. Januar 2011, vor zwei Jahren, so weit, Banken zusanieren oder auch abzuwickeln. Wir können nach denRegeln dieses Gesetzes ein pleitegegangenes Unterneh-men abwickeln. Wir haben ein Abwicklungsregime ge-schaffen, was sonst noch keiner in Europa gemacht hat.Hier sind wir Vorreiter. Wir haben die Blaupause für dieanderen Länder in Europa geliefert. Das ist der Erfolgdieser Koalition.
Wir waren natürlich, Herr Steinbrück, auch bei demVerbot der ungedeckten Leerverkäufe die Ersten. Wirhaben diesen Beschluss damals in der Großen Koalitiongemeinsam gefasst. Aber auch in dieser Frage waren wirin Europa diejenigen, die die anderen gezwungen haben,diesen Weg mitzugehen, damit gewisse Spekulations-geschäfte mit Aktien, mit Kreditversicherungen oder
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26786 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Klaus-Peter Flosbach
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Staatsanleihen aufhören. Das war unser Erfolg. Wirwaren hier wieder die Ersten in Europa.Hier wurde eben der Hochfrequenzhandel angespro-chen und uns vorgeworfen, wir würden ihn nicht richtigregulieren. Natürlich sind wir auch hier wieder die Ers-ten, die das machen, die Ersten, die einen unreguliertenMarkt regulieren. Sie aber werfen uns vor, wir würdennicht richtig regulieren. Wir haben als Erste diese Rege-lungen eingeführt. Das gibt Stabilität in diesem Lande.Das gibt Stabilität für unsere Bürger. Dafür steht unsereKoalition.
Wir stehen für eine Bankenunion. Wir unterstützenunseren Finanzminister bei der Errichtung einer Banken-union darin, ein neues Aufsichtsregime zu schaffen. Wirwollen Qualität vor Schnelligkeit. Wir wollen auch eineklare Trennung von Geldpolitik und Aufsicht. Es gehtuns vor allen Dingen darum, dass die großen system-relevanten Banken richtig kontrolliert werden. Darumgeht es uns. Es geht uns nicht um die kleinen Volks-banken, die Sparkassen oder die kleinen Privatbanken.Aber in allen Bereichen spielt immer ein Begriff einezentrale Rolle: Wo ist die Haftung, die Verantwortung?Auch bei der Bankenunion können wir die anderen Län-der nicht aus der Verantwortung lassen. Wenn Sie eineneuropäischen Abwicklungsfonds mit 200 MilliardenEuro gründen wollen, dann müssen Sie nicht nur sonebenbei sagen: Das kann man doch einmal finanzie-ren. – Wir haben einen Abwicklungsfonds in Deutsch-land eingerichtet. Wir wollen aber in Europa die anderenLänder nicht aus der Verantwortung lassen. Wir wollenunsere Einlagensicherung nicht einfach auf Europa über-tragen. Wir wollen nicht den Bürger für alles haften las-sen. Das ist die Linie dieser Bundesregierung.
Der Kollege Wissing hat eine Liste vorgelegt, was inden letzten Jahren alles umgesetzt worden ist. Das sind15 große Maßnahmen gewesen. Die Finanzmarkt-regulierung, Herr Steinbrück, war das zentrale Thema inallen Debatten hier im Deutschen Bundestag. Sie habendaran nicht teilgenommen.
Sie sind heute zu uns Finanzpolitikern gekommen, ummit uns gemeinsam zu diskutieren. Ich halte das fürwichtig. Aber hier erfahren Sie auch, was in den letztenJahren alles geschehen ist.
Diese Regierung mit Angela Merkel an der Spitzeund mit unserem Finanzminister Wolfgang Schäuble hatmit Abstand das Beste für Europa getan, indem wirwieder gemeinsame Regeln einhalten, indem wir auchdie deutschen Interessen vertreten. Wir wissen alle ganzgenau: Nur wenn alle die Regeln einhalten, haben wirwieder ein stabiles Europa.
Herr Kollege.
Mein letzter Satz, Frau Präsidentin. – Gestern hat die
Weltbank die Wachstumsprognose für dieses Jahr abge-
geben und deutlich gemacht: Die Europäische Zentral-
bank und die europäischen Regierungen sind auf dem
richtigen Weg dahin, dass von Europa am ehesten keine
Finanzmarktkrise mehr ausgeht, weil wir am stärksten
reguliert haben. Das ist der Erfolg.
Jetzt hat Manfred Zöllmer das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Herr Wissing, lieber Herr Flosbach, wenn es eineTechnische Anleitung „Heiße Luft“ gäbe, dann müsstenSie beide schon längst stillgelegt sein.
Herr Flosbach, ich bin es wirklich leid, von Ihnen im-mer wieder diese Griechenland-Lüge zu hören. Es isteine Lüge. Lesen Sie einmal nach, wie es damals warund wer Griechenland aufgenommen hat! Im Mai 1998hat der Europäische Rat die Aufnahme von Griechen-land beschlossen – der Europäische Rat, BundeskanzlerHelmut Kohl und Finanzminister Waigel. Nehmen Siedas bitte zur Kenntnis. Erster Punkt.
– Beschäftigen Sie sich einfach einmal mit den Fakten!Ich kann Ihnen die Materialien zur Verfügung stellen.Das wäre hilfreich.Nächster Punkt: Sie haben völlig vergessen, die Sach-sen LB mit aufzuzählen.
Was ist mit Bayern und dem Desaster der BayerischenLandesbank? Das haben Sie leider auch vergessen.Noch etwas zu Nordrhein-Westfalen. Die Verbrie-fungen und Probleme, die in die Bilanzen aufgenommenworden sind, sind unter Herr Rüttgers aufgenommenworden.
Auch das sollten Sie zur Kenntnis nehmen. So viel zuden „Wahrheiten“, die Sie hier verkünden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26787
Manfred Zöllmer
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Wer verspricht, die Verursacher der Finanzkrise anden Kosten der Krise zu beteiligen, wie Sie und FrauMerkel es gemacht haben, dies dann aber nicht einlöst,dessen Regulierungspolitik ist gescheitert. Sie könnenauf noch so viele Gesetzentwürfe verweisen: Sie habendas zentrale Versprechen von Frau Merkel nicht ein-gelöst. Diese Koalition ist bei der Regulierung schwachgestartet und hat dann ganz stark nachgelassen.
Ein Blick in Ihren Antrag zeigt sehr deutlich, wie sehrSie die Vorschläge von Peer Steinbrück und die Vor-schläge unseres rot-grünen Antrages getroffen haben.Sie haben bisher immer behauptet, alles sei von Ihnenbestens geregelt und unsere Vorschläge zur Bankentren-nung seien schädlich. Jetzt wollen Sie diese Vorschlägeprüfen. Man sollte natürlich niemandem vorwerfen, klü-ger werden zu wollen.Das Handelsblatt hat geschrieben:Schäuble freundet sich mit Trennbanken-Idee an.Union und FDP wollen so Steinbrücks Wahlerfolgverhindern.Eines ist immerhin klar: Die Aussage der Regierungs-fraktionen, man habe bereits alle richtigen Lehren ausder Krise gezogen, wird nun von Ihnen selbst widerlegt.Schauen wir uns doch einmal die wichtigen Punktean. Der ganz zentrale Punkt ist die Beteiligung an denKosten der Krise bzw. die Frage, wie in Zukunft zu ver-hindern ist, dass die Steuerzahler daran beteiligt werden.Das ist Ihnen nicht gelungen. Sie verlagern die Risikenauf den ESM. In Zukunft wird die Bankenrekapitalisie-rung durch den ESM erfolgen. Das heißt, letztendlichhaftet der Steuerzahler wieder.Frau Merkel hat die üblichen Nebelkerzen geworfen.Erst hieß es: „Mit uns überhaupt nicht! Nein, dasmachen wir nicht.“ Dann hat sie der Bankenunion zu-gestimmt und damit auch explizit der Situation, dass derESM zukünftig Banken retten wird. Das heißt, dieSteuerzahlerinnen und Steuerzahler sind wieder in derVerantwortung. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.Ich empfehle Ihnen: Lesen Sie unseren Antrag gründ-lich durch. Darin stehen viele Vorschläge, wie das zuverhindern ist.
Für die FDP hat jetzt Björn Sänger das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Das Gute an der Debatte ist vor allen Dingen,dass sie zu einer Tageszeit stattfindet, zu der diesemwichtigen Thema noch ein gewisser Grad an Aufmerk-samkeit gewidmet wird. Das war nicht bei allen der zahl-reichen Debatten zur Finanzmarktpolitik der Fall. Inso-fern begrüße ich das außerordentlich; denn es wird auchdem Thema gerecht.Die Finanzmarktregulierung in Deutschland ist eineErfolgsgeschichte; das kann man festhalten. Der ent-scheidende Punkt bei der Bewältigung der Finanzkriseist, dass im Zuge der Finanzkrise 2007/2008 ein erhebli-cher Vertrauensverlust in der Finanzindustrie stattge-funden hat und dass insbesondere das Vertrauen, dasskein einzelnes Institut das gesamte System destabilisie-ren kann, wiederhergestellt worden ist. Dazu brauchte eseinen Ordnungsrahmen. Ihn zu schaffen, das ist – daskann man hier feststellen – dieser Regierungskoalitiongelungen.Ein zentraler Baustein für die Herstellung diesesVertrauens ist das Bankenrestrukturierungsgesetz, das ineinem feinstufigen Prozess die Rettung von Banken bishin zur Abwicklung vorsieht. Die Finanzierung, diedafür notwendig ist, wird durch einen Fonds sicherge-stellt. Das heißt, wir schirmen den Steuerzahler vor denRisiken ab und bringen die Haftung wieder dahin, wo siehingehört, nämlich zum Eigentümer. Handlung undHaftung werden wieder zusammengeführt – ein zentra-les Prinzip der sozialen Marktwirtschaft, das wir in derFinanzindustrie neu zur Geltung gebracht haben.
Gleichzeitig haben wir Anreize, die zu Fehlverhaltenführen, verringert. Wir haben die Vergütungsregeln neugestaltet. Wir haben dafür gesorgt, dass Boni zurück-gefordert werden können, wenn Banken in Schieflagekommen. Die Vergütungs- und Boniregeln müssen nach-haltig ausgestaltet sein. Wir haben die Kreditverbrie-fungen – sie waren das Epizentrum der Krise – geregelt,indem wir einen Selbstbehalt eingeführt haben. DasGanze ist ein bisschen wie bei der Kfz-Versicherung:Man schaut genau hin, was in die Bücher aufgenommenwird. Wir haben ungedeckte Leerverkäufe verboten. DasGleiche gilt im Übrigen für den Verkauf ungedeckterKreditausfallversicherungen. Wir haben auch in diesemBereich für Transparenz gesorgt. Wir haben die Rating-agenturen, die während der Krise eine ungute Rolle ge-spielt haben, einer Regulierung zugeführt. Sie stehenjetzt unter Aufsicht. Sie müssen sich registrieren lassen.Auch hier haben wir für Transparenz gesorgt. Trans-parenz ist übrigens ein Leitgedanke in dieser gesamtenRegulierung; denn nur wenn man weiß, wer was wannmacht und wie hält, kann der Markt darauf entsprechendreagieren und werden die Selbstregulierungskräfte ent-sprechend geweckt.Wir haben den Derivatemarkt reguliert. Indem wirzentrale Gegenparteien eingeführt haben, haben wirauch dort für neues Vertrauen gesorgt. Denn auch daweiß man, wer welches Derivat wie lange hält. Auch dasfördert die Transparenz. Wir haben eine Eigenkapitalun-terlegung eingeführt. Wir haben die Finanzaufsicht neugeordnet, indem wir dafür gesorgt haben, dass dieAkteure besser miteinander kommunizieren und dieAufsicht unabhängiger von der Wirtschaft wird. Damitist insgesamt eine effizientere Aufsicht aufgebautworden.Wir haben noch weitere Maßnahmen in der Pipeline;wir diskutieren bereits darüber. Ich denke an die Regu-
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26788 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Björn Sänger
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lierung alternativer Investmentfonds, also an Hedge-fonds, und insbesondere an deren Manager. DenHochfrequenzhandel – dazu hatten wir erst gestern eineinteressante Anhörung – werden wir als erste Nationüberhaupt regulieren. Wir haben die nationale Umset-zung von Basel III, also der notwendigen Kapital- undLiquiditätsvorschriften für Banken, vor uns. Der Versi-cherungsbereich wird mit Solvency II reguliert werden.Viele Maßnahmen wurden auf EU-Ebene angestoßen,unter anderem durch deutsche Initiativen. Beispiels-weise kamen Initiativen zu Regulierungen wie dasBankenrestrukturierungsgesetz oder auch das Verbot vonLeerverkäufen aus Deutschland. Die deutschen Interes-sen sind hierbei auf EU-Ebene sehr wirkungsvoll vertre-ten worden. In diesem Zusammenhang möchte icheinmal der Bundesregierung dafür Dank sagen, dass diesso geschehen ist. Ich sage das auch vor dem Hinter-grund, dass wir einen Finanzmarkt haben, der sich in derKrise als stabiler als andere Finanzmärkte gezeigt hatund deswegen einer etwas anderen Regulierung bedarf.Wir unterstützen die Bundesregierung auch bei denMaßnahmen hinsichtlich der Bankenunion, wenn siesagt: Für uns geht Gründlichkeit vor Schnelligkeit, wirwollen die unabhängige Geldpolitik der EZB bewahren,und wir wollen, dass Verwaltungsakte demokratischkontrolliert werden und insbesondere subsidiär erfolgen.Insofern hat die schwarz-gelbe Regierungskoalition im-mer auch die Wettbewerbssituation im Finanzmarkt vorAugen. Sie denkt vom Ende her und fragt: Welche Aus-wirkungen hat eine Regulierungsmaßnahme? Es nutztnämlich nichts, wenn Geschäfte außerhalb Deutschlandsstattfinden, die Risiken aber in Deutschland verbleiben,weil die deutschen Akteure natürlich weiterhin solcheGeschäfte tätigen, diese nur eben im Ausland ausführen.Insofern: Wir überlegen genau und handeln; wir redennicht nur und machen keinen Unfug.Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Axel Troost hat jetzt das Wort für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Ursachenanalyse der Euro-Krise im Antrag von SPDund Grünen ist nur begrenzt richtig; denn sie lässt einenwichtigen Teil außen vor. Natürlich hat die Finanz- undBankenkrise seit 2008 einen großen Anteil an der Kriseim Euro-Raum. Aber Sie blenden die mindestens ge-nauso wichtige zweite Ursache aus, und das ist keinZufall. Die zweite Ursache – das sind die Konstruktions-fehler der Währungsunion selbst. In einer Währungs-union hätte man die Mitgliedsländer darauf verpflichtenmüssen, sich in wichtigen Schlüsselbereichen ständigabzustimmen, zum Beispiel in der Wirtschafts-, in derSteuer-, in der Lohn-, in der Inflations- und in der Ar-beitsmarktpolitik.
Wenn in einer Währungsunion eine Zielinflationsratevon 2 Prozent vereinbart ist, dann ist es nicht nur Auf-gabe der Zentralbank, sich darum zu kümmern. Viel-mehr hätte sich eine deutsche Bundesregierung selbst-verständlich darum bemühen müssen, dass die Löhneoder, genauer gesagt, die Lohnstückkosten, entsprechendsteigen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von SPD und Grü-nen, Ihre letzte Bundesregierung von 2002 bis 2005 hatdas nicht nur ignoriert. Viel schlimmer: Sie hat inDeutschland mit der Agenda 2010 ganz bewusst einenNiedriglohnsektor, eine Prekarisierung von Arbeit, Er-werbslosigkeit und Rente eingeführt und hat damit dieReallöhne auf breiter Front gesenkt.
Das – deswegen ist das hier Thema – war nicht nur Ver-rat an den Interessen der Arbeitnehmerinnen und Arbeit-nehmer, der Erwerbslosen sowie Rentnerinnen undRentner, sondern es war auch eine Sabotage an der Euro-päischen Währungsunion; denn Sie haben die Lohnent-wicklung in Deutschland zugunsten der deutschen Un-ternehmer und Aktionäre auf Kosten von Rest-Europaunter 2 Prozent gedrückt.
Unter Rot-Grün wurde der Euro eingeführt, und ohnedie rot-grüne Agenda 2010 stünde die Euro-Zone heuteweit weniger nahe am Abgrund.
Natürlich müssen die Griechinnen und Griechen ihrehausgemachten Probleme anpacken, aber einen wichti-gen Beitrag müssen auch wir in Deutschland leisten. Wirmüssen die ausschließliche Exportorientierung eindäm-men, uns von der Agenda-Politik verabschieden undendlich die Binnenwirtschaft stärken, das Lohnniveau inDeutschland anheben und uns für einen leistungsfähigendeutschen Sozialstaat einsetzen.
Ohne diese Maßnahmen gibt es keine Chance, dass diesüdeuropäischen Länder ihre Wirtschaft wieder auf Kursbringen und sich aus der Schuldenfalle befreien können.Nun zum Hauptgegenstand Ihres Antrags, liebe Kol-leginnen und Kollegen von Rot-Grün, zur Finanzregulie-rung.Viele Ihrer Einschätzungen und Forderungen könnenwir unterstützen. Wir freuen uns auch, dass Sie Anteils-eigner und Gläubiger in Zukunft stärker bei der Bekämp-fung der Bankenkrise heranziehen wollen.Wir wissen aber natürlich auch alle: Das gilt für dieZukunft, also für die nächste Bankenkrise. Die Kostender heutigen Krise sind aber längst da. Peer Steinbrückhat darauf hingewiesen, dass alleine in der Euro-Zoneinsgesamt über 1,6 Billionen Euro für die Bankenrettungaufgewendet worden sind. Man kann sagen – das ist zu-
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Dr. Axel Troost
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gegebenermaßen etwas einfach –: Die Reichen und Su-perreichen sind trotz der Krise immer reicher geworden,weil die Staaten großzügig für ihre Verluste aufgekom-men sind.Wir sehen daher die Zeit gekommen, durch eine ein-malige Vermögensabgabe die Profiteure der Bankenret-tung auch rückwirkend an den Krisenkosten zu beteili-gen.
Erfreulicherweise gibt es bei den Grünen in dieserRichtung auch klare Beschlüsse. In der SPD sieht dasganz anders aus. Insofern wird es in einer rot-grünen Re-gierung unter Leitung von Peer Steinbrück dazu sicher-lich nichts geben. Unter einer Regierung von Rot-Rot-Grün, liebe Kolleginnen und Kollegen von den Grünen,hätten Sie bestimmt bessere Karten.
Auch in Sachen Finanzmarktregulierung und Banken-union bleibt die Liste Ihrer Forderungen hinter vielemzurück, was nottut. Hier ist mehrfach gesagt worden: DieSPD will ein Trennbankensystem. – In Ihrem Antragsteht davon überhaupt nichts.
Wir wollen bekanntlich auch, dass das spekulative In-vestmentbanking-Geschäft vom seriösen Bankenge-schäft getrennt wird.
Aber wir wollen auch, dass, wenn es dann einen Banken-teil und einen Spielbankenteil gibt, der Spielbankenteilrestlos geschlossen wird und nicht weiterarbeiten kann.
Aus unserer Sicht braucht die Welt keine hochkom-plexen, gefährlichen Finanzprodukte, die selbst Banken-vorstände nicht mehr verstehen.
Aus unserer Sicht muss der ganze Finanzsektor sogrundlegend entrümpelt und zurechtgestutzt werden,dass am Ende keine Großbank mehr übrig bleibt, die einRisiko für die Gemeinwirtschaft darstellt.
Aus unserer Sicht muss die Gesellschaft viel stärker indie Banken hineinwirken. Banken gehören unter gesell-schaftliche Kontrolle
durch demokratisch legitimierte Verwaltungs- und Auf-sichtsräte, wie es heute am besten noch im Bereich derSparkassen und Volksbanken der Fall ist.
Insofern, liebe Kolleginnen und Kollegen von SPDund Grünen, glauben wir, dass Ihr gemeinsamer Forde-rungskatalog sich eher liest wie eine mäßig aufgepepptePresseerklärung der EU-Kommission. Wir brauchenmehr und stärkere Regulierung, andere Einflussnahmen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn Sie im Herbstnicht nur die Regierung übernehmen, sondern wirklicheinen neuen Kurs einschlagen wollen, dann ist wesent-lich mehr Mut bei den Alternativen erforderlich.Danke schön.
Der Kollege Peter Aumer hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Axel Troost, ich gebe dir vollkommenrecht: Mehr Mut wäre bei diesen Themen angesagt.
„Ein neuer Anlauf zur Bändigung der Finanzmärkte“ istein gemeinsames rot-grünes Projekt, das Sie uns vorge-legt haben, meine sehr geehrten Damen und Herren derSPD und der Grünen. Ein neuer Anlauf für was? Seit ichim Deutschen Bundestag sein darf, habe ich Ihre An-läufe in diesem Bereich vermisst.Herr Steinbrück wollte uns vorhin klarmachen, dasser der Verantwortliche für all die Finanzmarktregulie-rungsmaßnahmen ist, die wir in der christlich-liberalenKoalition auf den Weg gebracht haben. Aus meiner Sichtund auch im Kontext der europäischen Entscheidungensind es sehr wohl gelungene Finanzmarktregulierungs-maßnahmen, die unser Bundesfinanzminister WolfgangSchäuble, getragen von der christlich-liberalen Koali-tion, in Deutschland auf den Weg gebracht hat; zudemhat er gemeinsam mit der Bundeskanzlerin die Mehrhei-ten auch auf europäischer Ebene organisiert.Nun kommen Sie, meine sehr geehrten Damen undHerren von Rot-Grün, wollen den ersten Aufschlag ma-chen und beweisen, welches große RegierungshandelnSie denn an den Tag legen werden in Ihrer Politik, dienach der Bundestagswahl hoffentlich nicht Realität wer-den wird, weil der Mut fehlt, wie Axel Troost das vorhingesagt hat.„Übernehmen Sie Verantwortung!“, hat HerrDr. Schick vorhin gesagt. Wir haben in diesen dreiein-halb Jahren Verantwortung übernommen mit all denMaßnahmen, die der Bundesfinanzminister, unser fi-nanzpolitischer Sprecher und auch die Kollegen von derFDP dargestellt haben. Wir haben ein Motto ausgege-ben: Kein Risiko darf mehr ausgehen von einem Finanz-produkt, kein Risiko darf mehr ausgehen von Finanz-marktakteuren, und vom Finanzmarkt an sich darf auchkein Risiko mehr für die Wirtschaft in unserem Land, fürdie Wirtschaft in Europa ausgehen. – Das ist uns bisher
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Peter Aumer
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gelungen. Für die Krise ist mittlerweile politische Ver-antwortung übernommen worden.Wir haben diese Verantwortung übernommen undkeinen Schleiertanz aufgeführt, so wie das Ihr Kanzler-kandidat uns weismachen wollte. Herr Poß, diesenSchleiertanz hat vielmehr Ihr Kanzlerkandidat aufge-führt. Wenn er solche Worte im Munde führt, fallen dieauch auf ihn zurück. Er hat den Blick auf die Krise ver-stellt. Das ist keine verantwortungsvolle Politik der Op-position. Wir haben in den dreieinhalb Jahren gezeigt,was verantwortungsvolle Politik heißt, was auch Wahr-haftigkeit in der Politik heißt. Ich habe mir Stichworteaus der Rede Ihres Kanzlerkandidaten aufgeschrieben.Herr Steinbrück hat von Wahrhaftigkeit gesprochen.Was er in seiner Rede gesagt hat, gehörte aus meinerSicht nicht dazu.
– Herr Poß, ich komme aus Regensburg, genau.
Deswegen ist es für mich ein großer Auftrag und einegroße Verantwortung, dass wir die Grundprinzipien dersozialen Marktwirtschaft beachten. Wir sind der Garantfür die soziale Marktwirtschaft, nicht Herr Steinbrück.
Er möchte das vielleicht für sich in Anspruch nehmen.Aber das, meine sehr geehrten Damen und Herren, las-sen wir ihm als christlich-liberale Koalition nicht durch-gehen. Wir haben Haftung und Risiko zusammenge-bracht, nachdem es zuvor – das ist vorhin schonangesprochen worden – eine Politik der Deregulierunggegeben hat, eine Politik, die von einer breiten Mehrheitdieses Hauses und der Gesellschaft getragen war. Uns al-len ist klar geworden, dass man einen anderen Weg ge-hen muss, einen Weg der Verlässlichkeit und der Nach-haltigkeit. Wir sind uns dieser Verantwortung bewusstgeworden.Wolfgang Schäuble hat in seiner Rede Deutschlandals Anker für Europa bezeichnet. Mich wundert es, wenndie Opposition versucht, diese kräftige Wirtschaftschlechtzureden. Das ist nicht der richtige Weg.
– Ihr Kanzlerkandidat hat das doch vorher gemacht.
– Auf die Probleme hingewiesen hat eher HerrDr. Troost als Herr Steinbrück. Er hat gesagt, all das,was wir umgesetzt haben, hat eigentlich er gemacht. An-sonsten gab es keinen Hinweis auf einen neuen Regulie-rungsrahmen für die Finanzinstitute und die Finanz-märkte.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir sind derVerantwortung nachgekommen. Die Bundeskanzlerinhat für uns auf europäischer Ebene intensiv verhandelt,sodass ein neuer Regulierungsrahmen eingezogen wird.Es ist ein Erfolg, dass wir in der christlich-liberalen Ko-alition hart geblieben sind. Wenn Sie, meine sehr geehr-ten Damen und Herren, an der Regierung gewesen wä-ren, wären Haftung und Risiko in Europa schon langenicht mehr im Einklang, sondern es wären mittlerweileEuro-Bonds eingeführt worden. Sie hätten genau dasGegenteil von dem gemacht, wovon Ihr Kanzlerkandidatgesprochen hat, nämlich dass Haftung und Risiko in Ein-klang gebracht werden müssen. Das ist keine verantwor-tungsvolle Politik.
Für uns ist der Dreiklang der Finanzmarktregulierungwichtig, nämlich dass wir umfangreich regulieren, dasswir den Verbraucherschutz verbessern und dass die Auf-sicht verbessert wird. Das wollen wir im letzten halbenJahr vor der Bundestagswahl auf den Weg bringen, unddas können wir den Bürgerinnen und Bürgern erfolg-reich vermitteln. Von uns kommt keine heiße Luft, son-dern von uns kommt verantwortungsvolle Politik für dieZukunft unseres Landes. Ich lade Sie ein, diese verant-wortungsvolle Politik nicht schlechtzureden, sondernmit uns gemeinsam dieses Land in eine starke Zukunftzu führen. Dazu gehört auch, dass der Regulierungsrah-men gemeinsam gestaltet wird. Wir sind der Garant da-für, dass dieser Regulierungsrahmen in die richtige Rich-tung geht, dass auch in Europa Solidität und Solidaritätin Einklang gebracht werden. Das ist der Weg, den wir inunserer Koalition gegangen sind und den Sie durch sol-che Anträge kurz vor irgendwelchen Wahlen nichtschlechtreden können. Die Menschen in unserem Landwissen, wer verantwortungsvoll in die Zukunft geht.Danke für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Dr. Carsten Sieling hat jetzt das Wort für
die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!In den letzten anderthalb Stunden haben wir nahezu eineGroßkundgebung für die Regulierung von Finanzmärk-ten erlebt, an der sich offensichtlich jeder oder jede be-teiligen will. Was sind die Ergebnisse? Darüber möchteich mit Ihnen vor dem Hintergrund reden, dass Sie in derTat in den letzten drei Jahren regiert haben.Schauen wir auf die europäische Politik und den euro-päischen Kontext. Seit 2010 ist die Frage der Stabilisie-rung des Euros, die Rettung von Griechenland und ande-ren Ländern ständig Thema. Die Kanzlerin und der
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26791
Dr. Carsten Sieling
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Finanzminister hecheln von europäischem Gipfel zu eu-ropäischem Gipfel. Der Bundestag wird mit immerneuen Fakten und Wahrheiten konfrontiert. Gelöst istverdammt wenig.
Wenn es in Europa zu einer Stabilisierung gekommenist, dann ist das nicht das Ergebnis irgendwelcher Gipfel-beschlüsse, erst recht nicht von Beschlüssen dieser Bun-desregierung oder dieser Koalition, sondern bestenfallsdes Handelns der Europäischen Zentralbank, die das imHerbst mit ihrem Stabilisierungsprogramm gemachthat – unter Billigung dieser Bundesregierung und beiKritik aus Ihren Reihen. Das nenne ich verfehlt undscheinheilig.
Die Krönung des Ganzen ist, wenn hier auch noch derverantwortliche Bundesfinanzminister entgegen dem Ratsämtlicher Ökonomen von Inflation redet. Die EZB undselbst das Institut der deutschen Wirtschaft sagen: Eswird keine Inflation geben. – Was der Bundesfinanz-minister dazu bemerkt hat, halte ich für fahrlässig undfür eine große Gefährdung der Stabilität in unseremVolk.
Zum Schluss darf ich noch sagen: Sie kommen hiermit einem Antrag zur Finanzmarktregulierung. Sie er-zählen uns darin in 15 Punkten, was Sie alles gemachthaben wollen.
Leider haben Sie das Problem nicht gelöst. Das erkennenSie auch selber, wenn Sie einen Blick auf die ÜberschriftIhres Antrags werfen. Sie wollen eine „schärfere und ef-fektivere Regulierung“. Bravo! Das ist ein Eingeständ-nis, dass Ihre Maßnahmen nicht gereicht haben, und zu-gleich eine Unterstützung unserer Vorschläge.
Ich sage Ihnen auch: Wir haben ein Interesse daran– Herr Kollege Brinkhaus, Sie können gleich darauf ein-gehen –, dass diese Beratung fortgeführt wird.
Herr Kollege.
Wir wollen, dass die beiden Anträge – das darf ich
noch sagen, weil es sich auf das Verfahren bezieht, Frau
Präsidentin – an die Ausschüsse überwiesen werden und
sich der Deutsche Bundestag weiterhin ernsthaft mit ih-
nen auseinandersetzt. Sie jedoch wollen gleich in der Sa-
che abstimmen. Das halte ich für einen großen Fehler.
Das zeigt Ihr Demokratieverständnis und Ihre Angst vor
diesem Thema.
Vielen Dank.
Herr Kollege, Sie waren am Ende Ihrer vorgesehenen
Redezeit. – Das Wort hat der Kollege Ralph Brinkhaus
für die CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Meine Damen undHerren! Der Kanzlerkandidat der SPD hat gerade 16 Mi-nuten geredet. Zwei Minuten hat er damit verbracht, dieBlockade des Doppelbesteuerungsabkommens mit derSchweiz zu rechtfertigen. Etwas mehr als 14 Minutenhat er sich an einer Vergangenheitsbetrachtung ergötzt,und circa 30 Sekunden hat er über die Zukunft geredet.Das spricht Bände.
Dieser Kanzlerkandidat hat in dem politischen Sabba-tical, das er sich genommen hat, den Anschluss an dieFinanzpolitik und an das, was in der Zwischenzeit ge-schehen ist, verpasst. Das hat man heute in dieser Redewieder gemerkt. Wenn man sich dann Ihren Antrag an-schaut – das Einzige, wovon er geredet hat, war ja, dasser einen Restrukturierungsfonds haben möchte –, mussman sich fragen: Warum wollen Sie denn nicht eigent-lich schon früher ansetzen? Warum beginnen Sie mit derRegulierung erst zu einem Zeitpunkt, zu dem das Kindbereits in den Brunnen gefallen ist?Wir haben einen anderen Ansatz. Wer Finanzmärktebändigen will, der muss zunächst einmal dafür sorgen,dass in den Finanzinstitutionen weniger Fehler gemachtwerden. Genau das haben wir gemacht. Wir haben Ver-gütungsregeln angepasst, wir haben die Ratingagenturenund die Verbriefungen reguliert und vieles andere mehr.Wer die Finanzmärkte bändigen will, der muss dafürsorgen, dass die Fehlertragfähigkeit der Institute erhöhtwird. Er muss dafür sorgen, dass mehr Eigenkapital vor-handen ist, und dafür, dass es mehr Liquidität gibt. Ermuss auch dafür sorgen, dass die Derivatemärkte siche-rer sind. Genau das haben wir gemacht, bzw. wir sindgerade dabei.
Wer dafür sorgen will, dass die Finanzmärkte gebän-digt werden, der muss sich darum kümmern, dass es einebessere Aufsicht gibt. Genau das haben wir gemacht.Wir haben die deutsche Aufsicht reformiert. Wir habendie europäische Aufsicht reformiert, und wir haben über-haupt erst die Basis für Aufsicht geschaffen, indem wirdurch viele Meldefristen für die notwendige Transparenzgesorgt haben.
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26792 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Ralph Brinkhaus
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Erst dann, wenn wir sehen, dass die Fehlervermei-dung scheitert, dass die Fehlertragfähigkeit nicht gege-ben ist, dass die Aufsicht nicht geklappt hat, kommt dieRestrukturierung. Genau diese Restrukturierung habenwir auf den Weg gebracht.
Es ist doch albern, jetzt zu fragen, wer denn damit ange-fangen hat, wer zuerst diese Idee hatte oder wem das Co-pyright gehört. Diese Dinge interessieren den Bürger indiesem Lande überhaupt nicht. Wir haben es durchge-setzt, und dafür bin ich auch sehr dankbar. Wir waren dieersten in Europa, die es gemacht haben.
Wer die Banken bändigen will, der muss auch sehen,dass es nicht nur Investmentbanker und Hedgefondsma-nager gibt, sondern auch Verbraucher. Deshalb war unsder Gedanke sehr wichtig, dass Bankenregulierung zu-gleich Verbraucherschutz ist. Keine Bundesregierung hatim Bereich des finanziellen Verbraucherschutzes so vielgetan wie diese Bundesregierung. Auch dafür bin ichdankbar.
Man muss eines sehen: Wir können das nicht allein inDeutschland machen – der Bundesfinanzminister hat esangesprochen –, wir brauchen einen europäischen Kon-sens. Wir müssen uns mit den anderen Ländern in Eu-ropa und – noch besser – mit dem Rest der Welt einigen.Das haben wir gemacht. Das ist mühsame Kleinarbeit.Da gibt es keine schnellen Erfolge. Da muss man versu-chen, die Menschen, die anderen Länder, die anderenRegierungen mitzunehmen. Genau das haben wir ge-macht. Die Alternative dazu hat uns Ihr Kanzlerkandidatgezeigt: die Fortsetzung der Kanonenbootpolitik vonKaiser Wilhelm mit verbalen Mitteln. Das wird nichtfunktionieren, meine Damen und Herren.
Wir müssen jetzt weitergehen und ganz klar anerken-nen, dass natürlich noch nicht alles erledigt ist, dass vie-les noch offen ist. Es gibt Projekte, die hängen. Dazuzählt die Umsetzung der Eigenkapital- und Liquiditätsre-geln gemäß Basel III; denn insbesondere unsere Kolle-gen im Europäischen Parlament kommen nicht zu Potte.Dazu zählt Solvency II, ein ganz wichtiges Projekt imVersicherungsbereich. Dazu zählt auch die Finanztrans-aktionsteuer, bei der wir noch mehr Druck machen müs-sen. Genau das schreiben wir in unserem Antrag: Wirwollen Druck machen, wir wollen an der Stelle weiter-machen.Meine Damen und Herren, es reicht nicht, uns nur mitden bestehenden Projekten zu beschäftigen, sondern wirmüssen ganz klar feststellen: Wo sind denn unsere offe-nen Flanken?
Eine offene Flanke haben wir ganz eindeutig bei der„too big to fail“-Problematik. Das heißt, es gibt Groß-banken, die uns alle hier in diesem Haus noch immer be-unruhigen. Wir schreiben in unserem Antrag, dass wir daherangehen müssen.
Wir müssen auch an das Schattenbanksystem herange-hen, das uns sehr viel Anlass zur Sorge gibt. Ich denke,insofern ist es richtig und gut, was wir in unseren Antraggeschrieben haben. Ich kann Sie nur auffordern, diesenAntrag zu unterstützen.
Wenn ich alles zusammenfasse, erkenne ich, dassdiese Bundesregierung und diese Regierungskoalitionmehr als 20 Maßnahmen und Initiativen auf den Weg ge-bracht haben, dass wir einen wesentlichen Teil unsererZeit im Finanzausschuss – und nicht nur dort – damitverbracht haben, die Finanzmärkte zu regulieren.Ich schaue mir dann an, wie hier heute diskutiert wor-den ist: Die Schärfe, mit der die Argumente vorgebrachtwurden, stand in keinem Verhältnis zur Begründetheitder Vorwürfe. Ich schaue mir dann an, was in Ihrem An-trag steht. Darin steht das Versprechen: Wir werden dieFinanzmärkte bändigen. – Wenn man aber den Antragvon SPD und Grünen durchschaut, dann erkennt man,dass ganz wenig übrig bleibt.Ich schaue mir dann an, was im Papier des Kanzler-kandidaten Steinbrück steht, das die Visitenkarte imKampf gegen Sigmar Gabriel um die Kanzlerkandidaturwar. Darin kündigt er ein großes Bankenkonzept an.Mehrere Vorredner haben schon gesagt, was darin steht:Dinge, die schon längst umgesetzt worden sind, Dinge,die in der Umsetzung sind, und Dinge, die wir auf inter-nationaler Ebene diskutieren.Ich schaue mir dann an – ich habe das gestern Abendeinmal gemacht –, was Sie in den letzten dreieinhalbJahren an Anträgen vorgelegt haben. Ich kann da wedereine Handschrift noch einen roten Faden noch eine Linieoder ein Konzept erkennen. Das ist, ehrlich gesagt, zuwenig.Ich erwarte eigentlich von der Opposition, dass siekreativ und inspirierend ist und innovative Vorschlägemacht, dass sie einen Gegenentwurf zu dem liefert, wasdie Regierung macht. Da muss man ganz ehrlich sagen,meine Damen und Herren: Man könnte auf die Ideekommen, dass es sich um Arbeitsverweigerung handelt.Es waren in finanzpolitischer Hinsicht verlorene Jahrefür die Opposition; auch auf diese Idee könnte man kom-men. Aber man könnte auch auf eine andere Idee kom-men, nämlich darauf, dass die Politik der Bundesregie-rung so gut war, dass ihr überhaupt nichts Essenzielleshinzuzufügen war.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26793
Ralph Brinkhaus
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Wenn sich der Kollege Steinbrück nicht schon – wahr-scheinlich zu Hausbesuchen im niedersächsischen Wahl-kampf – verabschiedet hätte, wenn er noch hier in derDebatte wäre, die er angestoßen hat – –
– Der Finanzminister ist hier im Saal.
Wenn sich der Kollege Steinbrück hier nicht schon vomAcker gemacht hätte und sich nicht aus den Tiefen derFachdiskussion weggestohlen hätte, dann hätte ich ihmjetzt gesagt: Lieber Herr Kollege Steinbrück, wenn derWähler Ihnen die Gunst erwiesen hätte, noch länger Fi-nanzminister sein zu können – die große Mehrheit derWähler hat das im Übrigen nicht getan –, dann hätten Siewahrscheinlich nicht viel anders gemacht als der Finanz-minister Schäuble; das gehört zur Wahrheit dazu.Meine Damen und Herren, das Thema der Regulie-rung der Finanzmärkte ist zu ernst und zu wichtig, um esfür Wahlkampfklamauk zu missbrauchen. Beim Themader Regulierung der Finanzmärkte geht es um eine deressenziellen Fragen. Dementsprechend eignet sich dasThema nicht dafür, es zum Wahlkampfthema hochzu-pushen. Ich will Ihnen auch sagen, warum es sich dafürnicht eignet: Bei all den Widersprüchen, die wir haben,und all den Diskussionen, die wir führen, ist es richtig,dass uns an dieser Stelle, bei der Regulierung der Fi-nanzmärkte, mehr vereint als trennt. Der Gegner sitztnicht hier im Saal; der Gegner sind die Akteure an denFinanzmärkten, die es immer noch nicht kapiert haben,die großen Teile der Finanzmärkte, die immer noch nichtkooperieren, die Teile der Finanzmärkte, die weiterhindie Geschäfte machen, die die Stabilität unseres Sys-tems, das wir in den letzten 50 Jahren aufgebaut haben,gefährden.
Dementsprechend rufe ich dazu auf: Lassen Sie uns dieSache zusammen angehen! Machen Sie daraus keinenWahlkampfpopanz!Danke schön.
Damit schließe ich die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/11878 an die Ausschüsse vorgeschlagen,die Sie in der Tagesordnung finden. – Damit sind Sieeinverstanden. Dann ist das so beschlossen.Wir kommen zum Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf der Drucksache 17/12060 mitdem Titel „Schärfere und effektivere Regulierung der Fi-nanzmärkte fortsetzen“.Die Fraktionen der CDU/CSU und der FDP wün-schen Abstimmung in der Sache. Die SPD-Fraktion,die Fraktion Die Linke und die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünschen Überweisung an dieselben Aus-schüsse, an die die Vorlage auf Drucksache 17/11878überwiesen worden ist.Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über denAntrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Werstimmt dagegen?
Wer enthält sich?
– Wir sind uns im Präsidium nicht darüber einig, wo dieMehrheiten sind. Insofern werden wir an dieser Stelleeinen Hammelsprung durchführen müssen.
Deswegen muss ich Sie bitten, den Saal zu verlassen, da-mit wir das tun können. Ich könnte noch einmal einenHinweis geben, wo genau die Türen sind; es gibt meh-rere.
Sind die Türen jetzt zu? – Noch nicht. Es fehlen nochSchriftführer an den Türen. Wer die Abstimmung gernbeschleunigen möchte und zugleich Schriftführerin oderSchriftführer ist, könnte sich in den Innenraum begeben. –Es fehlen noch Kolleginnen und Kollegen Schriftführervon der Regierungskoalition. – Wunderbar, FrauMichalk, danke, dass Sie da sind. Jetzt fehlt nur nocheiner. – Sind wir jetzt vollständig? – Alle Türen sind be-setzt. Dann beginnen wir mit dem Zählen. Vielen Dank.Ich weise alle, die jetzt im Saal sind, schon einmaldarauf hin, dass wir gleich auch noch eine namentlicheAbstimmung durchführen werden.Sind noch Kolleginnen und Kollegen draußen? – Dasscheint der Fall zu sein. Dann können wir die Abstim-mung noch nicht beenden.Ich frage noch einmal: Gibt es noch Kolleginnen undKollegen vor der Tür, die den Wunsch haben, in denPlenarsaal zu kommen? Kann ich einmal ein Signalbekommen? – Leider kann man das von hier aus nicht
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26794 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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sehen, weil so viele Kolleginnen und Kollegen innen vorden Türen stehen. – Jetzt kommt das Signal. Die Türenwerden geschlossen, und die Abstimmung mit demHammelsprung ist beendet. Wir warten auf das Ergebnis.Wir haben ein Ergebnis. Zur Erinnerung: Es ging umdie Frage der Überweisung. Der Überweisungsantragwurde abgelehnt. Es gab 280 Nein-Stimmen, 241 Ja-Stimmen und zwei Enthaltungen.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Antragauf Drucksache 17/12060. Wer stimmt für diesen An-trag? – Es irritiert mich, dass niemand dafür stimmenmöchte.
– Wir stimmen über den Antrag auf Drucksache17/12060 ab. Es geht um den Antrag mit dem Titel„Schärfere und effektivere Regulierung der Finanz-märkte fortsetzen“. Es handelt sich um einen Antrag derCDU/CSU und der FDP.
Er steht auf Drucksache 17/12060 und sollte nicht über-wiesen werden. Das haben wir per Hammelsprung fest-gestellt.Deswegen frage ich jetzt noch einmal: Wer ist für die-sen Antrag? – Wer ist dagegen? – Gibt es Enthaltun-gen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist der Antrag ange-nommen. Darüber sind wir uns hier auch einig.Ich rufe jetzt die Tagesordnungspunkte 34 a bis 34 fauf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes über dieStatistik der Bevölkerungsbewegung und die
– Drucksache 17/9219 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Rechtsausschussb) Erste Beratung des von den Abgeordneten PaulSchäfer , Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken,weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIELINKE eingebrachten Entwurfs eines … Geset-
– Drucksache 17/11591 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
Verteidigungsausschuss
Rechtsausschuss Federführung strittigc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ver-trag vom 12. Januar 2012 zwischen der Bun-desrepublik Deutschland und dem Königreichder Niederlande über die Zusammenarbeit beider Bekämpfung des grenzüberschreitendenMissbrauchs bei Sozialversicherungsleistun-gen und -beiträgen durch Erwerbstätigkeitund bei Leistungen der Grundsicherung fürArbeitsuchende sowie von nicht angemeldeterErwerbstätigkeit und illegaler grenzüber-
– Drucksache 17/12015 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Innenausschuss Rechtsausschuss Ausschuss für Arbeit und Sozialesd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Ersten Gesetzes zurÄnderung des Holzhandels-Sicherungs-Geset-zes– Drucksache 17/12033 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Rechtsausschuss Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheite) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung jagdrechtlicher Vorschriften– Drucksache 17/12046 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
Innenausschuss Rechtsausschussf) Beratung des Antrags der Abgeordneten TomKoenigs, Volker Beck , Ingrid Hönlinger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENNationale Stelle zur Verhütung von Folterstärken– Drucksache 17/11207 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Innenausschuss RechtsausschussEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Tagesordnungspunkt 34 b. Wir kommen zunächst zueiner Überweisung, bei der die Federführung strittig ist.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwurfsder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11591 zurÄnderung des Grundgesetzes, Art. 35 und 87 a, an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen, die Federführung ist jedoch strittig. Die Fraktionenvon CDU/CSU und FDP wünschen Federführung beimInnenausschuss, die Fraktion Die Linke beim Verteidi-gungsausschuss.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26795
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-antrag der Fraktion Die Linke, Verteidigungsausschuss.Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – DerÜberweisungsantrag ist abgelehnt bei Zustimmungdurch die Fraktion Die Linke. Alle anderen waren dage-gen.Jetzt stimmen wir ab über den Überweisungsvor-schlag von CDU/CSU und FDP, Innenausschuss. Wer istdafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Damit istdie Überweisung so beschlossen. Dagegen war die Frak-tion Die Linke, alle anderen waren dafür.Wir kommen jetzt zu unstrittigen Überweisungen.Tagesordnungspunkte 34 a sowie c bis f. Interfraktio-nell wird vorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen. –Damit sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlos-sen.Wir kommen zu den Zusatzpunkten 4 a bis 4 e. Hiergeht es um die Beratung von fünf Beschlussempfehlun-gen des Vermittlungsausschusses, zu denen keine Aus-sprache vorgesehen ist. Über die Beschlussempfehlungzum Jahressteuergesetz 2013 werden wir später nament-lich abstimmen.Ich beginne mit Zusatzpunkt 4 a:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
kommen vom 21. September 2011 zwischender Bundesrepublik Deutschland und derSchweizerischen Eidgenossenschaft über Zu-sammenarbeit in den Bereichen Steuern undFinanzmarkt in der Fassung vom 5. April 2012– Drucksachen 17/10059, 17/11093, 17/11096,17/11635, 17/11693, 17/11840 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas OppermannMir ist mitgeteilt worden, dass das Wort zur Bericht-erstattung gewünscht ist. – Bitte schön, HerrOppermann.
Frau Präsidentin! Bei dem Steuerabkommen mit der
Schweiz, das den Vermittlungsausschuss beschäftigt hat,
ging es darum, eine Lösung dafür zu finden, dass in der
Schweiz noch immer rund 150 Milliarden Euro unver-
steuertes Vermögen lagern. Der Vermittlungsausschuss
sieht in dem ausgehandelten Vertrag ganz erhebliche
Mängel und empfiehlt deshalb, diesem Gesetz nicht zu-
zustimmen.
Die Diskussion im Vermittlungsausschuss spiegelt
sich am besten in der verabschiedeten Begleiterklärung
wider, aus der ich auszugsweise zitiere:
Der Vermittlungsausschuss … fordert die Bundesre-
gierung auf, die Verhandlungen mit der Schweizer
Regierung wieder aufzunehmen, um ein gerechtes
Steuerabkommen mit der Schweiz abzuschließen.
Ein Steuerabkommen mit der Schweiz darf die
Steuerbetrüger der vergangenen Jahrzehnte nicht
belohnen. … Bund und Länder sind sich einig, dass
in Deutschland ehrlich und gerecht Steuern gezahlt
werden.
– Es darf keine Steuerbürger erster und zweiter Klasse
geben. –
Durch das Abkommen dürfen Steuerhinterzieher
nicht bessergestellt werden als ehrliche Steuerzah-
ler. Aus Gründen der Steuergerechtigkeit muss da-
her eine höhere Belastung derjenigen erfolgen, die
sich in der Vergangenheit besonders hartnäckig ih-
ren steuerlichen Verpflichtungen entzogen haben.
Der Vermittlungsausschuss lehnt es ab, bei Steuerbetrü-
gern auf Strafverfolgung zu verzichten und eine ano-
nyme Amnestie vorzunehmen.
Der Vermittlungsausschuss empfiehlt daher, das Gesetz
über das Schweizer Steuerabkommen aufzuheben und
den Gesetzentwurf für erledigt zu erklären.
Vielen Dank.
Diese Begleiterklärung nehmen wir zu Protokoll.1)Jetzt kommen wir zur Abstimmung über die Be-schlussempfehlung des Vermittlungsausschusses aufDrucksache 17/11840. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich?– Die Gegenstimmen waren die Mehrheit. Die Be-schlussempfehlung ist damit abgelehnt.Zusatzpunkt 4 b:Beratung der Beschlussempfehlung des Ausschus-
und Vereinfachung der Unternehmensbesteue-rung und des steuerlichen Reisekostenrechts– Drucksachen 17/10774, 17/11180, 17/11189,17/11217, 17/11634, 17/11694, 17/11841 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Michael Meister1) Anlage 2
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26796 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Ich erteile dem Kollegen Dr. Michael Meister so-gleich das Wort zur Berichterstattung.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Regierungsfraktionen haben ein Gesetz zur Änderung
und Vereinfachung der Unternehmensbesteuerung und
des steuerlichen Reisekostenrechts auf den Weg ge-
bracht. Die beiden Fraktionen wollen damit einen Bei-
trag zur Vereinfachung des Steuerrechts leisten. Einfa-
che, gerechte und zeitgemäße Regelungen für die
steuerliche Organschaft sollen den Standort Deutschland
stärken und wettbewerbsfähig machen.
Zur Gerechtigkeit gehört natürlich, dass alle Steuer-
pflichtigen die Gelegenheit bekommen, ihre Steuern zu
entrichten, unabhängig von der Frage, ob sie ihre Erträge
im Inland oder im Ausland erwirtschaften. Die Chance,
das noch in diesem Gesetz zu regeln, wurde leider ver-
tan.
Bei der Organschaft erfolgt ein Verweis auf das Ak-
tienrecht. Der Höchstbetrag des Verlustrücktrags wird
verdoppelt. Damit wird gerade in schwierigen Zeiten die
Liquidität der mittelständischen Unternehmen verbes-
sert.
Wir vereinfachen das Reisekostenrecht bei den Fahrt-
kosten, bei den Verpflegungsmehraufwendungen und in
der Frage, wie oft und wie weit man von der Arbeits-
stätte entfernt sein muss. Bei der Besteuerung versuchen
wir, dem Gerechtigkeitsempfinden der Arbeitnehmer
entgegenzukommen. Wenn, wie gerade geschehen, ein
kompletter Steuerjahrgang wegen Verjährung aus der
Steuerpflicht entlassen werden musste, wirkt das, glaube
ich, nicht im Sinne des Gerechtigkeitsempfindens.
Wir zeigen mit diesem Gesetz, dass mit geringem fi-
nanziellen Aufwand – es handelt sich um 290 Millionen
Euro – ein wesentlicher Beitrag zur Steuervereinfachung
möglich ist. Ich glaube, dass es sinnvoll ist, diesen Auf-
wand zu leisten, um bei der Steuervereinfachung voran-
zukommen.
Bei der Frage von Organträgern und Organgesell-
schaftenbesitz in der Europäischen Union bzw. im
EWR-Ausland hat der Vermittlungsausschuss eine Än-
derung vorgenommen, und er hat kleinere Änderungen
am Reisekostenrecht vorgenommen.
Ich glaube, dieses Gesetz ist – wie der Vorgänger, der
leider keine Zustimmung fand – ein Beitrag, um die
Steuergerechtigkeit in Deutschland zu verbessern und
Steuervereinfachungen herbeizuführen. Ich würde mir
wünschen, dass wir für dieses Vermittlungsergebnis eine
Mehrheit bekommen.
Danke schön.
Der Vermittlungsausschuss hat gemäß § 10 Abs. 3
Satz 1 seiner Geschäftsordnung beschlossen, dass im
Deutschen Bundestag über die Änderungen gemeinsam
abzustimmen ist. Dies gilt auch für die noch folgenden
drei Beschlussempfehlungen.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Vermitt-
lungsausschusses auf Drucksache 17/11841? – Gegen-
stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist bei Enthaltung der Fraktion Die Linke angenommen
mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen.
Wir kommen jetzt zu Zusatzpunkt 4 c:
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
der kalten Progression
– Drucksachen 17/8683, 17/9201, 17/9202,
17/9644, 17/9672, 17/11842 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Dr. Michael Meister
Ich erteile erneut dem Kollegen Dr. Michael Meister
das Wort zur Berichterstattung.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Bei diesem Punkt geht es um einen Ge-setzentwurf der Bundesregierung vom Dezember 2011,mit dem die kalte Progression in Deutschland abgebautwerden soll. Zudem soll das Existenzminimum für Er-wachsene auf die im Grundgesetz geforderte Höhe ge-bracht werden, und zwar in zwei Schritten: mit einemersten Schritt im Jahr 2013 und mit einem zweitenSchritt im Jahr 2014.Um die kalte Progression abzubauen, umfasst der Ge-setzentwurf drei Teile: zum Ersten die eben erwähnteAnhebung des Existenzminimums, zum Zweiten dieEntzerrung der dadurch erfolgten Stauchung des Tarifs,damit der Grenzsteuersatz nicht ansteigt, und zum Drit-ten eine Abmilderung der kalten Progression. Diesendritten Teil – das hatte die Bundesregierung vorgeschla-gen – sollte der Bund alleine finanzieren. Die ersten bei-den Teile hätten gemäß der Aufteilung der Einkommen-steuer durch Bund, Länder und Kommunen finanziertwerden sollen.Der Vermittlungsausschuss hat den ersten Teil, dieAnhebung des Existenzminimums, angenommen, undschlägt, wie vorgetragen, die Anhebung des Existenzmi-nimums in den Jahren 2013 und 2014 in zwei Stufen vor.Die Beseitigung der dadurch eintretenden stärkeren Be-lastung aufgrund des höheren Grenzsteuersatzes fand imVermittlungsausschuss leider keine Mehrheit. Sozialde-mokraten und Grüne konnten sich dem nicht anschlie-ßen, sodass es nun durch den Beschlussvorschlag desVermittlungsausschusses zu einem höheren Grenzsteuer-satz kommt.Die Regelung zur Abmilderung der kalten Progres-sion sollte dazu dienen, dass Lohnerhöhungen, die ledig-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26797
Dr. Michael Meister
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lich die Inflation ausgleichen, nicht zu einer stärkerenBelastung durch die Einkommensteuer führen. Auch diesfand keine Zustimmung. Sie wird also aus dem Gesetzherausgenommen, sodass Lohnerhöhungen, die lediglicheinen Inflationsausgleich bedeuten, nach wie vor stärkersteuerlich belastet werden.Als Gegenvorschlag wurde eine Anhebung des Ein-gangssteuersatzes in die Diskussion im Vermittlungsaus-schuss eingebracht, was insbesondere bei Beziehernkleinerer Einkommen zu einer stärkeren Belastung ge-führt hätte.
Dies fand ebenfalls keine Mehrheit und wird deshalbhier nicht vorgeschlagen. Wir hätten uns eine Anhebungdes Eingangssteuersatzes gerade mit Blick auf kleinereund mittlere Einkommen auch nur schwer vorstellenkönnen.
Meine Damen und Herren, ich darf zusammenfassen:Die Entlastung bis zum Jahr 2014 fällt niedriger aus alsursprünglich geplant. Bei einem verheirateten Arbeit-nehmer mit zwei Kindern und einem Einkommen von35 000 Euro sinkt sie von geplanten 198 Euro auf134 Euro; das heißt, die Entlastungswirkung ist geringer.Damit wir uns verfassungsgemäß verhalten, schlageich dennoch vor, den so veränderten Gesetzentwurf ge-meinschaftlich zu beschließen.Vielen Dank.
Vielen Dank für die Erklärung.
Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ver-
mittlungsausschusses auf Drucksache 17/11842? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist wiederum bei Enthaltung der Fraktion
Die Linke mit den Stimmen aller übrigen Fraktionen an-
genommen.
Wir kommen jetzt zum Zusatzpunkt 4 d:
Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
zu dem Gesetz zur
steuerlichen Förderung von energetischen Sa-
nierungsmaßnahmen an Wohngebäuden
– Drucksachen 17/6074, 17/6251, 17/6358,
17/6360, 17/6584, 17/7544, 17/11843 –
Berichterstattung:
Abgeordneter Stefan Müller
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –
Der Kollege Müller hat das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses zur
energetischen Gebäudesanierung enthält ausschließlich
Änderungen des Energiewirtschaftsgesetzes. Es handelt
sich dabei um die Umsetzung der europäischen Elek-
trizitäts- und Gasrichtlinie. Nicht in der Beschlussemp-
fehlung des Vermittlungsausschusses enthalten ist die
besagte steuerliche Förderung der energetischen Gebäude-
sanierung. Hierzu war im Vermittlungsausschuss keine
Einigung möglich.
Der ursprüngliche Vorschlag der Bundesregierung
und auch der Beschluss des Bundestages sahen vor, dass
energetische Sanierungsmaßnahmen an Wohngebäuden,
die vor 1995 errichtet worden sind, in einer Größenord-
nung von insgesamt 1,5 Milliarden Euro steuerlich ge-
fördert werden sollten. Nach Einschätzung vieler Exper-
ten – das haben auch die Anhörungen im Bundestag
deutlich gemacht – hätte dies zu einem nicht unwesent-
lichen Einnahme- und Beschäftigungseffekt geführt, der
insbesondere dem deutschen Handwerk und den mittel-
ständischen Unternehmen und deren Arbeitnehmern zu-
gutegekommen wäre und ihnen gutgetan hätte. Diese
Einschätzung haben – jedenfalls nach dem, wie ich die
Beratungen im Vermittlungsausschuss in Erinnerung
habe – alle Mitglieder des Vermittlungsausschusses ge-
teilt, also sowohl die A- als auch die B-Seite. Leider war
trotzdem keine Einigung in diesem Sinne möglich.
Der Vermittlungsausschuss hat sich in insgesamt acht
Sitzungen mit diesem Gesetz befasst. Darüber hinaus hat
es Gespräche unter Federführung des Bundesumweltmi-
nisters gegeben, wonach der Bund bereit gewesen wäre,
den Ländern entgegenzukommen. Leider aber sahen sich
SPD- und Grünen-geführte Bundesländer nicht in der
Lage, sich an diesem wichtigen Projekt zu beteiligen.
Nachrichtlich sei noch hinzugefügt, dass die Bundes-
regierung nach dem Scheitern des Vorschlags zur ener-
getischen Gebäudesanierung deutlich gemacht hat, dass
sie bereit ist, dennoch das entsprechende KfW-Pro-
gramm aufzustocken. Ich darf darauf hinweisen, dass die
Bundesregierung ihre Zusage zwischenzeitlich einge-
halten hat. Der Vermittlungsausschuss hat eine Begleit-
erklärung dazu beschlossen.
Ich bitte Sie jetzt also um Zustimmung zu den Ände-
rungen des Energiewirtschaftsgesetzes.
Vielen Dank für den Bericht. – Der Kollege StefanMüller hat darüber hinaus gebeten, im Rahmen seinerBerichterstattung eine Protokollerklärung der Bundesre-gierung sowie eine Begleiterklärung des Vermittlungs-ausschusses zu Protokoll zu nehmen.1) Dem folgen wirgern.1) Anlage 3
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26798 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für dieBeschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses aufDrucksache 17/11843? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist wiederum bei Ent-haltung der Fraktion Die Linke mit den Stimmen allerübrigen Fraktionen angenommen.Ergänzend möchte ich bemerken, dass zu all diesenPunkten zahlreiche persönliche Erklärungen vorliegen,die wir zu Protokoll nehmen.1)Damit kommen wir zum Zusatzpunkt 4 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-schusses nach Artikel 77 des Grundgesetzes
zu dem Jahressteuerge-
setz 2013– Drucksachen 17/10000, 17/10604, 17/11190,17/11191, 17/11220, 17/11633, 17/11692,17/11844 –Berichterstattung:Abgeordneter Thomas OppermannBitte schön, Herr Oppermann.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Es geht hier um die
letzte Beschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses.
Insgesamt werden mit dem vorliegenden Jahressteuerge-
setz 30 Gesetze geändert. Vieles davon ist Routine; eini-
ges hat zu Auseinandersetzungen geführt. Es geht unter
anderem um die Besteuerung der Musikschulen und die
Besteuerung des Wehrsolds, um Steuerschlupflöcher bei
Goldkäufen und die Förderung von Elektroautos. Zu al-
len Punkten haben wir im Vermittlungsausschuss eine
Einigung zwischen Bund und Ländern erzielt. Das Ge-
setz ist richtig, das Gesetz ist auch notwendig. Nur in ei-
nem Punkt haben wir uns im Vermittlungsausschuss
nicht einigen können, nämlich bei der steuerlichen
Gleichstellung von homosexuellen Lebenspartnerschaf-
ten mit Ehen. Hier war eine breite Mehrheit dafür, sie
endlich gleichzustellen.
Leider konnte sich dem die Mehrheit der Vertreter der
Koalition nicht anschließen. Wie ich höre, will die Ko-
alition deswegen das Jahressteuergesetz blockieren. Das
halte ich für falsch.
Die Gleichstellung der Lebenspartnerschaft mit der
Ehe ist überfällig. Das ist eine Frage der Gerechtigkeit.
– Ich muss bei der Berichterstattung auch auf Zwischen-
rufe reagieren. – Sie von der Koalition haben in Ihrem
eigenen Koalitionsvertrag angekündigt, eine steuerliche
Gleichstellung voranzubringen. Heute haben Sie dazu
die Gelegenheit, meine Damen und Herren.
Uns ist doch ohnehin klar, dass das Bundesverfassungs-
gericht diese Gleichstellung mit großer Wahrscheinlich-
keit schon in Kürze einfordern wird.
Ich halte es im Übrigen nicht für verantwortbar, dass
das Jahressteuergesetz jetzt blockiert wird. Dafür sind zu
viele Materien betroffen, die geregelt werden müssen.
Deshalb appelliere ich an die Koalition: Geben Sie sich
einen Ruck! Wenn Sie heute gegen das Jahressteuerge-
setz 2013 stimmen, dann blockieren Sie Ihr eigenes Ge-
setz,
und zwar nur, weil in dieses Gesetz eine Regelung auf-
genommen werden soll, die endlich die Diskriminierung
homosexueller Lebenspartnerschaften in Deutschland
beendet.
Vielen Dank.
Herr Kollege Oppermann, Sie sind über eine Bericht-
erstattung weit hinausgegangen, indem Sie in der Sache
argumentiert haben.
Das ist nicht zulässig.
Herr Präsident, ich bitte um Nachsicht. Aber ich bin
aus der Koalition durch Zwischenrufe herausgefordert
worden. Dem habe ich Rechnung getragen.
Auch wenn Sie Beifall spenden: Es ist nicht zulässig,in eine Sachargumentation einzutreten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26799
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Der Kollege Oppermann hat darum gebeten, im Rah-men der Berichterstattung die zwei Begleiterklärungendes Vermittlungsausschusses zu Protokoll zu nehmen,was wir selbstverständlich machen.1)Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/11844 namentlich ab. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, die vorgesehenenPlätze einzunehmen. – Sind alle Schriftführer an den Ur-nen? – Ich eröffne die Abstimmung und bitte, dieStimmkarten einzuwerfen.Haben alle Mitglieder des Hauses ihre Stimmkarteeingeworfen? – Dann schließe ich den Wahlgang undbitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit derAuszählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentli-chen Abstimmung wird Ihnen später bekannt gegeben.2)Ich rufe den Zusatzpunkt 5 auf:Vereinbarte Debattezu steuerpolitischen BeschlüssenNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch dagegen? – Das ist nicht der Fall. Dann ist dasso beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Michael Grosse-Brömer von derCDU/CSU-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir reden über die Ergebnisse des Vermitt-lungsausschusses in ungewöhnlicher Transparenz. Nor-malerweise sind die Berichterstattungen, die wir vorhingehört haben, nicht üblich. Aber ich kann verstehen, wa-rum sie notwendig wurden. Sonntag ist Landtagswahl inNiedersachsen, ich bin sehr zuversichtlich für diesenTag.
Wir haben deshalb jetzt auch noch eine persönliche Aus-sprache zu diesem Thema, weil das von der Oppositionso gewünscht ist.Ich glaube, es ist auch bei den Berichterstattungendeutlich geworden, um welches Problem es geht. Einklein wenig ist auch deutlich geworden, dass dabei aucheine politische Aussage vermittelt werden musste. Lei-der war das – jedenfalls nach meinem Eindruck – imVermittlungsausschuss auch schon so. Er wird dem Na-men nicht mehr richtig gerecht. Eigentlich geht es umdie Vermittlung von Bundespolitik und Landespolitik. Inletzter Zeit erscheint es allerdings so, als würde der Ver-mittlungsausschuss zum Verhinderungsausschuss. Es hataus meiner Sicht nicht mehr das Gemeinwohl im Mittel-punkt gestanden; wir haben es vorhin beim Steuerrechtgehört. Wer darauf verzichtet, zweistellige Milliardenbe-träge aus der Schweiz erstattet zu bekommen, und dasoffensichtlich nur aus parteipolitischen Gründen ablehnt,macht etwas falsch, liebe Kollegen von der Opposition.
Erst das Land und dann die Partei, müsste es heißen.Zurzeit ist es aber ein Stück weit umgekehrt – auch beiIhnen, Herr Beck –: erst die Partei und dann das Land.Ich hoffe, Sie werden wieder vernünftiger.
– Überhaupt nichts. Aber eine richtige Reihenfolge istvielleicht klug. Man sollte übergeordnete Interessennicht Parteiinteressen opfern. Das war mein Vorwurf.
Ich möchte schlussendlich darauf hinweisen, dass beiden Verhandlungen im Vermittlungsausschuss bei Rot-Grün deutlich wurde: Es geht Ihnen offenkundig nichtum Steuergerechtigkeit; das haben wir vorhin gehört. Esgeht nicht einmal um das Interesse an unteren und mitt-leren Einkommen. – Es wäre eine schöne Gelegenheitgewesen, durch die Annahme des Antrags der Regierungund der Koalitionsfraktionen mittlere und geringfügigeEinkommen von der kalten Progression zu entlasten undden Menschen mehr Geld zu lassen, wenn sie schon ein-mal eine Gehaltserhöhung bekommen. Aber nein, auchda geht es um Ideologie. Es ist mir völlig unverständlich,wie es gerade Ihnen als sozialer Partei möglich war, zusagen: Nein, da machen wir nicht mit; wir entlasten diekleinen Leute in Deutschland nicht. – Aber da war dieParteipolitik eben wichtiger. Ich bedauere das sehr.Was die Schweiz angeht, macht es Sinn – das habenwir auch heute Vormittag gehört –, internationale Ab-kommen zu schließen, damit Steuerhinterziehung welt-weit verhindert wird.
Es bestand die Gelegenheit dazu. Es gab eine exzellenteVerhandlung des Bundesfinanzministers. Es gab dieMöglichkeit eines Abkommens, das hinterzogenes Geldauch rückwirkend nach Deutschland zurückgeführt hätteund dauerhaft eine Rechtsgrundlage geschaffen hätte,um Steuerhinterziehung den Boden zu entziehen. AberSie haben nicht mitgemacht.
Wenn Sie weiterhin darauf setzen, Datendealerei zubetreiben, irgendwelche CDs aufzukaufen
und sich von Zufallsfunden abhängig zu machen, dannist doch die Frage: Ist das wirklich eine dauerhafte Lö-1) Anlage 42) Ergebnis Seite 26800 D
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26800 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Michael Grosse-Brömer
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sung, oder ist es sinnvoller, eine seriöse Rechtsgrundlagezu schaffen, die Steuerhinterziehung langfristig, alsodauerhaft, verhindert?
Das wäre unser Vorschlag gewesen.Meine Damen und Herren, auch im Bereich der ener-getischen Gebäudesanierung wäre eine steuerliche Ent-lastung sinnvoll gewesen. Alle Experten, egal von wemsie benannt sind, auch die von Sozialdemokraten oderGrünen, bestätigen: Das ist der größte Bereich, in demEnergiesparprogramme umgesetzt werden können. Ener-getische Gebäudesanierung ist der beste Weg, um demUmweltschutz zu dienen. Sie allerdings verfolgen wie-der parteipolitische Interessen, nach dem Motto: Wirmachen nicht mit; wir gönnen euch den Erfolg nicht. –Das ist kleingeistig und nicht am Allgemeinwohl orien-tiert. Wir bedauern das sehr.
Wir haben versucht, das meiste zu retten. Wir habenja auch manches geschafft. Das Jahressteuergesetz isttraditionell ein sogenanntes Omnibusgesetz; es enthältzahlreiche steuerfachliche Änderungen. Es wurde aufge-listet, worum es dabei insgesamt geht: Aufbewahrungs-fristen, Umstrukturierungen von Konzernen. Das allessind wichtige Aspekte, auf die sich die Kollegen frak-tionsübergreifend nach langer Debatte verständigt hat-ten. Aber dann kam wieder die Parteipolitik ins Spiel.Sie mussten trotz des Parteitagsbeschlusses der Unionhier noch einen Punkt einbringen, nämlich die Gleich-stellung von eingetragenen Lebenspartnerschaften mitEhen. Dieser Punkt ist strittig. Darüber wird sicherlichgerichtlich entschieden, was wir gut finden. Auch beiuns in der Fraktion gibt es genügend Kollegen, die dasanders sehen als die Mehrheit der CDU-Parteitagsdele-gierten. Aber das parteipolitisch auszuschlachten, nichtzu sehen, dass zahlreiche andere Regelungen vereinbartwaren, stattdessen wieder einen populistischen Auf-schlag zu machen, das ist schade. Der Vermittlungsaus-schuss wird durch Sie aus parteipolitischen Gründenzum Verhinderungsausschuss.
Hören Sie damit bitte auf!
Insofern bleibt mir leider nur das Fazit: Künftig müs-sen Vermittlungsergebnisse wieder das Ziel verfolgen– das richtet sich an Rot-Grün und die Linken –, einesinnvolle, im Interesse des Landes ausgestaltete Politikzu vereinbaren und durchzusetzen. Es darf nicht darumgehen, Politik mit Blick auf parteipolitische Interessenzu machen, eine Politik, die zulasten mittelständischerUnternehmen und zulasten der kleinen Leute in Deutsch-land geht. Das ist nicht dauerhaft erträglich.
Ich setze nach wie vor auf Ihre Einsicht. Irgendwannwird aus Ihrer Sicht nicht die Wahl, sondern die Sach-politik wieder das Maßgebende sein. Jedenfalls gebe ichdiese Hoffnung nicht auf.
Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe,verkünde ich das von den Schriftführerinnen undSchriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichenAbstimmung über die Beschlussempfehlung des Ver-mittlungsausschusses zum Jahressteuergesetz 2013: ab-gegebene Stimmen 567. Mit Ja haben gestimmt 256, mitNein haben gestimmt 306, Enthaltungen 5. Die Be-schlussempfehlung ist abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 567;davonja: 256nein: 306enthalten: 5JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasSabine Bätzing-LichtenthälerDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannPetra ErnstbergerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseGabriele GronebergMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichRolf HempelmannDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilHans-Ulrich KloseDr. Bärbel KoflerDaniela Kolbe
Anette KrammeAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26801
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
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Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixRené RöspelDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Swen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPMichael KauchDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldHeidrun BluhmSteffen BockhahnChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllAndrej HunkoDr. Lukrezia JochimsenHarald KochJan KorteKatrin KunertCaren LaySabine LeidigRalph LenkertStefan LiebichUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeDorothée MenznerNiema MovassatThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichJohanna VoßHalina WawzyniakHarald WeinbergKatrin WernerJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerViola von Cramon-TaubadelEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulSusanne KickbuschMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagBeate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerKrista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerfraktionsloserAbgeordneterWolfgang NeškovićNeinCDU/CSUPeter AltmaierPeter AumerThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannManfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserMichael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerUte GranoldReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf Henke
Metadaten/Kopzeile:
26802 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
(C)
(B)
Michael HennrichAnsgar HevelingErnst HinskenPeter HintzeChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerHubert HüppeThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterDr. Angela MerkelMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannBernd Neumann
Michaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanDr. Andreas ScheuerKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-DrüggelteUwe Schummer
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelChristian Freiherr von StettenGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansHans-Werner EhrenbergRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterOliver LuksicHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Hans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundHagen ReinholdDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerStephan ThomaeManfred TodtenhausenDr. Florian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinDr. Volker WissingHartfrid Wolff
EnthaltenCDU/CSUDr. Stefan KaufmannDIE LINKEHeidrun DittrichWolfgang GehrckeInge HögerUlla Jelpke
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26803
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Jetzt hat das Wort der Kollege Lothar Bindung vonder SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr verehrte Damen und Herren!
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich hatte bis zuletzt
gehofft, dass Sie sich vielleicht doch noch eines Besse-
ren besinnen, gerade nachdem Sie so oft das Wort „Par-
teipolitik“ in den Mund genommen haben. Lassen Sie
uns einmal ehrlich sein: Sie haben eine Koalitionsverein-
barung, auf die Sie sich oft berufen. Diese Koalitionsver-
einbarung brechen Sie heute, indem Sie – offensichtlich
wegen Uneinigkeiten der CSU mit der FDP und einer
zerstrittenen CDU – auf dem Rücken der eingetragenen
Lebenspartnerschaften ein komplettes Jahressteuerge-
setz zerreiben. Das ist ein großes Problem. Ich glaube,
der Vorwurf der Parteilichkeit, der parteipolitischen
Orientierung fällt da auf Sie zurück.
Dabei brauchen wir das Jahressteuergesetz 2013.
Nehmen wir ganz einfache Dinge: Wir müssten natürlich
die Cash-GmbHs abschaffen, eine Steuergestaltung, bei
der man quasi Bargeld in beliebiger Höhe in einen
GmbH-Mantel legt, um anschließend über erbschaftsteu-
errechtliche Regelungen Steuern zu sparen. Das ist ein
Riesenproblem. Ein praktischer Aspekt, wichtig für die
Steuerberater: Wir brauchen eine Rechtsgrundlage dafür,
dass es ab Beginn dieses Jahres keine Lohnsteuerkarten
mehr gibt; denn bei dem ELStAM-System gibt es Verzö-
gerungen. Das ist eine ganz praktische und ganz drin-
gende Sache. Denken Sie auch an das Stichwort „Aktion
Goldfinger“, den Handel mit Gold, bei dem ich einfach
eine Personengesellschaft gründe, die mit Rohstoffen
handelt, dort meinen Goldpreis als Verluste eintrage und
über entsprechende DBA plötzlich riesige Steuerspar-
modelle habe. Das ist ein Riesenproblem. Wir bräuchten
unbedingt dieses Gesetz; aber Sie blockieren es genau
aus den Gründen, von denen Sie eben vorgaben, diese
bei anderen zu finden.
Es ist ein Riesenerfolg – Gott sei Dank –, dass das
Schweizer Abkommen verhindert werden konnte; denn
sonst würde der Betrüger geschützt und der Ehrliche be-
straft. Stellen Sie sich einmal vor, wir würden jetzt ein
Gesetz verabschieden, das in etwa auf Folgendes hinaus-
laufen würde: Künftig werden in jedem Finanzamt pro
Jahr nur noch zwei Einkommensteuererklärungen von
Arbeitnehmern geprüft. – So ungefähr war die Bedin-
gung für die Steuerbetrüger in der Schweiz. Das ist die
Form von Gerechtigkeit, für die Sie mit der Entschluss-
freudigkeit, die Sie heute an den Tag gelegt haben, eine
Basis legen. Das ist ein ganz großes Problem.
Nun zum Stichwort „kalte Progression“. Sie tun im-
mer so, als wollten Sie den Leuten etwas Gutes tun, in-
dem Sie sagen, Sie wollten die kalte Progression ab-
schaffen. Bleiben wir einen kleinen Moment fachlich.
Wollten Sie wirklich die kalte Progression abschaffen,
müssten Sie den Tarif indexieren. Sie müssten die Steu-
ersätze also an die Inflation anpassen. Sie wissen genau,
was das bezogen auf die Inflation und die Löhne für ei-
nen gefährlichen Treibsatz in der Wirtschaft bedeuten
würde, und deshalb machen Sie das nicht. Seien Sie ehr-
lich! Sagen Sie doch, dass die Grundfreibeträge schon
immer so angepasst worden sind, dass es keine kalte
Progression für die kleinen Bürger gab. Es gab Steuer-
vorteile; die kleinen Leute wurden bisher fair entlastet.
Wenn Sie es genau wissen wollen, dann lesen Sie es in
der entsprechenden Antwort von Herrn Schäuble nach,
die er uns mit Blick auf die Steuerprogression der ver-
gangenen Jahre gegeben hat. Das war schon immer, vo-
rauseilend unter Rot-Grün, sehr gut geregelt.
Ich möchte noch auf einen kleinen Widerspruch hin-
weisen, der vielleicht ein bisschen andeutet, warum Ihr
Tag heute so schlecht verlaufen ist.
Ihre Koalition hat ja heute Morgen Ihre Regierung – ich
will es kurz zitieren – zu „Qualität vor Schnelligkeit“
aufgefordert. Es ist interessant, wenn diese Koalition
ihre eigene Regierung auffordern muss, Qualität vor
Schnelligkeit zu setzen. Sie haben aber noch etwas ge-
tan. Sie haben Ihre eigene Regierung aufgefordert, die
Vorschriften um frühzeitige Vorkehrungen für den Kri-
senfall zu ergänzen, und gleich hinzugefügt, das sei aber
alles schon passiert. Das heißt, Sie fordern heute, am
17. Januar 2013, Ihre eigene Regierung dazu auf, solche
Vorkehrungen zu treffen, von denen Sie gleichzeitig be-
haupten, diese seien in den letzten drei Jahren schon er-
ledigt worden. Daran erkennt man die Widersprüchlich-
keit Ihrer Politik. Ich glaube, es ist heute gelungen, das
deutlich werden zu lassen.
Das Wort hat jetzt der Kollege Patrick Döring von der
FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Der Vermitt-lungsausschuss zwischen Bundestag und Bundesrat hatsich in seiner langjährigen Praxis als Schlichter bewährt.Er findet auf einer politischen Ebene Lösungen, auf diesich die Fachpolitiker in den Ländern und im Bund nichthaben einigen können. So jedenfalls sollte es sein. Wasallerdings diese Opposition aus Sozialdemokraten undGrünen dargeboten hat, ist weit von dieser Schlichtungs-funktion entfernt. Sie haben den Bundestagswahlkampfüber den Vermittlungsausschuss eingeleitet, frei nachdem Motto: Wenn wir schon mit unserem Kandidaten
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26804 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Patrick Döring
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nicht punkten können, dann gönnen wir wenigstens die-ser Koalition keinen Erfolg, vor allem aber den Bürge-rinnen und Bürgern in Deutschland keine Entlastung.
Sie wollen die zusätzliche Belastung der arbeitendenMitte der Bevölkerung. Sie haben sich dazu in IhremProgramm und auf Ihren Parteitagen bekannt. Deshalbsind Sie nicht bereit, notwendige Kompromisse einzuge-hen.Kommen wir zur eben angesprochenen kalten Pro-gression. Verehrter Herr Kollege Binding, wenn Sie hiersagen, den kleinen Leuten gehe es bei unserem derzeiti-gen Tarifverlauf gut, dann kann ich Ihnen nur sagen: Siehaben von der Progression nichts verstanden. Sie habenjetzt die Erhöhung des Grundfreibetrages nach den Ver-fassungsgerichtsvorgaben mittragen müssen. Da Sie aberzu dem zweiten Schritt, nämlich der Verschiebung desVerlaufs des Tarifs, nicht bereit waren, führt das amEnde zu einer Verschärfung der Progression für untereund mittlere Einkommen. Das ist der Effekt sozialdemo-kratischer Politik.
Jetzt übersetze ich das einmal, Herr Binding. Sie sa-gen: Es geht den Leuten gut. – Im Gegensatz zu vielenanderen hier bin ich Unternehmer und habe auch schoneinmal Arbeitsplätze geschaffen. Ich sage Ihnen: Wennheute jemand in Steuerklasse I 2 200 Euro verdient undsich vom Arbeitgeber 100 Euro Lohnerhöhung er-kämpft, erstreitet und erleistet, dann bleiben ihm imnächsten Monat von diesen 100 Euro 54 Euro netto aufseinem Konto. Wenn Sie bei der SPD das sozial gerechtfinden, dann machen Sie so weiter! Wir finden das nichtsozial gerecht. Wir wollen, dass die Menschen mehr ha-ben von ihren hart erkämpften Lohnerhöhungen.
Kommen wir zum Steuerabkommen mit der Schweiz.Es ist nachgerade absurd, was da passiert. PeerSteinbrück und Walter-Borjans werben weiter dafür,dass von dubiosen Gestalten illegal erlangte Daten undSteuer-CDs erworben werden, anstatt dass wir klarerechtsstaatliche Verfahren einleiten.
Dann werden Sie auch noch dreist und stellen zu Beginndieser Woche aus lauter Verzweiflung einen Vorschlagzur Bekämpfung der Steuerhinterziehung vor, obwohlSie selbst das Vorhaben blockiert haben, für jene, dieillegal und zu Unrecht Mittel in die Schweiz gebrachthaben, neue rechtsstaatliche Instrumente zu schaffen.Bigotter geht es nicht.
Selbst wenn es bei Ihnen rechtsstaatliche Bedenkengäbe: Brechen wir das doch einmal herunter auf einLand wie Niedersachsen. 928 Millionen Euro zusätz-liche Steuereinnahmen werden einem Land wie Nieder-sachsen durch Ihre Blockade vorenthalten. Sie sind derSchutzpatron der Steuerhinterzieher in Deutschland,meine sehr verehrten Damen und Herren.
Der Effekt ist ganz einfach: Nicht Barack Obama undMitt Romney haben den teuersten Wahlkampf in der Ge-schichte geführt, sondern die SPD hat sich für 10 Mil-liarden Euro ein Thema gekauft – zulasten der Bürgerin-nen und Bürger.
Dann kommen wir zum Jahressteuergesetz. Nachmeiner festen Überzeugung, geschätzter KollegeOppermann, haben Sie das Institut der Berichterstattungmissbraucht; denn Sie haben nicht alles vorgetragen. Siehätten vortragen müssen, dass die Mehrheit von Rot-Grün im Vermittlungsausschuss gleichzeitig die Verkür-zung der Aufbewahrungsfristen für Unterlagen für jene,die ein mittelständisches oder kleines Unternehmen füh-ren, blockiert hat.
Sie hätten sagen müssen, dass Sie massive Verletzungendes Gleichbehandlungsgebots bei der Erbschaftsteuer fürmittlere und kleine Unternehmen vorgeschlagen haben,dass Sie für die Familienunternehmen massive Erb-schaftsteuererhöhungen vorgeschlagen und durch-gesetzt haben. Sie hätten sagen müssen, dass alle IhreVorschläge zur Grunderwerbsteuer am Ende dazu ge-führt hätten, dass die öffentliche Hand steuerfrei agiert,während es für Private immer teurer wird. Das warenIhre Vorschläge.Deshalb ist es so: Sie haben das von uns vorgelegteGesetz erst entkernt und dann mit Ihren Steuerer-höhungsvorschlägen garniert: insgesamt eine Mehr-belastung von 500 Millionen Euro für die arbeitendeMitte der Bevölkerung. Das haben Sie vorgelegt.
Bei allem, was Sie zur Gleichstellung eingetragenerLebenspartnerschaften im Steuerrecht Richtiges ange-führt haben, sage ich: Wir Liberale wollen das,
wir haben das mehrfach bekundet, wir haben das mehr-fach beschlossen, und wir tun sehr viel dafür. Aber, sehrgeehrter Herr Beck, wir erkaufen uns die notwendigeGleichstellung der Lebenspartnerschaft im Steuerrecht
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26805
Patrick Döring
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nicht mit 500 Millionen Euro Steuermehrbelastung fürdie arbeitende Mitte der Bevölkerung. Das ist der Unter-schied zwischen Ihnen und uns.
Deshalb werben wir weiter für eine gute Lösung, abernicht zulasten der breiten Mitte der Bevölkerung,sondern indem wir alle entlasten, die fleißig sind, alleentlasten, die sich anstrengen, dieses Land nach vorn zubringen; denn dafür ist jedenfalls diese Koalitiongewählt.Ich danke Ihnen.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Dr. Barbara Höll von
der Fraktion Die Linke.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Was die Koalition heute bietet, ist wahrlich ein Stück ausdem Tollhaus.
Es ist ein Skandal, dass Sie sich schlicht aus ideologi-schen Gründen weigern, die steuerliche Ungleichbe-handlung der eingetragenen Lebenspartnerschaft und derEhe endlich zu beenden. Ich sage Ihnen: Viele von Ihnenhaben heute grundgesetzwidrig gehandelt. Wir sind freigewählte Abgeordnete, die nach dem Grundgesetzartikel38 nur unserem Gewissen verpflichtet sind. Etliche vonIhnen, die FDP eigentlich insgesamt, haben öffentlicherklärt, dass diese steuerliche Ungleichbehandlung end-lich beendet werden muss. Sie haben heute also wirklichnicht nach Ihrem Gewissen gehandelt. Das halte ich füreinen Skandal.
– Ja, das ist einfach skandalös. In die Verhandlungen desVermittlungsausschusses brachte die ParlamentarischeGeschäftsführerin der Linksfraktion, Dr. DagmarEnkelmann, den Änderungsantrag ein, dass wir dasJahressteuergesetz jetzt gemeinschaftlich nutzen, um diesteuerliche Ungleichbehandlung endlich zu beenden.Diese Ungleichbehandlung hält seit der Einführung desGesetzes am 1. August 2001 an. Sie alle wissen, dass dasBundesverfassungsgericht voraussichtlich bis zumSommer entscheiden wird, dass wir diese steuerlicheGleichsetzung vollziehen müssen. Aber Sie verweigernsich einfach. Sie sind nicht aktiv. Sie nehmen Ihre Rolleals Gesetzgeber nicht wahr. Wir sollen die Gesetze ver-abschieden und sollen nicht warten, bis das Bundes-verfassungsgericht sagt: Das müsst ihr endlich ma-chen. – Das ist einfach skandalös.
Das Ganze würde uns sage und schreibe 30 MillionenEuro jährlich kosten. Ich sage Ihnen: Das ist unmöglich.Wir dürfen hier natürlich nicht stehen bleiben. Jetzt giltes, dass wir die Ungleichbehandlung beenden. Prinzi-piell geht es natürlich darum, dass wir das Problem desEhegattensplittings endlich auf den Tisch des Hauseslegen.
Schauen Sie sich einmal die Bild von gestern und heutean. Ich habe sie Ihnen mitgebracht. „Die sieben Wahr-heiten über das Ehegatten-Splitting“. Herr Präsident, mitIhrer Erlaubnis zitiere ich daraus:Die Nazis nutzten das Splitting, um Arbeiten fürFrauen unattraktiv zu machen!1891 reformierte der preußische FinanzministerJohannes von Miquel die Einkommenssteuer: Ehe-paare wurden gemeinsam veranlagt. 1920 wurdewieder eine Individualbesteuerung eingeführt.Die Nazis führten 1934 wieder die gemeinsameVeranlagung ein, weil sie verhindern wollten, dassFrauen einer bezahlten Arbeit nachgehen. Die jet-zige Regelung gilt seit 1958.Seit 55 Jahren. Aber Steuerpolitik ist Gesellschaftspoli-tik. Haben Sie immer noch dieses Bild von Frauen imKopf? Ich glaube, ein bisschen Veränderung haben wirschon spüren können.
Wir haben inzwischen den Rechtsanspruch auf Kita-betreuung. Dann seien Sie bereit und gehen einen Schrittweiter. Packen wir das Problem des Ehegattensplittingsan.
Herr Döring, Ihre 500 Millionen – ich bitte Sie. DasGoldfingerprivileg lassen Sie bestehen. Wenn man alsoganz viel Geld hat, gründet man eine Personengesell-schaft im Ausland und kauft Gold für 1 Million Euro.Das ergibt einen Verlust, den man in seiner Steuererklä-rung geltend machen kann. Im nächsten Jahr verkauftman das Gold. Es gibt ja Doppelbesteuerungsabkom-men. Somit schlägt es nicht zu Buche.
Topverdiener können also pro Jahr etwa 425 000 Euroeinsparen. Nach Berechnungen ist das ein Verlust vonjährlich 500 bis 700 Millionen Euro. Darauf verzichtenSie. Das ist die Wahrheit.Zur kalten Progression. Sie haben Angst, die kalteProgression anzugehen, den Waigel-Buckel endlich zubeenden.
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26806 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Barbara Höll
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Machen Sie einen durchgehend linear progressiven Ta-rif, dann haben wir das Problem der kalten Progressionerst einmal gelöst.
Dann können wir in Ruhe überlegen, wie man später mitInflationsraten umgeht.
Ich finde dies einen Skandal. Ich fordere Sie auf:
Ändern Sie Ihr gesellschaftliches Bild und nutzen Sie dienächste Gelegenheit, dass wir die steuerliche Ungleich-behandlung beenden und endlich das Problem des Ehe-gattensplittings angehen.Ich danke Ihnen.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort der
Kollege Volker Beck.
Ja, so ist es im Parlament. Man muss auch den politi-schen Gegner oder Konkurrenten in der Debatte ertra-gen, Herr Kollege.Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Ver-mittlungsausschuss hat die Aufgabe, zwischen denMehrheiten des Bundestages und des Bundesrates, derVertretung der Länder, zu vermitteln. Vermitteln heißtaber nicht politisches Diktat, Herr Grosse-Brömer.
Vermitteln heißt: Kompromisse finden. Die rot-grüneMehrheit hat damals bei zustimmungspflichtigen Geset-zen zum Teil schwierige Kompromisse gegen eineschwarz-gelbe Bundesratsmehrheit gefunden. Icherinnere nur an das Thema Spitzensteuersatz im Ein-kommensteuerrecht. Die 42 Prozent, die jetzt im Gesetzstehen, standen nicht im Gesetzentwurf der rot-grünenKoalition, sondern es war die Bedingung der schwarz-gelben Mehrheit des Bundesrates, damit die Einkom-mensteuerreform durchgesetzt werden konnte.Zweites Thema: Staatsbürgerschaftsrecht. Die ab-surde Optionsregelung war die Trophäe des Landes-ministers Brüderle aus Rheinland-Pfalz, damit überhaupteine Mehrheit für eine Staatsbürgerschaftsreform er-reicht werden konnte. Wir waren immer dagegen, habendas immer als Zumutung empfunden, haben die bitterePille aber geschluckt, um voranzukommen. Im Vermitt-lungsausschuss geht es nämlich darum, Kompromisse zufinden. Das heißt, man gibt auch etwas und nimmt nichtnur.
Das allerdings ist nicht Ihre Methode, liebe Kollegin-nen und Kollegen. Wir mit unserer Mehrheit im Vermitt-lungsausschuss und mit der Mehrheitssituation im Bun-desrat verstehen dies aber nach wie vor anders. Ichhoffe, wir können am Sonntag verkünden, dass wir auchim Bundesrat über eine Mehrheit von Rot-Grün verfü-gen.Wir haben beim Grundfreibetrag gemeinsam eineReform beschlossen. Wir haben beim Energiewirt-schaftsgesetz gemeinsam eine Reform beschlossen. Wirhaben beim Unternehmensteuerrecht und beim Reise-kostenrecht Reformen miteinander beschlossen. Bei demdeutsch-schweizerischen Steuerabkommen haben wirIhnen gesagt, dass wir da nicht mitmachen; denn ein sol-ches Abkommen entzieht das Steuersubstrat, das in derSchweiz liegt, dauerhaft einer fairen und gerechten Be-steuerung bei der Vermögensteuer und bei der Erbschaft-steuer.
Warum – das müssen Sie schon erklären – bekommtdie Bundesrepublik Deutschland nicht die Konditionen,die die Vereinigten Staaten von Amerika mit derSchweiz ausgehandelt haben? Da haben Sie einfachschlecht verhandelt, oder Sie wollten die Steuerhinter-ziehung legalisieren.
Und nun, Herr Döring, zu Ihren Worten zum Jahres-steuergesetz. Was Sie hier gesagt haben – Sie waren jabeim Vermittlungsausschuss nicht dabei –, ist dieschlichte Unwahrheit.
Herr Meister hat im Vermittlungsausschuss einen Vor-schlag zur Einigung gemacht.
– Wir sind jetzt schon beim nächsten Thema, Herr Kol-lege. Wenn Sie mir folgen wollen? Wir sind jetzt beimJahressteuergesetz. – Nach zwei Arbeitsgruppensitzun-gen gab es einen Vermittlungsvorschlag, den HerrMeister vorgetragen hat. Außerdem gab es einen Antragvon der Linksfraktion, den Vorschlag des rot-grünenLandes Nordrhein-Westfalen zum Splitting bei denLebenspartnerschaften einzubringen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26807
Volker Beck
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Dann habe ich den Antrag gestellt, die beiden Anträgemiteinander zu einem Vermittlungsvorschlag zu verbin-den. Dieser Vorschlag, eins zu eins ausgehandelt zwi-schen Schwarz-Gelb und der Bundesratsmehrheit, plusdem Punkt aus dem Koalitionsvertrag der schwarz-gelben Regierungskoalition im Bund, die Benachteili-gung der Lebenspartnerschaft im Einkommensteuerrechtzu beseitigen, lag uns heute vor. All dem hatten Sie be-reits zugestimmt.
– Natürlich, Sie hatten bereits allem zugestimmt. Wir ha-ben kein Jota draufgelegt, außer diesem einen Punkt.
Ich muss sagen: Ein Punkt aus dem eigenen Koali-tionsvertrag, für den ein Koalitionspartner angeblich so-gar ganz heftig kämpft, bedeutet keine Zumutung seitensder Mehrheit des Vermittlungsausschusses an die Koali-tion, sondern das ist eine minimale Bewegung, die wirhier von der CDU verlangen, die in dieser Frage ja selbstgespalten ist, wie ihr Parteitag gezeigt hat.Ihnen ist die Benachteiligung der Lebenspartnerschaftideologisch offensichtlich so viel wert, dass Sie ein not-wendiges Jahressteuergesetz blockieren,
dass Sie die Einführung der elektronischen Steueranmel-dung verhindern, dass Sie das Stopfen von Schlupf-löchern verhindern und dass Sie ein Gesetz verhindern,das Sie selber im Lösungsteil des Gesetzentwurfs wiefolgt anpreisen:Das Jahressteuergesetz 2013 dient der Umsetzungdieses fachlich notwendigen Gesetzgebungs-bedarfs. Der Regelungsbedarf besteht insbesonderezur Anpassung des Steuerrechts an Recht undRechtsprechung der Europäischen Union.
Das wollen Sie jetzt alles in die Tonne treten? Dasheißt, Sie wollen keinen Kompromiss zwischen denHäusern.
Sie sind als Koalition dann aber auch steuerrechtlichnicht mehr handlungsfähig. Sie haben Ihre Handlungs-kompetenz verloren, weil Sie wegen innerer Streitigkei-ten bei keinem Thema zu einer gemeinsamen schwarz-gelben Verhandlungsposition finden können.
Herr Kollege Beck!
Das ist mein letzter Satz. – Herr Döring, beim Thema
Gleichstellung haben wir Ihnen den Ball auf den Elf-
meterpunkt gelegt. Herr Rösler hätte nur noch Anlauf
nehmen und den Ball ins Tor schießen müssen, in dem
schon kein Torwart mehr stand.
Nachdem Sie nichts unternommen haben, um heute zu
einer Mehrheit zu finden,
brauchen Sie sich bei den Lesben und Schwulen in
diesem Land sicher nicht mehr blicken zu lassen.
Ich weiß, Sie haben andere Prioritäten, Herr Döring. Das
haben wir heute verstanden.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Antje Tillmann von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Gäste auf den Tribünen und vor den Bildschir-men! In sitzungsfreien Wochen bin ich viel in Schulenunterwegs und diskutiere mit Schülerinnen und Schülernüber Punkte, über die wir auch im Parlament diskutieren.Zu Recht legen die Lehrerinnen und Lehrer Wert darauf,dass ich auch die Argumente der Opposition parteineu-tral darstelle. Das fällt mir in der Regel gar nicht schwer,weil ich durchaus auch an Argumenten der Oppositions-parteien etwas finde und nicht jedes Mal zu dem Ein-druck komme, dass das, was Sie diskutieren, völligabsurd ist. Im Hinblick auf das Ergebnis der Verhandlun-gen im Vermittlungsausschuss ist mir das, ehrlich gesagt,nicht gelungen. Selbst wenn ich versuche, mich in Siehineinzudenken, ist das, was Sie da vertreten haben, fürmich absolut nicht schlüssig.Fangen wir mit der Schweiz an. In Hinblick auf dasDoppelbesteuerungsabkommen mit der Schweiz warenSie wenigstens berechenbar. Da haben Sie lange vorherangekündigt, dass Sie dem nicht zustimmen. HerrOppermann – er ist gar nicht mehr da; er hat für die Dis-kussion keine Zeit mehr –
hat versucht, den Bürgerinnen und Bürgern, auch Ihnenauf den Tribünen, klarzumachen, dass die bösen Steuer-hinterzieher aufgrund der Ablehnung des Abkommensdurch die SPD jetzt höhere und gerechtere Steuern zah-
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26808 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Antje Tillmann
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len müssen. Wahr ist, dass die Steuerhinterzieher am1. Januar 2013 die Sektkorken haben knallen lassen,
weil nämlich ein weiteres Jahr ihrer Steuerhinterziehungverjährt ist,
weil sie für 2012, 2013 und 2014 wieder gar keine Steu-ern zahlen werden, und das dank der Unterstützungdurch die SPD, die nämlich verhindert hat, dass auchdie Schweizer Steuerhinterzieher einer vernünftigen Be-steuerung, ähnlich dem bestehenden deutschen Steuer-recht, unterzogen werden.
– Herr Kahrs, ich weiß, dass Ihnen das nicht gefällt; aberdas ist die Wahrheit.
Welcher Steuerzahler hat aufgrund Ihrer Entscheidungjetzt seine Steuern bezahlt? Keiner.Zum Grundfreibetrag. Ihr Verhalten im Zusammen-hang mit der Erhöhung des Grundfreibetrags ist auchnicht gerade sozialdemokratisch. Zwar konnten wir Sieim Dezember davon überzeugen, dass es verfassungs-rechtlich zwingend ist, den Grundfreibetrag zu erhöhen,weil der Steuerfreibetrag das Existenzminimum dar-stellt;
aber Sie haben sich nicht einmal entblödet, vorzuschla-gen,
zur Gegenfinanzierung der Erhöhung des Grundfreibe-trags den Eingangssteuersatz zu erhöhen.
Das heißt, der Polizist, der ein höheres steuerfreies Exis-tenzminimum erhielte, müsste die eigene Steuervergüns-tigung über einen erhöhten Eingangssteuersatz selbst be-zahlen.
Das kann ich aus sozialdemokratischer Sicht nicht nach-vollziehen, so sehr ich mir auch Mühe gebe. Gott seiDank haben Sie im Vermittlungsausschuss nach derPause verstanden, dass das Unfug ist, und haben den An-trag abgelehnt und unserem zugestimmt; aber nachvoll-ziehen konnte ich Ihr Verhalten nicht.Zur kalten Progression. Herr Binding, Sie haben ge-sagt, dass das, was wir machen wollen, nur halbherzigsei, weil wir keine Indizierung wollten. Sie haben dasGesetz wohl nur bedingt gelesen; denn darin steht sehrwohl, dass wir die Besteuerung der kalten Progressionalle zwei Jahre überprüfen wollen.
Folgendes kann ich wiederum nicht nachvollziehen:Weil die Regelung nicht so gut ist, wie Sie es sich ge-wünscht hätten, machen Sie auch nicht den erstenSchritt. Das heißt, der kleine Steuerzahler hat jetzt garkeinen Vorteil, weil Sie ihm nicht gönnen, dass er einenTeil der nächsten Lohnerhöhung behält.
Wegen des höheren Steuersatzes bezahlt er für jeden zu-sätzlichen Euro mehr, als er bisher hätte zahlen müssen.Was daran sozial oder sozialdemokratisch ist, kann ichauch nicht verstehen.
Vieles kann ich also einfach nicht nachvollziehen, zu-mal die Einnahmen aus der Schweizer Schwarzgeldsteuervon bis zu 10 Milliarden Euro dicke gereicht hätten, umdie Begrenzung der kalten Progression gegenzufinanzie-ren.
Sie sagen also: Der Schwarzgeldbesitzer in der Schweizbehält sein Geld, aber der Empfänger eines kleinen Ge-halts muss mehr Steuern zahlen. Das ist irgendwie nichtso richtig sozial. Deshalb findet es auch nicht unsere Zu-stimmung.
Zum Jahressteuergesetz. Da fängt irgendwie die se-lektive Wahrnehmung an. Herr Oppermann hat eben dar-gestellt, dass uns das Jahressteuergesetz wichtig gewe-sen sei und wir es deshalb auf Biegen und Brechenhätten durchbringen müssen. Wenn ich mich richtig erin-nere, sind über 18 Änderungsanträge, die die SPD-Län-der eingebracht haben, in das Jahressteuergesetz einge-flossen; wir haben dort Kompromisse gefunden.
– Auch die grünen Länder, auch die eigenen Länder. –Jedenfalls ging es um Punkte, die auch der SPD wichtigwaren. Wir haben über Wochen und Monate hinweg
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26809
Antje Tillmann
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Kompromisse gefunden und waren uns dann in allem ei-nig. Herr Beck, da liegen Sie falsch: Das Vermittlungs-ergebnis ist so lange offen – –
– Wenn Sie so laut schreien, kann ich mich selber nichtmehr verstehen. Vielleicht warten Sie einfach, bis Siegleich dran sind.
Herr Kollege Kahrs, bitte! Frau Tillmann hat das
Wort.
Ich danke Ihnen, Herr Präsident.
Herr Beck, im Verfahren des Vermittlungsausschusses
ist es Sitte, dass alles offen ist, bis alles geschlossen ist,
weil wir natürlich Kompromisse suchen und weil wir na-
türlich die eine oder andere Kröte geschluckt hätten,
wenn das Gesamtergebnis gut geworden wäre. Das
heißt, von den 18 Punkten der Länder haben mindestens
17,5 Punkte die Länder eingebracht. Wir haben uns da-
rauf eingelassen, weil wir das teilweise vernünftig fan-
den.
Auch wenn ich persönlich sogar Verständnis für die
Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspart-
nerschaften habe, ich selbst dem auch zugestimmt hätte,
war Ihnen völlig klar, dass alle diese Verhandlungen vor
die Wand gehen, wenn Sie das zwingend koppeln mit
der Abstimmung über die gleichgeschlechtlichen Le-
benspartnerschaften. Das ist Ihnen recht. Das kann ich
auch verstehen. Nach außen kann man das gut verkau-
fen. Damit haben Sie aber natürlich wieder Steuergestal-
tung möglich gemacht.
Die SPD als Schutzpatron der Steuergestalter. Sie ha-
ben selbst die Cash-GmbH angesprochen. Sie haben
selbst die Goldfingergeschichten angeführt. Mit dieser
Abstimmung zum Jahressteuergesetz machen Sie es
möglich, dass wieder die Steuerpflicht gestaltet wird und
Steuern hinterzogen werden.
Der kleine Mann zahlt, die Großen kommen davon, weil
Sie dem Vermittlungsergebnis nicht zustimmen.
Nun zu meinem letzten Punkt, zur steuerlichen Förde-
rung der energetischen Gebäudesanierung. Liebe Zuhö-
rerinnen und Zuhörer, es passiert sehr selten, dass wir ei-
nen Brief erhalten, der sowohl vom DGB als auch vom
Arbeitgeberverband unterschrieben worden ist. Gewerk-
schaften und Arbeitgeber waren sich also einig und ha-
ben mehr oder weniger flehentlich die SPD aufgefordert,
die energetische Gebäudesanierung durchgehen zu las-
sen, weil wir damit Arbeitsplätze sichern, weil wir damit
Energiekosten reduzieren.
– Ich möchte gern zu Ende reden, Herr Beck.
Dadurch machen wir es möglich, dass jemand sein
privates Einfamilienhaus saniert und damit Kosten spart.
Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind sich einig. Die SPD
war aber nicht dazu zu bewegen. Damit haben Sie nicht
nur dem Häuslebauer einen erheblichen Schaden zuge-
fügt, sondern Sie haben auch die Handwerker benachtei-
ligt.
Sie haben verhindert, dass der Mieter demnächst in
erheblichem Umfang Energiekosten sparen kann. Außer-
dem haben Sie verhindert – das war nämlich ein
Kompromiss –, dass wir 350 Millionen Euro für die Sa-
nierung öffentlicher Gebäude in den Kommunen zur
Verfügung stellen. Dabei sehe ich überhaupt keine Nutz-
nießer, sondern nur Schaden, den Sie verursacht haben.
Kommen Sie bitte zum Schluss.
Ja. – Ich glaube, dass die Berechenbarkeit der Politik
ein ganz wesentliches Kriterium ist. Ich wünsche und
hoffe, dass Sie ab Montag wieder berechenbar sind, dass
wir Kompromisse schließen können zugunsten der Bür-
gerinnen und Bürger in diesem Land und zulasten derje-
nigen, die in diesem Land ihre Steuern nicht ordnungs-
gemäß zahlen wollen.
Wir wollen, dass alle ihre Steuern zahlen und dass die
Kleinen prozentual nicht mehr belastet werden als die
Großen.
Ich danke Ihnen.
Als letztem Redner zu diesem Tagesordnungspunkterteile ich das Wort dem Kollegen Johannes Kahrs.
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26810 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
(C)
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Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Die ganze Debatte war etwas seltsam. Ich
möchte mich auf den Punkt konzentrieren, der das Jah-
ressteuergesetz betrifft.
Herr Döring hat erklärt, dem Jahressteuergesetz
könne man nicht zustimmen, weil es in ganz vielen
Punkten Unsinn enthalte, und das habe man alles nicht
gewollt. Dass das glatt geschwindelt war – um es einmal
freundlich zu formulieren –, hat Frau Tillmann vorhin
bestätigt, indem sie gesagt hat: Man war sich in allen
Punkten einig.
Wenn man sich in allen Punkten einig war und wenn
es am Ende nur um eine einzige Frage ging, nämlich um
die steuerliche Gleichstellung von Lesben und Schwulen
– das war der einzige Punkt, bei dem man sich nicht ei-
nig war –,
dann heißt das: CDU, CSU und FDP lassen das Jahres-
steuergesetz platzen, weil sie nicht wollen, dass Lesben
und Schwule gleichgestellt werden.
Jetzt kann man natürlich der Meinung sein: Wir
schaffen das Ehegattensplitting ab. Dann braucht man
das auch nicht.
Das ist aber nicht der Punkt. Solange es das Ehegatten-
splitting gibt, gibt es auch den Bedarf an Gleichstellung.
Jetzt hat sich die FDP hier hingestellt, die eigentlich
– der Kollege Kauch muss sich gerade kreiselnd durch
die Gegend bewegen –
immer dafür gekämpft hat, dass Lesben und Schwule
gleichgestellt werden. Dann kommt Herr Döring hierher,
lügt, um seine eigene Position zu verteidigen,
und hat Frau Tillmann auf der anderen Seite, die ganz
klar herausgearbeitet hat, dass man sich bei allem einig
war, nur bei diesem einen einzigen Punkt nicht.
– Herr Döring, dann sollten Sie zumindest den Anstand
haben, zu erklären, dass Sie für Schwule und Lesben
nichts unternehmen und auch nichts erreichen wollen.
Herr Kollege.
Was wir hier veranstalten, ist traurig. Das ist traurig.
Herr Kollege Kahrs, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Tillmann?
Aber selbstverständlich, wenn ich sie schon zitiere.
Bitte schön, Frau Tillmann.
Danke für die Fairness, Herr Kahrs.
Sie haben nur die eine Hälfte meines Satzes zitiert. Ich
habe begonnen mit dem Satz, dass im Vermittlungsaus-
schuss die Sitte gilt, dass alles offen ist, bis alles ge-
schlossen wird. Das bedeutet ganz klar – es wäre schön,
wenn Sie nicht widersprechen würden bzw. zur Kenntnis
nehmen würden –, dass Kompromisse erst dann gelten,
wenn man abgestimmt hat. Da aber nicht alles abge-
stimmt werden konnte, weil wir uns nicht in jedem
Punkt einig waren, war unser grundsätzliches Vorhaben,
einen Kompromiss zu finden, den Sie aber durch Ihre
Koppelung an die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Lebensgemeinschaften verhindert haben. Sie waren der-
jenige, der das Vermittlungsergebnis verhindert hat,
nicht wir.
Sie hätten problemlos einzeln über die gleichge-
schlechtliche Ehe abstimmen lassen können, dann hätten
wir das Jahressteuergesetz verabschiedet, und Sie hätten
trotzdem politisch zeigen können, dass Sie auf der Seite
der Schwulen und Lesben stehen. Das haben Sie aber
nicht getan. Sie haben es an die Gleichstellung gekop-
pelt, und Sie wussten, dass damit alle andere Kompro-
misse vom Tisch sind.
Frau Tillmann, erstens wäre es nett, wenn Sie stehenbleiben würden. Zweitens liebe ich Ihre Klarstellung,weil sie von einer erfrischenden Ehrlichkeit ist und Siedamit Herrn Döring ein zweites Mal an die Wand ge-klatscht haben,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26811
Johannes Kahrs
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so schwierig das auch ist.Im Ergebnis ist es so: Sie haben gesagt: Wir warenuns in der Sache einig; aber ein Vermittlungsergebnisgilt erst dann, wenn man sich in allen Punkten einig ist,
und bei dem Punkt „Schwule und Lesben“ war man sichnicht einig. Sehen Sie: In allen anderen Punkten warman sich also einig.
– Herr Döring, schämen Sie sich! Frau Tillmann hat Ih-nen hier zweimal gesagt, dass Sie gelogen haben. Siesollten sich schämen. – Frau Tillmann, vielen Dank.
Herr Kollege Kahrs, der Kollege Beck würde auch
gerne noch eine Zwischenfrage stellen.
Aber selbstverständlich.
Herr Kollege Kahrs, ich wollte Sie fragen, ob Sie mir
bestätigen können, dass diese Koalition gerade durch
ihre eigenen Gesetzgebungsakte Blockadepolitik be-
treibt. Denn wenn sie jetzt unbedingt wollte, das Ganze
ohne die Gleichstellung von Lebenspartnerschaften zu
beschließen, dann hätte sie heute die Möglichkeit ge-
habt, selber mit der Mehrheit des Bundestages den Ver-
mittlungsausschuss anzurufen. Die Koalition trägt also
alleine die Verantwortung dafür, dass das Jahressteuer-
gesetz vollständig gegen die Wand fährt.
Können Sie mir das bestätigen, Herr Kollege?
Herr Kollege Beck, Sie haben natürlich Recht: Wenn
die Koalition mit ihrer Mehrheit heute beschlossen hätte,
den Bundesrat anzurufen, dann hätte sie das Ganze noch
einmal in den Bundesrat einbringen können.
Das hat sie aber nicht getan. Das zeigt natürlich, Herr
Beck – auch in der Geschichte der CDU –, dass die CDU
keine Gleichstellung von Lesben und Schwulen will. Ich
bin seit 1998 im Deutschen Bundestag. Das habe ich bis-
her so erlebt.
Wir von SPD und Grünen sind dabei gewesen.
Hier sieht man, dass einfach nichts getan wurde.
Wir haben ein Lebenspartnerschaftsgesetz Teil 1 und
Teil 2.
Die Trennung war notwendig, weil sich die CDU gewei-
gert hat, mitzumachen, das heißt, es konnten nur die
Pflichten beschlossen werden, aber nicht die Rechte.
Im Bundesrat ist das immer von der CDU verhindert
worden. Seit 1998 erlebe ich, dass CDU und CSU – ent-
weder in der Regierung, in der Koalition oder im Bun-
desrat – die Rechte von Schwulen und Lesben blockiert,
wo es geht.
Das gehört aber nicht mehr zur Beantwortung der
Frage. Wir befinden uns wieder in der Aussprache.
Ohne Not hat Frau Merkel im niedersächsischenLandtagswahlkampf in ihren Wahlkampfreden gesagt:Sie will keine Gleichstellung von Lesben und Schwulen.Das ist peinlich, das ist beschämend, und das ist unan-ständig. Das kann nicht die Politik dieser Koalition sein;denn Sie haben einen Koalitionsvertrag, und im Koali-tionsvertrag steht, dass Sie die steuerliche Gleichsetzungvon Lesben und Schwulen wollen.
Sie setzen es aber nicht um.
Nun hatten Sie es vorliegen. Man war sich, Herr Döring,in allen Punkten einig, wie Sie eben von Frau Tillmanngehört haben.
– Auch wenn Sie noch so laut brüllen, Herr Döring: Dasfunktioniert nicht,
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Johannes Kahrs
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gegen mich schon einmal gar nicht.
Deswegen haben Sie hier ein Problem. In der Sachehätte die FDP etwas für Lesben und Schwule erreichenkönnen, aber sie hat es nicht getan.
Der Kollege Beck hat es freundlich formuliert: Der Balllag da, das Tor war nicht weit entfernt, es gab keinenTorwart, und Herr Rösler hat trotzdem nicht verwandelt.Er ist nicht einmal angelaufen, und das ist unanständig.Wir haben erlebt, dass CDU und CSU die Gleichstel-lung von Lesben und Schwulen nicht will, dass sie sie anjeder Kurve und Kante blockiert. Dass die FDP das mit-macht – und das, obwohl es sie nichts, aber auch garnichts gekostet hätte –, ist erstens unverständlich undzweitens unanständig. Das passt nicht zu dem, was siesonst sagen.
– Herr Döring, als Sprecher für Lesben und Schwule derSPD-Bundestagsfraktion höre ich seit 1998 die Worthül-sen der FDP. Heute haben Sie jede Berechtigung verlo-ren, zu diesem Thema irgendetwas beizutragen.
Das, was Sie sagen, ist peinlich und falsch.
Zu einer Kurzintervention erteile ich das Wort dem
Kollegen Dr. Volker Wissing.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Nachdem in dieser Debatte mehrfach wahrheitswidrig
behauptet worden ist, man habe sich in der Arbeits-
gruppe auf diese Punkte verständigt, möchte ich zur
Klarstellung hier Folgendes erklären: Ich finde es unge-
heuerlich, dass Sie das hier immer wieder behaupten. Es
gab keine Einigung! Insbesondere der Punkt „Ungleich-
behandlung von öffentlicher Hand und Privatwirtschaft
im Bereich der Grunderwerbsteuer“ wurde in den vorbe-
reitenden Gruppensitzungen, an denen ich teilgenom-
men habe, von mir immer wieder ausdrücklich streitig
gestellt. – Ich halte dies für ungeheuerlich.
Dass Sie das Jahressteuergesetz nach Ihren Vorstel-
lungen verändern wollten – Sie haben unglaublich
dreiste Forderungen, auch Steuererhöhungsforderungen,
gestellt –, war für uns nicht hinnehmbar. Wir hatten im
Vermittlungsausschuss noch viele andere Gesetzent-
würfe zu beraten. Ziel war immer, eine Einigung zu fin-
den. Sie haben ganz offensichtlich einen anderen Weg
vorgezogen, nämlich den, hier billigen Populismus zu
betreiben. Sie haben am Ende überraschenderweise die
Thematik der Gleichstellung gleichgeschlechtlicher
Partnerschaften mit der Ehe bei der Einkommensteuer in
dieses Feld aufgenommen, obwohl es dort sachlich gar
nicht hineingehört,
und Sie haben Steuererhöhungen zur Bedingung für Ihre
Zustimmung gemacht, weil Sie genau wussten, dass die
FDP diese Steuererhöhungen von Anfang an abgelehnt
hat. Ich finde – ich sage das, weil Sie hier so lautstark
und selbstbewusst sprechen –, es wird den Menschen,
die sich in Deutschland nach einer Gleichstellung im Be-
reich der Einkommensteuer sehnen, nicht gerecht, wenn
man das so verknüpft, obwohl man genau weiß, dass
Steuererhöhungen hier nicht mehrheitsfähig sind. Wenn
Sie glauben, Sie könnten Steuererhöhungen auf so miese
Art und auf dem Rücken der Betroffenen durchsetzen,
dann irren Sie sich. Dann können Sie mit der Zustim-
mung der FDP nicht rechnen. Ich hätte mir gewünscht,
Sie hätten den Mut aufgebracht, den Menschen hier
deutlich zu sagen, was Sie im Vermittlungsausschuss tat-
sächlich betrieben haben. So, wie es in dieser Debatte
dargestellt worden ist, war es schlicht und einfach nicht.
Zur Erwiderung Kollege Kahrs.
Herr Wissing, die Verzweiflung in der FDP muss großsein.
Frau Tillmann hat nun zweimal bestätigt, dass es inder Sache eine Einigung gegeben hat,
mit Ausnahme der Gleichstellung von Lesben und Schwulen.
– Es gab genug von uns, die dabei waren.
Herr Meister hat die Einigung vorgetragen. Über den ei-nen Punkt, der übrig blieb, kann man sich aufregen – ichverstehe ja, dass CDU und CSU das nicht wollen –, aberin allen anderen Punkten gab es eine Einigung. Das hatFrau Tillmann hier zweimal bestätigt, alle Anwesendenauch.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26813
Johannes Kahrs
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Die Verzweiflung muss wirklich groß sein. Ich findedas bedauerlich, Herr Wissing. Sie sollten bei der Wahr-heit bleiben. Dass die Schwulen und Lesben von derFDP nichts zu erwarten haben, ist ab heute klar. Das istleider so.Es tut mir wirklich leid für den Kollegen Kauch,ernsthaft. Der Kollege Kauch rödelt seit Jahren für die-ses Thema.
Dass Sie ihm so in den Rücken fallen, ist unanständig.
Das gehört sich nicht.
Wir sind am Ende dieses Tagesordnungspunktes.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP
Steuerbeschlüsse der SPD sowie Steuererhö-
hungspläne des SPD-Kanzlerkandidaten und
ihre Auswirkungen auf Wachstum und Be-
schäftigung
Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-
ner das Wort dem Kollegen Dr. Hans Michelbach von
der CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Unser Land verdankt es der Politikder bürgerlichen Koalition und der Leistungsbereitschaftseiner Arbeitnehmer und Unternehmer, dass es die viel-fältigen Schwierigkeiten der Krisen gut gemeistert hat.Sicherlich sind nicht alle Schwierigkeiten überwun-den. Auch in diesem Jahr geht es um Aufschwung oderAbschwung, um Wachstum oder Stillstand. Mit uns ste-hen die Zeichen auf Wachstum und weiteren Wohlstands-gewinn für unsere Menschen. Wir stehen für Auf-schwungsdividende, Wachstum und Arbeitsplätze. Rot-Grün dagegen mutet den Menschen Stillstand und sogarAbschwung durch neue Steuererhöhungen zu. Das darfes nicht geben, meine Damen und Herren.
Die Steuerbeschlüsse der SPD sind so etwas wie einBußgeldkatalog für die arbeitenden Menschen, die Leis-tungswilligen, die Mittelschicht und den gewerblichenMittelstand. Sie von Rot-Grün wollen den gefräßigenSteuerstaat, den einkommenfressenden Staat, damit SieIhre unsoziale und ungerechte Verteilungspolitik finan-zieren können. Das unterscheidet uns. Wir trauen denMenschen etwas zu und gönnen ihnen die Früchte ihrerLeistung. Sie von Rot-Grün kennen nur eines: Bevor-mundung der Bürger und Enteignung der Leistung durchimmer neue Steuern. Das ist der Unterschied zu unsererPolitik, meine Damen und Herren.
Ihnen fehlt die richtige Balance, die für ein erfolgreichesund wettbewerbsfähiges Land notwendig ist. Wir wollenFreiräume für die Menschen durch Entlastungen, sozialeLeistungen für Bedürftige und Konsolidierung der Haus-halte. Dieser Dreiklang ist das Erfolgsrezept, mit demunser Land bisher sicher durch die gewiss schwierigenZeiten geführt wurde und auch weiter geführt werdenwird.Im Dezember haben wir in der christlich-liberalenKoalition um mehr Steuergerechtigkeit durch die Redu-zierung der kalten Progression gerungen und natürlichauch dafür geworben, für die Bekämpfung der Steuer-hinterziehung eine Mehrheit zu bekommen. Gerade ha-ben wir in der Debatte gehört, wie Sie das letzten Endesumgekehrt haben. Sie nehmen eine gesellschaftlicheGruppe als Werkzeug. Ich muss mich für diese Debatteschämen, Herr Kahrs. Es ist unsäglich, was Sie mit die-ser gesellschaftlichen Gruppe hier gemacht haben.
Ist es – das sollten Sie sich einmal vor Augen halten –an einem Staat gerecht, wenn der Fiskus das abkassiert,was die Menschen durch ihre Leistung mehr verdienen?Was ist gerecht daran, wenn Sie den Betrieben – vor al-lem dem Mittelstand – mit Höchststeuerpolitik die Spiel-räume für die Schaffung neuer Arbeitsplätze nehmen?Was ist gerecht an einem Staat, der mit seiner Steuerpoli-tik den Leuten die Arbeit nimmt? Nichts, gar nichts undnoch einmal nichts!Sie von Rot-Grün müssen endlich einmal lernen: DieEinkommen gehören zunächst den arbeitenden Men-schen und sind – das ist so – nicht das politische Spiel-geld von Rot-Grün.
Ihre Steuerpläne sind eindeutig. Sie wollen den Men-schen 28 bis 40 Milliarden Euro mehr an Steuern abpres-sen. Das sind Ihre Vorschläge. Die Leute müssen das er-kennen.Sie wollen den Steuertarif auf 49 Prozent erhöhen,also jeden zweiten verdienten Euro vom Fiskus abkas-sieren lassen. Weiter wollen Sie Ehepaare mit der Ab-schaffung des Ehegattensplittings geradezu bestrafen.Außerdem wollen Sie die kalte Progression verschärfen,was nicht nur Spitzenverdiener trifft, sondern auch dieMasse der Facharbeiter, Angestellten, Freiberufler odermittelständischen Unternehmen. Bereits heute erbringendiese Gruppen der Gesellschaft bzw. diese Steuerpflich-tigen 95 Prozent des Einkommensteueraufkommens.
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26814 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. h. c. Hans Michelbach
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Ich glaube, das Schlimmste bei Ihren Steuervorschlä-gen ist die Substanzbesteuerung, die Sie aus ideologi-schen Gründen mit der Erbschaftsteuer und der Vermö-gensteuer vornehmen wollen. Dies trifft 80 Prozent dermittelständischen Unternehmen in Deutschland, die Per-sonengesellschaften sind. Das hat Auswirkungen auf dasVolksvermögen insgesamt. Substanzbesteuerung verhin-dert Investitionen und die Schaffung von Arbeitsplätzenund damit letzten Endes die Entwicklung.Deswegen kann ich nur sagen: Dies ist der verkehrteWeg für unser Land. Ihr Kanzlerkandidat jongliert jetztmit Zahlen und sagt, wir hätten durch Steuerhinterzie-hung 150 Milliarden Euro Steuerverluste. Dafür gibt eskeine Beweise. Das ist für mich reines Maulheldentum.Das ist unsäglicher Sozialneidpopulismus.
Das ist Sprechblasenpolitik.
Es setzt die Peinlichkeiten geradezu fort, wenn man ausPopulismus einfach eine Zahl in die Welt setzt und nichtbereit ist, diese zu belegen.
Herr Kollege Michelbach.
Herr Präsident, ich habe hier eine halbe Minute über-
zogen, aber ich war so in Fahrt. Entschuldigen Sie bitte.
Ich kann nur sagen: Diese Steuerpolitik und diese
Steuerpläne von Rot-Grün dürfen in Deutschland nicht
umgesetzt werden.
Jetzt hat das Wort der Kollege Joachim Poß für die
SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Es sprachzu uns gerade der Spezialist für GespensterdebattenHans Michelbach.
Ich glaube, das ist eine ausreichende Beschreibung derQualität Ihres Vortrags, Herr Michelbach. Ich persönlichfreue mich für Sie, dass Sie als erfolgreicher Mittel-ständler die so schwierigen Regierungsjahre von HelmutKohl mit dem Spitzensteuersatz von 53 Prozent und mitdieser schrecklichen Vermögensteuer überstanden ha-ben. Dass Sie in diesen Kohl-Jahren so erfolgreich wa-ren, ist für Sie sehr erfreulich.
Wenn man die Realität mit dem, was Sie hier erzählt ha-ben, kontrastiert, dann wird den Menschen deutlich, dasses Ihnen nur um Diffamierung geht und nicht um einerealistische Beschreibung der Lage.Wir können festhalten: Wir haben zumindest ein Fi-nanzkonzept für die nächsten Jahre. Wir haben Steuer-pläne. Sie haben es in den letzten dreieinhalb Jahrentrotz einer Koalitionsvereinbarung nicht einmal ge-schafft, sich überhaupt auf eine gemeinsame Wirt-schafts- oder Steuerpolitik zu einigen. Sie haben über-haupt nichts bewegt. Sie haben noch nicht einmal eineReform der Mehrwertsteuer hinbekommen. Hinbekom-men haben Sie nur die berühmte zusätzliche Ausnahmefür die Hoteliers. Das war Ihre Steuerpolitik der letztendreieinhalb Jahre.
Wer eine solche erbärmliche Bilanz vorzuweisen hat, dersollte hier wirklich nicht die Backen aufblasen, wie HerrMichelbach es getan hat und andere es sicherlich wieder-holen werden.Wir befinden uns in einer ganz bestimmten wirt-schaftlichen und finanziellen Ausgangssituation. Dazugehört, dass in den Ländern und Kommunen die Deckeüberall und damit insgesamt zu kurz ist. Der Investitions-stau in den Kommunen ist mittlerweile auch für die Bür-gerinnen und Bürger – von den Kleinkindern bis zu denSenioren – deutlich zu spüren.Dass unsere Bildungsausgaben nicht ausreichendsind, bekommen wir Jahr für Jahr auch von der OECDbescheinigt.Es muss doch allen klar sein: Die Kommunen vor Orthaben wesentliche Leistungen zu erbringen, die mit überdie Lebensqualität der Menschen entscheiden. Wir brau-chen ein gutes Bildungssystem und einen modernen So-zialstaat als Voraussetzung für den wirtschaftlichen Er-folg Deutschlands.Ihre letzten Regierungsjahre haben uns und Ihnen ge-zeigt, dass sich das alles durch Einsparungen an andererStelle offenkundig nicht finanzieren lässt; Sie hatten dieGelegenheit dazu. Daher müssen wir auch andere Maß-nahmen ins Auge fassen. Was haben Sie denn in Wirk-lichkeit gemacht? Sie haben in guten Zeiten weiter aufPump gewirtschaftet und trotzdem die Infrastruktur ver-kommen lassen. Das ist das Ergebnis Ihrer Politik.
Nach der Regierungsübernahme im September wol-len wir nicht so weitermachen. Insofern sind maßvolleSteuererhöhungen notwendig, und zwar nicht für alle,sondern nur für Spitzenverdiener und Vermögende. Dasist auch gerechtfertigt, wenn man sich anschaut, wie sichdas Einkommensgefälle und auch die Unterschiede beiVermögen in den letzten Jahrzehnten – es ist keine kurz-fristige Entwicklung – entwickelt haben. Das heißt, diesoziale Spaltung in Deutschland hat dramatisch zuge-nommen. Deswegen müssen diejenigen mit den beson-ders starken Schultern – dies entspricht auch dem Ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26815
Joachim Poß
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fassungsgebot der Besteuerung nach der wirtschaftlichenLeistungsfähigkeit – ein wenig mehr zur Finanzierungdes Gemeinwesens beitragen. Das ist zur Gestaltung derweiteren positiven Entwicklung in der BundesrepublikDeutschland wirtschaftlich vertretbar und sozial notwen-dig. Es besteht überhaupt kein Anlass, diese Vorhaben sozu diffamieren, wie es von Ihrer Seite und von einigenWirtschaftsverbänden getan wird. Sie sollten sich derRealität, die im Armuts- und Reichtumsbericht beschrie-ben ist, stellen. Die Realität passte Ihnen aber nicht. Alsohaben Sie Ihren Armuts- und Reichtumsbericht manipu-liert und das, was Ihnen nicht gepasst hat, gestrichen.Anstatt Ihre Steuerpolitik zu ändern, versuchen Sie, dieRealität anders darzustellen. Das ist die Methode vonSchwarz-Gelb. Damit muss Schluss sein.
Die Bürgerinnen und Bürger haben einen Anspruchdarauf, dass wir uns den vielfältigen Herausforderungenin unserer Gesellschaft stellen.
Das tun wir, auch mit unseren Steuerplänen und unserenFinanzierungsvorschlägen. Wir fordern Sie zu einer kon-struktiven Diskussion auf. Mit Realitätsverweigerung istniemandem gedient.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Dr. Volker
Wissing das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieVerzweiflung bei der SPD muss sehr groß sein,
wenn Herr Poß sich noch nicht einmal traut, hier überdas zu sprechen, was Herr Steinbrück vorgeschlagen hat.
Er hat nämlich nicht vorgeschlagen, die Steuern nur fürganz Vermögende zu erhöhen, sondern er hat vorge-schlagen, sie auch für Facharbeiter und die Mitte inDeutschland zu erhöhen.
Für den Mittelstand will Herr Steinbrück also die Steuernerhöhen. Aber das traut sich die SPD im Deutschen Bun-destag nicht zu sagen.
Heimlich wollen Sie das machen, weil Sie wissen, dassdie Öffentlichkeit Sie dafür abstrafen wird, und zwar zuRecht.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, gerecht wäre esdoch gewesen, im Bundesrat dem Abbau der kalten Pro-gression zuzustimmen,
damit hart erarbeitete Lohnerhöhungen bei den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern ankommen. Stattdes-sen haben Sie zu einem gerechteren Steuertarif für un-tere und mittlere Einkommen Nein gesagt. Ja, Sie habenden Tarifverlauf mit Ihrer Macht im Bundesrat sogarverschlechtert und ihn gestaucht. So haben Sie dafür ge-sorgt, dass der Anstieg für die untersten Einkommensteiler wird. Herr Kollege Poß, ich wiederhole es: für dieuntersten Einkommen! Das ist die größte Ungerechtig-keit bei der Einkommensteuer, die in den letzten Jahrenvon einer Partei auf den Weg gebracht worden ist. Dasist sozialdemokratische Realpolitik: Abkassieren bei denuntersten Einkommen in Deutschland.
Gerecht wäre es gewesen, dem Steuerabkommen mitder Schweiz zuzustimmen, damit dort künftig gleichhohe Kapitalertragsteuern fällig werden wie in Deutsch-land.
Ich frage Sie: Warum sollten Kapitalerträge in derSchweiz anders als in Deutschland oder gar nicht besteuertwerden? Sie aber haben dazu Nein gesagt – das war billi-ger Populismus – und in Kauf genommen, dass der ehr-liche Steuerzahler in Deutschland die Milliardenlücken,die Steuerhinterzieher hinterlassen, füllen muss.
Sie haben zu verantworten, dass Steuersünder unbestraftund auch noch völlig kostenlos davonkommen, weil dieStraftaten und die Steuerschuld verjähren. Man musssich das einmal vorstellen: Jeder Steuerhinterzieher wärevon diesem Abkommen erfasst worden, und zwar lücken-los. Aber die SPD sagt dazu Nein und mutet den Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmern in Deutschland zu, dieLücke, die dadurch entsteht, zu füllen. Das ist Ungerech-tigkeit hoch zehn.
Es wäre auch gerecht gewesen, wenn Sie nur ein ein-ziges Mal in dieser Legislaturperiode an die Mitte inDeutschland gedacht hätten, statt immer wieder Einkom-mensteuererhöhungen für diese Gruppe zu fordern. DieVorschläge von Herrn Steinbrück – die FU Berlin hat dasberechnet – würden für Facharbeiter und mittlere Unter-nehmen zu einer Mehrbelastung in Höhe von 11 bis12 Prozent führen. Diese Forderungen hätten Sie hier
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26816 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Volker Wissing
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verteidigen sollen, Herr Kollege Poß. Aber Sie wollensie verheimlichen. In Wahrheit wollen Sie an die Kasseder Mitte: der Facharbeiterinnen und Facharbeiter unddes Mittelstands. Um das deutlich zu machen, haben wireine Aktuelle Stunde zu diesem Thema beantragt.
Was Deutschland sicherlich nicht hat, liebe Kollegin-nen und Kollegen, ist ein Steuersystem mit zu niedrigenSteuersätzen. Die Kasse des Finanzministers ist heutevoller als jemals zuvor. Die Kasse des deutschen Finanz-ministers ist auch voller als die Kasse der Finanzministeraller anderen europäischen Länder, und das, obwohldiese die Steuersätze zum Teil erheblich angehoben ha-ben. Es gilt nämlich eine Kette, die Sie den Menschenimmer wieder verschweigen: Maßvolle Steuersätze lö-sen Wachstum aus, Wachstum führt zu hohen Steuerein-nahmen, und Wachstum reduziert zugleich die Staatsaus-gaben, weil die Zahl der Beschäftigten zu- und die Zahlder Transferleistungsempfänger abnimmt. So machenwir erfolgreiche Politik. Erfolgreiche Politik macht manaber nicht, indem man den Menschen ohne ersichtlichenGrund in die Tasche greift, wie Sie es vorhaben.
Der Tagesspiegel schrieb Ende Dezember 2012 überdie Steuerpläne von Herrn Steinbrück folgenden Satz:Wenn er wirklich meint, was er sagt, will er eine an-dere Republik.Das, liebe Kolleginnen und Kollegen, trifft den Nagelauf den Kopf. Aber was für eine Republik wollen Sievon der SPD? So eine wie in Frankreich? Eine Republik,die von Ratingagenturen herabgestuft wird? Eine Repu-blik mit steil ansteigender Jugendarbeitslosenquote undimmer leereren Staatskassen? Eine Republik, um die In-vestoren einen Bogen machen und die Wohlhabende ver-lassen, anstatt in ihrem Heimatland zu investieren? Daswollen Sie offenbar. Dass die Herren Gabriel, Steinmeierund Steinbrück nach Frankreich gefahren sind und HerrnHollande für seine Steuererhöhungspläne die Glückwün-sche der deutschen Sozialdemokratie überbracht haben,hat das eindrucksvoll demonstriert.Wir sagen: Das ist geballte Ungerechtigkeit, und da-vor wollen wir Deutschland bewahren.
Eine solche Politik – das haben die Sozialdemokratenimmer noch nicht verstanden – ist Unsinn. Sie erzählenden Menschen Unsinn und schüren Neiddebatten, dieunsere Gesellschaft spalten, anstatt dass wir die Kräftebündeln.
Die Rheinische Post kommentiert die Lage inDeutschland wie folgt – ich zitiere –:Dennoch zeigt ein positiver Finanzierungssaldo beischwierigem außenwirtschaftlichen Umfeld vor al-lem eines: Das Land braucht offenkundig keineSteuererhöhungen. SPD und Grüne liegen falsch.Schöner und klarer kann man es nicht ausdrücken, liebeKolleginnen und Kollegen.
Während Sie durch dieses Land ziehen und den Men-schen einreden, der Staat müsse eine Vermögensabgabe,eine Vermögensteuer, höhere Einkommen- und Kapital-ertragsteuern einführen, während Sie auf Ihren Partei-tagen höhere Erbschaftsteuern beschließen und imBundesrat über die kalte Progression heimliche Steuerer-höhungen durchsetzen, in dieser Zeit schaffen CDU,CSU und FDP es trotz laufender Krise und in einemwahrhaft schwierigen außenwirtschaftlichen Umfeld,ohne Steuererhöhungen auszukommen und auch nocheinen Etatüberschuss vorzulegen.
Das ist der Unterschied zwischen Ihrer schlechten Poli-tik und unserer Politik.
Was wir leisten, ist Gerechtigkeit gegenüber den hartarbeitenden Menschen in unserem Land. Das ist der Wegzum Erfolg aller in einer sozialen Marktwirtschaft:höhere Investitionen in Bildung und Forschung, mehrWachstum, mehr Beschäftigung und weniger Schulden.Als wir im Rahmen der Föderalismuskommission IIdie Schuldenbremse beschlossen und uns darauf verstän-digt haben, dass der Bund im Jahr 2016 bei der Neuver-schuldung die Grenze von 0,35 Prozent des Bruttoinlands-produkts einhalten muss, haben viele gesagt: Das schafftihr nie, das ist unmöglich. – Ich kann mich noch an diePresseartikel erinnern. Es hieß überall: Da gibt es eineAusnahme, und am Ende werden sie versuchen, über dieAusnahme doch höhere Schulden zu machen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, diese Koalition hatohne Steuererhöhungen die Grenze von 0,35 Prozent desBruttoinlandsprodukts, wie sie im Grundgesetz steht, be-reits 2012 eingehalten. Trotz laufender Finanzkrise undhöheren Investitionen in Bildung und Forschung habenwir die Schuldenbremse in diesem Punkt vier Jahre frü-her eingehalten als ursprünglich vorgesehen. Hören Sieauf, dem Land einzureden, dass wir Steuererhöhungenbrauchten! Das ist absurd, und Sie wissen es besser: Mandarf den Menschen nicht in die Tasche greifen; denn daswürde das Wachstum abwürgen und eine erfolgreichePolitik beenden.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26817
Dr. Volker Wissing
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Die Steuererhöhungen, die Sie anpeilen, liebe Kolle-ginnen und Kollegen, sind der falsche Weg; sie sindebenso überflüssig wie ungerecht. Durch Ihre Weige-rung, im Bundesrat mitzuarbeiten, sind Sie schuld daran,dass sich die kalte Progression zulasten der Arbeitneh-mer verschärft. Aber dass Ihre Politik an der Lebens-wirklichkeit der Menschen vorbeigeht, wundert einenschon nicht mehr; denn als Ihr Parlamentarischer Ge-schäftsführer Oppermann gefragt wurde, wo denn diezweite Wohnzimmerrede von Herrn Steinbrück statt-finde, hat er spontan festgestellt, dass dieser Bürger na-türlich kein Sozialdemokrat, sondern ein Mann aus demLeben sein werde. – Herzlichen Glückwunsch, Sie habenden Unterschied verstanden.
Das Wort hat der Kollege Herbert Behrens von der
Fraktion Die Linke.
Werter Genosse und Kollege – nein, Genosse istfalsch: Werter Kollege Wissing,
wir haben völlig unterschiedliche Vorstellungen von Ge-rechtigkeit; das haben Sie eben noch einmal ausgespro-chen deutlich gemacht. Sie sagen: Wenn es Maßnahmengibt, die dazu beitragen, das Steueraufkommen zu er-höhen, wenn es Maßnahmen gibt, die dazu beitragen, dieBeschäftigung zu erhöhen, dann sei das der einzigeMaßstab.Das ist falsch. Wir müssen uns nur anschauen, wasSie mit Ihrer Politik verursacht haben. In dem EntwurfIhres eigenen Armuts- und Reichtumsberichts stand zu-nächst – Sie haben das später herauskorrigiert –, dass dieSchere zwischen Arm und Reich in diesem Lande dra-matisch auseinandergeht, dass es auf der einen Seite eineKonzentration von Vermögen in den Händen wenigergibt und auf der anderen Seite eine große Zahl von ar-men Menschen, die ihr Leben nicht so gestalten können,wie sie es gerne möchten. Insofern kommt es schon da-rauf an, dass wir nicht nur auf die wirtschaftliche Ent-wicklung schauen, sondern eben auch darauf, wie es umdie Steuergerechtigkeit bestellt ist.Die SPD hat ihr Konzept vorgelegt – der Kollege Poßhat davon gesprochen –, und die Regierung ist tief ge-troffen von diesem Konzept. Ich kann das nicht in Gänzeteilen.Wir wissen, am Sonntag wird in Niedersachsen ge-wählt. Darum ist vieles von dem, was hier gesprochenwird, auch unter diesem Aspekt zu sehen. Im Herbststeht dann die Frage an, ob Rot-Grün künftig die politi-schen Maßstäbe setzen kann oder ob es weiter einen de-saströsen schwarz-gelben Kurs geben soll. Deshalb wirdes nötig sein, dass wir nicht nur einen kurzen Blick zu-rückwerfen, sondern uns einmal die gesamte Entwick-lung angucken, die wir hier in den letzten Jahren erlebthaben.Gucken wir uns aber auch Ihre Steuerpolitik an, liebeKolleginnen und Kollegen der SPD. Vor vielen Jahren– vielen Menschen ist das aber noch ganz präsent – hatdie Agenda 2010 dazu beigetragen, dass Grundannah-men einer demokratischen, solidarischen Gesellschaft inDeutschland aufgehoben worden sind.Sie wollten mit Ihrer Steuerpolitik beispielsweisedazu beitragen, dass die Bundesrepublik Deutschlandhinsichtlich der wirtschaftlichen Entwicklung im Ver-gleich zu anderen Ländern das am besten für den gna-denlosen Wettbewerb aufgestellte Land ist. Sie habenden Spitzensteuersatz von 53 Prozent auf 42 Prozent ge-senkt. Sie haben den Körperschaftsteuersatz von 40 Pro-zent zunächst auf 25 Prozent und später auf 15 Prozentgesenkt. Sie haben eine Niedriglohnpolitik betrieben, Siehaben Minijobs und Leiharbeit befördert, und Sie habenzu insgesamt – ich addiere die Zahlen von 1999 bis zumJahr 2013 – 490 Milliarden Euro an Steuerminderein-nahmen beigetragen. Innerhalb eines Zeitraums von14 Jahren haben Sie Steuermindereinnahmen von fast500 Milliarden Euro zu verantworten, die für staatlicheAusgaben zur Verfügung stehen könnten.Das soll mit dem Kanzlerkandidaten Steinbrück wie-der anders werden. Er kennt sich ja aus, war er dochauch maßgeblich an dieser Politik beteiligt.Sie sagen jetzt, die Schieflage in der Gesellschaftsolle beseitigt und die große Kluft zwischen Arm undReich wieder geschlossen werden. Na ja, ein bisschen je-denfalls; denn die steuerpolitischen Vorschläge der SPDwerden nicht dazu beitragen, dass die grundlegendenFehler der vergangenen Jahre korrigiert werden.Wir als Linke haben uns die realen Auswirkungendieser Steuersenkungspolitik und in diesem Zusammen-hang auch die Einnahmeverluste für Niedersachsenangeschaut. In einem Gutachten wird festgestellt, dassdiesem Land jedes Jahr 2 Milliarden Euro an Steuerein-nahmen fehlen, mit denen eine vernünftige, soziale Poli-tik gemacht werden könnte. Den Kommunen fehltzusätzlich 1 Milliarde Euro, mit der die hier vielfach be-sprochenen Maßnahmen für die Bildung der Kinder undfür bessere Chancen der Kleinsten und Schwächsten un-serer Gesellschaft bezahlt werden könnten.Wir legen dagegen Vorschläge vor, mit denen denLändern wirksam geholfen werden könnte. Unsere Vor-schläge würden dazu beitragen, dass dem Land Nieder-sachsen pro Jahr 3,6 Milliarden Euro mehr zur Verfü-gung stehen. Wir fordern auf der Bundesebene eineFinanzpolizei, die in der Lage ist, Steuerhinterziehung,Subventionsbetrug und auch Geldwäsche wirklich wirk-sam zu verhindern.Ja, wir wollen die Erhöhung des Spitzensteuersatzes,weil die Starken der Gesellschaft für die Schwachen derGesellschaft eintreten müssen. Wir fordern eine Vermö-gensteuer, die den Namen verdient und auch rechtskon-form ist. Wir wollen dafür sorgen, dass die Schwächerenin dieser Gesellschaft wirklich in der Lage sind, ein ver-
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Herbert Behrens
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nünftiges Leben zu führen. Dazu gehören insbesonderedie Kinder, die eine gute Bildung, gute Lehrkräfte undauch gute Schulen brauchen.Das geht nur, wenn wir eine Finanzpolitik machen,die auch die Kommunen stärkt und dazu führt, dass dieseBildungseinrichtungen finanziert werden können.Vielen Dank.
Jetzt hat das Wort die Kollegin Kerstin Andreae für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DieAktuellen Stunden, die die Koalition beantragt, sindmanchmal auch dazu da, andere Aktuelle Stunden zuverdrängen. Ehrlich gesagt: Bei der Showdebatte, diewir hier gerade führen, habe ich den Eindruck, dass Sieirgendetwas gesucht haben, über das wir heute redenkönnen, damit an diesem Donnerstag auch ja alles IhrenVorstellungen entspricht.
Deswegen reden wir jetzt eben zum vielfachen Maleüber Steuerpolitik und sind Teil der von Ihrer Seite initi-ierten Show.Sie sagen, die Steuereinnahmen reichen aus. Deshalbwürde mich einmal interessieren: Wo bleibt eigentlichdie steuerliche Forschungsförderung, von der Sie sagen,dass Sie sie nicht bezahlen können? Dann würde micheinmal interessieren, warum Sie den Rechtsanspruch fürKinderbetreuung nicht umsetzen können. – Weil Sie esnicht bezahlen können.
Dann würde mich einmal interessieren, warum die Kom-munen 48 Milliarden Euro Kassenkredite aufgenommenhaben, um das laufende Geschäft zu finanzieren.
Dann würde mich einmal interessieren, wie Sie den In-vestitionsstau in den Griff bekommen wollen.
Schließlich würde mich interessieren, warum Sie zwi-schen 2009 und 2013 100 Milliarden Euro neue Schul-den aufgenommen haben, wenn Sie sagen, die Steuerein-nahmen reichten aus. Nein, anscheinend reichten sienicht.
– Oh, aber wir stellen uns dem.
Deswegen – und da können wir wirklich in eine ernst-hafte Debatte kommen – glaube auch ich, dass jede Steu-ererhöhung hinterfragt und auch gut begründet werdenmuss. Steuererhöhungen sind nicht dazu da, damit wiralles machen können. Wir dürfen nicht sagen, wir dreheneinfach einmal die Schraube, damit wir mehr Mittel ha-ben.
Deswegen steht vor theoretischen Steuererhöhungen:Erstens. Unsinnige Ausgaben wie Hotelsteuer, Betreu-ungsgeld müssen weg; das sind Sachen, die uns jedesJahr Milliarden Euro kosten.
Zweitens. Subventionen müssen abgebaut werden. Ge-hen Sie doch endlich einmal an die ökologisch schädli-chen Subventionen. Dann täten Sie ja noch etwas für dieUmwelt. Erst dann geht es um die Frage: Welche Ein-nahmen kann und soll man verbessern? – Da sind zweiSachen zu berücksichtigen.Der eine Punkt ist gerechte Besteuerung nach derLeistungsfähigkeit. Die Vorrednerin – nein, es waren janur Männer; nach mir sind es auch nur Männer –, alsodie Vorredner haben klar gesagt: Wir haben ein unge-rechtes Steuersystem. Die hohen Einkommen werden,relativ gesehen, weniger belastet als die niedrigen Ein-kommen.
Deswegen muss man bei den Themen Einkommensteuerund Spitzensteuer noch einmal genau schauen.
Liebe Union – bei der FDP brauche ich es nicht zu sa-gen –, ich würde den Mund nicht so voll nehmen. Ichsage Ihnen: Es ist ganz egal, wer nach 2013 regiert.
Ich bin mir ganz sicher, es wird nach 2013 eine Erhö-hung des Spitzensteuersatzes geben, auch unter Ihnen– also Vorsicht bei dem, was Sie hier versprechen, Vor-sicht! –, weil die Mittel nicht ausreichen
und weil Sie Infrastruktur nicht mehr finanzieren kön-nen.
Der zweite Punkt. Man muss an den Mittelstand den-ken.
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Kerstin Andreae
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Es ist absolut richtig: Personengesellschaften zahlenEinkommensteuer, und deswegen spielt jede Frage derEinkommensteuer auch immer bei den Personengesell-schaften eine Rolle.
Da geht es um die Frage: Was ist mit einbehaltenen Ge-winnen? Kriege ich attraktivere Gestaltungsmöglichkei-ten bei Thesaurierung hin? Habe ich das im Blick? Istmir das klar? Und wie ist es mit der Substanzbesteue-rung? Das grüne Konzept der Vermögensabgabe
– dann lesen Sie es halt einmal durch! – ist ein Konzept,das ganz klar Substanzbesteuerung ausschließt.
Diese Vermögensabgabe fällt nämlich nur an, wenn auchErtrag fließt.
– Ja, das ist ein großer Unterschied. Das müssten Siesich vielleicht einmal anschauen.Sie werden um die Frage des Schuldenabbaus – da-rüber habe ich heute Morgen länger geredet – nicht he-rumkommen. Sie schlagen kein Konzept vor, wie wir dieSchulden abbauen; wir schlagen ein Konzept vor. WennSie etwas anderes auf den Tisch legen, können wir ja da-rüber reden. Das Problem ist nur, dass Sie nichts auf denTisch legen, wir aber mit der Vermögensabgabe ein Kon-zept haben.Jetzt noch die Erbschaftsteuer. Natürlich werden wiran die Erbschaftsteuer heran müssen, allein schon des-wegen, weil der Bundesfinanzhof sagt: Sie ist verfas-sungswidrig.
Wir werden uns über die Frage, wie die Erbschaftsteuerin Zukunft aussieht, Gedanken machen, und ein ganzgroßer Punkt dabei ist die Gerechtigkeitsfrage. Wennnun einmal 1 Prozent aller Erben 25 Prozent des gesam-ten Vermögens erbt, dann ist das zumindest einmal eineSchieflage, über die man nachdenken kann. Meistenssind es dann auch noch Kinder, deren Eltern die Mög-lichkeit hatten, ihnen gute Chancen zu ermöglichen, beidenen Startchancen gegeben waren, bei denen Bildungs-möglichkeiten gegeben waren. Gleichzeitig sagen alle:Wir wollen Startchancen für alle,
wir wollen höhere Gerechtigkeit, wir wollen Durchläs-sigkeit im System, wir wollen, dass Bildung unabhängigvom Geldbeutel der Eltern wird.Vor diesem Hintergrund werden Sie die Frage thema-tisieren müssen: Ist es sinnvoll, die Erbschaftsteuer zuerhöhen und mit diesen Mitteln zum Beispiel Bildungs-ausgaben zu finanzieren? Wir sagen: Ja, das ist sinnvoll.Wir brauchen mehr Mittel für die Bildung. Das Kapital,das wir in Deutschland haben, ist Wissen und Bildung.Das ist unterfinanziert. Hier bedarf es mehr Mittel, unddeswegen die Erbschaftsteuer.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Olav Gutting für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben in Deutschland im abgeschlossenen Jahr seit lan-ger Zeit wieder einen vollständig ausgeglichenen Staats-haushalt.
Mitten in der europäischen Schuldenkrise ist es unter derFührung von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble ge-lungen, dass die Kassen von Bund, Kommunen, Ländernund Sozialversicherungen zusammengerechnet ohne De-fizit auskommen. Wir haben im abgelaufenen Jahr Re-kordsteuereinnahmen von über 600 Milliarden Euro. Indieser Situation fällt Rot-Grün – den Linken sowieso –nichts anderes ein, als nach weiteren Steuererhöhungenzu rufen.
Schauen wir uns die einzelnen Punkte einmal an. Siesprechen von einer Erhöhung der Einkommensteuer um7 Prozentpunkte. Sie sagen, es gehe nur um den Spitzen-steuersatz, Sie wollten damit nur die Reichen treffen.Aber Sie führen damit die Menschen hinter die Fichte.Wir haben in Deutschland nämlich einen linear-progres-siven Tarif. Wir haben einen Eingangssteuersatz und ei-nen Spitzensteuersatz. Dazwischen steigt die Kurve zuRecht mit steigenden Einkommen an. Wenn aber nun derSpitzensteuersatz erhöht wird, dann steigt die ganzeKurve viel steiler an.
Es bildet sich ein Delta, das dazu führt, dass Sie geradeauch die mittleren Einkommen, die Facharbeiter, belas-ten und nicht nur die Reichen, wie Sie vorgeben.
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Olav Gutting
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Nicht genug also, dass Sie mit der rot-grünen Mehr-heit im Bundesrat den hart arbeitenden Menschen in die-sem Land eine Entlastung bei der kaltem Progressionversagen, nicht genug, dass Sie die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer in diesem Land, gerade mit mittlerenund niedrigen Einkommen, voll in die heimliche Steuer-erhöhung der kalten Progression laufen lassen: Nein, dasist nicht genug. Sie bringen es mit Ihren Steuerplänen– Erhöhung der Einkommensteuer, Wegfall des Ehegat-tensplittings – sogar fertig, aus dem Mittelstand, denFacharbeitern, zusätzlich 28 Milliarden Euro herauszu-pressen.
Rot-Grün hat in seiner Regierungszeit zu Recht dieEinkommensteuer reformiert. Sie haben den Spitzen-steuersatz dem internationalen Niveau angepasst.
Sie haben das damals richtig begründet; ich zitiere IhreBegründung. Sie haben das damals zur Stärkung derWettbewerbsfähigkeit der deutschen Wirtschaft ge-macht. Sie haben das zur Förderung von Wachstum undBeschäftigung gemacht. Sie haben das für mehr Steuer-gerechtigkeit, mehr Transparenz und Planungssicherheitgemacht.
Sie haben das als Steuerentlastung für Arbeitnehmer, Fa-milien und Unternehmen gemacht. Das war Ihre Begrün-dung für Ihre Einkommensteuerreform.
All das gilt jetzt nicht mehr. Jetzt geht es Ihnen nur nochdarum, den Menschen Sand in die Augen zu streuen. Dasmachen wir nicht mit.
Sie behaupten, Sie wollten die Reichen schröpfen, aberSie treffen mit Ihren Maßnahmen vor allem den Mittel-stand und vor allem die Arbeitnehmer.Das Perfide an der ganzen Geschichte ist: Gleichzei-tig blockieren Sie im Bundesrat Maßnahmen, die zumehr Steuergerechtigkeit führen. Sie stellen ein Konzeptgegen Steuerhinterziehung vor und sorgen gleichzeitigdafür, dass eine wirksame Verfolgung von Steuerflücht-lingen nicht möglich ist.
Wenn Sie Ihre Vorschläge ernst meinen würden, dannhätten wir in diesem Land seit zwei Wochen eine Rege-lung mit der Schweiz, nach der keiner mehr ausDeutschland sein Geld illegal in die Schweiz bringenkönnte.
Aber Sie blockieren das genauso wie das Jahressteuerge-setz.Wir wollten mit dem Jahressteuergesetz das soge-nannte Goldfinger-Steuersparmodell austrocknen, einSteuersparmodell, mit dem vor allem Spitzenverdienerihre Steuerlast senken können. Was macht Rot-Grün imBundesrat? Dreimal dürfen Sie raten: Blockieren, blo-ckieren, blockieren!
Meine Damen und Herren, angesichts dieser Verhin-derungspolitik frage ich Sie: Wer soll Ihnen da den vonIhnen angekündigten Kampf gegen Steuerhinterzieherabnehmen? Sie von der Opposition, insbesondere vonder SPD, sind mit diesen Ankündigungen genauso un-glaubwürdig wie Ihr Kanzlerkandidat, der bis heutenicht verstanden hat, dass es in der Politik nicht umsVerdienen geht, sondern ums Dienen.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Dr. Carsten Sieling hat das Wort für die
SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Ich möchte mich in dieser Aktuellen Stunde erst einmalbei der Koalition bedanken,
nämlich dafür, dass Sie uns die Gelegenheit geben – dasThema sagt es schon deutlich –, Ihnen die Steuerbe-schlüsse der SPD im Deutschen Bundestag zu erläuternund nahezubringen.
Das ist umso notwendiger nach dem, was wir bisher ge-hört haben, nach dem Durcheinander, das Sie produzie-ren, und nach all dem Sand, den Sie uns in die Augenstreuen.
Ich will erstens sagen, dass man vor den Notwendig-keiten, die wir in Deutschland haben, nicht die Augen
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Dr. Carsten Sieling
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verschließen darf. Natürlich nimmt jeder zur Kenntnis,dass es Anstrengungen gibt, den Schuldenabbau voran-zubringen. Aber bei der hohen Neuverschuldung undden Verschuldungsgraden, die wir haben, muss mandeutlich sagen: Die öffentlichen Haushalte müssen ge-stärkt werden, damit das Ziel des Schuldenabbaus er-reicht wird. Das ist der Wille der SPD.
Zweiter Punkt: Die Situation im Bildungssektor undin der Kinderbetreuung ist frappierend. Wir wissen, dasswir da mehr machen müssen. Dafür möchten wir Geld inden Kassen haben, um diese gute Politik auch umsetzenzu können.
Das Dritte ist die Tatsache, dass wir ein Problem mitder Infrastruktur in Deutschland haben. Gerade in dieserWoche ist ein Bericht der OECD erschienen – das ist inder deutschen Presse nachzulesen –, wonach Deutsch-land bei den Straßeninvestitionen 134 Euro pro Jahr undEinwohner ausgibt – vorletzte Stelle. Schlimmer nochim Bereich des Schienenverkehrs: letzte Stelle mit53 Euro pro Einwohner und Jahr.Meine Damen und Herren, es gibt einen Bedarf, et-was dafür zu tun, dass unser Land zukunftsfähig ist. Des-halb schlagen wir unsere steuerpolitischen Maßnahmenvor.
Jetzt komme ich zu den Maßnahmen. Ich fange mitder Spitzensteuer an, weil hier Unsinn erzählt wordenist. Ich nutze das Handelsblatt, um deutlich zu machen,was wir wollen. Das Handelsblatt stellt sehr deutlichdar, was die SPD-Vorschläge bedeuten. Sie bedeutennämlich, dass der Anstieg des Spitzensteuersatzes erstbei einem Jahreseinkommen von 64 000 Euro einsetzt.Darunter wird – ich glaube, das hat Herr Kollege Guttingangesprochen – die Kurve gar nicht verändert.Bevor ich es Ihnen in Zahlen erläutere, will ich eineZahl vorwegschicken. Das Durchschnittseinkommen derDeutschen liegt bei 2 700 Euro im Monat.
Ich hoffe, die Kollegen von CDU/CSU und FDP könnensich überhaupt vorstellen, wie man davon lebt. 50 Pro-zent haben nicht mehr als 2 700 Euro.Die Umsetzung der SPD-Vorschläge würde bedeuten,dass eine Mehrbelastung von Alleinstehenden bei einemEinkommen ab 7 000 Euro im Monat beginnt. Für diesewird es laut Handelsblatt-Berechnung, die auch unserenZahlen entspricht, eine Belastung von 12,48 Euro geben.Das steigt dann. Wer 50 000 Euro im Monat hat, derwird allerdings mit 2 300 Euro mehr belastet. Das istauch richtig und gerecht. Diese Personen können dasaufbringen.
Bei Verheirateten und Familien – damit auch das klarist – gibt es bei einem Einkommen von 7 000 Euro na-türlich keine Mehrbelastung. Erst ab 13 000 Euro Ein-kommen einer Familie im Monat kommt es zu einerMehrbelastung.
Erst bei diesem Einkommen setzt Mehrbelastung ein.Wenn bei einem Monatseinkommen von 15 000 Euro50 Euro anfallen, dann wird das den Mittelstand nichtkaputtmachen; wir können aber mehr Mittel für gute Bil-dung und die Anstrengungen einsetzen, die wir angehenmüssen.
Genauso ist es mit der Vermögensteuer. Auch dasmuss man klar sagen. Die Verteilung in Deutschlandzeigt, wie es in der Spitze aussieht. Wir wissen, dass dergrößte Teil des Gesamtvermögens von nur 1 Prozent derBürgerinnen und Bürger besessen wird. Das sind800 000 Menschen, die ein Gesamtvermögen von 3 Bil-lionen Euro haben. Da greifen wir in der Tat zu. Auchdas ist richtig. Das werden wir für Bildung in den Län-dern einsetzen. Deshalb sind wir auch damit auf demrichtigen Weg.
Jetzt kommt ein letztes Argument. Es heißt immerwieder: Damit werdet ihr aber dazu beitragen, dass dieWirtschaftsentwicklung nicht vorangeht.
Auch das ist ein großer Unsinn, Herr Kollege.
Zunehmende Ungleichheit schwächt Wirtschaftswachs-tum. Das ist kein sozialdemokratischer Programmsatz,sondern das können Sie unter anderem in den Untersu-chungen der Organisation für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung, der OECD, nachlesen, dieausdrücklich auch Deutschland ins Stammbuch schreibt:„Zunehmende Ungleichheit schwächt die Wirtschafts-kraft eines Landes“.
Unsere Politik wird die Infrastruktur stärken, wird dieunteren Einkommen stärken, wird die Konsumnachfragein Deutschland stärken, wird dafür sorgen, dass es denMenschen bessergeht, und wird unsere Wachstumskräftevoranbringen.
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Dr. Carsten Sieling
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Lassen Sie mich noch ein letztes Wort sagen. Die Vor-schläge, die ich hier mache, haben durchaus tagespoliti-sche Relevanz. Der Oberbürgermeister Hannovers undKandidat für das Amt des Ministerpräsidenten Nieder-sachsens hat sehr deutlich angekündigt, dass wir nichtbis September warten wollen. Er sagte im Wahlkampfsehr deutlich: Wir werden mit unseren Vorschlägen zurErhöhung des Spitzensteuersatzes, zur Steuerbetrugsbe-kämpfung, zur Steuerkriminalitätsbekämpfung – es gehtnicht um Sozialneid, Kollege Michelbach – sofort in denBundesrat gehen. Wenn es am Sonntag in Niedersachseneine Mehrheit für Rot-Grün gibt, dann wird es inDeutschland eine neue Politik geben. Dafür sollten wiruns in der Tat einsetzen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Daniel Volk für die
FDP-Fraktion.
Herzlichen Dank. – Frau Präsidentin! Meine sehr ge-ehrten Damen und Herren! Herr Kollege Sieling, das istja eine wunderbare Ankündigung Ihres Kandidaten imRahmen des niedersächsischen Wahlkampfs. Daran siehtman auch, dass Sie hier im Bundestag tatsächlich imWahlkampfmodus sind. Das haben Sie, die Opposition,auch im Bundesrat und im Vermittlungsausschuss ge-zeigt.
Die Steuerbetrugsbekämpfung ist aber auch nach derFöderalismusreform immer noch Aufgabe der Bundes-länder im Rahmen des Verwaltungsvollzuges. Deswegenmuss man nicht über den Bundesrat Initiativen starten,sondern Steuerbetrugsbekämpfung muss in den Bundes-ländern durch die Steuerverwaltungen vorgenommenwerden.
Ich sehe momentan eigentlich keine Anzeichen dafür,dass die Steuerverwaltungen den Steuerbetrug nicht aus-reichend bekämpfen. Ich sehe eher Anhaltspunkte dafür,dass der Steuerbetrug auf politischer Ebene leider Gottesteilweise unterstützt wird. Zum Beispiel ist ein Abkom-men wie das deutsch-schweizerische Abkommen ausrein parteipolitischen Gründen abgelehnt worden, ob-wohl es wirklich das effektivste Instrument zur Bekämp-fung von Steuerhinterziehung gewesen wäre und gleich-zeitig ein effektives Instrument für eine Verbesserungder Steuerbasis und der Steuereinnahmen, insbesondereder Bundesländer, dargestellt hätte. Deswegen erscheintes mir völlig abwegig, dass gerade dieses Abkommenvon Ihnen, von der SPD, abgelehnt wurde.
Es ist immer sehr schön, wenn gesagt wird, wir benö-tigten höhere Steuereinnahmen. Dabei leben wir doch imJahr der höchsten Steuereinnahmen in der Geschichteder Bundesrepublik Deutschland! Das gilt übrigens auchfür die Bundesländer. Trotzdem stellen Sie sich hier hinund sagen, wir bräuchten höhere Steuereinnahmen, umdamit weitere Staatsausgaben zu finanzieren. Das Er-staunliche ist, dass insbesondere in den Bundesländern,wo Sie von der SPD, wo Sie von den Grünen Verantwor-tung tragen, genau diese Aufgaben nicht zusätzlich finan-ziert werden. Vielmehr kürzen Sie im Verkehrsetat, imInfrastrukturetat, im Bildungsetat. Die grün-rote Landesre-gierung in Baden-Württemberg hat als erste Amtshandlungin ihrer Regierungsverantwortung 11 000 Lehrerstellen ge-strichen. Das ist keine zukunftsfähige Bildungspolitik;das ist bildungspolitischer Wahnsinn.
Ich kann ja nachvollziehen, dass Sie aufgrund Ihrerideologischen Denkrichtung fordern, dass der Staat im-mer mehr Aufgaben übernehmen soll, dass Sie sich hin-stellen und zunächst sagen, was alles an weiteren Ausga-ben erfolgen müsse, um dann zu begründen, warum dieSteuern erhöht werden müssten. Was Sie aber natürlichvöllig vergessen, sind die Kollateralschäden, die Sie an-richten werden, wenn Sie tatsächlich eine solche Steuer-politik fahren.Frau Kollegin Andreae, Sie haben gerade gesagt, dieVermögensabgabe stelle keine Substanzbesteuerung dar,weil sie nur greifen würde, wenn ein Ertrag erzieltwürde. Das ist eine sehr reizvolle, charmante Argumen-tation; aber sie ist falsch. Ähnlich falsch wäre es, zu sa-gen: Ich vergifte dich nur, wenn du mir dafür Geld gibst,und wenn du mir dafür Geld gibst, dann ist es keine Ver-giftung. – Das ist völlig abwegig.
Natürlich ist eine Vermögensabgabe eine Substanzbe-steuerung. Dazu sollten Sie auch stehen. Ihre Idee derVermögensabgabe hat ja den meiner Meinung sogar ver-fassungswidrigen Aspekt, dass Sie das sogar rückwir-kend machen wollen. Ich glaube, das werden Sie vordem deutschen Bundesverfassungsgericht gar nicht be-gründen können.Aber abgesehen davon vergessen Sie, dass jede Formder Substanzbesteuerung, zumindest bei betrieblichemVermögen, zwangsläufig Arbeitsplatzabbau nach sichziehen wird. Wenn Sie sagen, dass Sie eine Vermögens-
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Dr. Daniel Volk
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substanzbesteuerung auch auf betriebliches Vermögenwollen –
und es geht ja auch gar nicht anders, als dass eben auchdie betrieblichen Vermögen besteuert werden –, dannmüssen Sie auch die Verantwortung dafür tragen, dassdie Arbeitslosigkeit in Deutschland im Zweifel wiedersteigt.Die christlich-liberale Koalition hat in ihrer Regie-rungsverantwortung seit 2009 genau den umgekehrtenWeg und auch den richtigen Weg eingeschlagen. Wir ha-ben nämlich die Steuerbelastung zu Beginn der Legisla-turperiode moderat gesenkt und haben damit erreicht,dass Wirtschaftswachstum funktioniert bzw. die Wirt-schaft stärker wächst, dass die Arbeitslosenquote deut-lich sinkt, und zum Ende der Legislaturperiode habenwir einen ausgeglichenen Gesamtstaatshaushalt. Das istdie Bilanz einer vernünftigen Finanz-, Wirtschafts- undHaushaltspolitik.Das jedoch, was Sie vorschlagen, ist wirtschaftspoliti-scher, finanzpolitischer und haushaltspolitischer Wahn-sinn.
Ich glaube, dass dann, wenn wir in der Wahlauseinander-setzung stehen werden, die Mehrheit der Bevölkerungerkennen wird, was Sie tatsächlich vorhaben. Sie werdendeswegen im Wahlkampf nicht überzeugend auftretenkönnen.
Lothar Binding hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr verehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Volk hat sich ge-rade darüber beschwert, dass der Kollege Sieling das ge-macht hat, was Sie beantragt haben. Nun wollen wirdoch mal schauen, was auf der Tagesordnung steht. Dageht es um eine Aktuelle Stunde zu den Steuerbeschlüs-sen der SPD. Er hat also seine Aufgabe exzellent gelöst.
Allerdings reflektiert Herr Volk ja mit seiner Aussageauf etwas anderes, nämlich auf die falsch gewählteÜberschrift. Es geht ja heute eigentlich gar nicht um dieÜberlegungen, die die SPD anstellt, sondern es geht da-rum, ob die Regierung, die seit drei Jahren im Amt ist,ob die Koalition, die seit drei Jahren Politik in Deutsch-land macht, wirklich die richtige Politik gemacht hat.
Ich glaube, dass Sie, als Sie diese Aktuelle Stunde bean-tragt haben, vergessen haben, was Sie in den letzten dreiJahren bewirkt haben.Schauen wir mal: Herr Wissing hat gesagt, es gebeeine geballte Ungerechtigkeit. Ich nenne ein paar Bei-spiele. 10 Prozent der Menschen verfügen über 50 Pro-zent der Vermögen, 50 Prozent der Menschen verfügenüber nur 4 Prozent der Vermögen. Es gibt Menschen, dieim Durchschnitt vielleicht 30 000 Euro im Jahr verdie-nen, was aus unserer Sicht natürlich wenig ist. Es gibtLeute, die im Jahr 48 000 Euro verdienen; das finden wirauch zu wenig. Bundestagsabgeordnete verdienen unge-fähr das Doppelte; das ist sicherlich mehr als angemes-sen.
Aber es gibt auch Leute, die 48 000 Euro am Tag verdie-nen. Wenn man bei denen die Steuer ein bisschen an-zieht, könnte es sein, dass wir damit Gerechtigkeit errei-chen und diese eben nicht verletzen.
Deshalb hat Herr Wissing in gewisser Weise durchausrecht. Es gibt, nachdem Sie drei Jahre an der Regierungsind, eine geballte Ungerechtigkeit.
Das setzt sich aber noch fort. Schauen wir einmal,was Sie in Richtung Abschaffung prekärer Beschäfti-gung erreicht haben. Das Ergebnis lautet in der Zusam-menfassung: nichts. Sowohl im Teilzeitbereich als auchim Leiharbeitsbereich, im Aufstockerbereich und ebensobei der Beschäftigungsförderung sieht man ein Versagender von Ihnen eingeführten Instrumente par excellence.Auch beim Mindestlohn wurde nichts erreicht.Hans Michelbach hat interessanterweise von der Hoch-steuerpolitik von Rot-Grün gesprochen. Schauen wir ein-mal genauer hin. Wir haben damals – das stimmt – denSpitzensteuersatz von 53 auf 42 Prozent gesenkt; die Be-gründung dafür wurde vorhin schon gegeben. Wir habenaber auch den Eingangssteuersatz von 25,9 Prozent unterKohl auf 15 Prozent, heute sogar 14 Prozent gesenkt.Dies wird gelegentlich vergessen zu sagen.Herrn Behrens, der die Körperschaftsteuer ansprach,möchte ich sagen: Es stimmt, die Körperschaftsteuerwurde auf 15 Prozent gesenkt, allerdings definitiv. Dasist ein völlig anderes Modell als früher. Früher war dieKörperschaftsteuer anrechnungsfähig, heute nicht. Es istalso ein bisschen zu einfach, lapidar zu sagen: Ihr habtden Unternehmen die Steuern gesenkt.Schauen wir uns aber noch einmal die Arbeitsergeb-nisse dieser Koalition an. Sie haben den Kommunendurch das Wachstumsbeschleunigungsgesetz zunächst1,6 Milliarden Euro weggenommen.
Bernd Scheelen, unser Kommunalpolitiker und Spezia-list für diese Fragen, hat mich noch einmal darauf hinge-wiesen, dass selbst mit der Regelung zur Grundsiche-
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Lothar Binding
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rung, die Sie heute feiern, diese Kürzung gegenüber denKommunen noch nicht einmal kompensiert wird. Dasheißt, im Ergebnis haben Sie die Kommunen geschröpft.
Um das Versagen der entsprechenden Arbeitsgruppezur Neuordnung der Mehrwertsteuer zu kaschieren, ha-ben Sie die Hotelsteuer gesenkt. Das Thema darf hiernicht fehlen; denn das ist wirklich ein echtes Arbeits-ergebnis dieser Koalition. Leider sind die von Ihnen er-hofften Investitionen nicht gekommen. Bei Kosten von1 Milliarde Euro wurden nur 200 Millionen Euro inves-tiert.
Hätten Sie die Milliarde den Kommunen gegeben, hättenSie Investitionen von 7 Milliarden Euro erreicht. – Ichrede ein bisschen laut; das ist immer so, wenn ich michengagiere. Bei der Regierung muss man das manchmalmachen.
Im Ergebnis überlegen jetzt viele Kommunen, eine Bet-tensteuer einzuführen. Da sieht man einmal, welche Ver-teilungseffekte Ihre Politik da bewirkt hat.Während wir unter Rot-Grün und auch noch unter derGroßen Koalition die Gewerbesteuer gestärkt haben, ha-ben Sie in den Koalitionsvertrag geschrieben, dass sieabgeschafft werden soll. Gott sei Dank ist die dazugehö-rige Kommission gescheitert. Mit Blick auf die Drohun-gen aus dem Bundesrat, dass nämlich die Bemühungen,die Gewerbesteuer abzuschaffen, scheitern würden, sindSie mit Ihrem Vorhaben gar nicht erst ans Tageslicht ge-gangen. Das ist ein kleiner Erfolg. Wir haben halt IhreKoalitionsvereinbarung nicht immer so ernst genom-men, wie sie es vielleicht verdient hätte; aber Sie neh-men sie ja selber nicht einmal ernst. Insofern ist daskeine Referenzgröße.Die Diskussion um das Bildungs- und Teilhabepakethat auch eine interessante Folge gehabt, nämlich dassdank des Einsatzes der A-Länder im Vermittlungsaus-schuss die Kommunen dadurch entlastet wurden, dassKosten der Grundsicherung im Alter durch den Bundübernommen wurden. Das ist etwas, was Sie sich so einbisschen auf die Fahnen schreiben.
Blicken Sie einmal zurück und schauen Sie nach, wel-cher Debattenprozess im Bundesrat dazu geführt hat. Siekönnen daran sehen, dass die Maßnahmen, die die SPDin ihren Steuerbeschlüssen festgelegt hat, sehr gute Maß-nahmen sind, um die vielen Mängel, die als Ergebnis Ih-rer Politik feststellbar sind, in einer ordentlichen Weisezu kompensieren und die Gesellschaft nach vorn zu brin-gen.
Das ist wirklich ein Zukunftsmodell. Das, was Sie kon-kret erreicht haben, ist eigentlich blamabel.
Christian von Stetten hat das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Allein schon die Debatte heute Morgen zum Jahreswirt-schaftsbericht der Bundesregierung hat deutlich ge-macht, dass diese Aktuelle Stunde jetzt nicht nur sinn-voll, sondern auch dringend notwendig ist. Es ist jaabenteuerlich, was die Opposition schon heute Morgenund auch jetzt in dieser Debatte zum Besten gegeben hat.In einem ist sich die Opposition aber einig – das ha-ben wir heute gemerkt –: Obwohl der Staat zurzeit diehöchsten Steuereinnahmen in der Geschichte der Bun-desrepublik Deutschland hat – das ist angesprochen wor-den –,
wollen Sie die Bürger zusätzlich mit einer irrwitzigenZahl von Steuern zur Kasse bitten. In der Debatte istauch deutlich geworden, wo Sie abkassieren wollen.Herr Sieling, Sie haben uns mitgeteilt, dass die Erhö-hung des Spitzensteuersatzes nicht nur, wie bisher in derÖffentlichkeit vertreten, die Bürger mit einem Einkom-men ab 100 000 Euro trifft. Sie haben an diesem Pult ge-rade vorgerechnet, dass es bereits die Bürger ab einemEinkommen ab 64 000 Euro trifft.
Es sind doch die Mittelständler, die Freiberufler und dieFacharbeiter, die aufgrund ihrer guten Qualifikation vollgetroffen werden.
– Nein, das täuscht. Wenn Sie das bezweifeln, dann ge-hen Sie einmal nach Baden-Württemberg und schauensich an, was dort die Facharbeiter in der Automobil-industrie verdienen!
Ich würde übrigens auch Ihrem SPD-KollegenWolfgang Thierse empfehlen, dass er sich, bevor er sichunqualifiziert und unsachlich zur Volksgruppe derSchwaben äußert, dort einmal umschaut.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26825
Christian Freiherr von Stetten
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Wenn er das täte, würde er sehen, wie durch Fleiß, Diszi-plin und Sparsamkeit Vermögen geschaffen wird. Ver-mögenswerte, die durch Konsumverzicht geschaffenwurden,
wollen Sie von der Sozialdemokratie jetzt noch durcheine Erbschaftsteuer belasten.Sie sehen die Wiedererhebung der Vermögensteuerund fast eine Verdopplung des Erbschaftsteueraufkom-mens vor. Sie wollen also nicht nur, was aus Ihrer Sichttheoretisch verständlich wäre, eine Erhöhung der Ein-kommensteuer und der Körperschaftsteuer, sondern Siewollen auch die Substanzsteuern erhöhen, die selbstdann fällig werden, wenn überhaupt kein Ertrag anfällt.Das heißt, Sie wollen die Vermögensteuer auch dann an-setzen, wenn ein Vermieter eine Wohnung überhauptnicht nutzen kann, weil sie renoviert wird oder leer steht,und keine Mieteinnahmen hat. Die Vermögensteuer, dieSie planen, ist nicht nur weltfremd, sondern – das ver-stehe ich bei den Sozialdemokraten überhaupt nicht –auch unsozial. Denn wer zahlt die Vermögensteuer,wenn diese Wohnung vermietet ist? In der Regel sinddas die Mieter, weil der Vermieter wie bei der Grund-steuer versuchen wird, diese Mietnebenkosten auf denMieter umzulegen. Bei einer 1-prozentigen Vermögen-steuer auf den Verkehrswert bedeutet das eine glatteErhöhung von 20 Prozent auf die jetzigen Mietkosten.
Wenn Sie die Erbschaftsteuer verdoppeln, so wird einvorsichtiger Vermieter das Geld, das fällig wird, wenn erstirbt, für seine Nachkommen ansparen. Auch dies wirder auf die Miete umlegen. Das bedeutet eine weitereMieterhöhung von 20 Prozent.Wenn man das alles weiß, wird auch klar, warum Sieplötzlich eine Debatte zur Begrenzung der Mietkostenund der Mieterhöhungen fordern:
Sie wissen genau, dass, wenn Ihre Pläne umgesetztwerden, die Mieter die Leidtragenden Ihrer Gesetzes-vorhaben sind.
Die Mieter und die Familienbetriebe sind die Opfereiner Steinbrück-Regierung. Die Familienbetriebe kön-nen und wollen den Standort Deutschland nicht verlas-sen, weil sie das Land unterstützen wollen und treu zuihren Mitarbeitern stehen. Fragen Sie die Belegschaftenin den Familienunternehmen einmal, wo sie lieber arbei-ten: in einem Familienunternehmen, wo der Chef oderSeniorchef täglich in die Firma kommt und sich um dieBelange des Unternehmens kümmert, oder in einemvermögen- und erbschaftsteuerfreien anonymen Groß-betrieb, von dem niemand weiß, wo der Inhaber wohnt,ob im Ausland oder Inland; auf jeden Fall kennt ihn dieBelegschaft nicht persönlich.Das ist die SPD-Logik, die heute in der AktuellenStunde deutlich geworden ist: Derjenige, der sich zuDeutschland bekennt und hier wohnt, zahlt in ZukunftIhre Substanzsteuern. Derjenige, der Deutschland ver-lässt, wird von der Steuer befreit. Das ist ein Wegzug-programm. Die Bürger aus Niedersachsen müssen wis-sen, was auf sie zukommt, wenn die Opposition imBundesrat in Zukunft eine noch deutlichere Mehrheithat. Mancherorts ist das schon jetzt Realität. Sie brau-chen nur über die Grenze nach Frankreich zu schauen.Dort wird der Feldversuch, den Sie in Deutschland star-ten wollen, schon lange praktiziert.
Ihr sozialistischer Genosse, der französische Präsident,sorgt durch seine Gesetzgebung dafür, dass in Frank-reich keine Investitionen mehr getätigt werden. Sie kön-nen mit Ihren Kollegen aus Frankreich in der nächstenWoche hier in diesem Parlament darüber reden, welchekatastrophalen Folgen diese sozialistische Gesetzgebungund allein die Ankündigung in Frankreich haben. Wirwollen das in Deutschland verhindern.Herzlichen Dank.
Jetzt hat Franz Obermeier das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Ichfinde, wir haben heute in der Aktuellen Stunde eine sehrspannende Debatte. Ich möchte eingangs auf die Frageeingehen, wie sich die christlich-liberale Koalition dieStaatsfinanzierung der Zukunft vorstellt. In Deutschlandwurden im Jahr 2010 insgesamt 530 Milliarden EuroSteuern bezahlt. Im Jahr 2012 waren es schon über600 Milliarden Euro. In der mittelfristigen Finanz-planung ist in Deutschland eine Steuersumme von deut-lich über 700 Milliarden Euro enthalten. Alles, was wirdarüber hinaus an Gedankenspielen anstellen, ist inhohem Maße unseriös.Schaue ich mir das SPD-Programm an, finde ich – dasist ein echter Querschuss –
den Vorschlag einer Erhöhung der Kapitalertragsteuervon 25 Prozent auf 32 Prozent. Wissen Sie, wen Siedamit treffen? Sie treffen damit die breite Masse derLeute, die sich anstrengen, etwas zu sparen. Sie treffenbeispielsweise diejenigen, die Bausparverträge haben,
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Franz Obermeier
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diejenigen, die sich etwas für das Alter angespart haben.Und wenn Sie für diejenigen mit einem Jahreseinkom-men ab 64 000 Euro den Spitzensteuersatz auf 49 Pro-zent erhöhen wollen, dann ist das ein Anschlag auf denMittelstand in Deutschland.Als Wirtschaftspolitiker will ich jetzt einmal auf denMittelstand eingehen. Ich komme aus einer Region, inder es sehr viele kleine und mittelständische, zugleichsehr erfolgreiche Unternehmen gibt. Zumeist handelt essich um Personengesellschaften. Was glauben Sie, wiedie auf solche Vorschläge reagieren? Wir wissen dochalle miteinander aus unseren eigenen Erfahrungen: Eineerfolgreiche Wirtschaftspolitik ist in erster Linie Ver-trauenssache. Mit dem, was Sie in Ihren Beschlüssenvorlegen, zerstören Sie das Vertrauen unserer Mittel-ständler.Unsere Mittelständler werden bereits erheblich belas-tet. Sie haben allein dadurch enorme Lasten zu tragen,dass sie sämtliche Umweltgesetzgebungen umsetzenmüssen und die gestiegenen Energiepreise kompensierenmüssen. Denn die Mittelständler haben in aller Regelnicht den Vorteil der reduzierten Sätze bei den Strom-kosten. Sie müssen die vollen Kosten tragen. Und danndrohen Sie ihnen auch noch mit der Vermögensteuer.Die Region, aus der ich komme, ist eine Hochpreis-region. Wenn Sie dort Betriebsschätzungen durchführenließen, würden Sie staunen, welche Beträge dabei he-rauskommen. Das liegt eben daran, dass die Preise sohoch sind. Wenn Sie hier mit der Vermögensteuer kom-men wollen, dann gratuliere ich Ihnen.Das Gleiche gilt für die Erbschaftsteuer. Unsere Mit-telständler stehen in aller Regel sowieso schon vor derFrage, ob sich jemand aus der Familie findet, der denBetrieb übernimmt. Wenn Sie jetzt mit einer Verdoppe-lung der Erbschaftsteuer daherkommen, dann gratuliereich Ihnen ebenfalls.Lassen Sie mich etwas zu dem Vorschlag zur Mehr-wertsteuer sagen. Wenn die Mehrwertsteuer sektoral ver-ändert werden soll, dann ist die Allgemeinheit betroffen.Bei den Verbrauchsgütern haben wir ohnehin schon dieProblematik, dass die Mehrkosten über die Strompreis-entwicklung aufzufangen sind. Das ist ein echtes Pro-blem.Zum Thema „Agrardiesel“ müssen Sie sich auchetwas einfallen lassen.
– Das sind Ihre Vorschläge, soweit ich sie kenne.Das Gleiche gilt für die Kerosinbesteuerung. Hier gibtes schon ein Riesenproblem mit der Luftverkehrswirt-schaft, weil wir durch die Luftverkehrsabgabe enormabschöpfen. Gleichzeitig wollen wir aber, dass die Luft-verkehrswirtschaft mit neuestem Fluggerät ausgestattetwird, zumindest die Triebwerke lärmärmer und emis-sionsärmer gestaltet werden. Die Airlines sagen jedoch:Wovon sollen wir das denn bezahlen, wenn wir schonjetzt Hunderte von Millionen Euro an Luftverkehrs-abgabe entrichten müssen? – Und Sie kommen jetztnoch einmal mit der Kerosinsteuer daher.Das, was Sie hier betreiben, wird den gleichen Effekthaben, wie es ihn schon in den sieben Jahren Rot-Grüngab: Sie werden den Mittelstand entmutigen.
Der Bürger in Deutschland wird so schlau sein, imHerbst dieses Jahres dem Spuk ein Ende zu machen.Danke schön.
Jetzt hat der Kollege Norbert Schindler das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Ich sage jetzt schönen guten Nachmittag, weil ichmich beim letzten Mal vertan habe. Liebe Frau Präsiden-tin! Liebe Gäste auf den Tribünen! Meine Damen undHerren hier im Plenum! Es war nötig, vor der Wahl inNiedersachsen am kommenden Sonntag darauf hin-zuweisen – das war ja auch der aktuelle Anlass –, wasdie Braunschweiger Erklärung der SPD, angeführt vomKanzlerkandidaten Herrn Steinbrück, in der Konsequenzbedeutet.Zu einigen Thesen, die heute aufgestellt wurden,möchte ich kurz Stellung nehmen.Vorhin wurde der Armutsbericht erwähnt, der vor ei-nigen Wochen auf unserer Tagesordnung stand.
Ich möchte darum bitten, den Armutsbericht in Zukunftauf die europäische Ebene zu stellen. Dann würde mansehen, dass es uns in Deutschland im europäischen undinternationalen Vergleich gut geht.
Es geht uns gut.
Wenn man derzeit die Umfragen liest – die Zustim-mung tut uns von der Koalition gut –, dann erkennt man:Ihr habt da ein besonderes Problem. Warum hat die SPD,warum haben Rot und Grün insgesamt da ein Problem?Weil der Kanzlerkandidat nicht mehr authentisch ist.Wenn man den Spitzenkandidaten der SPD derzeit hörtund ihn in den letzten Wochen erlebt hat, dann stellt manfest: Nachdem er als Finanzminister eigentlich die richti-gen Thesen vertreten hat, muss er jetzt nach seinerBochumer Erklärung die Kurve kriegen; er driftet deut-
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Norbert Schindler
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lich nach links. Man glaubt, man könne durch Neid-debatten an Zustimmung gewinnen; aber das findet Gottsei Dank nicht statt. Die Bürgerinnen und Bürger, dieWählerinnen und Wähler sind klüger, als manche Partei-strategen glauben.
Lieber Lothar Binding, du hast vorhin angeführt, dassjemand 48 000 Euro am Tag verdient.
Es gibt Leute in dieser Republik, die verdienen mit zweiVorträgen an einem Tag 50 000 Euro.
Von Neiddebatten zu reden, ist ja derzeit eure vornehmeAufgabe.
Meine Damen und Herren, schauen wir es uns an: Ihrwollt das Ehegattensplitting abschaffen und die Kapital-ertragsteuer erhöhen. Steinbrück sagte vor gut fünf Jah-ren: Mir ist es lieber, dass 25 Prozent Kapitalertragsteuerhier, am Wirtschaftsstandort Deutschland, gezahlt wer-den; dann bleibt das Geld hier, und das tut der Wirtschaftgut. – Jetzt kommt der gleiche Mann und sagt: Wir brau-chen eine Steuer auf Kapitalerträge von durchschnittlich32 Prozent. – Er will also einleiten, dass sich der Wirt-schaftsstandort in unserem Staatsgebiet verflüchtigt, unddas wird von Ihnen, meine Damen und Herren, auchnoch bejubelt.
Ich denke an das Steuerabkommen mit der Schweiz.Wir haben da 10 Milliarden Euro weggeschmissen.
Wir hatten da in Bezug auf Steuerehrlichkeit auch imVergleich zu England und den USA einen guten Kom-promiss mit den Schweizern erreicht – die Schweiz istimmerhin ein souveräner Staat –, der vor zehn Jahrenunter Hans Eichel unvorstellbar gewesen wäre. WelcheAmnestien hatte er den Schweizern angeboten? Wennman vergleicht, was Wolfgang Schäuble bei den Ver-handlungen im Ergebnis erreicht hat und was HansEichel damals der Schweiz angeboten hat, dann erkenntman: Es ist eine politische Bankrotterklärung, wie ihreuch derzeit verhaltet.
Ihr wollt, dass die Erbschaftsteuer angehoben wird.Frau Andreae, Sie haben in diesem Zusammenhang diemangelnde Gerechtigkeit beklagt. Ich sage Ihnen: Wennes einmal ganz gerecht zugeht, haben Sie und ich schonlange keine Zahnschmerzen mehr. Der Bundesrat hatseinerzeit einer Senkung der Erbschaftsteuer zuge-stimmt, weil man zu der Überzeugung gekommen ist,dass man nur den Ertrag eines mittelständischen Leis-tungsträgers, der eine Firma übernommen hat, besteuernsolle, aber nicht so sehr in die Substanz gehen solle.Denn es bestand nun einmal die Sorge: Wer übernimmtbei der hohen Steuerbelastung, die sich aus einer Be-rücksichtigung des Verkehrswerts bei der Besteuerungergäbe, die mittelständischen Unternehmen?Beim Thema Vermögensteuer möchte ich zur ge-schichtlichen Aufklärung beitragen. Herr Kollege Poß– er ist leider nicht mehr da, aber es wird ihm sicher mit-geteilt – hat vorhin gesagt, bei Helmut Kohl habe es eineSteuerbelastung in Höhe von 53 Prozent gegeben.Insgesamt war es so: Wir brauchten die Mittel für dieFinanzierung der deutschen Wiedervereinigung. Wir ha-ben die Steuererhöhung damals mit Stolz beschlossen,und wir haben sie mit Stolz vertreten. Später konnte manSteuerentlastungen vornehmen. Gerhard Schröder wardamals klug genug – er wurde auch von der Union imBundesrat getrieben –, dafür zu sorgen, dass der Steuer-standort Deutschland international wieder attraktiv wird.Diesen erfolgreichen Weg wollen Sie jetzt mit Ihren Vor-schlägen verlassen.Meine Damen und Herren, ich komme zum ThemaVermögensteuer. Sie wollen da für einen bürokratischenWust sorgen. Wir, die Union, haben die Vermögensteuer1997 abgeschafft, verbunden mit dem Hinweis, dassallein 50 Prozent des Ertrags aus dieser Substanzsteuerin die Verwaltung flossen. Und wenn man die Vermö-gensteuer jetzt wieder neu aufzöge, dann ergäben sichwieder ähnliche Problemlagen wie damals bei der Fami-lie Engelhorn; Rot-Grün hatte damals damit zu kämpfen.Diese Familie hatte eine Holding auf den Bermudas oderin der Karibik, die den Erlös von 10 Milliarden aus demVerkauf einer Firma in Mannheim verwaltete; ich willjetzt nicht den Namen nennen. In der Konsequenz warbei den Superreichen, die nicht bereit waren, die Spit-zensteuern in Deutschland zu zahlen, eine Vermögens-verlagerung, eine Kapitalflucht angesagt, wie man siederzeit in Frankreich erlebt. Das wollen Sie wieder.
Herr Kollege!
Ich komme zum Schluss, Frau Präsidentin.
Liebe Freunde von der Opposition, schön, dass Sie
diese Erklärung abgegeben haben. Die erste Abrechnung
findet am kommenden Sonntag statt.
Herr Kollege!
Sie sind nicht fähig, diesen Staat wirtschafts- und er-tragsorientiert zu führen. Deswegen wird Ihnen auchnicht die Verantwortung übertragen.Danke schön.
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Die Aktuelle Stunde ist damit beendet.Ich rufe Tagesordnungspunkt 11 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
– zu dem Antrag der Abgeordneten UweSchummer, Albert Rupprecht ,Michael Kretschmer, weiterer Abgeordneterund der Fraktion der CDU/CSU sowie der Ab-geordneten Heiner Kamp, Dr. MartinNeumann , Sylvia Canel, weitererAbgeordneter und der Fraktion der FDPDas deutsche Berufsbildungssystem – Versi-cherung gegen Jugendarbeitslosigkeit undFachkräftemangel– zu dem Antrag der Abgeordneten Willi Brase,Dr. Ernst Dieter Rossmann, Dr. Hans-PeterBartels, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDJugendliche haben ein Recht auf Ausbil-dung– zu dem Antrag der Abgeordneten AgnesAlpers, Nicole Gohlke, Dr. Rosemarie Hein,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEPerspektiven für 1,5 Millionen junge Men-schen ohne Berufsabschluss schaffen – Aus-bildung für alle garantieren– zu dem Antrag der Abgeordneten Kai Gehring,Brigitte Pothmer, Ekin Deligöz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMit DualPlus mehr Jugendlichen und Be-trieben die Teilnahme an der dualen Ausbil-dung ermöglichen– Drucksachen 17/10986, 17/10116, 17/10856,17/9586, 17/12089 –Berichterstattung:Abgeordnete Uwe SchummerWilli BraseHeiner KampAgnes AlpersKai GehringHierüber soll eine Stunde debattiert werden. – Damitsind Sie einverstanden. Dann werden wir so verfahren.Als erster Rednerin gebe ich der BundesministerinDr. Annette Schavan das Wort.
Dr. Annette Schavan, Bundesministerin für Bil-dung und Forschung:Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Die Sicherung der Zukunfts-chancen der jungen Generation gehört zu den vornehms-ten Aufgaben einer Gesellschaft und der Politik.Wir erfahren es immer deutlicher: Einen wesentlichenBeitrag zu diesen Zukunftschancen der jungen Genera-tion leisten die berufliche Bildung, die duale Ausbildung,die Kooperation der Lernorte, die Unternehmen und dieSchule. Deshalb gehört an den Beginn jeder Rede zurberuflichen Bildung der Dank an die vielen, die in unse-ren Unternehmen ausbilden, sowie der Appell, dass wirdiese Erfolgsgeschichte der Ausbildung in Deutschlandfortschreiben.
Im Oktober haben wir hier schon einmal darüber dis-kutiert. Dabei ist auch die ganze Palette der Einzelfragendebattiert worden. Wir haben gute Zahlen: Die Zahl derabgeschlossenen Ausbildungsverträge liegt bei 551 271.Die Zahl junger Leute im Übergangssystem ist seit demJahr 2005 um 30 Prozent zurückgegangen. Bei der Be-nachteiligtenförderung sind wir erfolgreich; die Bil-dungsketten finden eine große Akzeptanz. Das zeigt,dass wir uns um Jugendliche, die sich schwertun, zu ei-nem frühen Zeitpunkt kümmern, sie begleiten und Sorgedafür tragen, dass sie in eine Ausbildung kommen. Au-ßerdem haben wir eine Reduzierung der Zahl derjenigenzu verzeichnen, die keinen Schulabschluss haben.Wir wissen – Herr Brase hat es damals schon ge-sagt –, dass gute Zahlen viele Gründe haben. Dazu ge-hört die Demografie. Dazu gehört aber auch kluge Poli-tik, meine Damen und Herren. Was ist also bishererreicht worden? Was liegt noch vor uns? Was wollenwir bewältigen?Erreicht worden ist in allen Bereichen und in allenRegionen Deutschlands eine deutliche Verbesserung derSituation von jungen Leuten und deren Chancen.Die Einstellung hat sich sowohl international als auchin Europa geändert. Die Zeiten sind vorbei, in denen derEindruck erweckt werden konnte, dass der Prozentsatzderer, die einen Hochschulabschluss erreicht haben, überdie Leistungsfähigkeit eines Bildungssystems entschei-det. Wir wissen heute: Die Leistungsfähigkeit einesBildungssystems ist ganz wesentlich abhängig von derKorrespondenz zwischen Bildungs- und Beschäftigungs-system. Deshalb ist die Internationalisierung der beruf-lichen Bildung voll im Gang. Das ist ebenfalls ein großerErfolg, auch mit Blick auf die Veränderung der Mentali-tät.
Was wird wichtig? Woran arbeiten wir? Ziel ist dieEuropäisierung. Im Dezember hat hier eine Konferenzunter Beteiligung von sechs europäischen Ländern statt-gefunden. Wir brauchen das EU-Starter-Programm. Wirbrauchen eine Strategie aller Länder, um den 7,5 Millio-nen Jugendlichen im Alter von bis zu 25 Jahren in Eu-ropa eine Chance auf einen Einstieg in Qualifizierungund in Ausbildung zu geben. Viele Ausbildungsplätzesind in Deutschland zur Verfügung gestellt worden. Dasist aber nur ein kleiner Teil. Der größere Teil ist in denentsprechenden Ländern zur Verfügung gestellt worden.
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Bundesministerin Dr. Annette Schavan
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Es gilt für südeuropäische Länder ebenso wie fürLänder im Norden Europas wie Dänemark, Vorausset-zungen zu schaffen, um diesen Teil eines leistungsfähi-gen, modernen Bildungssystems aufzubauen. Die Euro-päisierung der beruflichen Bildung wird uns in dennächsten Monaten – und ich behaupte, auch in dennächsten Jahren – noch stark beschäftigen.Zweiter Punkt. Ich habe von dem 30-prozentigenRückgang der Zahl junger Leute im Übergangssystemgesprochen. Unser Ziel muss sein, in den nächsten zwei,drei Jahren das Übergangssystem auf null zu bringen,das heißt, eine wirkliche Korrespondenz zu gewährleis-ten: Schulabschluss und dann Einstieg in die duale Aus-bildung.
Drittens. Wir wollen erreichen, dass die guten Erfah-rungen mit den Bildungsketten dazu führen, dass überall,flächendeckend, entsprechende Angebote gemacht wer-den. Die Initiative hat jetzt 450 000 Jugendliche erreicht.18 000 Jugendliche werden durch Berufseinstiegsbeglei-ter eng betreut. Schon der Titel „Berufseinstiegsbeglei-ter“ macht deutlich: In der Benachteiligtenförderung,also im Umgang mit denen, die sich schwertun, dürfenwir nicht mit großen Gruppen arbeiten, sondern wirmüssen immer stärker individuell begleiten. Das ist an-spruchsvoll – es gibt übrigens viele, die das nahezu eh-renamtlich tun –, aber es zeigt sich: Das ist der wirk-samste Weg, junge Menschen zu ermutigen und ihneneine Art Navigationsmöglichkeit an die Hand zu geben.Das soll überall in Deutschland möglich werden.
Viertens. Wir arbeiten weiter an der Durchlässigkeitzwischen allgemeiner und beruflicher Bildung. 16 Län-der haben formal die bisher beim Übergang von der be-ruflichen Bildung zu einem Hochschulstudium beste-hende Hürde abgebaut.Es sind viele konkrete Voraussetzungen, etwa bei derStudieneingangsphase, notwendig, damit derjenige, deraus dem Berufsleben kommt, im Studium tatsächlich er-folgreich sein kann. Ich bin zutiefst davon überzeugt:Wenn es um Weiterbildung geht, dann werden die Insti-tutionen der beruflichen und der allgemeinen Bildungimmer stärker zusammenarbeiten.Herzlichen Dank an alle, auch im Ausschuss, die ih-ren Schwerpunkt auf die berufliche Bildung legen.Deutschland spielt nicht nur nach innen, sondern immerstärker auch nach außen – zunächst in Europa, aber auchin Ländern wie Indien, China und anderen – eine wich-tige Rolle, wenn es darum geht, Möglichkeiten der Teil-nahme an moderner, weiterentwickelter beruflicher Bil-dung zu eröffnen. Damit leisten wir einen gewichtigenBeitrag für die Sicherung der Zukunftschancen der jun-gen Generation.Vielen Dank.
Willi Brase hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir erleben im Mo-ment, dass die Bereitschaft der Unternehmen, Ausbil-dungsplätze zur Verfügung zu stellen, offensichtlich auf-grund der sich abschwächenden Konjunktur etwasnachlässt. Das BIB hat das untersucht – die Zahlenhaben Sie selber gelesen –: Wir haben circa 14 500 we-niger angebotene Ausbildungsplätze, und wir haben14 200 weniger Bewerberinnen und Bewerber.Frau Ministerin – Sie haben es eben angesprochen –,wir haben hier schon mehrfach darüber diskutiert, waswir mit den immer noch fast 300 000 jungen Menschenim sogenannten Übergangsbereich machen. Ich will garnicht von „Übergangssystem“ sprechen, weil es eigent-lich kein System sein soll, sondern ein Übergangsbe-reich.Sowohl im nationalen Bildungsbericht als auch imBerufsbildungsbericht wurde deutlich aufgeführt, dass80 Prozent der dort verweilenden Jugendlichen entwedereinen Hauptschul- oder einen mittleren Abschluss ha-ben; teilweise haben sie die Zugangsberechtigung fürFachhochschulen oder sogar für Hochschulen. Das mussman sich einmal vorstellen. Auf der anderen Seite wirdderzeit darüber debattiert, dass immer mehr Jugendlichenicht ausbildungsreif sind. Ich finde, wenn so viele jungeMenschen mit einer so guten schulischen Qualifikationin diesem Bereich verharren, dann läuft etwas schief.Dann sind die Maßnahmen, die wir bisher ergriffen ha-ben, offensichtlich nicht ausreichend.
Sie haben das Problem der Unternehmen, die Ausbil-dungsplätze nicht besetzen können, im Berufsbildungs-bericht beschrieben. Sie empfehlen den Unternehmen,die Ausbildungsplätze, die nicht besetzt sind, der Agen-tur für Arbeit zu melden. Das kennen wir. Sie wollen ersteinmal abwarten und beobachten. Ich glaube, es hilft unsan der Stelle nicht weiter, wenn wir nur abwarten undbeobachten. Wir müssen uns schon überlegen, warumvon den 56 oder 57 Prozent der Betriebe, die ausbil-dungsfähig sind – der Rest ist nicht ausbildungsfähig –,nur 22 oder 23 Prozent ausbilden. Wenn der Pakt fürAusbildung und Qualifikation einen Sinn haben soll,dann müssen im Rahmen dieses Paktes endlich Maßnah-men beschlossen werden, damit mehr Unternehmen be-triebliche Ausbildungsplätze anbieten.
Wir führen eine Fachkräftedebatte. Wir brauchen we-sentlich mehr junge Leute, die eine duale, betrieblicheAusbildung absolvieren. Gleichzeitig wird über den eu-
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Willi Brase
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ropäischen Zusammenhalt diskutiert. Es gibt ein neuesProgramm dazu. Leider habe ich die Unterlagen amPlatz liegen lassen.
– Das ist aber toll. – Entschuldigung, Frau Präsidentin.
Bewegung tut uns allen immer gut.
Ich weiß. Ich rede dafür etwas schneller.Das Arbeitsministerium hat uns Informationen zu ei-nem wunderbaren Programm auf den Tisch gelegt, mitdem junge Leute aus Spanien, aus Portugal und ausGriechenland für eine Ausbildung in Deutschland ge-wonnen werden sollen. Es geht um 130 Millionen Euro.Wenn man sich das durchliest, denkt man: Donnerwet-ter! Da ist man mit großer Gründlichkeit vorgegangen:Finanzierung eines Deutschsprachkurses im Herkunfts-land, Anreisekostenpauschale fürs Bewerbungsgespräch,Anreisekostenpauschale für die Aufnahme des ausbil-dungsvorbereitenden Praktikums, Rückreisekostenpau-schale nach Beendigung des ausbildungsvorbereitendenPraktikums, Anreisekostenpauschale für die Aufnahmeder betrieblichen Berufsausbildung, Reiserücktrittskos-tenpauschale bei vorzeitiger Beendigung usw. usf. – Dashört sich wunderbar an. Wenn man alles zusammenrech-net, kommt man auf eine Summe zwischen 27 000 und32 000 Euro für drei Jahre.Das hört sich erst einmal gut an. Ich habe mit ver-schiedenen Leuten aus dem Bereich der Industrie- undHandelskammern gesprochen. Sie schlagen die Händeüber dem Kopf zusammen und sagen: Warum sollen wirjetzt wieder Ausbildungsplätze alimentieren, wenn wires noch nicht einmal schaffen, den jungen Leuten, diemit einem guten Schulabschluss im Übergangsbereichhängen, eine Perspektive zu geben? Es schlägt doch demFass den Boden aus, wenn ein Unternehmen einfach sa-gen kann: Ich nehme mir schnell einen jungen Spanier.Der wird wunderbar vorbereitet, und ich gebe ihm einegeringe Ausbildungsvergütung; denn bis zu 818 Eurobezahlt der Staat. – Dazu kann ich nur sagen: Wenn wirden Betrag, der zur Förderung eines solchen Ausbil-dungsplatzes vorgesehen ist, mal zwei nehmen, könnenwir dafür einen Schulsozialarbeiter einstellen. Das wäreangesichts der Probleme, die wir in manchen Schulenhaben, wesentlich sinnvoller.
Ich fordere Sie dringend auf, zu überlegen, ob eine der-artige Alimentierung von Ausbildungsplätzen vor demHintergrund der aktuellen Zahlen in unserem Land tat-sächlich der richtige Weg ist.Wir wollen alle jungen Leute in unserem Land mit-nehmen. Deshalb schreiben wir als SPD in unserem An-trag, dass wir so etwas wie eine Ausbildungsgarantie füreinen richtigen und guten Weg halten. Wenn es richtigist, dass wir zukünftig Fachkräfte brauchen werden,wenn es richtig ist, dass wir zahlreiche Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer brauchen, die eine duale Ausbil-dung absolviert haben, dann müssen entsprechende An-strengungen unternommen werden. Wir wollen denjungen Leuten signalisieren: Wir sorgen mit dafür, dassihr eine bessere Chance erhaltet. Mittlerweile bemühensich 16 Ministerien aus neun Bundesländern darum, diejungen Leute im Übergangsbereich wesentlich besser,schneller und zielgerichteter auf die Ausbildung vorzu-bereiten, damit sie eine bessere Chance erhalten.Ich möchte noch einen anderen Punkt ansprechen, dermittlerweile eine große Rolle spielt, den man beobachtenmuss. Wir haben hier vor einigen Jahren über die dop-pelten Abiturjahrgänge diskutiert. Wenn man das Ganzebetrachtet, auch die Erfolgsgeschichte des dualen Aus-bildungssystems, stellt man fest, dass das duale Systeman zwei Stellen ein Stück weit in die Zange genommenwird, wie ich glaube. Warum profitiert das duale Systemeigentlich nicht von den doppelten Abiturjahrgängen?Müssen wir dieser Frage nicht einmal nachgehen? Wa-rum haben wir das nicht erreicht, obwohl der Präsidentdes Deutschen Handwerkskammertages seit drei Jahrensogar mit großen Anzeigen um gute junge Leute– sprich: Abiturienten – wirbt? Warum ist das nicht ge-lungen?Darauf haben Sie bisher keine Antwort. Es gibt auchin Bezug auf den Ausbildungspakt keine Antwort vonIhnen bzw. von der Bundesregierung. Ich glaube, wennwir das so weiterlaufen lassen, laufen wir möglicher-weise Gefahr, dass das duale Ausbildungssystem zerrie-ben wird.Zweitens geht es um den Übergangsbereich. Ich kannund werde niemanden daraus entlassen, Folgendes zurKenntnis zu nehmen: Es gibt 300 000 junge Leute imÜbergangsbereich – im Prinzip sind das 300 000 zuviel –, die dort ohne Perspektive begleitet, bevormundet,betüttelt, manchmal auch ein bisschen qualifiziert wer-den und danach immer noch nicht wissen, wo sie landen.Wenn wir beide Bereiche – einmal betrifft das denEingangsbereich, wo es hin zur dualen Ausbildung geht,und zum anderen den Ausgangsbereich, wo es hin zurHochschule geht – nicht in den Griff bekommen, wirdunser duales System nicht mehr so gut weiter nach vornekommen, wie wir das allgemein – ich glaube, das istüberall Konsens – in der Diskussion hier wünschen undals gut ansehen. Über die von der Ministerin angespro-chenen Punkte kann man sehr trefflich und gut diskutie-ren. Darüber hinaus will ich noch einmal deutlich sagen:Wenn wir die Chancen der dualen Ausbildung weiterverbessern wollen, dann müssen wir endlich dafür sor-gen, dass die jungen Leute schneller und besser in diesesSystem hineinkommen.Ich meine, die Bundesregierung sollte – darauf wurdemehrfach hingewiesen – mit ihren Ressorts dafür sorgen,die Vielfalt der Maßnahmen in dieser Legislaturperiode
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26831
Willi Brase
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zu reduzieren. Etwas anderes wäre nicht förderlich. Sieselber sagen, dass die Vielfalt im Übergangsbereichfalsch ist. Dazu gibt es einen Kommentar, der lautet: Wirwollen schauen, dass die Bundesressorts – angefangenvom BMBF bis hin zum BMAS – das zukünftig beach-ten. – Das ist zu wenig. An dieser Stelle hat die Bundes-regierung ihre Hausaufgaben nicht genügend gemacht,liebe Kolleginnen und Kollegen.
Ich komme zum letzten Punkt, über den auch immerwieder diskutiert wird. Dabei geht es – ich habe dasschon einmal angesprochen – um die fehlende Ausbil-dungsreife. Wir sollten uns, glaube ich, davor hüten,pauschal zu sagen: Wir erleben jetzt Jahrgänge mit jun-gen Leuten, die nicht genügend ausbildungsreif sind.Immer mehr Bundesländer nehmen dieses Problem inForm von Berufsorientierung und Potenzialberatung inder achten Klasse – teilweise auch in der siebtenKlasse – in Angriff.Ich kann mir nicht vorstellen, dass man 80 Prozentder jungen Leute im Übergangsbereich sagt: Du bistnicht ausbildungsfähig. Vielleicht macht es, wenn wirbei den Betrieben eine Verbesserung erreichen wollen,Sinn, diese einmal zu fragen: Wie groß ist eigentlicheure Ausbildungsfähigkeit? Seid ihr immer in der Lage,die ausreichende Qualität zur Verfügung zu stellen?Werden die Ausbildungspläne tatsächlich eingehalten?Wie kommt es, dass der gesamte HOGA-Bereich, dasFleischereihandwerk, das Nahrungs- und Genussmittel-handwerk echte Probleme haben, Auszubildende zubekommen? Hat das nicht auch etwas mit Betriebsstruk-turen zu tun? Hat es nicht auch etwas mit konkretenAusbildungsbedingungen – mit Überstunden etc. – zutun?Wenn man das Bildungssystem und die duale Ausbil-dung nach vorne bringen will, dann muss man auch dasKreuz durchdrücken, mit den Unternehmen reden unddort, wo es notwendig ist, Verbesserungen bzw. mehrQualität auf den Weg bringen. Denn nur mit Qualitätwird dieses gute duale System auch in Zukunft eineChance haben.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Heiner Kamp hat das Wort für die FPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Lieber Herr Brase, möchtenSie mir einmal kurz zuhören? Ich lade Sie herzlich inmeinen Wahlkreis Gütersloh ein. Ich komme aus Vers-mold. Dort ist man unter anderem in der Ernährungs-wirtschaft sehr stark. Es gibt da hervorragende Ausbil-dungsbetriebe, die super strukturiert sind. Diese habeneinfach Schwierigkeiten, Auszubildende zu bekommen.Die Auszubildenden, die dort ihre Ausbildung absolvie-ren, machen das mit sehr großem Erfolg. Die Aus-bildungsbetriebe geben sich allergrößte Mühe, diesenJugendlichen den besten Übergang in ihren Beruf zu er-möglichen. Ich finde, das sollte man auch einmal aner-kennen, und nicht alles sollte schlechtgeredet werden.
Der Berufsbildungsbericht unterstreicht erneut, dassdas duale Ausbildungssystem ein Erfolgsmodell ist.Darüber haben wir uns in den vergangenen Monatenausgiebig ausgetauscht. Wir sind uns da fraktionsüber-greifend einig. Deutschland geht es gut. Die hervorra-gend ausgebildeten Fachkräfte, die unser Ausbildungs-system hervorbringt, sind eine zentrale Stütze für denwirtschaftlichen Erfolg unseres Landes. In der bisheri-gen Debatte hat mich gestört – das missfällt mir auchsonst im Alltag oft –, dass es mangelnde Anerkennungfür Menschen mit beruflicher Ausbildung und für unserdeutsches Berufsbildungssystem als solches gibt.Der durchschlagende Erfolg des dualen Ausbildungs-systems wird erst langsam sichtbar. Es gab und gibt im-mer noch diejenigen, die behaupten, eine akademischeAusbildung sei die „Krone der Schöpfung“, dasNonplusultra. Doch es ist einfacher geworden, die Vor-züge des Berufsbildungssystems darzustellen und sichfür diesen Pfad der Qualifizierung einzusetzen. Das warleider beileibe nicht immer so.Mittlerweile haben auch die großen Freunde der re-glementierten, monolithisch verschulten Bildungs-systeme mitbekommen, welchen Vorteil es in sich birgt,ein differenziertes System der Qualifizierung, die dualeBerufsausbildung und die Hochschule, zu besitzen. Wirsind Vorbild für Europa. Das zeigt das ungebrocheneInteresse der Besuchergruppen aus aller Welt, die zu unskommen.Deshalb gilt es, das große Engagement aller in der be-ruflichen Bildung Aktiven ausdrücklich zu würdigen.Viel zu selten erkennen wir die guten Leistungen in un-serem Land an.Wenn gute Reden sie begleiten,Dann fließt die Arbeit munter fort.So sagte es schon Schiller. Deshalb lassen Sie mich al-len, die zum Erfolg der beruflichen Bildung in Deutsch-land beitragen, ein herzliches Dankeschön und „Weiterso!“ zurufen.
Die FDP steht an ihrer Seite und wird sich vehement da-gegen wehren, dass Sand in das gut geölte Räderwerkgestreut wird.Sie merken, damit bin ich bei den rot-grünen Vorstel-lungen. Die Grünen werden ja gemeinhin als Prophetendes Weltuntergangs gehandelt.
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Heiner Kamp
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Wovor hat man nicht alles gewarnt? Faxgerät, Internet,Biotechnik und künstliche Verfahren, zum Beispiel beider Herstellung von Insulin. Das Risiko wird von denGrünen immer höher bewertet als die Chance. Nur beiExperimenten mit unserem Bildungssystem und denChancen unserer Kinder und Jugendlichen trauen sichdie Grünen plötzlich ganz viel zu. Da werden gut funk-tionierende Bildungszweige zerstört.Ein wunderbares Beispiel vom grünen Schrottplatzder Zukunft: Unser herausragendes und international ze-lebriertes Modell der Berufsausbildung soll durch dasgrüne DualPlus-Konstrukt zerstört werden. Niemand– ich muss es in jeder Rede wiederholen, damit Sie esvielleicht irgendwann verstehen –, wirklich niemandwill diesen grünen Quark. Dennoch wird er uns immerwieder von Ihnen aufgetischt. Selbst beim aktuellenKanzlerkandidaten der SPD bin ich mir unsicher, ob erdiese grüne Plörre löffeln würde, liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen.
Das Prädikat „schädlich“ trägt auch die SPD-Forde-rung nach einem Recht auf Ausbildung. Wir brauchenkeine Ausbildungsplatzgarantie. Der erfolgreiche Aus-bildungspakt ist ein Beispiel dafür, dass die Unterneh-men ihrer Verantwortung gerecht werden. Dass es auchim ureigenen Interesse der Wirtschaft liegt, den Fach-kräftenachwuchs zu sichern, klingt zumindest im Ansatzaus Ihrem Antrag heraus. Doch ziehen Sie insgesamtwiederum die falschen Schlüsse. Gut für das beruflicheBildungssystem und gut für unser Land ist, dass Unionund FDP in Deutschland die Regierungsverantwortunghaben.
Das heißt, wir brauchen weder Zwangsabgaben nochStrafen für Ausbildungsbetriebe. Wir benötigen auchkein schulisches Ergänzungsmodell zu unserer erfolgrei-chen dualen Ausbildung. Basis für den Erfolg der beruf-lichen Bildung in Deutschland ist, dass Jugendlichesolche Ausbildungsberufe ergreifen, die von den Unter-nehmen angeboten werden und in denen sie Beschäftigtebenötigen. Das sichert den Fachkräftenachwuchs undsorgt für die ausgezeichneten Übergangsquoten in Be-schäftigung. Deshalb blickt man aus Europa bewun-dernd auf unsere niedrige Jugendarbeitslosigkeit.
In unserem Antrag benennen wir die Herausforderun-gen und machen sachgerechte Vorschläge für einezukunftsgerichtete Weiterentwicklung der beruflichenBildung in Deutschland. Insbesondere sind dies der Aus-bau der Berufsorientierung, die Steigerung der Auslands-erfahrung während der Ausbildung – sie ist wichtig ineiner globalisierten Welt –, die weitere Stärkung derEinstiegsqualifizierung als Brücke in Ausbildung fürLeistungsschwächere, die Steigerung der Begeisterungfür MINT-Fächer und die Ausbreitung der internationa-len Akzeptanz der deutschen Berufsbildung.Dafür werden wir gemeinsam arbeiten. Dafür werdenwir im Herbst bestätigt, und dafür wird am Sonntag dieerfolgreiche niedersächsische Landesregierung bestätigt.Vielen Dank.
Agnes Alpers hat jetzt das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Bei HerrnKamp haben wir es gerade wieder erlebt: Kaum tauchtdas Wort Berufsbildungspolitik auf, klopfen Sie sich aufdie Schultern und erzählen uns, wie gut die duale Aus-bildung ist.
Da sind wir uns doch alle einig, Herr Kamp, da gibt esdoch gar keinen Widerspruch. Als Linke wollen wir dasduale System stärken und vor allem Ausbildung für allegarantieren.
Denn immer noch erhalten nur zwei Drittel der ausbil-dungsinteressierten Schulabgängerinnen und Schulab-gänger einen Ausbildungsplatz. Immer noch befindensich 300 000 junge Menschen im sogenannten Über-gangssystem. Allein in Niedersachsen waren im letztenJahr 48 000 junge Menschen dort untergebracht; das ent-spricht 37,5 Prozent der Schulabgänger. Niedersachsenbelegte damit direkt hinter Baden-Württemberg Spitzen-platz zwei. Das ist doch ein Armutszeugnis, meineDamen und Herren.
Immer noch haben wir 2,2 Millionen Menschen zwi-schen 20 und 34 Jahren ohne Berufsabschluss zu ver-zeichnen.
Nur die Hälfte von ihnen ist erwerbstätig. Ohne Ausbil-dung werden sie ihre Lebenssituation nicht verändernkönnen. Auch das ist ein Armutszeugnis.Wir fordern in unserem Antrag ein umfangreichesSofortprogramm, um Ausbildung für alle zu garantieren.Vor drei Monaten hat die Koalition einen Antrag vorge-legt, den sie als – ich zitiere – „Versicherung gegen Ju-gendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel“ bezeichnethat. Dieser Antrag ist ein Sammelsurium von Absichts-erklärungen. So wollen Sie beispielsweise die Anzahlder Azubis mit Auslandserfahrung erhöhen;
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Agnes Alpers
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aber wie, das wird nicht gesagt. Die informell erwor-benen Kompetenzen sollen gemessen und anerkanntwerden. Das ist gut; aber wie, das wird nicht gesagt. DieBildungsprämien wollen Sie weiterentwickeln. Auch dasist gut;
aber wie, dazu sagen Sie nichts. In diesem Antrag benen-nen Sie keine Programme und keine Konzepte, wie dieAusbildungskrise bewältigt und überwunden werdenkann. Einen solchen Antrag als „Versicherung gegenJugendarbeitslosigkeit und Fachkräftemangel“ zu be-zeichnen, das sind nur fromme Wünsche.
Die Ausbildungsmisere will die Koalition nun folgen-dermaßen lösen:Erstens. CDU/CSU und FDP setzen auf den demo-grafischen Wandel. Für sie hat sich bereits in den letztenJahren ein Paradigmenwechsel auf dem Ausbildungs-stellenmarkt vollzogen. Es gebe mehr Stellen als Ausbil-dungsinteressierte, sagen Sie. Ich sage Ihnen: Dasstimmt nicht; denn es gibt noch 2,2 Millionen Menschenbis 34 Jahre ohne Berufsabschluss. Oder wollen Sie unshier und heute weismachen, dass all diese Menschenkein Ausbildungsinteresse haben?
Frau Schavan sagte gerade, dass sie das Übergangs-system in den nächsten Jahren auf null herunterfahrenwill. Das Bundesinstitut für Berufsbildung stellte aller-dings fest, dass sich dort trotz des demografischenWandels langfristig noch über 200 000 junge Menschenbefinden werden.
Fakt ist, dass die soziale Herkunft nach wie vor die Zu-kunft dieser jungen Menschen bestimmt. Hauptsächlichhandelt es sich um junge Menschen mit niedrigemSchulabschluss, Menschen mit Behinderung, Frauen undMenschen mit Migrationshintergrund. Diese Ausgren-zung müssen wir endlich stoppen.
Zweitens wollen CDU/CSU und FDP gemeinsam mitder Wirtschaft Formen finden, mit denen man die – ichzitiere – „soziokulturellen Milieus“ ansprechen kann.Das ist verlogen; denn gleichzeitig bezeichnen Sie in Ih-rem Antrag alle Menschen mit Migrationshintergrundals Ausländer, bei denen die mangelnde Ausbildungs-reife klar auf der Hand liege, da die Hälfte von ihnen imÜbergangssystem beginne. Mit anderen Worten: Die eth-nische Herkunft, der Migrationshintergrund, ist schuld.Meine Damen und Herren, all diese jungen Menschensind in Deutschland geboren. Ihre Familien leben oftschon seit Generationen hier. Viele haben einen deut-schen Pass. Sie wollen hier leben und sich beteiligen.Aber Sie bezeichnen all diese Menschen trotz jahrzehn-telanger Integrationspolitik immer noch als Ausländer.Das ist unfassbar!
Zwei Drittel dieser Menschen bekommen keinen Ausbil-dungsplatz, weil sie Ali oder Aische heißen,
selbst dann nicht, wenn sie einen guten Realschul-abschluss oder sogar Abitur haben. Meine Damen undHerren von der Koalition, wer Diskriminierung undVorurteile in einem eigenen Antrag schürt, verschärft diesoziale Ausgrenzung. Wir Linken lehnen eine solchePolitik ab.
Drittens. Auch das Argument, eine wesentliche Ur-sache der Misere sei die mangelnde Ausbildungsreifeder jungen Menschen, nehmen wir Ihnen nicht ab. Wirhaben gehört, dass sich 80 Prozent dieser jungen Men-schen deshalb in dem sogenannten Übergangssystem be-finden, weil keine passenden Ausbildungsplätze vorhan-den sind. Das kann doch nicht sein. Was die anderen20 Prozent angeht, sagen wir ganz klar: Jeder muss indi-viduell so unterstützt werden, dass er nach der Maß-nahme verlässlich in Ausbildung geht. Es kann dochnicht sein, dass Hauptschüler im Durchschnitt zweiein-halb Jahre im Übergangssystem verbringen und danachvielleicht doch keinen Ausbildungsplatz erhalten und alsungelernte Kräfte in prekärer Arbeit landen. Damit müs-sen wir Schluss machen.
Viertens. Frau Schavan, in Ihrer letzten Rede zum Be-rufsbildungsbericht im Oktober 2012 haben Sie Ausbil-dungsgarantie und Umlagefinanzierung als – ich zitiere –„alte Klamotte“ bezeichnet. Sie setzen auf das freiwil-lige und hochverantwortliche Engagement der Unterneh-men. Heute haben 2,2 Millionen Menschen bis 34 Jahrekeinen Berufsabschluss. Dennoch haben die Betriebe imletzten Jahr 10 000 Ausbildungsplätze weniger angebo-ten als 2011. In diesem Zusammenhang verweisen Sieauf gute Zahlen bei den abgeschlossenen Ausbildungs-verträgen. Laut BIBB hat die Zahl der abgeschlossenenAusbildungsverträge seit der Wende jedoch einen neuenTiefstand erreicht. Frau Schavan, Ihre freiwillige Selbst-verpflichtung hat noch nie funktioniert.Mit unserem Antrag wollen wir nicht nur das Rechtauf eine qualifizierte Ausbildung für alle garantieren,wir sagen auch: Wir wollen kleine Betriebe fördern,wenn sie zum ersten Mal ausbilden, wenn sie zusätzlicheAusbildungsplätze anbieten, wenn sie im Verbund aus-bilden. Wir wollen alle Betriebe unterstützen, die genaudie in Ausbildung bringen, die häufig ausgegrenzt sind:
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Agnes Alpers
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Menschen mit niedrigen Schulabschlüssen, Menschenmit Migrationshintergrund, Menschen mit Behinderung,Frauen.Ich komme zum Schluss. Fest steht doch: Ausbildungfür alle ist nur mit einem Recht auf Ausbildung und miteiner Ausbildungsumlage umzusetzen.Vielen Dank.
Kai Gehring hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Sehr geehrte Damen und Herren! Die katastrophale Ju-
gendarbeitslosigkeit ist eines der drängendsten Probleme
in Europa. Dass in Spanien und Griechenland jeder
zweite Jugendliche arbeitslos ist, ist zutiefst beunruhi-
gend. Eine Jugend ohne Perspektive birgt sozialen
Sprengstoff. Diese alarmierende soziale Krise ist eine
Folge der Finanzkrise.
Als solidarische Europäer muss es uns umtreiben,
dass eine ganze Generation junger Europäer abgehängt
zu werden droht.
Die Bundesregierung hat die Hiobsbotschaften viel zu
viele Monate auf die leichte Schulter genommen, die
Probleme treiben lassen. Für ein soziales Europa steht
Schwarz-Gelb sicherlich nicht.
Dass jetzt endlich, angetrieben aus Brüssel, reagiert
wird und versucht wird, die berufliche Bildung europa-
weit zu stärken, ist richtig und war lange überfällig.
Das breite Interesse anderer Länder an unserer dualen
Ausbildung zeigt, dass sie geschätzt wird. Unser Be-
rufsbildungssystem ist aber kein Allheilmittel, zu einer
kurzfristigen Bekämpfung der Jugendarbeitslosigkeit in
Krisenländern taugt es nicht. Ohne mutige Investitions-
programme zur Ankurbelung der Wirtschaft, ohne Be-
schäftigungsimpulse für Jugendliche und ohne einen
fairen Einstieg in den Arbeitsmarkt nutzt den Krisenlän-
dern der bloße Import unserer dualen Ausbildung wenig;
dann bliebe die ausgerufene Europäische Jugendgarantie
ein hohles Wort. Das zu sagen, gehört zur Redlichkeit in
dieser Debatte dazu, Frau Ministerin.
Das Hochloben des Exportschlagers duale Ausbil-
dung darf nicht von den vielen Herausforderungen ab-
lenken, die die Bundesregierung hierzulande endlich an-
packen muss. Auch hier ist nicht alles Gold, was die
Regierung als solches verkaufen will. Ja, Bund und Län-
der haben in den letzten Jahren die Zahl der Schulabbre-
cherinnen und Schulabbrecher verringert.
Aber welche Chancen haben denn die 50 000 in jedem
Jahr, die die Schule ohne Schulabschluss verlassen?
Hamburg und Nordrhein-Westfalen zeigen strukturelle
und nachhaltige Initiativen.
Was hat Frau Schavan seit 2005 getan? Fast nichts.
Bildungsketten, Frau Schavan, sind gut; aber sie sind
viel zu kurz. Tausend hauptamtliche Berufsbegleiter bei
16 000 Schulen und 4,5 Millionen Schülerinnen und
Schüler, die sie brauchen könnten – das ist ein Tropfen
auf den heißen Stein.
Mit welchen Maßnahmen senkt die Bundesregierung
die Zahl derjenigen, die ihre Ausbildung abbrechen? Die
Abbruchquote ist zuletzt sogar auf 23 Prozent gestiegen.
In einzelnen Berufen liegt sie bei über 40 Prozent. Das
wirft Fragen nach der Ausbildungsqualität auf. Denen
müssen Sie sich endlich stellen.
Was wird aus den noch immer knapp 300 000 Jugend-
lichen, die nach der Schule in Maßnahmen des Über-
gangssektors feststecken? Diese Maßnahmen haben sich
doch vor allem als Warteschleifen ohne Mehrwert für
diese Jugendlichen erwiesen.
Ich sehe weit und breit kein Konzept dafür, wie die Re-
gierung diese Jugendlichen zügig zum Berufsabschluss
führen will. Nur auf demografische Effekte zu hoffen,
reicht nicht. Sie müssen handeln!
Auch infolge dieses Maßnahmendschungels stehen
hier inzwischen mehr als 2 Millionen bis 34-Jährige
ohne Berufsabschluss da. Das ist skandalös. Das sind un-
gelöste Probleme hierzulande. Die Bildungs- und die Ar-
beitsministerin müssen hier endlich eine Initiative vorle-
gen, statt die Mittel für die Arbeitsförderung zu kürzen.
Herr Gehring, der Kollege Feist würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen. Möchten Sie die zulassen?
Ja, bitte.
Bitte.
Vielen Dank, Herr Kollege Gehring. – Immer wiederist in den Reden von der Schwierigkeit des Übergangs-systems gesprochen worden. Natürlich ist uns allen klar,
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Dr. Thomas Feist
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dass eine gute duale Ausbildung besser ist. Einige Red-ner haben heute die Maßnahmen im Übergangssystemaber als Ausgrenzung und Sackgasse bezeichnet und indiesem Zusammenhang von Perspektivlosigkeit gespro-chen. Ich finde, damit wird die Leistung derjenigen, diesich im Übergangssystem gerade um die Schwächsten inder Gesellschaft kümmern, einfach in den Schmutz ge-zogen. Ich möchte von Ihnen wissen: Ist das Übergangs-system für Sie ohne jede Perspektive? Ja oder nein?
Ich habe es so verstanden, dass inzwischen selbstUnion und FDP sagen, wir müssten diese Warteschleifenverringern und den Übergangssektor reduzieren. Ichhabe inzwischen auch wahrgenommen – wir Grüne ha-ben sehr viele Jahre entsprechend argumentiert –, dassdieses Übergangssystem nicht als System, sondern alsSektor bezeichnet wird, in dem es auch viel Wildwuchsgibt. Selbstverständlich findet dort auch viel zur Integra-tion von Jugendlichen statt, aber die allermeisten Maß-nahmen sind eben nicht geeignet, um echte Perspektivenzu schaffen, sondern Warteschleifen, die den Einstieg indie Ausbildung verzögern.Die Ministerin hat hier gesagt, diesen Übergangssek-tor auf null reduzieren zu wollen. Das setzt politischesHandeln voraus. Deshalb kann das nicht einfach so wei-terlaufen. Wenn Sie an diesem Übergangssektor nichtsändern – das zeigen verschiedene Studien, zum Beispielauch vom BIBB –, dann werden auch in den nächstenJahren noch über 200 000 junge Menschen in diesemÜbergangssektor verbleiben. Das kann ja wohl nicht dasZiel sein, sondern wir wollen so schnell wie möglich soviele Jugendliche wie möglich in reguläre Ausbildungbringen.Es muss das Ziel sein, den Übergangssektor tatsäch-lich auf null zu senken. Dafür haben wir mit DualPlusauch ein gutes Konzept. Darauf komme ich gleich nocheinmal zurück.
Ungelernte und Geringqualifizierte haben ein höheresErwerbslosigkeitsrisiko als Menschen mit Berufsab-schluss. Deshalb ist auch klar: Unser Bildungssystemspaltet in Gewinner und Verlierer. Das darf diese Regie-rung nicht länger hinnehmen. Deshalb muss eine Jugend-garantie in Deutschland lauten: keinen Jugendlichenohne anständigen Abschluss lassen, keinen Jugendlichenin Perspektivlosigkeit und Abhängigkeit von Sozial-transfers schicken.
Ich danke für meine gesamte Fraktion an dieser Stelleallen Betrieben in Deutschland, die ausbilden; das istdoch selbstverständlich.
Ich danke vor allem den Betrieben, die bildungsfernenund benachteiligten Jugendlichen eine Chance geben.
Es müssen aber noch deutlich mehr werden. Daherappelliere ich an die Wirtschaft: Geben Sie Jugendlichenmit schlechten Startvoraussetzungen eine Chance. Eshilft niemandem, über Ausbildungsreife zu lamentieren.Sehen und wecken Sie die Potenziale in jedem Jugend-lichen!
Nur so bewältigen wir auch eine derzeit völlig ab-surde Situation: Es mangelt an Fachkräften, es mangeltvor allem in kleinen und mittleren Betrieben an Nach-wuchs. Aber selbst 2012 suchten noch 76 000 jungeMenschen einen Ausbildungsplatz. Besonders betroffenist mit dem Handwerk auch ein Herzstück unseres dua-len Ausbildungssystems. Ich sage Ihnen, Frau Schavan:Wenn Sie Fachkräftemangel bekämpfen wollen, danndürfen Sie sich nicht auf demografischen und konjunktu-rellen Effekten ausruhen. Sie müssen die ausbildungspo-litischen Herausforderungen anpacken.
Die Frage ist doch: Wie können wir die Lücke zwi-schen den Anforderungen der Betriebe und den vielfälti-gen Voraussetzungen junger Menschen schließen undechte Brücken in Ausbildung bauen? Unser grünes Aus-bildungskonzept DualPlus beantwortet diese Frage. Eszeigt, wie durch individuell angepasste Bausteine alleJugendlichen die einzelnen Schritte bis zu einem Berufs-abschluss schaffen können – ohne Warteschleifen undohne Maßnahmendschungel. Es zeigt, wie gerade imMarkt benachteiligte Jugendliche ergänzend zum dualenLernen in Berufsschule und Betrieb in überbetrieblichenAusbildungsstätten individuell gefördert und über diegesamte Ausbildung begleitet werden. Das hilft auchkleinen und spezialisierten Betrieben und solchen ohneAusbildungstradition. Sie können auch ausbilden, indemsie einzelne betriebliche Module anbieten. Für Jugend-liche und für Betriebe ist DualPlus ein ausbildungspoliti-scher Mehrwert, den wir nutzen sollten.
Die Zusammenarbeit in der beruflichen Bildung inEuropa ist das eine, das andere ist, eine schlüssige Ant-wort auf die Probleme hierzulande zu finden. Leidermuss ich sagen, auch in der beruflichen Bildung hatdiese Bundesregierung wenig bis nichts vorangebracht,sie hat nur von der guten Konjunktur profitiert. Es wirdhöchste Zeit für einen bildungspolitischen Wechsel.
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Uwe Schummer hat jetzt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Verehrtes Präsidium! Meine Damen! Meine Herren!
Die Harmonisierung des Übergangssystems von der
Schule zum Beruf ist genau das, was Annette Schavan
und wir gemeinsam in der christlich-liberalen Koalition
mit den Bildungsketten angeschoben haben. Wir haben
gesagt, dass wir möglichst in allen Schulen – Haupt- und
Realschulen, in den Gesamtschulen – drei Jahre vor der
Entlassung so etwas wie eine Potenzialanalyse durchfüh-
ren wollen. Wir wollen ermitteln, wo die Stärken und die
Schwächen der Schüler sind. Dabei wollen wir auch mit
externer Kompetenz arbeiten, mit Menschen, die in die
Schule kommen und diese Analyse mit den Lehrern ge-
meinsam durchführen. Wir wollen, dass bereits zwei
Jahre vor der Entlassung in den Schulen über überbe-
triebliche Werkstätten bestimmte Berufsfelder durchlau-
fen werden können. Das geht zwar nicht in allen 342 Be-
rufsbildern, aber es sollte zumindest möglich sein, beim
Kolpingwerk oder beim Handwerk schauen zu können,
welche Berufsfelder in den Bereichen Holz, Metall,
Hauswirtschaft, Gesundheit, Verwaltung für den Einzel-
nen spannend sind. Am Ende sollen dann die Schüler mit
den Lehrern, mit den Eltern und mit den Einstiegsbeglei-
tern überlegen, welche betrieblichen Praktika zum richti-
gen Beruf führen können. Das ist genau die Glättung, die
Harmonisierung, die wir mit den Bildungsketten umset-
zen.
Dafür finanzieren wir, Kollege Gehring, eben nicht nur
1 000 Einstiegsbegleiter, wie Sie es sagten, sondern
3 000.
Herr Schummer, Entschuldigung! Frau Alpers würde
Ihnen gern eine Frage stellen.
Frau Alpers, Sie haben eben lange geredet und falscheZahlen genannt. Ich werde jetzt meine Rede zu Endeführen.
Lesen Sie erst einmal die richtigen Zahlen, damit wir da-rüber dann auch miteinander diskutieren können.Das Berufsbildungsinstitut hat errechnet, dass dieAusbildungsvergütungen um 4,6 Prozent in diesem Jahrauf 730 Euro angestiegen sind. Das zeigt auch für dieUnternehmen: Hier ist der Wert der beruflichen Ausbil-dung gestiegen.Es sind insgesamt 30 Milliarden Euro, die neben denöffentlichen Mitteln des Bundes, der Länder und derKommunen von der Wirtschaft für Ausbildungsvergü-tungen, für Ausbildungswerkstätten und für Ausbildermobilisiert werden. Für diese besonderen Finanzierungs-leistungen in Deutschland sollten wir der Wirtschaft– neben dem Personal – danken.
Wir haben 342 Berufe, wir müssen aber feststellen,dass sich 88 Prozent der Schüler um etwa 149 Berufe be-werben. Also ist auch die Überlegung: Warum haben wirallein 54 verschiedene kaufmännische Berufsbilder?Lassen Sie uns doch einmal mit den Sozialpartnern undden Kammern überlegen, wie wir eine Zusammenfüh-rung von Berufsfeldern erreichen können. Nach demKonzept „Dual mit Wahl“ sollten wir eine gemeinsameGrundausbildung – beispielsweise im kaufmännischenBereich – einführen, die anderthalb oder zwei Jahre dau-ert. Darauf bauen dann die Spezialisierungen wie Reise-verkehrskaufmann, Industriekaufmann, Groß- und Au-ßenhandelskaufmann bis hin zum Fitnesskaufmann auf.Wir wollen die Gleichwertigkeit zwischen akademischerund beruflicher Bildung in einem europäischen Bil-dungsraum.
Die Europäische Kommission hat in ihrem Berichtzur Situation in Deutschland formuliert: Garant für dieHeranziehung qualifizierter Arbeitskräfte und eine nied-rige Jugendarbeitslosigkeit ist das duale Ausbildungs-system. – Gleichzeitig führen wir eine Debatte mit derEuropäischen Kommission darüber, dass beispielsweisefür den Pflegeberuf das Abitur erforderlich sein soll. Dasist ein Stück weit doppelzüngig, auch vonseiten der So-zialdemokratie.Während hier Willi Brase, alter, lieber Kollege, dasHohe Lied der dualen Ausbildung singt, will die Bericht-erstatterin der Sozialdemokraten im Europaparlament alldiejenigen, die nicht das Abitur haben, aus der Pflegebe-rufsausbildung ausgrenzen, die Tür für all diejenigen zu-schlagen, die vor der Pflegeausbildung kein Abitur ge-macht haben. Von den 40 000 Auszubildenden derzeit inDeutschland im Gesundheitsbereich – ob sie nun eineHebammen-, ob sie eine Pflegeausbildung absolvieren –haben 15 000 das Abitur. Alle anderen würden durch dieSozialdemokraten, und zwar durch ihre Berichterstatte-rin im Europaparlament zu dieser Thematik, EvelyneGebhardt, ausgegrenzt.Am 24. Januar wird hierüber im Europaparlamententschieden. Ob sie es mit der Stärkung der dualen Aus-bildung im europäischen Bildungsraum ernst meinen,das werden wir bei den Sozialdemokraten im Europapar-lament am 24. Januar feststellen, je nachdem, wie siedann abstimmen werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26837
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Herr Schummer, möchten Sie Herrn Rossmann die
Gelegenheit zu einer Zwischenfrage geben?
Herr Rossmann hat in der Regel richtige Zahlen. Des-
halb lasse ich die Frage gerne zu.
Herr Schummer, es soll nicht um Zahlen gehen, son-
dern um den Konsens, den Sie am Anfang angesprochen
haben. Ist es richtig, dass es in der deutschen Sozialde-
mokratie im Bundestag und in den Ländern sehr viele
andere Stimmen gibt als die einzelne Stimme von Frau
Gebhardt aus dem Europaparlament? Schließen Sie aus,
dass es genauso einzelne Stimmen auch im konservativ-
liberalen Lager im Europaparlament gibt, ohne dass wir
Sie dafür in Haft nehmen?
Geschätzter Kollege Rossmann, das Problem ist, dass
die Sozialdemokratin Evelyne Gebhardt im Europaparla-
ment die Berichterstattung zu diesem Thema hat und
dass entsprechend ihrem Votum die gesamte Sozialde-
mokratie im Europaparlament abstimmen wird. Das ist
dann keine einzelne Stimme mehr. Das ist dann die
Mehrheitsmeinung der Sozialdemokraten im Europapar-
lament. Aber Sie können bis zum 24. Januar missionie-
ren. Unsere guten Wünsche werden Sie begleiten.
Wir haben im April letzten Jahres ein Gesetz verab-
schiedet, auf dessen Grundlage die im Ausland erworbe-
nen Berufskenntnisse anerkannt werden sollen. Ich habe
mir eine Aufstellung dazu geben lassen, in welchen Bun-
desländern dieses Bundesgesetz, das ein Stück weit die
Integration von Menschen fördert, die aus anderen Staa-
ten und Kontinenten kommen und unter uns leben, durch
entsprechende Landesregelungen umgesetzt worden ist.
Es gibt ein Bundesland, in dem seit April letzten Jahres
überhaupt nichts passiert ist. Dieses Bundesland wird
grün-rot regiert. Baden-Württemberg unter grüner Re-
gentschaft ist das einzige Land, das dazu noch überhaupt
keine Regelung vorgelegt hat. Auch das ist nicht der
richtige Weg: hier nett schwätze, aber in Baden-Würt-
temberg nix tun, sondern laufen lassen.
Letztendlich ist die Wahrheit immer konkret. Ich bin
dankbar, dass wir mit der finanziellen Förderung des Ju-
gendwohnens mehr Mobilität für die duale Ausbildung
europaweit entwickeln können.
Die Grünen wollen vom dualen zum trialen System
mit mehr verschulten Einheiten. Die Sozialdemokraten
im Europaparlament schlagen innerhalb der beruflichen
Bildung die Tür für diejenigen zu, die kein Abitur haben.
Und die Linken wollen mit einer Zwangsabgabe die zen-
trale Berufsbildungssteuerung. Nur die christlich-libe-
rale Koalition steht treu und fest zur dualen Ausbildung.
Deshalb bitte ich Sie: Unterstützen Sie unseren Antrag!
Michael Gerdes hat jetzt das Wort für die SPD-Frak-
tion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LieberHerr Schummer, wir wollen jetzt wieder zur Bundespoli-tik zurückkommen. Es stimmt: Viele Länder haben Inte-resse an unserer dualen Ausbildung und wollen von unslernen. Und ja: In Deutschland sind weniger Jugendlichearbeitslos als in Europa.Unsere Azubis sind auf den Arbeitsmarkt gut vorbe-reitet. Trotzdem wünsche ich mir, dass die schwarz-gelbe Regierung das Eigenlob, das wir auch heute wie-der hören konnten, nicht allzu hoch hängt und sich end-lich auch um diejenigen kümmert, die durch das Rasterfallen.Richtig wäre es, wenn wir heute diejenigen in denMittelpunkt stellen, die keinen Schulabschluss und keineBerufsausbildung haben. Kollege Brase und auch Kolle-gin Alpers haben bereits die Zahl genannt. Ich wieder-hole sie, Herr Schummer, weil sie unglaublich hoch,aber auch korrekt ist: In Deutschland sind 2,2 Millionenjunge Menschen zwischen 20 und 29 ohne Berufsab-schluss. Ich meine, das ist ein Skandal.Wir müssen uns fragen, wie wir dieser Gruppe helfenkönnen. Wie verringern wir die Orientierungslosigkeitim Maßnahmendschungel?
Welche Chancen und Perspektiven bieten wir jungen Er-wachsenen, die bisher keine Qualifikation erwerbenkonnten? Hierzu äußern Sie sich selten, meine Damenund Herren in den Regierungsfraktionen. Stattdessenwerden unsere Ideen lapidar abgefertigt. Auch ich erin-nere mich an die Debatte im Oktober 2012, als Sie, FrauMinisterin Schavan, die Forderung der SPD nach einerAusbildungsgarantie als alte Klamotte bezeichnet haben.
Die junge Generation verdient mehr Respekt, zumin-dest mehr Unterstützung.
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Michael Gerdes
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Wer Jahr um Jahr keine Chance sieht, für den Arbeits-markt ausgebildet zu werden, der verliert jegliche Lern-und Arbeitsmotivation. Wer ohne Perspektive ist, resig-niert. Das darf unsere Gesellschaft nicht zulassen.
– Ich rede von Deutschland.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Stärke unsererBerufsausbildung ist die Praxisnähe, das Lernen im Be-trieb. Gerade deshalb muss es uns Sorge bereiten, dassdie Zahl der Ausbildungsplätze so gering ist wie nie. Daspasst mit dem Ruf nach Fachkräften nicht zusammen.Wer Fachkräfte braucht, muss dazu beitragen, dass jungeMenschen das benötigte Wissen und die gesuchte Fähig-keit auch erwerben können.
Tendenziell haben kleine und mittlere Unternehmenwenig Kapazitäten, um umfassend auszubilden. In denGroßbetrieben ist das einfacher. Aber wenn Großbe-triebe schließen oder abwandern, entsteht logischerweiseeine große Lücke, und zwar nicht nur auf dem allgemei-nen Arbeitsmarkt, sondern auch auf dem Ausbildungs-markt. Manche Regionen in Deutschland bekommen dassehr stark zu spüren. Speziell in meiner Heimat, demRuhrgebiet, sind die Wunden groß. Ich erinnere anNokia und Opel in Bochum. Die Situation wird sichdurch den Rückbau des Steinkohlenbergbaus noch ver-schärfen.Die letzte Zeche schließt zwar erst 2018, aber ab 2014wird es schon keine neuen Azubis geben. Allein in mei-ner Heimatstadt Bottrop fallen auf der SchachtanlageProsper-Haniel 2018 auf einen Schlag 300 Ausbildungs-plätze weg. Das ist katastrophal. Sie sind unwiederbring-lich weg. Deswegen frage ich: Wo werden in den Regio-nen im Ruhrgebiet unsere Jugendlichen zukünftigausgebildet?
– Ja, ja. Mit dem Ruhrgebiet haben wir wohl nichts zutun. Das ist nicht Deutschland. Europa machen wir, aberdas Ruhrgebiet ist nicht so wichtig.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Kamp zulassen?
Ja, gerne.
– Darauf komme ich gleich noch, Frau Schieder.
Bitte.
Lieber Kollege Gerdes, sind Sie bereit, zur Kenntnis
zu nehmen, dass gerade solche Fälle, die Sie uns geschil-
dert haben, wie bei Nokia und im Bergbau, die alle
schlimm sind, uns dazu zwingen, darüber nachzudenken
– wir tun das in dem Antrag – und darüber zu reden, dass
wir an Jugendliche die Forderung nach Mobilität stellen
müssen. Jugendliche müssen mehr Mobilität beweisen
und sich mehr vom Elternhaus und ihren Freunden abna-
beln, damit es auf dem Markt zu einem Ausgleich kom-
men kann.
Ich habe heute bei uns in der AG Handwerk von drei
Mittelständlern gehört, die Schwierigkeiten haben, Aus-
zubildende zu bekommen, die keine Aufträge annehmen
können, weil sie keine Fachkräfte haben und keine Aus-
zubildenden zu Fachkräften ausbilden können. Wenn
man Betriebe und Jugendliche zusammenbringen kann
– das versuchen wir mit unserem Antrag hinzubekom-
men, indem wir darauf hinweisen –, dann kann es gelin-
gen, in den Regionen, in denen Fachkräftemangel, Aus-
bildungsplatzmangel und auch Auszubildendenmangel
herrscht, einen Ausgleich zu schaffen.
Aber wir müssen davon abkommen, immer nur davon
zu reden, dass die Jugendlichen in bestimmten Regionen
keinen Ausbildungsplatz kriegen. Es gibt genügend Re-
gionen, wo Auszubildende gesucht werden. Bitte neh-
men Sie das zur Kenntnis, und verbreiten Sie das in Ih-
ren Reden. Dafür wäre ich Ihnen sehr dankbar.
Danke.
Ich nehme das sehr wohl zur Kenntnis. Aber ichnenne Ihnen noch einmal – ich habe gerade die 300 Aus-bildungsplätze, die allein in meiner Heimatstadt wegfal-len werden, erwähnt – die Stichwörter: Opel, Nokia.Opel wird definitiv schließen. Der Bergbau wird defini-tiv schließen. Sagen Sie mir bitte, wo die Angebote fürdie Jugendlichen waren, als Nokia geschlossen hat. Ichrede jetzt ganz bewusst nicht von Arbeitsplätzen, son-dern nur von Ausbildungsplätzen. Glauben Sie mir, dassbereits heute viele Jugendliche, gerade im Ruhrgebiet,bereit sind, Mobilität zu zeigen und in andere Regionenzu gehen.Gerade habe ich hier gehört, dass andere Regionen,etwa Thüringen, im Grunde genommen das Problemhinter sich haben, das wir im Ruhrgebiet noch vor unshaben. Dazu sage ich: Das kann doch nicht das Argu-ment sein. Das ist doch genau das, was ich hier einfor-dere: dass wir unseren Jugendlichen Perspektiven geben.Ich habe gerade gefragt: Wo werden unsere Jugendli-chen zukünftig ausgebildet? Wenn Sie mir die Antwortgeben können, dass sie in Deutschland in genügenderAnzahl und mit genügender Qualifikation ausgebildetwerden, dann beruhigt mich das ein wenig. Aber Sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26839
Michael Gerdes
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müssen auch gestatten, dass ich daran nicht so rechtglauben kann.
Ich will noch einmal zum Thema Ausbildungsreifekommen, weil das auch für mich ein Begriff ist, der rela-tiv umstritten ist; seine Definition ist aus meiner Sichtsehr diffus. Ich frage: Wissen die Bewerber von heutewirklich weniger, und sind sie weniger leistungsbereitals vor 20 oder 30 Jahren? Passen die Qualifikationenunserer Schüler nicht mehr mit den Anforderungen desheutigen Berufsalltags zusammen? Das sind einerseitsFragen für die Bildungsforschung. Andererseits müssenwir uns aber auch als Politik fragen, ob wir die Jugend-lichen ausreichend auf das Leben nach der Schule vorbe-reiten. Eine Teilantwort haben wir bereits gefunden: Wirmüssen die Berufsorientierung in den Schulen stärken,und zwar frühzeitig.
– Wir sind dabei, ja.
Ich begleite beispielsweise ein Ausbildungspatenpro-jekt in meinem Wahlkreis. Die Begegnungen mit denSchülern zeigen mir, wie sehr junge Menschen auf Rat-schläge rund um das Thema Berufsfindung angewiesensind. Bei manchen fehlt schlichtweg die Information.Auch da lautet die Frage leider Gottes: Welche Jobs gibtes denn überhaupt? – Andere können sich selbst nichteinschätzen. Da hören die Paten dann: Ich weiß nicht,was ich kann. Ich weiß nicht, wo meine Stärken undSchwächen liegen.Meine Damen und Herren, Schulen, Unternehmenund Eltern sind stark gefordert, wenn es um die früheVernetzung von Lernalltag und Berufsvorbereitung geht.Wir brauchen eine qualifizierte Einstiegsvorbereitungauf den Beruf. Wir brauchen eine individuelle Berufswe-geplanung. Das Land Nordrhein-Westfalen geht diesbe-züglich neue Wege, wie wir bereits von Kollege Brasegehört haben. Der Übergang von Schule und Beruf istnunmehr Teil der Lehrpläne. Im Mittelpunkt stehen dieSchülerinnen und Schüler und ihre Lebensläufe. DieLeitlinie heißt: Die Berufs- und Studienorientierung istAufgabe aller allgemeinbildenden Schulen, und in demProzess der Berufs- und Studienorientierung durchlaufenalle Schülerinnen und Schüler verbindliche Phasen, umihre Potenziale zu erkennen.
Herr Kollege.
Hoffen wir, dass Nordrhein-Westfalen und auch Ham-
burg im Sinne unserer jungen Generation mit ihren An-
sätzen erfolgreich sein werden.
Herr Kollege.
Jugendliche haben ein Recht auf Ausbildung. – Ich
bin am Ende mit meinen Ausführungen, Frau Präsiden-
tin.
Herzlichen Dank.
Die Kollegin Alpers hatte sich gemeldet, um mit einer
Kurzintervention auf die Rede von Herrn Schummer zu
reagieren. Ihr möchte ich jetzt die Gelegenheit dazu ge-
ben.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Schummer,
hätten Sie den Berufsbildungsbericht intensiv gelesen,
würden Sie die regelmäßigen Veröffentlichungen des
Bundesinstitutes für Berufsbildung lesen, wüssten Sie
genau, woher meine Zahlen kommen. Das als Aufklä-
rung über die Behauptung, ich benutzte falsche Zahlen.
Interessant fand ich: In Ihrem Antrag legen Sie einen
Schwerpunkt darauf, dass auch leistungsstarke Jugend-
liche – vielleicht gehen sie auf ein Gymnasium – tatsäch-
lich mehr in die duale Ausbildung integriert werden;
dazu gibt es einen Spiegelstrich in Ihrem Antrag.
Ein anderer Spiegelstrich besagt, Berufsorientierung
für möglichst viele Schülerinnen und Schüler sei nötig,
gerade im Theorie-Praxis-Verhältnis. Die Wirtschaft
sagt: Wir wollen keine Gymnasiasten, wir wollen keine
Absolventen; wir wollen Persönlichkeiten.
Aber – das beantworten Sie mir bitte – warum hat die
Koalition alle Gymnasien aus der Berufsorientierung he-
rausgenommen, wo doch klar ist, dass alle Schüler die-
ses Theorie-Praxis-Verhältnis kennenlernen sollen? Er-
klären Sie mir das bitte noch einmal.
Vielen Dank.
Herr Schummer zur Antwort.
Erstens. Alle Zahlen, die Sie aus dem Berufsbildungs-bericht zitiert haben, sind richtig; alle anderen warenverkehrt.Nun zum Thema Übergangssystem. Wir haben beiden begrenzten finanziellen Mitteln natürlich eine Ent-wicklung in Stufen. Die Bildungsketten, die seit dreiJahren zur Glättung des Übergangssystems entwickeltwerden – vorgesehen ist mehr Vorlaufzeit; ich habe daszu Beginn geschildert –, sollen bei den Hauptschulen,bei den Realschulen und bei den Gesamtschulen starten.Natürlich brauchen wir, da auch hier die Abbrecherquote
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Uwe Schummer
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groß ist, beispielsweise beim Übergang von der Schulein die Universitäten, eine Studienvorbereitung; dort liegtdie Abbrecherquote in einigen Bereichen bei 40 Prozent,in der beruflichen Ausbildung bei etwa 23 oder 24 Pro-zent. Das wird man nacheinander entwickeln.Ich überlege mit Blick auf meinen Heimatkreis der-zeit: Welche Maßnahmen werden im Kreis Viersen anwelchen Schulen durchgeführt? Das sind zum BeispielPotenzialanalysen, die in den Werkstätten durchgeführtwerden; das sind Berufseinstiegsbegleiter für diejenigen,die einen besonderen Förderbedarf haben, und letztlichsind das die betrieblichen Praktika. Auf der Bundes-ebene besteht die Aufgabe, dieses in die Regionen zutransportieren und zu schauen, dass dort kein Kind ver-loren geht. Da beziehen wir wahrscheinlich auch mitIhnen eine gemeinsame Position. Aber das ist die kon-krete Politik, die wir mit Annette Schavan seit einigenJahren praktizieren und die wir weiter ausfeilen werden.
Jetzt hat Sylvia Canel das Wort für die FDP.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es istnatürlich eine schwere Stunde für unsere Opposition. Ichleide in Solidarität ein bisschen mit Ihnen; denn derBerufsbildungsbericht ist ein echtes Highlight, und allIhre Bemühungen, mit parteipolitischer und rhetorischerProfilierung zu punkten, sind leider wirklich nicht rich-tig am Platz.
Sie müssen doch jetzt zur Kenntnis nehmen: Es gehthier um junge Menschen. Diese jungen Menschen habenin viel größerem Umfang als vorher einen Ausbildungs-platz bekommen. Der Berufsbildungsbericht 2012 belegtauf hervorragende Art und Weise, wie sich die Ausbil-dungsbedingungen in Deutschland dank unserer richti-gen Bildungspolitik, der Bildungspolitik dieser Regie-rung, stetig verbessert haben.
Nach den Diskussionen, die wir hier gehört haben,müssen wir wieder auf das Wesentliche zurückkommen,nämlich auf den Kern des Berichts. Vor allem die dualeAusbildung wird in der Gesellschaft hoch angesehen.
Da dies letztlich der entscheidende Faktor ist für die ge-ringe Jugendarbeitslosigkeit, dürfen wir auch stolz aufdiesen Bericht sein; denn die Jugendarbeitslosigkeit inDeutschland liegt gerade einmal bei 8,1 Prozent – imVergleich zum europäischen Durchschnitt, der nämlichbei 23,4 Prozent liegt. Das sind Zahlen, die sich sehenlassen können, meine Damen und Herren.
Folglich wird das Konzept der dualen Ausbildung inmanche europäische Nachbarländer und auch in Länderauf der ganzen Welt exportiert, und dies völlig zu Recht.Wir sehen, dass beispielsweise in Spanien eine sehr hoheJugendarbeitslosigkeit besteht. Jeder zweite Jugendlichedort hat keinen Ausbildungsplatz. Deshalb ist es gut undrichtig, wenn unsere Kammern Initiativen ergreifen, denbetroffenen Jugendlichen zu helfen. Ich habe das – ichweiß gar nicht, wer das hier genannt hat – mit Erstaunenzur Kenntnis genommen. Aber wenn jeder zweite Ju-gendliche keine Ausbildung hat, ist es gut und richtig,wenn von Deutschland geholfen wird.
Insgesamt geht aus dem Berufsbildungsbericht her-vor, dass die Zahl der betrieblichen Ausbildungsverträgeweiter zugenommen hat, nämlich um 1,8 Prozent. Essind etwas mehr als 570 000 neue Ausbildungsverträgeabgeschlossen worden. Das ist eine gute Zahl.
Es gibt mehr unbesetzte Ausbildungsplätze als unver-sorgte Bewerber. Vielleicht mögen Sie die Zahlen nicht,aber sie sind richtig, und sie müssen genannt werden: Esgibt knapp 30 000 unbesetzte Ausbildungsstellen, denennur 11 550 unversorgte Bewerberinnen und Bewerbergegenüberstehen.Meine Damen und Herren, wir haben es hier mit einerguten wirtschaftlichen Entwicklung und damit auch miteinem guten Angebot an Ausbildungsplätzen für jungeLeute zu tun.
Die Zahl der Altbewerber hat sich zunehmend verrin-gert: 5,7 Prozent sind es weniger. Auch diese Zahl ist einParameter für eine erfolgreiche Politik.Es gibt weniger Jugendliche im Übergangsbereich.Wir haben diesen Übergangsbereich hier völlig zu Rechtrelativ intensiv diskutiert. Natürlich ist das ein Problem,an dem gearbeitet werden muss. Aber, meine Damenund Herren, dabei dürfen Sie doch nicht vergessen, zuerwähnen, dass sich dieser Bereich um 8 Prozent verrin-gert hat.
Also, die Richtung der Regierung stimmt.
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Frau Kollegin, Frau Alpers würde Ihnen eine Frage
stellen wollen. Möchten Sie die zulassen?
Nein. Danke.
Dennoch steht das duale Ausbildungssystem in
Deutschland vor neuen Herausforderungen, und diese
Herausforderungen müssen wir annehmen. Das tun wir
in der Regierung. Sie haben es hier gehört. Auch unsere
Bildungsketten sind dabei, zu greifen.
Meine Damen und Herren, wenn Sie schon kein Haar
in der Suppe finden, dann sagen Sie doch einfach ein-
mal: Klasse, dass wir in Deutschland so gut vorankom-
men! Gut, dass Frau Annette Schavan, unsere Ministe-
rin, und die Regierung aus FDP und CDU/CSU so vieles
geleistet haben! Hier geht es um Jugendliche. Wir finden
das richtig.
Danke sehr.
Albert Rupprecht hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!Liebe Kollegen! Natürlich ringen wir um jeden Jugend-lichen, und natürlich darf kein Jugendlicher auf demWeg verloren gehen. Aber das ist nur eine Seite. Die an-dere Seite der Geschichte ist, dass das duale Bildungs-system nicht primär ein soziales Auffangbecken ist,
sondern dass es das qualitativ beste Ausbildungssystemfür Fachkräfte auf dieser Welt ist. Deswegen ist es zuwenig, ausschließlich den Jugendlichen mit Problemenzu helfen; wir müssen auch überlegen, wie wir das ge-samte System dauerhaft für die breite Masse der Jugend-lichen attraktiv erhalten.Nur dann werden die Betriebe ein Interesse haben,dauerhaft auszubilden, wenn sie leistungsfähige undleistungsbereite Jugendliche für das System gewinnenkönnen. Die Zahl wurde genannt: Die Unternehmen leis-ten derzeit bei der Ausbildung von 1,5 Millionen Aus-zubildenden mit beinahe 30 Milliarden Euro einen Rie-senkraftakt. Das ist mehr Geld, als Länder und Bundgemeinsam für die Lehre an den Hochschulen investie-ren.
– Ja, das ist ihre ureigenste Aufgabe, aber es ist trotzdemeine herausragende Leistung, die immer wieder gelobtund genannt werden muss, sehr geehrte Damen undHerren.
Wir wollen, dass die Betriebe dauerhaft ausreichendleistungsstarke Jugendliche für das duale System gewin-nen können; das ist auch notwendig. In Zeiten aber, indenen aufgrund der demografischen Entwicklung immerweniger Jugendliche da sind und in denen immer mehrJugendliche an die Hochschulen drängen, besteht dieGefahr, dass das duale System ausgehöhlt wird. HerrKollege Brase, Sie haben die richtigen Fragen gestellt.Nur, das Problem ist, dass Sie mit den Antworten in Ih-rem Antrag, wie ich finde, letztendlich zu kurz springen.Im Jahr 2000 hatten wir noch doppelt so viele Ausbil-dungsverträge wie Studienanfänger. Im Jahr 2012 wardie Zahl der Jugendlichen, die eine Ausbildung begon-nen haben, und derjenigen Jugendlichen, die an dieHochschulen gegangen sind, beinahe gleich hoch. Ja,wir brauchen Ärzte, wir brauchen Ingenieure, wir brau-chen Lehrer, aber gleichzeitig müssen wir aufpassen,dass wir das Fundament unseres Wirtschaftssystems– das ist auch das duale System – nicht kaputtmachen.
Wir brauchen auch künftig ausgebildete Fachkräfte.Es geht uns um das Element der beruflichen Handlungs-kompetenz, die in der dualen Ausbildung erworben wird.Deswegen müssen wir nicht nur die duale Ausbildung,sondern auch das duale Bildungssystem als solches inGänze weiterentwickeln. Wir brauchen nicht, KollegeBrase, ein Entweder-oder, eine berufliche oder eine aka-demische Ausbildung.
– Das habe ich auch nicht unterstellt; ich beziehe michnur auf Ihre Fragestellung. – Ich glaube, dass die Weiter-entwicklung darin liegt, dass wir sowohl beruflich alsauch akademisch ausbilden müssen. Das heißt, wir brau-chen ein Sowohl-als-auch.Wenn das der Schlüsselsatz ist, wenn das das Leitbildfür die Zukunft sein muss und sein wird, dann heißt das:Wir müssen duale Bildung und Hochschulen zusammen-bringen, zum Beispiel mit dualen Studiengängen.
Wir, liebe Kolleginnen und liebe Kollegen, haben seitdem Dresdner Bildungsgipfel 2008 sehr wohl einiges er-reicht. Zum Ersten haben die Länder ihre Hochschulge-setze geöffnet. Fast jeder beruflich Qualifizierte hat nundie Möglichkeit, fachbezogen zu studieren. Das istDurchlässigkeit. Zum Zweiten brauchen wir aber aucheinen weiteren Ausbau der dualen Studiengänge. Zurzeitgibt es über 60 000 Studierende in dualen Studiengän-gen. Ich bin der Meinung, dass das erst der Anfang seinkann. In diesem Bereich gibt es in der Tat erheblichesPotenzial. Es ist kein Randbereich – so wird das Themaduales Studium oft eingeordnet –, sondern es ist eine
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Albert Rupprecht
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substanzielle, wichtige Weiterentwicklung, die den An-forderungen des demografischen Wandels entspricht.Zu den Anträgen der Opposition. Es waren durchausvernünftige Vorschläge dabei. Bei den Linken erlaubeich mir, zu sagen: wenige. Bei den Grünen und der SPDgab es, wie gesagt, durchaus vernünftige Vorschläge. Ichglaube aber trotzdem, dass es allen diesen Vorschlägenan einem mangelt: Sie sind zu rückwärtsgewandt. Siegeben auf die Frage, wie wir das duale System auf Dauerattraktiv erhalten können, keine Antwort.
Die Zeiten haben sich vollkommen geändert. Wennwir während der Regierungszeit von Rot-Grün einendramatischen Anstieg der Jugendarbeitslosigkeit ver-zeichneten und eine schlimme Lehrstellenkrise erlebten,so stellen wir heute, Jahre später, fest, dass wir seit fünfJahren mehr freie Lehrstellen als unversorgte Bewerberhaben.
– Kollegin Schieder, das ist richtig. Die demografischeEntwicklung gibt es auch in Spanien. Trotzdem haben inSpanien 50 Prozent der Jugendlichen keinen Arbeits-platz. Die Entwicklung bei uns hat sich natürlich auchdurch die demografische Entwicklung ergeben. Aberwenn man den Vergleich zu anderen Ländern zieht, siehtman, dass das überhaupt keine Selbstverständlichkeit ist,dass es vielmehr hausgemacht ist. Es liegt an der KraftDeutschlands in einer Zeit internationaler Krisen undauch an der Kraft des dualen Ausbildungssystem, dasswir so erfolgreich sind.Lassen Sie mich abschießend auf einen erstaunlichenVorgang hinweisen, der bisher nicht erwähnt worden ist.Die SPD hat jahrelang populistisch eine allgemeineAusbildungsplatzabgabe gefordert. Wir haben diesesAusbildungsplatzvernichtungskonzept all die Jahre– Gott sei Dank – verhindern können. Im heute vorlie-genden Antrag hat die SPD die Forderung nach dieserAusbildungsplatzabgabe klammheimlich beerdigt.
Ich finde es gut, Herr Kollege Brase, dass die SPDeingesehen hat, dass sie jahrelang auf dem Holzweg war.Es wurde Zeit.Herzlichen Dank.
Jetzt hat Ewa Klamt das Wort für die CDU/CSU-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das deutsche Berufsbildungssystem ist ein Erfolgs-modell, um das wir weltweit beneidet werden. KaiGehring, wir teilen es gerne mit unseren europäischenNachbarn. Frau Ministerin hat es gesagt: Es fand vorkurzem die Berufsbildungskonferenz mit Vertretern vonsechs Mitgliedstaaten statt. Umsetzen müssen dieseLänder es schon selber.Gerade unser deutsches Ausbildungssystem hat dazubeigetragen, dass bei uns die Jugendarbeitslosigkeit bei8,2 Prozent liegt, während sie im europäischen Durch-schnitt 22,4 Prozent beträgt. Wir wollen dieses erfolgrei-che Modell der dualen Ausbildung weiter stärken und esan die künftigen Herausforderungen anpassen.Dass der Bund seit 2005 gerade mit Blick auf benach-teiligte Jugendliche, mit Blick auf die Weiterentwick-lung der beruflichen Bildung etwas auf den Weg ge-bracht hat, zeigen die Fakten. Deutlich zurückgegangen,nämlich um 5,7 Prozent, ist die Zahl derer, die noch2010 unversorgt geblieben sind. Das waren 10 000 jungeMenschen. Ebenso können wir konstatieren, dass es imJahr 2011 10 000 neue Ausbildungsplätze gegeben hat.Frau Alpers, dies ist im Bundesbildungsbericht nach-zulesen.Trotzdem beträgt die Zahl der Unversorgten jetztnoch 174 000, um die wir uns besonders kümmern müs-sen. Vor vier Jahren waren dies allerdings noch 100 000mehr. Das zeigt, dass wir auf einem guten Weg sind.
Herr Brase und Herr Gehring, auch die Zahl der Ein-tritte in das Übergangssystem sinkt kontinuierlich: um8 Prozent im Jahr 2011. Und ganz entscheidend ist: Seit2005 sank die Zahl um knapp 30 Prozent. Das ist keineKonsequenz der demografischen Entwicklung, sondernes ist das Resultat zahlreicher Maßnahmen unter Teil-nahme vieler Akteure.
Gefordert sind hier nämlich Bund und Länder gleicher-maßen.Mein Bundesland Niedersachsen zeigt, wie man esrichtig macht, und zwar durch die Weichenstellung, diedie CDU-FDP-Regierung 2003 getroffen hat. Das ge-schieht nicht nur durch Lösungen, die erst dann anset-zen, wenn es um den Übergang in die Berufsausbildunggeht. Lösungen müssen viel früher ansetzen, nämlichschon im vorschulischen und im schulischen Bereich.Deshalb haben wir in Niedersachsen für eine frühzei-tige Feststellung der Sprachfertigkeit und eine gezielteSprachförderung vor Schuleintritt gesorgt.
Dafür sind auch finanzielle Prioritäten gesetzt worden.In Niedersachsen geht heute jeder dritte Euro des Lan-deshaushaltes in die Bildung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26843
Ewa Klamt
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Und so, liebe Kolleginnen und Kollegen, schafft man esin Niedersachsen, jungen Menschen eine Versicherunggegen Jugendarbeitslosigkeit zu bieten.
2003, am Ende der Amtszeit der SPD-geführten Re-gierung in Niedersachsen, sah das noch ganz anders aus.Der Anteil der Jugendlichen ohne Schulabschluss lag bei10,4 Prozent – eine desaströse Hinterlassenschaft.Heute, zehn Jahre später, haben wir diese Zahl dank vie-ler erfolgreicher Maßnahmen praktisch halbiert, wir lie-gen jetzt bei 5,4 Prozent.
Seit 2003 sanken in Niedersachsen die Schülerzahlenum 100 000. Wir haben in diesem Zeitraum jedoch dieAnzahl der Lehrkräfte erhöht. Wir haben eine engereZusammenarbeit von Haupt- und Realschulen mit denberufsbildenden Schulen geschaffen, die mittlerweilebundesweit als führend gilt. Damit verbessern sich nach-weislich die Chancen auf einen Ausbildungsplatz. Heutegibt es ein flächendeckendes Kompetenzfeststellungs-verfahren ab Klasse acht, das für eine frühzeitige Orien-tierung der Jugendlichen sorgt.Das alles zeigt: Wenn man die guten Programme desBundes mit guten Maßnahmen und innovativen Aktivi-täten vor Ort zusammenführt, dann kann man für unserejungen Menschen sehr viel schaffen. Darum würde ichmich erstens sehr freuen, wenn Sie unserem Antragheute zustimmen könnten, und zweitens, wenn wir dieRegierung in Niedersachsen fortsetzen könnten.
Das war unsere Kollegin Ewa Klamt für die Fraktion
der CDU/CSU.
Wir sind am Ende unserer Aussprache zu diesem Ta-
gesordnungspunkt.
Wir kommen nun zur Abstimmung über die Be-
schlussempfehlung des Ausschusses für Bildung, For-
schung und Technikfolgenabschätzung auf Drucksache
17/12089. Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a
seiner Beschlussempfehlung die Annahme des Antrags
der Fraktionen von CDU/CSU und FDP auf Drucksache
17/10986 mit dem Titel „Das deutsche Berufsbildungs-
system – Versicherung gegen Jugendarbeitslosigkeit und
Fachkräftemangel“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-
genprobe! – Das sind die Oppositionsfraktionen. Enthal-
tungen? – Niemand. Die Beschlussempfehlung ist
angenommen.
Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-
lehnung des Antrags der Fraktion der SPD auf Drucksa-
che 17/10116 mit dem Titel „Jugendliche haben ein
Recht auf Ausbildung“. Wer stimmt für diese Beschluss-
empfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen. Ge-
genprobe! – Das ist die Fraktion der Sozialdemokraten.
Enthaltungen? – Das sind die Fraktion von Bündnis 90/
Die Grünen und die Linksfraktion. Die Beschlussemp-
fehlung ist angenommen.
Weiterhin empfiehlt der Ausschuss unter Buchstabe c
seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des Antrags
der Fraktion Die Linke auf der Drucksache 17/10856 mit
dem Titel „Perspektiven für 1,5 Millionen junge Men-
schen ohne Berufsabschluss schaffen – Ausbildung für
alle garantieren“. Wer stimmt für diese Beschlussemp-
fehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen, die sozial-
demokratische Fraktion und die Fraktion Bündnis 90/
Die Grünen. Gegenprobe! – Das ist die Fraktion Die
Linke. Enthalten hat sich infolgedessen niemand. Die
Beschlussempfehlung ist angenommen.
Schließlich empfiehlt der Ausschuss unter Buch-
stabe d seiner Beschlussempfehlung die Ablehnung des
Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Druck-
sache 17/9586 mit dem Titel „Mit DualPlus mehr Ju-
gendlichen und Betrieben die Teilnahme an der dualen
Ausbildung ermöglichen“. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Das sind die Koalitionsfraktionen,
Sozialdemokraten und Linksfraktion. Gegenprobe! – Das
ist die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Enthaltun-
gen? – Keine. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe somit den
Tagesordnungspunkt 12 unserer heutigen Beratungen
auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Binder, Dr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar
Bartsch, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
DIE LINKE
Für alle Kinder und Jugendlichen eine hoch-
wertige und unentgeltliche Verpflegung in
Schulen und Kindertagesstätten gewährleisten
– Drucksache 17/11880 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Finanzausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Haushaltsausschuss
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Dem wider-
spricht niemand. Dann haben wir dies gemeinsam so be-
schlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin in unserer
Aussprache ist für die Fraktion Die Linke unsere Kolle-
gin Frau Karin Binder. Bitte schön, Frau Kollegin Karin
Binder.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kein Kind soll mit knurrendem Magen die Schulbankdrücken; da werden Sie mir sicherlich alle zustimmen.Aber im bundesdeutschen Schulalltag sieht es leider an-
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26844 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Karin Binder
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ders aus. Dazu eine kurze Situationsbeschreibung: EinViertel aller Schülerinnen und Schüler geht morgensohne Frühstück aus dem Haus.
Wer sich das Mittagessen nicht leisten kann, bekommtoft erst wieder am Abend zu Hause eine anständigeMahlzeit.Die Eltern sind oft an ihrer Leistungsgrenze. Die An-forderungen der heutigen Arbeitswelt im Hinblick aufFlexibilität und Mobilität, weite Wege zum Arbeitsplatzund ständige Verfügbarkeit lassen es nicht zu, dass Muttioder Vati kocht und um eins das Mittagessen auf demTisch steht. Außerdem verbringen Kinder immer mehrZeit des Tages in Schule oder Kindergarten. Auch häufi-ger Nachmittagsunterricht führt zu längeren Schultagen.Immer mehr Kinder besuchen eine Ganztagseinrichtung.Wir alle wissen, welche Folgen eine Fehlernährungmit Fastfood bei Kindern haben kann. Deshalb gehörenein gutes Mittagessen und eine vernünftige Pausenver-pflegung, für alle Kinder und kostenfrei, zum guten Ler-nen im Schulalltag dazu.
Warum ist das so wichtig? Alle Kinder und Jugendlichenbrauchen eine Chance, unabhängig von ihrer Herkunftund vom Geldbeutel der Eltern. Um gesund aufwachsenund Bildung wahrnehmen zu können, braucht man einevernünftige Verpflegung über den Tag hinweg. Wir hierim Bundestag können dazu beitragen, Bildungsunter-schiede abzubauen und allen Kindern eine gesunde Ent-wicklung und einen guten Schulabschluss zu ermögli-chen. Das ist die Voraussetzung dafür, dass Kinder undJugendliche in der Lage sind, eine Ausbildung aufzuneh-men und einen vernünftigen Beruf auszuüben, damit siespäter ihre Existenzgrundlage eigenständig erwirtschaf-ten können. Darum ist Schulverpflegung eine gesamtge-sellschaftliche Aufgabe. Der Bund hat die Verantwortungund die Pflicht, sich um die Finanzierung zu kümmern.
In Firmen und Behörden, auch hier im Bundestag,wird die Kantine wie selbstverständlich eingeplant. Invielen Schulen gibt es aber nicht einmal einen Pausen-raum.
Kinder werden häufig in Kellerräumen, bestenfalls inder Aula mit einem aufgewärmten oder lange warmge-haltenen Essen abgespeist. Viele Schulen bieten gar keinwarmes Mittagessen an – trotz der deutlichen Zunahmeder Zahl der Ganztagsschulen. Es fehlt an qualifiziertemPersonal und Räumlichkeiten. Kommunen bzw. Schul-trägern stehen manchmal nur 1,60 Euro pro Essen zurVerfügung. Das ist die traurige Realität. Damit müssenwir Schluss machen.
Das Bildungs- und Teilhabepaket der Bundesregie-rung ist dabei leider keine Hilfe. Kinder und Eltern müs-sen als Bittsteller bürokratische Hürden überwinden, umeinen Zuschuss für eine Schulmahlzeit zu bekommen.
Das ist unwürdig und obendrein unsinnig. Allein derVerwaltungsaufwand schluckt Mittel, die viel sinnvollerdirekt in die Schulspeisung investiert werden könnten.
In Sachen Schul- und Kitaverpflegung ist Deutsch-land leider ein Entwicklungsland. Dabei ist der Zusam-menhang zwischen Ernährung und Lernerfolg unbestrit-ten. Im Laufe eines Schul- oder Kitatages sollten Kinderund Jugendliche mit dem Essen rund 40 Prozent ihrerTagesenergie aufnehmen. Ist das nicht gewährleistet,sind Konzentrations- und Lernschwächen vorprogram-miert.Aus diesem Grund müssen schon bei der Planung ei-ner Schule oder Kita die Kantine und im Lernalltag dieVerpflegung in den Mittelpunkt gerückt werden. Dass soetwas geht, haben uns Schülerinnen und Schüler der Of-fenen Schule Kassel-Waldau im Rahmen einer Veran-staltung der Fraktion Die Linke im Oktober 2012 ein-drucksvoll dargestellt.
Dort ist die Schulverpflegung fester Bestandteil des Un-terrichtstages. Die Kinder und Jugendlichen planen ge-meinsam mit den Lehrerinnen und Lehrern sowie mitden Eltern ein vielfältiges Angebot und abwechslungs-reiche Menüs – bio und möglichst aus regional erzeugtenProdukten. Das wird von allen gerne angenommen.Damit kommen wir zum Kern der Sache, nämlich zuden Kosten und zur Finanzierung. Unabhängig von derFrage, wer am Ende das Schul- und Kitaessen bezahlt:Für eine hochwertige und leckere Verpflegung solltenmindestens 4 Euro pro Tag und Kind angesetzt werden.Da die Länder aber mit der Schuldenbremse und vieleKommunen mit einer Haushaltssperre belastet sind, for-dert die Linke, dass die Bundesregierung bundesweitund flächendeckend eine hochwertige und unentgeltlicheSchul- und Kitaverpflegung auf den Weg bringt und dieFinanzierung dafür übernimmt.
Der Bund trägt die gesamtgesellschaftliche Verantwor-tung und ist zur Angleichung der Lebensverhältnisse inDeutschland verpflichtet. Dafür hat er auch die Finanzie-rung sicherzustellen.Nun zu weiteren Punkten in unserem Antrag. DieUmsetzung muss gemeinsam mit den Ländern, denKommunen bzw. den Schulträgern, den Lehrerinnen undLehrern, den Schülerinnen und Schülern und den Elternerfolgen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26845
Karin Binder
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Ein weiterer wichtiger Punkt unseres Antrags: DasFachwissen und das Engagement der VernetzungsstellenSchulverpflegung werden dafür dringend benötigt. Des-halb sind sie im Rahmen des Aktionsplans „IN FORM“dauerhaft abzusichern.Ein weiterer Punkt unseres Antrags: Qualitätsstan-dards, wie sie zum Beispiel die Deutsche Gesellschaftfür Ernährung herausgibt, müssen verbindlich in Schul-und Kitagesetze aufgenommen werden, damit die Kin-der nicht nur abgespeist werden. „Hauptsache satt“ führtnicht zum Erfolg.Ernährung ist kein Thema für den Frontalunterricht.Schülerinnen und Schüler sollen selbst kochen, einkau-fen und vielleicht auch in einem Schulgarten Obst undGemüse selbst anbauen und ernten.
Schul- und Kitaverpflegung soll möglichst mit Erzeug-nissen aus der Region frisch vor Ort zubereitet werden.Das Essen soll abwechslungsreich, ohne Geschmacks-verstärker, Aromen und andere Zusatzstoffe sein.Finanziell klamme Kommunen brauchen Investitions-hilfen des Bundes, um geeignete Kantinen und Essräumeeinzurichten.In einem ersten Schritt soll es auch um die Mehrwert-steuer gehen.
Zumindest eine Reduzierung oder nach Möglichkeit derErlass der gesamten Mehrwertsteuer wäre sinnvoll undhilfreich.
Um es noch einmal deutlich zu machen: Das gemein-same Frühstück und das gemeinsame Mittagessen schaf-fen Erfahrungswerte und unterstützen eine gute Ernäh-rungsweise und den Lernerfolg bei allen Kindern.In Ländern mit hohen Bildungserfolgen, wie zumBeispiel in Finnland und Schweden, ist das unentgeltli-che Schulessen eine Selbstverständlichkeit. Ich frage Siealso: Was ist Ihnen die gesunde Ernährung und Entwick-lung und der Lernerfolg der Kinder in Deutschland wert?Nehmen Sie gemeinsam mit der Linken die Verantwor-tung für die Kinder in Deutschland wahr.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Frau Kollegin Karin Binder. – Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
CDU/CSU unsere Kollegin Frau Mechthild Heil. Bitte
schön, Frau Kollegin Mechthild Heil.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Ich freue mich, dass wir über das wichtigeThema „Gesunde Ernährung und Schulverpflegung“sprechen; denn wir haben im wahrsten Sinne des Wortesein schwerwiegendes Problem in Deutschland. 15 Pro-zent der 3- bis 17-Jährigen sind übergewichtig, und6 Prozent unserer Kinder leiden bereits an Adipositas.Das ist nicht nur ein individuelles Problem, sondernauch ein gesamtgesellschaftliches Problem. Es geht da-bei nicht um ein Modeideal, das Schlankheit diktiert.Vielmehr geht es darum, dass aus den vielen überge-wichtigen Kindern auch übergewichtige Erwachsenewerden, die an den Folgen wie Diabetes, Bluthochdruckoder an Problemen mit dem Bewegungsapparat leidenwerden. So weit wollen wir es nicht kommen lassen.Deshalb gilt es, präventiv tätig zu werden.Der Schlüssel für eine gesunde Lebensweise liegt inausreichender Bewegung und in guter Ernährung. DieGrundlagen dafür werden schon in ganz jungen Jahrengelegt. An erster Stelle ist deswegen die Familie zu nen-nen. Die Eltern und die Geschwister leben die Bewe-gungs- und Ernährungsgewohnheiten vor, an denen sichdie Kinder orientieren. Diese festigen sich dann im wei-teren Leben. Das Frühstück, liebe Frau Binder, gehörtnatürlich zunächst in den Rahmen der Familie.
Neben den Familien werden aber auch die Kitas unddie Schulen immer wichtiger bei der täglichen Verpfle-gung unserer Kinder. Die Zahl der Ganztagsschulen– um ein Beispiel zu nennen – hat sich seit 2003 verdrei-facht, das heißt, Ernährung findet nicht mehr nur zuHause statt, sondern einige Kinder werden hauptsächlichin öffentlichen Einrichtungen ernährt. Damit wächstnatürlich die Verantwortung der Schulen und der Kinder-gärten für das Ernährungsverhalten der Kinder.Die Fakten sind also klar. Aber was machen die Kol-legen von der Linken daraus? Sie stellen einen absurdenAntrag.
Ihr Antrag ist absurd, weil Ihre Forderungen erstens zumgroßen Teil schon umgesetzt wurden,
und zweitens ist er an die komplett falsche Adresse ge-richtet; denn der Bund ist nicht zuständig.
Das Grundgesetz steht einer vollen, direkten Finanzie-rung der Schulverpflegung durch den Bund entgegen.Das schreiben Sie auch selbst im Antrag.
Bildung ist nun einmal klassische Länderaufgabe.
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26846 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Mechthild Heil
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Was können wir auf Bundesebene tun, ohne den Län-dern ins Handwerk zu pfuschen? Informieren, informie-ren und noch einmal informieren. In diesem Fall giltausnahmsweise: Viel hilft viel. Vielleicht hilft auch andieser Stelle der Hinweis an die Linken, endlich zuerkennen, dass wir in Deutschland schon sehr gut auf-gestellt sind und dass ihr Antrag nicht nur absurd, son-dern auch völlig überflüssig ist.
Erstens. Seit 2008 gibt es den nationalen Aktionsplan„IN FORM“, Deutschlands Initiative für gesunde Ernäh-rung und mehr Bewegung. Im Rahmen von IN FORMunterstützt unser Ministerium, das BMELV, in allenBundesländern Vernetzungsstellen zur Schulverpfle-gung. Diese Vernetzungsstellen wiederum unterstützendie Schulen und die Kitas. Sie bieten umfassende Infor-mationen über eine bedarfsgerechte und gesunde Ver-pflegung an, organisieren Fortbildungsveranstaltungenund vermitteln Fachkräfte für die Beratung vor Ort.Die Grundlage hierfür bietet der „DGE-Qualitätsstan-dard für die Schulverpflegung“, der von der DeutschenGesellschaft für Ernährung entwickelt wurde. Für dieVerantwortlichen vor Ort ist das eine sehr große Hilfe;denn jetzt gibt es erstmals wissenschaftlich gesicherte,praxisbezogene bundesweite Standards.
Allerdings entscheiden die Bundesländer und je nachLandesregierung sogar die Schulträger oder die Schulenselbst, in welcher Weise die Standards in den Schulenumgesetzt werden. Die Bundesländer entscheiden das,meine Damen und Herren.
Über IN FORM werden zum Beispiel gefördert: der„aid-Ernährungsführerschein“ für Grundschüler, das Un-terrichtskonzept „SchmExperten“ für weiterführendeSchulen sowie die von der Verbraucherzentrale durch-geführte „Ess-Kult-Tour“. Übrigens mehr als eine halbeMillion Kinder haben den Ernährungsführerschein schonerworben. Das Projekt erreicht die Kinder also tatsäch-lich. Das ist kein Papiertiger. Die Kinder geben ihrWissen und ihre Begeisterung an ihre Familien weiter.So muss man das machen. Das ist der richtige Weg,meine Damen und Herren von der Linken.
Zweitens. Seit Herbst 2009 stellt die EuropäischeUnion Mittel für Schulfruchtprogramme zur Verfügung.In mehreren Bundesländern gibt es mittlerweileSchulobstprogramme, die sehr positiv aufgenommenwerden. In Deutschland stehen dafür pro Jahr 12,5 Mil-lionen Euro zur Verfügung.Drittens. Mit dem Schulmilchprogramm stellt dieEuropäische Union weitere 6,3 Millionen Euro anZuschüssen für Deutschland bereit. Milch und Milch-produkte werden damit in den Schulen angeboten.Bei der Mittagsverpflegung wird der Fokus ferner aufKinder und Jugendliche aus einkommensschwachenFamilien gelegt. Im Rahmen des Bildungs- und Teil-habepaketes des Bundesministeriums für Arbeit und So-ziales erhalten sie das Mittagessen in Kitas, Schulen undHorten. Das Angebot wird sehr gut angenommen.
Das ist die am häufigsten genutzte Komponente des Bil-dungspakets. Frau Binder, wir haben das gemacht. Siemeckern immer nur herum, während wir handeln.
Was können wir darüber hinaus noch tun? Ich plä-diere für die Integration des Themas „Gesunde Er-nährung und Bewegung“ in das bestehende Fächerange-bot aller Bildungseinrichtungen.
– Das ist Ländersache. Deswegen appelliere ich. Sonstwürden wir das ja selber tun. Danke! – Wir brauchen ei-nen fächerübergreifenden Ansatz. Es reicht eben nicht,den Kindern wortlos einen Apfel oder ein Glas Milch indie Hand zu drücken, garniert mit der Aussage: Bewegteuch ruhig mal! Wir müssen ein Bewusstsein für ge-sunde Verhaltensweisen schaffen – konstruktiv und vorallen Dingen positiv –, über Spaß und ein gutes Selbst-gefühl.Wir können alle als gute Vorbilder für unsere Kinderund Jugendlichen vorangehen; denn Heranwachsendelernen die Muster und ahmen Verhalten nach. Das giltfür Bewegungsabläufe genauso wie für den sprachlichenAusdruck, aber eben auch für die Ernährungsgewohn-heiten. Allerdings gilt frei nach dem Motto „Die Altenjoggen, die Jungen hocken!“ auch – das gebe ich zu –,dass sich die Alterseinsicht nicht zwangsläufig auf dieKinder überträgt. Deshalb hat unsere Regierung diesetollen Projekte gestartet.
– Die Alten joggen, und die Jungen hocken.
– Das ist mein Motto, ja.Wir wollen die Kinder direkt erreichen und zu einergesunden und bewegten Lebensweise motivieren. Jetztsind die Länder in der Pflicht: Bleiben Sie also nichthocken. Nutzen Sie diese Angebote noch besser, als Siedas bisher getan haben. Das ist eine Investition in dieZukunft.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26847
Mechthild Heil
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Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Mechthild Heil. – Als Nächste
spricht für die Fraktion der Sozialdemokraten unsere
Kollegin Frau Petra Crone. Bitte schön, Frau Kollegin
Petra Crone.
Herr Präsident! Meine lieben Kollegen und Kollegin-nen! Meine Damen und Herren! Die Geschichte derSchulverpflegung in Deutschland kann man nur imZusammenhang mit der Geschichte der Ganztagsschuleerzählen. Viele unserer europäischen Nachbarn habenseit jeher eine Ganztagsschultradition. In Deutschlandgab erst der PISA-Schock den Anstoß. Die rot-grüneBundesregierung legte vor zehn Jahren das Programm„Zukunft Bildung und Betreuung“ vor. Investiert wurden4 Milliarden Euro in den Aus- und Umbau von über7 000 Schulen.
Damals wurde von der Kultusministerkonferenz auchfestgelegt, dass den Schülern der Ganztagsschule einMittagessen bereitgestellt wird. Auf das erfolgreicheProgramm folgte Anfang 2009 – wieder kam die Initia-tive von der SPD – das Konjunkturpaket II. Erneut kames zu Investitionen im Bildungsbereich in Milliarden-höhe. Heute bietet die Hälfte aller Schulen einen Ganz-tagsbetrieb an, der von jedem dritten Schüler bzw. jederdritten Schülerin genutzt wird.Der Ausbau geht weiter. Er muss weitergehen. DieSPD-Bundestagsfraktion hat hierfür das Projekt „GuteGanztagsschule“ entwickelt. Bei Ganztagsschulen gehtes um bauliche Notwendigkeiten, aber auch um Metho-dik und Didaktik in Verbindung mit außerschulischemEngagement. Das sind zweifellos bedeutende Themen.Haben wir aber auch über das per Definition vorge-schriebene Mittagessen und über die Bedeutung der Fak-ten nachgedacht, dass unsere Kinder nämlich 40 Prozentihrer Energie durch Schulverpflegung decken müssen?Haben wir zu sehr auf den Kopf geschaut und dabei denMagen vergessen? Gehört die Ernährung nicht unerläss-lich zur ganzheitlichen Bildung? Hinzu kommt die über-stürzte Einführung des Abis nach zwölf Jahren. G 8 er-gibt Stress bei den Kindern plus Groll bei den Eltern.
Obwohl die Schüler nachmittags mit einer Fülle an Stoffkämpfen, sind Cafeterien oder gar Mensen Mangelwareoder mangelhaft.Liebe Kollegen und Kolleginnen, bei der Vorberei-tung dieser Rede sind mir zwei Schlagzeilen aus demJahr 2012 in den Sinn gekommen. Eine lautete: „Erdbee-ren aus China verursachen eine Epidemie unter Tausen-den Schülern“, eine andere: „Der Ernährungsbericht2012 vermeldet einen Rückgang des Übergewichts beiKindern in nahezu allen Bundesländern.“ Was ziehenwir daraus für Lehren? Erstens. In vielen Schulkantinenist nichts gut. Zweitens. Eine intensive Aufklärungsar-beit zeigt Wirkung. Darum müssen wir mit gemeinsamerKraftanstrengung die Verpflegung für unsere Kinder anden Schulen etablieren und verbessern. Das wird nichtleicht sein, es ist aber auch kein Ding der Unmöglich-keit.Liebe Kollegen und Kolleginnen, in Schweden undFinnland ist das Essen für alle Kinder kostenlos, Stan-dards inklusive. Ob Schulverpflegung gesellschaftlichakzeptiert wird, ist an Rahmenbedingungen geknüpft.Hier sind die Gleichstellungs- und Familienpolitik ge-fragt. In Schweden existiert das Leitbild der in Vollzeiterwerbstätigen Frau. Da ist es überhaupt keine Frage,dass die staatliche Verantwortung die Kinderbetreuungund die Mittagsverpflegung umfasst. Das ist bei uns tra-ditionell immer noch anders, ändert sich aber peu à peu.Immer weniger Eltern können oder wollen es sichleisten, die Mittagsversorgung der Kinder im Alleingangzu Hause zu organisieren. Berufstätige Mütter und Väterwerden durch eine vernünftige Schulverpflegung organi-satorisch deutlich entlastet. Das ist doch eine schöneSache für die Eltern und ein weiterer Schritt hin zu einerbesseren Vereinbarkeit von Familie und Beruf. Unseraller Antrieb, unser aller Ansporn sollte sein, zu sagen:Eure Kinder sind in unserer Verantwortung in gutenHänden.Ein gesundes Mittagessen ist für Kinder und Jugend-liche genauso wichtig wie guter Deutsch- und Mathe-unterricht. Glücklicherweise – das ist eben auch schongesagt worden – können wir auf die vorbildliche Arbeitder „Vernetzungsstellen Schulverpflegung“ zurückgrei-fen. Die müssen aber dringend finanziell und personellgestärkt werden.Ich erlebe viele gute Konzepte in Städten und Ge-meinden, wo die Schulverpflegung vorbildlich funktio-niert.
„Einmal satt für 2,10 Euro“ oder „Matsche und Pampe“ –auf solche Überschriften sollten wir zukünftig wirklichverzichten.
Wie erreichen wir das? Dazu nenne ich drei Forderun-gen:Erstens. Nur die Caterer erhalten einen Zuschlag, dienach den Qualitätsstandards der Deutschen Gesellschaftfür Ernährung zertifiziert sind und deren Einhaltungkontrolliert wird. Das Land Berlin hat gerade den Wech-sel vom Preis- zum Qualitätswettbewerb beim Schul-essen initiiert. Das lädt zur Nachahmung ein.
Zweitens. Wir brauchen die Partizipation der Eltern-und – was viel wichtiger ist – die der Schülerschaft.
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26848 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Petra Crone
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Drittens. Wir müssen eine intelligente Ernährungs-und Verbraucherbildung etablieren.Gutes kann nicht billig sein. Ich weiß natürlich auchum die schwierige Gemengelage im föderalen System.Selbst wenn wir es wollten, steht das Grundgesetz einervollen direkten Finanzierung durch den Bund entgegen.Zwei Anmerkungen möchte ich dazu machen. Ers-tens: Weg mit dem Kooperationsverbot!
Für eine bessere Zusammenarbeit von Bund und Län-dern im schulischen Bereich! – Ich erinnere an dieserStelle an unseren Nationalen Pakt für Bildung und Ent-schuldung: 20 Milliarden Euro im Jahr allein für Bildungplus eine deutliche Entlastung der Kommunen, die zu-meist ja auch Schulträger sind. Das Ganze soll durchEinsparungen und den Abbau von überflüssigen Subven-tionen finanziert werden. Das, Herr Staatssekretär, istkonkrete Politik. Der Ministerin fiel Ende letzten Jahresbei dem Skandal leider nur ein, dass in Ländern undKommunen darüber diskutiert werden solle. Ihr fiel nurein: Wir sprechen einmal darüber. – Nein, es gehört ge-nau hier hin. Das sage ich an die Adresse der Ministerin.
Zweitens. Die SPD-Bundestagsfraktion ist bereit, denEinstieg des Bundes in die Schulverpflegung zu prüfen,nicht nur bei den notwendigen Investitionen, sondernauch durch einen tatsächlichen Beitrag pro Kind. Auchder Bund ist Nutznießer von gutem Ernährungsverhal-ten. Abseits der einzelnen Person profitieren Kranken-kassen, öffentliche Haushalte und Sozialversicherer.Fazit: Eine qualitativ hochwertige Schulverpflegungfür alle Schüler ist Investition und Ersparnis zugleich,und sie ist realisierbar.Ich danke Ihnen.
Vielen Dank, Frau Kollegin Petra Crone. – Nächster
Redner in unserer Aussprache ist für die Fraktion der
FDP unser Kollege Hans-Michael Goldmann. Bitte
schön, Kollege Hans-Michael Goldmann.
Danke schön. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnenund Kollegen! Frau Binder, ich habe eben überlegt, wielange Sie schon im Ausschuss sind. Ich bin für mich zudem Ergebnis gekommen, dass Sie noch nicht lange imAusschuss sein können oder dass Sie vielleicht manch-mal nicht zugehört haben.
Denn mit diesem Thema hat sich der Ausschuss schonsehr lange und sehr konstruktiv beschäftigt.
Wir haben Anhörungen und Fachgespräche dazu durch-geführt, und wir haben jede Menge Berichterstatterge-spräche darüber geführt. Wir haben eine Menge in Be-zug auf dieses Thema gemacht. Wir waren uns, glaubeich, bei einem immer im Klaren: Das kann nicht vonoben verordnet werden, sondern das muss vor Ort reali-siert werden.
Sie verraten sich ein bisschen mit der Überschrift Ih-res Antrags. Dort sprechen Sie von Verpflegung. Mirgeht es in diesem Bereich nicht nur um die Verpflegungin der Schule, sondern um die Integration eines Ernäh-rungsbewusstseins. Mir geht es darum, dass die SchülerKochen können und beim Kochen darauf achten, welcheInhaltsstoffe die Produkte haben und woher diesekommen. Das sollte in die schulische Arbeit integriertwerden. Das ist viel mehr, als unentgeltlich zu verpfle-gen. Ich glaube, liebe Frau Binder, dieses Ziel sollten wirnicht aufgeben.
Es besteht überhaupt kein Zweifel daran, dass wirdurch die Umstrukturierung in der Gesellschaft und dienachfolgende Umstrukturierung im Bildungssystemgroße Chancen haben, diese Ziele beim Mittagessen undauch beim Frühstück in den Bildungseinrichtungen zurealisieren. Dies habe ich in meiner Berufsschulzeitschon mit Schülerinnen und Schülern nebenbei reali-siert, und ich versuche, dies auch in meiner evangeli-schen Kirchengemeinde vor Ort zu realisieren. Hier ha-ben wir eine große Chance. Es geht, wie ich schonbeschrieben habe, nicht um Verpflegung, sondern imGrunde genommen darum, die Mahlzeiten miteinanderzu erleben, um den Austausch zwischen den Lehrern,den Schülern und den Eltern.Sie waren sicherlich auch auf der letzten didacta undhaben sich darüber informiert, dass es in diesem Bereichmittlerweile ein breites Angebot mit sehr guten Lösun-gen gibt. Sie alle haben regionale Wurzeln. Ich bin froh,dass Sie angesprochen haben, dass es Schüler gibt, die indieser Hinsicht etwas machen. Ich war in Schulen inBerlin. In meinem Büro saß ein Schüler, der erzählt hat,was er an einem Gymnasium in Berlin auf den Wegbringt. Aber er würde sich schwer dagegen verwahren,dass ich ihm sage, was er dort zu tun hat.
Er möchte dies mit den Eltern und mit den Unternehmenvor Ort regeln. Sie wollen, dass es wie im alten planwirt-schaftlichen System von oben finanziert wird.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26849
Hans-Michael Goldmann
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– Sie können ruhig noch ein bisschen lauter schreien. Ichbin das durchaus durch meine schulische Arbeitgewohnt. – Ich sage Ihnen ganz ehrlich: Das ist schlichtder falsche Weg.Liebe Frau Binder, wir dürfen und sollten die Schu-len, von der Grundschule an – Sie sprechen sogar vomKindergarten –, nicht aus der kommunalen Verantwor-tung entlassen. Dort, wo es Probleme gibt, können wirsicherlich darüber nachdenken, wie wir speziell helfenkönnen. Natürlich setzen wir bei den Eltern an. Ich binsehr wohl bereit – das gilt für viele von uns –, auchPatenschaften in diesem Bereich zu übernehmen. Aller-dings bin ich entschieden dafür, deutlich zu machen, wasein kommunaler Auftrag und was ein Landesauftrag ist.Problematisch ist, dass Sie sich um die Frage nachden Kosten gedrückt haben. Sie wissen hoffentlich, dasses 11 Millionen Schüler in Deutschland gibt, die Kinder-gartenkinder einmal außen vor gelassen. Wenn das Essen4 Euro pro Kind kostet, verursacht Ihr Modell Kosten inHöhe von 8,8 Milliarden Euro, und das nur im schuli-schen Bereich. Angesichts dessen bin ich schon dafür,auch einmal darüber nachzudenken, ob das verantwort-lich ist; denn auf Schuldenbergen können Kinder ganzsicher nicht lernen und nicht spielen. Deswegen bleibeich bei meiner Position.
Herr Kollege, geben Sie dem Präsidenten die Chance,
Sie zu fragen, ob Sie eine Zwischenfrage der Kollegin
Karin Binder zulassen?
Ich lasse diese Zwischenfrage nicht zu,
weil Frau Binder genau weiß, dass wir eigentlich schon
seit geraumer Zeit an der Eröffnung der Internationalen
Grünen Woche teilnehmen sollten.
Bei manchen Themen haben Sie übrigens gar keine
Ahnung. Sie wissen doch – oder wissen Sie das nicht? –,
dass es einen reduzierten Mehrwertsteuersatz von 7 Pro-
zent gibt.
Natürlich muss man zur Realisierung dieses Mehrwert-
steuersatzes – hören Sie doch zu; dann erfahren Sie die
Lösung – eine Stiftung oder einen Verein gründen. Aber
Sie wollen doch wohl nicht von oben die Gründung von
Vereinen und Stiftungen verordnen. Deswegen muss ich
ganz klar sagen: Ihr Modell ist nicht geeignet. Die viel-
fältigen Aktivitäten, die es mittlerweile auf allen Ebenen
gibt, nehmen Sie nicht zur Kenntnis. Das ist ignorant.
Die Schulverpflegung ist eine wertvolle und wichtige
Sache. Sich mit dem Thema Ernährung zu beschäftigen,
ist ebenfalls eine wertvolle Sache. Es ist sicherlich mög-
lich, ein solches Vorhaben vonseiten der Bundesebene
anzustoßen und zu begleiten. Aber wenn die Realisie-
rung Erfolg haben soll, muss dabei das Regionalprinzip
zum Tragen kommen.
Man muss dieses Problem regional lösen
und darf nicht die bundespolitische Weiche auf Subven-
tion stellen.
Vielen Dank, Kollege Hans-Michael Goldmann.
– Bitte Vorsicht!
Ich würde sagen, wir machen in einem kollegialen Mit-einander weiter.Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist die FrauKollegin Nicole Maisch für die Fraktion Bündnis 90/DieGrünen.
Frau Kollegin Maisch, Sie haben das Wort.
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26850 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Vizepräsident Eduard Oswald
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– Wir sind hier in der Debatte. – Frau Kollegin, lassenSie sich nicht irritieren. Sie haben das Wort.
Herzlichen Dank. Ich bemühe mich, es mir zu neh-men. – Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Zur Ganztagsschule und zur umfassenden Betreuungvon Kleinkindern in Kitas und Krippen gehört ein quali-tativ hochwertiges, bezahlbares Essensangebot. Es istVoraussetzung für Lernerfolg. Es stärkt den sozialenZusammenhalt und die Esskultur. Es ist gelebte Präven-tion von Fehlernährung und Übergewicht. Es gibt insbe-sondere Kindern, die aus schwierigen Verhältnissenkommen, die Chance, gesund aufzuwachsen.
In diesem Punkt herrscht weitgehend Konsens, bei unsim Ausschuss und, wie ich zu wissen glaube, auch imParlament insgesamt.Wir haben im Ausschuss eine Anhörung durchgeführtund uns in verschiedenen Berichterstattergesprächenausgetauscht. Die Reden waren gut. Leider ist es beiSchwarz-Gelb bisher beim Reden geblieben.
Frau Crone hat ausgeführt, dass sich bei anderen Farb-kombinationen etwas mehr Aktivität entfaltet hat; ichnenne nur das Ganztagsschulprogramm, das unter Rot-Grün auf den Weg gebracht worden ist. Man könnte hieralso mehr machen. Ilse Aigner und die schwarz-gelbeKoalition haben das Thema „Gesundes Essen für alleKinder“ aber nie zu ihrem Herzensanliegen, nie zu ihremProjekt gemacht.
Wir erinnern uns zwar an das von Ursula von derLeyen rührselig heraufbeschworene warme Mittagessen,auf das die Kinder warten.
Aber Ihr bürokratisches Bildungs- und Teilhabepaket hatdazu geführt, dass ein Großteil der Kinder immer nochdarauf wartet, weil die Eltern keine Anträge gestellthaben, weil an den Schulen vor Ort oft kein Angebotbesteht oder weil die Familien, Schulen und Behördenvor Ort mit dem Bürokratiemonster, das Sie mit demBildungs- und Teilhabepaket geschaffen haben, überfor-dert sind.
Für einen Teil der Einrichtungen, nämlich für dieKinderhorte, läuft die Förderung Ende dieses Jahres aus.Da fragt man sich schon, ob die Union glaubt, dass dieKinder nach 2013 nicht mehr hungrig sind.Eine ähnliche Entwicklung gibt es bei den Schulver-netzungsstellen. Sie wollen die Schulvernetzungsstellenfinanziell austrocknen. Schon im Haushalt 2013 wurdendie entsprechenden Mittel um 170 000 Euro gekürzt, undin den nächsten fünf Jahren sollen die Schulvernetzungs-stellen in den einzelnen Bundesländern nach und nachauslaufen. Ich finde das absurd.
Einhergehend mit der zunehmenden Berufstätigkeit vonMüttern werden wir immer mehr Ganztagsschulen ha-ben, immer mehr Krippen und immer mehr Kitas, dienicht nur Halbtags-, sondern auch Ganztagsbetreuunganbieten. Diese Einrichtungen werden händeringendnach Beratung über gute Schulverpflegung oder guteKitaverpflegung suchen. Deshalb darf man die Schul-vernetzungsstellen nicht austrocknen, sondern muss siezu Kompetenzzentren für Gemeinschaftsverpflegungausbauen.
Wir haben vorhin einen kleinen Streit über die Inter-nationale Grüne Woche ausgefochten. In diesem Zusam-menhang möchte ich sagen: Ich finde, Schulernährungsollte auch als agrarpolitisches Thema gesehen werden.
Es ist mir unbegreiflich, warum über 11 Millionen Schü-lerinnen und Schüler, Kindergartenkinder und Krippen-kinder, die an 200 Tagen im Jahr gesund und schmack-haft bekocht werden wollen, von der schwarz-gelbenBundesregierung nicht als relevanter Absatzmarkt fürhochwertige, regionale, ökologische Erzeugnisse er-kannt werden und keine entsprechenden politischenKonsequenzen für die verschiedenen europäischen undnationalen Förderinstrumente, zum Beispiel bei derGAP, gezogen werden.
– Herr Goldmann, es ist gut, wenn in Ihrem Heimatortoffensichtlich alles in Ordnung ist. In einem Großteil derSchulküchen in diesem Land werden jedoch nicht ein-mal die DGE-Standards eingehalten.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26851
Nicole Maisch
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Es mag gute regionale Kooperationen geben, und wirfinden das toll. Frau Heil hat dies am Beispiel des Natio-nalen Aktionsplans „IN FORM“ vorgetragen. Aber diepolitische Aufgabe, vor der wir stehen, ist doch, aus die-sen Projekten Programme für die Fläche zu machen.
Wir haben genug Beispiele, die sich für das Schau-kochen auf der Internationalen Grünen Woche eignen.Was wir brauchen, sind gutes Essen, Vielfalt, ein hoherBioanteil, regionale Produkte für alle Kinder.Wir Grüne wollen Qualität für alle. Das heißt abernicht, dass alles umsonst sein muss. „Alles umsonst füralle“ halten wir Grüne nicht für sinnvoll. HerrGoldmann, Sie haben gesagt, die Linken drückten sichum die Kosten. Das ist nicht richtig. Wenn man den An-trag der Linken bis zum Ende liest – was sich empfiehlt,wenn man darüber redet –, findet man die Kosten genaubeziffert mit 8,3 Milliarden Euro allein für die Schul-kinder.
Ich glaube, dass man dieses Geld besser anlegen kann.Was wird faktisch passieren? Leute wie ich werden denÜberweisungsauftrag für die Krippe ändern, sodass60 Euro weniger überwiesen werden. Man sollte aberdie, die wirklich bedürftig sind, die kein Geld haben, umsich das Schulessen zu leisten, unterstützen. Warum je-mand wie ich 60 Euro weniger im Monat für Essensgeldüberweisen soll, ist mir unter sozialpolitischen Gesichts-punkten nicht verständlich.
– Natürlich werde ich mehr Steuern zahlen – das ist ganzklar –, wenn es eine andere Mehrheit in diesem Landgibt. Aber ich sage Ihnen jetzt einmal, wofür ich dieseMilliarden lieber ausgegeben sehen will: Wir brauchen,wenn wir das Kooperationsverbot abgeschafft haben,Geld für ein neues Ganztagsschulprogramm. Wir brau-chen dringend Geld für Qualitätsverbesserungen in denKindertagesstätten, in den Kinderkrippen. Wir brauchenGeld – das ist in Ihrem Antrag nicht in Milliarden oderMillionen beziffert – für eine bessere Infrastruktur fürdie Schulverpflegung. Das sind alles unglaublich teureMaßnahmen; aber wir sagen eben: In einem neuen Ganz-tagsschulprogramm, in Infrastrukturverbesserungen, inQualitätsverbesserungen auch bei den pädagogischenKonzepten und in einer Erhöhung der Regelsätze fürarme Kinder sind die Milliarden besser angelegt als in„alles für alle umsonst“.
Wir teilen das Anliegen der Linken, gutes Essen füralle zu bezahlbaren Preisen bereitzustellen,
und finden es gut, dass Sie diesen Antrag auf die Tages-ordnung gesetzt haben. Diese Debatte zu führen, ist rich-tig; über den Zeitpunkt mag man meinetwegen streiten.Den Weg, den Sie vorschlagen, finden wir allerdings sonicht zustimmungsfähig.
Vielen Dank, Frau Kollegin Nicole Maisch. – Nächste
Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist unsere Kol-
legin Marlene Mortler. Bitte schön, Frau Kollegin
Marlene Mortler.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich finde es zwar naheliegend, dass wir paral-
lel zur Eröffnung der Grünen Woche über Ernährung re-
den; aber ich finde es ziemlich daneben, dass wir hier
über ein Thema reden, für das wir überhaupt nicht zu-
ständig sind, und schlechte Gastgeber für alle unsere
ausländischen Gäste und Delegationen sind, die schon
den ganzen Tag auf uns warten.
Der Finanzierungsbedarf für Ihre Forderung nach
hochwertiger und unentgeltlicher Verpflegung für alle
Schüler, Kinder und Jugendlichen beziffert sich laut Ih-
rem Antrag auf 8,3 Milliarden Euro. Ja, wenn es das
schon wäre! Sie fordern auch ein sofortiges Investitions-
programm für die Kommunen, um Mensen und Schulkü-
chen neu zu bauen bzw. zu renovieren.
Frau Kollegin.
Herr Präsident, ich möchte gerne zu Ende reden.
Wenn am Schluss noch Zeit bleibt, lasse ich die Zwi-
schenfrage gerne zu.
Schauen wir einmal.
Außerdem fordern Sie, dass der Mehrwertsteuersatzfür die Caterer von 19 Prozent auf 7 Prozent gesenkt wirdund nicht wirtschaftlich agierende Zulieferer bzw. Cate-
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26852 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Marlene Mortler
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rer von der Umsatzsteuer befreit werden. – Das ist Poli-tik nach Ihrem Geschmack. Sie tischen munter wün-schenswerte Wohltaten auf, und der Bund koordiniertund zahlt. Wohltaten für alle via Gesetz!
Mich schüttelt schon, mit welcher Leichtigkeit Sie hierzweistellige Milliardenbeträge mit teils abenteuerlichenBegründungen einfordern.
Ihrem Rezept fehlt ein entscheidender Passus. Es enthältkeinen Satz zur Gegenfinanzierung.Sie verteidigen die Bundesländer, weil diese mit derSchuldenbremse überfordert wären. Aber hallo! Auchder Bund muss die Schuldenbremse einhalten.
Es kann nicht sein, dass der Bund immer mehr Dinge be-zahlen muss, obwohl er nicht zuständig ist.
Das hieße, dass wir immer öfter von unseren grundge-setzlichen Regelungen abweichen.
Das Bildungs- und Teilhabepaket, liebe Gitta Connemann,war eine Ausnahme, und sie muss es auch bleiben.Meine Kolleginnen und Kollegen, auch wenn der Satzin diesem Haus schon oft gesagt wurde: Politik beginntbeim Betrachten der Realitäten.
Als Meisterin der ländlichen Hauswirtschaft weiß ichum die Bedeutung und den Wert einer ausgewogenen Er-nährung. Hier muss mir also keiner etwas vormachen.Bleiben wir aber doch bitte auf dem Boden! Ganz abge-sehen von den Zuständigkeiten: Was ist wünschenswert?Was ist machbar? Wie können wir sichern, dass sich un-sere Kinder gesund und ausgewogen ernähren? Ein ge-sundes Angebot bedeutet übrigens nicht automatischauch eine gesunde Ernährungsweise.Damit komme ich zu den Eltern. Diese kommen in Ih-rem Antrag nur zwei Mal vor, und das in einer kleinenNebenrolle. Ich sage Ihnen: Elternverantwortung ist Ei-genverantwortung;
denn wenn sich die Eltern nicht genügend kümmern,dann bleiben die Kinder auf Dauer auf der Strecke; siebleiben schlecht ernährt.
Der Staat und die Politik können das auf Dauer nicht al-leine richten. Das heißt, wir dürfen die Eltern nicht ausihrer Verantwortung entlassen. 1 Euro ist für mich einsymbolischer Betrag; er muss aus meiner Sicht immerleistbar sein. Welches Selbstverständnis und welchesGesellschaftsbild haben Sie eigentlich, dass Sie alles aufden Staat abschieben wollen?
Auch zu Hause kann man seine Kinder nicht zum Nullta-rif ernähren!
Essen ist für mich auch Nahrungsaufnahme,
und zwar im Sinne von Erleben. Da gebe ich Ihnen sogarrecht; denn Sie haben in Ihrem Antrag sehr ausführlichformuliert, dass das Essverhalten als Kind das Essver-halten als Erwachsener entscheidend prägt.
Meine Damen und Herren, das Essen in der Familie,das Essen mit der Schulfamilie muss aus meiner Sichtwieder mehr zu einem sozialen Ereignis werden. Es istso wichtig, dass sich die Kinder auf das gemeinsame, ab-wechslungsreiche Essen freuen, wie es in meiner großenFamilie ganz selbstverständlich ist,
dass Erzieherinnen und Erzieher und Lehrerinnen undLehrer auch Vorbilder sind, mitessen und zeigen, dass esschmeckt und dass sich Kinder in einer angenehmenAtmosphäre wohlfühlen.Der Nationale Aktionsplan „IN FORM“ des Bundes-landwirtschaftsministeriums ist mehrfach angesprochenworden; es ist nur eines von vielen Projekten und Pro-grammen. Aber mit Blick auf Bayern und aus Bayernmöchte ich Ihnen mitgeben: Es liegt in absoluter Zustän-digkeit der Bundesländer, das Beste aus diesem Pro-gramm zu machen. Das gilt auch für die Aktivitäten undfür die Aktivierung der sogenannten VernetzungsstelleSchulverpflegung. Selbstverständlich erwarten wirDGE-Standards, also die Standards der Deutschen Ge-sellschaft für Ernährung. Darüber hinaus versuchen wir,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26853
Marlene Mortler
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über Coaching die Akteure an den Tisch zu holen undmit ihnen die Schulverpflegung zu optimieren. Das istder richtige Ansatz.
Herzlichen Dank an das BMELV, stellvertretend anStaatssekretär Bleser, für dieses Programm.Leider hat der Lernort Familie an Bedeutung verlo-ren. Mangelnde Alltagskompetenz hat für uns alle weit-reichende Folgen. Deshalb fördere und unterstütze icheine Unterschriftenaktion der bayerischen Landfrauenfür die Einführung eines Unterrichtsfaches für Alltags-und Lebensökonomie.
Das würde uns übrigens nichts kosten und im Ergebnisunserer Volkswirtschaft viel Geld, also Ausgaben, erspa-ren.
– Danke. – Mit diesem Geld können wir dann tatsächlichund gezielt bedürftige Kinder unterstützen.Aus den vielen genannten guten Gründen lehnen wirIhren Antrag aus Überzeugung ab.Danke schön.
Frau Kollegin Binder, Sie haben gemerkt, dass für
Ihre Zwischenfrage keine Zeit geblieben ist. – Vielen
Dank, Frau Kollegin Marlene Mortler.
Nächste Rednerin für die Fraktion der Sozialdemo-
kraten ist unsere Kollegin Frau Marianne Schieder. Bitte
schön, Frau Kollegin Marianne Schieder.
Lieber Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kolle-gen!… Speisen haben vermutlich einen sehr großenEinfluss auf den Zustand der Menschen, … werweiß, ob wir nicht einer gut gekochten Suppe dieLuftpumpe und einer schlechten den Krieg oft zuverdanken haben.So der Physiker Georg Christoph Lichtenberg im18. Jahrhundert über das Essen. „Essen und Trinken hältLeib und Seele zusammen“, so lautet ein altes Sprich-wort. Diese Feststellungen ließen sich fortsetzen; aberwir wissen aus eigener Erfahrung, wie wichtig gute Er-nährung und gemeinsames Essen für Geist und Seelesind. Dabei – auch das wissen wir aus eigener Erfahrung –geht es eben nicht nur um das Stillen des Hungers. Ge-rade für Kinder ist ein gesundes und ausgewogenesEssen sowohl für die körperliche wie auch für die geis-tige Entwicklung von ganz besonderer Bedeutung. Nochdazu – darauf wurde schon mehrmals hingewiesen –werden Lebensstil und Ernährungsgewohnheiten ge-prägt, die ihre Spuren oft ein Leben lang hinterlassen.Blickt man auf die Essensversorgung in unserenSchulen und Kindertagesstätten – es stimmt, was dazuschon gesagt worden ist –, ergibt sich wirklich ein be-sorgniserregendes Bild. Die Hochschule Niederrhein hatim vergangenen Jahr im Rahmen einer deutschlandwei-ten repräsentativen Umfrage feststellen müssen, dass dieQualität des Essens an 200 untersuchten Schulen über-wiegend mangelhaft und ungesund war. Über 90 Prozentder Schulen erfüllen die Ansprüche der Deutschen Ge-sellschaft für Ernährung an gesundes Essen nicht. In derTat, da kann man nur sagen: Wir brauchen dringend eineVerbesserung dieser Situation.
Wir haben Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen ausden Reihen der Union und der FDP, schon seit längeremviele Vorschläge unterbreitet. Greifen Sie unsere Vor-schläge auf, und tun Sie endlich etwas!
Es reicht nicht aus, wenn die Bundeskanzlerin die Bil-dungsrepublik ausruft. Wir brauchen dazu schon die ent-sprechenden Rahmenbedingungen. Doch da erleben wirbei Ihnen wenige Aktivitäten. Sie handeln beharrlichnach der Methode: nichts tun, aussitzen, blockieren.Ein gutes Beispiel für die Blockadehaltung derschwarz-gelben Koalition sehen wir in der dringend er-forderlichen Aufhebung des Kooperationsverbotes imBereich Bildung.
Wer nämlich wirklich etwas für bessere und mehr Bil-dung tun will, muss das Grundgesetz ändern und es er-möglichen, dass Bund und Länder miteinander die wich-tigen Aufgaben und Herausforderungen in Angriffnehmen und bewältigen. Dazu gehören das Schulessenund die Verpflegungssituation in Schulen und Kitas ins-gesamt. Der Vorschlag aber, den Sie uns seitens der Bun-desregierung vorgelegt haben, ist das Papier nicht wert,auf dem er steht. Sie nehmen doch nur die Hochschulenin den Blick und da auch nur einen ganz kleinen Bereich.Von Schulen und Kitas ist überhaupt nicht die Rede.Noch unproduktiver ist der Vorschlag des bayerischenKultusministers, das Ganze über einen Staatsvertrag re-geln zu wollen. Diese Staatsvertragsidee ist maximal einöffentlichkeitswirksames und geschicktes Ablenkungs-manöver. Es wird natürlich der Eindruck erweckt, als seiman an einer besseren Zusammenarbeit der Bundeslän-der in Sachen Bildung interessiert, weil man natürlichweiß, dass die Bevölkerung dies dringend erwartet. Aberin Wahrheit denkt man doch gar nicht daran, mehr Ab-sprachen zu treffen. In Wahrheit will der bayerische Kul-tusminister weiter sein eigenes Süppchen kochen.
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Marianne Schieder
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Dabei wäre es auch für den vergleichsweise gut situier-ten Freistaat Bayern von großem Vorteil, wenn man überdie finanzielle Unterstützung des Bundes zum Beispielden weiteren Ausbau der Ganztagsschulen und dieSchulsozialarbeit vorantreiben könnte. Natürlich könntedann auch mehr getan werden für Verbesserungen beider Schulverpflegung. Warum sich die Staatsregierungin Bayern so beharrlich weigert, das Geld des Bundes zunehmen, das weiß der Himmel. Ein vernünftiger Menschkann dafür keine Argumente finden.Die Finanzsituation der Kommunen ist mehr als ange-spannt. Das führt dazu, dass auch sehr Wünschenswertesim Bereich Bildung nicht realisiert werden kann, weilden Sachaufwandsträgern finanziell die Hände gebundensind. Was tut hier die Bundesregierung?
Sie machen doch mit Ihrer Politik den Kommunen dasLeben noch schwerer, anstatt endlich dafür zu sorgen,dass deren finanzielle Ausstattung verbessert wird. Ichnenne hier nur das Wachstumsbeschleunigungsgesetz,die Einschnitte im Bereich der Städtebauförderung undbei dem Programm „Soziale Stadt“; die Liste ließe sichfortsetzen.
Ich fordere Sie auf: Folgen Sie der SPD-Fraktion! Wirhaben schon vor über einem Jahr den Vorschlag ge-macht, einen Art. 104 c ins Grundgesetz einzufügen.Dann könnte der Bund den Ländern dauerhaft finanziellunter die Arme greifen, auch im Bildungsbereich. DieBildungshoheit der Länder bliebe gewahrt. Mit diesemgrundlegenden Schritt könnte natürlich auch die Verpfle-gung in Schulen und Kitas verbessert werden. Ein be-sonderer Schwerpunkt liegt auf den Ganztagsschulen,wo der Verpflegung natürlich grundlegende Bedeutungzukommt.Es ist schon angesprochen worden, dass es da unddort noch Bedarf geben wird, was den Bau von Mensenbetrifft. Aber noch viel mehr müsste uns die Frage um-treiben, wie wir denn dafür sorgen können, dass in die-sen Mensen gesundes und ausgewogenes Essen gewähr-leistet wird. Es gilt die Chance zu ergreifen, Kindern undJugendlichen mit der Verpflegung in den Schulen grund-legendes Wissen über ausgewogene und gesunde Ernäh-rung zu vermitteln.Mit unserem Zukunftsprogramm „Deutschland 2020“haben wir da als SPD-Bundestagsfraktion schon die ers-ten Pflöcke eingeschlagen.
Wir wollen, dass bis 2020 jedem Kind die Möglichkeiteröffnet wird, eine gute Ganztagsschule zu besuchen.Dazu gehört natürlich auch gesundes und ausgewogenesEssen, das eben nicht nur von Großküchen angeliefertund womöglich auch noch verteilt wird. Die Sorge umdie Verpflegung muss aber auch in die Gesamtorganisa-tion des Schulbetriebs einbezogen werden. Da gibt es inder Tat noch mehr zu tun.Ich bitte Sie noch einmal: Lassen Sie mit sich reden!Sorgen Sie mit uns dafür, dass das Kooperationsverbotaufgehoben wird,
damit Bund, Länder und Kommunen zusammen überle-gen können, wie wir im Bereich der Essensversorgung inunseren Schulen und Kitas vorankommen. Es ist näm-lich höchste Zeit, richtig auf den Tisch zu hauen, damitdie Tafeln in unseren Schulen besser gedeckt werden.Wie schon der Schriftsteller Peter Maiwald sagte: DasMit-der-Faust-auf-den-Tisch-Schlagen nimmt ab, wenner gedeckt ist.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollegin Marianne Schieder. – Nächster
Redner ist unser Kollege Rainer Erdel für die Fraktion
der FDP. Bitte schön, Kollege Rainer Erdel.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!Meine sehr geehrten Damen und Herren! Frau KolleginSchieder, auch ich lebe in Bayern, aber anscheinend lebeich in einem anderen Bayern als Sie.
– Ach, Sie machen ganz bewusst die Unterscheidungzwischen Bayern und Franken.
Ich will aber nicht auf das eingehen, was Sie eben geäu-ßert haben.Der Antrag der Linken beschäftigt sich mit einemsehr wichtigen Thema. Dieses Thema beschäftigt vorallen Dingen Landes- und Kommunalpolitiker, aber auchSchüler und Elternverbände, und es war auch Bestand-teil einer öffentlichen Anhörung im Ernährungsaus-schuss.
Leider liegen die Linken bereits mit dem Titelkrachend daneben, wenn sie meinen, dass Unentgeltlich-keit der Schulverpflegung Lernerfolg und Konzentrationder Schüler fördert. Ich bin zweiter Bürgermeister einerGemeinde, die sehr erfolgreich Mittagsverpflegung an-bietet. Ich lade Sie gerne in meine Gemeinde ein undwerde auch dafür sorgen, dass Sie unentgeltlich Mittags-
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Rainer Erdel
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verpflegung bekommen, wenn es dann auch bei Ihnenden Lernerfolg fördert.
Es wird die Behauptung aufgestellt, Kinder vonHartz-IV-Empfängern könnten sich in diesem Land nichtrichtig ernähren. Das kann ich nicht nachvollziehen.
Sie meinen, dass das Essen unentgeltlich sein soll.
Seit einigen Wochen wissen wir, dass Sparkassendirek-toren durchaus zu den Besserverdienern gehören. AberSie sind der Meinung, dass auch die Kinder von Besser-verdienenden ihr Essen kostenlos erhalten sollten. Dieskann ich nicht nachvollziehen.
Sie behaupten in Ihrem Antrag allen Ernstes, Kom-munen und Länder sähen sich für das Thema Schul-verpflegung nicht in der Verantwortung. Ich kann Ihnenversichern: Wir sehen uns als Kommunalpolitiker sehrwohl in der Verantwortung. Das geht sogar so weit, dassEltern anfragen, ob es nicht möglich ist, dass sie von die-ser Schulverpflegung Portionen käuflich erwerben undmit nach Hause nehmen können, was allerdings rechtlichnicht zulässig ist.
Herr Kollege Erdel, die Frau Kollegin Binder probiert
es jetzt auch bei Ihnen.
Auch bei mir ist es so, dass ich das auf den Schluss
der Rede verschieben möchte.
Auch mit der Begründung, dass Sie zur Grünen Wo-
che müssen?
Ja.
Also, Frau Kollegin Binder, Sie haben es gehört.
Wir haben sehr viele Elternbeiräte, und wir haben
Schülerbeiräte, die durchaus bereit und in der Lage sind,
den Speisezettel zusammenzustellen.
Sie fordern in Ihrem Antrag übrigens die Beteiligung
einer Kommission, eines Ministeriums, einer Behörde,
was auch immer, der Kultusministerkonferenz, der Län-
der und Kommunen, Forschungseinrichtungen, Gewerk-
schaften, Schüler- und Elternvertretungen, Schulen, des
Bildungspersonals, der Regionalbewegung und der Ver-
braucherverbände. Sie vergessen ganz offensichtlich
Kirchen und Religionsgemeinschaften. Ich weiß, das
passt nicht in Ihr Weltbild. Aber später kommen Sie
doch darauf. Ich kann Ihnen versichern, dass auch die
Bedürfnisse und Belange von Religionsgemeinschaften
in den Speiseplänen berücksichtigt werden.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, Mittags-
verpflegung in den Schulen ist nicht entstanden, weil die
Verpflegung notwendig ist – damit hat Frau Kollegin
Crone durchaus recht –, sondern weil sich unser Bil-
dungssystem und die Ansprüche an die Ausbildung bei
uns verändert haben. Deswegen nehmen die Verantwort-
lichen, denke ich, ihre Aufgabe sehr ernst.
Der Bund unterstützt dies. Mit 1,1 Millionen Euro
werden die Vernetzungsstellen Schulverpflegung unter-
stützt. Das ist auch gut so.
Sie haben in Ihrem vierseitigen Antrag letztendlich in
einem Abschnitt einen wichtigen und richtigen Punkt
aufgegriffen. In Punkt II 2 a und b gehen Sie nämlich auf
die Wichtigkeit einer guten Ernährung und auf die Wich-
tigkeit von Lernküchen ein, die in den Lernalltag einbe-
zogen werden müssen. Das ist sehr richtig. Deswegen
rate ich Ihnen auch, Kontakt mit Frau Scherb vom Deut-
schen Landfrauenverband aufzunehmen. Sie kann Ihnen
hier sicherlich gute Empfehlungen geben.
Sie schreiben in Ihrem Antrag, dass Qualitätsvorga-
ben nicht zur Bevormundung der Kinder führen sollen,
dass eine selbstbestimmte Ernährungsweise möglich
sein soll. Aber Sie weisen auch darauf hin, die Ernäh-
rung müsse ohne Aromen und ohne Geschmacksverstär-
ker sein. Die Speisen seien bisher häufig zu fett und zu
süß. Als Getränke würden oftmals nur süße Limonaden
angeboten. Zu bevorzugen seien regionale, saisonale
Produkte, und das Ganze müsse ökologisch produziert
werden. Das solle die Basis der Schulernährung sein. –
Es gibt also „keinerlei“ Vorgaben Ihrerseits.
Ich denke, man sollte den vielen ehrenamtlich Enga-
gierten an unseren Schulen dankbar sein. Man sollte das
Thema Ernährungskunde wesentlich intensiver behan-
deln. Ich meine, wir sollten in Deutschland Vielfalt zu-
lassen und es den Kommunen, den Elternbeiräten, den
Schulen vor Ort überlassen, wie sie die Schulverpfle-
gung am besten organisieren. Deshalb, glaube ich, wird
Ihr Antrag abgelehnt werden.
Vielen herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Kollege. – Jetzt hat das Wort zu ei-ner Kurzintervention unsere Kollegin Karin Binder.
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Herr Kollege Erdel, Sie stimmen mir sicherlich zu,
dass Ihr Bundesland Schulen hat, in denen die Verhält-
nisse relativ geordnet sind. Möglicherweise sind sogar
Freundesvereine von Eltern vorhanden, die ein Stück
weit dazu beitragen, dass tatsächlich eine qualitativ
hochwertige Verpflegung möglich ist.
Aber stimmen Sie mir auch zu, dass in Deutschland
leider nicht jede Schule in einer günstigen Situation ist,
dass es Brennpunktstadtteile gibt, Schulen, in denen El-
ternarbeit quasi gar nicht vorkommt, weil die Eltern sich
gar nicht dessen bewusst sind, wie wichtig diese Arbeit
ist, und in denen eine vernünftige, qualitativ hochwertige
Verpflegung schlichtweg an Kosten scheitert? Das heißt,
der Lernerfolg ist für viele Kinder eine Frage der Kos-
ten, die ihre Eltern decken müssten. Mir geht es darum,
für alle Kinder die gleiche Grundlage zu schaffen, damit
Kinder reicher Eltern die gleiche qualitativ hochwertige
Ernährung bekommen wie Kinder armer Eltern.
Ich frage mich schon, welche Rolle das Thema Kos-
ten bei Ihnen spielt; schließlich sind Sie bereit, in Kauf
zu nehmen, dass im Gesundheitssystem pro Jahr auf-
grund ernährungsbedingter Krankheiten Kosten von
70 Milliarden Euro anfallen. Dem stelle ich die 8,3 Mil-
liarden Euro für Schulessen entgegen. Was ist denn da
für die Gesellschaft die günstigere Variante?
Ich denke, die ernährungsbedingten Kosten im
Gesundheitssystem langfristig zu reduzieren, wäre ein
weiterer Vorteil einer flächendeckenden, kostenfreien
Schulverpflegung.
Vielen Dank. – Herr Kollege Rainer Erdel zur Gegen-
rede.
Frau Binder, ich gebe Ihnen sehr recht: Es gibt sicher-
lich Schulen, wo dieses System nicht funktioniert. Aber
Sie selbst schreiben in Ihrem Antrag, dass es möglich ist,
für 4 Euro gesunde und entsprechend zubereitete
Lebensmittel den Schülern zur Verfügung zu stellen.
Deswegen bin ich der Meinung, es ist am besten, vor Ort
und nicht hier im Deutschen Bundestag zu entscheiden,
welche Nahrungsmittel – da gebe ich Ihnen ebenfalls
recht: „regional“ ist durchaus ein Ziel – den Schülern
angeboten werden. Es kommt zum Beispiel in urbanen
Gebieten mit einem hohen Migrationsanteil sehr häufig
vor, dass das Essen anders zusammengestellt sein muss
als in anderen Bereichen. Deswegen ist es wichtig, dass
die Lösung vor Ort gefunden wird, aber nicht hier im
Deutschen Bundestag.
Vielen Dank. – Wir setzen unsere Aussprache fort.
Nächste Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU un-
sere Kollegin Frau Carola Stauche. Bitte schön, Frau
Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Heute beraten wir ein Thema – ichbin die letzte Rednerin in dieser Debatte –, das jedenEinzelnen von uns berührt, egal ob man selbst ein Kindhat, das in eine Kindertagesstätte oder in eine Schulegeht. Gesunde Ernährung für Kinder gehört in das Be-wusstsein jeder Bürgerin und jedes Bürgers, aber beson-ders der Eltern.
Darüber sind wir uns über Fraktionsgrenzen hinweg ei-nig.Nicht erst im September, als durch den Norovirus imSchulessen Kinder gesundheitlich geschädigt wurden– ich komme aus einer Region, die besonders betroffenwar –, ist dieses Thema von großer Bedeutung. Fettsüch-tige und zuckerkranke Kinder sind zu einem Problem ge-worden, dem es entgegenzuwirken gilt. Eine gesundeund ausgewogene Verpflegung in der Schule oder Kin-dertagesstätte, aber auch zu Hause muss ein Teil der Lö-sung dieses eben geschilderten Problems sein. Verant-wortung hierbei tragen Länder, Kommunen, Eltern. Aberauch die Agrarwirtschaft kann hierbei helfen; ich werdedas an einem Beispiel aufzeigen. Darüber, meine sehrgeehrten Damen und Herren, ist sich nicht nur dieUnionsfraktion bewusst, sondern dessen sind wir unsalle bewusst.Aber auch die Bundesregierung, namentlich FrauAigner als Ministerin für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz, hat ein ausgeprägtes Bewusstsein fürdie Tragweite der Problematik, auch wenn die Linkeheute durchaus etwas anderes behauptete. Dass dieMinisterin an einer Lösung dieses Problems interessiertist, kann man nicht von der Hand weisen. Wer daranzweifelt – Sie haben ja heute gezweifelt –, kann sich ei-nes Besseren belehren lassen. Schauen Sie auf dieHomepage des Ministeriums, schauen Sie auf die Home-page von „IN FORM“. Das alles ist hier heute schon ge-nannt worden.Allein auf diesen beiden Seiten wird deutlich, dassviele der im Antrag der Linken aufgestellten Forderun-gen bereits umgesetzt sind. Ich nenne Ihnen stichwortar-tig einige Beispiele. Auf der Seite des Bundesministe-riums finden wir unter der Überschrift „Kita und Schule“bereits eine Menge Wissenswertes und Interessanteszum Antrag und zum diskutieren Thema. Angefangenbei der Bedeutung von Schulgärten und eines gesundenFrühstücks erfahren wir im nächsten Absatz, dass dieQualitätsstandards der Deutschen Gesellschaft für Er-nährung als Orientierung verstanden werden sollen, alsogenau wie im Antrag gefordert.
– Ja, aber das liegt nicht an der Bundesregierung.Bei weiterem Durchsehen der Homepage findet manErnährungswettbewerbe, Kinderkochbuch, Ernährungs-
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Carola Stauche
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leitfäden und vieles mehr. Hingewiesen wird auch aufdie „IN FORM“-Projekte, die sich an Kinder und Ju-gendliche richten. Wendet man sich dieser Homepagezu, findet man noch detailliertere Informationen. Abersie müssen angewendet werden. Man kann dies nicht mitdem Hinweis auf Gefängnisstrafen oder was weiß ichverordnen.Wem das nicht genügt, dem kann ich nur empfehlen,wenn wir hier fast zum Ende gekommen sind und wiralle zur Grünen Woche gehen: Gehen Sie in die Länder-halle der Grünen Woche und gehen Sie dabei bitte anden Thüringen-Stand. Dort sehen Sie in Umsetzungeiner zukunftsbeständigen und integrierten Landent-wicklung das Thema „Schulessen – Regional – Gesund –Gut“. Es kann gutgehen; aber die Verantwortungsträgervor Ort müssen sich einig sein und müssen miteinanderarbeiten.
Hier wird auch den Eltern und Schülern eine interessanteAusstattung an die Hand gegeben. Wenn Sie nicht wis-sen, wie es funktioniert, dann kaufen Sie sich dort dasBuch; denn darin können Sie lesen, wie der Prozess desSchulessens abläuft, wie die Zuständigkeiten geregeltsind und an welchen Stellen insbesondere die Eltern mitwelchen Mitteln eingreifen können. Das sollte man sichdurchaus mal angucken. Wir haben dieses Projekt, unddort wird das Schulessen regional von den Landwirt-schaftsbetrieben gewuppt, regional, frisch, gesund, unddas Essen in der Schule kostet 2,50 Euro. 4 Euro sindnicht einmal notwendig. Es gibt auch Tage, an denen esObst und Gemüse gibt. Dort ist alles vorgesehen, aber esmuss zusammengearbeitet werden.Aber wissen Sie, an den Schulen, die das Norovirushatten, haben es die Eltern abgelehnt, das Essen für2,50 Euro zu beziehen; sie wollten es für 2,30 Euro ha-ben. Darauf kann man keinen Einfluss nehmen, denndies unterliegt der Selbstbestimmung. So etwas kannman den Eltern doch nicht verordnen.Frau Aigner und die Bundesregierung sind also aufeinem sehr guten Weg, was die gesunde Ernährung derKinder angeht.Nun diskutieren wir hier über den Antrag der Linken,der nach außen hin sehr schön aussieht und dem man ei-gentlich zustimmen könnte.
Eigentlich. Aber bei einer genaueren Betrachtung desAntrags sieht man deutlich, dass dieser Antrag nichtsweiter als populistisches Aufblähen ist.
Wie eben kurz geschildert, sind sich sowohl diechristlich-liberale Koalition als auch die Bundesregie-rung der Wichtigkeit gesunder Ernährung von Kindernbewusst.
Die Forderung nach unentgeltlicher Verpflegung magschön klingen. Aber ist sie zielführend? Würden sichdenn tatsächlich mehr Kinder und Jugendliche – abgese-hen vom Mittagessen – besser ernähren? Oder ist es viel-mehr so, dass aufgrund des fehlenden Preisbewusstseins– das ist nämlich ein ganz wichtiger Aspekt – noch mehrLebensmittel weggeworfen würden, als das eh schon ge-tan wird, frei nach dem Sprichwort: „Was nichts kostet,taugt nichts“? Wir haben es oft genug erlebt. Die Le-bensmittel sind zu gut für die Tonne.Interessant finde ich, was in Ihrem Antrag zum Bil-dungs- und Teilhabepaket steht. Unabhängig davon, dassman auch hier erkennt, dass sich die Bundesregierungder Wichtigkeit der Verpflegung von Kindern und Ju-gendlichen bewusst ist, möchte ich etwas zu den Erfah-rungen sagen, die ich mit dem Bildungs- und Teilhabe-paket gemacht habe.Ich weiß aus meinem Wahlkreis, dass das für dieSchulspeisung zur Verfügung gestellte Geld völlig unbü-rokratisch und problemlos an die Schulen ausgegebenwird.
Hier haben die Eltern und die Kinder nicht viel mit derAbwicklung zu tun. Das Geld wird von der Schulbe-hörde in Absprache mit der Arge direkt an die Schulenüberwiesen. Es ist Sache der Verwaltung vor Ort, festzu-legen, wie sie arbeitet. Es ist wichtig, dass die Verwal-tung – Kommune und Arge – gut zusammenarbeitet;dann funktioniert es auch.
Ich verstehe ja, dass die Damen und Herren von derLinken die sinnvollen sozialstaatlichen Veränderungen,welche die schwarz-gelbe Koalition durchgeführt hat,verteufeln.
Aber sehen Sie doch bitte ein: Vernünftige Sozialpolitikheißt nicht, das Geld fremder Leute mit vollen Händenauszugeben. Aber genau das beinhaltet Ihr Antrag. Es istnicht notwendig, dass wir den Eltern, die sich das selbstleisten können, das Geld für die Schulspeisung bezahlen.
Das ist Ausdruck einer Politik, welche die Bürger bevor-mundet unter dem Deckmantel, dass alles und jeder derHilfe bedarf und diese auch empfangen will. Dem istnicht so. Die Menschen in unserem Land wissen ganzgenau, was gut und was schlecht für sie ist.
Denjenigen, die sich nicht selbst helfen können, hilft derStaat. So handelt die Union seit Gründung der Bundesre-publik. Das sieht man am Beispiel der Schulspeisungganz deutlich.
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Wenn Sie bitte auf die Zeit achten!
Ja. – Hierbei geht es um das Prinzip des mündigen
Bürgers und des Verbrauchers, der selbst am besten
weiß, was für ihn und seine Familie gut und wichtig ist.
Frau Kollegin Stauche, Sie sind am Ende der Rede-
zeit. Aber Sie haben jetzt die Möglichkeit, noch eine
Zwischenfrage zuzulassen.
Nein, jetzt nicht mehr. Wir wollen zur Grünen Woche.
Jawohl. Aber ich habe die Bitte, dass noch ein paarhierbleiben. – Vielen Dank.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe nun dieAussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/11880 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie alle sind damiteinverstanden. Dann haben wir das gemeinsam so be-schlossen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 13 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur zusätzlichen Förderung von Kin-dern unter drei Jahren in Tageseinrichtungenund in Kindertagespflege– Drucksache 17/12057 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Gesundheit Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GONach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Sie allesind damit einverstanden. So haben wir dies gemeinsambeschlossen.Ich eröffne nun die Aussprache. Das Wort hat unsereBundesministerin, Frau Dr. Kristina Schröder. Bitteschön, Frau Bundesministerin Dr. Schröder.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Lieber Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen undKollegen! Am 14. Dezember haben die Länder im Bun-desrat das Fiskalvertragsumsetzungsgesetz abgelehntund damit auch 580 Millionen Euro, die der Bund imJuni 2012 zusätzlich für den Bau von 30 000 neuen Kita-plätzen bereitgestellt hat.Wir beraten heute kurzfristig den Entwurf eines Kin-derzusatzförderungsgesetzes, weil wir wollen, dass dieneuen Bundesmittel schnellstmöglich in den Bau vonKitaplätzen fließen, und weil wir wollen, dass die Kom-munen und die Träger vor Ort endlich Rechts- und Pla-nungssicherheit haben.Der vorliegende Gesetzentwurf schafft die Grundla-gen dafür, dass die im Bundeshaushalt bereitgestelltenMittel abgerufen und eingesetzt werden können.An dieser Stelle ist es angebracht, einen besonderenDank an die Mitarbeiter des Ministeriums auszuspre-chen. Sie haben kurz vor Weihnachten alle Hebel inBewegung gesetzt und innerhalb eines einzigen Tagesdiesen Gesetzentwurf erarbeitet und mit mir am Wo-chenende abgestimmt, damit wir trotz des straffen Zeit-planes dieses Gesetz so schnell wie möglich auf denWeg bringen können. Vielen Dank dafür.
Dabei gilt nach wie vor, dass wir den Wünschen derLänder weit entgegenkommen. Wir haben zugestimmt,dass die Mittel rückwirkend zum 1. Juli 2012 eingesetztwerden können. Wir haben zugestimmt, dass die Zahlder unter Dreijährigen zum 31. Dezember 2010 für dieVerteilung der Mittel ausschlaggebend ist und nicht derFinanzbedarf.
Aber Priorität haben für uns nicht die Wünsche der Län-der, sondern die Wünsche der Eltern.
Deshalb ist es wichtig, dass Gelder, die bis zu bestimm-ten Terminen nicht für konkrete Bauprojekte gebundensind, anderen Ländern zur Verfügung stehen. Das istganz klar im Sinne der Eltern. Die Gelder müssen demBedarf folgen und nicht dem Proporz. Darauf hatten wiruns mit den Ländern geeinigt. Die Länder haben außer-dem zugesagt, dass sie ihren Eigenanteil nachweisen, be-vor neue Mittel bewilligt werden. Das soll sicherstellen,dass aus den 580 Millionen Euro tatsächlich 30 000 zu-sätzliche Plätze entstehen.Ein dritter Punkt ist im Sinne der Eltern, nämlichmehr Transparenz. Wir brauchen endlich konkrete Infor-mationen über Ausbaustand, Planung und Bedarf vorOrt. Nur das liefert einen Überblick, den wir für eine ef-fiziente Ausbauplanung auf allen Ebenen brauchen.
Der Bund hat die Unterstützung für eine Aufgabe zu-gesagt, für die verfassungsrechtlich allein die Länder zu-ständig sind. Der Bund hat sich im Jahr 2007 bereit er-klärt, den Kitaausbau mit 4 Milliarden Euro zuunterstützen. Grundlage dafür waren Planungszahlen fürden bundesweiten Bedarf. 2007 ging man von 35 Pro-zent aus, und heute gehen wir von 39 Prozent aus.
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Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Wir alle wissen, dass diese Zahlen deutschlandweiteDurchschnittszahlen sind und dass es die Aufgabe derKommunen ist, den konkreten Bedarf vor Ort zu ermit-teln. Trotzdem wird mir immer wieder empört entgegen-gehalten, dass der Bedarf in vielen Großstädten, wie zumBeispiel Hamburg, weitaus höher ist. Ja, natürlich ist erdas. Es ist das Wesen von Durchschnittszahlen, dass da-hinter höhere und niedrigere Werte stehen.
Das ist im Grunde wie bei der SPD. Wenn sie bei derletzten Forsa-Umfrage auf 23 Prozent gekommen ist,dann findet sie ein Dorf, wo sie noch auf 30 Prozentkommt, aber sie findet auch noch Gemeinden, wo sie nurauf 20 Prozent kommt.
So ist das auch mit dem Bedarf an Kitaplätzen. Des-halb müssen sich die Kommunen vor Ort um die Erfül-lung des Rechtsanspruchs kümmern. Das bedeutet, dassjede Stadt, jede Gemeinde selbst ermitteln muss, wiehoch der Bedarf an U-3-Plätzen ist, und dass sie danndiese Plätze zur Verfügung stellen muss.Genau deshalb ist es auch so wichtig, dass wir endlichTransparenz haben, wo noch wie viele Plätze konkret be-nötigt werden. Es gibt gute Kommunen, die die Prioritä-ten rechtzeitig gesetzt haben. Es gibt aber leider auchKommunen, die erst jetzt erkennen, dass sie sich an denWünschen der Eltern orientieren müssen und nicht anbundesweiten Durchschnittszahlen.Bei den Ländern wiederum liegt die Steuerungsver-antwortung. Sie müssen sowohl ihren finanziellen Bei-trag leisten als auch dafür sorgen, dass Bundesmittel undLandesmittel in den Kommunen dort ankommen, wo siegebraucht werden. Dabei ist klar: Ohne das Geld desBundes, ohne die Weiterleitung der Mittel durch dieLänder und ohne eigene Mittel der Länder können dieKommunen ihre Aufgabe nicht erfüllen. Nur wenn alleBeteiligten ihrer Verantwortung gerecht werden, dann istder Rechtsanspruch auch zu schaffen.Wir als Bund haben unseren Teil der Abmachung er-füllt. Wir haben unsere Finanzverpflichtung erbracht undmit den 580 Millionen Euro sogar noch eine ordentlicheSchippe draufgelegt. Wir haben unseren Teil der Verein-barung zu jedem Zeitpunkt auf Punkt und Komma, aufEuro und Cent erfüllt.
Dennoch sehen wir, dass mancherorts die Ausbaudy-namik nicht hoch genug ist. Deshalb mischen wir unsein, auch über unseren Teil der Abmachung hinaus.Diese Bundesregierung, diese christlich-liberale Koali-tion tut alles in ihrer Macht stehende, um den Rechtsan-spruch zum 1. August 2013 zu erfüllen.
Wo es Ausbauhemmnisse gibt, helfen wir, diese zu be-seitigen. Dazu dient auch der 10-Punkte-Plan, den ich imMai 2012 vorgelegt habe. Die Maßnahmen daraus sindangelaufen oder laufen gerade an.Am 1. Februar startet das neue KfW-Förderpro-gramm: Kommunen und Träger können verbilligte Kre-dite für den Kitaausbau aufnehmen. Damit übernehmenwir de facto eine Aufgabe der Länder. Mit dem neuenAktionsprogramm Kindertagespflege ist bereits wenigeWochen nach dem Start der Grundstein für 1 000 neueBetreuungsplätze gelegt worden. Das neue Programmzur Förderung betrieblicher Kinderbetreuung ist gestar-tet und nimmt die Unternehmen besonders in diePflicht.Als Bund haben wir damit für die Erfüllung desRechtsanspruchs alle Voraussetzungen geschaffen. MeinAnliegen ist, dass das am 1. August 2013 auch alle Län-der und alle Kommunen von sich sagen können.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Bundesministerin. – Nun spricht
für den Bundesrat Senator Detlef Scheele. Senator
Detlef Scheele ist Senator der Behörde für Arbeit, Sozia-
les, Familie und Integration der Hansestadt Hamburg.
Bitte schön, Herr Kollege, Sie haben das Wort.
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Der Krippenausbau ist eine große Herausforderungfür die Länder und Kommunen. Die Länder und Kom-munen nehmen diese Herausforderung auch an. Ich willgerne richtigstellen, dass die Länder das Fiskalpaktge-setz nicht wegen des Krippenausbaus abgelehnt haben,sondern aus anderen Gründen. Das ist, glaube ich, auchallgemein bekannt.Wie das Beispiel Hamburg zeigt, ist das ambitionierteZiel, den Rechtsanspruch bis zum August dieses Jahresumzusetzen, gut zu erreichen. Das ist mit erheblichenAnstrengungen verbunden; aber es funktioniert, wennalle Beteiligten konstruktiv zusammenarbeiten.In Hamburg haben wir in den letzten zwei Jahren, seitdem Beginn unserer Regierungszeit, mehr als 4 000 zu-sätzliche Krippenplätze geschaffen. Kinder in Betreuungzu bringen, das kostet Geld, Zeit und Geduld. Von 2011bis 2013 werden die Ausgaben für die Kinderbetreuungin der Stadt Hamburg von etwa 400 Millionen Euro aufmehr als eine halbe Milliarde Euro steigen. Wir werdeneine Betreuungsquote im U-3-Bereich von rund 43 Pro-zent erreichen können. Das entspricht dem, was man ineiner Großstadt wie Hamburg braucht.Alle Städte erheben den Bedarf, den sie haben und siewissen auch, was sie brauchen. Das jetzt vom Bund end-lich in Aussicht gestellte Geld ist daher eine wichtigeund willkommene Hilfe. Aber das Hauptengagement
Metadaten/Kopzeile:
26860 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Detlef Scheele, Senator
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– da gebe ich der Ministerin recht – liegt bei den Län-dern und bei den Kommunen.
Sie sind für die Kindertagesbetreuung zuständig und er-füllen diese Aufgabe auch.
Die Länder haben frühzeitig, zum Beispiel auf der Ju-gend- und Familienministerkonferenz im Jahr 2011, da-rauf hingewiesen, dass die beim Krippengipfel 2007 un-terlegten Annahmen von der Wirklichkeit überholtworden sind. Die damals getroffene Verabredung, dassBund, Länder und Kommunen jeweils ein Drittel der In-vestitions- und Betriebskosten tragen, wird nicht einge-halten.Hamburg erhält ab dem Jahr 2014 – wenn die neueZusatzförderung kommt – vom Bund rund 20 MillionenEuro für den Betrieb der Kitas. Das sind jedoch nur15 Prozent der laufenden Ausgaben. Der Bund müssteallein für Hamburg noch einmal 25 Millionen Euro imJahr oben drauflegen, um der vereinbarten Drittelrege-lung nachzukommen,
und das Jahr für Jahr.Trotz verschiedener Initiativen der Länder hat dieBundesregierung die Probleme beim Krippenausbaulange Zeit ignoriert. Nur durch die Initiative der Länderhat der Bund weitere 580 Millionen Euro Investitions-mittel bereitgestellt.
Nur durch die Initiative der Länder ist es gelungen, Geldfür zusätzliche 30 000 Plätze zu erhalten. Ohne die Mi-nisterpräsidenten Kurt Beck und Olaf Scholz hätte diesbei den Verhandlungen zum Fiskalpakt gar nicht zur De-batte gestanden; denn die Bundesregierung hatte diesesThema nicht auf die Tagesordnung gesetzt.
Die Notwendigkeit einer stärkeren Beteiligung desBundes zur Erreichung des 2007 auf dem Kitagipfel vonallen gewollten und beschlossenen Rechtsansprucheswar bereits seit vielen Jahren bekannt. Stattdessen habenSie von der Bundesregierung das Betreuungsgeld einge-führt. Sie halten damit Frauen vom Arbeitsmarkt fern,verschärfen die Ungleichgewichte am Arbeitsmarkt,schließen Kinder von früher Bildung in Kitas aus undstecken viel Geld in ein Projekt, das auf veralteten Vor-stellungen vom Familienleben basiert.
Dieses Geld wäre besser in den Ausbau und die qualita-tive Weiterentwicklung der Kindertagesbetreuung inves-tiert worden;
allein in Hamburg hätte man damit 3 000 zusätzlichePlätze schaffen können, die einen Beitrag zu mehr Chan-cengerechtigkeit geleistet hätten.
Die Länder waren vor dem Hintergrund der Problemebeim Ausbau der Kindertagesbetreuung immer zu prag-matischem Handeln bereit. Aber die Idee vom August2012, die zugesicherten Mittel nur an die westdeutschenBundesländer zu verteilen, die bei der Erreichung derAusbauziele noch hinterherhinkten, war besonders be-merkenswert. Die neuen Bundesländer, aber auch alteBundesländer wie Bayern und Hamburg, die bereitsmassiv eigene Mittel investiert hatten, sollten leer ausge-hen. Mit den Ministerpräsidenten war verbindlich verab-redet, dass der Verteilungsschlüssel der alte bleibt. DerVersuch, die Länder gegeneinander auszuspielen, warsehr durchsichtig und nicht erfolgreich.In den Verhandlungen zum Fiskalpakt wurde denLändern eine unbürokratische und schnelle Regelung zu-gesagt. Wenn das so gewesen wäre, dann hätte schonlängst mit der Auszahlung begonnen werden können.Aber was sich den Ländern dann bot, war alles andereals unbürokratisch und schnell: Plötzlich wurden monat-liche detaillierte Berichte zum Ausbaustand verlangt,obwohl es bereits konkrete Nachweise für jeden Eurodes Bundesgeldes gab und bis heute gibt; die Länder ha-ben das nie abgelehnt. Pragmatismus und klare Regelnhätten stattdessen weitergeholfen. Dazu waren und sindwir bereit, alle 16 Länder gemeinsam.Erst im November, nach energischem Drängen allerLänder, hat die Bundesregierung endlich damit aufge-hört, die notwendigen Verbesserungen für Familien undihre Kinder zu blockieren. Wir werden uns den Schwar-zen Peter nicht zuschieben lassen. Denn die Realitätsieht gänzlich anders aus: Für Hamburg gilt, dass wirden Rechtsanspruch für alle zweijährigen Kinder bereitsim letzten August erfolgreich umgesetzt haben. Nord-rhein-Westfalen hat – erst nach dem Regierungswechselim Sommer 2010 – zusätzliche Landesmittel in Höhevon fast einer halben Milliarde Euro in den Ausbau derKinderbetreuung im U-3-Bereich investiert.
Fast überall wird der Ausbau vorangetrieben.Meine Damen und Herren, lassen Sie uns mit demKlein-Klein aufhören;
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Detlef Scheele, Senator
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das können wir uns nicht länger leisten. Es sind noch sie-ben Monate; dann muss der Rechtsanspruch gewährleis-tet sein.
– Kommen Sie nach Hamburg und gucken Sie, wie dasgeht. Das wäre ganz hilfreich.
Wir haben nicht mehr viel Zeit: Es sind noch sieben Mo-nate; dann soll der Rechtsanspruch gelten. Die Elternsollen arbeiten können, wenn sie wollen. Es soll früheBildung für alle Kinder geben. Das wäre ein Beitrag zumehr Chancengerechtigkeit. Die Politik sollte sich jetztzusammenraufen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Herr Senator. – Nächster Redner in un-
serer Aussprache ist für die Fraktion der FDP unser Kol-
lege Pascal Kober. Bitte schön, Herr Kollege Pascal
Kober.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bund, Länder und Kommunen haben sich darauf ver-ständigt, 12 Milliarden Euro in das wichtige gesamtge-sellschaftliche Ziel einer verbesserten Kinderbetreuungzu investieren.
Davon trägt der Bund 4 Milliarden Euro. Mit dem heuti-gen Gesetzentwurf legt er weitere 580,5 Millionen Euronach. Das bedeutet: Keine Bundesregierung zuvor hat jeso viel in den Ausbau der Infrastruktur in der Kinderbe-treuung investiert.
Wir, die christlich-liberale Koalition, stehen zu unse-rem Teil der Verantwortung und zum Rechtsanspruchauf Betreuung für unter dreijährige Kinder, der zum1. August in Kraft treten wird. Wir stehen dazu, weil wirwissen, dass eine gute Familienpolitik Paare ermutigt,Kinder zu bekommen. Für eine gute Familienpolitik be-darf es dreierlei:Erstens. Es bedarf der richtigen Rahmenbedingungen,sowohl bestimmter rechtlicher Rahmenbedingungen,zum Beispiel eines Rechtsanspruchs, als auch guter Be-dingungen im Bereich der Infrastruktur, zum Beispiel fürKindertagesstätten, Horte, Tagesmütter und Tagesväter.Zweitens. Es bedarf einer finanziellen Unterstützung.Internationale Vergleiche besagen, dass Deutschland hierweltweit in der Spitzengruppe liegt.Drittens. Es bedarf dessen, was die BundesministerinKristina Schröder „Zeit für Familie“ nennt: die Möglich-keit, Familie und Beruf miteinander zu vereinbaren, einverlässliches Umfeld in der Betreuung und gute Aus-sichten am Arbeitsmarkt; denn wir wissen, dass Unsi-cherheit hinsichtlich des Arbeitsplatzes bei vielen dazuführt, bei der Verwirklichung des Kinderwunsches abzu-warten. Manche warten dann viel zu lange.Ich denke, niemand kann bestreiten, dass die guteKonjunkturlage der letzten drei Jahre unter dieser Regie-rungskoalition zu mehr Verlässlichkeit auf dem Arbeits-markt geführt hat.
Noch nie in der Geschichte der Bundesrepublik waren soviele Menschen erwerbstätig.In der heutigen Debatte geht es um zusätzliche Mittelin Höhe von 580,5 Millionen Euro, die der Bund bereit-stellt, und darum, warum wir dieses schon beschlosseneFinanzpaket heute noch einmal in den Bundestag ein-bringen müssen. Wir müssen das tun, weil die Bundes-länder ihren Teil der Verantwortung beim Ausbau derKinderbetreuung nur sehr schleppend wahrgenommenhaben. Es hat sich gezeigt, dass einige Bundesländer die4 Milliarden Euro nur sehr zögerlich abgerufen habenund die Umsetzung des Kitabauprogramms mit den zeit-lichen Vorgaben nicht Schritt gehalten hat.An dieser Stelle darf man auch einmal darauf hinwei-sen – der Kollege Christian Lange aus Baden-Württem-berg war eben noch anwesend –, dass das grün-rot re-gierte Baden-Württemberg mit nur 61,7 Prozent dasSchlusslicht beim Mittelabruf bildet.
Das ist schade und ein eindeutiger Aufruf an das grün-rote Baden-Württemberg.
Die Länder haben den Fiskalpakt abgelehnt, in demauch die zusätzlichen 580,5 Millionen Euro für den Kita-ausbau enthalten waren. Wir müssen den Ländern heutedas Geld quasi hinterhertragen.
Dabei haben Bund, Länder und Kommunen den Ausbauder Kinderbetreuung einstimmig beschlossen. Deshalbist es ärgerlich, wenn die Länder einerseits ihrer Verant-wortung nicht in ausreichendem Maße nachkommen,
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Pascal Kober
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sich aber gleichzeitig beklagen, wenn sich der Bund inihre Kompetenzen einmischt.Wenn zum Beispiel schärfere Berichtspflichten vor-geschlagen werden, gibt es Kritik. Die Eltern der Kindererwarten von den Landesregierungen aber keine takti-schen Spielchen,
sondern die Umsetzung dessen, was sie selbst mit be-schlossen haben. Um echte Wahlfreiheit zu erreichen,brauchen wir auch in den nächsten Jahren erheblicheAnstrengungen. Jeder – auch Bund, Länder und Kom-munen – sollte dabei den eigenen Verpflichtungen nach-kommen.Ich vermisse zum Beispiel Initiativen der Landesre-gierungen zur Entrümpelung der Landesbauordnungen,um nicht den Ausbau durch überzogene Standards beider Höhe von Kleiderhaken und Toilettenbecken zu ver-zögern. Ich vermisse Initiativen der Landesregierungen,um die EU-Hygieneverordnungen in der Tagespflegegroßzügig auszulegen. Hierbei haben die Länder einenerheblichen Spielraum, den sie im Sinne der Kinderbe-treuung nutzen sollten.
Wir haben mit unserem Antrag zur Stärkung der Ta-gespflege unseren Teil dazu beigetragen. Wenn es umdie Kinderbetreuung geht, liegt aber vieles in der Zu-ständigkeit der Länder. Insofern kann ich nur an die Län-der und die Kommunen appellieren, ihrer Verantwortunggerecht zu werden und beim Ausbau der Kindertagesbe-treuung einen Zahn zuzulegen. Packen Sie mit an undverhindern Sie nicht! Die Eltern und die Kinder wartendarauf.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Pascal Kober. – Nächste Red-
nerin für die Fraktion Die Linke ist unsere Kollegin Frau
Diana Golze. Bitte schön, Frau Kollegin Golze.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Sehr geehrte Kollegin-nen und Kollegen! Es ist schon verwunderlich. Wennman den Gesetzentwurf durchliest und wenn man dieRede unserer Ministerin dazu hört, dann gewinnt manden Eindruck, die Bundesregierung und die sie tragen-den Fraktionen hätten das Gefühl, den beschlossenenRechtsanspruch locker umsetzen zu können, und esginge nur noch um diese kleine Differenz zwischen denPlätzen für 37 Prozent bzw. 39 Prozent der Kinder. Diese30 000 Plätze könne man den Ländern gerne auch nochhinterhertragen, wie es Herr Kober vorhin sagte.Sie nehmen überhaupt nicht zur Kenntnis, dass diese37 Prozent bzw. 39 Prozent von Anfang an bewusst zuniedrig angesetzt waren und dass es einen deutlich höhe-ren Bedarf geben wird, den das Statistische Bundesamtvor wenigen Wochen deutlich beziffert hat.
220 000 Plätze fehlen derzeit bundesweit. Frau Ministe-rin, da helfen keine Zahlenspiele. Da helfen auch keinestatistischen Berechnungen. Es helfen auch keine Erklä-rungen, wie Umfragen oder statistische Mittelwerte zu-stande kommen. Das zu wissen, können Sie einemdurchschnittlichen Bundestagsabgeordneten durchauszutrauen.Das Problem ist, dass der Bedarf deutlich größer istals die Zahl, die Sie beschlossen haben. Dieses Problemhaben die Kommunen. Die Realitätsverweigerung, dieSie dabei an den Tag legen, hilft den Kommunen nichtweiter.Das Problem ist auch, dass Sie nicht nur fehlendeKrippenplätze in einer nennenswerten Größenordnungignorieren, sondern dass Sie auch ignorieren, dass der-zeit aus einer Verzweiflung heraus eine Debatte über dasAbsenken von Qualitätsstandards geführt wird, nur umvielleicht doch noch den Rechtsanspruch einlösen zukönnen. Genau das dürfen wir aber nicht zulassen. Dasdürfen wir auch nicht auf Bundesebene zulassen.
Wir brauchen bundesweit qualitative Standards. Auf diemuss man sich endlich verständigen. Deswegen fordereich an dieser Stelle zum wiederholten Male: Bund, Län-der und Kommunen müssen an einen Tisch. Es muss ei-nen neuen Krippengipfel geben,
und bei diesem Krippengipfel muss man sich mindestensüber folgende drei Punkte Klarheit verschaffen.Erstens. Wir brauchen realistische Zahlen, wie großder Bedarf tatsächlich sein wird. Ich erinnere daran: Wirreden über einen Rechtsanspruch für Kinder ab dem ers-ten Lebensjahr, der in diesem Sommer greifen soll. Dasheißt, die zukünftigen Kitakinder, um die es geht, sindschon geboren. Die Eltern können heute tatsächlich be-urteilen, ob sie einen Kitaplatz brauchen oder nicht. Voreinigen Jahren war das vielleicht noch nicht der Fall.Das muss endlich eruiert, erforscht und erfragt werden.Das bringt dann die Zahlen des Familienministeriumsvielleicht etwas näher an die Wirklichkeit.Zweitens muss auf diesem Krippengipfel über ver-bindliche Qualitätsstandards und deren Umsetzung ge-sprochen werden. Wie groß dürfen Gruppen in der Kitamaximal sein? Wie viele Erzieherinnen und Erzieherwerden noch gebraucht? Welche Qualifikationen brau-chen diese Fachkräfte? Wie können wir gewährleisten,dass es genügend Erzieherinnen und Erzieher gibt? Dasin einem halben Jahr zu schaffen, ist kaum noch mög-lich. Wir haben die Bundesregierung mehrfach dazu auf-gefordert, einen Maßnahmenplan vorzulegen; geschehenist nichts.
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Diana Golze
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Drittens muss bei diesem Krippengipfel festgestelltwerden – und man muss sich darauf verständigen, wieman damit umgeht –, dass es trotz aller noch vorzuneh-menden Anstrengungen Kommunen geben wird, die imSommer nicht genügend Betreuungsplätze zur Verfü-gung stellen können. Das werden nicht nur die Groß-städte sein, es wird auch Regionen im ländlichen Raumgeben, die diese Plätze nicht vorhalten können. DerStädte- und Gemeindebund warnt nicht zu Unrechtschon jetzt vor einer Klagewelle, die auf die Kommunenzurollt.Frau Ministerin, sich dann hinzustellen und zu be-haupten, Sie hätten Ihren Teil getan und jetzt müsstendie Kommunen die Schadenersatzklagen bewältigen, daskann nicht sein. Wir haben eine gemeinsame Verantwor-tung für die Umsetzung dieses Rechtsanspruches. DerBundestag darf die Kommunen, die Städte und Gemein-den nicht mit diesen Schadenersatzklagen alleine lassen,nur weil sie das letzte Glied in der Kette und Opfer die-ses Missmanagements sind.
Man kann also zusammenfassen: Mit diesem Gesetz-entwurf haben die Regierenden wohl die letzte Chancevertan, in Richtung einer guten Tagesbetreuung für alleKinder umzusteuern. Krisenmanagement sieht andersaus. Sie geben keine Antworten auf die wirklich drän-genden Fragen, sondern sie spielen Blindekuh, was denBedarf betrifft, und Schwarzer Peter, was die Folgen die-ses Spiels betrifft. Das muss ein Ende haben. Sie wollenin der nächsten Sitzungswoche den Gesetzentwurf ver-abschieden. In der vorliegenden Form können wir ihmkeinesfalls zustimmen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Golze. – Nächste Redne-
rin für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen ist unsere
Kollegin Frau Katja Dörner. Bitte schön, Frau Kollegin
Dörner.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen,liebe Kollegen! Die Ministerin hat heute Abend offen-sichtlich ein bisschen Kreide gefressen.
Aber dann kam doch wieder die alte Leier, das alteSchwarzer-Peter-Spiel, was auch bei Herrn Kober sehrschön zu beobachten war. Es wird mit dem Finger aufdie anderen gezeigt: Die anderen sind schuld, die Ländersind schuld, die Kommunen sind schuld.
Ich kann Ihnen sagen: Die Eltern, die verzweifelt auf derSuche nach einem Kitaplatz sind, haben diese Debatteeinfach satt.
Wir sind hier im Deutschen Bundestag, und deshalbspreche ich über die Verantwortung der Bundesregie-rung. Fakt ist: Die Bundesregierung und diese Familien-ministerin sind ihrer Verantwortung beim Kitaausbaunicht gerecht geworden.
Was hat im Bundestag stattgefunden? Schwarz-gelbeVogel-Strauß-Politik, und das seit Jahren. Wir wissendoch schon lange, dass der Bedarf im U-3-Bereich ober-halb der ursprünglich avisierten 35 Prozent liegt. Wirmüssen auch davon ausgehen, dass der Bedarf weitersteigt. Was tut die Ministerin? Was hat sie getan? Siesteckt den Kopf in den Sand. Drei Jahre lang hat die Fa-milienministerin es nicht vermocht, dem Finanzministereinen einzigen zusätzlichen Cent für den Kitaausbau ausden Rippen zu leiern.
Wenn es jetzt überhaupt eine Chance gibt, denRechtsanspruch im August zu gewährleisten, dann ha-ben wir diese Chance doch den rot-grünen Bundeslän-dern im Bundesrat zu verdanken,
die die zusätzlichen 580 Millionen Euro im Rahmen derFiskalpaktverhandlungen erstritten haben.
Die Bundesregierung und diese Familienministerin ha-ben mit diesen 580 Millionen Euro überhaupt nichts zutun.
Und was macht die Ministerin? Sie schmückt sich mitfremden Federn. Sie setzt das Schwarzer-Peter-Spielfort. Sie meint, den Ländern kleinteilige und unerfüll-bare Vorschriften machen und sie mit Detailregelungenschikanieren zu können.580 Millionen Euro zusätzlich für den Kitaausbau, er-stritten von den Bundesländern, nachdem die Ministerindrei Jahre lang nichts gebacken bekommen hat, und wasbehauptet Frau Schröder? Zitat: Dass „manche Länderden Kita-Ausbau aus Parteitaktik vor die Wand fahrenlassen“.Im Herbst beschwerte die Ministerin sich in der breitenÖffentlichkeit, die Länder würden die Bundesgelder nichtabrufen. Nun lese ich in dem Gesetzentwurf, der uns hiervorgelegt wurde, dass 99 Prozent der Bundesmittel be-reits durch Bewilligungen gebunden sind. Herr Kober, anIhre Adresse sage ich: Heute haben wir die neuen Zahlen
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Katja Dörner
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bekommen. Baden-Württemberg hat 99,9 Prozent derGelder beantragt, und sie sind auch bewilligt worden. Dassind die relevanten Zahlen. Sie sollten hier nicht solcheTaschenspielertricks machen. Diese Tatsachenverdre-hung ist einfach nur dreist.
Wir könnten heute schon viel weiter sein. Die zusätz-lichen Mittel könnten schon dort angekommen sein, wosie dringend gebraucht werden, in den Kommunen, inden Kitas, wenn die Ministerin darauf verzichtet hätte,sich zulasten der Länder und auf Kosten der Eltern zuprofilieren. Jetzt müssen wir alle gemeinsam zusehen,dass wir überhaupt noch die Kurve bekommen.
Ich finde es richtig, dass der Bund Forderungen nacheiner Beteiligung des Bundes an der Befriedigung even-tueller Schadenersatzansprüche der Eltern aufgrund feh-lender Kitaplätze zurückweist. Das wäre definitiv einfalsches Signal. Aber es reicht nicht, sich auf diese For-derung der Kommunen einfach nur nicht einzulassen,nach dem Motto: Das geht uns alles überhaupt nichts an.Es muss darum gehen, zu vermeiden, dass diese Scha-denersatzansprüche überhaupt erst entstehen.
Diesbezüglich ist der Bund ganz klar in der Pflicht. Wirbrauchen ein Sofortprogramm, insbesondere für dieKommunen, die in den letzten Jahren in den Kitaausbauinvestiert haben, aber einen Bedarf haben, der deutlichüber 35 Prozent liegt. Wir Grüne haben das in den Haus-haltsberatungen beantragt. Wir haben einen Antrag vor-gelegt. Wir haben dokumentiert, wie man das solide fi-nanzieren kann.
Dieser Antrag wurde von Schwarz-Gelb einfach abge-lehnt.Wenn der Bund jetzt nicht schnell mehr tut, dann wirddas mit dem Rechtsanspruch im August nicht funktionie-ren. Aber nicht nur das; es ist auch klar, dass der Ausbauder Kitaplätze dann zulasten der Qualität in den Einrich-tungen gehen wird. Ich finde das absolut unverantwort-lich. Deshalb erneut mein Appell an die Bundesregierung,an die Familienministerin, endlich die Verantwortung füreinen bedarfsgerechten Platzausbau und die Qualität derAngebote zu übernehmen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Katja Dörner. – Nächste
Rednerin ist für die Fraktion der CDU/CSU unsere Kol-
legin Frau Dorothee Bär. Bitte schön, Frau Kollegin Bär.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! Esgibt ein Spiel, das bei Kindergartenkindern sehr beliebtist. Sie machen wahnsinnig gern einen „Umgekehrttag“.Dann heißt es: Ich meine immer genau das Gegenteilvon dem, was ich sage. Wäre die Rede von Frau DörnerTeil eines solchen Spiels gewesen, wäre sie absolut rich-tig gewesen; denn für jeden Satz, den Sie hier von sichgegeben haben, gilt: Das Gegenteil davon wäre richtiggewesen.
Nur mit einem Satz haben Sie recht, Frau Kollegin,nämlich mit dem Satz: Wir haben es satt. – Auch wir ha-ben es satt. Wir haben es satt, dass Sie hier dauernd allesschlechtreden, was diese Bundesregierung in den letztenJahren an hervorragender Arbeit für die Familien in die-sem Land geleistet hat.
Wir haben es auch satt, dass wir uns hier immer wiedermit Themen beschäftigen müssen, die schon längst aufeinem guten Weg wären, wenn Rot-Grün bzw. Grün-Rotin diesen Bereichen keine Dauerblockade betreibenwürde.Sehr geehrter Herr Senator, für die Rede hätten Sienicht aus Hamburg herkommen müssen.
Wenn Sie einfach Ihre Arbeit im Bundesrat gemacht hät-ten, wäre die Debatte heute Abend überhaupt nicht not-wendig.
Am 20. November 2012 haben wir hier im DeutschenBundestag mit der Verabschiedung des Gesetzespaketszur innerstaatlichen Umsetzung des Fiskalvertrages580 Millionen Euro – sprich: 30 000 zusätzliche Betreu-ungsplätze – auf den Weg gebracht. Am 14. Dezember2012 wurde das großzügige Angebot des Bundes aberohne Not und völlig überraschend im Bundesrat abge-lehnt. Es stellt sich schon die Frage, was dahintersteckt;denn das Vorgehen der Länder ist – vor allem vor demHintergrund, dass beispielsweise Bayern dem Paket zu-gestimmt hat – wirklich unbegreiflich. Daran sieht man,meine Kolleginnen und Kollegen, dass es in keinerWeise um inhaltliche Punkte geht. Hier spielen nur par-teitaktische Gründe eine Rolle.
Das wird auf dem Rücken von Familien bzw. Kindernausgetragen. Ich finde das sehr schofel.
Seit Jahren drängen die Länder uns, den Bund, dasswir uns noch stärker beteiligen. Wir als Bund tun dasschon, obwohl wir in keiner Weise zuständig sind. Trotz-dem sagen wir: Wir nehmen Geld in die Hand. Die
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Dorothee Bär
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Haushaltspolitiker werden bestätigen, dass es nicht ein-fach ist, Geld für Aufgaben in die Hand zu nehmen, fürdie eigentlich die Länder und Kommunen zuständigsind. Zusätzlich hat unsere Ministerin in den Verhand-lungen noch einmal Geld herausgeholt. Die Kolleginvon den Grünen – Frau Dörner, die jetzt nicht zuhört –behauptet, sie habe es gemacht. Nein. Wer war es? FrauMinisterin war es. Auch das gehört zur Wahrheit.
– Sie wissen doch überhaupt nicht, in wie vielen Gesprä-chen die Frau Ministerin darauf gedrängt hat, dass nochzusätzliches Geld kommt.
Ich muss sagen, sie hat nicht nur das Ganze versprochen,sondern auch gehalten. Deswegen sage ich ein ganzherzliches Dankeschön an das Haus, besonders aber andie Ministerin und an den Staatssekretär. HerzlichenDank an Sie beide!
Wir wollen unserer Verantwortung gerecht werden.Deswegen müssen wir unser Vorhaben heute noch einmaldiskutieren. Wir wollen das in der nächsten Sitzungswo-che abschließen. Auch von den Ländern erwarten wir Ko-operationsbereitschaft. Sie kommen aus einem Land, dasjetzt wieder Empfänger im Rahmen des Länderfinanzaus-gleichs wird. Von daher wäre ich sowieso ganz vorsichtigmit solchen Forderungen und würde nicht von Hamburgnach Berlin reisen. Ich würde erst einmal versuchen, zuHause meine Hausaufgaben zu machen.Ich möchte – dazu nutze ich gerne meine Redezeit –noch einen weiteren Punkt ansprechen, weil mir daswichtig ist. Wesentlich wichtiger, als solche unnötigenDebatten aufgrund von Blockadehaltungen zu führen, istes, finde ich, dass wir uns über solche Punkte unterhal-ten, die die Ministerin gestern im Rahmen der Vorstel-lung des Familienreports vorgestellt hat. Dabei geht esdarum, dass wir jungen Frauen und Männern im LandMut machen, sich für Kinder zu entscheiden. Ich freuemich sehr, dass im gestern von der Ministerin vorgestell-ten Familienreport eine Trendwende zu erkennen ist,dass unter anderem auch Akademikerinnen in diesemLand wieder mehr Kinder bekommen.Solch positive Debatten müssen wir hier führen. Essollten keine Debatten wie die sein, die der Senator hiergeführt hat. Er selber hat leider dazu beigetragen, dasswir uns im Klein-Klein verlieren. Wir müssen diejenigensein, die sagen: Es lohnt sich, eine Familie zu gründen.An der Befragung sieht man auch – das war gestern dasSpannende –, dass der Bund seine Hausaufgaben ge-macht hat. Denn von den Eltern wird nicht gesagt: Wennwir uns nicht bewusst für ein Kind entscheiden, liegt dasan fehlenden Plätzen. – Das wird weiter hinten erwähnt.Es liegt auch nicht daran, dass zu wenig Geld da ist, son-dern in erster Linie daran, dass beispielsweise der rich-tige Partner fehlt. Dazu können wir kein Gesetz verab-schieden. Wir können aber mit unserer Politik bzw. mitunseren Reden hier für ein positives Klima sorgen. Die-ses positive Klima vermisse ich in Ihren Reden und beiIhrer Arbeit. Das finde ich sehr schade. Deswegen ist esgut, dass CDU/CSU und FDP im September diese er-folgreiche Politik weiterführen können.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dorothee Bär. – Nächste
Rednerin für die Fraktion der Sozialdemokraten ist un-
sere Kollegin Frau Caren Marks. Bitte schön, Frau Kol-
legin Marks.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Meine lieben Kolleginnen und Kollegen!Die SPD-Bundestagsfraktion hat in den vergangenenJahren immer wieder darauf gedrängt, dass sich Fami-lienministerin Schröder beim Krippenausbau engagiertund vor allem endlich einmal konkret handelt. Auchwenn Frau Schröder sich hier heute mit fremden Federnschmückt: Es ist gut, dass die Bundesregierung nun end-lich unseren Forderungen nachgibt und mehr Mittel fürden Krippenausbau bereitstellen will. Ich sage an dieserStelle aber auch ganz deutlich: Es wäre sinnvoll gewe-sen, wenn Sie, Frau Schröder, sich schon viel früher aufden Weg gemacht, auf uns gehört und eine solche Initia-tive auf den Weg gebracht hätten.
Frau Ministerin, es ist bereits fünf vor zwölf. Sie müs-sen jetzt dafür sorgen, dass diese Mittel zügig dort an-kommen, wo sie dringend gebraucht werden, nämlichvor Ort. In diesem Zusammenhang will ich aber auchnoch einmal erwähnen, wie absurd es ist, dass Schwarz-Gelb hier vor einigen Wochen das Betreuungsgelddurchgeboxt hat, womit ein Anreiz geschaffen wird, ge-nau diese Infrastruktur, die mit Bundesmitteln gefördertwird, nicht zu nutzen.
Das ist nicht nur bildungs- und integrationspolitisch eineKatastrophe, sondern das ist auch eine völlig widersin-nige und widersprüchliche Gesetzgebung.
– Nichts. – Zudem wird mit der milliardenteuren Einfüh-rung dieses unsinnigen Betreuungsgeldes langfristig viel
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Caren Marks
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Geld dem so dringend notwendigen Ausbau der früh-kindlichen Bildung entzogen. Das ist umso schlimmer,je näher das Inkrafttreten des Rechtsanspruches rückt.
Frau Merkel und diese schwarz-gelbe Koalition set-zen völlig falsche Anreize in der Familienpolitik. Immerwieder hat die eigentlich zuständige Bundesfamilienmi-nisterin beim Krippenausbau den Ländern und den Kom-munen die alleinige Verantwortung zugeschoben. Sie,Frau Schröder, haben mit der gesamten Bundesregierungwertvolle Zeit mit Nichtstun verstreichen lassen. Aberauch Sie haben eine Verantwortung, vor der Sie nichtweglaufen können.
Wir, die SPD, hingegen haben in der Zeit unserer Re-gierungsverantwortung andere familienpolitische Ak-zente gesetzt und den Krippenausbau mit Finanzhilfen inMilliardenhöhe forciert. Aber Geld ist nur eine Seite derMedaille. Das gilt auch für den Krippenausbau. Es gibtnoch viele andere Maßnahmen, die diese Regierung ei-gentlich endlich anpacken müsste. An verschiedenen Or-ten Deutschlands werden die Klagen über fehlende päda-gogische Fachkräfte immer lauter. Die Zeit drängt. Siemüssten in enger Zusammenarbeit mit den Ländern, denKommunen und den Trägern eine bundesweite Fach-kräfteoffensive starten, um den steigenden Bedarf an Er-zieherinnen und Erziehern zu decken. Der wachsendeFachkräftebedarf wird aber nur zu decken sein, wenn dieArbeitsbedingungen im Erzieherberuf verbessert wer-den.
Bei der aktuellen Diskussion – das lief gestern undvorgestern über den Ticker –, in der einige Akteure grö-ßere Kitagruppen und auch zusätzlich ungelerntes Perso-nal in Kitas fordern, hat man den Eindruck, dass früh-kindliche Bildung nicht wirklich hoch gewertet wird.
Es geht hier um nichts weniger als um die frühe Förde-rung von Kindern. Hier wird ein wirklich wichtigerGrundstein für das weitere Leben gelegt. Wir, die SPD,fordern seit Jahren, dass sich diese Bundesregierung mitLändern und Kommunen bei einem Krippengipfel an ei-nen Tisch setzt und konkrete Schritte zur Forcierung desKrippenausbaus sowie für eine Fachkräfteoffensive ver-abredet. Solche Initiativen sind zusätzlich auch auf Län-derebene notwendig.Wir haben eben gehört: SPD-geführte Länder machenvor, wie es geht. Hamburg ist es gelungen, den Rechts-anspruch für Kinder unter drei Jahren um ein Jahr vorzu-ziehen. Er wirkt dort schon seit dem 1. August 2012.
Nordrhein-Westfalen hat nach der Regierungsüber-nahme durch Hannelore Kraft schnell einen Krippengip-fel einberufen, nachdem die CDU-geführte Vorgängerre-gierung unter Beteiligung der FDP den Krippenausbauverschlafen hat.
Das rot-grün geführte Bundesland NRW unterstützt auchganz gezielt notleidende Kommunen, damit auch sie denAusbau schaffen. In Niedersachsen hingegen sieht es imwahrsten Sinne des Wortes schwarz aus. Selbst CDU-Bürgermeister beklagen die mangelnde finanzielle Be-teiligung des noch schwarz-gelb regierten Landes beimKrippenausbau.
Wenn ich den Krippenausbau mit dem Bau eines Hau-ses vergleiche, bleibt nur zu sagen: Das Fundament fürden Kitaausbau hat Rot-Grün vor Jahren gelegt.
Der heute vorgelegte Gesetzentwurf und die in Aussichtgestellten Mittel sind ein Erfolg der rot-grünen Bundes-länder. Damit wird ein weiteres Stockwerk zur Fertig-stellung dieses Hauses gebaut. Es fehlen noch Fensterund Türen und ein Dach über dem Kopf, damit es tro-cken bleibt, wenn es regnet. Lassen Sie uns gemeinsamauf allen Ebenen dafür sorgen, dass sich alle Familien indiesem Haus wohlfühlen und vor allem, dass Kinder inunserem Land optimal gefördert werden.Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Nicole Bracht-Bendt von
der FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Laut ei-ner Agenturmeldung hat der Deutsche Städte- und Ge-meindebund gestern gedroht, bei möglichen Schadener-satzklagen wollten Städte und Gemeinden den Bund indie Pflicht nehmen. Als Grund heißt es, der Bund sei jaschließlich Urheber des Rechtsanspruchs und trage einepolitische Mitverantwortung. Das ist Sarkasmus. KeineBundesregierung hat so viel in den Ausbau der Kinder-betreuung investiert. Wie Sie wissen, liegt dem kein ein-samer Beschluss des Bundes zugrunde, sondern ein ein-stimmiger Beschluss von Bund, Ländern und Kommunenbeim Krippengipfel im Jahre 2007, auf dem die Strategiefestgeklopft wurde. Dann hat der Bund, wie beschlossen,erst 4 Milliarden Euro lockergemacht, und heute legenwir weitere 580 Millionen Euro drauf.
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26867
Nicole Bracht-Bendt
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Fakt ist: Der Bund hat seine Hausaufgaben gemacht,und den Ländern müssen wir das Geld sozusagen auf-drängen. An die Adresse des Städte- und Gemeindebun-des kann ich da nur sagen: Nun dem Bund den Schwar-zen Peter zuzuschieben, während Städte und Gemeindenmit dem Ausbau der Kinderbetreuung nicht rechtzeitiglosgelegt haben, ist unfair und auch unseriös.
Mit der Erfüllung des Rechtsanspruches wird dieAufgabe nicht beendet sein. Wir Liberale halten es fürdringend notwendig, immer auch die Qualität der Be-treuung im Blick zu haben und hier kontinuierlich Ver-besserungen zu erreichen.Die Frage, in welchem Maße ein Kind – gerade ausbildungsfernen Schichten – von der Kinderbetreuungprofitiert, hängt unmittelbar mit der Qualität der Betreu-ung zusammen. Wir wollen, dass die Gruppengrößen,wie heute hier gesagt wurde, nicht erhöht werden, son-dern dass die Betreuungsrelation verbessert wird. Wirhaben mit dem Programm zu Schwerpunktkitas über4000 Kitas in sozialen Brennpunkten finanziell unter-stützt. Der Bund macht auch hier seine Hausaufgaben.
Wir werden auch nach 2015 einen quantitativen Aus-bau brauchen. Denn Eltern wünschen sich die Betreuungihrer Kinder zu Zeiten, die ihren Arbeitszeiten entspre-chen. Das heißt, auch nach 18 Uhr, vor 8 Uhr und, für ei-nige, auch nach 20 Uhr und am Wochenende. Die großeNachfrage nach der 24-Stunden-Kita in Schwerin zeigt,dass Alleinerziehende oder Schichtarbeiter, Ärzte, Bus-fahrer oder Polizisten auf Betreuung außerhalb der Kern-zeiten angewiesen sind. Dass sie sie brauchen, wissenwir, und das nehmen wir ernst.Wir werden gespannt beobachten, wie sich die Oppo-sition verhält. Im Haushaltsverfahren haben Sie milliar-denschwere zusätzliche Programme für den Ausbau ge-fordert. Wir werden auch darauf achten, ob Sie denBundesrat als Blockadeinstrument gegen Eltern- undKinderinteressen benutzen oder ob Sie sich konstruktivverhalten.Ich wünsche mir, dass wir uns am 1. August diesesJahres alle gemeinsam – Bund, Länder, Kommunen –darüber mit den Eltern und Kindern freuen können, dasswir der Wahlfreiheit der Lebensgestaltung der Familienin Deutschland wieder ein Stück näher gekommen sind.Daran werden wir arbeiten.Vielen Dank.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt das Wort der Kollege Marcus Weinberg von der
CDU/CSU-Fraktion.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Debatten zur Fami-lienpolitik sind immer schön; da weiß man, wo man hin-gehört,
und da weiß man auch, was man geleistet hat. Denn indiesen Debatten sprechen wir nicht nur über die Kinder-tagesbetreuung, sondern auch über die Familienpolitikinsgesamt. Da werden die Unterschiede deutlich, FrauMarks, und zwar zwischen einer einseitigen, ideologie-geprägten Grundposition und einer familienorientiertenGrundhaltung. Ich glaube, dieser Unterschied ist auchheute wieder deutlich geworden. Wir haben die familien-orientierte Grundhaltung und trauen den Familien etwaszu.
Aus Grundhaltungen werden gelegentlich Haltungen.Eine solche Haltung bezieht sich auf die Fragen: Was hatder Staat zu leisten? Was können wir Familien zutrauen?Wo geben wir Familien Chancen der Entwicklung?Wenn man über Lösungsansätze spricht, nimmt man diesmit auf. Lösungen muss man dann familienbezogen ent-wickeln und sich genau überlegen: Welche Bedarfe gibtes? Vor diesem Hintergrund, Herr Senator – das sei unteruns Hamburgern kurz gestattet –, möchte ich die Ge-schichte, die Sie erzählt haben, mit dem Anfang und demEnde verknüpfen.
Ja, es stimmt, Hamburg hat im Bereich der Kinderta-gesbetreuung hervorragende Daten vorzuweisen. Weilder CDU-Senat den Etat in zehn Jahren von 298 Millio-nen Euro auf über 450 Millionen erhöht hat,
deswegen erzielt Hamburg so hervorragende Ergebnisseim Bereich der Kindertagesbetreuung.
Das war der Anfang der Geschichte. Es wurde einRechtsanspruch ins Gesetz geschrieben. Bei Berufstätig-keit gibt es für den Krippenbereich sogar einen Gut-schein, auf dessen Umsetzung ein Rechtsanspruch be-steht. – Ich sehe Sie nicken, Sie stimmen zu. Das ist gutfür die Kinder in der Stadt.Jetzt komme ich zum Ende der Geschichte: Sie habenrichtigerweise gesagt: Der Etat wird jetzt noch einmalerhöht. – Sie müssen dann aber auch erzählen, dass Siebei der Rahmenzuweisung für die offene Kinder- und Ju-gendarbeit 10 Prozent einsparen. Das ist nicht gut für dieKinder in der Stadt.
Das heißt nämlich, Sie sparen bei den Schwächeren, inden Stadtteilen, in denen die Kinder Unterstützungbräuchten.Das ist der Unterschied in der Herangehensweise:Will ich die Gießkanne, das Gleichheitsprinzip, oder will
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Marcus Weinberg
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ich im Bereich der Kindertagesbetreuung differenzieren?– Es gab da ja nun den Krippengipfel und das KiföG.Hier muss gegenüber aller Feinkritik – ob das jetzt35 Prozent oder 39 Prozent sind – und allen Forderun-gen, hier und dort noch nachzujustieren, möglicherweisezu Recht, festgehalten werden: Man muss auch malDinge machen. Es gibt Menschen, die Fische fangen,und solche, die nur das Wasser trüben.
– Entschuldigung, es ist diese Regierung unter Bundes-kanzlerin Merkel, die den Rechtsanspruch umsetzt und4 Milliarden Euro plus x bereitgestellt hat. Bei aller fein-fühligen Diskussion über die Auswirkungen muss maneinfach einmal zur Kenntnis nehmen: Wir haben es ge-macht.Wie heißt es immer so schön? Wenn jeder auf seinemPlatz das Beste tut, wird es in der Welt bald besser ausse-hen.
Die Frage ist also: Wer macht eigentlich was in den Län-dern? Schauen wir uns das einmal an: Es gibt viel Ge-schimpfe über Bayern, Stichwort Betreuungsgeld. WennSie sich aber die Differenz anschauen zwischen dem tat-sächlichen Bedarf an Kinderbetreuung und dem momen-tanen Ausbaustand, dann sehen Sie, dass Bayern aufPlatz 1 ist; denn die Differenz beträgt in Bayern nur10 Prozent. Bayern ist also ein positives Beispiel.
– Hamburg ist beim Länderfinanzausgleich mittlerweileleider auch zu einem Nehmerland geworden. Das warfrüher einmal anders. Aber so ist es halt gekommen. Ichbitte um Verzeihung.Neben dem positiven Beispiel Bayern gibt es aberauch Länder, bei denen man sich fragen muss: Was istdenn da los? So muss man feststellen, dass im Osten inMecklenburg-Vorpommern die höchste Diskrepanz zwi-schen Ausbaubedarf und tatsächlichem Ausbau besteht.
Das Entscheidende ist nicht, dass es sich um Mecklen-burg-Vorpommern handelt. Das würde ich auch gar nichterwähnen, wenn die zuständige Ministerin nicht landauf,landab auf den Straßen verkünden würde, was sie will,während sie in dem Land, in dem sie die Verantwortungträgt, den Ausbau nicht umsetzt. Man muss sagen: Daläuft etwas schief,
und fragen: Was hat Frau Schwesig in Mecklenburg-Vor-pommern eigentlich die ganze Zeit gemacht? Wie hat sieihre eigene Verantwortung wahrgenommen?
Es gäbe noch einiges zu erzählen über das, was derBund alles beisteuert. Wir reden dabei nicht nur über die4 Milliarden Euro und über die 580 Millionen Euro. Zuall dem ist etwas gesagt worden. Frau Bär hat uns da-rüber aufgeklärt, worin die Nachsteuerung bestand undwie die Länder sich verhalten haben. Wir müssten auchüber die 400 Millionen Euro reden, die bis 2014 für denBundeskongress „Frühe Chancen“ bereitgestellt werden.Genauso müssten wir über die Weiterbildungsinitiative,das Aktionsprogramm Kindertagespflege und die Initia-tive „Mehr Männer in die Kitas“ reden. Das alles sindDinge, die der Bund, weil wir ein föderatives System ha-ben, eigentlich nicht machen müsste. Es sind aber Dinge,die wir gemacht haben, auch wenn die Konstruktion teil-weise nicht ganz einfach war, weil sie uns wichtig sind.Auch diese Geschichte muss erzählt werden.Ich glaube, dass es im August im Ergebnis eine si-cherlich schwierige, ambitionierte Phase geben wird, inder man schauen muss, wo was noch nicht umgesetzt ist.Aus dieser Debatte und aus vielen anderen Debatten sindaber drei Dinge deutlich geworden: Erstens. Wir trauenden Familien etwas zu. Zweitens. Wir sind die, die fi-schen. Drittens. Wir haben dabei eine Haltung. Wie hatThomas Paine einmal gesagt? Haltung lässt sich leichterbewahren als wiedergewinnen. – Ich glaube, das zeich-net auch diese Debatte aus.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/12057 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt esanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 14 a bis 14 d auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Thilo Hoppe,Hans-Christian Ströbele, Ingrid Hönlinger, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEU – Lateinamerika: Partnerschaft für einesozial-ökologische Transformation– Drucksachen 17/11838, 17/12093 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette HübingerDr. Sascha RaabeHarald LeibrechtHeike HänselThilo Hoppe
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für wirtschaftliche Zu-sammenarbeit und Entwicklung
zu dem Antrag der Abgeordneten Heike Hänsel,Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion DIE LINKEFriedensdialog in Kolumbien aktiv unterstüt-zen– Drucksachen 17/11839, 17/12094 –Berichterstattung:Abgeordnete Anette HübingerDr. Sascha RaabeHarald LeibrechtHeike HänselThilo Hoppec) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, ChristineBuchholz, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKESozialen Fortschritt und regionale Integrationin Lateinamerika unterstützen– Drucksachen 17/3214, 17/12087 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Egon JüttnerDr. Rolf MützenichDr. Rainer StinnerWolfgang GehrckeHans-Christian Ströbeled) Beratung des Antrags der Abgeordneten HeikeHänsel, Wolfgang Gehrcke, Jan van Aken, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKECELAC-EU-Gipfel in Santiago de Chile –Neue Zusammenarbeit mit neuen Partnern– Drucksache 17/12061 –Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Es gibt kei-nen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Hans-Werner Ehrenberg fürdie FDP-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Kolumbien leidet seit fast 50 Jahren unter einem bluti-gen Bürgerkrieg zwischen der Regierung, paramilitäri-schen Organisationen und mehreren kommunistischenGuerillagruppen. Dies ist ein schrecklicher Konflikt, derbis heute deutlich mehr als eine halbe Million Men-schenleben gefordert hat.Die FARC, die „bewaffneten revolutionären Streit-kräfte Kolumbiens“, wie sie sich selber nennen, speziali-sierten sich neben dem Töten auch auf das Drogenge-schäft. Spätestens ab diesem Moment ist es kaum nochmöglich, eine saubere Trennung zwischen der organi-sierten Drogenkriminalität, kriminellen Entführungenund dem sogenannten Freiheitskampf der FARC zu zie-hen. Für diese Mischung aus Terrorismus, Drogenhandelund Entführungen haben die Kolumbianer schon seitlangem den Begriff „Narco Terrorismo“ erfunden, denDrogenterrorismus. Als ob dies alles nicht schon genugwäre, den kommunistischen Guerillagruppen jeglicheUnterstützung zu verweigern!Es ist kein großes Geheimnis, dass der venezolani-sche Staatspräsident Hugo Chávez offenkundig mit die-ser Guerillagruppe sympathisiert. Der kolumbianischeEx-Präsident Uribe hat unermüdlich darauf hingewiesen,dass Chávez den FARC Venezuela als Rückzugsgebietzur Verfügung gestellt hat. Tatsächlich sieht man Mit-glieder der FARC bei den venezolanischen Regierungs-mitgliedern ein- und ausgehen.Venezuela, ein Land, das mit dem iranischen Präsi-denten Ahmadinedschad befreundet ist, der, wie wir allewissen, das Existenzrecht Israels nicht anerkennt, unter-hält enge Kontakte zu den FARC. Diese Terrororganisa-tion wollen Sie, verehrte Kolleginnen und Kollegen vonden Linken, von der Terrorliste der EU streichen? – Wermit den FARC sympathisiert, der sympathisiert auch mitdem Iran.
Forderungen von Freunden des iranischen Regimes wol-len wir nicht unterstützen – und die Bundesregierung si-cherlich auch nicht.Lassen Sie mich noch ein paar Worte zum ZeitpunktIhres Kolumbien-Antrages verlieren: Nach internationa-len und diplomatischen Gepflogenheiten ist es völlig un-üblich, während laufender Verhandlungen Forderungenvon außen zu stellen.
Das ist so, als ob man während eines laufenden Fußball-spiels die Spielregeln ändern würde. Wer sind wir denn,dass wir uns eine solche Verhaltensweise anmaßen? Dasist nicht konstruktiv.Man sollte sich noch einmal die Fakten der aktuellenSituation in Kolumbien deutlich vor Augen führen: Daerklärt eine demokratisch gewählte Regierung, dass siebereit sei, mit einer Terrorgruppe zu verhandeln und so-gar ein Referendum über den Ausgang dieser Verhand-lung abzuhalten. Als ob das nicht schon Zugeständnisgenug wäre! Die von Ihnen geforderte Anerkennung die-ser Terrorgruppe nenne ich Einmischung in innere Ange-legenheiten.
Ich denke, wir sind gut beraten, wenn wir erst einmalabwarten, bis die Friedensverhandlungen zum Abschluss
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Hans-Werner Ehrenberg
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gebracht worden sind, und uns dann positionieren. Allesandere wäre dem Friedensprozess sicherlich nicht dien-lich.Meine sehr verehrten Damen und Herren, gestattenSie mir noch, auf einige Aspekte in den anderen Anträ-gen kurz einzugehen:Da werden angebliche Verdienste Kubas gewürdigt,ohne auch nur im Geringsten darauf einzugehen, dassKuba nach wie vor eine menschenverachtende Diktaturist, die die eigenen Bürger einsperrt, bespitzelt und in ih-ren Gefängnissen verhungern lässt.
Auch Ihre Kritik am Lateinamerika-Konzept, das vonAußenminister Westerwelle erstellt wurde, ist einseitigund läuft ins Leere. Das Konzept umreißt einen ausge-wogenen Ansatz für eine breite Zusammenarbeit zu bei-derseitigem Vorteil. Darüber hinaus wird es von einemneuen und effektiven entwicklungspolitischen Konzeptflankiert, das nachhaltiges wirtschaftliches Wachstum inden Vordergrund stellt.Minister Niebel hat nicht nur frühzeitig erkannt, dassEntwicklungszusammenarbeit ohne die Wirtschaft nichtnachhaltig sein kann. Er hat vor allem auch die Tatkraftbesessen, diese Tatsache endlich in die Praxis umzuset-zen und das unsägliche Gießkannenprinzip seiner Vor-gängerin abzuschaffen.
Auch der Abbau von wirtschaftlichen Hindernissenund die Förderung von Freihandelsabkommen wirkensich positiv auf die Menschen in Lateinamerika aus.Freihandelsabkommen unterstützen die wirtschaftlicheEntwicklung der einzelnen Länder. Das schafftArbeitsplätze und trägt zum Wirtschaftswachstum bei.Dadurch werden soziale Spannungen nachhaltig gelin-dert.Des Weiteren fördert die Bundesregierung schon seitlangem Klima- und Umweltschutz in der Region inten-siv, vor allem mit Mitteln der Entwicklungs- und Um-weltpolitik und in der Zusammenarbeit mit Wissenschaftund Forschung.Ebenso sind Themen wie Menschenrechte undMedienunabhängigkeit in jedem Dialog mit unseren la-teinamerikanischen Freunden präsent.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Länder Latein-amerikas und die Menschen dort haben weit mehr Auf-merksamkeit verdient, als wir ihnen derzeit zukommenlassen. Das Lateinamerika-Konzept der Bundesregie-rung und die vielen in diesem Rahmen durchgeführtenMaßnahmen sind ein guter und erfolgreicher Anfang.
Ich bitte aber ausdrücklich alle Kolleginnen und Kol-legen in diesem Hohen Hause, sich dafür einzusetzen,dass der Fokus auf unsere Partner in Lateinamerika nochweiter verstärkt wird. Wir alle sollten ein ureigenes Inte-resse daran haben, dass die Menschen in Lateinamerikain Wohlstand und Freiheit leben können.Vielen Dank.
Herr Kollege Ehrenberg, ich darf Ihnen im Namen
des ganzen Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deutschen
Bundestag herzlich gratulieren.
Das Wort hat jetzt der Kollege Dr. Sascha Raabe von
der SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Da es parlamentarischer Brauch ist, dass man ei-nen Redner, der seine erste Rede gehalten hat, inhaltlichnicht zu scharf kritisiert, werde ich das auch lassen unddeswegen auch nichts zu den Passagen zu Niebel und derVorgängerin sagen. Es ist ja so: Er kennt Herrn Niebelnoch nicht so lange. Wenn er ihn länger kennt, wird erbestimmt auch zu einem anderen Urteil kommen.
Ich möchte viel lieber über Lateinamerika reden;denn wir stehen heute wenige Tage vor dem 7. Gipfel-treffen der Europäischen Union mit Lateinamerika.Einige Kolleginnen und Kollegen von mir, die hiersitzen, haben ja schon viele Gipfeltreffen als Parlamen-tarier erlebt. Zum Teil haben wir die Gipfeltreffen mitAnträgen begleitet, waren dort auch selbst vor Ort. Esgibt doch schon einen ganz wesentlichen Unterschiedhinsichtlich der Wahrnehmung, aber auch der Pressebe-richterstattung zwischen dem bevorstehenden Gipfel undden Gipfeln, die vor fünf, sechs oder acht oder zehn Jah-ren stattfanden. Ich zitiere einmal aus der SüddeutschenZeitung:Ein Kontinent greift nach den SternenVor dem großen Gipfeltreffen mit der EU strotztLateinamerika vor Selbstbewusstsein.In einer Meldung von dpa heißt es: „Verkehrte Welt:Spanien bittet Lateinamerika um Hilfe.“ Da heißt es,dass der spanische Regierungschef Lateinamerika bittet,in Spanien zu investieren. Er sagt, sie werden „mit offe-nen Armen empfangen“ werden, und weiter: „Ich ermu-tige Euch, Eure Präsenz in Spanien und Europa zu er-weitern.“Auch die FAZ schreibt: Ein Blick nach Lateinamerikalohnt sich, und: Es ist schon sehr beeindruckend, wassich in den letzten Jahren auf diesem Kontinent getan
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Dr. Sascha Raabe
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hat, was die Wirtschaftskraft angeht, was den Rückgangder Arbeitslosigkeit angeht.Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren – daspreche ich vor allem die Entwicklungspolitiker heutean, die hier in großer Zahl vertreten sind und auch diemeisten der Anträge, über die wir heute diskutieren,federführend vorbereitet haben –, wir sind auch bei densogenannten MDGs, den Millennium DevelopmentGoals, also den Millennium-Entwicklungszielen, beiallen acht, in Lateinamerika hervorragend vorangekom-men.Ich möchte einmal das wichtigste Ziel, die Armutsre-duzierung, nennen. Da haben wir uns ja verpflichtet,dazu beizutragen, dass sich bis zum Jahr 2015, gemessenam Stand von 1990, die Anzahl der Hungernden undArmen auf der Welt halbiert. In Lateinamerika lebten1990 noch 48,4 Prozent – also fast die Hälfte – der Men-schen in Armut, und fast ein Viertel lebten in absoluterArmut. Bereits im Jahr 2011 leben nur noch 29 Prozentder Menschen in Armut und nur noch 11,5 Prozent in ab-soluter Armut. Das heißt, bereits im Jahr 2011 ist eineHalbierung der Zahl erreicht worden, sodass Lateiname-rika insgesamt dieses MDG schon vier Jahre vor demZieljahr 2015 erfüllt hat. Dazu können wir nur sagen:Herzlichen Glückwunsch, Lateinamerika!
Auch in anderen Kategorien gibt es große Erfolge,etwa beim Rückgang von Krankheiten, Kinder- undMüttersterblichkeit. Ich möchte einmal die Zahl derjeni-gen nennen, die die Sekundarschule besuchen – in ande-ren Ländern wäre man schon froh, wenn alle Kinder dieGrundschule besuchen würden –: Dieser Anteil lag 1990noch bei unter 50 Prozent und ist jetzt auf 75 Prozent ge-stiegen. Also fast drei Viertel aller Kinder in Lateiname-rika besuchen heute eine Sekundarschule.Im Bereich Gleichberechtigung – auch eines derMDGs – ist der Anteil der Frauen an Universitäten von24 Prozent im Jahr 2000 jetzt auf knapp 50 Prozent ge-stiegen. 1990 lag dieser Anteil bei nur 16 Prozent. Von16 Prozent auf 50 Prozent ist der Anteil von Frauen anUniversitäten gestiegen.Ich glaube, da kann man wirklich sagen: „Ein Konti-nent greift nach den Sternen.“Jetzt kann man sich natürlich zu Recht fragen: Wes-sen Erfolg ist das? Natürlich ist das in erster Linie derErfolg der Menschen in Lateinamerika,
der Zivilgesellschaft und auch all der Nichtregierungsor-ganisationen. Sie haben sich auf einem eigentlich schonimmer reichen Kontinent erfolgreich dafür eingesetzt,dass in vielen Ländern Regierungen an die Macht ge-kommen sind, die das Thema Armut und Sozialpolitikoben auf die Agenda gesetzt haben. Dass die Wahlent-scheidungen entsprechend ausgefallen sind, war frühereben nicht der Fall gewesen.An dieser Stelle möchte ich als Entwicklungspoliti-ker, der seit 2002 im Ausschuss für Entwicklungszusam-menarbeit ist, sagen, weil wir auf anderen Kontinentenzu oft nur auf die Negativbeispiele schauen: Das hat na-türlich auch ein kleines Stück mit erfolgreicher Entwick-lungszusammenarbeit zu tun. Seitens der deutschen Ent-wicklungszusammenarbeit haben wir über viele Jahreunsere Schwerpunkte in Lateinamerika ganz stark aufRechtsstaatlichkeit, Justiz, Partizipation und Bürgerpro-zesse gesetzt. Sie finden heute kaum ein erfolgreicheslateinamerikanisches Land, in dem nicht in der Regie-rung an verantwortlichen Stellen Politiker sitzen, dieentweder von den politischen Stiftungen teilweise inDeutschland mit ausgebildet wurden oder für unsereDurchführungsorganisationen gearbeitet haben.Ich nenne als bekanntestes Beispiel Lula da Silva, dermit der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen lange Jahre,bevor er Präsident wurde, zusammengearbeitet hat, demwir dort helfen konnten. Es gibt noch eine ganze Reiheanderer Beispiele. Ich glaube, das zeigt: Wenn die Ent-wicklungszusammenarbeit bei den Menschen ansetzt,die Menschen ermutigt und dadurch die Kräfte im Inne-ren dieser Länder für Demokratie und Partizipation ge-stärkt werden, dann kann diese Zusammenarbeit erfolg-reich sein. Das ist ein ermutigendes Signal für uns.Lassen Sie uns so weitermachen.
In diesem Sinne: Der Antrag der Grünen legt sicher-lich zu Recht den Finger auf ganz viele Wunden, dienoch zu heilen sind. Ich sage nicht: Es ist alles gut inLateinamerika. – Der Antrag der Grünen hat auch dasgroße Verdienst, dass er all die Stellen, an denen es nochklemmt, benennt. Natürlich haben wir in manchen Län-dern auf der einen Seite großes Wirtschaftswachstumund auf der anderen Seite Regionen im ländlichenRaum, wo sich nicht viel getan hat.Gleichwohl muss man aber zur Kenntnis nehmen,dass auch die Weltbank in einer Studie vom November2012 zu dem Schluss kommt, dass sich die Ungleichheitbei den Einkommen in der Mehrzahl der lateinamerika-nischen Staaten vermindert hat, während sie in den USAund in Europa weiter zugenommen hat. Auch das mussman einmal erwähnen.Wir werden dem Antrag der Grünen allerdings nichtzustimmen, sondern uns enthalten, weil uns in diesemAntrag die positive Seite etwas fehlt. Wir können heutenicht einen Antrag so machen, wie wir ihn vor zehn Jah-ren geschrieben haben, nach dem Motto: Seid endlicheinmal sozial und gut! – Da hat sich gerade in Brasilien,einem Land mit einer hohen Steuerquote, sehr viel getan.Aber an einer Stelle – das möchte ich für die SPD be-tonen – stimmen wir ausdrücklich zu: Auch wir wün-schen uns eine Änderung der Haltung der EuropäischenUnion auf dem Gipfeltreffen. Natürlich müssen Freihan-delsabkommen mit menschenrechtlichen, sozialen undökologischen Mindeststandards versehen werden. DieKernarbeitsnormen der ILO müssen überall garantiertwerden können.
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Dr. Sascha Raabe
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Ich möchte dazu ein Beispiel erzählen. Der Kollege,der vor mir gesprochen hat, hat sich ja der Auffassungdes Bundesentwicklungsministers angeschlossen, derimmer sagt, wie toll Wirtschaftswachstum alleine ist undwie sehr es allen hilft. Ich war vor zwei Jahren mit HerrnWesterwelle in Kolumbien. Dort haben wir mit Vertre-tern deutscher Firmen gesprochen, die gesagt haben:Alles läuft gut in Kolumbien, aber wir haben eine Bittean Sie, Herrn Außenminister, wenn Sie jetzt mit demPräsidenten reden. Die Kolumbianer wollen uns dieSteuern um 0,2 oder 0,3 Prozent erhöhen, um damitSozialprogramme zu finanzieren. Uns wurde aber vonden Vorgängerregierungen zugesichert: Wenn wir inKolumbien investieren, dann kriegen wir 30 Jahre keineSteuererhöhung.Das, meine ich, kann es auch nicht sein. Wenn wir zuRecht einfordern, dass die Sozialpolitik in lateinameri-kanischen Ländern gefördert und die Steuerquote erhöhtwerden soll, dann müssen wir auch dazu beitragen, dassunsere deutschen Firmen und die Europäische Unionsich entsprechend verhalten. Das wäre meine Bitte andie Adresse der Europäischen Union.Ansonsten würde ich mich freuen, wenn die Folge derFeststellung „Ein Kontinent greift nach den Sternen“,die ich eingangs zitierte, wäre, dass die Menschen aufdiesem Kontinent die Sterne auch erreichen und dass wirin jedem lateinamerikanischen Land irgendwann einenhellen Stern am Himmel haben werden.
Wenn wir dann in den Himmel schauen, lauter funkelndeSterne über Ländern sehen, wo die Menschen ohne Hun-ger und Armut glücklich leben können, dann wären wir,glaube ich, ein ganzes Stück weiter. Das wünsche ichmir.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt die Kollegin
Anette Hübinger.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir debattieren heute mehrere Anträge vonBündnis 90/Die Grünen und von der Linken. Sie thema-tisieren die politische und wirtschaftliche Situation inLateinamerika wie auch die Rolle Deutschlands und derEuropäischen Union in ihren partnerschaftlichen Bezie-hungen zu Lateinamerika. Anlass ist der Gipfel, der am26. und 27. Januar in Chile zum siebten Mal stattfindenwird, diesmal quasi unter einem neuen Logo. Die latein-amerikanischen Staaten haben sich nämlich zu demBündnis CELAC zusammengeschlossen.Die Anträge tragen alle Überschriften, die auf denersten Blick nicht schlecht klingen.
Denn wer kann schon dagegen sein, wenn es darum geht,Gesellschaften sozial und ökologisch zu gestalten, oderwenn es um Frieden, Dialog und Zusammenarbeit mitunseren Partnern in Lateinamerika geht?Die Bundesregierung, so heißt es auf der ersten Seitedes Antrags von Bündnis 90/Die Grünen, soll den anste-henden Gipfel zum Anlass nehmen, die Beziehungen zuLateinamerika grundsätzlich zu verändern. In den Augender Grünen heißt das: weniger Wirtschaft, mehr Sozia-les, mehr Ökologie, mehr Menschenrechte. Ähnlichklingt es auch bei den Linken.
Es ist jedoch die Frage: Was verbirgt sich hinter dieserwohlklingenden Rhetorik,
und sind die aufgestellten Forderungen auch praxistaug-lich, das heißt, gibt es in allen Staaten Lateinamerikasund der Karibik auch den Willen, danach zu handeln?
Dass Menschenrechte in Wirtschaft und Politik groß-geschrieben werden müssen und dass in diesem Punkt ineinzelnen Ländern Lateinamerikas viele Defizite herr-schen, steht außer Frage. Aber Wirtschaft und wirt-schaftliches Interesse stehen nicht per se im Gegensatzzu Menschenrechten
und sind auch kein Hindernis für den Aufbau sozialerWirtschafts- und Gesellschaftsstrukturen. Das sehen wiram Beispiel Deutschlands. Die soziale Marktwirtschaftist der Garant unseres Wohlstandes, den keiner von unsmehr missen möchte. Dafür sollten wir in Lateinamerikawerben.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, in Lateinamerikakann man derzeit drei Trends feststellen.Erstens. Lateinamerika agiert international zuneh-mend als selbstbewusster Akteur. Dieser Region werdenWachstumszahlen vorausgesagt, von denen die Europäi-sche Union nur träumen kann. Politisch sehen sichgerade auch die großen Länder auf Augenhöhe mit denanderen Großen dieser Welt.Zweitens. Die Heterogenität der Region ist nach wievor groß. Die Länder unterscheiden sich nicht nur inGröße und Wirtschaftsleistung, sondern vor allem auchin ihrer politisch-ideologischen Ausrichtung. Chile,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26873
Anette Hübinger
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Kolumbien, Peru und Mexiko betreiben erfolgreich einePolitik der offenen Märkte und der Integration in denWeltmarkt. Venezuela, Bolivien, Ecuador und Argenti-nien bevorzugen hingegen staatszentrierte Wirtschafts-konzepte. Bei dieser Spannbreite ist eine multilateraleVerständigung schwierig.Drittens. Die regionale Integration ist ins Stocken ge-raten. Zwar bestehen eine Reihe von Bündnissen, es istaber die Frage, wie belastbar diese wirklich sind. In die-sem Jahr wurde wieder ein neues Bündnis geschlossen:Chile, Kolumbien, Peru und Mexiko haben sich zu einerPazifik-Allianz zusammengeschlossen, wohl als Gegen-gewicht zu den linkspopulistisch ausgerichteten Bünd-nissen und Ländern. Das britische Magazin The Econo-mist sieht für das Bündnis Mercosur schon das Endenahen. Der Grund: zu viel Protektionismus.Wie passt das nun mit den vorliegenden Anträgen zu-sammen? Es überrascht wahrscheinlich niemanden,liebe Kolleginnen und Kollegen, wenn ich sage: meinerAnsicht nach gar nicht oder nicht wirklich. Ich darf da-ran erinnern, dass wir es in der Region mit souveränenNationalstaaten zu tun haben, mit denen wir in einempartnerschaftlichen Dialog stehen. Da passt es nichtdazu, ihnen vorzuschreiben, wie sie ihre Energiepolitik,Rohstoff- oder Umweltpolitik auszurichten haben. Viel-mehr geht es darum, gemeinsam Lösungen für die anste-henden Probleme zu finden und unsere Partner in derUmsetzung zu unterstützen.
Dazu gehören konkrete Projekte der Entwicklungs-zusammenarbeit genauso wie der Austausch in Wissen-schaft und Forschung.Darüber hinaus sind die Forderungen in den Anträgenin Teilen widersprüchlich. Unter Punkt 6 Ihres Antragesfordern Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen von Bünd-nis 90/Die Grünen, das Assoziierungsabkommen der EUmit Zentralamerika sowie das Freihandelsabkommen mitPeru und Kolumbien nicht zu unterzeichnen.
Auch entspricht es Ihrer Vorstellung von internationalenVerhandlungen, dass die Bundesregierung andere EU-Staaten dazu bewegen soll, es ihr gleichzutun.
Nachdem die Entscheidungen hierzu auf europäischerEbene gefallen sind, würde ein solches Verhalten dasAnsehen Deutschlands als verlässlicher Partner erheb-lich beschädigen. Das entspricht nicht der Politik derchristlich-liberalen Koalition und liegt auch nicht in un-serem Interesse.Weiterhin bezichtigen Sie die EU, ein unsozialer Ak-teur in Lateinamerika zu sein – mal direkt, mal indirekt.Das kann man so nicht stehen lassen; denn die EU ist dergrößte Geber in der Entwicklungszusammenarbeit aufdiesem Kontinent. Außerdem sind es gerade der wirt-schaftliche Austausch und die Direktinvestitionen, dieArbeitsplätze und damit Wachstum und Wohlstand brin-gen.
Diese Logik ist für jedermann ersichtlich, schlägt sich inIhrem Antrag aber nicht nieder.Ihre Forderung, den Menschenrechten in Handels-und Assoziierungsabkommen mit den lateinamerikani-schen Staaten ein stärkeres Gewicht zu geben, unterstrei-che ich ebenso wie die Forderung, die beiden Säulen desAssoziierungsabkommens, nämlich Entwicklungszu-sammenarbeit und Dialog, gegenüber dem Handelsteilzu stärken. Leider ist die Europäische Union bei denVerhandlungen damit nicht durchgedrungen. Allerdingsist ihre Schlussfolgerung unlogisch, nämlich das Assozi-ierungsabkommen mit Zentralamerika nicht zu ratifizie-ren; denn dann bliebe der Handelsteil bestehen, aber dieEntwicklungszusammenarbeit und der Dialog wärennicht im erforderlichen Maße möglich. Damit würdenwir dieses Abkommen schwächen. Auch das liegt nichtin unserem Interesse.
Bleibt die Frage, wie es weitergehen soll. Denn diestrategische Partnerschaft ist trotz aller Erfolge etwas insStocken geraten. Die EU ist sehr mit dem eigenenKrisenmanagement beschäftigt. Das bindet Kapazitäten.Die Krise im Innern erschwert den strategischen Blicknach außen. Der Europäische Auswärtige Dienst hat, soscheint es, noch nicht richtig Tritt gefasst. Dabei istEuropa auf gute Partnerschaften und funktionierendeAbsatzmärkte mehr denn je angewiesen.Die Länder Lateinamerikas hingegen haben anSelbstbewusstsein gewonnen; Herr Raabe hat es schongesagt. Sie schauen sich ganz genau an, wo und mit wemsie ihre Interessen verfolgen können – und wenn nicht inoder mit Europa, dann mit Asien oder in Afrika.Nach Ansicht der christlich-liberalen Koalition benö-tigen die Beziehungen zwischen der EuropäischenUnion und Lateinamerika keine überfrachteten Wunsch-listen. Notwendig ist vielmehr die schrittweise und klugeIntensivierung der Partnerschaft, und dies in Bereichen,die für eine nachhaltige Entwicklung sorgen, wie es auchim Thema des Gipfels „Bündnis für eine nachhaltigeEntwicklung: Förderung von Investitionen in Umwelt-und Lebensqualität“ zum Ausdruck kommt. Dazu bietetder Gipfel in Santiago de Chile eine geeignete Plattform.Was meine ich damit konkret?Zunächst möchte ich wieder etwas grundsätzlichwerden: Die vergangenen Jahre haben gezeigt, dass diebiregionale Integration zwischen EU und Lateinamerikasowie Karibik auf Schwierigkeiten stößt. Die Gründesind auch in der Fragmentierung der interregionalenBeziehungen auf dem lateinamerikanischen Kontinentzu sehen. Ziel muss sein, diese Fragmentierung zu über-winden.Gleichzeitig sind vertiefende Abkommen zwischenEU und den einzelnen Staaten, wie zum Beispiel Kolum-
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Anette Hübinger
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bien und Peru, machbar und von beiderseitigem Inte-resse. Ich plädiere deshalb dafür, den auf dem Gipfel vonMadrid vor zwei Jahren eingeschlagenen Weg derflexiblen Ausgestaltung von Partnerschaften weiterzu-verfolgen und die geschlossenen Abkommen auch fürBeitrittswillige offenzuhalten.Auch wäre es äußerst wünschenswert, wenn die Ver-handlungen des anstehenden Gipfels in konkreten Hand-lungsempfehlungen enden würden, die von der Latein-amerika-Stiftung konzeptionell umgesetzt undweiterentwickelt werden könnten.Die christlich-liberale Koalition ist der Auffassung,dass gesunde und enge Wirtschaftsbeziehungen ein star-kes Fundament der strategischen Partnerschaft bildenmüssen. Deshalb ist es wichtig, den Handel und seineLiberalisierung zu intensivieren und den Umfang derausländischen Direktinvestitionen gerade auch imBereich von klein- und mittelständischen Unternehmenzu steigern. Dass Unternehmensfreiheit und Unterneh-mensverantwortung dabei die zwei Seiten einer Medaillesind, muss genauso selbstverständlich werden wie dieErkenntnis, dass Korruption und Protektionismus nach-haltigem Wachstum und Wohlstand entgegenstehen.
Eine vertiefte Zusammenarbeit in Bildung und Wis-senschaft, im Technologieaustausch, insbesondere fürdie Bereiche Energie und Energieeffizienz, im Sicher-heitsbereich und im Bereich Rohstoffmanagement undUmweltmanagement ist für eine nachhaltige Partner-schaft von großer Bedeutung. Dazu sind funktionierendeNetzwerke erforderlich. Wir als Parlamentarier könnenunseren Teil zur Lebendigkeit der strategischen Partner-schaft beitragen.Natürlich sollen und werden die Menschenrechte in-nerhalb des politischen Dialogs ihren Platz finden. Eswäre jedoch fatal, wenn wir als Deutsche oder als Euro-päer den lateinamerikanischen Staaten gegenüber miterhobenem Zeigefinger wie ein Oberlehrer auftretenwürden. Leider vermitteln die Anträge der Grünen undder Linken diesen Eindruck. In unserer Verantwortungliegt es, die strategische Partnerschaft mit Leben zu er-füllen, und zwar in allen Bereichen, die sie hergibt, mitBedacht und Augenmaß, aber besonders in Respekt vorunseren Partnern. Der diesjährige Gipfel gibt uns dazudie Möglichkeit.Zum Schluss möchte ich noch kurz auf den Antragder Linken eingehen, der den Friedensprozess in Kolum-bien betrifft. Ich teile die Hoffnung, dass der seit vielenJahren andauernde Konflikt endlich zu einem Ende kom-men kann. Der eingeschlagene Verhandlungskurs derRegierung wird von zwei Dritteln der kolumbianischenBevölkerung befürwortet. Es ist ein positives Signal,dass die ländliche Entwicklung als erster Punkt auf derVerhandlungsliste steht, da dies eine zentrale Frage füreine friedliche Beilegung des Konflikts und der Stabilitätdes Friedens ist.Ihrer Forderung, dass eine möglichst große Zahl zivil-gesellschaftlicher Akteure in die Friedensverhandlungeneinbezogen werden müsste, kann ich nicht folgen. In derVergangenheit war solch ein inklusiver Ansatz bei Frie-densverhandlungen auch in Kolumbien nicht von Erfolggekrönt.Mir scheint es in diesem Zusammenhang weniger aufdie Höhe der Teilnehmerzahl anzukommen als auf dasVertrauen, das gegenseitig aufgebaut wird. Ziel ist es,die gefundenen Lösungen in einem breiten Konsens mitder Zivilbevölkerung umzusetzen.Ihre Anträge lehnen wir ab.Ich bedanke mich für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Heike Hänsel das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! In der kommenden Woche treffen sich inSantiago de Chile zahlreiche Staats- und Regierungs-chefs aus Europa und Lateinamerika, in diesem Jahrerstmals mit dem Staatenbündnis CELAC. Dieser Gipfelfindet ja alle zwei Jahre statt.Lateinamerika ist in der Tat selbstbewusster gewor-den. Das ist unter anderem auch vielen Mitte-Links-Regierungen zu verdanken, die sich massiv gegen dasaufgedrückte neoliberale Wirtschaftsmodell aus derEuropäischen Union wehren. Die Linke hat diese Regie-rungen bei dieser Politik in vielerlei Hinsicht unterstützt,und das wird sie auch weiterhin tun.
Beigetragen haben dazu natürlich auch die sozialenBewegungen. Sie organisieren kommende Woche einenGegengipfel unter dem Titel „Enlazando Alternativas“,um eine alternative Politik zu entwickeln – und das in ei-nem Land wie Chile, in dem im letzten Jahr Millionenvon Studierenden, Schülern und Gewerkschaftern aufdie Straße gingen, um gegen den Neoliberalismus undgegen den Ausverkauf von Bildung, Wasser und alldemzu protestieren. Das war, glaube ich, eine eindrücklicheBewegung, und auch sie braucht unsere Unterstützung.
Frau Hübinger, diese Bewegungen mobilisieren aufdiesem Gegengipfel vor allem gegen die Freihandels-abkommen, die die EU mit Kolumbien, mit Peru, mitZentralamerika abschließt. Weshalb? Es gibt vieleGründe. Ich will Ihnen nur zwei Beispiele nennen.Erstens. Die EU kann laut Vertrag unter anderemjährlich über 60 Millionen Liter Milch nach Kolumbienexportieren – hochsubventioniert, spottbillig. Die ko-lumbianischen Kleinbauern können mit ihren zwei bisdrei Kühen, die jeweils nur 5 Liter pro Tag produzieren,
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Heike Hänsel
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bei weitem nicht mit der Billigmilch aus der EU konkur-rieren.
Mehr als 500 000 Kleinbauern, die bisher von ihrer Ar-beit leben konnten, werden ihre Existenz verlieren.Jetzt frage ich Sie von der Bundesregierung: Wie wol-len Sie eigentlich der Bevölkerung hier erklären, dassSie Steuergelder für Entwicklungsprojekte in aller Weltausgeben, auch in Kolumbien, wenn Sie gleichzeitigeine Politik betreiben, die wieder zu neuer Armut bei-trägt? Das ist eine kontraproduktive Politik. Schon des-halb können Sie diesen Abkommen nicht zustimmen.
Zweitens. Alle reden von der Regulierung der Finanz-märkte. Erst heute im Bundestag haben wir über den An-trag von CDU/CSU und FDP zur schärferen Regulierungder Finanzmärkte diskutiert. Was haben Sie aber in dieFreihandelsabkommen hineingeschrieben? Eine weit-gehende Liberalisierung der Finanzdienstleistungen! Esgibt Studien aus der EU; auch der WissenschaftlicheDienst hat es sich angeschaut. Die Verträge sind völker-rechtlich bindend. Die EU wird eine geringere Handhabehaben, Finanzdienstleistungen zu kontrollieren undstrenger zu regulieren. Für Kolumbien und Peru ist dasbesonders brisant, weil das auch die Geldwäsche beiDrogengeschäften erleichtern wird.Deshalb kann ich Ihnen nur raten: Schauen Sie sichdiese Handelsabkommen an, und bedenken Sie, was Siedamit wirklich verantworten. Ich kann Sie nur auffor-dern – das wird hier im Bundestag diskutiert werden –:Stimmen Sie gegen die Ratifizierung dieser Freihandels-abkommen! Sonst brauchen Sie nicht von Armuts-bekämpfung und Regulierung der Finanzmärkte zu spre-chen.
Zum Schluss komme ich zu Kolumbien, weil es wirk-lich eine historische Zeit in Kolumbien ist und endlichneue Friedensverhandlungen aufgenommen werden.
Ich kann nicht nachvollziehen, dass Sie von der FDP er-zählen, die Unterstützung von Friedensprozessen seikontraproduktiv. Ich sage Ihnen: Die Unterstützung vonFriedensprozessen ist allemal besser, als Militärinterven-tionen zu starten und Soldaten in alle Welt zu schicken.
Das können Sie von der Regierung sich wirklich hinterdie Ohren schreiben.Noch ein zweiter Punkt. Sie sprachen von Narcogue-rilla, Unterstützung der Drogenhändler. Es gibt auch denBegriff der Narcopolitik. Da geht es um Politiker inKolumbien, die massiv in Drogengeschäfte und parami-litärische Strukturen verstrickt sind. Dazu gehört derehemalige Präsident Uribe, der deswegen gerade vorGericht steht.
Wer hat Uribe die Hand geschüttelt? Das waren doch dieRegierungen auf Ihrer Seite! Sie haben Uribe unterstützt,beste Beziehungen gepflegt. Jetzt ist er in Kolumbien alsein Drogenpolitiker angeklagt. Da machen Sie Ihre Poli-tik total unglaubwürdig.
Normale Beziehungen zu Kuba sind im 21. Jahrhun-dert mehr als überfällig. Dazu kann ich nur aufrufen.Wenn Sie Kuba kritisieren und gleichzeitig Waffen anDiktaturen in aller Welt liefern, dann haben Sie eineDoppelmoral. Kümmern Sie sich lieber einmal um diePanzerlieferungen nach Saudi-Arabien, Herr Ehrenburg!
Sie sind in meinen Augen ein alter Krieger, ein alter Kal-ter Krieger.
Frau Kollegin, kommen Sie bitte zum Schluss.
Ich würde sagen: Viele in der FDP, die eine liberale
Tradition gepflegt haben, werden sich bei Ihrer Rede im
Grabe umgedreht haben.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Thilo Hoppe für Bündnis 90/Die Grü-
nen das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!„Otra alianza es posible“: So lautete das Motto einesgroßen grünen Lateinamerikakongresses, den wir Endeletzten Jahres veranstaltet hatten. Otra alianza es posi-ble! Eine andere Partnerschaft ist möglich – und nötig –zwischen Europa und Lateinamerika; denn die derzeitigeoffizielle strategische Partnerschaft zwischen der EUund Lateinamerika ist sehr einseitig an den Exportinter-essen beider Kontinente orientiert
und für soziale und ökologische Belange leider blind.
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26876 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Thilo Hoppe
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In wenigen Tagen treffen sich die Regierungschefs inSantiago de Chile. Es bahnt sich eine Wiederholungdessen an, was ich vor fast drei Jahren als einziger parla-mentarischer Beobachter aus Deutschland auf dem letz-ten EU-Lateinamerika-Gipfel in Madrid verfolgenkonnte. Da wurden die Freihandelsabkommen beschwo-ren und als Wirtschaftswachstumsmotor gefeiert. Diegroße Vision: Verfünffachung der Fleischexporte vonLateinamerika nach Europa gegen die Verdoppelungder Automobil- und Automobilteilexporte von Europanach Lateinamerika. Eine prima Agenda, die vielleichtdas Wirtschaftswachstum anheizt, aber mit Sicherheitauch den Klimawandel. Eine solche Agenda blendetMenschenrechtsfragen ebenso aus wie die Zerstörungwertvoller Wälder.
Wir fordern in unserem Antrag eine neue Partner-schaft zwischen Europa und Lateinamerika, die wirklicheiner menschenrechtsbasierten nachhaltigen Entwick-lung dient.
Ich habe heute einiges gehört, was man in unserenAntrag, der diese Debatte bewirkt hat, hineininterpre-tiert. Bitte zitieren Sie richtig, und bleiben Sie bei derWahrheit! Wir fordern nichts anderes als das, was derWissenschaftliche Beirat für Globale Umweltfragen, derWBGU, dieser Bundesregierung fordert: eine sozialöko-logische Transformation bei uns, in Europa, in Latein-amerika und weltweit. Denn nur wenn wir nach denPrinzipien wirtschaften, die bereits 1992 auf dem erstenWeltnachhaltigkeitsgipfel in Rio beschlossen undproklamiert wurden, lassen sich der Klimawandel ein-dämmen, die Welternährungskrise überwinden und mehrsoziale Gerechtigkeit verwirklichen.
Auch Wirtschaft und Handel brauchen soziale undökologische Leitplanken, die verhindern, dass wir aufKosten anderer oder auf Kosten nachfolgender Gene-rationen leben. Aber in den Freihandels- und Assoziie-rungsabkommen, die in Santiago unterschrieben und ge-feiert werden sollen, sucht man vergeblich nach diesensozialen und ökologischen Leitplanken. Die KolleginHänsel hat zwei Beispiele aufgezählt: Deregulierung imBankenbereich – Geldwäsche wird erleichtert – und dasAbkippen von hochsubventioniertem Milchpulver, wo-durch die kleinbäuerliche Milchwirtschaft in den Län-dern Zentralamerikas zerstört wird. Das ist keineAgenda für eine nachhaltige Entwicklung. Dies sindzwei von vielen Gründen, die uns Grüne bewogenhaben, sowohl im Europaparlament als auch hier imBundestag diese Freihandels- und Assoziierungsabkom-men der EU mit Kolumbien, Peru und den Staaten Zen-tralamerikas in den nächsten Wochen abzulehnen.
Unser Antrag atmet den Geist einer sozialen undökologischen Marktwirtschaft. Schade, dass die Regie-rungskoalition diesen Antrag ablehnt. Eigentlich war esnicht anders zu erwarten. Wir finden es aber auch enttäu-schend, dass sich SPD und Linke enthalten. Die Argu-mente, die Sie vorgetragen haben, waren nicht überzeu-gend.
Natürlich gibt es auch Anerkennung für die sozialenFortschritte in einigen Ländern Lateinamerikas. Aber dieSchattenseiten dürfen nicht übersehen werden; dennauch die linkeren Regierungen Lateinamerikas finanzie-ren ihre durchaus lobenswerten Sozialprogramme über-wiegend durch den Verkauf von Bodenschätzen, vonAgrarrohstoffen, von Produkten der Plantagenwirtschaft.
Bei diesem Extraktivismus lassen sie ökologische undsoziale Menschenrechtsfragen in der Ecke stehen.
Zu unserem großen Lateinamerikakongress hatten wirviele Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler eingela-den. Die sozialen Fragen werden zwar von einigen, aberbei weitem nicht von allen Regierungen Lateinamerikasangepackt. Die ökologischen Fragen werden ganz ausge-blendet. Das führt zur Verdrängung von Indigenen, vonKleinbauern. Minderheiten geraten unter die Räder.Wertvolle Wälder werden zerstört.
Kommen Sie bitte zum Schluss, Herr Hoppe.
Ja. – Es ist nicht alles schlecht; es gibt auch positive
Ansätze, derzeit noch überwiegend durch die Umwelt-
bewegung, durch soziale Bewegungen und durch
Menschenrechtsaktivisten. Wir arbeiten daran, dass
diese Bewegungen mehr an Bedeutung gewinnen und
dass sie sich auch in den Regierungen abbilden werden.
Dann kann man eines Tages wirklich sagen: Otra alianza
es posible!
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen mit dem Titel „EU – Lateinamerika: Partner-schaft für eine sozial-ökologische Transformation“. DerAusschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/12093, den Antrag der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/11838 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist angenommen mit den Stimmen der Koali-
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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tionsfraktionen bei Enthaltung von SPD und Linken undGegenstimmen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung zu demAntrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel „Friedens-dialog in Kolumbien aktiv unterstützen“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/12094, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/11839 abzulehnen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen mitden Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegenstim-men der Linken und der Grünen und Enthaltung derSPD-Fraktion.Beschlussempfehlung des Auswärtigen Ausschusseszu dem Antrag der Fraktion Die Linke mit dem Titel„Sozialen Fortschritt und regionale Integration in Latein-amerika unterstützen“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/12087, denAntrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/3214abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der SPD-Fraktion bei Ge-genstimmen der Linken und Enthaltung der Grünen.Abstimmung über den Antrag der Fraktion Die Linkeauf Drucksache 17/12061 mit dem Titel „CELAC-EU-Gipfel in Santiago de Chile – Neue Zusammenarbeit mitneuen Partnern“. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag istabgelehnt mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen beiEnthaltung von SPD und Grünen gegen die Stimmen derLinken.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Zweite und dritte Beratung des von den Fraktio-nen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Regelung der betreu-ungsrechtlichen Einwilligung in eine ärztlicheZwangsmaßnahme– Drucksache 17/11513 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/12086 –Berichterstattung:Abgeordnete Thomas SilberhornSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid HönlingerHierzu liegen ein Entschließungsantrag der FraktionDie Linke sowie ein Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. Gibt esWiderspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das sobeschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Stephan Thomae von der FDP-Fraktion das Wort.
– Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte Sie, Platz zunehmen oder den Saal zu verlassen, falls Sie an derAussprache nicht teilnehmen wollen. – Bitte, HerrKollege Thomae.
Vielen Dank, Herr Präsident! – Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Meine Damen und Herren! Mit zweiEntscheidungen vom 20. Juni 2012, die im Juli veröf-fentlicht worden sind, hat der BGH der ärztlichenZwangsbehandlung etwas überraschend die Rechts-grundlage entzogen.Zuvor hatte man die Rechtsgrundlage für ärztlicheZwangsmaßnahmen im § 1906 BGB gesehen. DieseVorschrift regelt jedoch genau genommen nur diezwangsweise Unterbringung in einer Anstalt. Mit dieserEntscheidung gab es also keine Rechtsgrundlage mehrfür eine ärztliche Zwangsbehandlung, für eine zwangs-weise Behandlung.Nun könnte man sagen, das ist richtig; denn es gibtnun einmal keine Pflicht, sich ärztlich behandeln zulassen; es gibt bei uns keinen Arztzwang, es gibt dieFreiheit zur Krankheit. Wenn jemand sagt: „Das heiltauch so wieder“, dann kann man ihn nicht zwangsweisezum Arzt schicken. Ein Problem taucht aber dann auf,wenn jemand aufgrund einer psychischen Beeinträchti-gung, beispielsweise einer Persönlichkeitsstörung, au-ßerstande ist, zu erkennen, dass die ärztliche Behandlungeines Leidens möglich ist, dass er behandelt werdenkann und behandelt werden muss. Wenn er sich nun ge-gen diese Behandlung wehrt, dann kann ein Problemauftreten. Genau dieses Problem lösen wir mit demheute zu beschließenden Gesetzentwurf.
Nehmen wir das Beispiel, dass sich jemand gegeneine Dialyse wehrt, obwohl er vielleicht einen Nieren-schaden oder nur eine Niere hat. Er bräuchte die Dialyse,aber er glaubt vielleicht, dass er vergiftet werden solloder dergleichen, und wehrt sich deshalb gegen eine sol-che Dialysebehandlung. Deswegen kommt zu dem As-pekt, dass es keine Pflicht gibt, sich ärztlich behandelnzu lassen, jetzt der andere Aspekt, dass eine ärztlicheZwangsbehandlung in manchen Fällen als letztes Mittelnotwendig ist.Der Gang des Verfahrens war folgender: Am Anfangbestand der Eindruck, dass eine große Eile notwendigsei; es gab Nachrichten über unhaltbare Zustände inKrankenhäusern, über Patienten, die eingesperrt und amBett fixiert werden mussten, über Pfleger, die sich wei-gerten, solche Krankenzimmer und -stationen zu betre-ten, über verzweifelte Angehörige, die das Leiden ihrerAngehörigen nicht mehr mit anschauen konnten. Das hatuns anfangs dazu veranlasst, dieses Thema in großer Eile
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Stephan Thomae
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zu beraten. Aber dann gab es eine ganze Reihe von Ge-sprächen, die wir Berichterstatter – auch ich persönlich –mit Betroffenen und Betroffenenverbänden geführthaben. Das hat, wie es manchmal so ist, einen neuenBlickwinkel auf das Thema eröffnet. Das hat mich undviele Kollegen und Kolleginnen nachdenklich gemacht,beispielsweise Berichte über die Wirkungen und Neben-wirkungen von Neuroleptika. So war es richtig, dass wiruns Zeit für intensive Beratungen genommen haben,dass wir sogar mehr als die üblichen parlamentarischenBeratungsstufen genommen haben.Das Ergebnis der Abwägungen entspricht dem, waswir heute beschließen wollen: Wir brauchen in bestimm-ten Fällen als letztes Mittel die Möglichkeit zur zwangs-weisen Behandlung, weil es eine Schutz- und Fürsorge-pflicht des Staates nach Art. 2 Grundgesetz gibt. Wiekönnen wir aber auf der anderen Seite den exzessivenGebrauch der Möglichkeit zur ärztlichen Zwangsbe-handlung eindämmen? Das war die Frage, die wir zu be-raten hatten. Wir haben fünf Punkte des ursprünglichenRegierungsentwurfs in der parlamentarischen Beratungnachgearbeitet:Der erste Punkt ist, dass der Arzt oder Betreuer versu-chen muss, den Betreuten ohne Druck und, wo es mög-lich ist, ohne zeitliche Not vom Sinn und von der Not-wendigkeit der Maßnahme zu überzeugen, sodass derBetreute eine auf Vertrauen gründende Entscheidungtreffen kann und dann vielleicht doch in die ärztlicheMaßnahme einwilligt.Der zweite Punkt, den wir in der parlamentarischenBeratung nachgearbeitet haben, war, dass wir in jedemEinzelfall einen Verfahrenspfleger bestellen wollen, derdie Rechte des Betreuten auch gegenüber dem Betreuerwahrnimmt.Der dritte Punkt ist, dass wir das Vieraugenprinzip ge-stärkt haben, indem vor jeder ärztlichen Zwangsmaß-nahme ein ärztlicher Gutachter bestellt werden muss, dernicht zugleich der behandelnde Arzt sein darf.Der vierte Punkt hat auch mit dem Vieraugenprinzipzu tun. Bei ärztlichen Zwangsmaßnahmen, deren Ge-samtdauer mehr als zwölf Wochen beträgt, soll ein exter-ner Gutachter bestellt werden, der erstens nicht schonfrüher als Gutachter oder behandelnder Arzt mit demPatienten, dem Betreuten befasst war und zweitens auchnicht der Einrichtung angehört, in der der Betreute unter-zubringen wäre.Der fünfte Punkt, den wir in der parlamentarischenBeratung nachbearbeitet haben, ist, dass sich das ärztli-che Gutachten nicht nur über den Zustand des Betroffe-nen äußern muss, sondern auch über die Notwendigkeitder konkreten ärztlichen Maßnahme.Ich meine, dadurch wird deutlich, dass wir in dieserintensiven parlamentarischen Beratung bewiesen haben,wie ernst wir das Thema nehmen, dass wir sehr wohlversucht haben, beide Seiten abzuwägen, dass wir alsoSicherheitsfilter eingebaut haben. Deshalb ist am Endeein guter Gesetzentwurf dabei herausgekommen.Ich möchte mich an dieser Stelle bei den Kolleginnenund Kollegen Mitberichterstattern aller Fraktionenbedanken. Ich finde, das war eine sehr konstruktive, eineernsthafte und eine oft auch nachdenkliche Beratungdieses Gesetzentwurfs.Ich bitte um Nachsicht, dass wir den Entschließungs-anträgen der Linken und der Grünen heute nicht zustim-men wollen, weil wir der Auffassung sind, dass dennotwendigen Punkten Genüge getan worden ist. Ich be-danke mich noch einmal bei allen. Außerdem freue ichmich besonders, dass die SPD dem Vernehmen nachheute dem Gesetzentwurf zustimmen wird.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat jetzt die Kollegin Sonja
Steffen das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Jeder von unskann einmal in eine psychische Krise geraten. Angststö-rungen, Depressionen, Sucht und Psychosen sind weitverbreitete Erkrankungen. Laut einer Studie aus demJahr 2011 treffen sie rund 38 Prozent der BevölkerungEuropas. Das heißt, dass jeder Dritte, auch jeder Drittevon uns, in eine Situation geraten könnte, die eine so-genannte Einweisung und eine Zwangsbehandlung zurFolge hat. In Deutschland werden derzeit jedes Jahr1,2 Millionen Menschen in staatlichen Einrichtungentherapiert.Ich bin überzeugt, dass wir uns alle nicht wünschen,hilflos in einer Klinik und nicht mehr in der Lage zusein, zu entscheiden, ob und welche Behandlung wirwünschen, und im schlimmsten Fall keine Entschei-dungskraft mehr darüber zu haben, ob wir gegen unserenWillen Medikamente verabreicht bekommen, derenWirkung und vor allem deren Nebenwirkungen wir erstrecht nicht überblicken können.In einer solchen Situation wünsche ich mir behutsameund kompetente Ärzte.
Ich wünsche mir, dass Personen mit Sachverstand undEinfühlungsvermögen für mich entscheiden. Ich wün-sche, dass erkannt wird, wann eine medizinische Be-handlung – auch gegen meinen Willen – notwendig ist,um einen schwerwiegenden gesundheitlichen Schadenzu verhindern. Vor allem aber wünsche ich, dass manmir hilft, möglichst bald wieder ein gesundes und selbst-bestimmtes Leben führen zu können.
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Sonja Steffen
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Wir sind uns an dieser Stelle alle einig, dass es beson-ders wichtig ist, seelische Störungen möglichst frühzei-tig zu erkennen und zu behandeln. Eine Einweisung underst recht eine Zwangsbehandlung sollte möglichst ver-mieden werden.
Dazu müssen ambulante Hilfesysteme ausgebaut wer-den, um in Krisensituationen schnell und frühzeitighelfen zu können. Patienten sind darüber hinaus recht-zeitig auf die Möglichkeiten einer Patientenverfügungund einer Vorsorgevollmacht hinzuweisen, damit ihrfreier Wille dokumentiert ist, bevor es zu spät ist. Es gibteine ganze Reihe von Bereichen, die einer Überprüfungoder vielleicht sogar einer neuen gesetzlichen Regelungbedürfen.In Anbetracht der rechtsfreien Situation nach denschon erwähnten Entscheidungen des BGH – HerrThomae hat bereits darauf hingewiesen – war es aktuelljedoch notwendig, eine gesetzliche Regelung für medizi-nische Zwangsbehandlungen zu schaffen; denn seit die-sen Entscheidungen sind Behandlungen von Betroffenengegen ihren Willen nicht mehr möglich. Ärzte hängenderzeit in der Luft, wenn sie einem Patienten in einer be-drohlichen Situation helfen wollen, dieser aber nicht ein-willigt. In diesem Zusammenhang sind bereits Beispielegenannt worden.Meine Damen und Herren, es ist letztlich auch derSPD-Fraktion zu verdanken, dass wir den Gesetzentwurfin einem ordentlichen Gesetzgebungsverfahren beratenund eine öffentliche Expertenanhörung durchgeführthaben.
Für uns war es besonders wichtig, die Betroffenenver-bände anzuhören; denn als gesunder Mensch kann mansich nicht vorstellen, welche Leidenswege die Betroffe-nen auch im Zusammenhang mit Zwangsbehandlungenzum Teil gegangen sind. Im Laufe des Gesetzgebungs-verfahrens haben wir viele Berichterstattergesprächegeführt und viele Änderungen des ursprünglichen Regie-rungsentwurfs diskutiert und auch erreichen können, diedie Rechte der Betroffenen besser schützen.Heute entscheiden wir nun über einen, wie ich meine,ausgewogenen Gesetzentwurf, der die Vorgaben derRechtsprechung beachtet und vor allem einen angemes-senen Ausgleich zwischen dem Recht auf freie Selbst-bestimmung auf der einen Seite und dem Schutz vor ei-ner erheblichen gesundheitlichen Gefährdung auf deranderen Seite schafft.
Im Gesetzentwurf sind die Bedingungen für eineZwangsbehandlung genau formuliert. Voraussetzung istzunächst, dass dem Patienten ohne ein Eingreifen ein er-heblicher Gesundheitsschaden droht. Anders als bishermuss der Richter zukünftig nicht nur in die Einweisungeinwilligen, sondern auch in die Behandlung selbst undihre Ausgestaltung im Einzelnen genehmigen. EineZwangsbehandlung darf tatsächlich nur das allerletzteMittel sein.
Zuvor muss versucht werden, den Betreuten von derNotwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen.Der behandelnde Arzt muss also zunächst mit dem nöti-gen Zeitaufwand und dem erforderlichen Einfühlungs-vermögen versuchen, den Patienten von einer freiwilli-gen Behandlung zu überzeugen. Ganz wichtig ist, dassdie Bestellung eines Verfahrenspflegers aufgenommenwurde. Der Verfahrenspfleger ist sozusagen der Anwaltdes Betreuten, und er hat die Aufgabe, seine Rechte beider anstehenden Entscheidung über eine Zwangsbehand-lung deutlich zu vertreten.Im Ausschuss, aber auch in meiner Fraktion, hat unsbesonders die Frage der ärztlichen Begutachtung des Be-troffenen beschäftigt. Wir haben eine Regelung getrof-fen, die vorsieht, dass der Sachverständige, der ein-schätzt, ob die Behandlung medizinisch notwendig ist,nicht der behandelnde Arzt sein soll. Falls die Maß-nahme länger als zwölf Wochen erfolgt, muss eine ex-terne Begutachtung erfolgen. Der Arzt soll den Patientennoch nicht behandelt haben und außerdem nicht Arzt derUnterbringungsklinik sein. Nur ausnahmsweise – des-wegen gibt es diese Sollvorschrift – darf von diesenGrundsätzen abgewichen werden; denn in ländlichenBereichen kann es zu personellen Engpässen kommen.Nur dann, wenn ein externer Arzt nachweislich nicht zurVerfügung steht, kann die Begutachtung durch einenArzt der Klinik erfolgen. Wir gehen davon aus, dass inZukunft von der Sollvorschrift in der Praxis nur sehr res-triktiv Gebrauch gemacht wird. Es wird darüber hinausgesetzlich vorgeschrieben, dass die ärztlichen Zeugnissenur von Sachverständigen erstellt werden, die über dienotwendigen Erfahrungen auf dem Gebiet der Psychia-trie verfügen.Wir entscheiden heute über einen ausgewogenen Ge-setzentwurf. Sie haben recht, Herr Thomae, wir werdendem Gesetzentwurf heute zustimmen. Trotzdem ist dasThema der medizinischen Behandlung psychisch er-krankter Menschen noch lange nicht ausreichend behan-delt. Der Bundes- und auch die Landesgesetzgeber sindgefragt, weitere Maßnahmen zu ergreifen, durch die denPatienten frühzeitig Hilfe angeboten wird und men-schenwürdige, zugleich aber auch heilende Maßnahmenermöglicht werden.Noch einen Satz: Das ist ein dickes Brett, das wir hierbohren müssen. Ich bin überzeugt, dass wir mit präventi-ven Maßnahmen schon bei unseren Kindern beginnenkönnen. Durch die Verbesserung der Arbeitsbedingun-gen und der Lebensverhältnisse können wir dazu beitra-gen, dass die Menschen gar nicht erst krank werden.Vielen Dank.
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26880 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
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Das Wort hat jetzt der Kollege Thomas Silberhorn
von der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Mitdem vorliegenden Gesetzentwurf schaffen wir eine klareRechtsgrundlage. Wir setzen zugleich enge Grenzen fürdie Einwilligung des Betreuers in eine medizinisch not-wendige Behandlung, die der Betreute selbst ablehnt.Wir schließen damit eine Lücke im Betreuungsrecht, dieaufgrund der Rechtsprechung entstanden ist; denndanach fehlt es gegenwärtig an einer ausreichenden ge-setzlichen Grundlage für eine Zwangsbehandlung vonpsychisch Kranken, die in einer geschlossenen Einrich-tung untergebracht sind. Der Gesetzentwurf der Koali-tion gewährleistet, dass eine solche Zwangsbehandlungnur als letztes Mittel eingesetzt werden darf, nämlichwenn sie erforderlich ist, um schwerwiegende gesund-heitliche Schäden vom Patienten abzuwenden.Der Gesetzentwurf orientiert sich eng an den verfas-sungsrechtlichen Vorgaben. Dabei müssen wir einerseitsdas Selbstbestimmungsrecht des psychisch krankenPatienten im Blick behalten, andererseits auch seinenSchutz vor schweren Gesundheitsschäden. Das musssorgfältig abgewogen werden. Es geht ausschließlich umFälle, in denen der Betreute aufgrund einer psychischenKrankheit oder einer seelischen oder geistigen Behinde-rung die Notwendigkeit einer ärztlichen Maßnahmenicht erkennen kann oder nicht nach dieser Einsicht han-deln kann. Das ist etwa ein Patient, der aufgrund einermanischen Depression verkennt, dass er eine Dialysebräuchte, oder es ist ein Patient, der dringend eine Blind-darmoperation benötigt, aber aufgrund einer Wahnvor-stellung irrigerweise annimmt, gar keinen Blinddarmmehr zu haben. Das sind die Fälle, von denen wir hierreden. Der psychisch Kranke kann also in eine notwen-dige medizinische Maßnahme nicht selbst einwilligen.Das ist auch der Grund, weshalb er einen rechtlichenBetreuer hat, der für ihn handelt. Wir reden außerdemnur von Fällen, in denen der psychisch Kranke mitrichterlicher Genehmigung in einer geschlossenenEinrichtung untergebracht ist.Hier muss der Staat seiner Fürsorgepflicht gerechtwerden. Deshalb müssen wir im Interesse der Betroffe-nen die Möglichkeit für eine psychiatrische Behandlunggegen den Willen des Patienten schaffen; aber wir müs-sen zugleich auch sicherstellen, dass eine solcheZwangsbehandlung nur in Ausnahmefällen stattfindet.Natürlich ist eine medizinische Behandlung, die mitZustimmung des Betroffenen durchgeführt wird, immervorzuziehen; denn das stärkt das Vertrauen zwischenArzt und Patient und dient am Ende auch dem Behand-lungserfolg. Deshalb müssen alle milderen Mittel aus-geschöpft werden, die in Betracht kommen, um die dro-hende gesundheitliche Gefahr abzuwenden, bevor eineZwangsbehandlung überhaupt erwogen wird.Um das klarzustellen, führen wir zusätzlich zu denbestehenden Grundsätzen des Betreuungsrechts die neueRegelung ein, dass die Einwilligung des Betreuers ineine ärztliche Zwangsmaßnahme nur dann zulässig ist,wenn zuvor versucht worden ist, den Betreuten von derNotwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen.Dieser Versuch – das ist schon angesprochen worden –muss ernsthaft, mit dem nötigen Zeitaufwand und ohneunzulässigen Druck unternommen werden. Das habenwir in der Begründung des Gesetzentwurfs im Einzelnenexplizit aufgeführt, sodass wir den Anforderungen desBundesverfassungsgerichts in vollem Umfang gerechtwerden.Wenn der Versuch misslingt, den Patienten von derNotwendigkeit der medizinischen Behandlung zu über-zeugen, dann greift ein Katalog mit strengen Vorausset-zungen, die allesamt erfüllt sein müssen, um den Patien-ten gegen seinen Willen behandeln zu können: Dieärztliche Zwangsmaßnahme muss zum Wohl des Betreu-ten erfolgen, sie muss erforderlich sein, um einendrohenden, erheblichen gesundheitlichen Schaden abzu-wenden – dieser erhebliche Gesundheitsschaden darfdurch keine andere, dem Betreuten zumutbare Maß-nahme abgewendet werden können –, und der zu erwar-tende Nutzen der Maßnahme muss gegenüber den zu er-wartenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen.Diese engen Voraussetzungen garantieren einen größt-möglichen Schutz des Betroffenen.Wir verknüpfen diese materiellen Voraussetzungenim Interesse des Patienten mit einer ganzen Reihe vonverfahrensrechtlichen Sicherungen: Nur wenn das Be-treuungsgericht nach sorgfältiger Prüfung die Einwilli-gung des Betreuers in eine ärztliche Zwangsmaßnahmegenehmigt, darf die Behandlung durchgeführt werden.Das müssen Sie zusammen lesen mit dem Umstand, dasssich diese Patienten bereits in Betreuung, in Unterbrin-gung befinden, die ihrerseits bereits gerichtlich geneh-migt worden sein muss. Somit gewährleisten wir eineumfassende gerichtliche Prüfung.Weil der Betroffene seine Rechte im Verfahren vordem Betreuungsgericht allerdings regelmäßig nichtselbst wahrnehmen kann – er hat deshalb einen rechtli-chen Betreuer –, haben wir uns dazu entschlossen, dassimmer ein Verfahrenspfleger bestellt werden muss, umdem besonderen Schutzbedürfnis des Betroffenen zu-sätzlich Rechnung zu tragen. Das bedeutet: Der Patienthat außerhalb der Beziehung zum Arzt zwei Personen,die auf seiner Seite stehen und seine Interessen wahrneh-men, zum einen den rechtlichen Betreuer und zum ande-ren in jedem Fall – das ist neu – einen Verfahrenspfleger.Hinzu kommt, dass das Gericht sich einen persönlichenEindruck vom Patienten verschaffen muss und denPatienten persönlich anhören muss. Schließlich mussauch die ärztliche Begutachtung des Betroffenen der ge-richtlichen Entscheidung vorausgehen. Der ärztlicheSachverständige mit einschlägiger psychiatrischer Er-fahrung soll dabei nicht der behandelnde Arzt sein.Wenn es um eine Zwangsbehandlung oder um eineUnterbringung für mehr als zwölf Wochen geht, setzenwir die Anforderungen, was die Auswahl des Sachver-ständigen angeht, noch höher. Dann soll das Gerichtkeinen Sachverständigen bestellen, der den Betroffenen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26881
Thomas Silberhorn
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bereits behandelt oder begutachtet hat oder in der Ein-richtung tätig ist, in der der Betroffene untergebracht ist.Ich sehe zwar, dass die Grünen hier noch weiterge-hende Vorschläge haben und ohne Ausnahme außenste-hende Sachverständige heranziehen wollen. Diesen Vor-schlag halte ich allerdings offen gestanden für nichtverantwortbar; denn dann könnte eine medizinisch not-wendige Behandlung daran scheitern, dass es ein sodichtes Netz an Psychiatern in Deutschland gar nichtgibt. Wir stellen mit der Sollvorschrift sicher, dass imRegelfall externe Sachverständige eingesetzt werdenmüssen. Nur im Ausnahmefall kann davon abgewichenwerden. Das muss vom Gericht im Genehmigungsbe-schluss auch so begründet werden.
Meine Damen und Herren, wir setzen im Ergebnis dieHürden für eine psychiatrische Zwangsbehandlung deut-lich höher als bisher. Genau das ist auch Ausdruck desUltima-Ratio-Gedankens. Die ärztliche Zwangsbehand-lung ist nur als letztes Mittel zulässig, wenn es gar nichtmehr anders geht. Leider gibt es aber eben immer wiederFälle, in denen eine Zwangsbehandlung zum Wohle desBetroffenen erforderlich ist. Es gibt Angehörige undauch Patienten, die darunter leiden, dass nach gegenwär-tiger Rechtslage nicht behandelt werden darf. Keine ak-zeptable Alternative ist es, meine Damen und Herren,wenn stattdessen Patienten dauerhaft fixiert oder erst imRahmen eines rechtfertigenden Notstands behandeltwerden, wenn nämlich der Gesundheitszustand bereitsakut lebensbedrohlich geworden ist. Damit können wiruns im Interesse der Betroffenen nicht zufriedengeben.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, wir haben inden letzten Wochen und Monaten eine umfassende Dis-kussion geführt. Mit sechs Sachverständigen haben wirein ausführliches Expertengespräch im Kreise der Be-richterstatter gehabt, einschließlich der Kolleginnen undKollegen aus dem Gesundheitsausschuss. Zusätzlich ha-ben wir – das ist außergewöhnlich für unsere Gesetz-gebungsverfahren – eine öffentliche Anhörung durchge-führt, sodass wir zwei Expertengespräche hatten. Ichwill betonen, dass es uns gelungen ist, die Sachverstän-digen für die öffentliche Anhörung von allen Fraktioneneinvernehmlich zu benennen. Mir war wichtig, dass ins-besondere auch Vertreter der Betroffenen und der Ange-hörigen dabei gehört wurden.Die Sachverständigen haben uns nahezu durchgehendbestätigt, dass unsere Vorschläge zielführend sind. Es istauch deutlich geworden, dass ein vollständiger Verzichtauf Zwangsbehandlung kein gangbarer Weg wäre. Wirbrauchen sie als letztes Mittel zum Schutz der Betroffe-nen selbst. Das gilt umso mehr, als sich diese Patientenbereits in Unterbringung und damit in staatlicher Obhutbefinden. Die Schutzpflicht des Staates gebietet es hier,dass wir diesen Patienten eine notwendige medizinischeBehandlung nicht generell versagen.Aus den Expertengesprächen sind aber auch eineReihe von Änderungsvorschlägen entwickelt worden,die im Ergebnis das Schutzniveau für die Betroffenensubstanziell erhöhen. Das Gesetz bietet Rechtssicherheitfür Ärzte, Patienten und Betreuer. Insbesondere aber bie-tet es auch für die Betroffenen Hilfe, die notwendig ist,bei gleichzeitig bestmöglicher Wahrung ihrer Rechts-position. Ich bitte Sie deshalb, diesem Gesetzentwurfzuzustimmen.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt das Wort der Kol-
lege Jörn Wunderlich.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichts isteine gesetzliche Neuregelung Voraussetzung dafür, dassärztliche Zwangsmaßnahmen – Fixieren am Bett oderZwangsmedikation mit Psychopharmaka etc. – stattfin-den können. Hier ist schon wiederholt gesagt worden:Ärztliche Zwangsmaßnahmen dürfen aufgrund des da-mit verbundenen erheblichen Grundrechtseingriffs wirk-lich nur das allerletzte Mittel sei.Um eine Zwangsbehandlung durchführen zu können,hat die Regierung in diesem Gesetzentwurf die Voraus-setzungen für Zwangsmaßnahmen verschärft, wird je-doch den Bedürfnissen nach einer wirklichen Lösungnicht gerecht.
Insgesamt gibt es nach dem Gesetzentwurf fünf Voraus-setzungen für eine Zwangsbehandlung: Uneinwilli-gungsfähigkeit des Patienten; vorheriger Versuch, vonder Behandlung zu überzeugen; sie muss zum Wohle desBetreuten erfolgen, um erheblichen gesundheitlichenSchaden abzuwenden; keine andere zumutbare Maß-nahme darf möglich sein; ihr Nutzen muss die zu erwar-tenden Beeinträchtigungen deutlich überwiegen. Fastkönnte man geneigt sein, zu sagen: Wunderbar, das allesist zum Wohle der Patienten geregelt. – Aber weit ge-fehlt. Darum geht es der Regierung auch nicht. Siemöchte die alte Rechtslage möglichst wenig verändertbeibehalten. Das ergibt sich aus der Begründung des Ge-setzentwurfs. Dort heißt es unter anderem – ich zitiere –:„Der Entwurf bildet … die bis zu den jüngsten Beschlüs-sen … bestehende Rechtslage möglichst nah ab.“ Lautdem vorliegenden Gesetzentwurf sollen Zwangsmaß-nahmen unter verschärften Voraussetzungen ermöglichtwerden. Es wird nicht versucht, sie möglichst zu vermei-den. Das lässt der Gesetzentwurf vermissen. Die Linkemöchte gerade das ändern.
Jeder von uns, der sich damit befasst, hat unzähligeSchreiben von Psychiatrieerfahrenen bekommen. Im-mer wieder wird von Behandlungen berichtet, die alstraumatisierend und entwürdigend empfunden wordensind und noch so empfunden werden. Insoweit ist derNutzen von Zwangsbehandlungen schon infrage zu stel-
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Jörn Wunderlich
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len. Die Behauptung der Regierung, dass Betroffeneohne eine Zwangsbehandlung schwerwiegende gesund-heitliche Schäden nehmen, ist mit nichts belegt.
Im Gegenteil: Wir alle kennen das Schreiben desChefarztes der psychiatrischen Kliniken Heidenheim,Dr. Zinkler, welcher seit mehr als einem Jahr genau ge-genteilige Erfahrungen macht. Die Kliniken nehmenjährlich circa 1 200 psychisch kranke Patienten auf, Pa-tienten, die freiwillig in die Kliniken kommen, und auchPatienten, die eingewiesen werden. Dadurch, dass nichtzwangsweise Psychopharmaka verabreicht werden unddies dem Patienten auch sofort erklärt wird, verliert dieUnterbringung einen Großteil ihres Schreckens.Die Forderung des Bundesverfassungsgerichts, dassvor einer Zwangsbehandlung ernsthaft versucht werdenmuss, eine auf Vertrauen gegründete Zustimmung zurBehandlung zu erreichen, wird durch den Gesetzentwurfnicht exakt geregelt. Hier heißt es lediglich, dass zuvorversucht werden muss, „den Betreuten von der Notwen-digkeit der Maßnahme zu überzeugen“. Art und Weise,wie sie im Urteil näher umschrieben werden, bleiben imGesetzestext außen vor. Das macht die Linke nicht mit.
Das Argument, den Leuten müsse geholfen werden– dieses Argument wurde auch hier wieder zusammenmit seltsamen Beispielen genannt –, kann als solchesnicht gelten. Denn Psychopharmaka – um diese geht eshier primär – heilen ja nicht, sondern sie stellen ruhig.Die Nebenwirkungen von Psychopharmaka sind – das istunbestritten – ganz erheblich. Dennoch sollen sie weiter-hin gegen den Willen der zu behandelnden Menscheneingesetzt werden.Inzwischen wird festgestellt: Der Gesetzentwurfwurde in zig Anhörungen und mit vielen Sachverständi-gen ganz ausgiebig und gut beraten. Ja, aber warum?Das liegt an der Linken und der SPD. Ursprünglichsollte dieser Gesetzentwurf als ein Änderungsantrag aneinen anderen Gesetzentwurf gehängt werden und ein-fach so blitzschnell durchgewunken werden. Erst durchIntervention der Opposition wurde daraus ein eigenerGesetzentwurf, und auf Antrag der Linken und der SPDwurde eine Anhörung dazu durchgeführt.
Die Regierung wollte den Gesetzentwurf schnelldurchwinken. Ich kann mir auch denken, warum. Diealte Rechtslage sollte, wie gesagt, mehr oder weniger un-verändert fortbestehen. Es sollte – so ergibt es sich ausdem Gesetzestext bzw. aus der Begründung – keine Kos-tenbelastung für Unternehmen entstehen. Anders gesagt:Es sollen keine Umsatzeinbußen bei den Pharmakonzer-nen verursacht werden.Es bleibt dabei: Zwangsmaßnahmen sind ein außerge-wöhnlich schwerer Eingriff in die Grund- und Men-schenrechte. Zu prüfen ist und bleibt, ob nicht auf medi-kamentöse Zwangsbehandlung grundsätzlich verzichtetwerden kann. Gesundheit ist keine Ware.
An der Grundlage der Probleme zu arbeiten, liegt derRegierung fern. Wir brauchen – Frau Steffen hat esschon angesprochen – ambulante Hilfesysteme, belast-bare Fallzahlen, Modellversuche von Selbsthilfegruppenin den Krankenhäusern, eine angemessene EinbeziehungBetroffener, Aufklärung zu Patientenverfügung, Vorsor-gevollmacht und Behandlungsvertrag, ordentliche Ho-norierung und nicht fallpauschalenbasierte Bezahlung inder Psychiatrie. Da ist unser Gesundheitsminister einmalgefordert; das konterkariert das Ganze.Ich weiß ja, wie die Abstimmung zu diesem Gesetz-entwurf ausgehen wird. Daher sage ich: Stimmen Sie zu-mindest unserem Entschließungsantrag, in dem dieseProbleme angegangen werden, oder auch dem der Grü-nen zu. Tun Sie dies zum Wohle der Betroffenen.Danke.
Das Wort hat jetzt die Kollegin Ingrid Hönlinger von
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wenn ein Mitglied dieses Parlaments erkranken sollte,dann ist es doch selbstverständlich, dass dieses Mitgliedfrei darüber entscheidet, welche Medikamente es zu sichnimmt. Für uns alle hier im Saal ist dies genauso wie fürdie große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger Be-standteil unserer Grundrechte auf Selbstbestimmung undkörperliche Unversehrtheit.
Es gibt jedoch Menschen, die aufgrund einer psychi-schen Erkrankung oder einer geistigen oder seelischenBehinderung nicht in der Lage sind, über eine ärztlicheBehandlung eigenverantwortlich zu entscheiden. Hierstellt sich die Frage, ob und unter welchen Voraussetzun-gen eine rechtliche Betreuerin oder ein rechtlicher Be-treuer stellvertretend für sie in eine Behandlung einwilli-gen kann. Konkret geht es darum, ob ein rechtlicherBetreuer über die ärztliche Behandlung eines anderenMenschen, der sich in einer Einrichtung wie der Psy-chiatrie befindet, entscheiden kann.Der Bundesgerichtshof hat im Juni 2012 zu Rechtfestgestellt, dass die ärztliche Zwangsbehandlung imRahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbringung nurunter engen Voraussetzungen möglich sein kann unddass die bestehenden Gesetze keine ausreichende Grund-lage hierfür bieten. Im November 2012 hat uns die Bun-desregierung hier im Parlament einen Regelungsvor-schlag unterbreitet. Als Anhängsel eines anderenGesetzentwurfes sollte das Betreuungsrecht ergänzt wer-den, also sang- und klanglos im Eilverfahren und ganznebenbei.Nun kann man der Regierung zugutehalten, dass siemöglichst rasch Rechtssicherheit für die Betroffenen, dieBetreuerinnen und Betreuer und die Ärztinnen und Ärzte
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Ingrid Hönlinger
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schaffen wollte. Aber mit einem solchen Schnellverfah-ren wären wir der schwierigen Situation von Menschen,die unter Betreuung stehen und in einer Einrichtung un-tergebracht sind, nicht gerecht geworden.
Ohne eine erste Lesung im Plenum, ohne die Einbezie-hung von Sachverständigen oder Betroffenenverbändenund ohne Beteiligung des Gesundheitsausschusses kön-nen nicht alle Aspekte ausreichend abgewogen werden.Da fehlt es an Expertise und Transparenz. Ein Schnell-verfahren ist unangemessen. Wir sind betreuten Men-schen ein ordentliches parlamentarisches Verfahrenschuldig.
Wir Grünen haben, ebenso wie die beiden anderen Op-positionsfraktionen, von Anfang an dagegen protestiert.Ich begrüße es sehr, dass wir nun den Weg zu einem or-dentlichen Gesetzgebungsverfahren eingeschlagen ha-ben.Die Gutachten, die wir eingeholt haben, haben dazugeführt, dass der Gesetzentwurf der Bundesregierung inwesentlichen Punkten verbessert worden ist. Dazu ge-hört: Die Entscheidungsbefugnisse des Betreuers bzw.der Betreuerin sind klar definiert. Der Verhältnismäßig-keitsgrundsatz ist gut umgesetzt. Der oder die Betroffenebekommt einen Verfahrenspfleger oder eine Verfahrens-pflegerin zur Seite gestellt. Jetzt erst erfüllt der Gesetz-entwurf die strengen Voraussetzungen des Bundesge-richtshofes – aus meiner Sicht aber leider noch immernicht vollständig.In § 1906 BGB soll es nun heißen: Der Betreuer kannin eine ärztliche Zwangsmaßnahme nur dann einwilli-gen, „wenn zuvor versucht wurde, den Betreuten von derNotwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeu-gen“. Das greift zu kurz. Wir müssen sicherstellen, dassdie Gespräche zwischen Betreuer, Arzt und Betreutemmit angemessenem Zeitaufwand und ohne Druck erfol-gen.
Dieses Schutzniveau müssen wir im Gesetzestext veran-kern und nicht lediglich in der Gesetzesbegründung;denn hier bewegen wir uns in einem sehr grundrechts-sensiblen Bereich. Deshalb, meine Kolleginnen und Kol-legen von der CDU/CSU, können Sie auch nicht argu-mentieren, dass dies den Gesetzestext unnötig aufbläht.
Auch im Verfahrensrecht haben Sie, meine Damenund Herren von der Regierungskoalition, wichtigePunkte nicht berücksichtigt. Sie haben geregelt, dass vorBeginn einer Zwangsbehandlung eine Überprüfungdurch einen unabhängigen Sachverständigen notwendigist. Dieser Sachverständige kann aber ein Arzt sein, derin derselben Einrichtung arbeitet wie der Arzt, der dieBehandlung durchführt. Das reicht nicht aus. Von einerwirklichen Unabhängigkeit können wir erst dann spre-chen, wenn der Sachverständige nicht in der Einrichtungarbeitet, in der der Betroffene untergebracht ist. Arzt undSachverständiger müssen unterschiedlichen Einrichtun-gen angehören. Anderenfalls kann eine Interessenkolli-sion entstehen. Der müssen wir vorbeugen.
Auch Eilmaßnahmen dürfen nach meiner Überzeu-gung nur dann zulässig sein, wenn durch den Aufschubder Zwangsmedikation die Gefahr droht, dass der Be-treute stirbt oder einen schweren und länger andauern-den gesundheitlichen Schaden erleidet. Diese wichtigeEinschränkung fehlt in Ihrem Gesetzentwurf.
Meine Damen und Herren, ärztliche Zwangsmaßnah-men im Rahmen einer betreuungsrechtlichen Unterbrin-gung sind schwere Grundrechtseingriffe. Wichtig ist undbleibt, dass wir den Dialog zwischen Betroffenen undProfessionellen weiter fördern, mehr Transparenz schaf-fen und die Versorgungssituation in den Einrichtungenverbessern.Unser Ziel muss sein, dass eine Zwangsbehandlungder Ausnahmefall bleibt. Wir brauchen rechtliche Si-cherheit und ein überzeugendes Verfahren, um einensensiblen Umgang mit Menschen, die in sehr schwieri-gen Lebenssituationen sind, zu garantieren.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Jetzt hat das Wort der Kollege Rudolf Henke von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen!Eine Vorbemerkung. Herr Wunderlich, wenn Sie imZusammenhang mit diesem Gesetz von einer Umsatzsi-cherung für die pharmazeutische Industrie sprechen,kann ich nur sagen: Das mag vielleicht in der Vergan-genheit so gewesen sein, wenn nach Gesprächen mit derpharmazeutischen Industrie eigentlich geplante Geset-zesmaßnahmen einer rot-grünen Koalition vom Bundes-kanzler kassiert wurden. Wenn Sie einen solchen Vor-wurf nun ausgerechnet gegenüber der Koalition erheben,die das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz beschlos-sen hat und von der pharmazeutischen Industrie wegender erlittenen Umsatzrückgänge angegriffen wurde,muss man schon sagen: Da sind Sie irgendwie in die fal-sche Spur geraten.
– Doch, das ist schon so.
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Rudolf Henke
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Aber jetzt zu der Frage: Warum am Anfang dieseSchnelligkeit? Ich glaube, das hat viel mit den beidenBeschlüssen zu tun, die der Bundesgerichtshof am20. Juni 2012 gefasst hat. Seitdem fehlte für ärztlicheZwangsmaßnahmen die Rechtsgrundlage, die vorherexistiert hatte.Dann hat sich eine Situation eingestellt, die uns Ver-treter der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie, Psy-chotherapie und Nervenheilkunde und andere Behandleran Beispielen ausgiebig geschildert haben. Wenn mansich diese Beispiele vergegenwärtigt, wird, jedenfallsaus dem Blickwinkel der gesundheitlichen Versorgung,deutlich, dass Handlungsbedarf von Anfang an bestand.Nun braucht das parlamentarische Verfahren seine Zeit.Aber ich will – auch mit Blick auf das, was Sie, FrauHönlinger, an dem jetzt zur Abstimmung stehenden Ge-setz noch einmal kritisiert haben – zwei Beispiele derDGPPN in Erinnerung rufen:Erstens. Da leidet eine 18-jährige Frau seit ihrem11. Lebensjahr an schwerer Anorexia nervosa, also Ma-gersucht. Bei einem lebensbedrohlichen Untergewichtvon 31 Kilogramm lehnt sie eine Zwangsernährung abund gibt an, den Tod einem Zwang zur Nahrungsauf-nahme und damit einer Gewichtszunahme vorzuziehen.Ihr gesamtes Denken zentriert sich auf das Thema „Nah-rungsaufnahme und Gewicht“. In zahlreichen Gesprä-chen mit viel Zeitaufwand wird klar, dass die Patientinzu einer abwägenden, freien Entscheidung nicht in derLage ist. Jetzt verlangen die Eltern unter Androhungrechtlicher Schritte, dass alles getan wird, damit ihr Ge-wicht zumindest stabil bleibt. Nach der Rechtslage, dieim Anschluss an die BGH-Beschlüsse bestand, war eineZwangsbehandlung unter Rückgriff auf den rechtferti-genden Notstand nur noch möglich, wenn die Patientinbzw. der Patient das Bewusstsein verloren hatte. In die-sem Zustand misslingt eine Lebensrettung jedoch meis-tens. Deswegen kann man verstehen, dass Psychiatervon Anfang an, ab dem Bekanntwerden des Gesetzent-wurfes, gesagt haben: Mit der Lage, in der wir da sind,können wir uns nicht anfreunden.Zweitens. Ein 64-jähriger Bauingenieur wird wegeneiner rheumatischen Gelenkentzündung einige Wochenmit Cortison behandelt. Darunter entwickelt er einenausgeprägten Verfolgungswahn und rast mit stark über-höhter Geschwindigkeit durch ein Wohngebiet – auf dervermeintlichen Flucht vor Geheimdienstagenten. In derNotaufnahme eines Allgemeinkrankenhauses ist er derErklärung, dass seine Wahrnehmungen infolge der Corti-sonbehandlung verzerrt sind, nicht zugänglich. Er willdas Krankenhaus sofort wieder verlassen, um mit demAuto seinen Verfolgern zu entkommen. Der Patient lei-det unter einer Cortison-induzierten Psychose, einerKomplikation, die einen kleinen, aber bestimmten Pro-zentsatz dieser Patienten betrifft. Da das, was der Mannerlebt, für ihn Realitätscharakter hat, kann er den Darle-gungen, es handele sich um ein akutes Krankheitsge-schehen, nicht folgen.Nach Beendigung der Behandlung mit Cortison – mankönnte jetzt ja sagen: Setzt das ab! – kann es Wochen dau-ern, bis diese Symptomatik abklingt. Bei einer adäquatenantipsychotischen Behandlung klingt die Symptomatik inStunden bis Tagen ab. Diese Behandlung war nach denbeiden Beschlüssen des Bundesgerichtshofs aber nichtmöglich.Die Konsequenz einer unter Umständen unbehandel-ten Symptomatik ist eine mehrere Wochen dauernde Un-terbringung in einer geschlossenen Abteilung gegen denWillen des Betroffenen; denn diese Unterbringung gegenseinen Willen – ohne Behandlung – war ja weiter mög-lich und ist im Rahmen der entsprechenden rechtlichenGrundlagen für die Unterbringung auch vollzogen wor-den.Ich habe Verständnis dafür, dass die ärztlichen Kolle-ginnen und Kollegen, die solches und anderes – wir ken-nen die Beispiele – erlebt haben, gesagt haben: Es istauch für uns eine würdelose Situation, in der wir zu-schauen müssen, wie jemand gegen seinen Willenzwangsweise untergebracht wird, während wir gleichzei-tig die Möglichkeit nicht nutzen können, ihm diese Un-terbringung zu ersparen, indem wir die Symptomatikdurch Behandlung beenden. Das gehört zu seinen Rech-ten.
Ferner habe ich Verständnis dafür, dass die Bundesre-gierung zwar allmählich Handlungsbedarf gesehen hat,aber warten musste – das hat draußen niemand verstan-den; keiner meiner ärztlichen Kolleginnen und Kollegenhat das verstanden –, bis das Gericht seine Urteilsbe-gründung vorgelegt hatte, weil erst dann Konsequenzengezogen werden konnten und es natürlich zur Sorgfalts-pflicht einer Bundesregierung gehört, erst dann mit ei-nem Gesetzentwurf zu reagieren, wenn man die Begrün-dung eines relevanten Urteils kennt. Darüber sind aberMonate vergangen.Die Bundesregierung hat dann Gespräche geführt –auch mit den Betroffenenorganisationen: beispielsweisemit dem Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener und mitder Bundesarbeitsgemeinschaft Psychiatrie-Erfahrener.Man muss die Bundesregierung also vor dem falschenVorwurf in Schutz nehmen, dass nicht mit den Betroffe-nen gesprochen worden wäre.Das Verfahren, das dann gewählt wurde, hat im Sinneall dessen, was wir in der Ausschussanhörung und in denvielen Gesprächen innerhalb der Fraktionen diskutierthaben, noch einmal zu einer erheblichen Verbesserungdes Gesetzentwurfes geführt.Um die notwendigen Voraussetzungen für eineZwangsmaßnahme noch einmal festzuhalten:Der Betreute kann aufgrund einer psychischen Krank-heit oder einer geistigen oder seelischen Behinderungdie Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme nicht er-kennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln.Die ärztliche Zwangsmaßnahme im Rahmen der Un-terbringung muss zum Wohle des Betreuten erforderlichsein, um einen drohenden erheblichen gesundheitlichenSchaden abzuwenden.
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Rudolf Henke
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Und: Der erhebliche gesundheitliche Schaden kanndurch keine andere zumutbare Maßnahme abgewendetwerden.Deswegen sage ich: Der Vorwurf, dies würde dieRechte der Betroffenen nicht wahren, geht fehl. Es ist so:Die Rechte der Betroffenen werden gewahrt. Ich kannmir auch nicht vorstellen, dass eine Oppositionsfraktionwie die SPD dem Gesetzentwurf zustimmen würde,wenn dies nicht der Fall wäre.Ich muss sagen: Das Schwierigste, was wir heute hiergehört haben, war für mich in der Tat der Vortrag von Ih-nen, Herr Wunderlich.
Mit den beiden Positionen, dass man da noch Ände-rungsbedarf sieht, kann ich mich aber anfreunden.Auch ich sehe Änderungsbedarf: Ich finde es schwie-rig, dass wir jetzt auch die Patienten, die eigentlich keineUnterbringung brauchen, sondern ambulant versorgtwerden könnten, unterbringen müssen, wenn eineZwangsbehandlung nötig ist, um sie möglich zu machen.Ein Beispiel: Mir hat der Vater eines durch das Down-Syndrom beeinträchtigten Jungen, dessen Zähne immerwieder vereitern, erzählt, dass er, weil der Junge nichtgerne zum Zahnarzt geht, immer den Weg über die Un-terbringung gehen muss, damit eine Zwangsbehandlungnicht erst dann möglich wird, wenn eine lebensbedrohli-che Infektion mit Ausbreitung auf den Körper, gegebe-nenfalls verbunden mit einer Todesgefahr, entstanden ist.Ich finde, darüber hätten wir vielleicht auch noch et-was länger diskutieren müssen. Aber diese Frage warauch dagegen abzuwägen, –
Herr Kollege Henke, in Ihrer Redezeit, nicht außer-
halb.
– dass eben der Handlungsbedarf bestand. – Ja, ich
will uns durch längere Ausführungen auch nicht davon
abhalten, dass wir jetzt dieses Gesetz, bei dem ich ja
Handlungsbedarf registriert habe, beschließen. Deswe-
gen beende ich meine Rede.
Ich bedanke mich für den freundlichen Hinweis beim
Präsidenten, und Ihnen danke ich für die Aufmerksam-
keit.
Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
nun der Kollege Dr. Edgar Franke von der SPD-Fraktion
das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Medizini-sche Zwangsbehandlungen von psychisch Kranken sindein Thema – das haben wir, glaube ich, heute in der Dis-kussion gesehen –, das uns alle betrifft. Viele von unskennen sicherlich in ihrem persönlichen Umfeld Perso-nen, die von einer psychischen Erkrankung betroffensind. Frau Steffen hat eben gesagt: Es werden mehr als1 Million Menschen – diese Zahl war mir nicht be-kannt – jedes Jahr in Deutschland therapiert. Gerade dieAnforderungen aus der Gesellschaft oder der Arbeits-welt, die in der heutigen Zeit immer komplexer werden,sind auch eine Ursache – das ist sicherlich nicht ent-scheidend, aber eben auch ein Beispiel – für die Zu-nahme psychischer Erkrankungen.Dazu, was das im sozialen Umfeld auslöst, haben si-cherlich viele von uns Zuschriften – gerade im Rahmender Diskussion dieser Thematik – in den Wahlkreisbürosbekommen.Ich darf vielleicht noch eine persönliche Anmerkungmachen. Ich bin seit 30 Jahren Betreuer meines Bruders.Mein Bruder ist in jungen Jahren psychisch erkrankt. Ermusste einmal sogar psychiatrisch zwangsbehandeltwerden. Er lebt heute in einer Einrichtung, in einerWohngemeinschaft, in der er betreut wird und in der erein weitgehend selbstbestimmtes Leben führen kann.Ich habe selbst als Betreuer, als Bruder, als Familien-angehöriger erfahren, dass es Situationen geben kann, indenen jemand, der einem besonders nahe ist, der für ei-nen wichtig ist, krankheitsbedingt nicht in der Lage ist,einen freien Willen zu bilden, und zumindest für sichselber eine Gefahr darstellt. Ich denke, in diesen Fällenist der Staat aufgefordert, den Betroffenen auch vor sichselbst zu schützen.Wir wissen: Das kann nur unter ganz engen Voraus-setzungen geschehen; das haben wir ja auch besprochen.Aber es muss jetzt natürlich eine Regelung gefundenwerden – ich glaube, das ist der entscheidende Punkt,Herr Wunderlich –, sodass im Detail klar ist, unter wel-chen Voraussetzungen das gemacht werden kann. Hiergilt das Ultima-Ratio-Prinzip – der Begriff ist ja schonmehrmals gefallen –: Es muss eben das allerletzte Mittelsein.
Zwangsmaßnahmen – auch das ist natürlich schonmehrmals von verschiedenen Rednern in dieser rechts-politischen Debatte erwähnt worden – verstoßen gegenGrundrechte, sind ein Grundrechtseingriff. Das ist dasSchlimmste – Herr Thomae, Sie haben es auch gesagt –,was einem Menschen geschehen kann – insofern, alsman in das Grundrecht der körperlichen Integrität ein-greift.Wir brauchen eine Regelung, die über den § 1906BGB hinausgeht, wir brauchen auch Regelungen im Fa-milienverfahrensgesetz.Was man aber nicht vergessen darf – da, HerrWunderlich, gebe ich Ihnen durchaus recht –, ist, dassbei der Behandlung von Menschen, die gegen ihren Wil-
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Dr. Edgar Franke
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len untergebracht werden, in der Regel Psychopharmakaeine bedeutende Rolle spielen. Das ist sicherlich Ihnengegenüber im Rahmen des Gesetzgebungsverfahrensvon vielen auch schriftlich dokumentiert worden. Dagibt es viele Schicksale. Wenn man diese Briefe liest,sieht man, dass auch in der heutigen Psychiatrie vielegravierende psychische Störungen mit Medikamentenbehandelt werden und dass die Psychotherapie nur be-gleitend ist. Was bewirkt die Psychotherapie, was be-wirkt eine Zwangsbehandlung? Sie bewirken sicherlich,dass Patienten apathisch werden; die sogenannten Neu-roleptika bewirken das natürlich.Das ist ein schwerwiegender Eingriff, Herr Thomae.Es kommt auch zu irreversiblen Nebenwirkungen; dasmuss man sagen. Deswegen war es wichtig, dass wir unsMühe gegeben haben, dass wir nicht nur ein erweitertesBerichterstattergespräch geführt haben, sondern dass wiruns mit der Materie wirklich intensiv auseinandergesetztund diese Anhörung auf Druck – Frau Steffen hat es ge-sagt – der SPD und auch der Linken durchgesetzt haben.
Wir haben bis zur zweiten und dritten Lesung vielesverändert. Herr Thomae, Sie haben zu Recht gesagt:Auch die Koalitionsfraktionen sind in dem Verfahrenschlauer geworden. Damit haben wir auch hier demStruck’schen Gesetz Rechnung getragen. Die beschlos-senen Maßnahmen sind sicherlich die Ultima Ratio.Dass man vor der Zwangsmaßnahme mit dem Betreutenintensiv redet und alles probiert, haben wir besprochen.Dies wurde berücksichtigt. Die Bestellung eines Verfah-renspflegers, den Frau Steffen erwähnt hat, ist in das Ge-setz gekommen.Gerade wir SPD-Gesundheitspolitiker haben durch-aus, Frau Hönlinger, Sympathie für Ihren Vorschlag ge-habt, dass der Arzt, der über die Genehmigung einerärztlichen Zwangsmaßnahme entscheidet, eher nicht derzwangsbehandelnde Arzt sein soll. Auch soll es sich im-mer um einen Facharzt für Psychiatrie handeln. VieleGesundheitspolitiker bei uns haben in diese Richtungdiskutiert.Fairerweise muss man allerdings hinzufügen – dashaben auch Sie, Herr Thomae, im Ausschuss gesagt –,dass praktische Erwägungen der Länder, etwa Versor-gungskapazitäten, eine Rolle dabei gespielt haben, ausdieser Muss- eine Sollvorschrift zu machen. Aber, HerrStadler, zumindest aus Sicht der SPD-Fraktion sollteman diese Vorschrift daraufhin evaluieren, wie das in derPraxis mit der Sollvorschrift aussieht, dass man dieseSollvorschrift wirklich nur in atypischen Fällen, ähnlichwie Ermessensvorschriften im Verwaltungsrecht, alsAusnahme anwendet.
Herr Kollege Franke, das wäre ein schöner Abschluss
Ihrer Rede. Sie sind schon weit über Ihre Redezeit.
Noch ein Abschlusssatz, Herr Präsident. – Aber
gleichwohl muss ich sagen, dass der jetzt vorliegende
Gesetzentwurf mit den Änderungen, die auch auf Anre-
gung der SPD eingefügt wurden, ein sachgerechter Ge-
setzentwurf ist, der das Vertrauen der Betroffenen ver-
dient und mit dem auch die Grundrechte der Betroffenen
respektiert werden. Ein Gesetzentwurf, mit dem die
Grundrechte respektiert werden, ist immer ein guter Ge-
setzentwurf. Gerade in einer rechtspolitischen Debatte
kann man das sagen, Herr Stadler.
Ich danke Ihnen.
Jetzt ist es Ihnen gelungen, die Redezeitüberschrei-tung von Herrn Henke zu übertreffen. Insofern habenwir wieder Gerechtigkeit hergestellt.Ich schließe die Aussprache.
– Die Aussprache ist leider beendet. Das tut mir leid; daswar auch nicht vorauszusehen.
Wir kommen zur Abstimmung über den von denFraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Ent-wurf eines Gesetzes zur Regelung der betreuungsrechtli-chen Einwilligung in eine ärztliche Zwangsmaßnahme.Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/12086, den Gesetzentwurfder Fraktionen der CDU/CSU und der FDP auf Drucksa-che 17/11513 in der Ausschussfassung anzunehmen. Ichbitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in der Aus-schussfassung zustimmen wollen, um das Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist damit in zweiter Beratung mit den Stimmen der Ko-alitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen derLinken und Enthaltung der Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.Wir kommen zur Abstimmung über die Entschlie-ßungsanträge.Entschließungsantrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/12090. Wer stimmt für diesen Entschlie-ßungsantrag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DerEntschließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken undEnthaltung von SPD und Grünen. Entschließungsantragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksa-che 17/12091. Wer stimmt für diesen Entschließungsan-trag? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Ent-schließungsantrag ist abgelehnt mit den Stimmen der
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linken undder Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion.Ich rufe jetzt auf den Tagesordnungspunkt 16:Beratung des Antrags der Abgeordneten CarstenSchneider , Uwe Beckmeyer, KlausBrandner, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDPrivatkundengeschäft der FinanzagenturDeutschland GmbH fortsetzen– Drucksache 17/12062 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Gibt es Wi-derspruch? – Das ist nicht der Fall. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner das Wort dem Kollegen Carsten Schneider für dieSPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
SPD-Fraktion beantragt heute, einen schwerwiegenden
Fehler von Herrn Minister Schäuble zu korrigieren.
Herr Minister Schäuble – mit ihm die Bundesregierung,
und ich vermute, auf Druck der Fraktion – hat entschie-
den, dass die über Jahrzehnte geübte Praxis beendet
wird, dass der Staat, der Bund, also wir, uns direkt beim
Bürger verschulden können, dass wir Bundesschatz-
briefe, eines der Hauptprodukte in diesem Zusammen-
hang, direkt an den Bürger geben können, um die not-
wendige Kreditaufnahme zu finanzieren. Wir haben über
2 Billionen Gesamtschulden, davon rund 1,3 Billionen
beim Bund.
Sie haben entschieden, dass diese über Jahrzehnte ge-
übte Praxis, sich nicht gänzlich von Banken und Finanz-
märkten abhängig zu machen, beendet wurde. Sie haben
entschieden, dass es nicht mehr möglich ist, seinem Staat
selbst Geld zu leihen; das soll nur noch über Bankge-
schäfte mit hohen Provisionen möglich sein. Das, meine
Damen und Herren, ist ein schwerwiegender Fehler, und
wir fordern Sie auf, ihn zu korrigieren.
Die Bundesfinanzagentur, die dafür zuständig ist,
durfte nicht einmal mehr Werbung machen. Die Begrün-
dung, warum Sie es einstellen, ist, dass Sie Gelder zur
Finanzierung von fast 99 Prozent der gesamten Staats-
schulden an den Kapitalmärkten bei Investoren aufneh-
men wollen.
Wenn man für ein Produkt keine Werbung mehr macht
und den Vertrieb von Bundesschatzbriefen mehr oder
weniger torpediert, dann braucht man sich auch nicht zu
wundern, wenn diese nicht mehr in dem Maße nachge-
fragt werden.
Ich finde, insbesondere auch angesichts der Schulden-
krise in anderen Ländern, wo man wie in Italien froh ist,
eine Inlandsverschuldung von 50 Prozent zu haben – in
Deutschland ist die Zahl viel schlechter –
– Inlandsverschuldung, sehr geehrter Herr Fricke –, soll-
ten wir uns nicht gänzlich von an der Börse gehandelten
Wertpapieren abhängig machen, die von amerikanischen
Investoren, den Scheichs in Arabien, norwegischen Öl-
fonds oder der chinesischen Zentralbank geführt werden.
Dass Sie die Möglichkeit beenden, dass der Staat
selbst in der Lage ist, auch bei seinen Bürgern Geld zu
leihen, ist purer Marktideologie geschuldet. Die FDP hat
das immer gefordert. Ich gebe Ihnen recht: Sie haben
jetzt eine klare Entscheidung in der Koalition durchge-
setzt. Aber dass die CDU/CSU – das finde ich fast unpa-
triotisch –
dem Bürger nicht mehr die Möglichkeit einräumt, dem
Staat direkt Geld zu leihen, sondern dies nur noch über
die Banken geschehen kann, ist ein schwerwiegender
Fehler. Das zeigt den Charakter dieser Koalition.
Wir lehnen dies ab und fordern Sie auf: Besinnen Sie
sich! Geben Sie nicht nur dem Markt, sondern auch dem
Staat und dem Bürger die Chance, sich selbst zu helfen
und sich nicht von Dritten abhängig zu machen. Deswe-
gen: Stimmen Sie unserem Antrag zu! Sie haben die Ge-
legenheit dazu!
Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Alexander Funk von
der CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Damen und Herren! DieSPD möchte also, dass das Privatkundengeschäft der Fi-nanzagentur fortgesetzt wird. Wenn ich ehrlich bin, irri-tiert mich der Antrag – sowohl der Zeitpunkt als auchder Inhalt.
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26888 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Alexander Funk
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Zum Zeitpunkt. Bereits am 2. Juni 2012 wurden dieMitglieder des Finanzierungsgremiums über die Ent-scheidung, das Privatkundengeschäft einzustellen, infor-miert. Wieso Sie dann erst heute dieses Thema diskutie-ren, bleibt Ihr Geheimnis.
Wenn es Ihnen um die Sache gehen würde, müssten Sieeinsehen: Dieser Antrag kommt mindestens ein halbesJahr zu spät.Aber auch der Inhalt verwirrt. Sie fordern ein Unter-nehmen auf, weiter ein Produkt zu vertreiben, das jedesJahr Verluste bringt, immerhin 50 bis 70 Millionen Euro.Jeder wirtschaftlich normal denkende Mensch kann danur mit dem Kopf schütteln.
Sie glauben dies tun zu können, weil der Bund Eigentü-mer ist – nach dem Motto: Ist ja nicht unser Geld. – Füruns als christlich-liberale Koalition ist ein solches Fi-nanzgebaren absolut unverständlich. Unsere Aufgabe istes, sparsam und verantwortungsvoll mit dem Geld derSteuerzahler umzugehen.
Wir sind auf dem Weg zu einem ausgeglichenenHaushalt. Solide Staatsfinanzen sind unser Markenkern.
Deshalb überprüfen wir unwirtschaftliche Geschäfts-zweige auch bei Unternehmungen des Bundes und han-deln, zumal es Alternativen gibt.Es ist ja nicht so, dass Anleger nun nicht mehr inBundeswertpapiere investieren könnten. Sie könnenkomfortablere und häufig preisgünstigere Erwerbswegeals den Kauf über die Finanzagentur nutzen. Das ist dochdas Problem, das zu der Entscheidung, das Privatkun-dengeschäft einzustellen, geführt hat: Banken habenvielfach preiswertere Angebote im Sortiment, und siehaben der Finanzagentur hier den Rang abgelaufen.
Genau darauf hat auch der Bundesrechnungshofmehrfach kritisch hingewiesen. Ich hätte ja noch Ver-ständnis gehabt, wenn Sie den Rechnungshofberichtzum Thema gemacht und die Verluste der vergangenenJahre kritisiert hätten.
Aber heute so zu tun, als gäbe es diesen Bericht nicht,ist schon mehr als seltsam.
– Ja, die Zeiträume.Herr Präsident, mit Ihrer Erlaubnis zitiere ich aus denBemerkungen 2012 des Bundesrechnungshofes:Das Bundesfinanzministerium stellt auf Empfeh-lung des Bundesrechnungshofes bis zum Ende desJahres 2012 den Verkauf von Wertpapieren ein, diees für Privatanleger anbietet. Dieses Privatkunden-geschäft ist für die Kreditaufnahme des Bundes be-deutungslos geworden, weil Privatanleger seit über20 Jahren immer weniger Wertpapiere des Bundeskaufen.Und weiter:Das Verkaufsvolumen im Privatkundengeschäftsank im Zeitraum von 1990 bis 2011 von 28 Mil-liarden Euro auf unter 2 Milliarden Euro. Sein An-teil an der gesamten Kreditaufnahme des Bundesreduzierte sich damit von 40,9 Prozent auf 0,7 Pro-zent.
Zudem entstanden im Privatkundengeschäft in denletzten Jahren Verluste, teilweise in zweistelligerMillionenhöhe.Weiter:Der Bundesrechnungshof hat bezweifelt, dass sichdas Privatkundengeschäft mit neuen Produktenoder bei einem höheren allgemeinen Zinsniveaudeutlich ausweiten und kostendeckend betreibenlässt.Abschließend:Privatanleger sind damit nicht von einer Geldanlagebeim Bund ausgeschlossen. Sie können weiterhinWertpapiere des Bundes über Kreditinstitute erwer-ben.
Meine Damen und Herren, damit ist eigentlich schonalles gesagt. Es stellt sich für mich nur die Frage, ob Sieden Bericht nicht gelesen oder was Sie an diesem Be-richt nicht verstanden haben. Denn wie sonst ist es zu er-klären, dass Sie alle Bürgerinnen und Bürger für diejeni-gen zahlen lassen wollen, die Geld verleihen können.
Seien Sie sicher: Ihr Kanzlerkandidat kann mit seinenHonoraren auch weiterhin den sicheren Hafen deutscherAnleihen anlaufen.
Ich verrate kein Geheimnis, wenn ich ankündige, dasswir Ihren Antrag ablehnen werden.Vielen Dank.
Als nächster Redner hat das Wort der Kollege HaraldKoch von der Fraktion Die Linke.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26889
(C)
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Werte Zuhörer! „Günther“ verzieht sich in seinen Pan-
zer! Die Bundesrepublik Deutschland Finanzagentur
GmbH, deren Maskottchen die Schildkröte Günther war,
hat sich mit Beginn des Jahres aus dem Privatkundenge-
schäft mit Bundeswertpapieren zurückgezogen. Seit län-
gerem meckerte der Bankenverband darüber, dass Pri-
vatanleger direkt über die Finanzagentur Bundeswert-
papiere erwerben und gebührenfrei auf dem Schuldbuch-
konto verwahren lassen können. Schon eilt die Regie-
rung der Bankenlobby willfährig zu Hilfe, statt sich eine
verbraucherfreundliche Regelung auszudenken. Verbrau-
cherschutz bleibt bei dieser Regierung eine Worthülse.
Anleger müssen ab jetzt zum Beispiel Bundesanlei-
hen bei ihrer Hausbank kaufen. Dafür und für die Aufbe-
wahrung werden jedoch Gebühren fällig. Privatkunden
sind zudem nun stärker gefährdet, entgegen der eigenen
Risikoneigung und Anlageabsicht unpassende Finanzin-
strumente von „Bankberatern“, also Verkäufern, aufge-
drückt zu bekommen; denn an sicheren Tages- oder Fest-
geldkonten verdient eine Bank nichts. Provisionen für
den Verkäufer würden dabei schon gar nicht sprudeln.
Natürlich muss man zugeben: Das Privatkundenge-
schäft war am Ende nicht mehr sehr erträglich,
dafür aber arbeitsintensiv und teuer. Dennoch sollten wir
uns nicht vom Privatkundengeschäft der Finanzagentur
verabschieden. Zum einen bleibt viel zu vage, was mit
dem Personal geschieht. Rund 200 Mitarbeiter könnten
ihren Job verlieren. Die Linke ist auch hier gegen eine
Schrumpfkur im öffentlichen Dienst.
Zum anderen sollte man sich neben einer Kompensa-
tion anfallender Mehrkosten besser überlegen, wie man
ohne Risikozunahme Bundeswertpapiere für Privatanle-
ger attraktiver gestalten könnte und damit langfristiges
Denken bei der Anlage unterstützt.
In Ihrem Antrag schreibt die SPD, dass Deutschland
von der Finanzmarktkrise dadurch profitiert hat, dass
Schuldtitel des Bundes stark nachgefragt worden sind.
Dies springt viel zu kurz. In Wahrheit profitierte
Deutschland auf Kosten anderer Staaten vor allem durch
Lohn-, Sozial- und Steuerdumping infolge der von der
SPD beschlossenen Agenda 2010. In Wahrheit profitiert
Deutschland von den exorbitanten Außenhandelsun-
gleichgewichten.
Es stimmt: Der Bund wird etwas unabhängiger von
Großinvestoren, und der Fiskus gewinnt, wenn das Pri-
vatkundengeschäft blüht. Aber es reicht nicht aus und ist
naiv, wenn Sie vorrangig Spareinlagen der einfachen
Bürger mobilisieren wollen, um in Not geratene Staaten
besser refinanzieren zu können. Auch das ist hier heute
schon einmal festgestellt worden.
Sie entlassen so Auslöser und Profiteure der Finanz-
krise aus ihrer Verantwortung. Sie ignorieren mit Ihrem
Antrag Forderungen nach einer sozial gerechten Steuer-
und Lohnpolitik, die eine Umverteilung von oben nach
unten vorantreibt. Und Sie ignorieren Forderungen nach
einer europaweiten Vermögensabgabe von Millionären.
Die Staatsfinanzierung muss endlich der Willkür der
Finanzmärkte entzogen werden. Wir haben alle noch die
Jahre 2008 und 2009 in Erinnerung.
Neben einer rigorosen Regulierung der Finanzmärkte
brauchen wir Euro-Bonds. Die Europäische Zentralbank
muss ermächtigt werden, den Euro-Staaten günstige
Kredite zu geben, und zwar direkt oder über eine zwi-
schengeschaltete europäische Bank für öffentliche An-
leihen.
Der Staat darf sich nicht zum Vorteil der Bankenlobby
und zum Nachteil der Verbraucher und seiner eigenen
Finanzierung in einen Schildkrötenpanzer zurückzie-
hen. Das wäre wieder einmal nicht nur ein falsches, son-
dern auch ein gefährliches Signal.
Danke schön.
Das Wort hat nun Otto Fricke für die FDP-Fraktion.
Geschätzter Herr Vizepräsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Was will die SPD eigentlich mitdem Antrag bewirken? Der Kollege Funke hat es soschön gesagt: Es geht um etwas ganz anderes. CarstenSchneider hätte hier ehrlicherweise sagen sollen: Unserganz großes Projekt „Wir gegen die Banken“ wollen wirheute fortsetzen, und jetzt machen wir es auch noch beider Finanzagentur.Wissen Sie, wer eigentlich das Opfer Ihres Antrageswäre, wenn nicht die Koalition wüsste, was sich gehört?Das wären Genossen. Sie als Sozialdemokraten gehenhier nämlich insbesondere gegen die Genossenschafts-banken vor. Sie als Sozialdemokraten gehen gegen dieSparkassen vor; denn das sind gerade diejenigen, die inKonkurrenz mit einer staatlich subventionierten Finanz-agentur arbeiten. Denen wollen Sie das Geschäft weg-nehmen. Nur darum geht es Ihnen und um nichts ande-res. Das zu sagen, wäre eigentlich auch Ihre Aufgabegewesen.
Meine Damen und Herren, was will eigentlich einStaat mit einem Privatkundengeschäft?
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26890 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Otto Fricke
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Warum soll er das machen? Na ja, vielleicht deswegen,weil er so günstiger an Finanzmittel herankommt. Wenndas der Fall wäre, dann sollten wir als Staat auch überle-gen, ob wir diesen Weg wählen. Dann sollte man als Ers-tes der Frage nachgehen – das sollten Haushälter eigent-lich tun –: Wie viel kostet uns denn ein solchesPrivatkundengeschäft pro Privatkunde, und wer sind ei-gentlich die Privatkunden, denen wir hier möglicher-weise etwas aus dem Steuersäckel, also aus dem Bun-deshaushalt, schenken? Dann müssen wir feststellen: Essind Leute, die als Privatmenschen Geld haben und die-ses Geld anlegen wollen. Jedem, der ein Konto bei derFinanzagentur hat, geben wir pro Jahr – das können Sieja leicht ausrechnen – 200 Euro. Das heißt nichts ande-res, als dass Sie wollen, dass der Staat Leuten, die Geldhaben, die über Vermögen verfügen, auch noch Geld ausdem Steuersäckel gibt. Wie Sie das bei den Aufgaben,die der Staat hat, begründen wollen, frage ich mich. Dasmüssen Sie den Bürgern erst einmal erklären.Ein nächster Punkt. Der Kollege Schneider hat es ge-nau gesagt: Er möchte das wie in Italien haben. Ich fügedazu: Er möchte dann wahrscheinlich auch die Verschul-dung wie in Italien haben. – Er möchte mit seiner Partei,dass im Endeffekt möglichst viele private Bürger sich zu– ich will es vorsichtig formulieren – Komplizen derVerschuldungspolitik machen,
dass sie persönlich und direkt an der Verschuldungspoli-tik des Staates hängen. Das wollen wir eben nicht.Jetzt könnte man als zweiten Punkt zu dem Antrag sa-gen: Na ja, aber wir sind doch der Meinung, dass derBürger eine sichere Anlage braucht, eine Anlage, bei derer ganz sicher ist, dass er sein Geld zurückbekommt. –Dann fragen Sie einmal andere Bürger in Europa, ob sienoch glauben, dass ihr Geld, wenn sie es direkt beimStaat anlegen, auch nur ein Jota sicherer ist als woan-ders, wenn der Staat sich zu sehr verschuldet.Nein, meine Damen und Herren, es geht um etwas an-deres. Es geht hier um die Frage: Wo ist das Geld derPrivatanleger eigentlich sicher?
Es war doch bisher die Meinung der Sozialdemokraten,der Grünen und auch der Linken: Gerade bei den Spar-kassen und gerade bei den Genossenschaftsbanken istdas Geld aufgrund der eigenen Sicherungssysteme vielsicherer als irgendwo anders. Jetzt wollen Sie den Bür-gern sagen: Geht nicht in die sicheren Formen, sonderngeht lieber zum Staat; denn dann können wir als Staatviel stärker regulieren.
Nein, meine Damen und Herren, das ist nicht das, wasdie Koalition an der Stelle will. Wir müssen überlegen,warum der Staat an dieser Stelle noch Geld ausgebenmuss.
Sie haben keinen einzigen Grund genannt, warum wirauch künftig noch einen zweistelligen Millionenbetrag –das mag für Sie ja wenig sein – für Privatkunden ausge-ben müssen.Diese Koalition sagt – der Kollege Funke hat all diePunkte genannt –: Warum sollen wir bei abnehmendemInteresse, bei abnehmendem Volumen – 0,7 Prozent An-teil an der gesamten Kreditaufnahme des Bundes –, da-für dann noch Geld ausgeben?
Zu den Äußerungen, das wären norwegische Fondsund irgendwelche Finanzhaie, die hier die Staatsanleihentätigen: Das ist doch gar nicht so. Kollege Schneider, Siewissen es besser. Die betriebliche Altersvorsorge, Ver-sorgungswerke, Riester-Sparer und Lebensversicherun-gen sind hier ganz wesentlich beteiligt.
Sie sagen an der Stelle: Die sind alle schlimm. – DasVerständnis habe ich nicht. Hier versucht doch die SPD,einen Weg zu gehen, den sie meinetwegen für sich ein-schlagen kann, aber der vollkommen dem widerspricht,was wir als Koalition als richtig ansehen. Sie vertrauendem Staat und glauben, dass der Staat das richtig macht.
Wir setzen darauf, dass der Staat eine Kernaufgabe hat,ein schlanker Staat sein muss, der die Kernaufgabewahrnehmen muss; denn erst dadurch sorgt er für etwas,was wir eigentlich am liebsten hätten, nämlich dass wirüberhaupt keine Finanzagentur bräuchten, dass wir we-niger Schulden machten.Ein nächster Punkt. Es wird hier gesagt, dass dasGeld, wenn die Bürger immer nur zu Sparkassen undGenossenschaftsbanken gingen, so wenig Zinsen brächteund nur Kosten verursachen würde. Erstens. Eine Kos-tensubvention über den Steuerzahler wollen wir sicher-lich alle nicht. Zweitens. Es ist doch ein Irrglaube, wennSie hier weismachen wollen, dass das Geld dann ir-gendwo auf dem Konto liegt. Warum brauchen dennSparkassen, Genossenschaftsbanken und Privatbankenauch Geldeinlagen? Warum brauchen sie das Geld desSparers? Weil wir auf der anderen Seite – ich hatte dasimmer so verstanden, dass Sie das auch so sehen; dasscheinen Sie inzwischen aufgegeben zu haben – die Ban-ken auch zur Finanzierung des Mittelstands und derWirtschaft brauchen, damit sie denen, die investierenwollen, die Arbeitsplätze sichern wollen, Kredite gebenkönnen.Dahinter steckt noch eine andere Ideologie. Sie wol-len die Möglichkeiten der Banken, selber Kredite zu ver-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26891
Otto Fricke
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geben, immer weiter einschränken. À la WestLB, à laNRW Bank, à la KfW
wollen Sie auf allen möglichen Wegen lieber dafür sor-gen, dass es der Staat ist, der die Kredite gibt.Wir vertrauen auf eine funktionierende Marktwirt-schaft. Wir sind deswegen auch klar und deutlich derMeinung, dass die Bürger auf einen Staat vertrauen kön-nen müssen, in Brunsbüttel und auch an anderer Stelle,der in der Lage ist, ihre Einlagen zu sichern, eben da, wosie liegen, weil es ein stabiler und sparsamer Staat istund nicht ein Staat, der einfach nur mehr Geld ausgebenwill und deswegen noch mehr Geld vom Bürger bekom-men will.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Priska Hinz für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich hoffe,
die Verbliebenen im Saal kennen alle Günther Schild,
die Schildkröte, die für die Bundeswertpapiere gewor-
ben hat. Wenn nicht, ist es schade; denn Sie werden sie
nun nicht mehr kennenlernen.
Ich weiß nicht, ob sie sich nach Brunsbüttel zurückgezo-
gen hat. Auf jeden Fall wird sie nicht mehr auftauchen.
Das Problem ist doch unter anderem, dass die Finanz-
agentur seit 2006 fast 36 Millionen Euro für Werbung
ausgegeben hat, weil die Zahl der Anlagen in Bundes-
wertpapiere durch Privatanleger zurückging. Am An-
fang setzte man auf die falsche Werbestrategie, die dann
noch einmal geändert wurde. Dann wurde richtig ge-
klotzt, richtig viel Geld ausgegeben, um dann dennoch
2011 zu entscheiden, das Privatkundengeschäft auszu-
setzen. Ich finde, diese Strategie seitens der Bundesre-
gierung – erst bewerben, dann einstampfen – merkwür-
dig. Sie passt aber in das Chaoshandeln dieser
Regierung.
Viel ärgerlicher ist, dass ein zweites wichtiges Stand-
bein zur Aufrechterhaltung der deutschen Schuldenver-
waltung gekappt wird. Ein Grund ist, dass es eine güns-
tige Refinanzierung in der Euro-Krise gibt und große
Investoren nach Deutschland kommen. Das kann aber
ins Auge gehen. Wenn die Euro-Krise abflacht, wollen
wir vielleicht wieder die Privatanleger haben. Aber dann
werden sie nicht mehr zurückkommen.
Es ist ein echter strategischer Nachteil, wenn man den
Kreis der Anleger so begrenzt.
Lieber Otto Fricke, es geht nicht darum, dass man den
Genossenschaftsbanken und den Sparkassen ihre Kun-
den wegnimmt. Bislang war es so, dass die Privatkunden
hier und dort waren, aber auch bei der Finanzagentur ge-
kauft haben. Das ist die richtige Strategie. Wir wissen
doch auch, dass die Berater der Sparkassen und Genos-
senschaftsbanken nicht nur für Bundeswertpapiere oder
ihre eigenen Papiere werben, sondern vor allen Dingen
auch für Investmentfonds, die in der Welt gestreut sind.
Das ist der eigentliche Grund, warum die FDP schon im-
mer dagegen war, dass es eine Direktvermarktungsstra-
tegie der Finanzagentur gibt. Ihr wollt den Banken auf
jeden Fall die Provisionsgebühr sichern, und zwar zulas-
ten der Privatanleger. Wir finden, das ist der falsche Weg
und der falsche Schritt.
Insofern ist das wieder ein Klientelgeschenk der FDP.
Leider hat die CDU mitgemacht. Die Banken machen
Gewinn und der Konkurrent, der Mitbewerber – das ge-
hört zu einer Marktwirtschaft, auch wenn es in dem Fall
der Staat ist – wurde von euch ausgeschaltet.
– Für die Direktvermarktung eines eigenen Produktes,
das es nicht auf dem Markt gibt, ist der Staat in dem Fall
ein Mitbewerber und ein Konkurrent.
Dieser wurde von euch ausgeschaltet. Wir bedauern das
sehr und werden dem Antrag der SPD zustimmen.
Danke schön.
Das Wort hat nun Bartholomäus Kalb für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Kollegin Hinz, ich weiß nicht genau, warum Sie dieSchildkröte nach Brunsbüttel verorten wollen. Vermut-lich deswegen, weil wir dort die Schleuse sanieren undeine neue Schleuse bauen. Da wird jeder Einsatz will-kommen geheißen. Hoffentlich zieht die Schildkrötedann nicht den Kopf ein.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich möchteder SPD ausdrücklich danken. Im Vorspann zu diesemAntrag hat sie in bemerkenswerter Objektivität die Pro-bleme mit dem Privatkundengeschäft beschrieben.
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26892 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Bartholomäus Kalb
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Ich darf zitieren:Bundesschatzbriefe der Typen A und B sowie dieein- und zweijährigen Finanzierungsschätze, diedas „traditionelle“ Privatkundengeschäft der Fi-nanzagentur bilden, sind ökonomisch unattraktivgeworden. Der Anteil des Privatkundengeschäfts ander Kreditaufnahme des Bundes liegt derzeit unterein Prozent.– Objektiv richtig.
Ich nenne Ihnen ein zweites Zitat:Die Finanzagentur leistet sehr erfolgreiche Arbeit.Dem können wir uns in der Bewertung ausdrücklich an-schließen und freuen uns, dass dies zutreffenderweise sogeschildert wird.Ich will noch ein drittes Zitat nennen:Grundlage – für diese Entscheidungen –seien Wirtschaftlichkeitsbetrachtungen, die auf derBasis der Entwicklung seit 2006 und der geschätz-ten Entwicklung über die kommenden fünf Jahrehinweg durchgeführt worden seien. Ergebnis sei,dass das Privatkundengeschäft etwa 50 bis 70 Mil-lionen Euro Mehrkosten verursache …Dann wird korrekterweise noch darauf hingewiesen,dass auch der Bundesrechnungshof nach eigenen An-gaben seit zehn Jahren dieses Privatkundengeschäft be-obachtet und zu eindeutigen Empfehlungen gekommenist.Ich denke, dass all das, was im Vorspann zu diesemAntrag gesagt wird, zutreffend ist, dass Sie aber zu fal-schen Schlussfolgerungen kommen. Sie stellen fest, dassdas Privatkundengeschäft rückläufig sei, dass es an Be-deutung verloren habe und dass es an Bedeutung auchfür uns, für die Bundesseite, verloren habe. Wenn derGesamtbestand weniger als 1 Prozent der Finanzierun-gen des Bundes ausmacht, dann kann man das nichtignorieren wollen.
Ohne aus dem Gremium, dem der Kollege CarstenSchneider vorsteht, Geheimnisse auszuplaudern, darf ichganz offen sagen, dass wohl alle Kolleginnen und Kolle-gen – so jedenfalls mein Eindruck in den Beratungen –es gerne gesehen hätten, wenn das Privatkundengeschäftfortgeführt worden wäre, wenn es sich denn rechtferti-gen ließe.
Allerdings haben sich die Dinge völlig anders entwi-ckelt als erwartet. So haben die Geldanleger – ganz of-fensichtlich auch die Privatkunden – neue Anlagemög-lichkeiten für sich erschlossen. Wir meinen daher, dass50 bis 70 Millionen Euro Mehrkosten einfach nicht zurechtfertigen sind.
– Wir wollen aber keine Zwangsbeglückung, wie es derKollege Norbert Barthle dazwischenruft, vornehmen,sondern den Menschen die Wahlfreiheit geben
und nicht krampfhaft ein Produkt vorhalten, das so nichtmehr nachgefragt wird.Da ich dem Bundestag schon ziemlich lange ange-höre, weiß ich, dass in den 90er-Jahren das Privatkun-dengeschäft – im Übrigen bei einem völlig anderen Zins-niveau – eine sehr viel größere Bedeutung für uns hatte.Es war nicht nur für die Kunden, sondern auch für unsauf der Bundesseite von Interesse, da wir uns auf demPrivatkundensektor abstützen konnten.Diese Funktion ist nicht mehr in dem Maße gegeben,wie es sein sollte oder wie wir es gerne hätten und wiewir meinen, dass eine Fortführung dieses Geschäfts un-ter dann obwaltenden Umständen noch vertretbar wäre.Darum können wir die Entscheidung des Bundesfinanz-ministers und des Bundesfinanzministeriums nicht kriti-sieren. Auch von uns bedauert es der eine oder andere,dass es so gekommen ist. Es gibt aber keinen Anlass zurKritik. Das sollten wir so auch hinnehmen.Der beste Gradmesser dafür, ob politisches oder ad-ministratives Handeln richtig oder falsch ist, ist immernoch die Reaktion der Bürger bei uns in den Bürger-sprechstunden. Wenn ich zu einer Entscheidung keineeinzige Mail erhalte und zu dieser Sache keinen einzigenBürger in der Sprechstunde empfangen darf, dann kanndie Entscheidung so falsch eigentlich nicht sein und wirdvon den Betroffenen zumindest akzeptiert.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Bettina Hagedorn für die SPD-
Fraktion.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen! Herr Präsident!Wenn man ein bisschen genauer hingehört hat, hat manbei dem Kollegen Bartholomäus Kalb, dem Kollegen derUnion aus dem Haushaltsausschuss, gerade eben heraus-gehört, dass ihm dieser Schritt doch schwerer fällt alszum Beispiel dem Kollegen Fricke von der FDP.So muss ich denn sagen: Wir wissen, dass es in derUnion viele Sympathisanten für den Antrag der SPDgibt. Es ist nämlich in der Tat ein Fehler, dass Sie dasPrivatkundengeschäft aufgeben. Sie verbrämen diesen
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26893
Bettina Hagedorn
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Fehler immer mit dem Hinweis auf den Bundesrech-nungshof. Darauf möchte ich kurz eingehen.Der Bundesrechnungshof hat dieses Geschäft in derTat über lange Jahre, genauer seit 1990, kritisch beglei-tet. Der Zeitraum, der da betrachtet worden ist, hat aller-dings mit dem Zeitraum seit 2008, mit den Dingen, mitdenen wir es seitdem in diesem Lande und weltweit zutun haben, wenig gemein; er ist der falsche Maßstab.Selbstverständlich haben wir im SPD-Antrag ehrlicher-weise die derzeitige schwierige Situation geschildert;Herr Kollege Kalb, Sie haben das zu Recht zitiert. DieFrage ist dennoch, welche Konsequenzen man darauszieht.Weil das Zitieren hier heute Abend so modern ist,zitiere ich jetzt aus einem Schreiben des Finanzministe-riums vom April 2010,
in dem sich das Finanzministerium mit den Bemerkun-gen des Bundesrechnungshofs zu diesem Thema ausein-andergesetzt hat. Darin werden drei Varianten genannt:die Einstellung des Privatkundengeschäfts, die markt-schonende Modernisierung und die unveränderte Fort-führung der Neupositionierung. Das BMF begründetedamals ausführlich, warum es nicht für die Einstellung,sondern für die marktschonende Modernisierung votiert.Sie sollten vielleicht einmal überlegen, ob Sie das heutewirklich ganz anders sehen oder ob das vielleicht ehermit der FDP zu tun hat als mit allem anderen.
Das BMF plädierte dafür,… eine marktschonende Modernisierung … weiter-zuverfolgen, um das Privatkundengeschäft desBundes in nachhaltiger Weise auf eine wirtschaft-lich gesicherte Grundlage zu stellen. In Gesprächenmit der Kreditwirtschaft sollte die Finanzagenturunter Aufsicht des BMF unter Beteiligung der …Bundesbank die Möglichkeit des Abschlusses einerRahmenvereinbarung sondieren, die es der Kredit-wirtschaft ermöglicht, sich auf die inhaltliche undzeitliche Planung, welche die Finanzagentur bei derModernisierung des Privatkundengeschäfts ver-folgt, einzustellen.Gut gebrüllt, Löwe! Aber leider ist das Ministerium vomKurs abgewichen.
Weil in den Unterlagen immer gern davon die Redeist, dass sich das alles nicht rechne, dass es ein altmodi-sches Instrument sei, das es schon so lange gebe,
will ich einmal sagen, dass wir hier sehr wohl über etwasreden, das mit einer Wertedebatte, mit Tradition zu tunhat.
Es hat damit zu tun, wie die Menschen, deren Glaube inseinen Grundfesten ein Stück weit erschüttert wurde, ei-gentlich auf die Finanz- und Wirtschaftskrise reagieren.Wahr ist doch, dass uns nicht etwa die Staaten in dieKrise geführt haben,
sondern die Banken, die Manager, die eine falsche Ge-schäftspolitik betrieben haben, solche, die geglaubt ha-ben, dass Haftung und Risiko nicht zusammengehören;aber sie gehören zusammen. Viele Bürgerinnen undBürger, die in die falschen Geschäftsmodelle investierthaben, haben mit ihrem Privatvermögen bitter dafürbezahlt. Die falsche Erwartung einer schnellen Renditehat sie um Kopf und Kragen gebracht.
– Nein, wir reden über deutsche Anleger und nicht übergriechische. –
Der Staat musste eingreifen, um das Schlimmste zu ver-meiden.Es ist heute modern, an die Bonität des Staates zuglauben. Darum könnten die Instrumente, die Sie hiergerade einstampfen, sehr wohl tragfähige Zukunftsmo-delle sein. Nicht nur ich bin sicher, dass die Bürgerinnenund Bürger in dieser Zeit der Unsicherheit im Grundegenommen nicht die schnelle Mark machen wollen; siewären schon froh, wenn sie ihr hart Erspartes sicher an-legen könnten. Sie vertrauen in Zeiten der Unsicherheitglücklicherweise gerade und vor allen Dingen demStaat. Wir sollten als Demokraten gemeinsam stolz da-rauf sein und denjenigen widersprechen, liebe Damenund Herren der FDP, die es auch in dieser Zeit noch fürklug halten, den Staat verächtlich zu machen.
Das entsprach einmal dem Zeitgeist; aber dieserZeitgeist hat sich überholt. Ich weiß, Otto, dass du dichdarüber aufregst. Aber du kannst mir eine Zwischen-frage stellen.
Die SPD ist der Auffassung, dass dies der richtigeAntrag zum richtigen Zeitpunkt ist. Wir freuen uns, dassdie Kolleginnen und Kollegen der Opposition zustim-men. Wir wissen, dass es viele in der Union auch gernetun würden und dass es nur eine Fraktion in diesemHause gibt, die diesen Antrag wirklich von Herzenschlecht findet, und das ist die FDP.Vielen Dank.
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26894 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
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(B)
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12062 an die in der Tagesordnung auf-
geführten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit
einverstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überwei-
sung so beschlossen. Ich rufe nunmehr den Tagesord-
nungspunkt 17 auf:
Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/
CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines
Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzung des
Fiskalvertrags
– Drucksache 17/12058 –
Überweisungsvorschlag:
Haushaltsausschuss
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
dazu keinen Widerspruch. Dann verfahren wir so.
Ich eröffne die Aussprache und erteile der Kollegin
Antje Tillmann für die CDU/CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Schon zum zweiten Mal diskutieren wir heute das Fis-kalvertragsumsetzungsgesetz. Wir tun das gerne – auchum diese Uhrzeit –, weil wir davon überzeugt sind, dasses ein gutes Gesetz ist und dass wir unsere Verpflichtun-gen, die wir gegenüber der Europäischen Union einge-gangen sind, jetzt endlich zeitnah umsetzen sollten.
– Sie lachen. Wir sind aber nicht schuld daran, dass eserst heute dazu kommt.
Nach der verfassungsrechtlichen Verankerung derSchuldenbremse und der Schaffung des Stabilitätsratsgehen wir mit dem Fiskalpakt den nächsten Schritt hinzu einer nachhaltigen Haushaltspolitik und zu tragfähi-gen Staatsfinanzen.Peer Steinbrück plante im Haushaltsentwurf 2010noch mit einer Neuverschuldung von über 86 MilliardenEuro. Der Haushaltsabschluss 2011 unter FinanzministerSchäuble sah nur noch ein Defizit von 17,3 MilliardenEuro vor. Selbst unter Berücksichtigung der zwei Ratenan den Euro-Rettungsschirm und der Erhöhung des deut-schen Kapitalanteils an der Europäischen Investitions-bank schließt der Haushalt 2012 mit einem Defizit von22,5 Milliarden Euro ab.Bereits in diesem Jahr wird der Bund trotz Fälligwer-dens zweier weiterer ESM-Raten die erst ab 2016 durchdie Schuldenbremse vorgegebene Grenze für die struktu-relle Neuverschuldung von 0,35 Prozent des Brutto-inlandsprodukts unterschreiten. Wir sind damit für dieeuropäische Schuldenregel gut aufgestellt.Im Zuge der Einführung der Schuldenbremse habenwir nach sehr intensiven Diskussionen eine Möglichkeitgeschaffen, um eine kreative Gestaltung, nämlich die be-sonders positive Schätzung von Haushaltsdaten, zusätz-lich zu verhindern. So haben wir der Gefahr der uner-laubten Verschuldung durch besonders optimistischeSchätzung der Einnahmen und Ausgaben bei der Haus-haltsaufstellung ein Kontrollkonto gegenübergestellt, beidem sich derartige Schätzfehler rächen, weil diese näm-lich zeitnah in den nächsten Haushaltsjahren ausgegli-chen werden müssen.Damals haben wir nicht ernsthaft damit gerechnet,dass wir einmal noch besser sein werden, als wir es beider sowieso schon ambitionierten Schuldenbremse seinmüssen. Deshalb gibt es bis heute keine befriedigendenRegelungen, die vorschreiben, was mit positiven Saldenauf diesem Kontrollkonto passieren soll.Nach unserer Auffassung – ich bin froh, dass dieHaushälter diese Auffassung immer geteilt haben – dür-fen Positivsalden nicht als Ausgleichsmassen fürschlechtere Haushaltsjahre genutzt werden, um damiteine höhere Neuverschuldung zu rechtfertigen. Deshalbdanke ich dem Finanzminister und dem Staatssekretär,dass wir heute mit diesem Gesetz klarstellen, dass derkumulierte Saldo des Kontrollkontos am Ende des Über-gangszeitraums, also zum 31. Dezember 2015, gelöschtwird.
– Das können Sie gleich in Ihrer Rede vorschlagen. Hät-ten Sie seit dem Jahr 2005 den Haushalt ausgeglichen,dann wären wir ein gutes Stück weiter vorangekommen.
– Herr Kahrs ist wieder da. Darüber freue ich mich.
Dann habe ich wieder einen Gesprächspartner. Er istjetzt auch viel leiser als zuvor.Noch entscheidender sind die Auswirkungen auf dieKommunen. Während die Länder im Zusammenhangmit der Schuldenbremse innerhalb Deutschlands nachaußen noch signalisiert haben, dass sie sich für dieSchulden der Kommunen nicht zuständig fühlen, ist dasaufgrund dieses Fiskalvertragsumsetzungsgesetzes end-lich Geschichte.Mit § 51 Abs. 2 Satz 1 Haushaltsgrundsätzegesetzsollen die Länder ganz klar in die Pflicht genommenwerden:Das strukturelle gesamtstaatliche Finanzierungs-defizit von Bund, Ländern, Gemeinden und Sozial-versicherungen darf eine Obergrenze von 0,5 Pro-
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Antje Tillmann
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zent des nominalen Bruttoinlandsprodukts nichtüberschreiten.Das ist eine sehr große Erleichterung für die Kommu-nen, die seit der Einführung der Schuldenbremse inDeutschland natürlich befürchten, die Länder könntensich auf ihre Kosten entschulden. Hierfür ist Nordrhein-Westfalen ein gutes Beispiel. Es macht nämlich garkeinen Sinn, wenn ein Land zwar keine zusätzlichenSchulden macht, aber gleichzeitig die Schulden derKommunen steigen. Genau das ist nicht Sinn unsererSchuldenbremse.Dieser Gesetzentwurf bedeutet einen zweiten Quan-tensprung für die Kommunen, weil sie noch intensiverals bisher in die Überwachung der Einhaltung der Schul-denbremse in Deutschland einbezogen werden. Über ei-nen unabhängigen Beirat des Stabilitätsrats könnenKommunen mitentscheiden. Dieser Beirat tagt öffentlichund fasst auch Beschlüsse. Diese werden auch im Parla-ment und in den Unterausschüssen diskutiert, sodass dieKommunen bei uns ein Ohr finden. Darüber hinaus wer-den die vom Stabilitätsrat beschlossenen Empfehlungenan die Landesregierungen weitergeleitet, die dann wie-derum an die Parlamente weitergeleitet werden.Die Landtagskollegen hatten sich bereits bei der Ein-führung der Schuldenbremse darüber beschwert, dass sienicht hinreichend einbezogen wurden. Wir werden dasnun verändern. So werden auch die Landtagskollegenund damit auch die kommunalen Vertreter bei derBegrenzung der Schulden angehört. Das ist eine weiterewesentliche Verstärkung der Beteiligung der Kommu-nen.Wir haben aber nicht nur die Kommunen im Auge.Den Bundeshaushalt haben wir Gott sei Dank weitge-hend saniert. Wir achten auch darauf, dass die Ländernicht überfordert werden. Denn natürlich stehen die Län-der durch die Fiskalpaktgrenze vor einer noch größerenHerausforderung: nicht nur durch die Verschuldung derKommunen, sondern auch durch die strengere Schulden-bremse bis 2020.Wir haben den Ländern zugesagt, dass wir etwaigeSanktionen der Europäischen Kommission komplett tra-gen, obwohl sie nach unserer Verfassung anteilig vonBund und Ländern zu tragen wären. Darüber hinausüberweisen wir regelmäßig Geld an die Länder für Auf-gaben, für die wir gar nicht zuständig sind. Wir haben in-tensiv das Thema Kitaausbau besprochen. Neben den4 Milliarden Euro, die wir sowieso schon zur Verfügunggestellt haben, kommen heute noch einmal 580,5 Millio-nen dazu. Wir haben für die Kommunen die Kosten fürdie Grundsicherung in Höhe von 18,5 Milliarden Euroübernommen. Wir haben in dieser Woche sichergestellt,dass auch 2014 mehrere Milliarden Euro Entflechtungs-mittel an die Länder fließen, und zwar für Aufgaben, dieeigentlich Ländersache sind. Aus unserer Sicht gibt esüberhaupt keinen Grund mehr – weder für die Opposi-tion noch für die Vertreterinnen und Vertreter des Bun-desrates – diesem Entwurf eines Gesetzes zur Umset-zung des Fiskalpakts nicht zuzustimmen.
Wir sind in Europa sowieso schon spät dran, was ichmittlerweile peinlich finde. Es gibt für Sie keinen Grund,sich wieder aus der Verantwortung zu stehlen. Hören Siemit dem Pokern um noch mehr Bundesgelder auf; dennausschließlich darum geht es Ihnen ja. Sie sehen zu, woSie vom Bund noch mehr Geld für die Länder bekom-men können. Hören Sie auf damit, und kommen Sie end-lich Ihrer Verantwortung nach, die Sie gegenüber derEuropäischen Union eingegangen sind! Ich fordere Sieauf, unserem Gesetzentwurf endlich zuzustimmen,
damit wir unseren Verpflichtungen gerecht werden.Ich danke Ihnen. Ich freue mich, dass meine Rede zuso viel Erheiterung geführt hat.
Das Wort hat nun Carsten Schneider für die SPD-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wir habenschon einmal über diesen Entwurf eines Gesetzes zurUmsetzung des Fiskalvertrags diskutiert. Es wurdenauch Anhörungen im Haushaltsausschuss dazu durchge-führt. Im Bundesrat gab es keine Einigung, weswegenSie den Gesetzentwurf heute erneut einbringen.Wir als SPD-Fraktion haben eine klare Haltung: Wirwollen keine Schulden.
– Jetzt warten Sie einmal! Ich bin doch noch gar nichtfertig, ganz ruhig. – So wie wir die nationale Schulden-regel in Deutschland 2009 hier im Deutschen Bundestagbeschlossen haben, wollen wir auch den europäischenFiskalvertrag goutieren und implementieren.Was bedeutet das? Durch den Fiskalvertrag wird dieSchuldenregel in die nationalen Gesetze in Europa auf-genommen, ob nun in Athen, in Madrid – oder in Bruns-büttel.
Das bedeutet aber nicht, dass deren Einhaltung kontrol-liert wird. Das ist ein großer Fehler. Warum kann dieEinhaltung nicht im Rahmen des Fiskalvertrages kon-trolliert werden? Sie kann nicht kontrolliert werden, weiles nicht um europäisches Sekundärrecht geht, sondernum einen zwischenstaatlichen Vertrag. Das ist der grund-
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Carsten Schneider
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sätzliche Fehler, den die Regierung – vorneweg FrauMerkel – gemacht hat. Es ist nicht gelungen, eine ein-heitliche Regelung zu schaffen. Das europäische Rechtist ein Flickenteppich. Das trägt nicht zu Glaubwürdig-keit und Transparenz bei.Nun zu Deutschland. Wir als SPD-Fraktion haben imZuge der letzten Beschlussfassung gemeinsam mit denGrünen – bei den Linken bin ich mir nicht mehr ganz si-cher – einen Änderungsantrag eingebracht. Wir habenauch eine Anhörung dazu durchgeführt. Ich möchte dashier und heute im Deutschen Bundestag noch einmalaufgreifen. Es geht um die Frage: Welche Rolle spieltdas Parlament, der Deutsche Bundestag, eigentlich beider Kontrolle der nationalen Haushalte, sowohl ange-sichts der zunehmenden europäischen Vernetzung alsauch angesichts der stärkeren Gouvernementalisierung?Das bedeutet, dass immer mehr Aufgaben auf die Regie-rung ausgelagert werden, ohne dass die Parlamente – so-wohl was die Personalausstattung als auch die eigenenRechte betrifft – in der Lage sind, ihrer Haushaltsverant-wortung gerecht zu werden.Das Ergebnis der Anhörung war so eindeutig, wie iches noch nie erlebt habe. In diesem speziellen Punkt, inder Frage, ob es ein unabhängiges Gremium gibt, das dieFinanzpolitik der Regierung auswertet, ihr keine Emp-fehlungen gibt, aber ihre Politik bewertet, waren alleSachverständigen, auch die von der Union berufenen,eindeutig der Auffassung, dass das, was vorgelegtwurde, nicht ausreichend ist.
Ich gehe sogar so weit, zu sagen: Sie implementieren einvon der Kommission gefordertes unabhängiges Gre-mium mit neun Mitgliedern, von denen sechs einer Par-tei angehören und daher bestimmte Interessen verfolgen,also mehr oder weniger weisungsgebundene Beamtesind. Im Endeffekt sind es die Finanzminister selbst, dieüber Strafzahlungen oder andere Interventionen ent-scheiden. Letztendlich bleiben wir mit dieser Vereinba-rung weit hinter den europäischen Vereinbarungen zu-rück, die wir mit dem Six-Pack korrigiert haben. Das istein Rückschritt. So wird die Finanzpolitik nicht glaub-würdig. Auf dieser Basis kann das Parlament nicht ver-nünftig im Bundestag diskutieren. So kann das Parla-ment keine Auswertung vornehmen und keine Alterna-tiven aufzeigen. Deshalb wäre es im Interesse des Haus-haltsausschusses und des gesamten Parlaments klug, someine ich, diese Chance zu nutzen und im Gesetzge-bungsverfahren auf die Vorschläge der Sachverständigeneinzugehen.Es wäre klug, dem Bundestag die notwendigen Mittelan die Hand zu geben,
damit wir über die Finanzpolitik – schließlich tragen wirdie Hauptverantwortung für die Budgetpolitik – disku-tieren können, damit wir auf einer breiten, fundiertenGrundlage eine öffentliche Diskussion führen können.Ich glaube, das wäre in unserem eigenen Interesse. Ichhoffe, dass es uns gelingt, dies zu implementieren.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Florian Toncar für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kollegen!Eine der wichtigsten Reformen in Deutschland in denletzten Jahren war die Schuldenbremse, die wir 2009 indas Grundgesetz eingefügt haben. Das war mitten in derKrise mutig. Ich glaube, das ist nicht nur Anlass, stolzauf unser Land zu sein, sondern durchaus auch Anlass,stolz auf das politische System in Deutschland zu sein,das zumindest früher als viele andere erkannt hat, dasszu viele Schulden eine Gefahr für Staaten, für Gesell-schaften darstellen können. Wir können stolz daraufsein, dass Deutschland sich früher als andere Länder da-für entschieden hat, etwas dagegen zu tun.
Wir haben in der Bundesregierung und der Koalitionseit 2010 gewaltige Anstrengungen unternommen, umden Haushalt zu konsolidieren.
In der Krise stand eher das Geldausgeben im Vorder-grund. Ich will das gar nicht kritisieren; aber es sind da-mals immerhin 80 Milliarden Euro für Konjunkturpro-gramme ausgegeben worden. Viele dieser Ausgabenwaren durchaus richtig; aber trotzdem mussten wir dasGeld in den Folgejahren wieder einsammeln, wieder ein-sparen. Wir mussten die Haushalte wieder konsolidieren.Wenn man fragt, was die eigentliche politische Leistungist, dann muss man sagen – für mich jedenfalls ist dasso –, dass Einsparen immer schwerer ist als Ausgeben.Einsparen ist die eigentliche Leistung. Die haben wir er-bracht.
Das Ergebnis ist, dass wir bereits im abgelaufenenJahr 2012 die Zielmarke der Schuldenbremse in Deutsch-land eingehalten haben: 0,32 Prozent Neuverschuldungbeim Bund. Dieses Ziel haben wir vier Jahre früher er-reicht, als das Grundgesetz es von uns verlangt. Daraufsind wir stolz. Ich glaube, vor drei, vier Jahren hätte esniemand für möglich gehalten, dass wir das bereits imJahr 2012 erreichen würden. Das ist erfreulich. Das isteine gute Nachricht, auch für die Bürgerinnen und Bür-ger in Deutschland.
Das haben wir geschafft, obwohl wir neue und guteSchwerpunkte gesetzt haben – im Bereich Bildung undForschung beispielsweise haben wir 12 Milliarden Euro
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Dr. Florian Toncar
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mehr ausgegeben –, obwohl wir die Kommunen um an-nähernd 20 Milliarden Euro entlastet haben und obwohlwir mit dem ESM infolge der Staatsschuldenkrise eineVerpflichtung übernommen haben, die uns bisher17 Milliarden Euro gekostet hat. Trotz dieser ganzenSonderbelastungen haben wir es geschafft, den Haushaltweitgehend zu konsolidieren. Jedenfalls sind wir auf ei-nem sehr guten Weg.Das Volumen, um das wir die Neuverschuldungschneller gesenkt haben, als es das Grundgesetz von unsverlangt, wurde auf einem sogenannten Kontrollkontogebucht. Auf dieses Konto wird kein Geld eingezahlt,aber dort wird gebucht: Wenn man weniger Schulden ge-macht hat, als erlaubt, darf man in den folgenden Jahrenetwas mehr Schulden machen. – Ein Vorwurf der Oppo-sition lautete immer – ich habe das für eine Verschwö-rungstheorie gehalten; aber ich erinnere mich gut, Kol-lege Schneider, dass auch Sie das hier gesagt haben –:Sie beschreiten diesen Abbaupfad, um sich eine Kriegs-kasse für das Wahljahr 2013 anzulegen. 2013 werden Siedieses Kontrollkonto nutzen. Dann wird noch einmalrichtig Geld ausgegeben. Dann werden Sie mehr Schul-den machen, um Wahlprogramme finanzieren zu kön-nen. – Sie müssen jetzt, 2013, feststellen: Die Ausgabensind konstant. Wenn dieser Gesetzentwurf nach der Be-ratung im Ausschuss vom Plenum beschlossen wird,dann wird das Kontrollkonto, das Sie für unsere Wahl-kampfkasse gehalten haben, gelöscht. 2016 beginnt dasGanze wieder von vorne; dann beginnt man wieder beinull. Das ist eine sinnvolle Regelung. Das zeigt aberauch, dass Verschwörungstheorien oft einfach nur Ver-schwörungstheorien sind und eben nicht richtig.
Mit dem Fiskalpakt haben wir es geschafft, diesePolitik der Konsolidierung, der finanziellen Stabilität aufEuropa zu übertragen. Lange galt eine Neuverschul-dungsgrenze von 3 Prozent in Europa. Das wurde mitdem Maastricht-Vertrag festgelegt, den Sie maßgeblichmit ausgehöhlt haben, den Sie mit kaputtgemacht haben,als Sie regiert haben. Das musste repariert werden. Wirsind das angegangen. Das Wort „Fiskalpakt“ ist letztenEndes nur ein Begriff dafür, dass es uns, dieser Regie-rung, zusammen mit unseren europäischen Partnern ge-lungen ist, die Fehlentscheidungen von damals zu korri-gieren und in Europa wieder strenge Regeln gegenVerschuldung einzuführen, damit Staaten nicht wieder indie Situation kommen, in der sich einige Länder Europaszurzeit befinden. Wir haben das übertragen. Dieser Fis-kalpakt ist ein großer europapolitischer Erfolg der Bun-desregierung. Er enthält strenge Regeln, klare Sanktio-nen und auch ein Bekenntnis zum Abbau der bestehendenVerschuldung.Das wird jetzt mit diesem Gesetz – zumindest teil-weise – ins deutsche Recht umgesetzt, sofern das erfor-derlich ist. Im Haushaltsgrundsätzegesetz wird noch ein-mal klargestellt, dass neben der Schuldenobergrenze von0,35 Prozent die etwas anders berechnete Grenze nachdem Fiskalpakt gilt, nämlich 0,5 Prozent. Der soge-nannte Stabilitätsrat überwacht die Einhaltung des Fis-kalpakts, damit das transparent und unabhängig ge-schieht.Ein besonders wichtiger Punkt sind die Strafzahlun-gen der Länder. Der Bund hat sich im Rahmen einesKompromisses – um einen für Deutschland und Europaelementar wichtigen Beitrag zur Krisenbewältigung,nämlich den Fiskalpakt, zu retten – auch den Länderngegenüber verpflichtet, deren Strafzahlungen mit zuübernehmen, wenn sie dazu beitragen, dass Deutschlandgegen den Fiskalpakt verstößt. Das war meines Erach-tens eine sehr großzügige Geste des Bundes, mit der ernoch einmal gezeigt hat, dass ihm außenpolitische undeuropapolitische Interessen sowie finanzielle Stabilitätwichtiger sind als das Klein-Klein um Zuständigkeitenin unserem Föderalismus. Dafür muss man denen, diedas verhandelt haben, ein Kompliment machen. Wennder Fiskalpakt daran gescheitert wäre, wäre das fürDeutschland und Europa unverantwortlich gewesen.
Ich fasse zusammen: Europa denkt um – solide Finan-zen statt Strohfeuer, ausgeglichene Haushalte als Ziel füralle. Das ist ein Beitrag zur Lösung dieser Krise undauch ein Beitrag für eine stabile Währungsunion in derZukunft. Mit dem heutigen Gesetz sorgt auch Deutsch-land für noch mehr finanzielle Solidität, von Berchtesga-den bis Brunsbüttel.
Der Kollege Roland Claus hat seine Rede zu Proto-koll gegeben.1) – Damit sind wir wieder bei Priska Hinzfür die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.Priska Hinz (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Meine Damen und Herren! FrauTillmann, ich kann gleich aufklären, warum ich michüber Ihre Rede gefreut habe. Ich finde es nämlich lustig,dass wir hier zum zweiten Mal innerhalb eines Monatsein Gesetz, dem auch wir zugestimmt haben, lesen undSie uns nun auffordern, diesem Gesetz doch endlich dieZustimmung zu geben. Sie halten uns hier erst einenGrundsatzvortrag, als wüssten wir gar nicht, worum esgeht. Dann fordern Sie uns auf, einem Gesetz zuzustim-men, das Sie im Bundesrat versenkt haben, weil die Bun-desregierung nicht in der Lage war, ihre Vereinbarungmit den Ländern einzuhalten. Es ist Ihr handwerklicherFehler, dass wir dieses Gesetz hier noch einmal lesenmüssen.
Es würde noch nicht einmal in Brunsbüttel vorkommen,dass man etwas einbringt, es dann aufgrund handwerkli-cher Fehler versenkt und hinterher die Opposition auf-fordert, sie solle doch, bitte schön, alles reparieren und1) Anlage 9
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Priska Hinz
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über das Ganze dann im Gleichschritt noch einmal mitabstimmen.Ich komme zu meinem Kollegen Toncar, den ich ei-gentlich sehr schätze.
Aber auch bei ihm habe ich mich ein wenig gewundert.Ich habe mich gewundert, dass Sie hier am späten Abendso aufs Klötzchen hauen und erstens so tun, als hättenSie die Schuldenbremse erfunden bzw. eingeführt. So-weit ich mich erinnere, hat die FDP damals auch nichtzugestimmt.
Zweitens tun Sie so, als hätten Sie mit Schuldenmachennichts zu tun. Die wahren Schuldenkönige und -königin-nen in diesem Land sind die Liberalen und CDU/CSU.
Wir haben, gesamtstaatlich gesehen, über 2 BillionenEuro Schulden. Allein unter der Kanzlerschaft Merkelsind die Schulden um 500 Milliarden Euro gewachsen.Aber Sie stellen sich hier hin und sagen: Jetzt endlichwerden mit diesem Gesetz die Schulden abgebaut. – DasGegenteil ist der Fall: Auch in diesem Jahr ist die Netto-kreditaufnahme viel zu hoch. Es ist zu befürchten, dassdie Nettokreditaufnahme, wenn die Konjunktur lahmt,noch höher wird als geplant.
Jetzt will ich darauf zu sprechen kommen, warum wirdieses Gesetz zum zweiten Mal lesen. Wir wurden ge-hetzt. Uns wurde gesagt, es müsse im Dezember gleichnach unserer Anhörung beschlossen werden, obwohlklar war, dass wir eigentlich eine bessere parlamentari-sche Beteiligung beim Prozess der Umsetzung brauchen,dass wir eine Art Budget Office brauchen. Danach gingdie Bundesregierung mit dem beschlossenen Gesetz inden Bundesrat. Dort stellte sich heraus, dass das Ent-flechtungsgesetz, das die Bundesregierung den Ländernim Oktober letzten Jahres zugesagt hatte, schlicht undeinfach nicht vorhanden war. Darüber war noch nichteinmal im Kabinett entschieden. Trotzdem wundern Siesich, dass die Länder das Gesetz haben durchfallen las-sen.Ich verstehe Sie überhaupt nicht. Sie haben diesesThema heute weiträumig umschifft. Deswegen bringeich es hier so klar zur Sprache. Sie halten Grundsatz-reden und sprechen darüber, dass alle anderen Schuldenmachen, nur nicht Sie. Es geht aber darum, dass Sie dasGesetz im Bundesrat versenkt haben und jetzt nachbes-sern müssen.
Erstaunlich ist, dass Sie das Umsetzungsgesetz jetzteinbringen, das Entflechtungsgesetz aber immer nochnicht vorliegt. Es soll erst im Februar oder März in denBundestag kommen und im Mai verabschiedet werden.Ich bin gespannt, ob sich die Länder darauf einlassenoder ob Sie es schon wieder versenken, weil Sie seit Ok-tober nicht in der Lage waren, ein Entflechtungsgesetzvorzulegen, zumindest mit der Krücke „Weiterfinanzie-rung bis 2014“; eigentlich müsste es bis 2019 finanziertwerden. Sie schaffen es noch nicht einmal, dies zeit-gleich mit dem zweiten Gesetzgebungsverfahren zumEntwurf eines Gesetzes zur innerstaatlichen Umsetzungdes Fiskalvertrags einzubringen. So eine dilettantischeRegierung und so eine dilettantische Koalition hat diesesLand nicht verdient.
Auch an diesem Punkt zeigt sich wieder: Wir braucheneine neue Regierung.
Wir sind bereit, diese zu übernehmen, damit so etwaskünftig nicht mehr passiert.Danke schön.
Das Wort hat nun Bartholomäus Kalb.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichhabe den Eindruck: Brunsbüttel ist hier noch nie so zurGeltung gekommen wie in dieser Debatte. Deshalb grü-ßen wir die Bürgerinnen und Bürger von Brunsbüttelsehr herzlich
und natürlich auch die Mitarbeiter der Wasser- undSchifffahrtsverwaltung, zum Beispiel die Schleusenwär-ter, all das Personal, das sich heute Abend noch mit Pro-blemen herumschlagen muss. Herzliche Grüße!Ich hoffe, dass die finanziellen Schleusen nicht wie-der von der Opposition geöffnet werden, sondern dasswir die Schleusen schließen,
damit die finanzpolitische Stabilität gewährleistet bleibt.Mittlerweile hat sich ja nicht nur bei uns im Land, beiunseren Bürgerinnen und Bürgern, sondern auch in ganzEuropa und zum Teil weltweit die Erkenntnis durchge-setzt, dass nachhaltige Haushaltspolitik, also Haushalts-konsolidierung und finanzielle Disziplin, die Grund-voraussetzung dafür ist, dass in einem Land, in einerRegion, auf einem Kontinent Finanzstabilität gewähr-leistet werden kann, dass Wohlstand gewährleistet wer-den kann, dass die Beschäftigung auf ein hohes Niveaugebracht werden kann und damit letztlich auch die so-ziale Sicherheit garantiert werden kann. Das sind ganzhohe Güter, für die es sich lohnt, sich einzusetzen.
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Bartholomäus Kalb
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Deutschland ist hier, wie ich meine, mit gutem Bei-spiel vorangegangen. Deutschland hat viele Diskussio-nen und Beschlüsse auf europäischer Ebene und im Be-reich der G 20 angestoßen und vorangebracht. Wirhaben uns damit nicht nur Freunde gemacht; aber in derZwischenzeit hat sich diese Erkenntnis allgemein durch-gesetzt.Carsten Schneider hat vorhin gesagt,
dass wir darin übereinstimmen, dass wir keine Schuldenwollen.
Aber rufen wir uns einmal die Debatte von heute Mor-gen in Erinnerung.
Dort habe ich gehört, wie sich der Finanzminister vonNordrhein-Westfalen dazu eingelassen hat. Wenn ich mirauch noch vor Augen halte, Kollege Norbert Barthle,was die grün-rote Koalition in Baden-Württemberg ver-anstaltet, dann stelle ich fest: Das ist alles andere als das,was Carsten Schneider hier zum Ziel erklärt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Haus-haltsabschluss, den wir in diesen Tagen vom Bundes-finanzministerium bekommen haben, zeigt, dass wir aufgenau dem richtigen Weg sind. Wir konnten den Haus-halt 2012 mit einem noch besseren Ergebnis abschlie-ßen, als in den Planungen vorgesehen war. Wenn manum 5 Milliarden Euro besser abschneidet, als erwartet,ist das zumindest eine Erwähnung wert. Wenn man eineniedrigere strukturelle Neuverschuldung ausweisenkann, als vorgesehen, dann ist auch das eine besondereErwähnung wert.Es muss betont werden – die Kollegin Tillmann hatdas schon erwähnt –, dass wir die Vorgaben der Schul-denbremse viel schneller werden einhalten können. Dasschaffen wir bereits 2013, also drei Jahre früher als ge-plant. Dazu waren große Anstrengungen erforderlich.Insgesamt ist das natürlich sehr gut, nicht nur für unsereHaushalte, sondern auch im Hinblick auf die Stabilitätder Finanzmärkte in Deutschland und Europa. Die ge-wisse Beruhigung, die wir derzeit feststellen können, hatsicherlich auch damit zu tun, dass die Finanzmärkte zurKenntnis nehmen, dass die Situation in Deutschland und,von Deutschland ausgehend, in Europa besser ist, alsbisher zu vermuten war. Ganz offensichtlich werden vonden Finanzmärkten die Probleme in den USA und in an-deren Regionen der Welt wieder stärker zur Kenntnis ge-nommen.
Kollegin Tillmann hat vorhin darauf hingewiesen,dass dieser Gesetzentwurf auch vorsieht, dass das soge-nannte Kontrollkonto zum 31. Dezember 2015 gelöschtwird. Das heißt, dann gibt es keine – wenn auch verfas-sungsrechtlich zulässige – heimliche Möglichkeit mehr,eine höhere Verschuldung einzugehen. Auch das unter-streicht, dass wir es sehr ernst meinen.Die Kollegin Tillmann und der Kollege Toncar habendarauf hingewiesen, dass wir den Ländern sehr weit ent-gegengekommen sind und ihnen sehr viel Hilfestellung ge-geben haben, sodass sie jetzt in der Lage sind, die Vorgabendes Fiskalpaktes innerstaatlich umzusetzen. Erwähnt wur-den auch andere Maßnahmen: vom Kinderbetreuungsan-gebot über das Entflechtungsgesetz, den Hochschulpakt,die Grundsicherung bis hin zu der In-Aussicht-Stellung,dass wir im Rahmen des Bundesleistungsgesetzes, alsofür die Behinderten in dieser Republik, noch mehr tunwollen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, wir habenseit 2008 die richtigen Maßnahmen zur Bewältigung derFinanz- und Wirtschaftskrise ergriffen. Dadurch sindauch für die Länder und die Kommunen Windfall Profitsangefallen,
die es ihnen erlauben, ihre Haushalte schneller zu konso-lidieren – Gott sei Dank. Allerdings muss in diesemHause auch gesagt werden: Die Lasten hat hauptsächlich– sogar fast alleine – der Bund getragen.
Das Statistische Bundesamt hat letzte Woche Zahlenveröffentlicht. Bei der Zahl der erwerbstätigen Personenin Deutschland ist der Höchststand in der gesamtenNachkriegsgeschichte zu verzeichnen;
das muss erwähnt werden, und darüber sollten wir unsfreuen. Außerdem hat die Zahl sozialversicherungs-pflichtig Beschäftigter einen Höchststand erreicht. Dasist ein Garant dafür, dass die Situation unserer Sozialkas-sen, wie heute in einer anderen Debatte bereits erwähntwurde, besser ist, als wir es noch vor ein, zwei Jahrenbefürchten mussten.
Letztlich sind all das Umstände, über die wir unsfreuen sollten. Denn dadurch werden die Menschen indie Lage versetzt, aus eigener Kraft und durch eigeneAnstrengung ein Einkommen zu erzielen und für sichund ihre Familien ein Auskommen zu sichern. Ichdenke, das ist etwas, worüber man sich freuen kann unddarf, auch wenn die Zeit heute Abend schon etwas fort-geschritten ist.
Herr Kollege, Sie sollten mit dieser Freude zum
Schluss kommen.
Damit darf ich, Herr Präsident, zum Schluss kommen.Ich wünsche Ihnen, wenn das erlaubt ist zu dieser späten
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Bartholomäus Kalb
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Stunde, dass es mit diesen schwäbischen Wecken keineweiteren Probleme mehr gibt,
dass sie wohlschmeckend sind, auch in Berlin.Herzlichen Dank und einen schönen Abend.
Das Wort hat nun Johannes Kahrs für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben hier eine Debatte gehört, die mitdem eigentlichen Thema nicht mehr viel zu tun hatte.Aber ich möchte an den Kollegen Kalb anschließen: Esist leider so, dass CDU/CSU und FDP dem ThemaBrunsbüttel nie genug Bedeutung zugewiesen haben.Das sieht man daran, dass, obwohl der Haushaltsaus-schuss das Geld für den Bau der fünften Schleuse bewil-ligt hat, noch immer kein einziger Bagger rollt. Das isttragisch.
Wenden wir uns jetzt wieder der Sachebene zu. ImKern ist es doch so, dass Sie hier sagen: Der Haushalt istsaniert, die wirtschaftliche Lage ist gut, die Koalition hatetwas geleistet.
Dass das nicht richtig ist, weiß jeder. Sie alle kennen denschönen Spruch: Getretener Quark wird breit, nichtstark.
So ist das mit der Lobhudelei, die Sie ständig betreiben.Warum ist die Lage denn gut? Das ist doch ganz ein-fach: Rot-Grün hat unter Gerhard Schröder Reformendurchgesetzt, die dieses Land nach vorne gebracht ha-ben.
Rot-Grün hat es geschafft, etwas durchzusetzen, was derFDP noch nie durchzusetzen gelungen ist: eine anstän-dige Steuerreform.
Rot-Grün hat es geschafft, Sozialreformen durchzuset-zen, von denen wir heute noch profitieren.
CDU/CSU und FDP haben so etwas in den letzten Jah-ren nicht geschafft. Sie sollten sich alle bei Rot-Grün,bei Gerhard Schröder bedanken;
denn Sie kassieren die Windfall Profits, Sie profitierenvon den Entscheidungen, die damals getroffen wordensind.
Wir werden in vier, fünf oder sechs Jahren das Problemhaben, dass das, was Sie alles nicht geschafft haben, unsauf die Füße fällt. Deswegen sollten Sie sich einmal be-sinnen, wem Sie die gute Lage verdanken, und sich be-danken. Gerhard Schröder wird sich bestimmt freuen.Frau Tillmann hat in der Debatte gesagt, dass Sie da-rauf achten, dass die Länder nicht überfordert werden.
Diese Aussage muss Science-Fiction sein; denn selbstdie von Ihnen regierten Länder haben das überhauptnicht so gesehen. Beim Thema Entflechtungsmittel ver-dienen Sie eine Fünf minus. Sie haben die Gewährungum ein Jahr verlängert. Das Entflechtungsgesetz, auf dasdie Länder warten, liegt bis heute nicht vor. Die KolleginPriska Hinz hat wunderbar dargestellt, was Sie nicht ge-backen bekommen haben.Im Bereich der Kinderbetreuung geben Sie die Mittelfür dieses unsinnige Betreuungsgeld aus. Deswegen gibtes nicht genug Kitaplätze, deswegen haben Sie die Pro-bleme.
Deswegen haben die Länder Probleme, den Rechtsan-spruch umzusetzen. Das sollten Sie irgendwann einmalzur Kenntnis nehmen!
Ich glaube, dass das ein wichtiger Punkt ist; aber daswerden auch Sie noch merken.Kommen wir zu einem weiteren Punkt. Die Länderwollten Bund-Länder-Anleihen. Es wurde lange darübergeredet und verhandelt. Sie haben die Länder dann hin-ter die Fichte geführt. Sie haben nicht getan, was abge-sprochen war, Sie haben keine Anleihe gemacht, bei dersich der Bund das Geld leiht und es an die Länder wei-tergibt. Entsprechend sind die Ergebnisse; deswegenspringen die Länder alle ab.
Wundern Sie sich nicht, wenn Sie mit diesem Entwurfeines Gesetzes zur Umsetzung des Fiskalvertrages wie-der in den Bundesrat gehen und die Länder Ihnen vor-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26901
Johannes Kahrs
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werfen: Sie haben uns alleingelassen; wir sind nicht ge-fördert worden. – Frau Tillmann hat unrecht; denn dieLänder werden hier überfordert. Deswegen kann es gutsein, dass Sie im Bundesrat wieder Probleme bekommen.Dann dürfen Sie sich aber nicht bei uns beschweren, son-dern müssen in den Spiegel schauen und – nachdem SieGerhard Schröder gedankt haben – sich schämen.Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzentwur-fes auf Drucksache 17/12058 an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. Gibt es dazuanderweitige Vorschläge? – Das ist nicht der Fall. Dannist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 18 a und 18 b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten MichaelGerdes, Dr. Ernst Dieter Rossmann, Willi Brase,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPDStarke Forschung für die Energiewende– Drucksache 17/11201 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussFederführung strittigb) Beratung des Antrags der Abgeordneten SylviaKotting-Uhl, Ekin Deligöz, Katja Dörner, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEnergieforschung konsequent am Atomaus-stiegsbeschluss des Deutschen Bundestagesausrichten– Drucksache 17/11688 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitHaushaltsausschussFederführung strittigInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben. –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.1)Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen aufden Drucksachen 17/11201 und 17/11688 an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Federführungen sind jedoch strittig.Die Fraktionen der CDU/CSU und FDP wünschenFederführung jeweils beim Ausschuss für Wirtschaftund Technologie. Die Fraktionen von SPD und Bündnis90/Die Grünen wünschen Federführung beim Ausschussfür Bildung und Forschung.Ich lasse zuerst über die Überweisungsvorschläge derFraktionen von SPD und Bündnis 90/Die Grünen – Fe-derführung beim Ausschuss für Bildung und Forschung –abstimmen. Wer stimmt für diese Überweisungsvor-schläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Diebeiden Überweisungsvorschläge sind mit den Stimmender Regierungsfraktionen und der Linken gegen dieStimmen von SPD und Grünen abgelehnt.Ich lasse nun über die Überweisungsvorschläge derFraktionen von CDU/CSU und FDP – Federführungbeim Ausschuss für Wirtschaft und Technologie – ab-stimmen. Wer stimmt für diese Überweisungsvor-schläge? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Diebeiden Überweisungsvorschläge sind mit den Stimmender Regierungsfraktionen und der Linken gegen dieStimmen der beiden anderen Fraktionen angenommen.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 19 auf:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Kultur und Medien
zu dem Vorschlag für eine Verordnung des Eu-ropäischen Parlaments und des Rates zur Ein-richtung des Programms Kreatives EuropaKOM(2011) 785 endg.; Ratsdok. 17186/11hier: Stellungnahme gegenüber der Bundesre-gierung gemäß Artikel 23 Absatz 2 des Grund-gesetzes– Drucksachen 17/8227 Nr. A.51, 17/11107 –Berichterstattung:Abgeordneter Christoph PolandSiegmund EhrmannReiner DeutschmannDr. Lukrezia JochimsenAgnes KrumwiedeInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zuProtokoll zu geben. – Ich sehe, Sie sind damit einver-standen.2)Wir kommen damit zur Abstimmung. Der Ausschussfür Kultur und Medien empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/11107, in Kenntnis derUnterrichtung eine Entschließung gemäß Art. 23 Abs. 2des Grundgesetzes anzunehmen. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stim-1) Anlage 10 2) Anlage 11
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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men der beiden Regierungsfraktionen gegen die Stim-men der Oppositionsfraktionen angenommen.Ich rufe die Tagesordnungspunkte 20 a und 20 b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Tempel, Dr. Martina Bunge, Jan Korte, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKELegalisierung von Cannabis durch Einfüh-rung von Cannabisklubs– Drucksachen 17/7196, 17/11556 –Berichterstattung:Abgeordnete Angelika Graf
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Harald Terpe, Birgitt Bender, Katrin Göring-Eckardt, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENGesundheitliche Risiken des Drogengebrauchsverringern – Drugchecking ermöglichen– Drucksachen 17/2050, 17/11911 –Berichterstattung:Abgeordnete Karin MaagNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann haben wir das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache und erteile das Wort derKollegin Christine Aschenberg-Dugnus von der FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Cannabisist und bleibt eine gefährliche Droge, die gravierendeSchäden verursachen kann.
Studien zeigen, dass Cannabiskonsum und -missbrauchzu erheblichen geistigen Störungen führt.
Die Herausgeber der Zeitschrift SUCHT betonen– Heft 3 aus Juni 2011 –, dass die gesundheitlichen Pro-bleme, die sich aus Cannabismissbrauch ergeben, wederverschwinden noch abnehmend sind. Für Verharmlosungist an dieser Stelle also überhaupt kein Raum.
Ganz im Gegenteil: Die Zahl der Behandlungssuchendenwegen cannabisbezogener Störungen steigt weiterhin an.Eine Langzeitstudie an der Duke University in Dur-ham in North Carolina hat nachgewiesen, dass Canna-biskonsum das zentrale Nervensystem unwiderruflichschädigen und den IQ senken kann. Cannabiskonsum istalso schädlich für das Gehirn und kann unter anderem zuSchizophrenie führen.Sehr erschreckend ist auch – das hat diese Studie er-geben –, dass besonders der frühe Cannabiskonsumschwerwiegende Folgen hat. Denn offenbar – so die Au-toren der Studie – nimmt der IQ umso stärker ab, je frü-her die Menschen beginnen, Cannabis zu konsumieren.Man hat festgestellt, dass sich bestimmte Areale des Ge-hirns von Dauerkonsumenten deutlich und irreversibelverschlechtert haben. Darüber hinaus zeigten die Unter-suchungen, dass Langzeitkiffer Erinnerungsproblemehaben und sich auch schlechter konzentrieren können.Als Gegenargument wird nun oft angeführt, manwolle doch nur den Gelegenheitskonsum entkriminali-sieren. Das funktioniert aber nicht. Denn insbesondereJugendliche laufen Gefahr, zu dauerhaften Konsumentenzu werden, je früher sie in Kontakt mit der Droge kom-men, auch wenn das nur gelegentlich passiert.Eine Cannabislegalisierung hätte also gesundheitlicheund psychosoziale Folgen, die aus meiner Sicht nichthinnehmbar sind.
Denn, wie gesagt, das Gehirn der Jugendlichen ist offen-bar nicht in der Lage, sich von den Folgen des Konsumsvöllig zu erholen. Hier gibt es keinen Reset-Knopf.
Konkret bedeutet das: Dauerkiffen macht Jugendlichedümmer. Dies dürfen wir durch eine Legalisierung nichtauch noch befördern.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, der Jugendschutzmuss in der Sucht- und Drogenpolitik eine ganz zentraleRolle einnehmen. Aber wie können wir Kinder und Ju-gendliche effektiv schützen, wenn Cannabis wesentlichleichter, weil ja legal, verfügbar ist? Elementar ist dabeiauch die Frage: Wie soll der fließende Übergang vom le-galen Eigengebrauch, den Sie ja fordern, zur illegalenHerstellung und zum illegalen Handel überhaupt kon-trolliert werden? Glauben Sie denn wirklich ernsthaft,dass in Cannabisklubs keine Kriminellen auftauchen, diedann unter dem Deckmantel der staatlichen Legitimationden Stoff anbauen und dann auf dem nächsten Schulhofan Jugendliche weiterverkaufen? Das können Sie dochüberhaupt nicht verhindern.Der reine Wunsch nach streng kontrolliertem und le-galem Umgang wird nicht dafür sorgen, dass in der Rea-lität auch tatsächlich so verfahren wird. Der niederländi-sche Schwarzmarkt verdeutlicht das leider auf sehrbittere Weise.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26903
Christine Aschenberg-Dugnus
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Meine Damen und Herren, den Realitätscheck hat IhrAntrag auf Rauschsozialismus bereits beim ersten Lesenleider nicht bestanden.
Ihr Antrag ist deshalb nicht mehr als ein utopischesWunschdenken.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ausdruck von uto-pischem Wunschdenken ist auch der Antrag der Fraktionder Grünen zum Drugchecking. Sie wünschen sich, dassman die gesundheitlichen Risiken des Drogengebrauchsdurch Drugchecking verringern könnte.
Das ist aber ein gefährlicher Trugschluss. Denn beimDrugchecking wird immer nur auf einzelne Substanzengeprüft. Wenn zum Beispiel eine Partypille auf Ratten-gift überprüft und diesbezüglich für negativ befundenwurde, heißt das noch lange nicht, dass darin nicht an-dere schädliche Substanzen wie zum Beispiel die bei Ih-nen im Antrag erwähnten Milzbranderreger sind.Einmal abgesehen davon, dass schon die reine Pillean sich sehr schädlich ist: Ein Drugchecking wiegt denKonsumenten deshalb nur in einer gefährlichen, in einertrügerischen Sicherheit. Besonders bei Jugendlichenkann damit der völlig falsche Eindruck entstehen, einunbedenkliches und ein von offizieller Stelle geprüftesProdukt erworben zu haben.Bei illegalen Drogen handelt es sich aber keinesfallsum standardisierte und in einem kontrollierten Verfahrenhergestellte Produkte. Die vermeintliche Unbedenklich-keit sagt doch zum Beispiel auch überhaupt nichts überandere zum Beispiel nicht getestete Verunreinigungen indieser Pille oder andere gesundheitsgefährdende Beimi-schungen aus.Meine Damen und Herren, ein Drugchecking würdenur suggerieren, es gäbe gesunde, unbedenkliche Sub-stanzen in den Drogen. Das ist aber nicht so. In der An-hörung hier im Bundestag wurde das ganz klar deutlich:Drogenkonsumenten können sich keineswegs daraufverlassen, dass die getesteten Drogen frei von Beimen-gungen sind und keine überdosierten Stoffe enthalten.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich halte die Dro-genpolitik, wie sie mit Ihrem Antrag formuliert wird, fürschizophren. Auf der einen Seite verbieten Sie in NRW,dass Raucher in von Rauchern betriebenen Eckkneipendas legale Produkt Zigarette konsumieren dürfen, undauf der anderen Seite fordern Sie hier mit Ihrem Antraggleichzeitig das Einführen von einem Drugchecking,also einer regelmäßigen Analyse illegaler psychoaktiverSubstanzen in Diskotheken.
Wie stellen Sie sich das eigentlich vor? Nach der Schichtist in der Kneipe die Zigarette zum Bier verpönt und ver-boten, aber in der Disco steht jemand vom staatlichenDrogen-TÜV bereit und bescheinigt einer möglicher-weise verunreinigten Pille eine trügerische Unbedenk-lichkeit.Das ist für mich nicht nachvollziehbar. Das ist Un-sinn. Die vorgelegten beiden Anträge sind daher nichtzielführend, sind völlig realitätsfremd und stellen auchdie Drogenprävention, so wie wir sie wollen, komplettinfrage.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Angelika Graf für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wer Drogen- und Suchtpolitik macht, der bekommt vielPost, oft von Menschen, die sich aus persönlicher Be-troffenheit für eine Legalisierung von Cannabis einset-zen. Ich bin mir sicher, dass die Briefe- und Mailschrei-ber diese Debatte aufmerksam verfolgen. Ich hätte miraber schon vorstellen können, den Tagesordnungspunktzu Protokoll zu geben. Wenn das mit einem Tagesord-nungspunkt zur Forschung für die Energiewende mög-lich ist, geht das auch mit diesem Tagesordnungspunkt.
Man hätte den Saaldienern damit einen großen Gefallengetan.
Doch nun zum Thema. Klar ist, dass wir den medizi-nischen Gebrauch, zum Beispiel im Rahmen einerSchmerztherapie, von strafrechtlichen Konsequenzenausnehmen, den Betroffenen den Zugang zu Cannabis-produkten erleichtern und die Forschung in diesem Be-reich verstärken müssen.Allerdings wird im Antrag der Linken die Droge Can-nabis und deren psychischen und physischen Auswir-kungen auf den Menschen aus meiner Sicht bagatelli-siert. Sie führen nämlich eine drogenpolitische Debattenach dem Motto: Alkohol versus Cannabis. Dabei redenSie einer Benachteiligung der Cannabiskonsumenten ge-genüber Alkoholkonsumenten das Wort.Übrigens sind Sie dabei auch nicht konsequent. WennSie wirklich keinen Unterschied zwischen der schädli-chen Wirkung von Alkohol und der von Cannabis sehen:Warum wollen Sie dann laut Antrag am Verbot des Han-delns festhalten?
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26904 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Angelika Graf
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Warum soll man dann Cannabis nicht wie Bier oder Zi-garetten im Supermarkt kaufen können? Ich habe so dasGefühl, dass Sie Ihren eigenen Vorschlägen nicht trauen.
Ich möchte darauf hinweisen, dass es gerade im lega-len Bereich bei Tabak und Alkohol Bemühungen gibt,die Verfügbarkeit und die Attraktivität zu reduzieren,und zwar mit gutem Recht. Bei Cannabis nun den umge-kehrten Weg gehen zu wollen, halte ich für falsch. Viel-leicht sollten Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen vonder Linkspartei, darüber nachdenken, ob Suchterkran-kungen nicht auch durch die Begrenzung des Angebotesvermieden werden können.
So wünsche ich mir als Drogenbeauftragte der SPD-Bundestagsfraktion – hören Sie mir zu –, dass es künftigeine EU-weite restriktivere Politik bei Alkohol und Ta-bak gibt. Der Europäische Rat hat sich auf seiner Tagungvom 7. Dezember in Brüssel mit den wachsenden Pro-blemen des gesundheitsschädlichen Alkoholkonsumsbeschäftigt. Er fordert deshalb eine neue Alkoholstrate-gie mit Einschränkungen in der Werbung, Warnhinwei-sen und einer anderen Preispolitik.
Ich denke, Sie als Linke sitzen dem Irrglauben auf,sich über eine liberale Drogenpolitik ein jugendlichesImage geben zu können. Dabei kommen dann Forderun-gen wie die nach der Einrichtung von Cannabisklubsoder die von 2011 auf Ihrem Parteitag nach einer Legali-sierung aller Drogen heraus.Ich behaupte: Man kann nicht EU-weit an der Redu-zierung der Attraktivität von Alkohol oder Nikotin arbei-ten und gleichzeitig mindestens eine, lieber auch alleDrogen legalisieren. Das widerspricht doch jeder Logik.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ichbedaure wirklich, dass Sie bei den Anhörungen desDeutschen Bundestages offenbar recht selektiv wahrneh-men.
Dort wurde eben nicht ausgeschlossen, dass der Canna-biskonsum die Wahrscheinlichkeit für einen späterenKonsum härterer Drogen erhöhen kann oder regelmäßi-ger Konsum von größeren Mengen von Cannabis dieGesundheit gefährdet. Im Gegenteil wurde von denSuchtmedizinern – das ist schon erwähnt worden – sehrdeutlich gesagt, dass der Gebrauch von Cannabis, insbe-sondere im Kinder- und Jugendalter, ganz verheerendeFolgen für die geistige und körperliche Entwicklung mitsich bringen kann.Die Erfahrungen in den Niederlanden und in Spanienmit Cannabisklubs und ähnlichen Einrichtungen sindauch nicht so positiv, wie Sie uns das in Ihrem Antragglauben machen wollen.Ich vermisse zudem Angaben darüber, wie der Anbauzum Eigenverbrauch definiert bzw. kontrolliert werdensoll. Auch auf Folgeprobleme wie die Kontrolle desTHC-Grenzwerts von Konsumenten im Straßenverkehrwird lediglich ein kurzer Satz verschwendet, der zudemvermeidet, sich auf irgendeine Höchstgrenze festzule-gen.Ich habe das Gefühl, die Linksfraktion macht sich beiden aufkommenden ernsthaften Fragen einen schlankenFuß und will diese nicht beantworten. Liebe Kolleginnenund Kollegen, Sucht bekämpft man nicht mit der Straf-verfolgung von Süchtigen. Basierend auf der grundsätz-lichen Strafbarkeit des Besitzes von Cannabis bin ich da-her für eine bundesweit einheitliche Regelung imBereich der geringen Mengen für den Eigenbedarf. Hier-für müssen wir meines Erachtens in § 31 a des Betäu-bungsmittelgesetzes die Grenze festlegen.Die derzeitige Regelung überlässt dies den Ländern.Sie überlässt ihnen auch, ab wann sie strafrechtlich rele-vante Verfahren einstellen. Ich denke, nur die konkreteFestlegung im Bundesgesetz schafft eine Entkriminali-sierung, Rechtssicherheit, eine bundeseinheitliche Ge-richtspraxis und den Abbau der sinnlosen Beschäftigungvon Staatsanwaltschaften.Die geringe Menge aber auf 30 Gramm getrockneteTeile der Cannabispflanze, also die fünffache Dosis desin einigen Bundesländern bislang Erlaubten, zu erhöhen,ist für mich ein weiteres Zeichen der Bagatellisierung,die ich am Anfang schon angesprochen habe. Ich glaube,Sie nehmen die Droge Cannabis nicht ernst. Deswegenwerden wir Ihren Antrag ablehnen.Zum Schluss noch eine Bemerkung zu dem Antragvon Bündnis 90/Die Grünen. Er fordert vor dem Hinter-grund, dass Drogen manchmal giftige Verunreinigungenund Beimengungen enthielten, die Zulassung und Ein-führung von Drugchecking-Projektmodellen. Ich er-kenne sehr an, dass Ihnen das Wohl der User am Herzenliegt. So verstehe ich übrigens auch die Koalitionsver-träge in Schleswig-Holstein und Berlin, in denen dasauch zumindest Erwähnung findet. Ich befürchte aber,dass das Signal, das von dieser Maßnahme ausgeht,falsch ist.Erstens sind Drogen, denke ich, auch ohne zusätzli-che giftige Beimengungen gefährlich und schädlich.Zweitens kann man von der untersuchten Droge nichtzwingend auf die Reinheit der gesamten erworbenenDrogen rückschließen. Davon abgesehen wären für eineseriöse Analyse aufwendige Verfahren notwendig, diezum Beispiel im Rahmen eines mobilen Drugcheckings,wie es angedacht ist, gar nicht möglich sind.
Ich denke, dass wir dabei vor der Frage stehen, ob wirmit dem Stempel des Drugcheckings nicht das Signalaussenden, dass die Droge im Ganzen ungefährlich ist.Das ist der Grund, weshalb wir nach ausführlicher inter-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26905
Angelika Graf
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ner Debatte innerhalb der SPD auch diesen Antrag ab-lehnen.Ich danke Ihnen fürs Zuhören.
Das Wort hat nun Karin Maag für die CDU/CSU-
Fraktion.
– Ich ertrage es mit Fassung.
Wir reden nachher noch einmal darüber.Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Kolleginnen und Kollegen insbesondere von denLinken, ich empfinde es als starkes Stück, dass kein ein-ziger Gesundheitspolitiker bei diesem gesundheitspoliti-schen Thema anwesend ist.
Das halte ich mit dem Verständnis von Politik in diesemHause für schwer vereinbar.Cannabisklubs und Drugchecking haben nur bedingtetwas miteinander zu tun.
Die Klammer sind wahrscheinlich die illegalen Drogen,aber nun gut.Ich beginne mit Cannabis, und zwar vor allem mit denErkenntnissen aus der Anhörung. Dazu hat die KolleginGraf schon das Richtige gesagt. Die Anhörung scheintvon Ihnen nur sehr selektiv wahrgenommen worden zusein.Strafrechtlich ist die Situation eindeutig: Es gibt keinRecht auf Rausch – Ausrufezeichen! Unser Betäubungs-mittelstrafrecht schützt eben nicht nur die Gesundheitdes Einzelnen, sondern auch die der Allgemeinheit, ins-besondere der Jugendlichen. Es geht um den Schutz vororganisierter Kriminalität, und es geht um die Gewähr-leistung der internationalen Zusammenarbeit bei derSuchtstoffkontrolle. Genau deswegen – weil es diesesRecht auf Rausch nicht gibt – hat das Bundesverfas-sungsgericht 2005 bestätigt, dass es richtig ist, die vonCannabis ausgehenden Gefahren mit den Mitteln desStrafrechts zu begrenzen. Es ist auch kein Verstoß gegenden Gleichheitsgrundsatz, dass Alkohol und Nikotin er-laubt sind, Cannabis aber verboten ist. Genau das hat dasBundesverfassungsgericht auch so gesehen.Der bloße Konsum ist straffrei. Genau deshalb lässtauch unser Strafrecht bei der Strafverfolgung mit vielenErmessensvorschriften, ob ein Verfahren überhaupt ein-geleitet werden soll, eine auf jeden Einzelfall abge-stimmte Entscheidung und Beurteilung zu. Es funktio-niert in der Praxis; auch das hat die Anhörung ergeben.Die Generalstaatsanwaltschaft Frankfurt hat ausdrück-lich darauf hingewiesen, dass die weit überwiegendeZahl der Fälle des bloßen Konsums von Cannabispro-dukten eingestellt wird. Allein in Hessen waren es über70 Prozent.Herr Tempel, auch Sie wissen, dass Deutschland dieSuchtstoffkonvention der Vereinten Nationen unter-zeichnet hat. Wir haben uns damit verpflichtet, die Ver-wendung von Cannabis und von anderen Suchtstoffenauf ausschließlich medizinische und wissenschaftlicheZwecke zu beschränken. Logischerweise ist in Deutsch-land wie übrigens auch in allen anderen europäischenStaaten, die Vertragsstaaten dieser Suchtstoffkonventionsind, der Verkehr mit Cannabis grundsätzlich strafbar.Strafbar sind also Herstellung, Handel, Einfuhr, Abgabe,Veräußerung, Erwerb, Besitz von entsprechenden Pflan-zen und Pflanzenteilen.Stichwort „Anhörung“, Herr Tempel: Die Produktesind in den letzten Jahren deutlich gefährlicher gewor-den. Zum einen wurde kontinuierlich der THC-Gehalt– das ist der Wirkstoffgehalt im Cannabis – hochgezüch-tet und intensiviert. Zum anderen hat das Kriminalwis-senschaftliche Institut des LKA Niedersachsen in eineranderen Anhörung darauf hingewiesen, dass es allein inden letzten Monaten drei gefährliche Beimischungennachgewiesen hat, die allesamt zu Gewichtserhöhungeingesetzt wurden. Diese Beimischungen sind Bleistaub,Glas und Haarspray. Da können Sie nur schwer behaup-ten, dass das alles so ungefährlich ist, wie Sie es in Ih-rem Antrag darstellen.
Die Kollegin Aschenberg-Dugnus hat schon daraufhingewiesen: Die Gesundheitsgefahren beim Cannabis-missbrauch sind erwiesen. Der EinzelsachverständigeProfessor Thomasius, immerhin der Leiter des Deut-schen Zentrums für Suchtfragen des Kinder- und Ju-gendalters am Uniklinikum Hamburg-Eppendorf, hatdargelegt, dass vor allem der regelmäßige und intensiveGebrauch zu körperlichen und psychischen Erkrankun-gen führen kann. Cannabiskonsum steigert auch, wie wirgehört haben, das Risiko für Schulversagen und Ent-wicklungsstörungen. Außerdem erhöht der frühe Canna-biskonsum die Wahrscheinlichkeit eines späteren Dro-genmissbrauchs. Das hat nicht nur der Herr ProfessorThomasius festgestellt; auch die Begleitforschung zuden niederländischen Coffeeshops, die Sie sicher ken-nen, zeigt, dass niederländische Jugendliche im europäi-schen Vergleich überdurchschnittlich viel Cannabis kon-sumieren und früher einsteigen als der europäischeDurchschnitt. Liebe Kolleginnen und Kollegen, aus un-serer Sicht ist eins klar: Mit uns ist keine Freigabe denk-bar und kein Cannabisklub zu realisieren.
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26906 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Karin Maag
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Der Antrag auf Ermöglichung des Drugcheckings wardeutlich differenzierter. Nichtsdestotrotz werden wirauch diesen Antrag ablehnen. Nur für die Kollegen, diein diesen Themen nicht drin sind: Beim Drugcheckinggeht es, kurz gesagt, um die Analyse illegaler Drogenauf Verunreinigungen, entweder mobil in Discos oderbei Veranstaltungen oder immobil in Drogenberatungs-stellen. Auch davor hat der Internationale Suchtstoffkon-trollrat der Vereinten Nationen gewarnt, vor allem mitdem Argument, dass ein Testergebnis „Probe enthältkeine Verunreinigung“ von Jugendlichen als Aufmunte-rung zum weiteren Konsum verstanden werden könnte.
Aber auch dieser Hinweis des Suchtstoffkontrollratswurde in der Anhörung eindrucksvoll bestätigt. Mansollte nicht glauben, wenn man zuhört, was man aus An-hörungen lernen kann.Mit dem Drugchecking wird suggeriert, es gebe diegesundheitlich unbedenkliche Droge. Genau das ist derfalsche Zungenschlag. Drogen sind generell gefährlich.Beim Drogenkonsum geht es dem Konsumenten dochgerade um deren toxische Wirkung. Dabei wird eine Si-cherheit vorgespiegelt, die es nicht gibt. Drogen werdennicht in standardisierten Verfahren hergestellt. Die ver-meintliche Unbedenklichkeit hinsichtlich einer Tablettesagt nichts über andere, nicht getestete Einheiten aus.Selbst identisch aussehende Drogen, die aus dem glei-chen Labor stammen, haben oftmals einen unterschiedli-chen Wirkstoffgehalt und unterschiedliche Beimengun-gen. Es müsste also jede einzelne Partie, jede einzelneTablette getestet werden.Heute werden auch die unterschiedlichsten Drogenar-ten gleichzeitig konsumiert, auch kombiniert mit Alko-hol oder mit freiverkäuflichen Medikamenten. Das heißt,die Wirkungen potenzieren sich und sind kaum oder garnicht vorauszusehen.Der heutige Drogenmarkt ist dynamisch. Um denNachweis zu erschweren, wird täglich etwas Neues er-funden, es werden Moleküle ausgetauscht, die Bestand-teile in Nuancen verändert. Ich habe bereits bei Cannabisdarauf hingewiesen, dass auch die Beimischungen lau-fend variiert werden und ständig neue Produkte auftau-chen.Schließlich wird durch Drugchecking der Eindruckvermittelt, der Drogenbesitz sei legalisiert. Das ist einevöllig falsche Zielrichtung. Das wird bei uns so nichtfunktionieren.Ein Schmankerl am Rande. Bei einer Droge, die un-tersucht und bei entsprechendem Befund anschließendwieder an den Verbraucher herausgegeben werdenmüsste, würde sich derjenige, der die Droge herausgibt,jetzt strafbar machen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, mit all dem Wissenlehnen wir beide Anträge ab. Ich bedanke mich insbe-sondere bei meiner Fraktion für das zahlreiche Erschei-nen bei diesem Thema.Danke schön.
Das Wort hat nun Frank Tempel für die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Damit es wenigstens eine Gemeinsamkeitgibt, möchte auch ich mich für das Erscheinen bedan-ken; denn das Wichtigste, das diese Debatte braucht, isteine gesellschaftliche und breite Debatte.
Insofern finde ich es ausgezeichnet, dass Sie zu so späterStunde heute noch einmal hergekommen sind. Es wäredoch schade gewesen, wenn wir die Reden zu genau die-sem Thema zu Protokoll gegeben hätten.
Ich bin übrigens stellvertretendes Mitglied des Gesund-heitsausschusses, der sich genau mit dieser Thematik be-schäftigt.
Deshalb bin ich auch ganz bewusst mit dieser Thematikbeauftragt worden.
– Ich komme jedes Mal, wenn es um dieses Thema geht,weil es mein Thema ist.
Ich möchte Ihnen auch gerne sagen, warum dies so ist.Ich komme als Kriminaloberkommissar aus der Rausch-giftbekämpfung. Meine Fraktion hat vor drei Jahren ein-fach den Neustart bei dieser Thematik gemacht.
– Sie können ruhig mal zuhören. – Man kann auch mal,ohne gleich in Ohnmacht zu fallen, das Thema Rausch-giftkriminalität, Rauschgiftkonsum und Drogenpolitikdiskutieren, indem man sich die Argumente anguckt undwenn man sich vielleicht auch mal anguckt, was dazuaufgeschrieben worden ist.Ich habe von meiner Fraktion den Auftrag bekom-men, einfach einmal zu ermitteln, wie ich es in 16 JahrenPolizeidienst gelernt habe, was für ein Verbot sprichtund was gegen ein Verbot spricht.Ich habe zum Konsum selbst keinerlei Affinität undbin das Thema völlig offen angegangen. Hier geht eseben nicht darum, infrage zu stellen, ob Cannabis mehroder weniger gefährlich ist. Das spielt in unserer ganzenDebatte überhaupt keine Rolle. Es ist schön, dass Sie
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26907
Frank Tempel
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dieses Thema ausführlich behandelt haben, es spielt aberbei uns keine Rolle.Ich habe das Thema deswegen zu vertreten, weil esum die Frage geht: Ist ein Verbot erfolgreich, funktio-niert ein Verbot? Wenn der Staat mit einem Verbot undentsprechender Strafverfolgung in die Grundrechte sei-ner Bürger eingreift, dann ist das ein sehr empfindlicherEingriff in die Rechte eines Bürgers, und dann muss mangucken, wie das funktioniert. Gucken wir uns doch an,ob es funktioniert.Die Niederlande sind angesprochen worden. Ich habehierzu Zahlen aus den Niederlanden mitgebracht, auchfür Sie, Frau Maag, zur Lebensprävalenz bei Cannabis.Dies sind bei den 15- bis 64-Jährigen in Deutschland25,6 Prozent, in den Niederlanden 22,6 Prozent, also we-niger. Sie sprachen von den jungen Leuten, von denen esangeblich mehr in den Niederlanden gibt. Es sind inDeutschland bei den 15- bis 24-Jährigen 34,6 Prozent, inHolland 28,3 Prozent.Wo ist denn da die Logik? In Holland geht man in sei-nen Coffeeshop um die Ecke, kauft sich unbehelligt sei-nen Eigenbedarf und wird nicht strafverfolgt. Trotzdemfunktioniert offensichtlich selbst der Jugendschutz unterdiesem Modell besser.
Damit Sie auch wissen, woher ich die Zahlen habe:Die Europäische Beobachtungsstelle für Drogen undDrogensucht hat diese Zahlen 2011 bekannt gegeben.Die können Sie nachlesen. Das kann man googeln. Auchüber Drogenpolitik kann man sich kundig machen.
– Ich spreche über den Sinn oder Unsinn. Es gibt auchHörhilfen, wenn man da Schwierigkeiten hat.
Ich spreche über den Erfolg oder Nichterfolg derStrafverfolgung. Wir haben mit keinem Wort – mit kei-nem Wort! – die Gesundheitsgefährdung durch Cannabisin Abrede gestellt. Da sind wir d’accord. Da ist über-haupt kein Problem. Es geht vielmehr darum: Funktio-niert ein Verbot?Schauen wir auf weitere Länder in Europa: DieSchweiz verzichtet bei geringen Mengen auf Strafverfol-gung; das ist eine Ordnungswidrigkeit, wesentlich nie-derschwelliger. Was sich nicht verändert hat, ist die Zahlder Konsumenten. Überall da, wo man auf eine Strafver-folgung, auf ein Verbot verzichtet, steigt die Anzahl derKonsumenten nicht. Das ist enorm wichtig. Ein Verbotist nur wirklich wirksam, wenn es dann auch eine Verän-derung in den Zahlen gibt. Also muss man sagen: WennSie hier mit dem Mittel der Strafverfolgung arbeiten,dann arbeiten Sie mit einem ungeeigneten Mittel.
Sie sagen, dass mit dem Ziel „Verringerung vonNachfrage und Angebot“ gearbeitet werden muss. DieFrage ist bloß, wie. Deswegen sagt die Linke: Aufklä-rung statt Verfolgung, Hilfe statt Ausgrenzung. Dannbekommt man übrigens auch Fragen wie die des THC-Gehalts in den Pflanzen geregelt. Streckmittel gibt esdann nicht mehr.Ganz zum Schluss für Sie, Frau Graf, noch zu derFrage, warum der Handel nicht legalisiert werden soll,aber der Eigenanbau: Handel bedeutet immer Gewinner-zielung. Einem illegalen Markt, der eine gewaltige Kri-minalität erzeugt – die Kriminalität, die wir hier haben,ist ein Nebenprodukt der Strafverfolgung –, entziehenwir 3 bis 4 Millionen Kunden, Kunden, die auch nichtauf einen legalen Markt kommen. Ein Verkäufer brauchtAbsatz, neue Kunden, mehr Kunden, Kunden, die immermehr nehmen. Das fällt beim Eigenanbau weg und istauch im legalen Handel nicht zu finden. Deswegenhaben wir extra ein Modell gewählt – das ist eine Aus-nahmeregelung für Cannabis –, bei dem Handel nicht le-galisiert wird, sondern Kunden sich selbst versorgen unddann nicht mehr auf Leute angewiesen sind, die wollen,dass immer mehr Menschen Cannabis konsumieren.Lediglich die 2 bis 4 Millionen, die jetzt schon Konsu-menten sind, bekommen die Gelegenheit, ihren Bedarfdurch Eigenanbau zu decken.Sie müssen Anträge auch dann lesen, wenn Sie sieablehnen wollen.
Das Wort hat nun Harald Terpe für die Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Auch von mir Hochachtung angesichtsder großen Teilnahme an der Diskussion!Ich fange an mit einem Zitat von Dr. Gaßmann, demGeschäftsführer der Deutschen Hauptstelle für Sucht-fragen, die den größten Teil der Suchtkrankenhilfe ver-tritt. Zitat:Nach so vielen Jahrzehnten ergebnisloser Diskus-sionen sind wir nicht mehr an Glaubenssätzen, Mei-nungen und Allgemeinplätzen zur Prohibition inte-ressiert. Wir erwarten Beweise. Für die Vorteile vonProhibition wurde noch kein einziger vorgelegt.Diejenigen dagegen mehren sich von Jahr zu Jahr.Ob uns das gefällt oder nicht, spielt überhaupt keineRolle. Es sei denn, Suchtpolitik wäre eine Ge-schmacksfrage.Ich denke, die Suchtkrankenhilfe steht nicht in demRuf, die Risiken psychoaktiver Substanzen zu vernied-lichen, und das machen wir auch nicht. Aber wasDr. Gaßmann und auch wir einfordern, ist nichts wenigerals eine sachliche und faktenbasierte Auseinanderset-zung mit den Folgen der herrschenden Drogenpolitik fürKonsumenten und für unsere Gesellschaft, im Übrigenauch für andere Staaten.
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26908 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Harald Terpe
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Stattdessen erleben wir ideologische Ablenkungs-manöver; ein Teil davon ist heute zur Sprache gekom-men. Da geht es dann um Fragen wie: Ist der THC-Gehalt gestiegen? Ist Cannabis eine Einstiegsdroge?Dient Drugchecking der Förderung des Drogen-konsums?Einmal abgesehen davon, dass man alle diese Fragenfaktenbasiert klar verneinen muss, finde ich sie im Kernirrelevant.
Worauf es mir ankommt, ist: Wir müssen grundsätzlichdarüber diskutieren. Sie sind irrelevant, weil die eigentli-che Kernfrage lauten muss: Was müssen wir tun, um dieFolgen riskanter Formen des Drogengebrauchs für denEinzelnen und die Gesellschaft zu minimieren?
Also nicht „Drogengebrauch, ja oder nein?“, sondern„Riskanter Drogengebrauch, ja oder nein?“ ist die Frage.Sicher sind die von Union, FDP und – wie ich heute ge-hört habe – SPD befürwortete Drogenprohibition undRepression als Antwort und Lösung gänzlich ungeeignetund gestrig.
Es gibt keinen einzigen seriösen wissenschaftlichen Be-leg für den Nutzen der Prohibition. Wir wissen das auchaus der Geschichte, beispielsweise der amerikanischen.Stattdessen wird mit der Prohibition ein Schwarzmarktgeschaffen, auf dem keine Regeln gelten und der dieroheste Form eines Marktes darstellt. Dort gibt es keinenJugendschutz, keine Öffnungszeiten, keinen Verbrau-cherschutz, keine Preisregulierung. Das findet alles nichtstatt.Nur in einem legalen Markt mit vernünftiger Regulie-rung der Substanzen können Sie die gesundheitlichenund gesellschaftlichen Schäden verringern. ProhibitivePolitik schafft zusätzliche Risiken und kriminalisiert dieKonsumentinnen und Konsumenten, mit häufig schlim-men Folgen gerade für junge Menschen. Sie hat auch er-hebliche Folgen für unsere Gesellschaft. Mehr als zweiDrittel der gesamten drogenbezogenen Ausgaben desStaates werden für repressive Maßnahmen ausgegeben,gehen in die Verfolgung von Konsumentinnen und Kon-sumenten. Dadurch fehlt es beispielsweise an Geld fürPrävention und Hilfsangebote. Die repressive Säule un-serer Drogenstrategie erreicht das angestrebte Ziel über-haupt nicht – in Deutschland nicht und in Europa nicht.Lassen Sie mich zum Abschluss sagen, dass die Dro-genpolitik auch ein internationales Problem ist. VieleBeispiele zeigen, dass die Stabilität von Staaten gefähr-det wird und elementare Menschenrechte eingeschränktwerden. Beispielsweise gab es in Mexiko 50 000 Tote imDrogenkrieg. Ein weiteres Beispiel ist Kolumbien, woKorruption und Drogenkartelle den Staat zerstören.Ähnliche Entwicklungen gibt es in Brasilien, Kenia undin anderen Staaten.Ich frage Sie: Wollen wir auf diesem Weg immer wei-tergehen? Ich glaube, die Antwort der beiden vorliegen-den Anträge von den Grünen und den Linken auf dieseFrage ist ganz klar. Nein, so können wir nicht weiter-machen. Das realitätsblinde Weiter-so in der Drogen-politik muss ein Ende haben. Wir brauchen eine ehrlicheAnalyse der derzeitigen Drogenpolitik und darauf auf-bauend eine grundlegende Reform.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und gutenHeimweg.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Legalisierung von Cannabis durchEinführung von Cannabis-Clubs“. Der Ausschuss emp-fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/11556, den Antrag auf Drucksache 17/7196abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfeh-lung? – Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der beidenKoalitionsfraktionen und der SPD gegen die Stimmender Linken und der Grünen angenommen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesund-heit zu dem Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenmit dem Titel „Gesundheitliche Risiken des Drogen-gebrauchs verringern – Drugchecking ermöglichen“.Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlungauf Drucksache 17/11911, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/2050 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den gleichen Mehrheitsverhältnissenwie zuvor angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs einesFünfzehnten Gesetzes zur Änderung des Sol-datengesetzes– Drucksache 17/12059 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschussInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zuProtokoll zu geben. – Sie sind damit einverstanden.1)Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/12059 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt1) Anlage 12
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26909
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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dazu, wie ich sehe, keine anderweitigen Vorschläge.Dann ist die Überweisung so beschlossen.Wir kommen zu Tagesordnungspunkt 22 sowie zuZusatzpunkt 6:22 Beratung des Antrags der Abgeordneten UlrichSchneider, Katja Dörner, Sven-Christian Kindler,weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENEigenständige Jugendpolitik – Selbstbestimmtdurch Freiheit, Gerechtigkeit, Demokratie undEmanzipation– Drucksache 17/11376 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
RechtsausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussZP 6 Beratung des Antrags der Abgeordneten StefanSchwartze, Sönke Rix, Petra Crone, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDMit einer eigenständigen Jugendpolitik Frei-räume schaffen, Chancen eröffnen, Rückhaltgeben– Drucksache 17/12063 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
InnenausschussRechtsausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für GesundheitAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionAusschuss für Kultur und MedienHaushaltsausschussAuch hier wird vorgeschlagen, die Reden zu Proto-koll zu geben. – Sie sind damit einverstanden.1)Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/11376 und 17/12063 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. – Sie sind damit einverstanden. Dann haben wir dasso beschlossen.Tagesordnungspunkt 23:Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Vorbeu-gung vor und Bekämpfung von Tierseuchen
– Drucksache 17/12032 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutz
RechtsausschussWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Für die christlich-liberale Koalition hat der Tier-schutz einen hohen Stellenwert – wir setzen uns für ei-nen respektvollen Umgang mit Tieren und das Wohlunserer Mitgeschöpfe ein. In diesem Sinne haben wirim vergangenen Jahr das Tierschutzgesetz weiterent-wickelt. In diesem Jahr widmen wir uns mit dem glei-chen Anspruch der Novelle zum Arzneimittelgesetz undauch dem Tiergesundheitsgesetz, das wir heute in ers-ter Lesung beraten.In der Werbung eines Tiernahrungsherstellers heißtes: „Ist das Tier gesund, freut sich der Mensch.“ Indieser Aussage steckt ein wahrer Kern. Die Erkran-kung von Tieren beeinträchtigt das Tierwohl und ruftbei uns Menschen häufig Mitleid hervor. In der Land-wirtschaft stellen Tierkrankheiten ein großes wirt-schaftliches Risiko für die Betriebe dar. Darüber hi-naus können Tierkrankheiten eine große Gefahr fürMenschen sein. Wir sehen also: Auch die Gesundheitvon Tieren ist ein hohes Gut. Aus diesem Grund ist esrichtig, dass die Koalition die Förderung der Tierge-sundheit auf eine neue gesetzliche Grundlage stellenwill. Die Bundesregierung hat deshalb den Entwurf fürein Tiergesundheitsgesetz vorgelegt.Mit dem Tiergesundheitsgesetz wollen wir das Tier-seuchengesetz ersetzen. Das Tierseuchengesetz, des-sen Ursprünge ins Jahr 1909 zurückreichen, ist vomAufbau und Regelungsansatz her veraltet. Es stellt dieBekämpfung von ausgebrochenen Krankheiten undSeuchen in den Vordergrund. Das neue Tiergesund-heitsgesetz hingegen zielt neben der Krankheits- undSeuchenbekämpfung auch darauf ab, Erkrankungenund Seuchen vorzubeugen.Zahlreiche Neuregelungen sorgen dafür, dass beider Tiergesundheit die Prävention größeres Gewichterhält. So können künftig zu Präventionszwecken inBetrieben mit Tierbeständen eigenbetriebliche Kont-rollen und verpflichtende hygienische Maßnahmen an-geordnet werden. Der Personenkreis, der zur Anzeigeeiner Tierseuche verpflichtet ist, wird erweitert. NebenAmtsveterinären sollen auch Tiergesundheitsaufseher,Veterinäringenieure, amtliche Fachassistenten undBienensachverständige bestimmte Erkrankungen mel-den. Große Bedeutung kommt dem geplanten Monito-ring zu. Durch systematische Beprobungen sollen diezuständigen Behörden die Möglichkeit erhalten, Ge-fahren für die Tiergesundheit frühzeitig zu erkennenund gezielt Abwehrmaßnahmen einzuleiten.Die Intention dieses Gesetzes lässt sich auf eineneinfachen Nenner bringen: „Vorbeugen ist besser alsHeilen.“ Die Vermeidung von Krankheiten dient nichtnur unmittelbar dem Tierwohl. Gesunde Tiere schonenauch den Geldbeutel des Tierhalters, weil beispiels-weise weniger Ausgaben für Tierarzneimittel erforder-lich sind. Durch bessere Prävention ist zu erwarten,dass weniger Tierarzneimittel eingesetzt werden müs-1) Anlage 13
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26910 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Alois Gerig
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sen – dies gilt auch hinsichtlich Antibiotika. Das Tier-gesundheitsgesetz unterstützt das Ziel der Koalition,den Antibiotikaeinsatz in der Tierhaltung zu reduzierenund Antibiotikaresistenzen zu vermeiden.Eine Schlüsselrolle bei der Prävention von Krank-heiten und Seuchen kommt Impfungen zu. Das Tierge-sundheitsgesetz sieht vor, am Friedrich-Loeffler-Insti-tut eine Ständige Impfkommission Veterinärmedizineinzurichten – vergleichbar mit der Ständigen Impf-kommission für die Humanmedizin am Robert-Koch-Institut. Aufgabe der Kommission ist es, auf wissen-schaftlicher Grundlage Impfempfehlungen abzugeben.Durch die amtlichem Empfehlungen wird es für Tier-ärzte und Tierhalter, aber auch für Behörden und fürdie Öffentlichkeit verständlicher, welche Impfungenerforderlich sind und welche nicht.Mehr Transparenz kann einen Beitrag dazu leisten,die Impfbereitschaft zu erhöhen und auch die Akzep-tanz von Impfungen bei Nutztieren zu verbessern. Esist wissenschaftlich erwiesen, dass Fleisch von geimpf-ten und freigetesteten Tieren genauso sicher ist wieFleisch von nicht geimpften Tieren. Durch Impfungenkann vermieden werden, dass bei der Eindämmungvon Seuchen nicht auch noch gesunde Tiere getötetwerden müssen – so wie es bei der Bekämpfung derKlassischen Schweinepest leider viel zu häufig gesche-hen ist. Auf europäischer Ebene muss in den Beratun-gen zum EU-Tiergesundheitsrechtsakt erreicht werden,dass unbedenkliches Fleisch von geimpften Tieren kei-nen Handelsrestriktionen unterliegt.Der Handel mit Tieren und tierischen Erzeugnissen,die Träger von Tierseuchenerregern sein können,nimmt sowohl innerhalb der Europäischen Union alsauch mit Drittstaaten zu. Zunehmende Handelsver-flechtungen bringen die Gefahr mit sich, dass Tierseu-chen nach Deutschland eingeschleppt werden. UmSeuchengefahren frühzeitig erkennen zu können, siehtdas Tiergesundheitsgesetz sinnvollerweise vor, dasFriedrich-Loeffler-Institut zu beauftragen, das welt-weite Seuchengeschehen zu beobachten – so könnenwichtige Erkenntnisse gewonnen werden, um präventivGegenmaßnahmen einzuleiten.Der zunehmende Handel mit Tieren und tierischenErzeugnissen macht neben der Auswertung des welt-weiten Seuchengeschehens noch eine weitere Schluss-folgerung erforderlich. Wir müssen in Europa sowohlbei der Bekämpfung von Tierseuchen als auch bei derPrävention effektiv und auf der Grundlage gemeinsa-mer Standards zusammenarbeiten. Ich begrüße es sehr,dass die Bundesregierung in Brüssel für eine Harmo-nisierung des Tierseuchenbekämpfungsrechts eintritt.Mit dem geplanten EU-Tiergesundheitsrechtsakt sol-len nicht nur bestehende Vorschriften zur Tiergesund-heit zusammengefasst werden, auch das Prinzip „Vor-beugen ist besser als Heilen“ wird größeres Gewichterhalten. Dem tragen wir mit dem neuen Tiergesund-heitsgesetz Rechnung.Lassen Sie uns im parlamentarischen Verfahrenprüfen, ob an dem guten Gesetzentwurf weitere Ver-besserungen vorgenommen werden sollten. Ich wün-sche mir dabei von der Opposition sachlichere Bei-träge als in den zurückliegenden Debatten über dielandwirtschaftliche Tierhaltung.
Wir beraten heute in erster Lesung den Entwurfeines Gesetzes zur Vorbeugung und Bekämpfung vonTierseuchen .Die Neufassung und Überarbeitung des bestehen-den Tierseuchengesetzes ist längst überfällig. Mit demvorliegenden Gesetzentwurf und den Änderungs-vorschlägen des Bundesrates, denen die Bundesregie-rung auch in weiten Teilen folgen will, soll das Tier-seuchenrecht den gestiegenen Herausforderungen aufeuropäischer Ebene angepasst werden. Der Gesetzent-wurf ist im Hinblick auf die erforderlichen Regelungenzum Tierseuchenrecht in seinem Kern unstrittig.Dem Anspruch eines Tiergesundheitsgesetzes wirddieser Gesetzentwurf jedoch nicht gerecht. Es handeltsich um einen klaren Fall von Etikettenschwindel. DasGesetz will mit seiner Bezeichnung mehr versprechen,als es tatsächlich einhalten wird. Tiergesundheit istmehr als nur das Ziel, Tierseuchen zu vermeiden undzu bekämpfen. Tiergesundheit erfordert einen ganz-heitlichen Ansatz. Tiergesundheit in einem Tierbestandbedeutet vor allen Dingen ein gutes betrieblichesHygienemanagement im Bestand.Und daher sage ich der Bundesregierung ausdrück-lich: Es reicht nicht aus, ein paar Vorbeugemaßnah-men ins Gesetz zu schreiben, die der Erhaltung und derFörderung der Tiergesundheit dienen – und schon ha-ben wir auf Bundesebene ein Tiergesundheitsgesetz. Soeinfach geht es nicht!Wir müssen bestehende Regelungen der Tierschutz-Nutztierhaltungsverordnung und Schweinehaltungs-hygieneverordnung durch weitere Rechtsgrundlagenzum betrieblichen Hygienemanagement ergänzen undweiterentwickeln.Ich bin der Meinung, dass die Pflichten der Tierhal-ter, der Tierärzte und anderer Beteiligter vom Stall biszur Schlachtung zu einem einheitlichen Rechtsrahmenzusammengefasst werden. In diesem Rechtsrahmensollten die unabdingbaren hygienischen und baulichenVoraussetzungen erfasst werden, die eine Übertra-gung von Tierseuchen verhindern sollen. In diesemZusammenhang wären auch die daraus resultierendenVorgaben und Bestimmungen zur Stallhygiene zu er-fassen. Die neuesten wissenschaftlichen Erkenntnisse– beispielsweise zu den Anforderungen an das Stall-klima, zu Schadgaskonzentrationen und zu Luftwech-selraten – sollten ergänzt werden. Eine Dokumenta-tionspflicht für regelmäßig vorzunehmende Desin-fektionsmaßnahmen in Tierhaltungsbeständen ab ei-ner bestimmten Betriebsgröße wäre in diesemRechtsrahmen ebenfalls zu regeln.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26911
Dr. Wilhelm Priesmeier
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Auch im Hinblick auf eine Antibiotikaminimie-rungsstrategie und die dazu aktuell geführte Diskus-sion über die Anwendung von Antibiotika in der Tier-haltung ist eine weitergehende gesetzliche Regelungdringend notwendig. Das hat auch die Anhörung zumArzneimittelgesetz gezeigt.Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dassdie Zahl der Verordnungen und damit die Menge dereingesetzten Antibiotika überwiegend von der Stall-hygiene abhängen. Die Mehrzahl der Antibiotika-verordnungen erfolgt aufgrund von Atemwegserkran-kungen. Hier gilt es, das Übel an der Wurzel zupacken. Die rechtlichen Rahmenbedingungen müssenim Gesetz so geregelt werden, dass wir ein effizientesTiergesundheits- und Hygienemanagement auch imHinblick auf die Krankheitsverhütung und das Wohl-befinden der Tiere erreichen. Die Leitlinien des tier-ärztlichen Berufsstandes zur Bestandsbetreuungzeigen vorbildlich, wie es geht. Ein regelmäßigesMonitoring des Tierhygienestatus sowie die tierärzt-liche Bestands- und Hygieneberatung sind also zwin-gend vorzuschreiben.Eine Rechtsgrundlage für das Monitoring über denGesundheitszustand der Tiere findet sich zwar imGesetz, aber am Ende reicht dies alleine nicht aus. Ichvermisse wesentliche Durchgriffsrechte und Anord-nungsbefugnisse für Kontrollbehörden, wenn sie gra-vierende Hygiene- und Haltungsmängel in tierhalten-den Betrieben feststellen. Warum berücksichtigen Sienicht vorhandenes Wissen und legen ein Gesetz vor,das dem anspruchsvollen Titel „Tiergesundheitsge-setz“ in vollem Umfang gerecht wird?In der Anhörung des Deutschen Bundestages zurNovelle des Tierschutzgesetzes spielten Tierwohlindi-katoren eine große Rolle. Auf europäischer Ebene gibtes bereits weitreichende Vorarbeiten zur Definitionvon Tierwohl.Der Gesundheitsstatus innerhalb einer Tierhaltungkann anhand weniger Parameter beurteilt werden: Ichnenne in diesem Zusammenhang Mortalitäts- undMorbiditätsraten sowie physiologische Kenngrößen,Verhalten und Leistungswerte.Die Mortalitätsrate wird bisher als wichtigstes Kri-terium nicht erfasst. Auch die Zahl erkrankter Tierekann objektiv bestimmt und kontrolliert werden. DieDokumentation von Behandlungen findet heute schonstatt. Jedoch werden Organbefunde bei der Schlach-tung und erkennbare äußerliche Verletzungen nichtausreichend erfasst. Auch sie geben Auskunft über dieTiergesundheitsstatus des Herkunftsbetriebes. Undschließlich geben Leistungsdaten wie tägliche Zunah-men, Futterverwertung und Fruchtbarkeit Auskunftüber den Gesundheitsstatus der Tiere.Diese Erkenntnisse werden bereits seit langem wis-senschaftlich belegt. Hier hätte die BundesregierungAnknüpfungspunkte für ein ganzheitliches Tiergesund-heitsgesetz finden können. So hat die Bundesregierungihre Hausaufgaben nur teilweise erledigt. Die tierseu-chenrechtlichen Regelungen gehen zwar so weit inOrdnung. Die Bundesregierung muss zur Tiergesund-heit jedoch noch nacharbeiten.
Das alte Tierseuchengesetz hat ausgedient. Eswurde 1909 im Kaiserreich beschlossen und geht aufein Gesetz aus dem Jahr 1880 zurück. Trotz einigerÄnderungen besteht es in seinen Grundzügen nochheute. Es wird den aktuellen Herausforderungen nichtmehr gerecht, die entstanden sind durch globale Han-delsströme, durch umfangreiche Reiseaktivitäten derMenschen über Kontinente hinweg und sich änderndeklimatische Bedingungen. Tierseuchenerreger könnenso über unzählige Wege nach Deutschland gelangen.Vor diesem Hintergrund und angesichts eines stetig zu-nehmenden internationalen Handels mit Tieren undtierischen Erzeugnissen werden wirksame Vorbeugungund schnelle Krisenreaktion immer wichtiger. Das Auf-treten völlig neuer, unbekannter Krankheitserreger wiedes Schmallenberg-Virus und des Blauzungenvirus, dieafrikanischen Virenstämmen ähneln, haben uns dasdeutlich vor Augen geführt.Wir Liberale haben bereits im März letzten Jahresgefordert, das Tierseuchengesetz zu modernisieren. ImHinblick auf die umfangreichen Änderungen, die dasBMELV und die christlich-liberale Koalition in denletzten Monaten erarbeitet haben, ist der Begriff„Tiergesundheitsgesetz“ wesentlich angemessener.Denn mit der Namensänderung verbindet sich einneuer, verbesserter Ansatz. Wir wollen auftretendeSeuchen und neue Krankheiten nicht erst dann be-kämpfen, wenn sie bei uns in Erscheinung treten, son-dern wir wollen ihnen mit dem neuem Gesetz wir-kungsvoll vorbeugen. Das Gesetz dient damit derErhaltung und Förderung der Tiergesundheit. Mittel-fristig sollte das Tiergesundheitsgesetz auch um denBereich der Tierarzneimittel ergänzt werden, um alleAspekte der Tiergesundheit in einem Gesetz zu verei-nen.Eine der wichtigsten Neuerungen ermöglicht esjetzt, für neue Tierseuchen sehr zügig eine Anzeige-pflicht ohne vorherige Zustimmung des Bundesrateseinzuführen. Entsprechenden Verordnungen musstebisher immer der Bundesrat zustimmen. Dies kannjetzt auch nachträglich erfolgen. Die Anzeigepflichtermöglicht es den Landwirten, von der Tierseuchen-kasse finanzielle Hilfen für ihre erkrankten und ver-storbenen, aber auch für vorsorglich gekeulte Tiere zuerhalten. Ebenso wird es durch eine Anzeigepflichteinfacher, das epidemiologische Geschehen zu verfol-gen und Strategien gegen die weitere Ausbreitung undzukünftige Ausbrüche zu entwickeln. In dem neuen Ge-setz stehen die Vorbeugung und der Schutz vor Tier-seuchen im Vordergrund. Aber auch die Bekämpfungund die Überwachung des Seuchengeschehens werdenoptimiert. Dazu wurde der Personenkreis, der zur An-zeige einer anzeigepflichtigen Tierseuche verpflichtetist, erweitert. Es wurden die Befugnisse ausgedehnt,Zu Protokoll gegebene Reden
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26912 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Christel Happach-Kasan
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vorbeugende Maßnahmen anzuordnen, beispielsweiseeigenbetriebliche Kontrollen und die Durchführunghygienischer Maßnahmen. Dazu gehört auch die Ein-führung einer Ständigen Impfkommission Veterinärme-dizin. Dem Grundsatz „Impfen statt Töten“, den wirLiberale auch bereits seit langem fordern, wird damitnoch stärker Rechnung getragen. Dieses Ziel wird vonallen Fraktionen im Deutschen Bundestag gemeinsamverfolgt.Ein weiterer Schwerpunkt des Tiergesundheitsgeset-zes ist die Möglichkeit eines Monitorings über denGesundheitsstatus von Tieren. Das beginnt mit einerständigen Beobachtung der weltweiten Tiergesund-heitslage, die zukünftig vom Friedrich-Loeffler-Insti-tut, FLI, mit Blick auf eine mögliche Einschleppungvon Tierseuchenerregern durchgeführt wird. Es setztsich fort mit einer Bewertung der möglichen Gefahren-situation beim Auftreten einer Tierseuche und mit derBeratung der zuständigen Behörde und des neuen Zen-tralen Krisenstabs „Tierseuchen“ zur Vorbeugung, Er-kennung und Verhinderung der Verschleppung. WirLiberale begrüßen es, dass die Bundesregierung diesesinnvolle Forderung des Bundesrates im weiteren Ver-fahren umsetzen wird. Auch wenn das FLI diese Aufga-ben grundsätzlich bereits jetzt wahrnimmt, werden sienun rechtlich bindend festgeschrieben und den aktuel-len Entwicklungen angepasst.Bei diesem Monitoring setzen wir auf die freiwilligeMitarbeit von Schwerpunktbetrieben, welche sich inGebieten mit erhöhtem Gefährdungspotenzial befin-den. Diese können beispielsweise in der Nähe interna-tionaler Flughäfen, der Landesgrenze, in Gebieten mitklimatischen Besonderheiten oder anderen Hotspotsliegen. So liegen die Orte des ersten Auftretens derBlauzungenkrankheit und des Schmallenberg-Virusnicht weit voneinander entfernt. Das neue Monitoringsoll Erkenntnisse darüber bringen, wo neue Krankhei-ten zuerst auftreten und wie sie sich verbreiten. Auchkönnen mit Schwerpunktbetrieben die Folgen desKrankheitsgeschehens auf den Bestand insgesamt undmögliche Immunisierung erkrankter aber nicht ver-storbener Tiere effizienter und langfristig untersuchtwerden. Die FDP setzt sich für eine bestmögliche Aus-stattung der Forschung auf diesen Gebieten ein. DennVorsorge ist langfristig immer besser als die Bekämp-fung von Epidemien und zahlt sich aus. Grundsätzlichbegrüßenswert ist das Ziel der Bundesregierung,Nachweismethoden für Tierseuchen, insbesondere so-genannte In-vitro-Diagnostika, erst zuzulassen, wennderen Qualität nachgewiesen ist. Die FDP-Bundes-tagsfraktion wird sich im parlamentarischen Verfahrendafür einsetzen, dass eine praktikable Ausgestaltungdes Zulassungsverfahrens erfolgt. Wir setzen uns dafürein, dass vor allem kleine und mittelständische Unter-nehmen und Forschungseinrichtungen, die häufig beineuen oder seltenen Erregern besonders schnell undinnovativ reagieren, nicht ausgegrenzt werden.Eine bessere Tiergesundheit ist im Interesse der ge-samten Gesellschaft. Zusammen mit der Novellierungdes Arzneimittelgesetzes schaffen wir beim Tierge-sundheitsgesetz gute rechtliche Grundlagen zur steti-gen Verbesserung der Tierhaltung. Vorbeugen stattheilen, impfen statt keulen, dies sind wichtige Grund-sätze nicht nur in der christlich-liberalen Koalition.Wir stärken die Tierhaltungsbetriebe, erleichtern dieHilfen über die Tierseuchenkassen und mindern denMedikamenteneinsatz. So können wir den kommendenHerausforderungen durch alte und neue Tierseuchengestärkt und energisch entgegenwirken.
Im Jahr 2012 trat eine neue Tierseuche mit großenSchäden vor allem in Schafbeständen auf. Als Ursachewurde später ein bislang völlig unbekanntes Virusidentifiziert, das nach dem ersten Ort benannt wurde,wo die Erkrankung auftrat: das Schmallenberg-Virus.Aber auch in den Jahren davor erkrankten Nutztierbe-stände an neuen oder bislang hier unbekannten Krank-heiten. Erinnert sei an die Blauzungenkrankheit beiSchafen und Ziegen oder das Blutschwitzen der Käl-ber. Das sogenannte Vogelgrippe-Virus verbreitetesich in einer bislang nicht gekannten Geschwindigkeitvon Asien bis nach Europa und löste eine Debatte überdas Risiko von Pandemien aus, also Infektionserkran-kungen, die sich ohne zeitliche und räumliche Be-schränkungen ausbreiten und damit besonders riskantsind. Es gibt auch Bestandserkrankungen, deren Ursa-che sehr lange ungeklärt bleiben, wie beim sogenann-ten chronischen Botulismus der Rinder.Fazit: Tiererkrankungen und Tierseuchen sind un-terdessen zu existenzbedrohenden Risikofaktoren fürLandwirtinnen und Landwirte geworden, ganz davonabgesehen, dass solche Situationen Bäuerinnen undBauern auch emotional stark belasten. Auch deshalbmuss das Thema Tiergesundheit in der Politik viel hö-here Priorität bekommen. Das gilt selbstverständlichauch für Kontrollbehörden und Tierärzteschaft. Ge-meinsam tragen wir die Verantwortung für gesundelandwirtschaftliche Nutztierbestände und ihren Schutzvor Erkrankungen und Tierseuchen. Dazu werdenauch tiergerechtere Haltungsbedingungen gebrauchtund eine integrierte tierärztliche Bestandsbetreuung.Das hat die Linksfraktion auch im Zuge der Diskus-sionen zur Novelle zum Arzneimittelgesetz und den zuRecht kritisierten hohen Antibiotikaverbrauch inDeutschland gefordert.Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler warnenseit langem vor steigenden Infektionsrisiken durch denglobalisierten Handel und Personenverkehr. Auch dieFolgen des Klimawandels tragen zu neuen Risiken bei,insbesondere wenn Infektionskrankheiten durch Insek-ten oder andere Vektoren übertragen werden. So habenunterdessen selbst die Afrikanische Pferdepest, Afri-can Horse Sickness, AHS, die Chikungunya-Infektion,die Afrikanische Schweinepest und das West-Nil-Virus,WNV, ein Gefährdungspotenzial für europäische Tier-bestände.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26913
Dr. Kirsten Tackmann
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Ein „Einfach weiter so“ kann es deshalb aus meinerSicht nicht geben. Die Agrarforschung, insbesonderedie epidemiologische Forschung, muss dringend ge-stärkt werden, um die Ausbruchs- und Verbreitungsri-siken besser zu kennen und Handlungskonzepte zu ih-rer Vermeidung bzw. zur Schadensbegrenzung zuentwickeln. Doch leider handeln seit vielen Jahren dieBundesregierungen aller Farbenspiele jenseits richtigRot entweder nicht oder genau entgegengesetzt. Ge-rade weil die Bedrohungen immer größer werden, for-dert die Linksfraktion ein epidemiologisches Zentrum,das sich mit den drängenden angewandten Fragestel-lungen befasst, die sich in den Tierhaltungsbetriebenstellen.Die Linksfraktion hat sich im Jahr 2012 intensiv mitder problematischen Tiererkrankungssituation be-schäftigt und einen eigenen Antrag dazu vorgelegt,Bundestagsdrucksache 17/9580. Immer häufiger sehensich tierhaltende Betriebe unverschuldet und unge-schützt mit bisher unbekannten oder zurückkehrendenInfektionsrisiken konfrontiert. Zusätzlich tragen hoheBestandsdichten in den Ställen und in einigen Regio-nen zum steigenden Tierseuchenrisiko bei, deren Folgedas Töten großer Bestände aus Gründen des Seuchen-und Verbraucherschutzes bedeuten kann. Klimawandelund Globalisierung erhöhen das Risiko von Tierseu-chen und -erkrankungen, die existenzgefährdend fürlandwirtschaftliche Betriebe sind. In solchen bedrohli-chen, aber kaum vermeidbaren oder zumindest nichtselbst verschuldeten Situationen greifen die bisher ver-fügbaren Regularien – staatliche Feststellung, Tier-seuchenkassen – nicht oder zu spät. Daher hält dieLinksfraktion einen Notfonds für tierhaltende Betriebefür dringend notwendig. Der Antrag wurde leider ab-gelehnt.Der heute vorliegende Entwurf eines Tiergesund-heitsgesetzes geht aus Sicht der Linksfraktion in dierichtige Richtung. Viele Forderungen der Tierärzte-schaft wurden in den Gesetzentwurf eingearbeitet. Dasist gut so. Die Kritikpunkte der Agrarwirtschaft solltenwir im Ausschuss diskutieren.Dem Ansatz der Vorbeugung wird im Tiergesund-heitsgesetz eine neue, ebenso wichtige Priorität gege-ben. Im bisherigen Tierseuchengesetz war dies nichtso. Das ist ein Fortschritt. Der Schutz der Menschenvor Zoonosen sollte allerdings auch im Gesetzeszweckfestgehalten werden, finde ich. Unverständlich ist, wa-rum die umfangreichen Änderungsvorschläge desBundesrates so wenig berücksichtigt werden. Das wirdim Agrarausschuss noch zu diskutieren sein. Für dieLinksfraktion geht es darum, weiterhin eine möglichsthohe Effektivität bei der Verhütung und Bekämpfungvon Tiererkrankungen zu sichern. Dabei sind auchTierhalterinnen und Tierhalter stärker in die Pflicht zunehmen. Sie haben direkten Einfluss auf ihre Tiere unddie Haltungsbedingungen. Gesunde Tierbestände sindein Gemeinschaftswerk.
Immer mehr lebende Tiere und tierische Produktewerden innerhalb der EU transportiert, und auch derHandel mit Drittländern nimmt stetig zu. Damit steigtauch die Gefahr der Übertragung von Tierseuchen.Das Tiergesundheitsgesetz – für mich eigentlich immernoch besser das Tierseuchengesetz – rückt die Präven-tion in den Mittelpunkt. Das ist richtig. Das wollen wirGrüne. Und auch die geplante Möglichkeit fürMonitoringprogramme sowie die ständige Impfkom-mission am Friedrich-Loeffler-Institut sind prinzipiellsinnvoll.Vor allem aber ist es richtig, „Impfen statt Töten“endlich zum Grundsatz zu erheben. Dafür haben wiruns bereits in einem fraktionsübergreifenden Antragim Bundestag ausgesprochen. Gleiches fordert nun derBundesrat in seiner Stellungnahme zum Tiergesund-heitsgesetz. Dem müssen wir folgen.Jeder von uns sieht noch die grauenvollen Bildervon Bergen in Großbritannien gekeulter, brennenderTiere mit Vogelgrippe oder Maul- und Klauenseuchevor sich. Dieses unnötige Töten Zighundert, TausenderTiere müssen wir verhindern. Bei vielen Tierkrank-heiten wird die Impfung längst als völlig selbstver-ständlich angesehen, auch bei lebensmittelerzeugen-den Tieren. Das muss, wo immer möglich, zumNormalfall werden. Und wir müssen überlegen, wiewir die in den Verordnungen festgelegten, oft übergro-ßen Sperrkreise, die um den Seuchenherd gezogenwerden, flexibler handhaben können.Bei aller Hygiene und Prävention müssen wir unsaber auch fragen: Wohin führt unsere Art der immerweiter industrialisierten tierischen Produktion?Längst ist bekannt, dass Regionen mit viel zu hohenTierdichten übermäßig anfällig sind für Tierseuchen.Damit gefährden sie auch Regionen mit vernünftigenViehdichten. Trotzdem geht der Aufwuchs an Ställen inden völlig überlasteten Regionen weiter. Alleine imKreis Vechta wurden in den letzten drei Jahren 3 Mil-lionen Tierplätze für Masthühnchen beantragt, unddas, obwohl Vechta bereits zu den viehdichtesten Re-gionen Deutschlands gehört. Betriebe mit mehrerenHunderttausenden Tieren stellen potenzielle Brand-herde für Tierseuchen dar.Trotz aller bekannten Fakten will die schwarz-gelbeBundesregierung nicht steuernd eingreifen oderwenigstens den Kommunen brauchbare Instrumentezur Steuerung von Tierfabriken an die Hand geben.Auch Tiertransporte verbreiten Tierkrankheiten.Trotzdem hat die Zahl der Tiertransporte in den letztenJahren immer weiter zugenommen. Innerhalb der EUnimmt Deutschland bei den Lebendtiertransporteneine wichtige Rolle ein: 70 Prozent der in der EUtransportierten Schweine gehen nach Deutschland.Viele Zehntausende lebende Schweine, die bis zumUral transportiert werden, führen dazu, dass jedelokale Epidemie zur globalen Gefahr wird. Es ist alsoZu Protokoll gegebene Reden
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26914 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Friedrich Ostendorff
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eine zweifelhafte Strategie, die die Bundesregierungbetreibt.Ebenso sieht es bei der Antibiotikaproblematik aus.Gerne wird betont, dass Schutzimpfungen auch dieGaben von Arzneimitteln, insbesondere Antibiotika,senken können. Das ist zwar richtig, aber auch hierignoriert die Bundesregierung beharrlich, dass vor al-lem die Haltungsbedingungen in der Nutztierhaltungverbessert werden müssen, wenn wir den Antibiotika-einsatz wirksam senken wollen.Tatsache ist: Tiere, die artgerecht mit ausreichendPlatz, Auslauf und artgerechtem Futter gehaltenwerden, sind widerstandsfähiger und gesünder. In bäu-erlichen Betrieben mit ein paar Hundert Tieren ist derTier-Mensch-Kontakt größer als in automatisiertenAnlagen mit Tausenden von Tieren, und Krankheitenwerden schneller erkannt. Tritt eine Tierseuche auf,kann sie sich nicht so rasch verbreiten wie in einerIntensivtierhaltung mit mehreren Hunderttausend Tie-ren.Das Tiergesundheitsgesetz kann daher nur ein Bau-stein in einer Strategie für gesunde Tierbestände sein.Wichtiger ist, dass wir die Haltungsbedingungengrundsätzlich ändern, unter dem Motto: Für eine neueHaltung.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/12032 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt
dazu, wie ich sehe, keine anderweitigen Vorschläge.
Dann haben wir die Überweisung so beschlossen.
Tagesordnungspunkt 26:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Verkehr, Bau und
Stadtentwicklung zu dem Antrag
der Abgeordneten Steffen Bilger, Peter Götz,
Armin Schuster , weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Werner Simmling, Birgit
Homburger, Ernst Burgbacher, weiterer Abgeord-
neter und der Fraktion der FDP
Projektbeiratsbeschluss bei der Rheintalbahn
umsetzen
– Drucksachen 17/11652, 17/11932 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Dr. Valerie Wilms
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Die Rheintalbahn ist eines der ganz besonderswichtigen deutschen Schienenprojekte – auch interna-tional gesehen: Immerhin gibt es bereits seit 1998 eineVereinbarung mit der Schweiz darüber; dazu führt dieStrecke von Rotterdam bis nach Genua über diesen Ab-schnitt. Es war und ist in unseren Beratungen immerunstrittig gewesen: Besondere Projekte verdienen be-sondere Behandlung. Für dieses Verständnis bin ichallen Kollegen sehr dankbar. Nicht zuletzt deshalb gibtes jetzt bereits den zweiten Antrag der Koalitionsfrak-tionen zur Rheintalbahn in dieser Wahlperiode. An derUmsetzung dieses Bahnvorhabens sind die Bürgerin-nen und Bürger vor Ort maßgeblich beteiligt. Ich binfroh darüber, wie konstruktiv die Anwohner sich inBürgerinitiativen oder über ihre kommunalen Vertretereinbringen. Dafür möchte ich mich an erster Stelleganz herzlich bedanken.Die berechtigten Anliegen der Anwohner und derenEngagement für die Umsetzung der Rheintalbahn ver-dienen und erhalten unsere Unterstützung aus derPolitik. Auch deshalb haben CDU/CSU und FDP die-sen Antrag eingebracht. Mit der Verabschiedung desAntrags machen wir den Weg frei dafür, dass das Bun-desverkehrsministerium die im Projektbeirat bespro-chenen Mehrkosten für den Bund umsetzen kann. Dazuhaben wir diesen Antrag schnell – und im Einverneh-men mit der Opposition – durch die parlamentarischenGremien gebracht. So herrscht nun für alle BeteiligtenKlarheit.Viele haben daran gezweifelt, dass die Rheintalbahntatsächlich Modellprojekt für die Abschaffung desSchienenbonus werden wird, ja sogar daran, dass derSchienenbonus insgesamt abgeschafft wird und dassdie Mehrkosten für den menschen- sowie umwelt-verträglichen Ausbau der Rheintalbahn wirklich vonBund und Land übernommen werden. Aber der Bundhat geliefert. Die christlich-liberale Koalition steht zuihren Zusagen und hat sie umgesetzt. Der sogenannteSchienenbonus wurde im letzten Jahr abgeschafft. Nunist auch gesetzlich klar: Lärm ist Lärm, es gibt keinenUnterschied mehr zwischen gutem oder schlechtem.Die bereits beschlossenen und angekündigten Verbes-serungen sind auch ein Erfolg der Region für die Re-gion. Hieran haben einen maßgeblichen Anteil dieBürgerinitiativen entlang der Rheintalbahn. Mit ihrerRückendeckung haben sich in Berlin meine Kollegenvor Ort eingesetzt. Stellvertretend möchte ich hier vorallem Armin Schuster und Peter Weiß erwähnen. Da-neben waren es viele andere Kollegen aus der CDU-Landesgruppe Baden-Württemberg und die Verkehrs-politiker der Koalition. Dieser geballte Einsatz machteden Erfolg möglich. Vielen Dank auch an dieser Stellefür die gute Zusammenarbeit.Durch dieses gemeinsame Vorgehen konnten drin-gend notwendige Nachbesserungen in Weil am Rheinund Eimeldingen erreicht werden. Nach der Optimie-rung des kürzlich fertiggestellten Katzenbergtunnels er-folgt jetzt die Umsetzung der Kernforderungen 3 und 4,auf die mein Kollege Ulrich Lange in seinem Beitragim Detail eingehen wird, wobei der die Gemeinde Rie-gel betreffende Bereich nochmals gesondert betrachtetwerden soll.Doch nun zum Katzenbergtunnel. Er ist der längstezweiröhrige Tunnel im deutschen Netz, und Bundes-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26915
Steffen Bilger
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verkehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat diesen per-sönlich im letzten Dezember in Betrieb genommen. Andieser Stelle gilt mein Dank auch ihm und seinem Haus– besonders den Staatssekretären Professor Klaus-Dieter Scheurle und Michael Odenwald – für die großeUnterstützung bei der Rheintalbahn. StaatssekretärOdenwald wird übrigens am kommenden Montag dieRegion bereisen, um mit den betroffenen Städten, Ge-meinden und Bürgermeistern zu sprechen. Dankbarbin ich auch für die kooperative Haltung der Deut-schen Bahn AG.Bei den besprochenen Nachbesserungen gegenüberder ursprünglichen Planung bei der Rheintalbahn warimmer klar, dass sich Bund und das Land Baden-Württemberg die Kosten je zur Hälfte teilen. Nur durchdieses gemeinsame Vorgehen konnte dieser Erfolg er-reicht werden. So war es mit der CDU-Landesregie-rung abgesprochen gewesen, und so waren die Signaleder grün-geführten Nachfolgeregierung – und so siehtes der einstimmige Landtagsbeschluss vom 8. De-zember 2011 ebenfalls vor. Nun bin ich mit meinenUnionskollegen etwas irritiert darüber, dass sich dieBegeisterung über diesen Landtagsbeschluss bei Mi-nisterpräsident Kretschmann offensichtlich in Grenzenhält. Zumindest war der Presse zu entnehmen, dass ersich beim Bürgerempfang in Heitersheim dahin ge-hend äußerte, „nicht glücklich“ über die Kofinanzie-rung zu sein. Was heißt das für die kommenden Ab-schnitte? Sollte ein Kompromiss am fehlendenEngagement des Landes scheitern, so wissen wir be-reits, an wen sich die Bürger wenden müssen – dasLand Baden-Württemberg und seine Regierung. Dasübliche Spielchen von Herrn Kretschmann, immer nurnach einer Finanzierung durch den Bund zu rufen, istein Offenbarungseid seiner Politik, wie wir es auch beiFragen der Bildung, Betreuung, Energiepolitik undfast in jedem anderen Bereich erleben. Wir werdenHerrn Kretschmann jedenfalls an den Landtagsbe-schluss erinnern, wenn er nichts mehr davon wissenwill.Es ist schließlich noch viel zu tun. Eine Lösung fürOffenburg muss noch genauso her wie für den Ab-schnitt zwischen Offenburg und Freiburg und für dieniveaufreie Verknüpfung bei Buggingen. Bedauerlicher-weise bekommen die Kollegen im Stuttgarter Landtagkeine vernünftigen Antworten, wie sich die Landes-regierung hier verhalten will. Das Verhalten der Lan-desregierung ist umso merkwürdiger, da es immer dieGrünen im Bundestag gewesen waren, die am lautes-ten eine Mitfinanzierung des Landes gefordert haben.Nun, da Landesverkehrsminister Winfried Hermannnicht mehr Oppositionspolitiker im Bundestag, son-dern Regierungspolitiker im Land ist, zeigt sich malwieder: Das Sein bestimmt das Bewusstsein. Sprich:Regieren ist schwerer als opponieren. Die Koalitionmit unserer Mehrheit im Bundestag und die von unsgetragene Bundesregierung jedenfalls stehen weiter-hin zu ihren Zusagen, um die Menschen entlang derRheintalbahn bestmöglich bei ihren berechtigten For-derungen zu unterstützen.Ein schönes Zeichen für die Anwohner war zumin-dest schon einmal, dass der federführende Ausschussdes Deutschen Bundestages, der für Verkehr, Bau undStadtentwicklung, in seiner Sitzung am 12. Dezember2012 einstimmig dem vorliegenden Antrag der Regie-rungsfraktionen zugestimmt hat. Die Ausschüsse fürHaushalt und Tourismus haben sich ebenso verhalten.Merkwürdigerweise haben sich im FinanzausschussSPD und Grüne enthalten sowie in den Ausschüssenfür Wirtschaft und Umwelt die Grünen. Ich hoffe undwerbe dafür, dass der Deutsche Bundestag sich demVotum des federführenden Verkehrsausschusses an-schließt und einstimmig unserem CDU/CSU-FDP-An-trag zustimmt.
Wir sind uns alle darin einig, dass wir mehr Güterauf die Schiene bringen wollen. Damit wollen wir aufder einen Seite unser Straßennetz entlasten, gleichzei-tig aber auch den CO2-Ausstoß reduzieren.Die Ausbau- und Neubaustrecke Karlsruhe–Baselist Bestandteil des wichtigsten europäischen Güter-korridors Rotterdam–Köln–Basel–Mailand–Genua.Die Verkehrsachse zwischen den holländischen Häfenund dem Mittelmeer zählt zu den durch die EU-Verkehrspolitik als vorrangig eingestuften transeuro-päischen Netzen, TEN, die mit modernster TechnologieEuropa näher zusammenbringen sollen.Die genannte Strecke ist der wichtigste nördlicheZulauf zur Neuen Eisenbahn-Alpentransversale,NEAT, mit ihren zentralen Projekten Gotthard- undLötschberg-Basistunnel. Mit der Fertigstellung derNEAT in der Schweiz wird die Strecke zu einem derwichtigsten Schienenstränge in Europa, der überMailand bis nach Genua führt. Die Realisierung derleistungsfähigen Alpenquerung schafft die Vorausset-zungen, um im Eisenbahnverkehr zwischen derSchweiz und Deutschland den Schwerlastverkehr vonder Straße auf die Schiene zu verlagern.Die Aus- und Neubaustrecke Karlsruhe–Basel istdamit auch eines der wichtigsten Verkehrsinfrastruk-turprojekte des Bundes. Die 182 Kilometer langeStrecke gehört zu den am stärksten befahrenen Magis-tralen im Netz der Bahn. Die Fertigstellung der Aus-und Neubaumaßnahme ist für 2020 geplant.Wir sind uns natürlich auch darüber im Klaren,dass dieser Ausbau zu einer Zunahme des Schienen-lärms führen wird. Für 2025 werden bis zu 335 Güter-züge täglich auf der Strecke prognostiziert. Aus diesemGrund wurden viele Bürgerinitiativen gegen den Baugegründet. Um zu einer einvernehmlichen Lösung zukommen, wurden die Bürgerinnen und Bürger bei denPlanungen einbezogen. Hierzu wurde am 5. September2009 der sogenannte Projektbeirat gegründet. Im Pro-jektbeirat sitzen neben Vertretern der Bundesregie-rung, der Deutschen Bahn AG, der Landesregierungund Landkreise auch Mitglieder der IG BOHR, demZu Protokoll gegebene Reden
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26916 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Ulrich Lange
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Dachverband der Bürgerinitiativen entlang derRheintalbahn.Im Projektbeirat einigte man sich darauf, dasszusätzlich zu den geplanten Schutzmaßnahmen imZuge der Ausbaumaßnahmen weitere Investitionen, dieüber das gesetzlich erforderliche Maß hinausgehen,durchgeführt werden sollen.Die letzte Sitzung des Projektbeirates fand am5. März 2012 statt. Schwerpunktthemen waren die so-genannten Kernforderungen 3 und 4, die Güterumfah-rung Freiburg sowie die Bürgertrasse. Im Rahmen derGüterumfahrung Freiburg ist die Realisierung vonEinhausungen und Galerien sowie von zusätzlichenSchall- und Habitatschutzwänden in einer Größenord-nung von maximal 84 Millionen Euro beschlossenworden.Die weitere Kernforderung betrifft im Bereich derBürgertrasse im Markgräflerland die Realisierung ei-ner ebenerdig geplanten Antragstrasse in Tieflagedurch Trogbauwerke und steil geböschte Polsterwändemit Überführungen als Landschaftsbrücken sowie ei-ner, soweit rechtlich möglich, westlichen UmfahrungBuggingen mit einem Kostenaufwand von maximal166 Millionen Euro.Bund und Land Baden-Württemberg haben sich beider Finanzierung von zusätzlich maximal 250 Millio-nen Euro darauf geeinigt, die Kosten jeweils zur Hälftezu tragen.Abschließend möchte ich noch betonen, dass dieBildung des Projektbeirates ein sehr gutes Beispiel fürdie Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an Ver-kehrsprojekten ist. Den gewachsenen Ansprüchennach mehr Teilhabe an Infrastrukturentscheidungenwurde ausgezeichnet nachgekommen. Es führt zu einerAkzeptanzverbesserung bei den kommenden vor unsliegenden Infrastrukturmaßnahmen. Ein Danke andieser Stelle an unseren BundesverkehrsministerDr. Peter Ramsauer, der sich die größere Bürgerbetei-ligung auf die Fahnen geschrieben hat!
Großprojekte müssen nicht aus dem Ruder laufen,es geht auch anders. Ein positives Beispiel ist der Aus-bau der Rheintalbahn. Dank mehr Bürgerbeteiligungund einer Politik des Zuhörens wird es transparenterund sachorientierter. Dank auch den Menschen vorOrt in Südbaden: Seit Jahren begleiten sie konstruktivden viergleisigen Ausbau von Karlsruhe bis Basel. Siehaben sich sachkundig gemacht, Gespräche mit Politi-kern und Verantwortlichen geführt und Überzeugungs-arbeit geleistet. Mit großem Engagement und Sach-verstand wurden Vorschläge gemacht und das Konzept„Baden 21“ erarbeitet.Wenn die Bahn und die Politik auf Landes- undBundesebene diesen Weg weiter verfolgen, kann derAusbau der Rheintalbahn eine Geschichte erfolgrei-cher Bürgerbeteiligung werden, ein Beispiel aktiverZivilgesellschaft: Bürgerinnen und Bürger, Vertretervon Kommunen entlang der Bahnstrecke, Bürgerinitia-tiven wie die Interessengemeinschaft Bahnprotest anOber- und Hochrhein „IG BOHR“ Gemeinderäte,Stadträte und Bürgermeister wie zum Beispiel ausLahr, Kenzingen, Herbolzheim, Riegel, Hohberg,Ettenheim, Kappel-Grafenhausen und Meißenheim,die Anfang März 2012 nach Berlin gereist sind, um mitMitgliedern des Verkehrsausschusses zu diskutieren.Alle setzen sich über Parteigrenzen hinweg ein für ihrAnliegen, für ihre Region. Sie wollen mitreden, habeneigene Ideen. Die Menschen im Südwesten stehen zueinem menschen- und umweltverträglichen Ausbauder Rheintalbahn. Sie bekennen sich zur Verlagerungder Güter von der Straße auf die Schiene und unter-stützen den Ausbau der Schiene. Das ist wichtig.Nur der viergleisige Ausbau verhindert denVerkehrskollaps entlang der Rheinschiene. Nur mitmehr Kapazitäten auf der Schiene wird eine Verkehrs-verlagerung von der Straße auf die Schiene erreicht.Nur so gibt es eine Entlastung auf den Straßen inBaden-Württemberg und somit weniger Staus undAbgase. Dies steht im Einklang mit der EU-Verkehrs-politik, mehr Güterverkehr auf die Schiene zu verla-gern. Der Neu- und Ausbau der Rheintalbahn für denGüterverkehr ist nicht nur für Baden-Württemberg vonzentraler Bedeutung, sondern auch für Deutschlandund unsere europäischen Nachbarn. Mehr Güter vonder Straße auf die Schiene zu bringen, ist so möglich.Und Deutschland ist in der Pflicht gegenüber derSchweiz. Die Bundesregierung muss den Vertrag vonLugano 1996 umsetzen. Sie hat sich verpflichtet, dieRheintalstrecke zwischen Karlsruhe und Basel alsZulaufstrecke zu den NEAT-Tunneln, Neue Eisenbahn-Alpentransversale, Gotthard und Lötschberg vierglei-sig auszubauen.Wir, die SPD auf kommunaler, Landes- und Bundes-ebene, unterstützen die alternative Trassenführung„Baden 21“, ein Konzept, das Kommunen und die IGBOHR entwickelt haben, eine Alternativplanung, dieüber 90 Kilometer von Offenburg bis südlich vonBuggingen im Markgräflerland reicht, eine Alternativ-planung, die von den Menschen selbst erarbeitetwurde, die akzeptiert wird am Oberrhein, wovon ichmich selbst bei zahlreichen Terminen vor Ort, bei vie-len Gesprächen überzeugen konnte. „Baden 21“bedeutet ein Güterzugtunnel durch Offenburg; eineautobahnparallele Trasse von Offenburg bis Riegel,die Lärm meidet und Ackerland schont; Mittel- undTeiltieflagen mit lokal verstärkten Lärmschutzmaß-nahmen von Riegel bis Mengen; eine teilgedeckelteTieflage von Mengen bis südlich Buggingen.Beim Ausbau der Rheintalbahn werden bei derPlanung neue Wege gegangen. Im Juli 2009 wurde inder Großen Koalition von BundesverkehrsministerTiefensee der Projektbeirat Rheintalbahn ins Lebengerufen. Darin diskutieren Vertreterinnen und Vertre-ter der Deutschen Bahn AG, der Bundes- und derLandesregierung, Landräte, Bürgermeister und Mit-glieder der Bürgerinitiativen. Gemeinsam führen derZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26917
Ute Kumpf
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Bund und das Land Baden-Württemberg den Vorsitz.Der Projektbeirat bewertet noch vor dem jeweiligenPlanfeststellungsbeschluss die vorgeschlagenen Vari-anten, schlägt alternative Lösungen vor und lässt Ver-besserungen zum Beispiel zum Lärmschutz einfließen.Für viele Streckenabschnitte zwischen Karlsruhe undBasel wurden bereits Lösungen gefunden, bei manchenmussten Kompromisse gemacht werden, bei manchenwird noch verhandelt. Der Projektbeirat Rheintalbahnist ein gelungenes Beispiel für Beteiligung, einBeispiel wie Konflikte im Vorfeld geklärt werden kön-nen, ein Beispiel, wie Bürgerinnen und Bürger in diePlanungen einbezogen werden und ein Projekt gesell-schaftlich akzeptiert und mitgetragen wird.Bürgerbeteiligung ist für die SPD kein Modethema.Willy Brandt hat seine 1. Regierungserklärung 1969unter das Motto gestellt: „Mehr Demokratie wagen“.Beteiligungsformen müssen daher künftig so gestaltetsein, dass sie möglichst vielen Menschen die Teil-nahme ermöglichen. Dies bedeutet einen grundlegen-den Wechsel in der Planungskultur: Transparenz stattDiskussionen hinter verschlossenen Türen, eineumfassende Öffnung der Planungsverfahren und einneues, auf Dialog ausgerichtetes Selbstverständnisvon Politikern und Verwaltungen. Informationen müs-sen rechtzeitig offengelegt, Verfahren und Planungenverständlich gemacht, die Öffentlichkeit frühzeitig undumfassend eingebunden, die Anliegen, Ideen undBedenken von Betroffenen vor Ort ernst genommenwerden. Verfahren müssen gestrafft und zusammen-gelegt, Bürgerbeteiligung durch Bürgeranwälte ein-geführt sowie die Informationspflichten von Verwal-tung und Vorhabenträger ausgebaut und verbindlicheStandards bei den Verfahren festgelegt werden.Allein kosmetische Änderungen sind zu wenig, eingrundlegend neuer Politikansatz ist notwendig. Betei-ligung ist nicht Mittel zum Zweck, um nachträglichAkzeptanz zu schaffen für Beschlüsse, die vorher unterAusschluss der Öffentlichkeit gefasst worden sind. DieBürgerinnen und Bürger müssen von Anfang an mit-genommen werden, nicht erst wenn die wesentlichenEntscheidungen gefallen sind. Vor allem kann man esBehörden und öffentlichen Planungsträgern nicht frei-stellen, ob sie die Bürgerinnen und Bürger beteiligenwollen oder nicht. Manche befürchten, dass der Bauneuer Großprojekte dann noch länger braucht alsbisher. Das Gegenteil ist richtig: Planungs- und Um-setzungszeiten lassen sich gerade für umstrittene Pro-jekte am besten dadurch verkürzen, dass frühzeitig alleeingebunden werden und Transparenz hergestellt wird.Wir, die SPD-Bundestagsfraktion, teilen die Forde-rung, beim Ausbau der Rheintalbahn Karlsruhe–Baselim Abschnitt von Kilometer 187,8 – Gemeinde Tenin-gen – bis Kilometer 235,5 – Gemeinde Hügelheim –der Planfeststellungsabschnitte 8.1 Riegel–March,8.2 Freiburg–Schallstadt, 8.3 Bad Krozingen–Heiters-heim und 9.0 a Buggingen–Müllheim die Maßnahmender Kernforderungen 3 und 4 entsprechend den Fest-legungen zwischen Bund und dem Land Baden-Württemberg als expliziten Teil des Bedarfsplan-vorhabens umzusetzen.Wir stimmen dem Antrag „Projektbeiratsbeschlussbei der Rheintalbahn umsetzen“ zu und begleiten denAusbau der Rheintalbahn weiterhin konstruktiv. DerAusbau der Rheintalbahn muss Modell für Bürger-beteiligung, Lärm- und Landschaftsschutz werden.
Die Rheintalbahnstrecke ist eine der wichtigstenAusbaumaßnahmen der Schieneninfrastruktur derBundesrepublik. Seit 25 Jahren steht der Ausbau derRheintalbahn auf der Agenda des Bundesverkehrsmi-nisteriums. Anfangs ging es darum, den Personenzug-verkehr zu beschleunigen. Aber als die Schweiz in den90er-Jahren den Bau der Neuen Alpentransversale,NEAT, beschloss, bekam der Ausbau der Rheintal-strecke eine neue Dimension. Als nördlicher NEAT-Zubringer ist sie Teil der wichtigsten europäischenTransitstrecke für Güterverkehr, die die Häfen vonGenua und Rotterdam miteinander verbindet. DieSchweiz und Deutschland schlossen im Jahr 1996 ei-nen Staatsvertrag, in dem sie sich verpflichten, „dengrenzüberschreitenden Eisenbahnpersonen- und -güter-verkehr zwischen der Schweiz und der BundesrepublikDeutschland durch aufeinander abgestimmte Maßnah-men der Schieneninfrastruktur in seiner Leistungsfähig-keit zu sichern“. Doch während der Bau der NEAT zügigvoranschritt und der Gotthard-Basistunnel voraussicht-lich schon vor dem anvisierten Termin im Jahr 2017fertiggestellt sein wird, verzögerte sich der Ausbau aufdeutscher Seite immer wieder. Gründe sind Finanzie-rungsengpässe, aber auch Proteste seitens der An-wohner. Denn die gesellschaftliche Akzeptanz desSchienenverkehrs ist geringer geworden, und das ausverständlichen Gründen. Es geht hier vor allem zum ei-nen um den sensiblen Eingriff in die Landschaft. Zum an-deren ist der Lärm von Güter- und Personenzügen fürAnwohner an Gleisstrecken schwer zu ertragen. Undperspektivisch wird dieser Lärm speziell an der Rhein-talbahn nicht abnehmen, sondern stetig zunehmen. Ins-besondere für die geplante viergleisige Strecke Karls-ruhe–Basel wird die höchste Belastung durch denGüterzugverkehr im gesamten deutschen Güterverkehrerwartet. Für das Jahr 2025 sind Zugzahlen von bis zu490 pro Tag prognostiziert – alle drei Minuten ein Zug.Auf diese Entwicklung gehen wir mit dem vorliegendenAntrag ein und bekräftigen so auch noch einmal unserVorhaben der Reduzierung von Lärmimmissionen beimwichtigen Ausbau der Rheintalbahn.Im Zuge dessen konnten im Projektbeirat durch diekonstruktive Zusammenarbeit von Bund, Land, derBahn, regionalen Vertretern und der Bürgerinitiativenam 5. März 2012 Beschlüsse gefasst werden, welchenwir mit diesem Antrag entsprechen wollen. Denn nurdann erhalten die betroffenen Anwohner den Lärm-schutz, der ihnen nach den Verhandlungen im Projekt-beirat zusteht. Somit werden den Kernforderungen3 und 4 Rechnung getragen. Das bedeutet, dass manZu Protokoll gegebene Reden
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26918 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Werner Simmling
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sich bei der Güterumfahrung Freiburg für die Reali-sierung von Einhausungen und Galerien sowie für zu-sätzliche Schall- und Habitatschutzwände ausgespro-chen hat. Hier werden konkret Kosten in Höhe von84 Millionen Euro angesetzt.Bei der Bürgertrasse im Markgräflerland soll dieRealisierung der ebenerdig geplanten Antragstrasse inTieflage durch Trogbauwerke und steil geböschte Pols-terwände mit Überführungen als Landschaftsbrückensowie einer – soweit rechtlich möglich – westlichenUmfahrung Buggingen erfolgen. Hier werden Kostenvon maximal 166 Millionen Euro erwartet. Die Ge-samtkosten belaufen sich auf 250 Millionen. Das LandBaden-Württemberg hat am 8. Dezember 2011 be-schlossen, dass die Landesregierung sich mit bis zu50 Prozent an den Mehrkosten, die über das gesetz-liche Erfordernis hinausgehen, an der Rheintalbahnzur Sicherstellung eines menschen- und umweltgerech-ten Ausbaus beteiligt. Für diese Entscheidung bin ichdankbar, vor allem, dass wir uns über alle Frak-tionsgrenzen hinweg einig sind und so den Ausbau derRheintalbahn unter weitgehendem Schutz der Bevölke-rung voranbringen.
Die Linke begrüßt die politische Umsetzung der Be-schlüsse des Projektbeirats bei der Rheintalbahn. InAbsprache mit unseren Gesprächspartnern in der Re-gion können wir dem vorliegenden Koalitionsantragzustimmen.Mit dem heute gefassten Beschluss des Bundestagesverbinden wir aber auch die Erwartung, dass weitereKernforderungen der Interessengemeinschaft Bahn-protest an Ober- und Hochrhein ebenso ernst genom-men werden. Der Projektbeirat hat bisher eine her-vorragende Arbeit geleistet und entscheidend zurBeseitigung der Konflikte zwischen Bahn und Bevölke-rung vor Ort beigetragen.Eine weitere positive Begleitung durch den Bundes-tag, mit entsprechenden Beschlüssen, wäre ein Anlie-gen der gesamten Region am südlichen Oberrhein undkann helfen, weitere Verzögerungen bei diesem sowichtigen Projekt zu verhindern.Uns ist klar, dass insbesondere durch die Kernforde-rung einer zweigleisigen Tunnelröhre im Raum Offen-burg mit zusätzlichen Kosten zu rechnen ist. Wer dieLage Offenburgs aber kennt und wem die enorme Be-deutung der Rheintalbahn bewusst ist, der muss dieseForderung ernst nehmen. Den oft in diesem Zusam-menhang verwendeten Begriff „Mehrkosten“ halte ichzudem für irreführend. Es handelt sich vielmehr umRealkosten; denn die tatsächlichen Erfordernisse derRegion wurden bisher nur unzureichend berücksich-tigt.Angesichts stetiger Baupreissteigerungen fordernwir die Projektbeteiligten auf, für das ganze Projekteine transparente Kostenplanung vorzunehmen. Not-wendige Mittel in Höhe der zu erwartenden Baupreis-steigerungen sind vorzuhalten und etwaige Risiken be-reits jetzt zu berücksichtigen. Die sicher zu erwartendeProjektteuerung bis zur Fertigstellung darf nicht dazuführen, dass die heute bewilligten Mehrkosten von166 Millionen Euro zu einer Kürzung der Bauleistun-gen führen. Auf ein Desaster wie bei Stuttgart 21 unddem neuen Berliner Flughafen kann und will die Re-gion gut und gerne verzichten. Die Kostenübernahmedurch Bund und Land muss sofort durch klare Be-schlüsse geklärt werden.Sosehr wir es begrüßen, dass hier am Oberrheinauch der Schienenbonus für die überarbeiteten Pla-nungen nicht mehr angewendet werden soll, so sehrbedauern wir, dass dies nur hier und nicht bundesweitjetzt schon erfolgen soll. Andernorts besteht ebenfallsder verständliche Wunsch, den Schienenbonus sofortzu streichen. Hier war die Koalition bestenfalls halb-herzig. Immerhin ist das Land Baden-Württemberg be-reit, die Mehrkosten, die ein besserer Lärmschutz be-dingt, zu tragen. Aber das darf nur die Ausnahme sein;denn Lärmschutz nach Kassenlage ist keine Lösung.Wie man am Beispiel des Oberrheintals sieht, wird derSchienengüterverkehr nur dann akzeptiert, wenn allesfür den Lärmschutz der Anwohnerinnen und AnwohnerNotwendige getan wird. Daran hapert es bei den meis-ten Schienen- und Straßenbauprojekten leider nochganz erheblich.An dieser Stelle möchten wir als Linke noch einmalfesthalten, dass ein guter Lärmschutz an der Rheintal-bahn auch mit einer klugen Streckennutzung zu tunhat. Unseres Erachtens darf es nicht sein, dass derNeubau im Wesentlichen dem schnellen Fernverkehrvorbehalten sein soll. Die Strecke muss auch dazu ge-nutzt werden, laute sowie gefährliche Güterverkehreaus den Ortschaften herauszubekommen. Denn auchmit dem vorliegenden Antrag sind Entlastungen derdurch die Orte verlaufenden Altstrecke nicht zu erwar-ten. Die von der DB gewünschte Verkürzung der Reise-zeiten zwischen Karlsruhe und Basel ordnen wir die-sem Ziel nach. Auch eine optimale Nutzung dergesamten Strecke für den regionalen Bahnverkehrsollte Vorrang haben.Das unmissverständliche Signal muss sein, nicht zufeilschen, sondern fertig zu werden. Das ProjektRheintalbahn soll endlich im Einvernehmen mit denMenschen in der Region umgesetzt werden, damit esnicht am Ende heißt, die Planungs- und Bauzeit warlänger als die prognostizierte Nutzungsdauer derneuen Rheintalbahn von circa 100 Jahren.Mit dem Wechsel der Landesregierung, aber auchim Zusammenhang mit den bevorstehenden Bundes-tagswahlen ist nun die Bewegung in das Projekt ge-kommen, die sich die Menschen in der Region seit Jah-ren gewünscht haben und für die sie zu Tausenden aufdie Straße gegangen sind. Für die Linke ist klar, dasssich die Zehntausenden Stunden ehrenamtliche Arbeitin den Initiativen vor Ort jetzt auszahlen und auch alseine Investition in die Zukunft verstanden werden soll-ten.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26919
Karin Binder
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Großprojekte dieser Dimension müssen immer zu-sammen mit den Menschen vor Ort entwickelt werden,müssen sich den räumlichen, sozialen und ökologi-schen Interessen einer Region fügen – von Anfang anund nicht erst dann, wenn der Widerstand in einer Re-gion zu groß wird. Zudem muss von Anfang an kosten-transparent und ehrlich geplant werden. Wenn sich mitdem heutigen Beschluss auch diese Erkenntnis im Bun-destag durchsetzt, sind wir endlich auch grundsätzlicheinen wichtigen Schritt weitergekommen – nicht nuram Oberrhein.
Eines unserer wichtigsten verkehrspolitischen Zieleist eine stärkere Verlagerung des Güterverkehrs aufdie Schiene. Nicht nur aus umweltpoltischen, sondernauch aus verkehrspolitischen Zwängen müssen wirumdenken, weg vom Gütertransport auf der Straße,denn unsere Straßeninfrastruktur ist nicht beliebig er-weiter- und finanzierbar, wie uns ja auch Herr Minis-ter Ramsauer mittlerweile täglich in den Medien er-läutert. Gut, dass diese Erkenntnis damit auch bei derUnion angekommen ist.Der zügige Ausbau der Rheintalbahn, darin bestehtbei uns allen Einigkeit, zählt zu den wichtigsten Schie-neninfrastrukturprojekten in der BundesrepublikDeutschland. Die herausragende Bedeutung derRheintalschiene im Hinblick auf den europäischen Gü-terverkehrskorridor wird durch unsere Pflichten ausdem Staatsvertrag mit der Schweiz zusätzlich betont.Deshalb ist es wirklich erfreulich, dass es nun auch derKoalition endlich gelungen ist, einen Antrag vorzule-gen, der die Bedeutung des Projekts aufgreift und dieBeschlüsse des Projektbeirates vom März des vergan-genen Jahres unterstützt. Die fraktionsübergreifendeZustimmung für die Forderungen des Antrages ist da-her richtig, sie ist wichtig und sie setzt ein deutlichesSignal an die lärmbetroffenen Bürgerinnen und Bürgerder Region. Das heißt aber nicht, dass sich das Parla-ment auf dem bisher Erreichten ausruhen und die Au-gen vor den noch vielen offen Fragen und Problemenbeim lärmarmen Ausbau der Rheintalbahn verschlie-ßen darf.Der Durchbruch bei der Optimierung der Güter-zugumfahrung Freiburg und der Bürgertrasse imMarkgräflerland, also den Kernforderungen 3 und 4der Region, konnte im Wesentlichen aus zwei Gründenerreicht werden. Zum Ersten ist das Engagement dervielen Bürgerinnen und Bürger in den Initiativen andieser Stelle zu nennen. Gerade die Beteiligung zu ei-nem frühen Zeitpunkt unterscheidet dieses Projekt vonStuttgart 21, wo erst in äußerster Not eine ArtSchlichtung versucht wurde, aber viel zu spät, nämlichnachdem alle entscheidenden Planfestlegungen bereitserfolgt und die wesentlichen Finanzierungsvereinba-rungen getroffen waren. Stuttgart 21 zeigt, wie notwen-dig, die Rheintalbahn zeigt, wie sinnvoll und erfolg-reich es sein kann, wenn betroffene Bürgerinnen undBürger rechtzeitig eine umfassende Mitsprache bei derRealisierung von Großprojekten einfordern und be-kommen.Und zum Zweiten, weil sich das Land Baden-Würt-temberg bereit erklärt hat, einen Teil der Mehrkostenfür einen angemessenen Lärm- und Landschaftsschutzzu zahlen, und somit das Land an dieser Stelle Verant-wortung für seine Bürgerinnen und Bürger übernom-men hat. Langfristig kann es aber sicher nicht die Auf-gabe der Bundesländer sein, die Kosten für einenmenschenverträglichen Ausbau der Bundesschienen-wege zu übernehmen, denn hier ist und bleibt der Bundin der Pflicht.Ja, Lärmschutz kostet Geld, und ja, unsere finan-ziellen Mittel sind begrenzt. Daher muss es endlicheine Konzentration auf die wichtigen Verkehrsprojektewie den Ausbau der Rheintalbahn geben. Es kann dochnicht sein, dass wir ständig über fehlende Finanzenklagen und gleichzeitig zusehen, wie die Kosten fürden überflüssigen und wahnsinnig teuren Tiefbahnhofin Stuttgart exorbitant, nämlich in mehrfacher Milliar-denhöhe aus dem Ruder laufen und wirklich notwen-dige Infrastrukturprojekte deshalb bis zum Sankt-Nim-merleins-Tag verschoben werden. Hier müssen Wortenauch Taten folgen, statt weiter an teuren Prestigeob-jekten mit unkalkulierbarem Ausgang festzuhalten,ganz abgesehen davon, dass die Bahn ganz offenbarnicht einmal in der Lage zu sein scheint, das ProjektStuttgart 21 ordnungsgemäß, sicher und im avisiertenZeitraum durchzuführen.Die vom Projektbeirat für die Rheintalbahn be-schlossenen Lösungen für die Kernforderungen 3 und4 dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass nach wievor wichtige Punkte im nördlichen Verlauf der Trasseungeklärt sind. Insbesondere die sogenannten Kern-forderungen 1 und 2, also die Untertunnelung in Of-fenburg und der Trassenverlauf südlich davon. Dennhier ist der Lärmschutz für die betroffenen Anwohne-rinnen und Anwohner bislang nicht annähernd befrie-digend gewährleistet. Hier ist eine offene Prüfung not-wendig, um die wirklich beste Lösung für Mensch undNatur zu finden. Jede der denkbaren Trassen betrifftökologisch höchst wertvolle und sensible Gebiete,auch Natura-2000-Flächen, deren Schutzbedürfnissenicht hintanstehen dürfen. Denn der Schutz der ökolo-gischen Lebensgrundlagen ist auch ein Schutz derMenschen. Gerade deshalb ist darauf zu achten, dassdie Naturschutzbelange objektiv bewertet werden. Esdürfen nicht die vom Vorhabenträger bisher ungewoll-ten Trassenvarianten mit fiktiv hohen Kosten für dieBewältigung der Naturschutzbelange künstlich hoch-gerechnet und damit verhindert werden.Der Projektbeirat steht hier vor weiteren Heraus-forderungen. Wir erwarten an dieser Stelle von derBundesregierung, dass sie sich weiterhin ernsthaft imProjektbeirat für gute und vor allem lärmarme Lösun-gen für die betroffenen Anwohnerinnen und Anwohnereinsetzt. Denn nur mit wirksamen Lärmschutzmaßnah-men werden wir die allgemeine Akzeptanz der Bevöl-Zu Protokoll gegebene Reden
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26920 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Harald Ebner
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kerung für den Ausbau der Rheintalbahn und auch an-derer Schieneninfrastrukturprojekte erhalten können.Eine sehr wirksame Lärmschutzmaßnahme wäre diesofortige Abschaffung des Schienenbonus, statt dieseAbschaffung erst in einigen Jahren wirksam werden zulassen. Was Sie als Gesetzentwurf noch am Ende desvergangenen Jahres vorgelegt haben, widersprichtdoch ihren Forderungen im vorliegenden Antrag. Ei-nerseits mehr Schallschutzmaßnahmen über das ge-setzliche Maß hinaus fordern und anderseits denAnwohnerinnen und Anwohnern einen sofortigenRechtsanspruch für den Bau leiser Schienenwege imRheintal verwehren, das ist scheinheilig und nimmt dieSorgen, Ängste und Anliegen der Betroffenen nichternst.In diesem Sinne lassen Sie uns den Ausbau derRheintalbahn gemeinsam als ein Modellprojekt fürlärmarmes, umweltverträgliches, zügiges Bauen ohneSchienenbonus mit Beteiligung der Bürgerinnen undBürger gestalten.
Damit kommen wir zur Abstimmung. Der Ausschuss
für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/11932, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/11652 in der Ausschussfassung anzuneh-
men. Wer stimmt für diese Empfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist einstimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 25:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Ralph
Lenkert, Dr. Martina Bunge, Diana Golze, weite-
rer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Durch Humanarzneimittel bedingte Umwelt-
belastung reduzieren
– Drucksache 17/11897 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Gesundheit
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Wasser ist unser wichtigstes Lebensmittel, unseregesamte Nahrung und unser Leben hängen davon ab.Als Lebensmittel Nummer eins muss Trinkwasser ho-hen Anforderungen genügen. Dank der nachhaltigenund konsequenten Maßnahmen der Bundesregierungwird dem seit Jahren Rechnung getragen.Bereits seit den 70er-Jahren hat die BundesrepublikDeutschland unbestreitbare Erfolge im Wasserschutzerzielt und die Wasserqualität konsequent verbessert.Auf der anderen Seite hat die SED-Vorgängerparteider Antragsteller sich sprichwörtlich einen Dreck umdie Qualität ihrer Gewässer und der Umwelt geschert,was wir nach der Wende flächendeckend erfahrenmussten. Deshalb sind Sie von den Linken als Antrag-steller die Letzten, die sich so zu Wasserschutz meldendürfen. Doch auch dieses Defizit aus der Zeit der DDRhaben wir aufgeholt.Die qualitativen Eigenschaften unseres Trinkwas-sers bekommen nach wie vor ausschließlich Bestnoten;denn die Trinkwasserverordnung gibt diese verbind-lich vor. Es dürfen zum Beispiel keine Krankheitserre-ger, Schwermetalle oder andere gesundheitsschädi-genden Stoffe im Trinkwasser enthalten sein. UnserZiel ist es, Wasser als ein großes Gut in ausreichenderMenge und Qualität weiterhin flächendeckend zu ga-rantieren. Hier ist Deutschland beispielgebend fürviele Länder. Durch eine konsequente Ausweitung undModernisierung von Kläranlagen und die innovativenEntwicklungen der Analyseverfahren der Spurenstoffeim Wasser ist eine bessere Untersuchung der Wasser-qualität möglich geworden. Verfahren, die vor Jahrennicht bekannt waren, werden heute erfolgreich zurQualitätsverbesserung unseres Trinkwassers ange-wendet. Dies waren übrigens in vielen ostdeutschenKommunen mit die ersten Infrastrukturmaßnahmen,die mit dem Aufbau Ost angepackt worden sind, meineKolleginnen und Kollegen der Opposition.Mit dem gleichen wissenschaftlichen Eifer arbeitenunsere Pharmakologen an hochwirksamen Arzneimit-teln, die wir als Verbraucher und Patienten in einer al-ternden Gesellschaft einfordern. Der medizinischeFortschritt dient uns, den Menschen. Aber es handeltsich auch um Arzneimittel, die als biologisch aktiveStoffe nicht nur bei Mensch und Tier ihre Wirkung zei-gen, sondern auch bei ihren Ausscheidungen und derEntsorgung ins Abwasser- bzw. Grundwassersystemeindringen. Diesen Konflikt gilt es aufzulösen. Diesehocheffizienten medizinischen Wirkstoffe sind uns amEnde der Kette bei ihrer Abscheidung in der genauenWirkung von Kleinstelementen, wie wir sie heute wis-senschaftlich analysieren können, bedingt durch Tier-und Humanarzneimittel, noch unzureichend bekannt.Auch die Frage, ob von den in Gewässern gemessenenStoffkonzentrationen ein grundsätzliches oder tatsäch-liches Risiko ausgeht, kann bis heute nicht eindeutigfür jeden Stoff beantwortet werden.Der Antrag der Linken befasst sich mit dem Risikovon Verunreinigungen der Abwässer durch Humanarz-neimittel, also einem hinlänglich bekannten Sachver-halt. Liest man den Antrag der Linken, entsteht dasGefühl, dass dem Thema Schutz der Umwelt vor Risi-ken aufgrund von Arzneimitteleinträgen bislang keinausreichendes Gewicht beigemessen wird. Das ist abernicht der Fall. Nicht erst seit heute haben wir klareeuropäische und nationale Regelungen für die Zulas-sung von Arzneimitteln zum Schutz der Patienten undzum besseren Schutz der Umwelt. Hier werden im Rah-men von Zulassungsverfahren Umweltauswirkungenabgeschätzt und bewertet. Bereits in der Amtszeit un-serer Bundeskanzlerin Angela Merkel als Bundesum-weltministerin wurde das Umweltbundesamt, UBA,federführend seit 1997 als mitprüfende Behörde einge-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26921
Ingbert Liebing
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setzt. Man unterscheidet von der Systematik her aller-dings zwischen Tier- und Humanarzneimitteln. BeiTierarzneimitteln ist das Umweltbundesamt als soge-nannte Einvernehmensbehörde tätig. Das heißt, eskann bei der Zulassung von Tierarzneimitteln Auflagenbestimmen, wenn es Gefahren für die Umwelt sieht, diesogar bis zur Versagung der Zulassung gehen können.So weitgehende Befugnisse gelten jedoch nicht für Hu-manarzneimittel. Bei diesen gibt es seit 2001 entspre-chende Vorschriften zur Umweltprüfung, die aller-dings nur für neue Arzneimittel gelten, während ältereauf dem Markt befindliche Arzneimittel erst einmal au-ßen vor bleiben. Über die Machbarkeit einer solchenrückwirkenden Prüfung von etablierten Arzneimittelnkann man diskutieren.Rückstände von Arzneistoffen und Kosmetikrück-ständen, Waschmittelinhaltstoffe, Rückstände vonPflanzenschutz- und Düngemitteln oder Nanopartikelngelangen ins Abwasser und damit in die Umwelt, unddies alles selbstverständlich grenzüberschreitend.Deshalb werden derzeit anthropogene Spurenstoffe inGewässern bzw. im Trinkwasser zunehmend wegen derVielfalt an Stoffen, deren Auswirkungen auf Menschund Umwelt zum großen Teil noch nicht bekannt sind,als komplexes Problem erkannt und diskutiert. DiesesThema hat in den letzten Jahren sowohl die Fachwelt,die Medien als auch die Öffentlichkeit zunehmend be-schäftigt. So war gerade die Belastung von Gewässerndurch Arzneimitteleinträge Gegenstand einer sechs-jährigen Beratung einer Ad-hoc-Arbeitsgruppe derBund-Länder-Arbeitsgemeinschaft für Chemikalien-sicherheit. Hier wurden richtungsweisende Messver-fahren entwickelt. Aber es gibt noch Einiges zu tun;das ist uns allen bewusst. Uns muss aber auch allenklar sein, dass eine Lösung nur im europäischen Rah-men Sinn macht. Nicht nur Deutschland hat mittler-weile umfangreiche gesetzliche Regelungen im Bereichdes Emissionsschutzes bzw. im Bereich der Chemika-lienbewertung, sodass genau geprüft werden kann, obund welche Schadstoffe ins Wasser gelangen. Wir sinduns alle einig, dass die Belastung von Gewässern sogering gehalten werden muss wie nur möglich, abergerade im Kleinstpartikelbereich lässt sich dies nochnicht überall realisieren.Was die Prüfung von gefährlichen Stoffen angeht, soist der Standard auf europäischer Ebene weitgehendharmonisiert worden. Ständig werden die Bedingun-gen für eine sichere Nutzung im Rahmen des Stoffrech-tes geprüft. So führt die REACH-Verordnung dazu,dass bis 2018 für einen Großteil der chemischen StoffeEinstufungen und Kennzeichnungen verfügbar sind.Schon heute sind über 100 000 Stoffe so in einem Da-tenpool erfasst. Die bestehenden Informationslückenbei den sogenannten Altstoffen im Bereich Biozide, In-dustriechemikalien und Arzneimittel, werden bis 2020abgebaut sein. Aber auch der Grundsatz der Verringe-rung der Spurenstoffe an der Quelle ist für uns die Ba-sis zur Vermeidung der Umweltverschmutzung durchSpurenstoffe.Unser primäres Ziel muss also sein, diese Stoffe erstgar nicht in den Wasserkreislauf gelangen zu lassen.Die Information der Verbraucher über den verantwor-tungsvollen Umgang mit Produkten, die solche Stoffeenthalten, gilt es ständig zu verbessern, und es sollenUmweltverträglichkeit und mögliche Substitution kriti-scher Stoffe sowie Verwendungsbeschränkungen vor-angetrieben werden.Um mögliche toxische Stoffe nicht in den Wasser-kreislauf gelangen zu lassen, müssen alle wichtigen In-formationen für den Patienten bzw. Bürger über denUmgang mit Produkten zugänglich gemacht werden.Daran arbeiten wir. Um die Bevölkerung zu sensibili-sieren und die Bürgerinnen und Bürger aufzuklären,damit Verhaltensveränderungen in der Entsorgung vonArzneimitteln eintreten, stellt die Bundesregierung einbreites Angebot an Informationsmedien zur Verfügung.Hier möchte ich als Beispiel den Blauen Engel erwäh-nen oder auf die Informationen zur Vermeidung vonBiozideinsatz seitens des Umweltbundesamtes auf-merksam machen. Außerdem werden von der Bundes-regierung zahlreiche Institutionen im Rahmen der Ver-bändeförderung gefördert, die die Bürger zum ThemaChemikalien in Produkten aufklären.Sie sehen, das Bundesumweltministerium und dieBundesregierung wirken konstruktiv daran mit, die re-levanten Fakten zu erfassen, zu analysieren und poten-zielle Risiken zu bewerten und Lösungswege zu erar-beiten. Aber damit nicht genug: Die Bundesregierungsieht weiterhin Forschungsbedarf bei anthropogenenStoffen in Gewässern und Böden durch Arzneimittel-rückstände. Es werden derzeit mehrere Projekte geför-dert oder sind in Planung. Da sind zum Beispiel For-schungsarbeiten, die sich mit der Frage befassen, obdie Belastung durch endokrine Disruptoren, das heißtUmwelthormone zunehmen oder nicht. Mit einem an-deren Forschungsvorhaben soll das Biomonitoringvon Arzneimitteln vorangetrieben werden. Das Bundes-ministerium für Bildung und Forschung fördert imRahmen seines Förderschwerpunktes „NachhaltigesWassermanagement“ insgesamt zwölf Verbundfor-schungsprojekte mit einem Finanzvolumen von 30 Mil-lionen Euro. Hier werden Fragen zu den ökotoxiko-logischen Folgen von Gewässern und Böden durchArzneimittelrückständen angegangen und beantwortet.Außerdem gibt es Bemühungen, eine bessere Daten-grundlage hinsichtlich der Belastung von Umweltme-dien mit Arzneistoffen zu erhalten. In diesem Zusammen-hang hat auch die Bund-Länder-Arbeitsgemeinschaftfür Chemikaliensicherheit das Thema „Umweltrisikendurch Arzneimittel“ wieder aufgegriffen und wird wei-teren Handlungsbedarf prüfen. Des Weiteren fördertdas Bundesumweltministerium regelmäßig aus Mittelndes Umweltforschungsplans Vorhaben, die das ThemaErkennung der Risiken durch Arzneimittel für die Um-welt und Möglichkeiten der Risikominderung zum Ge-genstand haben.Der vorliegende Antrag der Linken fordert die Ein-führung einer gesetzlichen Verpflichtung für Zulas-Zu Protokoll gegebene Reden
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26922 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Ingbert Liebing
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sungsnehmer und ein umfassendes Messprogrammzum Nachweis von Arzneistoffen in Umweltmediendurchzuführen. Grundsätzlich ist gegen ein solchesNachzulassungsmonitoring nichts einzuwenden. Esgeht aber in der Form, wie der Antrag es vorschlägt,zu weit und wäre nicht gerechtfertigt. Selbst bei Pflan-zenschutzmitteln gibt es keine Vorschriften, die so weitreichen.Des Weiteren fordert der Antrag eine gesetzlicheRücknahmeverpflichtung der nicht verbrauchten Arz-neimittel durch die Apotheken. Dies wäre viel zu auf-wendig und würde einen enormen bürokratischen Auf-wand bedeuten. Auch hier sei auf die umfangreichenabfallrechtlichen Vorschriften verwiesen, die wir inden letzten Jahren in diesem Haus auf den Weg ge-bracht haben.Schließlich fordert der Antrag eine Änderung desdeutschen Rechtes dahin gehend, dass bislang nichtdurchgeführte Umweltprüfungen von Altarzneimittelnin der Verantwortung und auf Kosten der Zulassungs-nehmer nachgeholt werden. Auch diese Forderung istschlichtweg unrealistisch; denn eine solche Gesetzes-änderung hätte nur auf EU-Ebene eine Chance aufDurchsetzung und Erfolg. Deshalb setzt sich die Bun-desregierung auf europäischer Ebene für eine bessereVernetzung von Wasserrecht und Stoffrecht ein. Aus al-len diesen Gründen wird die Unionsfraktion den An-trag der Fraktion der Linken ablehnen.
Ungefähr 3 500 Arzneimittelwirkstoffe sind inDeutschland zugelassen. Etliche davon werden imKörper nicht abgebaut. Über die Toilettenspülung ge-langen sie in Bäche, Seen und Flüsse. Ungefähr150 Arzneimittelwirkstoffe wurden bisher in den Ge-wässern nachgewiesen.Bereits 2003 hat das Monitoringprogramm derBund-Länder-Arbeitsgemeinschaft für Chemikaliensi-cherheit, BLAC, ein realistisches Bild der Belastungder Umwelt mit Arzneimitteln geliefert. Arzneimittelwurden flächendeckend in den Oberflächengewässernnachgewiesen. Röntgenkontrastmittel haben die höchs-ten Konzentrationen, gefolgt von Diclofenac und demAntiepileptikum Carbamazepin.Das Rheuma- und Schmerzmedikament Diclofenac– auf Nummer zwei dieser Liste – hat nachgewieseneökotoxikologische Effekte: Am Bayerischen Landes-amt für Umwelt wurde 2004 untersucht, wie in derRealität vorkommende Konzentrationen auf Forellenwirken. Das Ergebnis: Nach vier Wochen waren dieKiemen verändert und die Nieren geschädigt.Diclofenac soll daher – so hat es die EU-Kommis-sion vorgeschlagen – auf die Liste der prioritärenStoffe, also auf die Liste der Stoffe, die langfristig nichtmehr in die Gewässer gelangen sollen. Sowohl imEuropäischen Parlament als auch im Bundesrat hatdie Debatte darüber deutlich gemacht: Es ist unklar,ob die wissenschaftliche Bewertung so weit ist, fürGewässer Umweltqualitätsnormen für Arzneimittel fest-zulegen. Außerdem müssen den Patientinnen und Pa-tienten weiterhin wirksame Medikamente zur Verfü-gung stehen.Dies entbindet uns aber nicht davon, den Eintragvon Arzneimitteln in die Gewässer zu vermindern. DasUmweltbundesamt hat dazu ja Vorschläge gemacht.Letztendlich schlägt das UBA eine Minimierungsstra-tegie vor, die von einem umfassenden Umweltmonito-ring begleitet wird. Das ist ein vernünftiges Konzept.Eine Umweltbewertung ist mittlerweile für neu zu-zulassende Arzneimittel vorgesehen. Bei Tierarznei-mitteln kann die Umweltbewertung zur Nichtzulassungführen, bei Arzneimitteln für den Menschen könnenAuflagen festgelegt werden. Dies ist ein wichtigerSchritt. Kümmern müssen wir uns um die Medika-mente, die noch ohne Umweltbewertung zugelassenwurden. Eine nachträgliche Umweltbewertung für alldiese Medikamente schießt aber über das Ziel hinaus.Eine Kombination aus Umweltmonitoring und Bewer-tung der Wirkstoffe mit Umweltrelevanz scheint mirangemessen.Wir wollen, dass weniger Arzneimittel in die Ge-wässer gelangen. Problematisch ist, dass es sich viel-fach um diffuse Einträge handelt. Während Rönt-genkontrastmittel in Krankenhäusern herausgefiltertwerden können, bevor sie ins Abwasser gelangen, wirdDiclofenac zu Hause eingenommen. Das macht esschwer, die Wirkstoffe wieder aus dem Wasser zu fil-tern. Eine vierte Reinigungsstufe bei kommunalenKläranlagen ist nicht zu finanzieren, sie macht nurSinn bei Punkteinträgen – wie zum Beispiel den Kon-trastmitteln im Krankenhaus.Was kann man tun? Das UBA empfiehlt eine Infor-mationskampagne, um die Bevölkerung über die rich-tige Entsorgung von Arzneimitteln zu informieren undeinheitliche Entsorgungswege zu schaffen. Es mussklar sein: Altmedikamente gehören in die graue Tonne.In den Müllverbrennungsanlagen werden die arznei-lichen Wirkstoffe so zerstört, dass kein Eintrag in dieUmwelt mehr erfolgen kann. Sie gehören nicht ins Klogespült. Das UBA empfiehlt weiter, Ärzte und Apothe-ker über die Umweltwirkungen von Arzneimitteln zuinformieren und ein Klassifikationssystem zu schaffen.Damit könnte die Umweltwirkung in die Auswahl derMedikation einfließen. Zusätzlich müssen wir den Ein-trag von Arzneimitteln aus der Tierhaltung minimie-ren.Mit der Umweltbewertung von neuen Arzneimittelnist bereits ein wichtiger Schritt gemacht. Es geht – unddas mahnt die Linke in ihrem Antrag zu Recht an – jetztdarum, weiterzugehen. Das bedeutet für mich: Wirbrauchen ein Umweltmonitoring, und wir braucheneine umsetzbare und finanzierbare Minimierungsstra-tegie, die auch den Interessen der Patienten und Pa-tientinnen gerecht wird. Das müssen wir anpacken.Zu Protokoll gegebene Reden
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Die Linke macht einen Vorschlag, und – wie solltees anders sein – der Vorschlag ist unreif, weil er ein-fach nicht zu Ende gedacht wurde. Sie werfen ein Pro-blem auf, das die Koalition und die Bundesregierungseit einiger Zeit bereits beschäftigt. Es ist richtig, dassAltarzneimittel in relevanten Größenordnungenfälschlicherweise über Toiletten und Spülbecken insAbwasser gelangen. Es ist auch richtig, dass einigeWirkstoffe zum Teil unverändert über Ausscheidungenins Abwasser gelangen. Diese Fakten haben dazu ge-führt, dass wir in Europa auf Bestreben der Bundesre-gierung Hormone zum Beispiel bei der Antibabypilleoder auch Wirkstoffe wie Diclofenac als prioritäreStoffe stärker beobachten und entsprechende Maßnah-men wie zusätzliche Reinigungsstufen in besonders be-troffenen Gebieten durchführen lassen.Jetzt geht es Ihnen aber natürlich nicht darum, sichmit unseren Maßnahmen auseinanderzusetzen. Siebringen zwei Vorschläge, mit denen Sie das Wassernoch stärker von Medikamenten befreien wollen. Daseine ist die verpflichtende Einführung eines Medika-mentenrücknahmesystems für Apotheken, und das an-dere die Einführung eines ständigen Umweltmonito-rings für jeden zugelassenen Arzneistoff. BeideVorschläge überzeugen mich nicht. Neben der Rück-nahmepflicht alter Medikamente durch die Apothekenwollen Sie auf diese Abgabemöglichkeit auf jedem Bei-packzettel hinweisen. Dadurch hoffen Sie, das Gegen-argument zu entkräften, dass eine solche Rücknahme-pflicht nichts bringt. Ich muss Sie leider trotzdemdarauf hinweisen: Diese Rücknahmepflicht bringtnichts. Sie schaffen zusätzliche Vorschriften und erzie-len keine positive Wirkung. Wie Sie sicherlich wissen,machen die Apotheken mit den Medikamenten nichtsanderes als das, was passiert, wenn man sie über denHausmüll entsorgt. Sie werden verbrannt. Gelegent-lich gibt es sogar Apotheker, die Chemikalien und Me-dikamente nicht sachgerecht entsorgen. So hat zuletztim Mai vergangenen Jahres ein Apotheker in Memmin-gen durch die Entsorgung über das Abwasser für einenGroßeinsatz der Polizei und Feuerwehr gesorgt.Der entscheidende Punkt ist aber: Einige von denje-nigen, die bereits jetzt Medikamente sachgerecht imHausmüll entsorgen, machen sich dann vielleicht dieMühe, alte Arzneimittel tatsächlich zur Apotheke zubringen. Die meisten anderen tun dies aber vermutlichnicht. Mit Ihrem Vorschlag werden Sie diese meistenanderen jetzt aber nicht mehr darüber informierenkönnen, dass die Entsorgung über den Hausmüll dierichtige Alternative ist. Damit steigt mangels Informa-tion voraussichtlich der Anteil derjenigen, die Medika-mente falsch entsorgen. Unser größtes Interesse istaber vor allem, die Berührung mit Wasser weitgehendzu vermeiden. Ihr Vorschlag führt damit nicht nurdazu, dass überhaupt kein Vorteil erzielt wird. Er birgtsogar das Risiko, dass das Gegenteil von dem passiert,was Sie sich wünschen. Ich bin dafür, im Beipackzettelauf die richtige Entsorgungsart hinzuweisen: die Rest-mülltonne. Ihr Vorschlag ist allerdings kontraproduk-tiv.Auch für die andere Frage liefert die Linke eine fal-sche Antwort. Sie glauben, durch ein umfassendes Um-weltmonitoring die Gewässer besser zu schützen. Ichglaube, Sie verrennen sich. Nicht, dass Sie mich falschverstehen, der Gewässerschutz steht für mich anoberster Stelle. Und dennoch: Ihr Vorschlag wird derSache nicht gerecht. In Deutschland führt das Bundes-institut für Arzneimittel und Medizinforschung mo-mentan 91 482 zugelassene Arzneimittel auf. Daruntersind Arzneimittel und Wirkstoffe, die in großer Mengeabgesetzt werden, und solche, die nur in sehr geringenStückzahlen und ausschließlich in Krankenhäuserneingesetzt werden. Bei jedem neu zugelassenen Arznei-mittel findet eine Umweltbewertung statt. Sie wollennach der Zulassung für jede Substanz eine Überwa-chung der Auswirkungen einführen. Mir ist nicht klar,ob Sie den Umfang dieser Überwachungsmaßnahmenrichtig einschätzen können. Für fast 100 000 Medika-mente sollen ständige Prüfungen im Wasser und Bodendurchgeführt werden. Die dafür erforderlichen Labor-kapazitäten und Kosten sind gigantisch. Für viele derWirkstoffe bestehen noch überhaupt keine Messverfah-ren. Wie gehen Sie mit diesen um? Und was ist dann?Einmal angenommen, Sie hätten für jeden erdenkli-chen Wirkstoff eine belastbare, natürlich unter Berück-sichtigung der regionalen Besonderheiten erstellteAussage über die Konzentration in den verschiedenenGewässern. Dann wollen Sie einen Auftrag an dasUmweltbundesamt erteilen, inwieweit stärkere Aufla-gen für die Anwendung von Arzneimitteln zu einer Ver-besserung der Wasserqualität führen. Und dann?Dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Wenn essich nämlich um ein nutzbringendes Medikament han-delt – und genau das wird in der Zulassung bekannt-lich geprüft –, dann hilft Ihnen die Aussage, dass eswassergefährdend ist, nicht weiter. Sollte etwa einwassergefährdendes, aber hochwirksames Krebsmedi-kament erlaubt oder nicht erlaubt werden? Sie müsstendann zwischen Gesundheit und Umwelt abwägen.Denn das kann das Umweltbundesamt mit Sicherheitnicht.Ich finde unseren Weg deutlich besser. Wir konzen-trieren unsere Kapazitäten auf die Wirkstoffe, die wiraufgrund der Menge und durchgeführten Umweltbe-wertungen für besonders problematisch halten, undsuchen nach sinnvollen Lösungen, um den Eintrag indas Wasser effektiv zu verringern. Damit erreicht manschneller und besser Ergebnisse als mit Ihrem Vor-schlag.Die Linke will ein bürokratisches Monster erschaf-fen, Unsummen finanzieller Mittel der Hersteller auf-wenden und wird am Ende dabei nichts erreichen. Ichhalte Ihren Vorschlag für das gut gemeinte undschlecht gemachte Unterfangen, durch viel zu vieleAufgaben die Verwaltung zu erdrosseln und damit fürniemanden einen Vorteil zu erzielen. Das ist bedauerli-cherweise ein Wesenszug Ihrer Politik.Zu Protokoll gegebene Reden
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26924 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
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Proben aus unseren Flüssen erschrecken Fachleute,immer mehr Reste von Arzneimitteln, Kontrastmittelnund Hormonpräparaten finden sich im Wasser. DasUmweltbundesamt stellte fest: Einer unserer beliebtes-ten Speisefische, der Zander, hat Probleme. Den Zan-derfamilien gehen die Männer aus, es gibt nur nochhalb so viele Kerle wie üblich und nötig. Damit dieZanderpopulation überleben kann, braucht es wiedermehr Männer unter der Wasseroberfläche.Der Zander ist nur ein Beispiel. Viele Tierarten lei-den unter den Abfällen der Wirtschaft und in diesemFall unserer Gesundheitswirtschaft. Die Naturfreundeund Umweltschützer in EU und UBA haben auch so-fort die passende technische Lösung parat: Die vierteReinigungsstufe für Klärwerke muss her. Anfangenwill man in den Großstädten und dann das ProblemKlärwerk für Klärwerk abarbeiten.Die Projektbüros frohlocken, die Bauindustrie reibtsich die Hände, und die Klärwerkslobby träumt vonneuen Rekorden. Zwischen 2 und 3 Euro Mehrkosten jeKubikmeter Abwasser würden entstehen, schätzte manim Schweriner Umweltministerium. Ich will das malfür eine Thüringerin hochrechnen. Also, wir brauchenim Thüringer Durchschnitt etwa 80 Liter Wasser amTag. Das sind bei 365 Tagen im Jahr 29 200 Liter oder29 Kubikmeter. Da wir Politiker uns bei Preisen, wiezum Beispiel bei Stuttgart 21, eher zu niedrig orientie-ren, rechne ich mit 3 Euro weiter. 29 Kubikmeter mal3 Euro pro Kubikmeter sind 87 Euro Mehrkosten imJahr. Für uns 2,4 Millionen Thüringerinnen und Thü-ringer ergibt das ein zusätzliches jährliches Geschäfts-volumen von 210 Millionen Euro allein in Thüringen.Wer soll das bezahlen? Die Bürgerinnen und Bür-ger, die Unternehmen im Freistaat? Schon jetzt zahltdie Thüringer Landesregierung jährlich über 73 Mil-lionen Euro, damit die Kostenexplosion bei Abwasser-gebühren und Beiträgen, durch die zweite und dritteReinigungsstufe und zentralisierte Abwasserbehand-lung ausgelöst, sozialverträglich abgemildert wird.Vor dem Thüringer Verfassungsgericht liegt der An-trag eines Volksbegehrens, von mehr als 25 000 Unter-zeichnerinnen und Unterzeichnern getragen, der sichgegen überhöhte Kommunalabgaben richtet, auch undinsbesondere beim Abwasser.Wer in dieser Situation eine weitere Gebührenerhö-hung auslöst, gefährdet den sozialen Frieden unsererRepublik und im Übrigen auch seine eigene Wieder-wahl.Was tun? Die Umwelt schreit nach Hilfe, und vieleBürgerinnen und Bürger können diese nicht mehrschultern. Keine Medikamente sind auch keine Lö-sung.Die Linke hat deshalb ein Konzept ausgearbeitet,wie es gelingen könnte, die Flüsse vom Medikamenten-cocktail zu entlasten, ohne dass der Abwasserpreis ex-plodiert. Heute sprechen wir über unseren Antrag imBundestag, der die Bundesebene umfasst, und meineKolleginnen und Kollegen werden ergänzende Anträgeauf Länderebene einbringen.Die Langzeitwirkungen von Arzneimitteln in Ge-wässern müssen besser bekannt werden, die Wirkungihrer Substanzen und Zerfallsprodukte auf Tiere undPflanzen müssen wir kennen. Deshalb fordern wir,dass die Bundesregierung dies zum Bestandteil der Zu-lassung von Medikamenten auf der EU-Ebene macht.Auch national müssen die Überwachung und Unter-suchung der Verbreitung und Wirkung von Medika-menten in der Umwelt entsprechend dem geschätztenGefahrenpotenzial erfolgen. Als Ziel wollen wir errei-chen, dass Wirkstoffe und Medikamente, welche keinenmedizinischen Extranutzen im Vergleich zu anderenMitteln haben, aber die Umwelt stärker belasten alsandere wirkungsgleiche Medikamente, die Zulassungverlieren. Das ist ein Schritt, der langfristig für Entlas-tung in den Gewässern sorgen wird.Bis zur Änderung der Verpackungsverordnung imJahr 2009 gab es ein herstellerfinanziertes Rücknah-mesystem für Altarzneimittel. Dies wurde abgeschafft.Wohin also mit den Medikamenten, die übrig sind oderderen Haltbarkeitsdatum abgelaufen ist? Dies fragensich viele, wenn die Apotheke deren Annahme verwei-gert. Einige werfen Altarzneimittel in den Hausmüll –dies ist meistens richtig. Aber einige fabrizieren Müll-trennung: Die Verpackungen zu Verpackungen – unddie Tabletten, die Tropfen ab in den Ausguss. Unend-lich viele Punkte stehen auf den Beipackzetteln, aberder Entsorgungsweg von Resten fehlt zumeist. Eine ge-setzliche Verpflichtung für ein erneutes herstellerfi-nanziertes Rücknahmesystem, das 2015 funktioniert,und eine Verpflichtung, dass der Entsorgungsweg aufder Verpackung und auf dem Beipackzettel steht, wäreein erster, zwar kleiner, aber schneller Schritt, um ei-nen Teil der Arzneimittelfracht aus dem Wasser zu be-kommen.Auf der Länderebene fordert die Linke eine gezielteVorreinigung oder getrennte Erfassung und Entsor-gung der besonders mit Arzneimitteln belasteten Ab-wässer zum Beispiel aus Kliniken und Pflegeeinrich-tungen. Das reduziert die Mengen des zu reinigendenAbwassers und erleichtert wegen der höheren Konzen-tration von Schadstoffen die Klärtechnik.Als Mann, Vater und Liebhaber von gebratenemZanderfilet habe ich Angst, Angst, dass wir uns überdas Essen selbst vergiften, Angst, dass die Männer, wiedie Zander, zeugungsunfähig werden und ich vielleichtkeine Enkel erlebe. Und als Vater und Bürger habe ichAngst, dass für viele Mitbürger das Leben unbezahlbarwird und es deshalb zu sozialen Unruhen mit unabseh-baren Folgen kommt. Deshalb bitte ich Sie: Folgen Sieunseren Vorschlägen, notfalls kopieren Sie diese. Wirstellen diese Vorschläge nicht unter das Urheberrecht.Helfen Sie bitte mit, damit sich die Zanderfamiliengesund in sauberem Wasser vermehren und sich alledie Abwassergebühren leisten können, damit wir ohneZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26925
Ralph Lenkert
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den Wahnsinn einer vierten Reinigungsstufe in kom-munalen Klärwerken die Umwelt und unsere Gesund-heit schützen und ich ohne Angst und GewissensbisseZander genießen kann.
Verbraucherinnen und Verbraucher wissen derzeit
nicht, wohin mit abgelaufenen Arzneimitteln. Uns al-
len ist bekannt, dass eine sachgerechte Entsorgung
derzeit nicht sichergestellt ist. Viele Apotheken verwei-
gern seit einer Änderung der Verpackungsverordnung
die Annahme von Altmedikamenten. Bis 2009 gab es
ein etabliertes Rückgabesystem bei den Apotheken, or-
ganisiert durch Hersteller und Handel. Heute gibt es
kein flächendeckendes Entsorgungssystem; nur einige
wenige Apotheken nehmen Altmedikamente weiterhin
an und sorgen für die sichere Entsorgung – meist auf
eigene Kosten.
Die Bundesregierung empfiehlt, Altmedikamente
über den normalen Hausmüll zu entsorgen. Der Minis-
ter scheint dies als ausreichend anzusehen, zumindest
ergibt dies die Antwort auf eine Kleine Anfrage der
Grünen im Juni 2011. Wie wir ist auch das Umwelt-
bundesamt anderer Ansicht. Es empfiehlt auf seiner
Internetseite nachdrücklich: „Medikamentenreste
NICHT über den Ausguss und das Klo oder den Haus-
müll entsorgen!“ Das UBA fordert weiterhin, „unver-
brauchte Arzneimittel über Apotheken und Schadstoff-
sammelstellen zu entsorgen“.
Zu viele Altmedikamente, insbesondere flüssige Arz-
neien, werden jetzt über die Toilette entsorgt. Viele
Wirkstoffe können aber in den Kläranlagen nicht abge-
baut werden. Diese finden wir anschließend in unseren
Gewässern wieder – mit unangenehmen Folgen. So
wurden unterhalb der Kläranlagen bereits Verweibli-
chungen bei männlichen Fischen nachgewiesen. Au-
ßerdem endet der giftige Cocktail im Trinkwasser.
Ursache sind letztlich auch die Unklarheiten bei der
Entsorgung. Es gab bis 2009 einen gut funktionieren-
den Entsorgungsweg, der von der Bevölkerung ange-
nommen wurde: die kostenlose Annahme in den Apo-
theken. Weil dieses vernünftige System abgeschafft
wurde, haben wir jetzt einen Flickenteppich an „Lö-
sungen“. Diese sind von Kommune zu Kommune un-
terschiedlich. Damit nimmt das Ministerium die stei-
gende Gefahr durch unsachgemäße Entsorgung über
Toiletten und Abflüsse in Kauf. Wir brauchen die Mög-
lichkeit der Rückgabe in den Apotheken als sinnvolles
Angebot an Verbraucherinnen und Verbraucher. Eine
Pflicht zur Abgabe in Apotheken, wie von der Fraktion
der Linken gefordert, halten wir jedoch für falsch.
Wir haben aber noch weitere Probleme; denn Medi-
kamente gelangen auch über andere Wege in die Ge-
wässer. Sie werden zum Beispiel von Menschen und
Tieren ausgeschieden, und ihre Bestandteile sind wei-
terhin wirksam. Gülle und Klärschlamm, die häufig als
Dünger eingesetzt werden, enthalten neben Nährstof-
fen auch Substanzen wie Schwermetalle und Arznei-
mittelrückstände. Dringend notwendig ist daher die
Begrenzung von Schadstoffeinträgen in Böden und
Grundwasser in den verschiedenen Verordnungen, die
Gewässer-, Bodenschutz-, Landwirtschafts- und Ab-
fallpolitik betreffen.
Über den heute zur Beratung anstehenden Linken-
Antrag hinaus sehen wir die Notwendigkeit, auch das
Chemikalien- und das Arzneimittelrecht auf diese Pro-
bleme einzustellen. Es sind neben den Rückständen
von Arzneimitteln auch Chemikalien aus Alltagspro-
dukten, die die Gewässer massiv belasten. Ein bekann-
tes Beispiel sind die perfluorierten Tenside . PFT
sind langlebige organische Chemikalien, die in der
Natur nicht vorkommen. Sie werden in einer Vielzahl
von Alltagsprodukten verwendet. Bei jedem Waschen
aber lösen sich kleinste PFT-Partikel von den Produk-
ten und gelangen über kurz oder lang in die Umwelt.
Lange wurde das Problem unterschätzt und negative
Auswirkungen der PFT auf verschiedenste Organis-
men negiert. Mittlerweile sind diese nachgewiesen. Im
Rahmen des europäischen Chemikalienrechts wurde
der Einsatz von zumindest einer PFT-Stoffgruppe weit-
gehend verboten. Was bleibt, sind jedoch weiterhin die
Belastungen durch das sich bereits in der Umwelt be-
findliche PFT und andere PFT-Stoffgruppen.
Wir brauchen einen vorsorgenden Gewässerschutz,
bevor sich die Umweltprobleme massiv ausweiten. Wir
Grüne wollen ein fachrechtübergreifendes Vorsorge-
konzept mit strengen Grenzwerten für Stoffeinträge al-
ler Art in unsere Gewässer und ein systematisches,
bundesländerübergreifendes Arzneimittelmonitoring.
Dies geht über den Antrag der Linken noch deutlich
hinaus.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/11897 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden. Dann haben wir das so beschlossen.Tagesordnungspunkte 28 a und 28 b sowie Zusatz-punkt 7:28 a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jens Spahn,Dietrich Monstadt, Michael Grosse-Brömer,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten HeinzLanfermann, Jens Ackermann, RainerBrüderle und der Fraktion der FDPRevision der europäischen Medizin-produkte-Richtlinien: Vertrauen wiederherstellen – Patientensicherheit bei Medi-zinprodukten muss erste Priorität sein– zu dem Antrag der Abgeordneten Dr. HaraldTerpe, Birgitt Bender, Maria Klein-Schmeink,
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26926 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSicherheit, Wirksamkeit und gesundheitli-chen Nutzen von Medizinprodukten bessergewährleisten– Drucksachen 17/11830, 17/8920, 17/12088 –Berichterstattung:Abgeordneter Dietrich Monstadtb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Marlies Volkmer, Bärbel Bas, PetraErnstberger, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDMehr Sicherheit bei Medizinprodukten– Drucksachen 17/9932, 17/11312 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Harald TerpeZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Weinberg, Kathrin Vogler, Diana Golze, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEOpfer des Brustimplantate-Skandals unter-stützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizi-nischer Notwendigkeit– Drucksachen 17/8581, 17/12092 –Berichterstattung:Abgeordneter Dr. Marlies VolkmerWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Wenn man die aktuelle öffentliche Debatte zur Si-cherheit von Medizinprodukten verfolgt, soll man denEindruck gewinnen, die Politik wäre erst durch einenSkandal um schadhafte Brustimplantate aus demDornröschenschlaf erwacht und würde dem Themakeine Aufmerksamkeit schenken. Dies ist unzutreffend.Wir handeln. Wir haben in der letzten Legislaturpe-riode das Medizinproduktegesetz, MPG, welches dieUmsetzung dreier europäischer Richtlinien in nationa-les Recht darstellt, überarbeitet. Unter anderem tratim Frühjahr 2010 die Medizinprodukte-Klinische-Prü-fungsverordnung, MPKPV, in Kraft, welche eine Ver-einheitlichung des Einreichungsverfahrens von klini-schen Prüfungen und eine Bündelung in den einzelnenBundesländern beim Deutschen Institut für Medizini-sche Dokumentation und Information, DIMDI,brachte. Dieses System hat sich bewährt und stellt einebürokratische Erleichterung dar.Seit der zweiten Jahreshälfte 2011 arbeitete man inBrüssel an einer Überarbeitung der europäischen Me-dizinprodukterichtlinien, die auch in Deutschland mitSpannung erwartet wurde, regeln diese Richtliniendoch die deutsche Medizinproduktegesetzgebung weit-gehend durch harmonisierte Rechtsvorschriften. Eswurde der Probebetrieb eines von der Industrie undden Krankenkassen finanzierten Endoprothesenregis-ters aufgenommen, welcher von der Bundesregierungfinanziell unterstützt wurde. Durch die AllgemeineVerwaltungsvorschrift zur Durchführung des Medizin-produktegesetzes wird die Überwachung im Medizin-produktebereich durch die zuständigen Behörden derBundesländer ab dem 1. Januar 2013 zentralisiert undspürbar optimiert.Ende Dezember 2011 wurde der Fall des französi-schen Herstellers für Brustimplantate Poly ImplantProthese, PIP, bekannt. Wie man heute weiß, hatte dieFirma Brustimplantate, die auch nach Deutschlandgeliefert wurden, nicht mit Silikon medizinischer Qua-lität, sondern mit billigerem Industriesilikon befüllt,welches ein zwei- bis sechsfach erhöhtes Risiko fürRupturen, Risse, aufweist. Die Folge war, dass Frauensich aufgrund drohenden oder bereits erfolgten Sili-konaustritts die Implantate explantieren lassen muss-ten. Dieser für die Betroffenen äußerst bedauernswerteFall ist nun Ausgangspunkt einer Debatte über die Si-cherheit von Medizinprodukten und deren Marktein-führung und Marktüberwachung generell geworden.Es ist in der Sache richtig, dass wir uns mit dem ThemaSicherheit von Medizinprodukten beschäftigen. Des-halb erörtere ich hier den Antrag der Regierungskoali-tion. Ich möchte aber betonen, dass es nicht zielführendist, einen kriminellen Fall wie PIP zu emotionalisierenund die Fakten aus dem Blick zu verlieren. Wir brau-chen kein hastiges Rufen nach Verschärfungen imZuge eines aufgetretenen Skandals, sondern müsseneine an der Sache orientierte Debatte führen.Welches sind die großen Streitfragen beim ThemaMedizinproduktesicherheit? Erstens. Marktzugangs-voraussetzungen. Für die CDU/CSU-Fraktion hatPatientensicherheit oberste Priorität, weshalb wirkurzfristig eine spürbare Verbesserung der Sicherheiterreichen wollen – hauptsächlich im Bereich derMarktüberwachung. Dem Patienten soll dabei gleich-zeitig weiterhin der schnelle Zugang zu innovativenMedizinprodukten erhalten bleiben. Auch die Opposi-tionsfraktionen haben den Vorfall PIP zum Anlass ge-nommen, Änderungen an bestehenden gesetzlichen Re-gelungen bei Medizinprodukten zu fordern. In einigenPunkten, die den Bereich Marktüberwachung tangie-ren, stimmen diese Anträge der Koalitionsmeinung zu.Die Regierungskoalition ist sich jedoch einig, dass wireine staatliche oder behördliche Zulassung von Medi-zinprodukten der hohen Risikoklassen II b und III miteiner Nutzenbewertung wie bei Arzneimitteln – andersals die Opposition – ablehnen. An dieser Stelle sei inKürze der Antrag der Fraktion Die Linke erwähnt, derweniger weitreichend ist. Hier wurde lediglich gefor-dert, die Folgekosten des PIP-Skandals nicht den Be-troffenen und den Krankenkassen in Rechnung zu stel-len wie aktuell nach § 52 Abs. 2 SGB V. Wir lehnendiesen Antrag ab. Schon eine oberflächliche Betrach-tung zeigt die Unzulänglichkeiten. Der PIP-Hersteller,
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26927
Dietrich Monstadt
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der laut der Fraktion Die Linke zu belangen wäre, istlängst insolvent. Ginge es nach der Fraktion DieLinke, wäre den Opfern noch heute nicht geholfen.Dem deutschen Steuerzahler die Kosten für Explanta-tionen für in der Mehrzahl freiwillige Schönheitsope-rationen aufzubürden, entspricht ebenfalls nicht mei-nem Weltbild.Die Lösungsansätze der Regierungskoalition su-chen wir primär innerhalb des derzeitigen Marktzu-gangs- und Überwachungssystems. Damit Medizin-produkte auf dem europäischen Markt in Verkehrgebracht oder in Betrieb genommen werden können,müssen sie mit einer CE-Kennzeichnung versehen wer-den. Die CE-Kennzeichnung darf nach europäischemRecht nur angebracht werden, wenn das Produkt die inden einschlägigen Richtlinien vorgegebenen grundle-genden Sicherheits- und Leistungsanforderungen er-füllt hat. Diese sind umfangreicher als offensichtlichmanch einem Kritiker bekannt ist. Durchgeführt wer-den muss eine Risikobewertung, ein Verfahren des Ri-sikomanagements zur Minimierung von Risiken, eineklinische Bewertung auf der Grundlage klinischerDaten, eine Analyse des Verhältnisses von Patienten-nutzen zu vorhandenen Risiken. Zudem muss ein der Ri-sikoklasse des Produkts angemessenes Konformitätsbe-wertungsverfahren erfolgreich durchgeführt werden.Bei Produkten mit höherem Risiko muss der Her-steller eine unabhängige Prüforganisation, eine be-nannte Stelle, in Deutschland zum Beispiel Dekra oderTÜV, in die Konformitätsbewertung des Produktes ein-beziehen. Die benannten Stellen werden durch staatli-che Behörden zugelassen und überwacht. Einfluss aufden Marktzugang von Medizinprodukten übt der Staatdamit über die Akkreditierung, Benennung und Über-wachung der benannten Stellen aus. Daneben unter-liegen die Hersteller der Marktüberwachung, die inDeutschland von den Behörden der Bundesländer aus-geführt wird. Der Unterschied in der Zulassung zwi-schen Medizinprodukten und Arzneimitteln ist somitkleiner als häufig von der Opposition behauptet. Dassbei Medizinprodukten eine benannte Stelle die Einhal-tung der strengen Kriterien überprüft, hat guteGründe. Die Bandbreite bei Medizinprodukten istwesentlich größer als bei Arzneimitteln. Rollstühle,Beatmungsgeräte, Kontaktlinsen, Endoskope, Herz-schrittmacher, Gefäßklemmen oder Stents sind in denAnforderungen an Bewertungsexpertise sehr verschie-den voneinander. Somit müsste im Vergleich eine staat-liche Behörde einen Personalstab vorhalten, der nichtfinanzierbar wäre. Eine staatliche Behörde müsste alsBeispiel einen Experten für künstliche Herzklappenganzjährig in Vollzeit anstellen, wobei er wahrschein-lich nur zwei Produkte pro Jahr zulässt. Gleichzeitiginteragieren Medizinprodukte in der Regel nicht che-misch mit dem menschlichen Körper, weshalb die Stu-dien oft technischer angelegt sind. Darüber hinauskommen bei Medizinprodukten oft viel kleinere Stück-zahlen im Verkauf zum Einsatz und die Modellspanneist sehr groß.Ein Arzneimittel kann, einmal getestet, jahrelangunverändert und in hoher Anzahl verkauft werden. Me-dizinprodukte hingegen werden ständig weiterentwi-ckelt. Kniegelenksprothesen oder Herzschrittmacherbeispielsweise werden permanent minimal optimiertund den Patientenbedürfnissen angepasst, noch dazuoft von kleinen bis mittelständischen und sehr innova-tiven Unternehmen. Für diese wäre es schlicht nichtleistbar, wenn bedeutend längere Zulassungsdauern,Innovationszyklen und höhere Studienkosten wie beiArzneimitteln etabliert würden.Weiterhin gestaltet sich ein randomisiertes und dop-pelt verblindetes Studiendesign wie bei Arzneimittelnals nicht durchführbar. Einen Placebo-Herzschrittma-cher habe ich jedenfalls noch nicht zu Gesicht be-kommen. Und ich denke, Sie können mir nicht vielegesunde Freiwillige zeigen, die sich für Studien einkünstliches Kniegelenk einsetzen lassen. Selbstver-ständlich soll die Sicherheit und der Nutzen für denPatienten überprüft werden – dies geschieht bereitsjetzt. Jedoch kann die Arzneimitteltestung nicht eins zueins auf Medizinprodukte übertragen werden. Zwei-tens. Marktüberwachung. Die Koalition aus CDU/CSU und FDP sieht grundsätzlich keinen Änderungs-bedarf am New Approach mit Konformitätsbewertungals Marktzugangsvoraussetzung. Teilweise erhebli-chen Nachbesserungsbedarf gibt es jedoch im Rahmender Marktüberwachungsprozesse. Erst der jüngst imBritish Medical Journal veröffentlichte Fall, bei dembenannte Stellen in Ungarn, der Tschechischen Repu-blik und der Slowakei bereit gewesen sein sollen, Me-dizinprodukte zu zertifizieren, die kein CE-Kennzei-chen hätten erhalten dürfen, macht deutlich, dass einestärkere Kontrolle der benannten Stellen durch die Zu-lassungsbehörden der einzelnen Mitgliedstaaten erfol-gen muss. Vollzugsdefizite müssen aufgehoben werdenund eine Reakkreditierung sollte erfolgen. Es ist des-halb zwingend erforderlich und richtig, die Markt-überwachung EU-weit zu vereinheitlichen, die Zulas-sung der benannten Stellen besser zu überwachen undder Kommission Kontrollrechte einzuräumen, sodassdie Möglichkeit eines Einschreitens besteht. Deshalbbegrüßen wir den Entwurf einer EU-Verordnung, derdies so vorsieht und in Verordnungsform das richtigeRechtsmittel darstellt. Gleichzeitig benötigen die be-nannten Stellen weitergehende Rechte, Stichprobenbeim Hersteller zu nehmen. Die Kontroll- und Über-wachungsbehörden der Länder müssen Kontrollen vonim Markt befindlichen Medizinprodukten in Form vonStichprobennahmen durchführen.Auch das von der Opposition ins Feld geführte Ar-gument, Medizinprodukte könnten zu einfach über dieRegelung der Substantial Equivalence bzw. Pro-duktgleichheit in den Markt kommen, ist streng genom-men kein Problem der Zulassung. Teilweise wird dieseRegelung zu großzügig bei der Überprüfung von Pro-dukten durch die benannten Stellen herangezogen, fürdie sie nicht ausgelegt ist – Beispiel Metall-auf-Metall-Hüftendoprothesen. Scheinbar besteht hier bei denZu Protokoll gegebene Reden
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26928 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dietrich Monstadt
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benannten Stellen Ermessensspielraum. Dies gilt es zukonkretisieren oder abzuschaffen.Die sich hieraus ergebenden Forderungen der Ko-alition: Mit dem Antrag der Koalition aus CDU/CSUund FDP, der als einziger im Gesundheitsausschusseine Mehrheit gefunden hat, fordern wir eine Beibe-haltung des New Approach und insbesondere eine Ver-besserung der Marktüberwachung. Wir begrüßen denEntwurf einer Verordnung – Verordnung des Europäi-schen Parlaments und des Rates über Medizinprodukteund zur Änderung der Richtlinie 2001/83/EG, der Ver-ordnung Nr. 178/2002 und der Verordnung (EG)Nr. 1223/2009 –, der im Duktus mit unseren Forderun-gen übereinstimmt, an einigen Stellen jedoch einigerPräzisierung bedarf.Unsere Forderungen zur Umsetzung im EU-Rechtin einzelnen Punkten sind: bessere Überwachung derbenannten Stellen, Sanktionsmöglichkeiten der Kom-mission bei Nichteinhaltung, mehr Rechte für unange-meldete Kontrollen und Produktprüfungen durch be-nannte Stellen beim Hersteller, obligatorische,unangemeldete Kontrollen durch nationale Behördenbei Produkten der Klassen II b und III im Handel undbei Gesundheitseinrichtungen, Einführung eines Sys-tems zur eindeutigen Identifizierung von Medizinpro-dukten mit weltweit einheitlichem Mindestdatensatz,obligatorisches Aushändigen eines Implantatepassesmit relevanten Identifizierungsdaten und Patienten-informationen wie Haltbarkeit und Termine der Kon-trolluntersuchungen an Patienten durch die entspre-chende Gesundheitseinrichtung, Verpflichtung allerMitgliedstaaten zur Etablierung eines Implantatregis-ters mit einem einheitlichen Mindestdatensatz, imSinne des Patientenschutzes Gleichbehandlung vonEinmal- und Mehrfachprodukten bei der Inverkehr-bringung, Weiterentwicklung des CE-Kennzeichens inein medizinproduktspezifisches Gütesiegel, beispiels-weise CE-med. Im nationalen Recht muss die bereitsbestehende Aufzeichnungs- und Meldepflicht gemäßMedizinprodukte-Sicherheitsplanverordnung durcheine Sanktion bewehrt werden.Sollten die Verdachtsfälle bestätigen, dass in eini-gen europäischen Ländern Mängel bei der Überwa-chung der benannten Stellen bestehen, fordern wir dieBundesregierung auf, sich bei den Verhandlungen ei-ner EU-Verordnung für eine zeitnahe Lösung einzuset-zen. In einem europäischen Binnenmarkt mit freiemWarenverkehr wäre ein solcher Zustand unhaltbar.Gleichzeitig fordern wir die Bundesregierung auf,darauf hinzuwirken, dass bei der Umsetzung einer EU-Verordnung das bestehende hohe Regelungsniveau imdeutschen Medizinprodukterecht nicht unterschrittenwerden darf. Wie ich dargelegt habe, besteht kein An-lass, grundsätzlich vom bewehrten Zulassungssystemder Konformitätsbewertung und CE-Zertifizierung Ab-stand zu nehmen. Kriminelles Handeln wie beim PIP-Skandal verhindert man bedauerlicher Weise auchdurch das strengste Gesetz nicht. Es besteht allerdingsein Regelungs- und Vollzugsdefizit im Bereich derMarktüberwachung. Um eine schnelle und spürbareVerbesserung der Patientensicherheit zu erreichen, un-terstützen wir den Entwurf einer Verordnung der Euro-päischen Kommission, MDD, und fordern die Bundes-regierung auf, diese Ziele bei den Verhandlungen inBrüssel umzusetzen.
Vor etwa einem Jahr sorgte der Vorfall um Brustim-plantate der französischen Firma PIP für umfassendeDiskussionen über das bestehende Medizinprodukte-recht. Das Unternehmen hatte illegalerweise billigesIndustriesilikon zur Herstellung verwendet. Die Im-plantate zersetzten sich im Körper und standen imVerdacht, das Krebsrisiko zu erhöhen. Bereits vorherhatte es Vorfälle mit gebrochenen Endoprothesen oderAbsonderungen von Schwermetallen bei Implantatengegeben. Die Betroffenen erhielten oft keinerlei Unter-stützung und die Kosten für den Austausch wurden vonden Herstellern auf die Sozialversicherung oder– noch schlimmer – auf die Patientinnen und Patientenabgewälzt. Es ist offensichtlich, dass es nicht nur beider Marktüberwachung und Schadensregulierung vonMedizinprodukten deutliche Defizite gibt, die Patien-tinnen und Patienten gefährden.Obwohl das potenzielle Gesundheitsrisiko einigerMedizinprodukte mit dem von Arzneimitteln durchausvergleichbar ist, gelten für den Marktzugang vonProdukten hoher Risikoklassen bislang andere Anfor-derungen als für Medikamente. Sie werden als techni-sche Güter angesehen und nicht als medizinische,daher wird ein CE-Siegel als ausreichend betrachtet,wie es zum Beispiel auch Toaster und andere Haus-haltsgeräte erhalten. Mit dem Kennzeichen erklärt derHersteller, dass sein Produkt den geltenden Anforde-rungen genügt. Dafür hat er in einem Konformitäts-verfahren einer benannten Stelle gegenüber nach-gewiesen, dass die grundlegenden Anforderungen desMedizinproduktegesetzes eingehalten werden, dassdas Medizinprodukt sicher ist und dass es die ihm zu-geschriebenen medizinischen Leistungen erbringt.Dieses Zulassungsverfahren ist anfällig für Mani-pulationen. Die benannten Stellen sind private Unter-nehmen und verdienen an Beratung sowie Zulassung.Sie stehen zueinander in einem europaweiten Wett-bewerb und konkurrieren um den Preis, die Geschwin-digkeit und Erfolgsaussichten einer Zertifizierung.Eine Undercover-Recherche des British Medical Jour-nal hat aufgedeckt, wie bereitwillig benannte Stellenüber fehlende Unterlagen und sogar Konstruktions-mängel hinwegsehen.Bereits im Juni vergangenen Jahres haben wir vonder SPD daher mit dem heute ebenfalls vorliegendenAntrag Vorschläge gemacht, wie die Situation für diePatientinnen und Patienten wirksam verbessert wer-den kann. Eine sichere Behandlung mit sicherenMedizinprodukten ist aus unserer Sicht ein essenziellesPatientenrecht. Neben einer Vielzahl anderer wichti-ger Aspekte fehlt auch dieser Punkt im aktuellen Pa-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26929
Dr. Marlies Volkmer
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tientenrechtegesetz vollkommen. Unser Ziel ist, dassnur solche Medizinprodukte zugelassen werden, fürdie der Patientennutzen im Verhältnis zu den Risi-ken wissenschaftlich nachgewiesen und vertretbarist. Daher setzen wir uns für eine europaweite amt-liche Zulassung für die Medizinprodukte höhererRisikoklassen, also beispielsweise Implantate undHerzschrittmacher, ein. Um schnell einen besserenSchutz der Patientinnen und Patienten in Deutsch-land zu erreichen, sollen die Kosten für neu auf denMarkt kommende Medizinprodukte der hohen Risi-koklassen von den gesetzlichen Krankenkassen nurdann getragen werden, wenn ihr Patientennutzen imVerhältnis zu den Risiken nachgewiesen und vertretbarist.Zudem muss auch die Sicherheit von schon auf demMarkt befindlichen Medizinprodukten verbessert wer-den. Unter anderem müssen die Fertigungsstättendurch die benannten Stellen bei unangekündigten Be-suchen kontrolliert werden. Auch ist es notwendig,Stichproben von Medizinprodukten aus dem Produk-tionsprozess zu ziehen und zu überprüfen. Durch einMedizinprodukt geschädigte Patientinnen und Patien-ten müssten dadurch abgesichert werden, dassHersteller zum Abschluss einer Haftpflichtversiche-rung verpflichtet werden und der Austausch vonfehlerhaften Implantaten bei Serienfehlern auf Kostender Hersteller erfolgt. Zur schnellen Ermittlung be-troffener Patientinnen und Patienten im Falle desBekanntwerdens von Problemen ist zudem ein entspre-chendes Verzeichnis notwendig.Damit für Medizinprodukte Versorgungsforschungmöglich wird, muss ein Implantateregister geschaffenwerden. Dieses gibt Auskunft über regelmäßig auftre-tende Komplikationen bei Behandlungsmethoden undden dabei verwendeten Medizinprodukten.Um eine Verbesserung der völlig unzureichendenInformationslage zu erreichen, müssen Verstöße gegenbestehende Meldeverpflichtungen bei fehlerhaftenMedizinprodukten wirksam überwacht und spürbarsanktioniert werden. Überdies sollte bei unterlassenenMeldungen durch einen Arzt oder ein Krankenhauseine Beweislastumkehr bei einem vermuteten Behand-lungsfehler greifen, sodass Patientinnen und Patientenbei späteren gerichtlichen Auseinandersetzungen bes-ser als heute gestellt werden.Sie sehen, wir haben uns intensiv mit der Thematikbeschäftigt. Und was hat die schwarz-gelbe Regierungdas ganze letzte Jahr getan? Nichts. Sie blieb das ge-samte letzte Jahr über völlig untätig. Auch der von denFraktionen der Union und FDP vorgelegte Antrag istein Schlag ins Gesicht der Patientinnen und Patienten.Die Koalition hält noch immer an dem Irrglauben fest,dass das bestehende System ausreichende Sicherheitfür die Patientinnen und Patienten gewährleistet. DieKoalition versteckt sich hinter der EU-Gesetzgebungund bekennt sich zu einem Zulassungssystem, das er-wiesenermaßen eine Gefährdung für Patientinnen undPatienten darstellt.Auf nationaler Ebene sehen die Kolleginnen undKollegen von CDU, CSU und FDP keinerlei Hand-lungsbedarf. Folglich leistet ihr Antrag nur eins: Erberuhigt die Hersteller von Medizinprodukten. Siekönnen sich sicher sein, dass sich unter dieser Bundes-regierung nichts ändern wird, weder auf europäischernoch auf nationaler Ebene.
Nicht erst seit dem Aufdecken der skandalösen Be-trügereien mit Implantaten im Dezember 2011 ist diePolitik angehalten, sinnvolle Maßnahmen zur Verbes-serung der Sicherheit für Medizinprodukte zu entwi-ckeln. Diese Position wurde im Antrag der CDU/CSU-Fraktion und der FDP-Fraktion sehr deutlich.Was sind eigentlich Medizinprodukte? Jeder vonuns benutzt sie wahrscheinlich im alltäglichen Ge-brauch. Das fängt an bei den immer wieder diskutier-ten Brustimplantaten, geht über Herzschrittmacher;aber auch Verbandmittel oder Kondome sind Beispielefür Medizinprodukte. In der aktuellen Diskussion gehtes aber vor allem um Medizinprodukte der Klasse II bund Klasse III, zu denen die eben bereits erwähntenHerzschrittmacher oder Brustimplantate oder auchkünstliche Gelenke gehören.Was uns in diesem Zusammenhang nicht hilft, sindpopulistische Ansätze zur Eigenprofilierung, die hierauf dem Rücken der Patienten und der Unternehmenausgetragen werden. Sowohl die Linke-Fraktion alsauch die Grünen-Fraktion hatten versucht, im Früh-jahr 2012 daraus Kapital zu schlagen.Im vergangenen September machte dann die Euro-päische Kommission einen Vorschlag zur Revision derMedizinprodukte-Richtlinie für Medizinprodukte undIn-vitro-Diagnostika. Die Kommission schlug vor, dieRechtsbestimmungen für Medizinprodukte klarer undbreiter zu fassen, die Kontrollen über unabhängigePrüfungsstellen zu verschärfen, den Verbrauchern,Patienten und Mitarbeitern im Gesundheitswesenmehr Schutz zu bieten. Zudem möchte man den Zugriffauf innovative Produkte erleichtern und nur sichereProdukte auf den EU-Markt lassen.Wir haben uns anschließend in den Fachgremiender Koalitionsfraktionen mit dem Vorschlag der Kom-mission intensiv auseinandergesetzt und konnten imDezember 2012 den vorliegenden Antrag einbringen.Dieser fordert eine schärfere Medizinprodukte-Richtli-nie und soll heute beschlossen werden.Seit dem ersten Bekanntwerden des Skandals im De-zember 2011 wurde zunächst sehr viel, in jüngster Ver-gangenheit wieder weniger über die Sicherheit vonMedizinprodukten in der Öffentlichkeit diskutiert. Esist genau aus diesem Grund sehr wichtig, den Patien-ten Sicherheit zu bieten; auf der anderen Seite benöti-gen Patienten ebenfalls einen schnellen Zugang zu in-novativen Medizinprodukten. Man muss doch nureinmal die Entwicklung der Medizin in den letztenzehn Jahren betrachten. Der rasante Fortschritt durchZu Protokoll gegebene Reden
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26930 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Jens Ackermann
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das Nutzen der modernen Informationstechnologiedarf nicht durch schärfere Zulassungen behindert wer-den.Und politischer Aktionismus ist an dieser Stelleüberhaupt nicht hilfreich, sondern politische Sachar-beit, die realistische und nachhaltige Lösungsansätzeaufbieten kann, beschreibt den richtigen Weg. Die Lö-sungsansätze sollten innerhalb des bestehenden Sys-tems gesucht werden, da eine Übergangsphase in einneues System wiederum Jahre dauern könnte. Dasheißt, zunächst sollen die bestehenden Gestaltungs-möglichkeiten ausgereizt werden, bevor man einenvollständigen Systemwechsel in Erwägung zieht.Das heißt aber auch, dass wir keine Verschärfungder Zulassungskriterien möchten, da die Standards be-reits heute sehr hoch angesetzt sind. Es geht um ein-heitliche internationale Standards, letztlich auch beiden Kontrollen und Produktprüfungen, die unangekün-digt durchzuführen sind.Es müssen die Anforderungen an die staatlich ak-kreditierten Überwachungsstellen, die die Herstellungder Medizinprodukte überwachen, deutlich erhöhtwerden. Es soll zudem eine Verbesserung der Maßnah-men zur Überwachung durch staatliche Behörden ge-ben. Zusätzlich fordern wir eine Verpflichtung zu un-angemeldeten Produktprüfungen bei den Herstellernsowie die Einführung europäischer Marktüberwa-chungsprogramme.Es soll bei entsprechender Umsetzung mindestensfür Implantate und andere gefährliche Medizinpro-dukte ab Klasse II b unangemeldete stichprobenartigeKontrollen im Handel und in den Gesundheitseinrich-tungen geben. Das gibt den Bürgerinnen und Bürgernmehr Sicherheit. Die Patienten und das Gesundheits-personal, beide Seiten müssen sich auf die Zuverläs-sigkeit eines Herzschrittmachers, eines künstlichenGelenks oder Ähnlichem verlassen können.Die Lösungsansätze sollen aber nach unseren Vor-stellungen primär innerhalb des derzeitigen Marktzu-gangs- und Überwachungssystems gefunden werden.Wir möchten kein neues staatliches Zulassungssystem.Eine Veränderung bei den Zulassungskriterien kannfür die Bürgerinnen und Bürger ein böses Erwachenhaben, wenn sie nicht mehr die neuesten innovativenProdukte im Medizinsektor nutzen können, weil gesetz-liche Schranken beispielsweise die Einführung einerneuen Generation von Herzschrittmachern verhin-dern. So eine Politik ist mit der FDP nicht zu machen.Und hier unterscheiden wir uns fundamental vonder Opposition; die möchte nämlich am liebsten dieZulassungskriterien verschärfen. Und ich kann Ihnenversprechen, es würde große Probleme bei der Markt-einführung neuer Produkte geben. Das hätte, wie ebengesagt, zur Folge, dass die Patienten länger auf inno-vative Produkte warten müssten. Diese Art von Politikkann man sich im Bereich Gesundheit einfach nicht er-lauben. Das kann nicht der richtige Weg sein. Deshalbbieten wir Ihnen hier einen sehr guten Vorschlag zurBeschlussfassung an, der die Sicherheit der Patientennachhaltig stärken wird und weiterhin Innovation er-möglicht.Man muss auch mal ehrlich sein, liebe Opposition:Bei krimineller Energie helfen Ihre Vorschläge auchnicht.Ein sinnvoller Weg zur Verbesserung der Sicherheitder Patienten sind mehr Kontrollen sowie Sanktionenbei Nichteinhaltung der Regelungen, statt alle Unter-nehmen unter Generalverdacht zu stellen oder gar dieZulassungsbedingungen zu verschärfen. Wir benötigenhier keinen Systemwechsel, das bestehende Systembietet gute Ansätze. Es muss nur besser durch diestaatlich akkreditierten Stellen kontrolliert werden.Und da habe ich, ehrlich gesagt, am Markt lieber we-niger Institutionen, die kontrollieren, dafür aber im In-teresse der Bürgerinnen und Bürger für mehr Sicher-heit bei Medizinprodukten sorgen.Zum Abschluss möchte ich noch auf die Wichtigkeitder Weiterentwicklung der CE-Kennzeichnung hin zueinem EU-weiten Prüf- und Qualitätssiegel „CE-Med“verweisen, womit gekennzeichnet wird, dass Medizin-produkte die höchsten Sicherheitsanforderungen erfül-len, und deren Leistungsfähigkeit nachgewiesen ist.Die Bürgerinnen und Bürger benötigen Medizinpro-dukte in höchster Qualität. Sie sind Bestandteil unse-res Alltags. Deshalb lassen Sie uns für mehr Sicherheitsorgen, und stimmen Sie der Beschlussempfehlung desGesundheitsausschusses zu.
Der Koalition scheint die Sicherheit der Patientin-nen und Patienten, die eine Herzklappe, ein Kniege-lenk oder ein anderes Medizinprodukt brauchen, rechtegal zu sein. Anders kann ich mir beim besten Willennicht mehr erklären, was hier veranstaltet wird. DieDebatte um die Sicherheit von Medizinprodukten ziehtsich schon lange hin, und immer wieder gibt esMeldungen, dass Patientinnen und Patienten Gesund-heitsschäden davontragen oder gar sterben, weil dieMedizinprodukte in Deutschland – und der EU insge-samt – vor und nach dem Verkaufsstart viel zu schlechtgeprüft werden. Umso enttäuschender ist es, wenn dieKoalition erst jetzt und erstmals eine parlamentari-sche Initiative dazu vorlegt, und dann noch eine soschlechte und folgenlose.Die Koalition und die Regierung haben die Auf-gabe, bei drängenden Problemen zu handeln. Die rich-tige Methode wäre hier ein Gesetzentwurf, der dieZulassung von Medizinprodukten strenger reglemen-tiert. Stattdessen finden sich gerade einmal vier Fach-politiker der Koalition dafür, einen dünnen Antrag zuschreiben, der bloß Forderungen an die Bundesregie-rung enthält, die so weichgespült sind, dass sie kaumdas Papier wert sind, auf dem sie stehen. Außerdembin ich mir sicher: Niemand in diesem Parlamentglaubt ernsthaft, dass in dieser Wahlperiode sich dieBundesregierung dieser schwachen Forderungen an-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26931
Harald Weinberg
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nimmt und sie in einen Gesetzentwurf gießen wird.Und dann behandelt die Koalition dieses Thema imBundestag noch zu einer Zeit, in der die Reden garnicht gehalten werden, sondern zu Protokoll gehen.Die Menschen draußen bekommen nichts mit, auchweil zu dem Koalitionsantrag keine Anhörung statt-fand.Dabei ist die Situation ernst. Ein Beispiel für dielaschen Zulassungsregeln: Stellen Sie sich vor, Sie hat-ten einen Schlaganfall. Man stellt fest, dass in IhremGehirn ein Blutgefäß verengt ist und dies die Ursachefür den Schlaganfall war. Man will nun natürlich allestun, damit sich der Schlaganfall nicht wiederholt. DieStandardtherapie sind Medikamente, die Blutgerinnselverhindern. Die Medizinproduktindustrie bietet seit ei-nigen Jahren auch eine Alternative an, nämlich soge-nannte Stents. Das sind kleine Röhrchen, die in dasverengte Blutgefäß eingesetzt werden, sich dort auf-weiten und so das Gefäß offenhalten sollen. Hört sichgut an. Aber ist diese Therapie denn besser als dieGabe von Medikamenten? Sind diese Stents sicher,oder verursachen sie vielleicht Krankheiten oderTodesfälle? Zum Zeitpunkt der Zulassung wusste mandas nicht. Man hat diese Stents aber dennoch, nach-dem sie das CE-Zeichen hatten, unbeschränkt zugelas-sen und alleine von 2008 bis 2010 insgesamt3 500 Menschen in Deutschland eingesetzt. In denUSA gab es auch schon 2005 eine Zulassung, aller-dings mit Auflagen, dass zum Beispiel das Blutgefäß zumindestens 50 Prozent verengt sein muss. Die Kran-kenkassen waren skeptisch und haben in den USA zu-dem das Recht zu sagen: „Das bezahlen wir aber nur,wenn das in jedem einzelnen Fall überwacht wird.“Bei dieser Überwachung hat man festgestellt, dassdiese Stents das Risiko, einen erneuten Schlaganfall zuerleiden oder zu sterben, gegenüber der Medikamen-tentherapie um das Zweieinhalbfache erhöht haben.Sofort hat man diese Behandlung eingestellt und darfdiese Stents nur noch einsetzen, wenn die Medikamen-tentherapie nachgewiesenermaßen nichts bringt, dasBlutgefäß zu mindestens 70 Prozent verengt ist, nocheinige Kriterien erfüllt sind und zudem eine Ethikkom-mission zugestimmt hat.Was passierte in Deutschland? Nachdem diesefurchtbaren Ergebnisse bekannt wurden, hielten diedeutschen Aufsichtsbehörden Einschränkungen fürnicht nötig. Ein halbes Jahr später, im Februar 2012,gab es eine freiwillige Einschränkung durch den Her-steller auf Patienten, die nicht auf die Medikamenteansprechen und deren Blutgefäß zu 50 Prozent verengtist. Was fällt auf? Erstens. So weit waren die USAschon 2005, weit bevor man wusste, dass an diesemStent Menschen sterben können. Zweitens. Der Her-steller ist in Deutschland offensichtlich strenger mitsich selbst als die Aufsichtsbehörden. Das darf nichtsein, und wenn das so ist, ist es die Aufgabe der Bun-desregierung, daran etwas zu ändern. Genau dasmacht sie allerdings nicht. Das verbietet ihr das liebsteKind des Gesundheitsministeriums, die Gesundheits-wirtschaft. Und selbst die vier der 20 Gesundheits-experten der Koalition, die sich trauen, einen wir-kungslosen Antrag zu stellen, schreiben darin von„pauschalen Verdächtigungen gegen deutsche Medi-zinproduktehersteller“ und auch, dass „die berechtig-ten Interessen der Medizinprodukteunternehmen be-rücksichtigt werden“ müssen.Die Linke hat bereits Ende November einen Ent-schließungsantrag zum Patientenrechtegesetz gestellt,Bundestagsdrucksache 17/11722, und acht konkreteForderungen zur Verbesserung der Sicherheit gefor-dert, so etwa die Zulassung durch eine zentrale Bun-desbehörde statt durch den TÜV und andere Stellen, soauch, den Nutzen und die Risiken vor der Zulassung zuprüfen, denn die Patientinnen und Patienten sind keineVersuchsobjekte, so auch, dass nach der Zulassung dieÄrztinnen und Ärzte mögliche Nebenwirkungen aneine zentrale Datenbank übermitteln sollen, und nocheiniges mehr. Dreimal dürfen Sie raten, ob Schwarz-Gelb diesen Antrag angenommen hat.In den USA schaut man übrigens besorgt nachEuropa, was die Sicherheit der Medizinprodukte an-geht. In einer Studie der FDA, der US-amerikanischenZulassungsbehörde, von Mai 2012, „Unsafe and inef-fective devices approved in the EU that were notapproved in the US“, also frei übersetzt „Unsichereund nutzlose Medizinprodukte, die in der EU, abernicht in den USA zugelassen wurden“, schreibt dieFDA als Schlussfolgerung ebenso frei übersetzt:„Stents und andere Medizinprodukte kosten europäi-sche Patienten ihr Leben, ohne dass sie irgendeinenNutzen hätten.“ Und: „Andere Medizinprodukte wieBrust- und Ellenbogenimplantate oder Roboter fürHüft-OPs verursachen ernsthafte Verletzungen unddamit auch kostenintensive Behandlungen, um denGesundheitsschaden zu beheben, den sie verursachthaben.“Für die Linke ist klar: Patienteninteresse geht vorWirtschaftsinteresse. Die Medizinprodukteindustrie istkein Selbstzweck, sondern sie ist da, um nützliche undsichere Produkte herzustellen, die den Menschenhelfen. Wir brauchen Zulassungsregelungen, die dieIndustrie auf diesen Grundsatz verpflichten. Wir brau-chen keine Bundesregierung, die im Zweifel gegen diePatienteninteressen entscheidet.Nochmal zur Klarstellung: Die von den Koalitions-abgeordneten geforderten Maßnahmen sind grund-sätzlich nicht falsch. Sie würden, wenn man sie auchtatsächlich umsetzte, das Sicherheitsniveau bei Medi-zinprodukten in Deutschland ein wenig verbessern.Der Antrag ist aber unzureichend und packt viele derProbleme, die wir bei den Medizinprodukten haben,überhaupt nicht an. Deshalb enthalten wir uns.
Um es klar zu sagen: Der heute hier neben unseremund anderen Anträgen der Opposition zur Abstimmungstehende Antrag von Union und FDP zu Medizinpro-dukten ist schwach – nicht wegen der Forderungen, dieZu Protokoll gegebene Reden
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26932 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Harald Terpe
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darin stehen, sondern wegen derer, die nicht darin ste-hen.In ihrem Antrag listet die Koalition eine Reihe vonVorschlägen auf, die die Bundesregierung bei den lau-fenden Beratungen um das neue EU-Medizinproduk-terecht einbringen soll. Im Kern entsprechen dieVorschläge weitgehend dem, was ohnehin bereits Ge-genstand des EU-Verordnungsentwurfs ist. Insofern istihr Antrag eigentlich überflüssig. Der Antrag verdeut-licht aber, dass diese Koalition nicht willens ist, sichdarüber hinaus mit einem eigenen Beitrag für die Pa-tientensicherheit bei Medizinprodukten einzusetzen.Ein scheinbar kleines Detail ihres Antrags zeigt diesganz klar. Im vergangenen Jahr hatte die AG Gesund-heit der CDU/CSU-Fraktion ein Positionspapier zuMedizinprodukten beschlossen. Schon dieser Be-schluss ist verhältnismäßig dürftig. Immerhin findetsich dort zumindest aber die sinnvolle, im Übrigen seitJahren als geeignet angesehene Forderung, dass in ei-nem Register für hochriskante Medizinprodukte nebenProdukt- und Patientendaten auch besondere Ereig-nisse, Komplikationen und Nebenwirkungen beispiels-weise im Zusammenhang mit Implantaten registriertwerden sollen. Das würde zumindest die Möglichkeitschaffen, dass man relativ schnell sieht, wenn sich beieinem bestimmten Implantat Wechseloperationen oderandere Komplikationen häufen.In ihrem hier vorliegenden Antrag fehlt genau dieseForderung. Es ist mir daher absolut rätselhaft, wie miteinem solchen Register ohne die Daten zu Vorkomm-nissen eine bessere Langzeitüberwachung von Medi-zinprodukten erreicht werden soll. Besser kann mannicht klarmachen, dass sie hier nicht die Sicherheit derPatientinnen und Patienten, sondern vor allem die In-teressen der Medizinproduktehersteller vertreten. Esist das, was ein zuständiger Mitarbeiter des Bundesge-sundheitsministeriums im Sommer des vergangenenJahres bei einer Veranstaltung des Herstellerverban-des als „Abwehrkampf“ gegen eine grundlegende Re-form des Medizinproduktesystems bezeichnet hat.Dabei ist in diesem System so viel im Argen. Er-schreckendes dazu war zum Beispiel im Oktober ver-gangenen Jahres im „British Medical Journal“ überdie sogenannten benannten Stellen zu lesen. Die Auto-ren konnten dort nachweisen, wie einfach es in Europaist, eine Zertifizierung für ein erfundenes, aber schonnach Aktenlage hochgefährliches Implantat zu bekom-men.Es ist unverantwortlich gegenüber den Patientinnenund Patienten, bei Medizinprodukten der höchstenRisikostufe weiter auf ein Zulassungssystem zu ver-zichten, bei dem nicht die erforderlichen, staatlichvorgegebenen Nachweise der Patientensicherheit imVordergrund stehen. Es ist unverantwortlich, bei Pro-dukten der höchsten Risikostufe keine klinischen Stu-dien durchzuführen, mit dem Nutzen, dass Risiko undWirksamkeit von Produkten untersucht werden kön-nen. Und es ist unverantwortlich, bei derartigen Pro-dukten kein wirksames Stufenplanverfahren zu etablie-ren, mit dem problematische Produkte schnell vomMarkt genommen werden können.Es ist zweifellos nicht falsch, dass es künftig unan-gemeldete Kontrollen der benannten Stellen bei denHerstellern geben soll. Sie können aber noch so häufigund noch so unangemeldet bei den Herstellern anrü-cken, sie werden so nichts daran ändern, dass mancheProdukte für die Patientinnen und Patienten gefähr-lich sind. Sie können so nicht mal im Ansatz verhin-dern, dass Hüftimplantate aus Metall eingesetzt wer-den, die deutlich häufiger als andere Prothesen wiederausgetauscht werden müssen und sogar Tumorerkran-kungen oder andere Organschäden auslösen können,und auch nicht verhindern, dass etwa Stents in denUmlauf geraten, mit denen das Schlaganfall- oder In-farktrisiko erhöht wird, statt es, wie beabsichtigt, zuverringern. Sie werden mit den von ihnen vorgeschla-genen Maßnahmen nichts dagegen ausrichten, dassPatientinnen und Patienten völlig wirkungslosen odersogar gefährlichen Behandlungen ausgesetzt werden.Dazu sind anstelle von eher oberflächlichen Produkt-prüfungen seriöse klinische Studien mit patientenrele-vanten Endpunkten nötig.Der Herstellerverband, aber auch diese Koalitionverweisen häufig darauf, alles dafür tun zu wollen,dass medizinische Innovationen ohne bürokratischeHürden so schnell wie möglich den Patientinnen undPatienten zur Verfügung stehen. Dann sollten sie sichaber auch der Frage stellen, was überhaupt eine Inno-vation ist. Wie innovativ ist eigentlich eine Therapie,wenn sie den Patientinnen und Patienten schaden, ihreGesundheit oder gar ihr Leben gefährden kann? Auchinnovative Produkte müssen vor allem sicher sein,auch im Interesse der Hersteller, und für die Patientin-nen und Patienten einen Nutzen haben. Sicherheit,Wirksamkeit und Nutzen müssen bei der Markteinfüh-rung neuer Medizinprodukte gewährleistet sein. Daskann, wie auch die Untersuchungen im „British Medi-cal Journal“ zeigen, ganz offensichtlich nur durch eineletztlich staatlich verantwortete Zulassung vor allemder riskanteren Medizinprodukte gewährleistet wer-den.Vor diesem Hintergrund fordere ich die Bundes-regierung und die beiden Regierungsfraktionen auf,nicht länger mit den Herstellern herumzukungeln, son-dern sich endlich den Patienteninteressen verpflichtetzu fühlen und sich auf europäischer Ebene für einwirksames Zulassungs- und Überwachungssystem ein-zusetzen. Wenn Sie nicht wissen, wie Patientenschutzgeht, dann schauen Sie einfach in den grünen Antrag,den SPD-Antrag oder in den Beschluss des Europäi-schen Parlaments. Dort finden Sie viele hilfreiche Vor-schläge.
Wir kommen zur Abstimmung zunächst über die Be-schlussempfehlung des Ausschusses für Gesundheit aufDrucksache 17/12088. Der Ausschuss empfiehlt unter
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26933
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Buchstabe a seiner Empfehlung die Annahme desAntrags der Fraktionen der CDU/CSU und FDP aufDrucksache 17/11830 mit dem Titel „Revision der euro-päischen Medizinprodukte-Richtlinien: Vertrauen wie-der herstellen – Patientensicherheit bei Medizinproduk-ten muss erste Priorität sein“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? –Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit denStimmen der beiden Koalitionsfraktionen gegen dieStimmen der SPD und Grünen bei Enthaltung derLinken angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/8920 mit dem Titel „Sicherheit,Wirksamkeit und gesundheitlichen Nutzen von Medizin-produkten besser gewährleisten“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Ent-haltungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den glei-chen Mehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.Beschlussempfehlung des Ausschusses für Gesund-heit zu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel„Mehr Sicherheit bei Medizinprodukten“. Der Aus-schuss empfiehlt in seiner Empfehlung auf Drucksache17/11312, den Antrag der Fraktion der SPD auf Druck-sache 17/9932 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Enthal-tungen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den gleichenMehrheitsverhältnissen wie zuvor angenommen.Zusatzpunkt 7. Beschlussempfehlung des Ausschus-ses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Opfer des Brustimplantate-Skan-dals unterstützen – Keine Kostenbeteiligung bei medizi-nischer Notwendigkeit“. Der Ausschuss empfiehlt in sei-ner Empfehlung auf Drucksache 17/12092, den Antragder Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/8581 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschluss-empfehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktio-nen und der SPD gegen die Stimmen der Linken bei Ent-haltung der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 27:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
zu dem Antrag der Abgeordne-
ten Markus Kurth, Beate Müller-Gemmeke,Britta Haßelmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENFür eine angemessene Praxis bei Anträgen aufKindergeldabzweigung durch die Sozialhilfe-träger– Drucksachen 17/10863, 17/11748 –Berichterstattung:Abgeordneter Pascal KoberWie der Tagesordnung zu entnehmen ist, werden dieReden zu Protokoll genommen.
Wir beraten heute abschließend einen Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen, der sich für eine an-gemessene Praxis bei Anträgen auf Kindergeldabzwei-gung durch die Sozialhilfeträger einsetzt. Hintergrunddieses Antrags ist offensichtlich die in einigen Bundes-ländern etablierte Praxis, verstärkt und teilweise flä-chendeckend Anträge auf Kindergeldabzweigung zustellen. Die Zahl der Abzweigungsanträge ist tatsäch-lich gestiegen.Was ist die Rechtslage?Für ein Kind mit Behinderung können Eltern auchüber das 18. Lebensjahr hinaus und ohne altersmäßigeBegrenzung Kindergeld erhalten, wenn das Kind auf-grund seiner Behinderung nicht in der Lage ist, sichselbst zu versorgen. Voraussetzung ist, dass die Behin-derung des Kindes vor dem 25. Lebensjahr eingetretenist. Im Einkommensteuergesetz ist geregelt, dass dieFamilienkassen das eigentlich den Eltern zustehendeKindergeld an die Stelle auszahlen dürfen, die demKind Unterhalt gewährt. Diese Anrechnung kommtdann in Betracht, wenn das Sozialamt dem Kind Un-terhalt erbringt.Der unter Umständen lebenslange Anspruch auf dieLeistung ist darin begründet, dass der Mehrbedarf derEltern, der mit dem Kindergeld zum Wohle des Kindesausgeglichen werden soll, bei Menschen mit Behinde-rung eben nicht regelmäßig mit ihrer Volljährigkeit en-det. Selbst wenn die Unterhaltspflicht nicht mehr vollbesteht, geht der Gesetzgeber davon aus, dass den El-tern durch die Beeinträchtigung ihrer Kinder regelmä-ßig durch zusätzlichen Aufwand Kosten entstehen, dieandere Eltern mit Kindern ohne Behinderung in dieserForm nicht haben. Es handelt sich daher um einen in-direkten Nachteilsausgleich.Auch mich haben Beschwerden betroffener Elternerreicht, die sich über die Praxis beklagen, das offen-sichtlich in der Abzweigung des Kindergeldes ein nichtzu rechtfertigender Automatismus eingetreten ist. Nunmuss man aber wissen, dass die Sozialämter nicht nuraufgrund von Sparzwängen so vorgehen, sondern sichauch auf eine Entscheidung des Bundesfinanzhofesvom 17. Dezember 2008 sowie weitere Entscheidungendes Bundessozialgerichts berufen. Nach diesen Recht-sprechungen darf das Kindergeld an den Sozialleis-tungsträger, in der Regel die Landkreise, tatsächlichabgezweigt werden. Voraussetzung ist, dass der Kin-dergeldberechtigte, zumeist die Eltern, nicht zum Un-terhalt des volljährigen behinderten Kindes verpflich-tet sind, weil das Kind Leistungen der Grundsicherungnach dem SGB XII erhält.Grundsätzlich darf das Kindergeld für ein Kind mitBehinderung, das die Eltern beziehen, nicht bedarfs-mindernd auf die Grundsicherung angerechnet wer-den. Eine Anrechnung kann nur erfolgen, wenn dasKindergeld entweder von den Eltern an das Kind wei-tergeleitet oder direkt an das Kind ausgezahlt wird.
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Maria Michalk
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Allerdings kam es in der Vergangenheit immer wie-der vor, dass Sozialämter trotzdem auch Grundsiche-rungsempfänger aufgefordert haben, einen Antrag beider Familienkasse auf Auszahlung des Kindergelds andas Sozialamt zu stellen. Die Begründung lautete, dassdies das Einkommen des Kindes erhöhen würde unddie Grundsicherung dementsprechend gekürzt werdenmüsste. Grundsätzlich sind Sozialhilfeträger, sobaldsie für Sozialleistungen von Menschen mit Behinde-rung aufkommen, auch befugt, bei den Familienkassendiese sogenannten Abzweigungsanträge zu stellen. Beipositiver Entscheidung der Familienkasse über denAbzweigungsantrag wird das Kindergeld dann nichtmehr an die Eltern ausgezahlt, sondern an den Sozial-hilfeträger direkt überwiesen.Die Familienkassen haben bei diesen Entscheidun-gen einen Ermessensspielraum. Für die Entscheidung,ob und in welcher Höhe abgezweigt wird, müssen so-wohl die Antragsteller als auch die betroffenen Elterngewissenhaft angehört und in jedem Einzelfall mussentsprechend den Gegebenheiten eine Einzelfallent-scheidung gefällt werden. Wenn die Voraussetzungenfür eine Abzweigung vorliegen, hat die Familienkassebezüglich des „Ob“ einer Abzweigung angesichts dergeltenden Rechtsprechung allerdings keinen Spiel-raum mehr. Dann muss sie der Abzweigung zustimmen.Dies kann auch bei einem volljährigen Kind mit einerBehinderung der Fall sein, das zu Hause bei den El-tern lebt.Als Konsequenz aus der Gesetzeslage und der gel-tenden Rechtsprechung dürfen Eltern das Kindergeldnur dann vollständig behalten, wenn sie auch nachge-wiesene Kosten in Höhe des Kindergeldes haben. Dashat zur Folge, dass für die zusätzlichen AufwendungenBelege beigebracht werden müssen, zum Beispiel dieKinokarte oder der Beförderungsbeleg. An dieserStelle ist der bürokratische Aufwand nicht zu leugnen.Aber der Nachweis ist unumgänglich; denn es handeltsich dabei um öffentliche Mittel.Die Rechtslage für den Anspruch des Kindergeldesist klar. Trotzdem stelle auch ich fest, dass es leider im-mer wieder Fälle gibt, bei denen die Sozialhilfeträgereinen Antrag auf Abzweigung auch dann stellen, wenndie Eltern mit ihren Kindern in einem Haushalt lebenund entsprechend hohe Ausgaben für ihre Kinder tra-gen. Der Ärger ist entsprechend groß, weil Eltern nichtausreichend über die Belegnachweise informiert wer-den oder Bescheide ohne Begründung ergehen. In die-sen besonderen Fällen ist den Betroffenen zu raten,das direkte Gespräch zu suchen und bei verhärteten Si-tuationen entsprechende Rechtsmittel einzulegen.Fundierte Hilfestellungen für betroffene Familiengibt auch der Bundesverband für körper- und mehr-fachbehinderte Menschen, dem ich an dieser Stellesehr herzlich für seine wertvolle und fachlich erstklas-sige Arbeit danken möchte. Hier bekommen die betrof-fenen Eltern gut verständliche Informationen an dieHand. Sie finden auf der Internetseite ein Muster-schreiben, verbunden mit einer ausführlichen Argu-mentationshilfe. Dies ist konkrete Hilfe zur Selbsthilfe,die für die Betroffenen oftmals schnell zum gewünsch-ten Ergebnis führt und Klageverfahren und damit Kos-ten vermeiden kann.Grundsätzlich also gilt – und darin sind wir uns si-cher alle einig –, dass diese Anträge tatsächlich nur inbegründeten Ausnahmefällen gestellt werden dürfen,wo seitens der Behörden der Verdacht besteht, dass El-tern nicht zum Unterhalt ihrer Kinder mit Behinderungbeitragen. Das hat das zuständige Bundesministeriumnoch einmal auch gegenüber den Bundesländern klar-gestellt. Bereits im Jahr 2011 wurden die Länder vonder Bundesregierung dezidiert auf den Sachverhaltaufmerksam gemacht, dass die Abzweigung von Kin-dergeld für ein volljähriges Kind mit Behinderung nurin begründeten Ausnahmefällen in Betracht kommt.Daraufhin haben die Länder ihre Sozialhilfeträgerentsprechend unterrichtet.Die Praxis hat gezeigt, dass sich vor allem in denGroßstädten die Sozialhilfeträger der Rechtsauffas-sung der Bundesregierung angeschlossen haben undumsichtig im jeweiligen Einzelfall handeln. Dass von-seiten einzelner Sozialhilfeträger auf ihre Pflicht ver-wiesen wird, Einnahmemöglichkeiten der Sozialhilfezu realisieren, ist eher die Folge von einem gewissenDruck, Einsparungen angesichts einer angespanntenfinanziellen Lage der Kommunen bzw. der jeweils zu-ständigen Behörde zu erzielen. Ich finde diese Argu-mentation sehr scheinheilig. Was den betroffenen Men-schen zusteht, muss ihnen auch gegeben werden. Undda der Bund die Übernahme der Kosten für die Grund-sicherung im Alter in erheblicher Größenordnungübernommen hat, ist dieses Argument nicht mehrnachvollziehbar bzw. trägt nicht.Die Antragsteller bekräftigen in ihrem Antragselbst, dass die in einigen Bundesländern etabliertePraxis mit der bestehenden Rechtslage nicht vereinbarist. Damit ist einvernehmlich klargestellt, dass wirkeine Gesetzesänderung brauchen, wie im Antrag ge-fordert. Vielmehr brauchen wir eine gesetzestreue Pra-xis, die „kundenfreundlich“ ist und in den Amtsstubenverantwortet werden muss.Das ist auch der Grund, warum wir den vorliegen-den Antrag ablehnen. Allerdings möchte ich versöhn-lich hinzufügen, dass wir als Parlament durch diesenAntrag die leider notwendige sowie wünschenswerteMöglichkeit haben, den Sachverhalt als solchen nocheinmal öffentlich darzustellen und eine möglichst un-bürokratische Umsetzung der rechtlichen Regelungeinzufordern.Den betroffenen Eltern wollen wir durchaus den Rü-cken stärken, damit sie alle Möglichkeiten der Teil-habe ihrer Kinder mit Behinderung am gesellschaftli-chen Leben nutzen, weil ihnen der Ausgleich desMehraufwandes in genannter Höhe, also des Kinder-geldes, zusteht.Wir sind dankbar für die Leistung, die viele, vieleEltern erbringen. Sie leisten de facto mehr an Werten,Zu Protokoll gegebene Reden
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Maria Michalk
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als ihnen in der Summe je ausgeglichen werden kann.Das liebevolle Zusammenleben ist Tag für Tag eineneue Herausforderung. Das wissen wir. Aber wir wis-sen ebenso, dass es leider auch gelegentlich eine miss-bräuchliche Verwendung der für die Kinder zugedach-ten Leistungen gibt. Vor diesem Hintergrund ist derNachweis der Mehraufwendungen für erwachseneKinder durch das Kindergeld im Vergleich zu minder-jährigen Kindern gerechtfertigt.Nicht gerechtfertigt sind Automatismen zum Nach-teil der Eltern, die sich zu Hause um ihre Kinder küm-mern. Sie leben unseren Grundsatz „ambulant vor sta-tionär“ vor. Es ist zu wünschen, dass dies weiterhinviele tun, was vor allem unter dem Aspekt der demo-grafischen Entwicklung eine große Herausforderungbleibt. Und weil dies so ist, will ich noch einmal dieDinge aufzählen, die von dem Kindergeld als Mehrauf-wand auf Nachweis erstattet werden: der Unterhalts-beitrag für die Kosten der dem Kind geleisteten Ein-gliederungshilfe bzw. Hilfen zur Pflege; die Ausgabenfür Bekleidung, die aufgrund der Behinderung geän-dert werden muss oder schneller verschleißt; dieFahrtkosten für Behördengänge oder die Kosten fürTherapiebesuche sowie für Arzt- und Therapiebehand-lungen, Zahnersatz oder Medikamente, die nicht vonder Krankenkasse finanziert werden; die Kosten fürSehhilfen, die grundsätzlich nicht mehr von der Kran-kenkasse übernommen werden; die Kosten für die Er-satzbeschaffung von Einrichtungsgegenständen, etwaMatratzen bei Kindern mit Inkontinenz; die Kosten fürFreizeitunternehmungen; die Unterhaltsgewährung inForm von kostenfreier Unterkunft, wenn das Kind tat-sächlich kostenlos bei seinen Eltern lebt und dafürkeine Unterkunftskosten im Rahmen der Grundsiche-rung geltend macht; die Aufwendungen für notwendigeBetreuungsleistungen durch andere Personen, dienicht von der Pflegekasse oder dem Sozialhilfeträgererstattet werden; die Aufwendungen für notwendigeBetreuungsleistungen durch die Eltern selbst, die nichtvon der Pflegekasse oder dem Sozialhilfeträger erstat-tet werden.Diese Aufzählung zeigt einmal mehr, dass unser So-zialstaat durchaus die Lebenssituationen erfasst undausgleicht. Sie zeigt aber auch sehr deutlich, mit wel-chen Mehraufwendungen Eltern von Kindern mit Be-hinderung alleine fertigwerden müssen und dass siedamit keinerlei Bevorteilung erfahren, wie manch ei-ner leider behauptet.Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Rechts-lage ist klar und lebensnah, die Umsetzung ist komplexund manchmal auch kompliziert, weil nicht jeder Ein-zelfall im Gesetz abgebildet werden kann. Deshalb bit-ten wir um eine verantwortungsvolle Umsetzung dergenannten gesetzlichen Regelungen.
Ein behindertes Kind ist für viele Eltern eine Le-bensaufgabe. Sie versorgen es oft bis ins hohe Alter.Als Ausgleich für finanzielle Mehrbelastungen erhal-ten sie dann auch für ihr erwachsenes Kind noch dasKindergeld, wenn es sich wegen seiner Behinderungnicht selbst unterhalten kann. Dieser Anspruch kannbis zum Tod bestehen. Das betrifft Eltern, deren Kinderim Schwerbehindertenausweis entweder das Merkmal Hhaben, eine volle Erwerbsminderungsrente beziehenoder wegen der Schwere der Behinderung nicht demersten Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Mit demlebenslangen Kindergeld sollen Mehrausgaben derEltern abgegolten werden. Schauen wir uns einmal an,was das für Ausgaben sein können: zusätzliche Kosten,die anfallen, wenn Eltern mit ihren Kindern in einergemeinsamen Wohnung leben; Kosten für Begleitfahr-ten zu Freunden, zu Kultur- und Sportveranstaltungen;zusätzliche Aufwendungen für einen gemeinsamenUrlaub, der durch die Behinderung des erwachsenenKindes finanziell oft ganz andere Dimensionen an-nimmt; günstige Alternativen wie die U-Bahn-Fahrtzum Flughafen oder die Übernachtung auf demCampingplatz fallen unter Umständen flach; Kosten,die entstehen, wenn Eltern ihre Kinder zu Behandlun-gen, Kuren und Arztbesuchen begleiten oder bei Hilfs-und Heilmitteln und Medikamenten Geld aus eigenerTasche zuschießen; zusätzliche Kosten für ein speziel-les Auto, um Rollstuhl und Zubehör unterbringen zukönnen.Das sind nur einige wenige Beispiele. Schon sie zei-gen: Diese Eltern leisten Großes – oft auf Kosten ihrereigenen Bedürfnisse und oft ihr Leben lang. Deshalbist es gerecht, dass sie einen finanziellen Ausgleich fürzusätzliche Kosten erhalten. Ihre Kinder werden näm-lich nicht, wie andere, einmal auf eigenen Beinen ste-hen und sich selbst versorgen können. Aber ist es derrichtige Weg, für den Ausgleich dieser Kosten ausge-rechnet das Kindergeld zu wählen? Menschen mitschwerer Behinderung haben genauso das Recht aufRespekt wie alle anderen auch. Kinder mit Behinde-rung bleiben nicht ihr Leben lang Kinder. Auch siewerden erwachsen. Und dieser Umstand muss in unse-ren Gesetzen nachvollzogen werden.Ich komme zum Antrag der Grünen. Menschen mitBehinderung, die ihren Lebensunterhalt nicht selbstverdienen können, sind häufig auf Sozialhilfe angewie-sen. Das trifft auch auf Kinder zu, die als Erwachsenebei ihren Eltern leben oder in Pflegeeinrichtungen vonihnen umsorgt werden. Die Sozialhilfeträger könnenbei den Familienkassen sogenannte Abzweigungsan-träge stellen. Das heißt, das Kindergeld wird dannnicht weiter an die Eltern, sondern an die Sozialhilfe-träger ausgezahlt. Somit kommt in diesen Familienkein Kindergeld an. Früher ging dies nur, wenn dasKind in einer vollstationären Einrichtung lebte, dieanfallenden Unterhaltskosten vom Sozialamt über-nommen wurden und die Eltern keine oder nur geringeAufwendungen für das Kind hatten. Seit drei Jahrengibt es eine andere Rechtsprechung. Das Kindergeldkann nun auch Eltern gestrichen werden, die sichnachweislich liebevoll und mit hohem finanziellemEngagement um ihre Kinder in Pflegeeinrichtungenkümmern, sie oft besuchen und ihnen das Leben ver-Zu Protokoll gegebene Reden
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Gabriele Hiller-Ohm
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schönern. Und der Sozialhilfeträger kann das Kinder-geld jetzt sogar dann abzweigen, wenn das Kind imHaushalt der Eltern lebt, was in der Regel mitMehrkosten verbunden ist, die nicht alle ausgeglichenwerden. Diese Rechtslage nutzen die Sozialhilfeträgerund zweigen immer mehr Kindergeld ab. Sie tun es, umGeld zu sparen. Den Eltern bleibt in diesem Fall nurder Widerspruch. Das darf nicht sein.Es muss dringend darauf hingewirkt werden, dassSozialhilfeträger keine ungerechtfertigten Abzwei-gungsanträge stellen. Jetzt muss man überlegen, wieman das hinbekommt. Das haben Sie, liebe Kollegin-nen und Kollegen der Grünen, ja auch gemacht: recht-lich die Situation noch mal klarstellen und die Beweis-last umkehren.Das sind gute Vorschläge, aber sie helfen über dasGrundproblem leider nicht hinweg. Natürlich habenFamilien mit behinderten Kindern Nachteile undMehraufwendungen – auch die Eltern –, aber bitteschön: Die behinderten Kinder sind irgendwann er-wachsen. Und sie sollten nicht darauf angewiesensein, dass Mama und Papa zusätzliche Kosten, diedurch die Behinderung entstehen, für sie tragen. Undsie sollten genauso wenig darauf angewiesen sein,dass Mama und Papa dafür mit Kindergeld abgespeistwerden. Wir stehen für eine Politik, die auf die Selbst-bestimmung behinderter Menschen zielt. Nachteils-ausgleiche müssen den Menschen mit Behinderungselbst gewährt werden. Mehraufwand der Eltern darfnicht mit einem lebenslangen Kindergeld ausgeglichenwerden. Hier brauchen wir neue Konzepte. Die habenwir in unserem Antrag „UN-Konvention jetzt umsetzen –Chancen für eine inklusive Gesellschaft nutzen“, Bun-destagsdrucksache 17/7942, beschrieben. Wir wollenweg vom Prinzip der Fürsorge und hin zur Teilhabe,weg vom SGB XII in das SGB IX. Wir wollen die Mög-lichkeit eines einkommens- und vermögensunabhängi-gen Teilhabegeldes prüfen. Wir haben unseren Antragzusammen mit behinderten Menschen erarbeitet. Unddie haben ihren Anspruch ganz klar formuliert: Siemöchten unabhängig sein! Das muss der Weg sein. Dievielen unrechtmäßigen Kindergeldabzweigungen müs-sen wir stoppen, keine Frage. Aber die Problematikjetzt einzelgesetzlich neu zu regeln, wäre Flickschuste-rei.Wir sollten den großen Wurf wagen und konsequentden Weg hin zu Teilhabe und Selbstbestimmung be-schreiten. Das tun Sie, liebe Kolleginnen und Kollegender Grünen, mit Ihrem Antrag nicht. Deshalb werdenwir uns hier enthalten.
Der Antrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen,den wir hier beraten, spricht ein Problem an, das inder Vergangenheit vereinzelt existierte. Er ist dennochüberflüssig, da diese christlich-liberale Bundesregie-rung durch ihr schnelles Handeln eine rechtlicheKlarstellung herbeigeführt hat.Das Kindergeld erhält grundsätzlich der Elternteil,der das Kind in seinen Haushalt aufnimmt und ihmUnterhalt leistet. Nur in Ausnahmefällen kann dasKindergeld von der zuständigen Familienkasse anDritte, entweder das Kind selbst oder den Sozialhilfe-träger, ausbezahlt werden. Dies darf jedoch nur danngeschehen, wenn der Elternteil seiner Unterhalts-pflicht gegenüber dem Kind tatsächlich nicht nach-kommt.Während der Anspruch auf Kindergeld in der Regelspätestens mit dem 25. Geburtstag endet, kann er beiMenschen mit Behinderung auch über das 25. Lebens-jahr hinaus bestehen, wenn sie aufgrund der Beein-trächtigung nicht in der Lage sind, sich selbst zu unter-halten. Die Behinderung muss in diesen Fällen jedochvor dem 25. Lebensjahr eingetreten sein.Hier haben die Sozialhilfeträger, die für die jeweili-gen Sozialleistungen zuständig sind, die Möglichkeit,einen Abzweigungsantrag zu stellen. Diesem ist jedochnur dann stattzugeben, wenn die Eltern nicht für denUnterhalt des Kindes sorgen.Wenn jedoch einzelne Kommunen mittlerweileverstärkt Anträge auf Kindergeldabzweigung stellen,dann ist das mit der bestehenden Rechtslage nicht ver-einbar.Deshalb hat das Bundesministerium für Arbeit undSoziales auch klargestellt, dass sich die Rechtslagenicht geändert hat und dass solche Anträge nur in Aus-nahmenfällen positiv beschieden werden können. Diedafür erforderlichen Kriterien haben sich nicht geän-dert. Diese Rechtsauffassung hat das Bundesministe-rium für Arbeit und Soziales den Ländern für die Kon-ferenz der obersten Landessozialbehörden am 7. April2011 mitgeteilt.Seit diesem Zeitpunkt ist festzustellen, dass in derSozialhilfepraxis, insbesondere in den Großstädten,der Rechtsauffassung der Bundesregierung gefolgtwird. Eine gesetzliche Änderung ist daher nicht not-wendig.Im Übrigen möchte ich die Gelegenheit nutzen, umetwas zu den Kindergeldplänen der Kolleginnen undKollegen der SPD-Fraktion zu sagen. Sie fordern überdie gesamte Legislaturperiode immer wieder, dassstatt in das Kindergeld viel mehr in Infrastruktur fürKinder investiert werden müsse. Noch 2010 haben siesogar eine Senkung des Kindergeldes gefordert.Diese Bundesregierung hat bei der Infrastruktur ge-handelt. Wir haben in die Infrastruktur für Kinder zu-sätzlich investiert. Wir haben über 580 Millionen Eurozusätzlich als Investitionszuschüsse für die Betreuungvon Kindern bereitgestellt. So können 30 000 zusätz-liche Plätze für die öffentlich geförderte Betreuung vonKindern unter drei Jahren geschaffen werden.Zusätzlich hat das Bundesministerium für Familie,Senioren, Frauen und Jugend gemeinsam mit derKreditanstalt für Wiederaufbau ein zweijähriges För-derprogramm für den Ausbau von KindertagesstättenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26937
Pascal Kober
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aufgelegt. Hier stehen für den Zeitraum 350 MillionenEuro zur Verfügung.Sie sehen, dass diese Regierungskoalition handelt –sowohl bei der Verbesserung der Infrastruktur für Kin-der wie auch bei der Entlastung von Familien. Wir ha-ben das Kindergeld pro Kind um 20 Euro im Monatund den Kinderfreibetrag erhöht – und dabei trotzdemden Haushalt konsolidiert. Ich würde mir wünschen,dass die Länder hier genauso handeln würden.Diese haben aber beim Ausbau der Kinderbetreu-ungsplätze noch Nachholbedarf, und durch die Blo-ckade des Gesetzes zum Abbau der kalten Progressionverhindern die von SPD, Grünen und Linken regiertenLänder eine Entlastung der Familien.Der Höhepunkt der Unredlichkeit sind dann ihrePläne zur Umgestaltung des Kindergeldes. Jetzt wol-len sie das Kindergeld für bestimmte Familien erhö-hen, für andere soll die Förderung hingegen geringerausfallen. Das zeigt, dass sie nicht wissen, was siewollen. Mal fordern sie eine Absenkung, mal eine teil-weise Erhöhung.Wir handeln lieber im Interesse der Kinder in unse-rem Land – und das mit in sich stimmigen Konzepten.
Hat Ihr Kind einen hohen Verschleiß an Kleidungund Schuhen? Wenn ja, legen Sie bitte die Gründe dar,und teilen Sie mit, was im Jahr an Kosten für Schuheund Kleidung anfallen. Muss Ihr Kind öfters ins Kran-kenhaus? Bitte teilen Sie mit, wie hoch Ihre gesamtenKosten für die Renovierung des Zimmers des Kindeswaren. Wie oft renovieren Sie das Zimmer Ihres Kin-des? Eigenartige Fragen. Können Sie sich vorstellen,dass die Familienkasse die Beantwortung solcher undweiterer ähnlich gelagerter Fragen fordert, bevor Siedas Kindergeld bzw. den Kinderfreibetrag gewährt be-kommen? Sicher nicht, denn das staatliche Kindergeldsoll – zumindest teilweise – die finanziellen Belastun-gen ausgleichen, die Eltern durch den Unterhalt ihrerKinder entstehen. Kindergeld ist ein Recht, kein Gna-denakt.Es gibt aber solche Fragen von Familienkassen,gestellt an Eltern von Kindern über 25 Jahren mit Be-hinderungen. Und dann bzw. schon zuvor erfolgt dieKindergeldabzweigung. Was das ist? Dazu ein anony-misiertes Beispiel aus dem Landkreis Harz.„Im Oktober 2011 kam Post von der Familienkasse,FK, für die Eltern von Erika Mustermann. Erikas El-tern waren erstaunt, hatten sie doch erst vor kurzem,wie in jedem Jahr, den Bescheid von der FK erhalten,dass sie weiterhin Kindergeld für Erika bekommen.Erika ist auf den Rollstuhl angewiesen. Sie lebt bei ih-ren Eltern im Haushalt. Da sie wirtschaftlich nichtselbstständig und auf Hilfe angewiesen ist, erhält sievom Sozialamt des Landkreises Grundsicherung nachdem Sozialgesetzbuch XII. Außerdem steht den Elternentsprechend Einkommensteuergesetz § 32 Kindergeldauch nach dem 25. Lebensjahr ihres Kindes – Erika istüber 30 Jahre alt – auf Dauer zu. Doch in diesemSchreiben der FK steht, dass das Sozialamt des Kreisesab November 2011 das Kindergeld für sich beantragt.Was passierte dann? Der Abzweigungsantrag desLandkreises an die FK bewirkt, dass die Kindergeld-zahlung ab 1. November 2011 eingestellt wird, obwohlnoch nichts entschieden ist. Innerhalb von 14 Tagenmüssen die Eltern der FK mitteilen, welche finanziel-len Aufwendungen ihnen für ihr Kind entstanden sind,die über die Grundsicherung oder Leistungen anderer– Kranken- oder Pflegekasse – hinausgehen. Dafürsind der FK Nachweise – Quittungen, Belege usw. –vorzulegen. Dann kommt die Mitteilung von der FK,dass die Belege unzureichend seien, verbunden mitFragen wie zum Beispiel nach höherem behinderungs-bedingten Verschleiß von Kleidung und Schuhen.Nachweise müssen nachgereicht werden, noch weiterewerden von der FK gefordert. Monate vergehen.Im Frühjahr 2012 kommt endlich der Bescheid vonder FK. Doch was ist das? Erikas Eltern sollen nurnoch etwa ein Drittel des bisherigen Kindergeldes von184 Euro erhalten, der Landkreis bekommt etwa zweiDrittel. Eine Nachzahlung ab November wird den El-tern angekündigt. Doch dazu kommt es nicht. DerLandkreis gibt sich mit einer Teilabzweigung nicht zu-frieden und legt Einspruch gegen diesen Bescheid beider FK ein. Er will alles. Bis zum letzten Herbstmonatdes Jahres 2012 ist noch keine Entscheidung gefallen.Erikas Eltern bekommen jetzt bereits seit einem Jahrkein Kindergeld, obwohl sie sich wie seit über 30 Jah-ren liebevoll um ihre Tochter kümmern. Die natürlichweiterhin anfallenden behinderungsbedingten Mehr-aufwendungen können sie seit einem Jahr nur noch er-bringen, indem sie selbst auf Nötiges für sich verzichten.Der Landkreis hat die Mittel, die er 2012 aus Kinder-geldabzweigungen eingenommen hat – 180 000 Euro –,inzwischen als Deckungsquelle für eine überplanmä-ßige Ausgabe eingesetzt. Das Geld im Haushaltsplan2012 hat nicht für die Zahlung der Sozialhilfe – dafürist ebenfalls der Landkreis zuständig – an alte Men-schen gereicht, die von ihrer geringen Rente nicht le-ben können. Sie erhalten jetzt das Geld, das den Elternerwachsener behinderter Kinder abgezweigt wurde.“Dies wurde auf Grundlage einer Vielzahl von Ge-sprächen mit betroffenen Eltern vom Kreistagsabge-ordneten Eberhard Schröder, Die Linke, am 16. No-vember 2012 aufgeschrieben. Ähnliche Berichte kenneich auch aus Gera in Thüringen, Gemeinden in Bayernund anderen Kommunen. Am 5. Dezember 2012 über-gab eine Elterninitiative 2 305 Unterschriften an denLandrat Dr. Michael Ermrich anlässlich der HarzerKreistagssitzung. Inzwischen sind weitere 400 Unter-schriften hinzugekommen. Nachfolgend die Worte vonFrau Birgit Kortum, Vertreterin der ElterninitiativeQuedlinburg, anlässlich der Übergabe der 2 305 Un-terschriften gegen die Kindergeldabzweigung: „Sehrgeehrter Herr Landrat, sehr geehrte Mitglieder desKreistages, ich spreche heute für mich und für alleEltern, denen der Landkreis per Verfügung das Kin-dergeld, welches wir für unsere behinderten KinderZu Protokoll gegebene Reden
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26938 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Ilja Seifert
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von der Kindergeldkasse erhalten haben, abspricht.Der Landkreis unterstellt uns damit, dass wir uns nichtausreichend um unsere behinderten Angehörigen küm-mern. Uns wird weiter unterstellt, dass wir das Kinder-geld nicht für unsere Kinder ausgeben, und wir müssendetailliert aufführen, was wir mit dem Kindergeld ma-chen und wie wir es verwenden, damit wir es ganz oderteilweise weiter bekommen. Als seinerzeit das Gesetzerlassen wurde, dass Kindergeld länger für ein behin-dertes Kind gezahlt werden kann, hat man sicherlichbedacht, dass Eltern, die ihr behindertes Kind zuHause haben, ständig gefordert sind und mehr Ausga-ben haben als mit einem gesunden Kind, welches ein-mal selbstständig leben kann.Wir fordern deshalb die Rücknahme der Abzwei-gungsanträge durch den Landkreis. Nicht nur wir, son-dern auch viele Bürger unseres Landes unterstützenunsere Forderung mit ihrer Unterschrift, und deshalbmöchte ich Ihnen heute einen Teil der Listen unsererUnterschriftenaktion übergeben.“Auf Antrag der Fraktion Die Linke im LandtagSachsen-Anhalt gab es am 14. Dezember 2012 dazueine Debatte in der Landeshauptstadt Magdeburg– „Abzweigung von Kindergeld für erwachsene Behin-derte stoppen“, Drucksache 6/1671 –, auch in denLandtagen Bayern und Thüringen stand das Themaschon auf der Tagesordnung. Auch der Bundesregie-rung ist das Problem seit längerem bekannt. Ich ver-weise diesbezüglich unter anderem auf meine Anfra-gen aus den Jahren 2010 und 2011 sowie dieabwiegelnden Antworten und äußerst halbherzigenReaktionen der Bundesregierung dazu. Schon damalserklärte die Bundesregierung, dass hier gegen gelten-des Recht verstoßen wird und sie Maßnahmen zur Än-derung der kritisierten Praxis ergreift. Und trotzdemwird das Kindergeld Familien mit behinderten Jugend-lichen vorenthalten. Deswegen unterstützt die Linkeauch den hier zur Abstimmung stehenden Antrag derGrünen. Absurd sind die Begründungen von CDU/CSU, FDP und SPD für ihre Ablehnung bzw. Stimm-enthaltung, nachzulesen in der Beschlussempfehlung,Drucksache 17/11748. Selbstverständlich: Es gibt bes-sere Möglichkeiten für Nachteilsausgleiche als das ge-genwärtige Kindergeldsystem. Ich nenne dafür dieVorschläge der Linken, nachzulesen in unserem Antragfür ein Teilhabesicherungsgesetz, Drucksache 17/7889.Aber solange diese Form von bedarfsgerechten, ein-kommens- und vermögensunabhängigen Teilhabeleis-tungen nicht verwirklicht ist, muss das vorhandeneSystem im Sinne der Betroffenen umgesetzt werden.Und das heißt unter anderem, dass Kindergeldabzwei-gungen nur in wenigen begründeten Ausnahmefällenmöglich sein dürfen.Und auf ein weiteres, großes Problem möchte ich andieser Stelle hinweisen. Wenn Eltern, in deren Haus-halt ein erwachsenes behindertes „Kind“ lebt, selbstHartz IV – SGB II – oder Grundsicherung – SGB XII –beziehen, wird ihnen in jedem Fall das Kindergeld alsEinkommen angerechnet und von ihrem Regelsatz ab-gezogen. Hinzu kam die Einführung der Regelbedarfs-stufe 3, mit der die Regelsätze für junge Menschen, diebei den Eltern leben, gekürzt wurden. Hier geht esnicht um den Umgang von einzelnen Kommunen mitBundesgesetzen, sondern um bestehendes Bundesrechtselbst. Hartz IV und die Agenda 2010 sind Armut perGesetz.Für mich bleibt es ein Skandal, wenn immer wiederbei den Ärmsten in der Gesellschaft gespart wird,wenn bei Familien mit Kindern und vor allem beiFamilien mit Kindern bzw. Jugendlichen mit Behinde-rungen Geld abgezweigt wird. Dabei gibt es andereMöglichkeiten, Geld für klamme Haushalte in Bund,Ländern und Kommunen abzuzweigen, denke ich nuran unnötige Ausgaben für Banken, Konzerne, für un-sinnige Großprojekte, für Rüstung und Kriegseinsätze.
Niemand hier stellt infrage, dass Eltern, deren er-wachsene behinderte Kinder ihren Lebensunterhaltnicht durch Erwerbsarbeit bestreiten können, weiter-hin Kindergeld beziehen sollen. Nur in begründetenEinzelfällen, wenn zum Beispiel zwischen Eltern undKind kein Kontakt besteht, ist eine Kindergeldzahlungnicht gerechtfertigt. Die Diskussion, die wir im Aus-schuss über den hier zur Debatte stehenden Antraghatten, hat die Einigkeit zwischen den Fraktionen indieser Hinsicht sehr deutlich gemacht. Da angenom-men werden kann, dass den Eltern in Folge der Beein-trächtigung ihres Kindes höhere Kosten entstehen alsEltern nichtbehinderter Kinder, erhalten sie auch einestaatliche Leistung länger. Die Einigkeit darüber, dasses bei der Umsetzung dieses Rechtsanspruchs erhebli-che Probleme gibt, war im Ausschuss ebenfalls relativgroß. Kein Wunder, denn die Zahl der Klagen ist in die-ser Sache hoch, und ich nehme an, dass sich betroffeneFamilien nicht nur an mich gewandt haben.So hat mir beispielsweise ein Vater aus Thüringenvom Rechtsstreit berichtet, den die Familie im Zusam-menhang mit dem Kindergeld für die erwachsene be-hinderte Tochter hat. Nachdem die Familienkassenach Prüfung der von den Eltern eingereichten Unter-lagen den Antrag des Sozialhilfeträgers auf Abzwei-gung abgelehnt hatte, klagte der Sozialhilfeträger. DasSozialamt klagte aber nicht nur in diesem Fall, son-dern in dieser Stadt gleich in über zehn Fällen. In mei-nem Wahlkreis Dortmund hat die Stadt im vorletztenJahr bei 550 infrage kommenden Fällen 458 Abzwei-gungsanträge gestellt. Bei nahezu allen von der Fami-lienkasse abgelehnten Fällen hat der SozialhilfeträgerEinspruch eingelegt. Aus anderen Bundesländern istmir Ähnliches bekannt. Den Eltern entsteht durchdiese Praxis der Sozialhilfeträger zum einen der Auf-wand, kleinteilig nachzuweisen, in welchem Umfangsie für ihre Kinder aufkommen. Zum anderen entstehtUnsicherheit, inwiefern sie sich auf diese Leistungfinanziell verlassen können. So war diese Leistungnicht gedacht.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26939
Markus Kurth
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Ich habe es schon gesagt: Das Kindergeld darf nurin besonders begründeten Ausnahmefällen entzogenwerden, in dieser Frage sind sich alle Fraktionen ei-nig. Es ist leicht nachzuweisen, dass die Sozialhilfeträ-ger nicht nach diesem Prinzip agieren. Ich kann dasangesichts der prekären finanziellen Lage der Trägerauch nachvollziehen. Das ändert aber nichts daran,dass sie mit ihrer Praxis der Intention des Gesetzge-bers widersprechen, von den Kosten, die durch diezahlreichen Gerichtsverfahren entstehen, ganz zuschweigen. Eine Klarstellung scheint also tatsächlichgeboten zu sein.In Anbetracht der großen interfraktionellen Einig-keit in der Sache würde man annehmen, dass unser An-trag auch auf große Zustimmung stößt. Dies ist leidernicht der Fall. Die Koalitionsfraktionen meinen, dieRechtslage sei klar, und die Bundesregierung steuereder kritisierten Entwicklung bereits entgegen. Warumbei klarer Rechtslage derart viele Prozesse geführtwerden, leuchtet mir nicht ein. Aber ich hoffe wirklich,dass dieses Gegensteuern bald positive Effekte zeitigt.Die Probleme sind ja nun lang genug bekannt.Erstaunt haben mich mit ihrem Abstimmungsverhal-ten zum wiederholten Male die Sozialdemokraten.Denn die SPD kann sich ebenfalls nicht zu einer Zu-stimmung durchringen. Zwar hat auch die SPD infolgeunseres Antrags geprüft, ob es tatsächlich ein Problemgibt mit vermehrten Abzweigungsanträgen, und dabeifestgestellt, dass dies der Fall ist. Insbesondere einenGrund hat die Fraktion im Ausschuss genannt, der ihran unserem Antrag Bauchschmerzen bereitet. Denndas Geld, das jetzt die Familien bekommen, müsse ei-gentlich an die Menschen mit Behinderung selbst aus-gezahlt werden. Ich halte dies ebenfalls für das rich-tige langfristige Ziel, deshalb haben wir es auch inunseren Antrag aufgenommen. Es „muss eine Lösunggefunden werden, die Menschen mit Beeinträchtigun-gen entsprechend ihrer behinderungsbezogenen,individuellen Mehrbedarfe einen einkommens- undvermögensunabhängigen Nachteilsausgleich garan-tiert. Solange eine solche Neuregelung im Sinne vonMenschen mit Behinderungen nicht gefunden ist, mussdie Praxis der nicht gerechtfertigten flächenmäßigenKindergeldabzweigung beendet werden.“ Warum dieSPD einem Antrag nicht zustimmen kann, der Familienmit behinderten Kindern entlastet, ohne dabei aus demBlick zu verlieren, dass langfristig das System derNachteilsausgleiche für Menschen mit Behinderungneu geordnet werden muss, ist schlicht nicht nachvoll-ziehbar. Es ist die Weigerung, die konkreten Problemeanzugehen, mit denen Menschen mit Behinderung undihre Familien zu kämpfen haben. Oder anders gesagt:Ich freue mich darauf, die SPD an ihre weitgehendenForderungen zu erinnern, sollte sie in Regierungsver-antwortung kommen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Ausschuss für
Arbeit und Soziales empfiehlt in seiner Empfehlung auf
Drucksache 17/11748, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10863 abzuleh-
nen. Wer stimmt für diese Empfehlung? – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung
ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen die
Stimmen der Linken und Grünen bei Enthaltung der
SPD angenommen.
Tagesordnungspunkt 30:
Erste Beratung des von der Bundesregierung einge-
brachten Entwurfs eines Gesetzes zur Änderung
– Drucksache 17/10489 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll genommen.
In der heutigen Debatte beschäftigen wir uns in ers-ter Lesung mit dem Entwurf eines Gesetzes zur Ände-rung personenstandsrechtlicher Vorschriften. Bei In-krafttreten des Reformgesetzes zum 1. Januar 2009standen die für die Einführung der elektronischen Re-gisterführung erforderlichen technischen Komponen-ten und Verfahren noch nicht zur Verfügung. Deshalbwurde für eine Übergangszeit bis zum 31. Dezember2013 auch weiterhin die Beurkundung in Papierregis-tern zugelassen. Die fünfjährige Übergangsphase fürdie verbindliche Einführung der elektronischen Beur-kundungs- und Mitteilungsverfahren im Personen-standswesen gab den Ländern Gelegenheit, erste Er-fahrungen der Standesämter und Rechenzentren mitdem neuen Recht und den elektronischen Prozessenauszuwerten und für eine Überprüfung der entspre-chenden Vorschriften zu nutzen. Die von den Personen-standsrechtsreferenten der Länder am 25. Februar 2010beschlossene Evaluierung hat gezeigt, dass das neueRecht sich bei der praktischen Anwendung in denStandesämtern grundsätzlich bewährt hat. Regelungs-lücken werden durch den jetzt vorgelegten Änderungs-entwurf geschlossen.Viele der Änderungen sind lediglich redaktionellerArt. An dieser Stelle möchte ich niemanden mit Detailslangweilen. Dennoch ist das Thema wichtig, denn esbetrifft jeden einzelnen Bürger und jede einzelne Bür-gerin in unserem Land im täglichen Leben. Bei Geburt,Umzug, Hochzeit, Scheidung, Kindern und Tod spieltdas Personenstandsrecht eine wichtige Rolle. Deshalbmöchte ich insbesondere auf die Änderungen einge-hen, die dazu dienen sollen, den betroffenen Menschendas Leben zu erleichtern, und die ich deshalb als be-sonders hervorhebenswert erachte.Da ist zum einen: Die Antragsberechtigung fürSterbefälle von Deutschen im Ausland. Diese wird er-weitert. Das betrifft einerseits Personen, die nach demVerstorbenen erbberechtigt sind. Diese Personen ha-
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26940 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Helmut Brandt
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ben zwar einen Rechtsanspruch auf Ausstellung einerSterbeurkunde – § 62 Abs. 1 Satz 2 PStG –, konnten je-doch bisher die Nachbeurkundung eines nicht im In-land beurkundeten Sterbefalls nicht verlangen. Dieskann jedoch – wie die Praxis zeigt – erforderlich sein,wenn der Verstorbene in einem Land verstorben ist,das für ausländische Staatsangehörige keine Sterbeur-kunden ausstellt. Darüber hinaus wird den deutschenAuslandsvertretungen insbesondere für Sterbefälle vonBundeswehrsoldaten, Polizeibeamten und sonstigenim Dienst der Bundesrepublik Deutschland stehendenPersonen, die im Auslandseinsatz versterben, eine An-tragsberechtigung eingeräumt.Besonders wichtig erscheint mir auch, dass der jetztvorgelegte Änderungsentwurf für Eltern die Möglich-keit schafft, eine Fehlgeburt dem Standesamt gegen-über anzuzeigen und ihr totgeborenes Kind – unabhän-gig von dessen Gewicht – über den Eintrag in dasPersonenstandsregister juristisch als Person anerken-nen zu lassen. Eine Fehlgeburt ist für die betroffenenFamilien schrecklich. Ich kann das Bedürfnis von El-tern, ihrem totgeborenen Kind einen Namen und damiteine Identität geben zu wollen und es beerdigen zukönnen, gut nachvollziehen.Eine Schutzmöglichkeit eröffnet auch der Ände-rungsentwurf gemäß § 62 Transsexuellen vor einer Of-fenbarung ihrer Transsexualität. Durch das Änderungs-gesetz zum Transsexuellengesetz vom 17. Juli 2009 istdie Ledigkeit des Antragstellers nicht mehr Vorausset-zung für die gerichtliche Feststellung der Geschlechts-zugehörigkeit. Dadurch können verheiratete Trans-sexuelle ihre bestehende Ehe oder Lebenspartnerschafttrotz des Wechsels der Geschlechtszugehörigkeit fort-führen. In der Ehe- und Lebenspartnerschaftsurkundewird in solchen Fällen durch die Anpassung der Leit-texte „Ehemann“ und „Ehefrau“ oder durch die An-gabe eines geänderten Vornamens mittelbar die Tatsa-che der Transsexualität eines Partners offensichtlich.Mit der beabsichtigten Regelung wird deshalb derbisher nur für Geburtsurkunden bestehende Offen-barungsschutz auch auf die Erteilung von Ehe- undLebenspartnerschaftsurkunden erweitert. Nach § 62Abs. 3 Personenstandsgesetz gilt diese Beschränkungauch für die Auskunft aus einem und Einsicht in einenRegistereintrag sowie Auskunft aus den und Einsicht indie Sammelakten des Standesamts.Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehungder Länder zustande gekommen ist, ist fachlich undpolitisch zu begrüßen. Es ist notwendig, das Personen-standsrecht den Anforderungen und den Bedürfnissenunserer Zeit anzupassen und Gesichtspunkte wie Dere-gulierung, Verwaltungsvereinfachung und Kostenredu-zierung zu berücksichtigen. Durch die jetzt vorgesehenenÄnderungen wird eine nachhaltige Harmonisierungdes Personenstandsrechts in Deutschland und eineeffektive Durchführung des personenstandsrechtlichenBeurkundungsverfahrens erreicht. Soweit an der einenoder anderen Stelle möglicherweise noch Optimie-rungsbedarf besteht, können wir dies im Verfahren be-rücksichtigen. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Im November 2006 haben wir in der Großen Koali-tion das Gesetz zur Reform des Personenstandsrechtsverabschiedet. Dieses Gesetz, das 2007 in Kraft getre-ten ist, basiert auf einem Entwurf der rot-grünen Ko-alition aus der 15. Wahlperiode und wurde nur wenigverändert. Es hat das Personenstandsrecht von 1937in der Fassung von 1957 abgelöst. Die Schwerpunkteder damaligen Reform waren die Einführung elektro-nischer Personenstandsregister anstelle der bisheri-gen papiergebundenen Personenstandsbücher, die Be-grenzung der Fortführung der Personenstandsregisterdurch das Standesamt sowie die Abgabe der Registeran die Archive, die Ersetzung des Familienbuchs durchBeurkundungen in den Personenstandsregistern, dieReduzierung der Beurkundungsdaten auf das für dieDokumentation des Personenstandes erforderlicheMaß, die Neuordnung der Benutzung der Personen-standsbücher sowie die Schaffung einer rechtlichenGrundlage für eine Testamentsdatei. Da das damaligeGesetz eine tiefgreifende Änderung, nämlich die Um-stellung von papiergestützter Beurkundung auf einelektronisches Register bedeutete, wurde damals eineÜbergangsfrist in § 75 PStG aufgenommen. DieseÜbergangsfrist endet am 30. Juni diesen Jahres. In denletzten Jahren hat sich gezeigt, dass sich die Reformdes Personenstandsrechts bewährt hat.Das nun vorliegende Personenstandsrechts-Ände-rungsgesetz setzt die Ergebnisse der Evaluierung desPersonenstandsrechts von 2007 um. Es sind nur punk-tuelle Verbesserungen notwendig. Leider beschränktsich dieser Gesetzentwurf nur auf technische und for-melle Fragen und lässt Menschen, die Probleme mitder personenstandsrechtlichen Eintragung haben, au-ßer Acht. Der Deutsche Ethikrat hat im Februar 2012eine Stellungnahme zum Themenschwerpunkt „Inter-sexualität“ vorgelegt. In dieser Stellungnahme, die derEthikrat im Auftrag der Bundesregierung erstellt hat,gibt er auch Empfehlungen an die Politik. In den Emp-fehlungen zum Personenstandsrecht heißt es: „DerDeutsche Ethikrat ist der Auffassung, dass ein nicht zurechtfertigender Eingriff in das Persönlichkeitsrechtund das Recht auf Gleichbehandlung vorliegt, wennMenschen, die sich aufgrund ihrer körperlichen Kon-stitution weder dem Geschlecht ‚weiblich‘ noch‚männlich‘ zuordnen können, rechtlich gezwungenwerden, sich im Personenstandsregister einer dieserKategorien zuzuordnen.“Der Ethikrat schlägt vor, ein sogenanntes drittesKästchen, zu ermöglichen und auch auf eine Eintra-gung zu verzichten, bis sich der oder die Betroffeneselbst entscheiden kann. Diese Änderungen fordertauch der Bundesrat in seiner Stellungnahme.Die Bundesregierung hingegen äußert sich wie folgtdazu: „Eine Lösung der komplexen Probleme insbe-sondere unter Berücksichtigung medizinischer AspekteZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26941
Gabriele Fograscher
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kann in diesem schon weit fortgeschrittenen Gesetzge-bungsverfahren nicht kurzfristig gefunden werden.“Diese Aussage ist eine Enttäuschung für die Betroffe-nen. Die Stellungnahme des Ethikrates ist vom Fe-bruar 2012. Im Mai 2012 wurde der Gesetzentwurfdem Bundesrat zugeleitet. Es wäre also hinreichendZeit gewesen, sich mit diesem Thema zu befassen, dieEmpfehlungen des Ethikrates aufzunehmen oder einenÄnderungsantrag vorzulegen. Offensichtlich nimmtdie Bundesregierung die Probleme und Sorgen der Be-troffenen nicht ernst. Es wird, wie in vielen anderenBereichen auch, so zum Beispiel beim Transsexuellen-gesetz, das durch mehrere Bundesverfassungsgerichts-urteile in vielen Teilen verfassungswidrig ist, nur an-gekündigt und vertröstet, aber nicht gehandelt.Ein weiteres Problem, das durch diesen Gesetzent-wurf nicht gelöst wird, ist das Problem der „WeißenKarteikarten“. Dabei geht es um den Schutz des Erb-rechts und der Verfahrensbeteiligungsrechte nichtehe-licher und einzeladoptierter Kinder im Nachlassver-fahren. Die Standesämter führen in Deutschland seitEnde des 19. Jahrhunderts die Personenstandsregister.Der Staat beurkundet dort den Personenstand jedesBürgers – und damit seine Stellung innerhalb derRechtsordnung einschließlich des Namens. Währendeheliche Kinder schon ab 1935 beim Heiratseintragoder im Familienbuch registriert wurden, war die Pra-xis bei nichtehelichen Kindern uneinheitlich. So gab eszum Beispiel von 1958 bis 1970 keine Hinweise bei denGeburtseinträgen der Eltern, von 1970 bis 2009 wur-den die Geburtsregister der Eltern über die Geburtnichtehelicher Kinder mittels Weißer Karteikarten un-terrichtet, die von den Geburtsstandesämtern der Kin-der übersandt wurden. Im Personenstandsregister derEltern wurde ein Vermerk angebracht. Nach derWende galt dieses Verfahren ab 1990 auch in denneuen Bundesländern. Vergleichbare Regelungen gabes über die Jahrzehnte für einzeladoptierte Kinder. Seit1. Januar 2009 wird einheitlich am Geburtseintragbeider Eltern ein Hinweis auf alle Kinder mit den Kin-desdaten angebracht. Eine Unterscheidung zwischenehelichen, nichtehelichen und einzeladoptierten Kin-dern findet nicht statt. Die Frage, die sich nun stelltund die der Gesetzentwurf nicht löst, ist der weitereUmgang mit diesen Weißen Karteikarten. Der Bundes-rat schlägt in einem Gesetzentwurf vor, die WeißenKarteikarten zusammen mit den sogenannten GelbenKarteikarten, die Verwahrungsnachrichten über Testa-mente und Erbverträge enthalten, an das zentraleTestamentsregister der Bundesnotarkammer zu über-führen. Dann könnte die Bundesnotarkammer dieNachlassgerichte wenigstens über nichteheliche undeinzeladoptierte Kinder, die in den alten Bundeslän-dern zwischen 1970 und 2008 und in den neuen Bun-desländern zwischen 1990 und 2008 geboren wurden,unterrichten. Die Bundesregierung lehnt dies ab. Siekümmert sich leider überhaupt nicht um dieses Pro-blem. In ihrer Antwort auf die Kleine Anfrage derSPD-Fraktion vom November des vergangenen Jahreshat sie ausgeführt, es sei gar nicht nötig, das Vorhan-densein nichtehelicher Kinder im Sterbefall dem Nach-lassgericht mitzuteilen. Die Bundesregierung hat wei-ter mitgeteilt, es sei richtig, dass die Standesämter dieWeißen Karteikarten vernichten dürften. Die Bundes-regierung habe sich jedoch dieser Problematik ange-nommen und sei mit den Ländern im Gespräch. DieBundesregierung gehe davon aus, dass eine angemes-sene Regelung gefunden wird. Geschehen ist seithernichts. Auch in diesem Gesetzentwurf findet sich keinWort dazu. Der Bundesrat hat das bemängelt. Jetztschlägt die Bundesregierung in ihrer Erwiderung vor,dass die Länder selbst in einer Rechtsverordnung dieAufbewahrung und Nutzung der Weißen Karteikartenregeln sollen. Das ist keine ernsthafte Lösung, sonderneine unangemessene Abschiebung des Problems. Inder Antwort auf die Kleine Anfrage der SPD hat dieBundesregierung noch erklärt, die Länder könnten garkeine Schutzregelungen erlassen. Wir brauchen für ei-nen wirksamen Schutz des Erbrechts der betroffenenKinder einen einheitlichen Standard und Vollzug, unddafür muss der Bundesgesetzgeber sorgen.Wir begrüßen es ausdrücklich, dass dieser Gesetz-entwurf die personenstandsrechtliche Registrierungvon sogenannten Sternenkindern vorsieht. Kinder, diemit einem Gewicht von weniger als 500 Gramm tot zurWelt kommen, werden Sternenkinder genannt. Bishersieht das derzeit gültige Personenstandsrecht keinepersonenstandsrechtliche Erfassung dieser Kinder vor.Deshalb begrüßen wir als SPD-Bundestagsfraktion esausdrücklich, dass es hier eine Veränderung gibt. Ichselbst habe von vielen Eltern von SternenkindernBriefe bekommen, in denen sie mir erklärt haben, dasseine solche Eintragung ihrer Kinder, die sie verlorenhaben, ein wichtiger Beitrag zur Verarbeitung diesesVerlustes ist. Eine Frage, die mir von Eltern gestelltwurde, ist, ob wir nicht auch eine rückwirkende Ein-tragung der Sternenkinder ermöglichen können. DenEltern ist durchaus klar, dass sich aus einer solchenEintragung keine finanziellen oder sonstigen Ansprü-che ergeben. Für sie geht es nur darum, dass ihr Kindnicht einfach nur eine Fehlgeburt ist, sondern auchrechtlich als Kind anerkannt wird. Für viele Eltern vonSternenkindern hat diese Eintragung eine hohe emo-tionale Bedeutung. Auch wenn die Vorschrift des § 31des Gesetzentwurfes wohl eine rückwirkende Regis-trierung der Sternenkinder ermöglicht, so wäre für dieBetroffenen eine explizite Formulierung in dieser Vor-schrift sicherlich ein gutes Signal. Darüber sollten wirin den Beratungen sprechen.Das Gesetz enthält klarstellende und vor allem re-daktionelle Änderungen, bringt aber keine Verbesse-rungen für intersexuelle und transsexuelle Menschen.Deren Anliegen scheinen die Bundesregierung und dieKoalitionsfraktionen nicht zu interessieren. Auch wol-len sich die Bundesregierung und die Koalitionsfrak-tionen ihrer Verantwortung bezüglich der nichteheli-chen und einzeladoptierten Kinder nicht stellen.Ich hoffe, dass wir in den anstehenden Beratungendoch noch zu Fortschritten kommen.Zu Protokoll gegebene Reden
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26942 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
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Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf wird das Per-
sonenstandsgesetz von 2007 durch die christlich-libe-
rale Koalition nachhaltig verbessert. Die Änderung
des Gesetzes ist nötig, weil einige Aspekte des Gesetzes
sich als nicht zeitgemäß herausgestellt haben und an
die Gegebenheiten und an die gesellschaftlich gelebten
Realitäten angepasst werden müssen.
In unserem Land kommt es tragischerweise immer
wieder dazu, dass Kinder tot geboren werden und we-
niger als 500 Gramm wiegen. Bisher hat das Perso-
nenstandsrecht diese Sternenkinder nicht erfasst. Für
den Staat haben sie rechtlich sozusagen nicht existiert.
Das trifft aber überhaupt nicht die brutale Realität,
mit der die Eltern konfrontiert sind, die eine Bindung
zu ihrem ungeborenen Kind aufgebaut haben und die
mit den Rechtsfolgen des alten Personenstandsgeset-
zes konfrontiert sind. So kam es in der Vergangenheit
leider vor, dass Friedhöfe die Bestattung dieser Kinder
verweigerten, so wie es einem Ehepaar aus Hessen ge-
schehen ist.
Das ist nicht hinnehmbar. Eltern sollen immer ein
Recht auf Anerkennung ihrer Elternschaft haben. Sie
sollen die Möglichkeit bekommen, um ihr Kind ange-
messen trauern zu können, wenn sie es so früh verloren
haben, und sie sollen die Möglichkeit bekommen, sei-
ner anständig gedenken zu können.
Das möchten wir mit Ihrer Zustimmung im Perso-
nenstandsrechts-Änderungsgesetz schaffen. Und da-
rum bitte ich Sie alle herzlich um Ihre Zustimmung.
Doch damit hört es nicht auf: Viele Deutsche halten
sich immer wieder im Ausland auf. Sie gehen als Ent-
wicklungshelfer oder Katastrophenschützer oder als
Freiwillige im Entwicklungsdienst ins Ausland, sie die-
nen als Bundeswehrsoldaten oder Polizisten. Sie be-
richten als Korrespondenten aus Krisengebieten, oder
sie machen Urlaub auf den Kanarischen Inseln. Immer
wieder kommt es dabei zu Todesfällen. Ein Sprengsatz,
ein bewaffneter Raubüberfall, ein Verkehrsunfall, ein
Badeunfall: All diese Ereignisse haben in der Vergan-
genheit zum tragischen Tod von Deutschen im Ausland
geführt. Die Hinterbliebenen stehen derzeit vor großen
Problemen. Sie haben einen schmerzhaften persönli-
chen Verlust erlitten und müssen sich zusätzlich um die
Rückführung ihres verstorbenen Angehörigen küm-
mern. Und sie haben behördlichen Aufwand, da sie
derzeit noch bei ihrem örtlichen Standesamt die Ster-
beurkunde des Angehörigen ausfertigen lassen müs-
sen.
Dass Menschen in einer solch schwierigen Situation
auch noch mit bürokratischem Ärger behelligt werden
– ja sogar Probleme bekommen können, da eventuell
wichtige Unterlagen nicht sofort beigetrieben werden
können –, halte ich für inakzeptabel.
Daher passen wir im neuen Personenstandsgesetz
die Verwaltungsarbeit an die Realität an. Zukünftig
können auch deutsche Auslandsbehörden die Ausstel-
lung der Sterbeurkunde in Auftrag geben und die An-
gehörigen so entlasten. Das ist eine Verbesserung.
Daneben werden wir noch eine Reihe technischer
Anpassungen im Gesetz durchführen, um das Perso-
nenstandswesen zeitgemäßer und moderner zu machen
und es stärker an der Lebensrealität der Bürgerinnen
und Bürger zu orientieren. So wollen wir die Erfassung
der Geschlechtszugehörigkeit in bestimmten Fällen
zukünftig genauer bestimmen und harmonisieren,
nicht zuletzt, um damit auch Transsexuellen zukünftig
die Möglichkeit zu geben, ihr rechtliches Geschlecht
richtig dokumentieren zu lassen.
Insgesamt kann man sagen: Mit dem Personen-
standsrechts-Änderungsgesetz schaffen wir mehr Mög-
lichkeiten und Verbesserungen für die Bürgerinnen
und Bürger in Deutschland. Ich bitte Sie daher, dieses
Gesetzesvorhaben zu unterstützen.
Im Jahr 2006 hat der Bundestag eine weitreichendeReform des deutschen Personenstandsrechts beschlos-sen, die 2009 in Kraft getreten ist. Mit dieser Reformwurde das Personenstandsrecht in der Bundesrepublikentschlankt und zugleich auf eine elektronische Füh-rung der Personenstandsdaten umgestellt. Dieses Ge-setz soll nun nach den ersten Erfahrungen mit der Ein-führung der elektronischen Register in den Ländernnochmals gestrafft und klarer formuliert werden. Demist zunächst einmal nichts entgegenzuhalten. Doch anden seinerzeit umstrittenen Punkten ändert sich nichts,ohne dass der Gesetzentwurf sich dazu weiter äußert.Diese Punkte seien hier nochmals ins Gedächtnis ge-rufen. Durch eine Länderöffnungsklausel ist dieSchließung einer Lebenspartnerschaft vor dem Stan-desamt weiterhin nicht in allen Ländern obligatorisch.In Bayern wird die Lebenspartnerschaft immer nochvor dem Notar geschlossen und dann vom Standesamtlediglich eingetragen. Gleichgeschlechtlichen Paarenbleibt damit der feierliche Rahmen, den die Standes-ämter bieten, verwehrt. Im Übrigen bleibt auch dieÜbertragung der Daten über die Schließung einer Le-benspartnerschaft an die Kirchen erhalten. In Einrich-tungen der katholischen Kirche kann das Bekanntwer-den einer eingetragenen Lebenspartnerschaft zurKündigung führen.Um bei den Kirchen zu bleiben: Die Aufnahme derReligionszugehörigkeit in die Geburtenregister wurdemit der Reform im Jahr 2009 auf eine freiwillige Basisgestellt. Weiterhin ist aber die Frage offen, wozu die-ses Datum denn überhaupt in den Geburtenregisterneingetragen werden soll. Im Sinne der Datensparsam-keit hätte dieses Merkmal nun ganz gestrichen werdenkönnen, denn schließlich ist es für keine Behörde au-ßer das Finanzamt von Relevanz.Ich will noch auf einen letzten Punkt eingehen. DerBundesrat hat in seiner Stellungnahme von der Bundes-regierung gefordert, sie möge die Einführung einer Ka-tegorie „anderes“ als dritte Alternative bei der Angabedes Geschlechts in personenstandsrechtlichen Angele-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26943
Ulla Jelpke
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genheiten prüfen. Es ist bekannt, dass trans- und inter-sexuelle Menschen durch die geltende Rechtslage mas-siv diskriminiert werden, weil man ihnen verweigert,ihre Geschlechtsidentität in ihrem Pass und weiterenUrkunden amtlich dokumentieren zu lassen. Der Bun-desrat schließt sich deshalb mit seiner Stellungnahmeeiner Empfehlung des Nationalen Ethikrates vom Fe-bruar 2012 an. Die Bundesregierung weist dieses An-sinnen mit der Begründung zurück, die mit Intersexua-lität verbundenen Probleme seien hochkomplex, undman müsse erst Betroffene und Sachverständige anhö-ren. Ich will darauf hinweisen, dass es schon 2007 imInnenausschuss des Bundestages ein öffentlichesFachgespräch zum Thema Transsexuellenrecht gab.Von einzelnen Betroffenen und ihren Verbänden liegenzahlreiche Stellungnahmen vor. Die komplexen Pro-bleme als auch mögliche Lösungsansätze sind alsoschon lange bekannt. Es gibt zahlreiche Modelle, wiedie Interessen und Bedürfnisse von Inter- und Transse-xuellen im Personenstandsrecht berücksichtigt werdenkönnen. So ist es in Australien möglich, statt männlichoder weiblich ein X in den Pass eintragen zu lassen.Staaten rund um die Welt haben ähnliche Lösungsan-sätze. Die Diskriminierung von inter- und transsexuel-len Menschen muss endlich beendet werden.
Für den Protagonisten von B. Travens weltberühm-tem Roman „Das Totenschiff“ wird der Verlust seinerPapiere zu einer kafkaesken Reise ins Nichts, gleichbe-deutend mit dem Verlust von Identität und Hoffnung.Alles kein Problem, werden Sie ganz nüchtern entgeg-nen, er kann ja eine neue Geburtsurkunde beantragen.Dafür braucht es aber ein funktionierendes Personen-standswesen.Das moderne bundesdeutsche Personenstandsrechtverfügt die Erfassung und Beglaubigung der Bundes-bürger in für rechtlich relevant erklärten Personen-standsereignissen wie Geburt, Heirat, Tod, Adoption,Vaterschaftsanerkennung oder auch Namensände-rung, weil an diese Ereignisse wichtige Rechtsfolgengeknüpft werden. Zuständig sind bei uns die Standes-ämter der Kommunen, die Erfassung erfolgt – das Be-urkundungsmedium Papier hat abgedankt – in unter-schiedlichen elektronischen Registern. Über denUmfang und Inhalt der Einträge wird regelmäßig ge-stritten.Die wesentliche Reform des Personenstandswesenserfolgte in der letzten Legislaturperiode. Die schwarz-rote Koalition war in der glücklichen Lage, im Wesent-lichen auf die Vorarbeiten der rot-grünen Koalition zudieser komplexen Fachmaterie zurückgreifen zu kön-nen. Im Ergebnis wurden insbesondere die Beurkun-dung in elektronischen Personenstandsregistern undder standardisierte elektronische Informationsaus-tausch zwischen den Standesämtern gesetzlich umge-setzt. Für die tatsächliche Umsetzung dagegen wurdeeine fünfjährige Übergangsperiode und die Evaluie-rung der Erfahrungen durch eine Bund-Länder-Ar-beitsgruppe festgesetzt. Die Ergebnisse der Evaluie-rung liegen nach Angaben der Bundesregierung imWesentlichen dem nun vorgelegten Gesetzentwurf zu-grunde.Der heute zu diskutierende Gesetzentwurf umfasstvor allem klarstellende und redaktionelle Änderungen,die wir mittragen können. Hervorzuheben sind die ver-schiedentlich geforderte neu geschaffene Möglichkeitder Anzeige auch einer Fehlgeburt gegenüber demStandesamt und die Erlangung einer amtlichen Be-scheinigung hierüber. Ferner ausdrücklich zu begrü-ßen ist die Erweiterung der Antragsmöglichkeiten fürdie gerichtliche Feststellung der Geschlechtszugehö-rigkeit auch auf Verheiratete. Dadurch können verhei-ratete Transsexuelle ihre bestehende Ehe oder Le-benspartnerschaft fortführen.Bedauerlich bleibt, dass die Bundesregierung im Rah-men dieser Reform keine Bereitschaft zeigt, auf die auchvom Bundesrat unter Bezugnahme auf die Stellung-nahme des Deutschen Ethikrates angeratene Berück-sichtigung von Intersexuellen einzugehen. Wir habendazu in einem eigenen Antrag, Bundestagsdrucksache17/5528, und in Übereinstimmung mit dem Ethikrateine eigene Berücksichtigung Intersexueller im Perso-nenstandsrecht eingefordert bzw. eine Überprüfungder Notwendigkeit der Eintragung des Geschlechts,gegebenenfalls deren Ausdifferenzierung.Das Personenstandswesen wird in dem Maße imUmbruch bleiben, wie der gesellschaftliche WandelVeränderungen von Ehe, Familie oder auch Identitäts-vorstellungen allgemein nach sich zieht. Gerade beider von uns maßgeblich erstrittenen Lebenspartner-schaft werden wir weiter darauf hinwirken, dass dieGleichbehandlung auch im Rahmen des Personen-standsrechts gewahrt bleibt. Datenschutz und Daten-sicherheit der mittlerweile auf digitale Verarbeitungumgestellten Personenstandsregister bleiben ebenfallsaktuell. Von besonderer Bedeutung bleiben dabei dieEinhaltung des Erforderlichkeitsgrundsatzes und dieBeschränkung der Erfassung von personenbezogenenDaten auf das zur Zweckerreichung unbedingt Erfor-derliche.Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fa-milie, Senioren, Frauen und Jugend:Das Bundeskabinett hat im Mai 2012 Änderungendes Personenstandsrechts auf den Weg gebracht. DerGesetzentwurf ist für eine kleine Gruppe von Elternganz besonders wichtig, für Eltern nämlich, derenKind mit einem Gewicht von unter 500 Gramm tot zurWelt gekommen ist. Er sieht vor, dass sie ihr Kind beimStandesamt namentlich anmelden können. Sie könnenseine Geburt so dauerhaft dokumentieren lassen undihm damit offiziell eine Existenz geben. Das war bishernicht möglich. Sogenannte Fehlgeburten, also Kinder,die mit unter 500 Gramm tot geboren wurden, warengrundsätzlich von der Beurkundung ausgeschlossen.Eltern, die mit einer Fehlgeburt im fortgeschrittenenZu Protokoll gegebene Reden
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26944 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Schwangerschaftsstadium schon einen schwerenSchicksalsschlag erlitten hatten, mussten auch nochhinnehmen, dass ihr totes Kind behandelt wird, alshätte es nie existiert. Ich bin sehr froh, dass ich demKabinett zusammen mit meinem Kollegen Herrn Bun-desminister Dr. Friedrich einen Regelungsvorschlagvorlegen konnte, der endlich einen würdigen Umgangmit diesen „Sternenkindern“, wie viele Eltern sie nen-nen, ermöglicht. Das Thema liegt mir sehr am Herzen,weil solche Schicksale mir auch persönlich sehr nahe-gehen. Immer wieder bekomme ich dazu Briefe betrof-fener Eltern.Besonders bewegt hat mich der Brief einer Frau,die mir ein Foto ihrer totgeborenen Zwillinge ge-schickt hat. Sie hatte in der 22. Schwangerschaftswo-che eine Fehlgeburt. Ihre Zwillinge haben zu diesemZeitpunkt 420 Gramm und 450 Gramm gewogen. Ichhabe dieses Bild gesehen, das zwei winzige und dochso vollständige Menschen zeigt, und konnte das tiefeBedürfnis der Eltern so gut verstehen, ihren Kinderneinen Namen zu geben und damit auch deutlich zu ma-chen: Wir sind Mutter und Vater, auch wenn unsereKinder nicht mehr leben. Diesen Brief und das Fotohabe ich damals an meinen Kollegen, BundesministerDr. Friedrich, geschickt. Wir waren uns einig, dass wirdiesen Eltern helfen müssen. Dieser Meinung sind, wieich weiß, auch viele Kolleginnen und Kollegen hier imDeutschen Bundestag, und das ist auch und vor allemein Verdienst der Familie Martin. Ihre Geschichte hatmich darin bestärkt, dass es richtig war, eine Gesetzes-änderung anzustoßen. Das Ehepaar Martin kämpftunter anderem mit einer Petition an den DeutschenBundestag um einen würdigen Umgang mit allen Ster-nenkindern. Sie haben ihre drei Kinder verloren. Nureines wog über 500 Gramm und zählt im rechtlichenSinne. Die anderen beiden existieren nur in ihrer Er-innerung. Sie wollen Paaren helfen, die Ähnlichesdurchleiden müssen wie sie. Ich habe vor ihrem Enga-gement großen Respekt.Nicht nur aus persönlichem Erleben heraus, son-dern auch aus familienpolitischen Erwägungen ist diederzeitige Regelung nicht hinnehmbar: Mütter und Vä-ter haben zu ihrem ungeborenen Kind in einem fortge-schrittenen Stadium der Schwangerschaft meistenseine intensive Bindung entwickelt. Wenn sie es verlie-ren, brauchen sie einen Raum für ihre Trauer und ih-ren Schmerz. Sie brauchen einen Raum, um Abschiedzu nehmen, und sie wollen als Familien wahrgenom-men werden. Ich halte die derzeitige Gesetzeslage da-her insgesamt für ethisch nicht vertretbar. Deshalbhabe ich mich für eine Änderung des Personenstands-rechts eingesetzt. Dabei war es mir wichtig, dass dieneue Regelung rückwirkend auch für Mütter und Vätergilt, die diesen schweren Schicksalsschlag bereits er-leiden mussten, wie beispielsweise Familie Martin unddas Elternpaar, das mir das Foto ihrer toten Zwillingegeschickt hat.Die neue Regelung mag den Schmerz nicht lindern,den der Verlust eines Kindes bedeutet. Aber sie ermög-licht Eltern wenigstens einen würdigen Abschied vonihrem Kind. Deshalb bin ich auch froh, dass viele Bun-desländer inzwischen betroffenen Eltern die Möglich-keit geben, ihre zu früh geborenen Kinder zu bestatten,und dass viele Kommunen sich Gedanken machen, wiesie für Eltern würdige Orte der Erinnerung schaffenkönnen. Auf vielen Friedhöfen gibt es zum Beispielmittlerweile einen „Garten der Sternenkinder“.Personenstandsrecht, Familienrecht und ethischeErwägungen sind eng miteinander verknüpft. Hinternüchternen Regelungen für Verzeichnisse, Registerund Dokumente stehen Familiengeschichten und per-sönliche Schicksale. Das dürfen wir nicht aus den Au-gen verlieren. Deshalb ist die Änderung des Personen-standsrechts zugunsten der vielen Mütter und Vätereines Sternenkindes nicht nur rechtlich und familien-politisch notwendig, sondern vor allem eine Frage derMenschlichkeit. Und deshalb bitte ich Sie: BegleitenSie diesen Gesetzentwurf in den parlamentarischenBeratungen konstruktiv.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/10489 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Ichsehe, es gibt keine anderweitigen Vorschläge. Dann ha-ben wir das so beschlossen.Tagesordnungspunkte 29 a und 29 b:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten EvaBulling-Schröter, Ralph Lenkert, Sabine Stüber,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEKohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-Emissionshandels– Drucksache 17/12064 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionHaushaltsausschussb) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Oliver Krischer, Hans-Josef Fell, BettinaHerlitzius, weiteren Abgeordneten und der Frak-tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrach-ten Entwurfs eines … Gesetzes zur Änderungdes Bundes-Immissionsschutzgesetzes– Drucksache 17/156 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 17/9780 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Michael PaulUte VogtDr. Lutz Knopek
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26945
Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Ralph LenkertOliver KrischerWie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-den zu Protokoll genommen.
Die Energieversorgung muss sicher, bezahlbar und
klimafreundlich erfolgen. Diesem Ziel haben sich die
Bundesregierung und die Koalitionsfraktionen ver-
pflichtet. Zu dieser Zielsetzung bekennt sich auch die
Opposition.
In der laufenden Legislaturperiode wurden viele
wichtige Vorhaben fortgeführt, angeschoben und be-
schlossen, die eine saubere Energieversorgung der
Bürgerinnen und Bürger langfristig absichern. Die er-
neuerbaren Energien sichern mittlerweile 25 Prozent
unserer Stromversorgung ab. Das ist ein großer Erfolg.
Wir wären sicherlich in Deutschland auch noch ein
Stück weiter, wenn die SPD nicht durch ihre gegenwär-
tige Mehrheit im Bundesrat richtige Vorhaben behin-
dern würde, Stichwort: Gebäudesanierung. Die Ener-
giewende wäre auch für die Verbraucher deutlich
kostengünstiger, wenn wichtige Änderungen und
Anpassungen am Erneuerbaren-Energien-Gesetz nicht
von der SPD im Bundesrat torpediert würden.
Ich finde es auch bedauerlich, dass die Opposition
an ihrem Gesetzesvorschlag aus dem Jahr 2009 fest-
hält. Mit der Gesetzesinitiative wird nicht mehr oder
weniger gefordert als der unverzügliche Kohleaus-
stieg. Die im Gesetzesvorschlag genannten Effizienz-
und Wirkungsgrade sind von den modernsten Kraft-
werken der Welt nicht erreichbar. Mit der modernsten
Technologie kann man die geforderten Kriterien nicht
erreichen. Gerade vor dem Hintergrund des von uns
allen beschlossenen Atomausstiegs und der noch zu
lösenden Herausforderungen beim Umbau der Ener-
gieversorgung halte ich den Vorschlag daher für ab-
solut falsch.
Wir, die Koalitionsfraktionen, wollen, dass unsere
Energieversorgung schnellstmöglich durch erneuer-
bare Energie abgedeckt wird. Es gibt auch vielverspre-
chende Ansätze, bisherige Probleme mit der starken
Volatilität zu lösen. Ich halte es aber nicht für verant-
wortungsvoll, alle bisherigen Säulen der Energie-
versorgung aufzugeben, ohne dass wir andere starke
und tragfähige Säulen errichtet haben. Die Gesetzes-
initiative der Grünen riskiert dunkle und kalte Wohn-
zimmer genauso wie abgeschaltete Industrieanlagen.
So wollen wir die Energiewende nicht gestalten.
Die Kohlekraftwerke sind mittlerweile viel flexibler,
als oftmals unterstellt, und wir brauchen diese Kraft-
werke als Übergang. Wir brauchen auch neue Kohle-
kraftwerke, um die Energiewende erfolgreich und be-
zahlbar zu gestalten.
Das ist kein uneingeschränktes Ja zur weiteren
Kohleverstromung für Jahrzehnte. Ganz im Gegenteil:
Wir weisen den Kohlekraftwerken eine klare Funktion
zu. Diese Kraftwerke haben eine Brückenfunktion, um
vorhandene Schwankungen und Versorgungslücken
auszugleichen. Der Ausbau der erneuerbaren Energie
ist auf einem guten Weg, und wir setzen Anreize für zü-
gige Innovationen sowohl bei den Erzeugungsanlagen
selbst als auch im Bereich der Speichertechnologien.
Gleichzeitig wird der Netzaus- und -umbau vorange-
trieben.
Der heimischen Kohle wollen die Oppositionsfrak-
tionen kurzfristig eine Absage erteilen. Der Gasimport
soll zum Ausgleich gesteigert werden. Unsere Abhän-
gigkeit von teurem russischem Gas würde also steigen.
Dass Russland gerne weiteres Gas nach Deutschland
exportiert und die eigene russische Stromversorgung
dann mit Kohle absichert, spielt bei der Betrachtung
der Oppositionsfraktionen keine Rolle. Dass die russi-
schen Kohlekraftwerke eine wesentlich geringere Effi-
zienz besitzen als die Anlagen in Deutschland, dürfte
aber bekannt sein. Folglich steigt in Deutschland mit
den vorgeschlagenen Maßnahmen nicht nur der Ener-
giepreis, sondern im Ergebnis auch der CO2-Ausstoß.
Das können wir nicht befürworten.
Die ständigen Attacken auf die Kohle verunsichern
die Menschen, die von der Kohle leben. Allein in
meinem Bundesland sind deutlich mehr als 10 000 Ar-
beitsplätze aufs Engste mit der Braunkohle verbunden.
Diese Menschen wissen, dass die Braunkohleverstro-
mung endlich ist, und das ist in den Kohlerevieren
auch weitgehend akzeptiert. Die ständigen Nadelstiche
und das Drohen mit dem sofortigen Ausstieg schaffen
aber Verunsicherung und Zukunftsängste. Diese
Verunsicherung schadet der Energiewende und der
notwendigen Akzeptanz für Netzausbau und Anlagen
im Bereich der erneuerbaren Energien insgesamt.
Hören Sie bitte damit auf!
Sie wissen doch genauso wie wir, dass nicht der
schnellstmögliche Kohleausstieg den Erfolg der Ener-
giewende sichert. Durch den Einspeisevorrang für er-
neuerbare Energien sind Kohlekraftwerke gar keine
Konkurrenz für die Stromerzeugung aus erneuerbaren
Energien. Der Erfolg der Energiewende ist abhängig
von der Verbesserung der Energieeffizienz, vom Aus-
bau innovativer marktfähiger Erzeugungsanlagen für
erneuerbare Energien, von Speicherlösungen und von
Fortschritten beim Netzaus- und -umbau. Hierauf
sollte auch endlich die Opposition ihre Aufmerksam-
keit richten.
„Kohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-Emissionshandels“, so heißt der Antrag der Linksfrak-tion, über den wir heute hier beraten. Dadurch wirdzumindest klar ausgesprochen, was auch die Grünenschon seit Beginn der Legislaturperiode im Dezember2009 mit ihrem Entwurf eines Gesetzes zur Änderungdes Bundes-Immissionsschutzgesetzes verfolgen: Nachden Kernkraftwerken wollen Sie nun auch den Braun-und Steinkohlekraftwerken in Deutschland den Garausmachen.
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Dr. Michael Paul
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Diese Deutlichkeit ist allerdings auch schon dereinzige positive Aspekt an Ihrem Antrag. Denn derschnellstmögliche und vollständige Ausstieg aus derKohleverstromung in Deutschland, den Sie im End-effekt anstreben, hätte nicht nur gravierende Nachteilefür die Versorgungssicherheit und die Bezahlbarkeitdes Stroms in unserem Land. Er wäre auch ökologischnachteilig.Linke und Grüne strengen sich zwar auch heute an,den Eindruck zu erwecken, es ginge ihnen um wirk-same CO2-Vermeidung und damit um Fortschrittebeim Klimaschutz. Tatsächlich aber versagen sie,wenn es um die Realisierung der wirklich großenPotenziale von CO2-Einsparung geht: Der Wärmebe-darf unserer Wohn- und Geschäftsgebäude macht mit49,8 Prozent beinahe die Hälfte der in Deutschlandverbrauchten Energie und damit des freigesetzten CO2aus. Zum Vergleich werden für die Stromerzeugung„nur“ 20,5 Prozent der Energie verbraucht.Trotz dieses riesigen Potenzials haben sich alleLandesregierungen, an denen die Grünen oder dieLinken beteiligt sind, im Bundesrat gegen die steuerli-che Förderung der energetischen Gebäudesanierungentschieden. Sie haben damit dem Klimaschutz in die-sem Land einen Bärendienst erwiesen. Und nun stellenSie sich heute hier hin und fordern publikumswirksam,wie Sie glauben, letztlich die Beseitigung von großenKohlekraftwerken in Deutschland. Aber im Bundesrathaben Sie Ihr wahres Gesicht gezeigt: Es geht Ihnenum politische Machtspiele und nicht darum, wirklichetwas für den Umwelt- und Klimaschutz in diesemLand zu erreichen. Ich bedanke mich deshalb aus-drücklich bei der Bundesregierung, dass sie nun einBundesprogramm auflegt, um die energetische Gebäu-desanierung – trotz der Blockade im Bundesrat –voranzubringen.Wie widersprüchlich die Grünen handeln, zeigt einnäherer Blick auf die von Ihnen vorgeschlagene Geset-zesänderung: Noch im Jahr 2004 hat der grüne Um-weltminister Trittin die Einführung einer Ausnahme im§ 5 Abs. 1 Satz 4 des Bundes-Immissionsschutzgesetzesbetrieben, die Anlagen von der Anwendung von Min-destwirkungsgraden ausnimmt, die am europäischenEmissionshandel teilnehmen. Das war auch denk-logisch; denn die Verringerung des CO2-Ausstoßesdurch Großemittenten wie Kraftwerke sollte europa-weit einheitlich in allen Mitgliedstaaten mit demselbenInstrument erreicht werden: dem Handel mit CO2-Emissionszertifikaten. Und dieser Emissionshandelhat – allen Anfeindungen zum Trotz – seinen eigent-lichen Zweck bisher erfüllt. Der Treibhausgasausstoßist in der EU im beabsichtigten Umfang zurückgegan-gen.Und obwohl es logisch war und ist, die Teilnehmeram Emissionshandel von weitergehenden Verpflichtun-gen auszunehmen, will die Grünen-Bundestagsfrak-tion jetzt ihre eigene Regelung wieder streichen. Grad-linige Politik sieht anders aus!Auch die Linke zeigt durch ihren Antrag, dass siedie Notwendigkeit einer globalen Strategie zum Klima-schutz nicht verstanden hat. Dem weltweiten Klima-schutz ist nicht gedient, wenn man ständig alle interna-tionalen Anstrengungen auf diesem Gebiet anzweifeltund alle getroffenen Regelungen – etwa zum EU-Emissionshandel – regelmäßig infrage stellt. Und demglobalen Klimaschutz ist erst recht nicht gedient – ge-rade wenn man sich vor Augen führt, dass unser Landnur für circa 1 Prozent des weltweiten CO2-Ausstoßesverantwortlich ist –, wenn man den deutschen Bürgernund Unternehmen ständig weitere Sonderlasten auf-bürdet.Richtig ist, dass Deutschland die größtmöglichenAnstrengungen unternimmt, um unser im Energiekon-zept 2010 gestecktes, auch im internationalen Ver-gleich sehr ehrgeiziges Ziel von 40 Prozent CO2-Ein-sparung bis 2020 gegenüber 1990 zu erreichen. Mitdieser Vorbildfunktion auch die übrigen EU-Staaten zugrößeren Anstrengungen bei der CO2-Einsparung an-zureizen, halte ich für sinnvoller, als die in Europa ge-meinsam verabredeten Einsparungsziele infrage zustellen.Das Gleiche gilt für die Kritik des Antrags derLinken am Zertifikatesystem des Clean DevelopmentMechanism, CDM. Das System sorgt dafür, dass inter-national getätigte Investitionen in den Klimaschutz imnationalen Emissionshandelssystem berücksichtigtwerden können. Für das Weltklima ist schließlich uner-heblich, wo die CO2-Emissionen vermieden werden.Entscheidend ist, dass für jeden investierten Euro diegrößtmögliche Menge Treibhausgas eingespart wird.Deshalb ist es richtig, Investitionen dort vorzunehmen,wo mit dem investierten Geld die größte CO2-Einspa-rung erzielt werden kann. Nationale Scheuklappensind hier fehl am Platz.Noch viel bedenklicher ist aber, wie leichtfertigdurch beide Vorlagen die Stabilität der – derzeit ohne-hin durch die Energiewende stark herausgeforderten –Versorgungssicherheit aufs Spiel gesetzt wird. Noch imHerbst des letzten Jahres hat die Bundesnetzagenturauf die äußerst angespannte Versorgungssicherheits-lage im Februar 2012 hingewiesen und dabei die wich-tige Funktion der grundlastfähigen Kraftwerke – zu-meist Kohlekraftwerke – betont. Wer wie die Linken inihrem Antrag von einer „Verstopfung der Netze durchKohlestrom“ spricht, zeigt, dass er technische Zusam-menhänge nicht begreift oder begreifen will.Wenn beide Vorlagen nun – durch ein direktes Ver-bot oder mit unerreichbaren Mindestwirkungsgraden –die Stromerzeugung durch Kohlekraftwerke faktischunmöglich machen wollen, lässt das nur zwei Schlüssezu: Entweder ist Ihnen die gesicherte Versorgung unse-rer Bevölkerung und unserer Wirtschaft mit lebens-wichtiger elektrischer Energie unwichtig, oder Siehaben sich jeder realistischen Einschätzung der der-zeitigen Lage im Stromerzeugungssektor verschlossen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Michael Paul
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Dass dieser Gesetzentwurf eher das Ergebnis einerrealitätsfernen Sacheinschätzung ist, zeigt sich, wennman die Folgen der Regelung bis zum Ende denkt.Denn die für alle Kohlekraftwerke im Gesetzentwurfder Grünen vorgesehenen Mindestwirkungsgrade kön-nen zurzeit und auch in den nächsten Jahren wederAlt- noch Neuanlagen technisch erreichen. 58 ProzentWirkungsgrad wird zurzeit nur durch neue hochmo-derne Gaskraftwerke erreicht. Modernste Kohlekraft-werke können dies nicht schaffen; so hat das kürzlichin Betrieb gegangene Braunkohlekraftwerk Greven-broich-Neurath einen Wirkungsgrad von 43 Prozent.Auch die Grünen wollen also den Ausstieg aus derKohle, obwohl Braunkohle der einzige heimische fos-sile Energieträger ist, aus dem zu konkurrenzfähigenPreisen subventionsfrei Strom gewonnen wird.Das Gesetz macht den Bau der Anlagen faktisch un-möglich – was im Titel des Linken-Antrags auch deut-lich zum Ausdruck kommt. Dasselbe gilt aber auch fürdie Bestandskraftwerke: Eine Nachrüstung auf das vonden Grünen geforderte Niveau von 38 Prozent beiSteinkohle und 36 Prozent bei Braunkohle bis 2015 istvöllig unrealistisch.Wer eine solche Erdrosselung politisch fordert, ver-kennt sowohl die rechtlichen als auch die tatsächli-chen Rahmenbedingungen. Ein – wenn auch nur fak-tisches – Verbot von Kohlekraftwerken muss sichinsbesondere mit Blick auf die Altanlagen an der Ver-fassung messen lassen. An der Zulässigkeit einer sol-chen Regelung bestehen erhebliche Bedenken.Sie ist aber darüber hinaus auch umweltpolitischvollkommen widersinnig. Denn durch das faktischeVerbot des Kraftwerkneubaus einerseits und den ver-fassungsrechtlichen Bestandsschutz für Altanlagen an-dererseits wird erreicht, dass die alten, ineffizientenund stark emittierenden Kraftwerke nicht durchmoderne Anlagen ersetzt werden. Stattdessen setzensie ihren Betrieb fort, weil dieser für die Stabilität desdeutschen Stromnetzes und damit für unsere Versor-gungssicherheit unerlässlich ist.Beide Vorlagen sind daher rechtlich sowie umwelt-politisch komplett verfehlt und daher abzulehnen.
Seit der Kehrtwende der Bundesregierung hin zumAtomausstieg und dem damit verbundenen Einstieg indie Energiewende sind wir uns in diesem Haus zumGlück zumindest in einer Sache einig: dass Deutsch-land bis 2050 seine Energieversorgung ausschließlichüber regenerative Energien decken soll.Der uns heute vorliegende Antrag der Fraktion DieLinke und der uns seit längerem bekannte Entwurf derFraktion Bündnis 90/Die Grünen versuchen, das Pro-blem unserer Treibhausgasemissionen zu lösen. BeideAnträge schießen jedoch – aus unterschiedlichenGründen – über das Ziel hinaus.Die Energieproduktion aus Kohlekraftwerken linearzu reduzieren, wie von der Fraktion Die Linke gefor-dert, ist eine Wunschvorstellung, die so in der Realitätnicht umsetzbar ist, auch wenn zugleich die Analyse,dass die einstmals einkalkulierte Lenkungswirkung desEmissionshandels momentan nicht funktioniert, si-cherlich richtig ist.Den im Antrag gezogenen Schlussfolgerungen kannich jedoch nicht folgen. Denn wenn ein von uns einge-führtes Lenkungssystem, also der Handel mit CO2-Zer-tifikaten, nicht funktioniert, wie ursprünglich vorgese-hen, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass dasLenkungssystem an sich falsch ist – was aber der An-trag impliziert. Die Frage der aktuellen Umsetzungdes Zertifikatehandels stellt sich mir hier eher, als überandere Reformvorschläge zu diskutieren.Die Forderung der Grünen-Bundestagsfraktion,hohe Effizienzgrade bei Neubauten von Kohlekraft-werken als Mindestwirkungsgradforderung zu formu-lieren, begrüßen wir grundsätzlich. Bei dem vorliegen-den Gesetzentwurf wird aber de facto eine sofortigeAbschaffung von Kohlekraftwerken gefordert. Unse-rem Ansatz, Kohlekraftwerke als Back-up-Lastzu nutzen, widerspricht dies aber.Bei dem grundsätzlichen Ziel, auf Dauer auf Kohlezu verzichten, sind wir uns sicher alle einig, zumal diein unseren Kraftwerken verwendete Kohle zum Groß-teil importiert wird und meist unter menschenunwürdi-gen und umweltschädlichen Bedingungen abgebautwird.Einig sind wir uns sicher außerdem darin, dass wirbis 2050 ausschließlich regenerative Energien inDeutschland verwenden wollen. Wenn wir jedoch vor-her das bestehende System zum unkontrollierten Kol-laps bringen, ist dem gemeinsamen Ziel der Energie-wende nicht gedient.Unabhängig davon sind die bisher technisch mögli-chen höchsten Wirkungsgrade – ob bei Gas oder Kohle –nur dann zu erreichen, wenn das entsprechende Kraft-werk möglichst gleichmäßig läuft. Der durch die hoheVolatilität von erneuerbaren Energien geschuldetenaktuellen Anforderung an Kraftwerke, immer flexibleram Netz zu sein, widerspricht der hier formulierte An-satz.Vielmehr brauchen wir dringend einen funktionie-renden Emissionshandel mit angemessenen Zertifika-tepreisen. Und es ist allerhöchste Zeit, die grobenVersäumnisse der Bundesregierung in Sachen Emis-sionshandel zu korrigieren. Denn die Blockadehaltungdes Wirtschaftsministers hinsichtlich einer Reform desEmissionshandels zugunsten unserer Umwelt vorder-gründig zum Schutz der deutschen Wirtschaft schadetdieser langfristig aber mehr, als es nutzt, und wider-spricht nebenbei dem Ziel der Energiewende.Wäre das Handeln unserer Bundesregierung so ver-antwortungsvoll wie das Reden, müssten wir hier nichtüber Probleme von steigenden Treibhausgasen durchKohlekraftwerke diskutieren; denn dann wäre ausZu Protokoll gegebene Reden
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26948 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Ute Vogt
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Kohle produzierter Strom schlicht und ergreifend zuteuer.Wir enthalten uns der Stimme beim Antrag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen für einen Gesetzent-wurf zur Änderung des Bundes-Immissionsschutzge-setzes. Dem Antrag der Fraktion Die Linke über einKohleausstiegsgesetz nach Scheitern des EU-Emis-sionshandels werden wir nicht zustimmen.
Anders als der Titel des Antrags der Linken nahe-
legt, ist der EU-Emissionshandel nicht gescheitert,
und er steht auch nicht kurz vor dem Scheitern. Zwar
ist der Preis für CO2-Emissionszertifikate dramatisch
eingebrochen und liegt nun bei ungefähr 6 Euro pro
Tonne CO2. Allerdings ist das Ziel des Emissionshan-
dels nicht ein bestimmter Zertifikatepreis, sondern die
Einhaltung des Cap, das heißt, der EU-weit gedeckel-
ten Gesamtmenge an CO2, die emissionshandelspflich-
tige Anlagen ausstoßen. Dieses Ziel wird bislang er-
reicht; von einem Scheitern kann also keine Rede sein.
Ganz unproblematisch ist die Situation allerdings
auch nicht. Der niedrige Zertifikatepreis führt zu ei-
nem niedrigeren Anreiz, in CO2-arme und nachhaltige
Technologien zu investieren. Diesen Anreiz aber benö-
tigen wir, wenn die EU, wie in Doha zugesagt, bis 2014
überprüfen wird, ob ein über die Reduktion von
20 Prozent hinausgehendes Klimaschutzziel übernom-
men werden kann. Daneben brechen die Einnahmen
des Energie- und Klimafonds ein, der eine wesentliche
Rolle bei der Finanzierung der Energiewende spielt.
Die EU-Kommission hat vorgeschlagen, zur Stabili-
sierung des CO2-Preises das sogenannte Backloading
anzuwenden, das heißt, Zertifikate in der beginnenden
Handelsperiode zurückzuhalten. Die Forderung der
Linken, diese Zertifikate endgültig stillzulegen, führt in
jedem Fall zu weit. Denn die EU-Kommission würde
so ein Instrument aus der Hand geben, um bei einer
Überhitzung des CO2-Zertifikatemarktes zu reagieren,
etwa wenn die europäische Wirtschaft wieder an Fahrt
gewinnt.
Neben dem Emissionshandel hat der Antrag der
Linken noch ein zweites Thema: ein Verbot des Neu-
baus von Kohlekraftwerken. Dies ist im Übrigen auch
der Inhalt des grünen Gesetzentwurfs, der ebenfalls
unter diesem Tagesordnungspunkt debattiert wird. Was
die Linken klar benennen, wollen die Grünen durch die
Hintertür erreichen: Der in ihrem Gesetzentwurf ge-
forderte Mindestwirkungsgrad für neue Kohlekraft-
werke lässt sich ohne vorhandene Wärmesenken am
Standort rein technisch nicht erreichen. Aber wie der
Atomstrom stabil ersetzt werden soll, bis dies auch er-
neuerbare Energien leisten können, wird nicht erklärt.
In Wahrheit werden wir für eine Übergangszeit auf
Kohle nicht verzichten können, schon alleine aus
Gründen der Netzstabilität. Wer den Bau neuer effi-
zienterer Kohlekraftwerke verhindert, trägt Schuld am
Weiterbetrieb alter ineffizienter Dreckschleudern und
erweist dem Klimaschutz einen Bärendienst.
Die CO2-Emissionen in Deutschland liegen zwarknapp 27 Prozent unter denen von 1990. Das ist gut,wir wissen aber alle, dass daran der Zusammenbruchder ostdeutschen Wirtschaft einen gehörigen Anteilhat.Natürlich gab es auch echten Klimaschutz, keineFrage; denken wir nur an den rasanten Ausbau der er-neuerbaren Energien.Dagegen hat sich in der Energiewirtschaft insge-samt und in der Industrie seit langer Zeit kaum mehretwas bewegt. Und das sind ausgerechnet die emis-sionshandelspflichtigen Sektoren. Diese haben ihreTreibhausgasemissionen seit 2005 – so lange gibt es jaden Emissionshandel – gerade einmal um magere5 Prozent verringert. Im letzten Jahr stieg gar der An-teil der klimaschädlichen Braun- und Steinkohle amStrommix von 43 auf 45 Prozent. Super Emissionshan-del, kann ich da nur sagen.Offenbar stimmt etwas nicht mit dem tollen Han-delssystem. Und wir wissen, warum. Es sind schlichtzu viele Emissionsberechtigungen am Markt. Der CO2-Preis liegt dementsprechend im Keller. Unter 6 Eurokostet die Tonne momentan – Ramschware.Sprechen wir es aus: Der Emissionshandel steht amRande des Scheiterns, weil Massen an windigen Zerti-fikaten aus dem globalen Süden einflogen, weil die In-dustrie zu viele Rechte erhielt und auch wegen derWirtschaftskrise. Anreize, in den Klimaschutz zu inves-tieren, sind aus diesem System nicht mehr zu erwarten.Es sei denn, es würde radikal reformiert.Die Hälfte der überschüssigen Emissionsrechte le-diglich für drei Jahre zurückzuhalten, wie es die EU-Kommission als ersten Schritt vorhat, nutzt dem Kli-maschutz dabei gar nichts. Nein, Zertifikate über etwa2 Milliarden Tonnen CO2 müssen verschwinden, undzwar dauerhaft, sonst kracht der EU-Emissionshandelzusammen. Zudem muss der CO2-Ausstoß bis 2020mindestens doppelt so schnell reduziert werden, wiegegenwärtig im System vorgesehen, sonst purzeln dieZertifikatpreise gleich wieder in den Keller.Darum müssen die Regierungen in Europa die lang-fristig wirkenden Reformvorschläge des Kohlenstoff-marktberichtes der Kommission aufgreifen. Und genaudas fordern wir Linke in unserem Antrag.Die Gesamtmenge der Emissionszertifikate für diekommende Handelsperiode muss um jenes Volumengekürzt werden, das in der laufenden Handelsperiodeentstanden ist. Es geht also um besagte 1,4 Milliardenbis 2 Milliarden Zertifikate, die nicht nur zeitweise,sondern endgültig stillzulegen sind.Die sind übrigens nur in zweiter Linie krisenbedingtoder aufgrund der Überausstattung entstanden. Rundzwei Drittel der Gesamtmenge kommen aus oft zweifel-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26949
Eva Bulling-Schröter
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haften Projekten des Clean Development Mechanism,CDM. Diese dürfen künftig nicht mehr anrechenbarsein.Zudem muss das jährliche Minderungsziel für emis-sionshandelspflichtige Anlagen in der dritten Handels-periode von den momentan festgelegten 1,74 auf rund3,9 Prozent erhöht werden. Das vorbehaltsose Minde-rungsziel für EU-Treibhausgasemissionen ist entspre-chend von 20 auf mindestens 30 Prozent für den Zeit-raum 1990 bis 2020 anzuheben.Die Bundesregierung hat sich leider immer nochkeine Meinung zu den Optionen der EU-Kommissiongemacht. Denn Herr Rösler blockt wieder einmal undsteht einmal mehr auf der Bremse beim Klimaschutz.Wahrscheinlich wird das Ganze auch in Europa nichtdurchsetzbar sein.Darum fordert die Linke im Falle des Scheiterns derReformvorschläge ein Kohleausstiegsgesetz. Mit demAntrag wird also eine Alternative aufgemacht: Entwe-der die Mitgliedstaaten schaffen es gemeinsam, biszum Frühjahr den EU-Emissionshandel, ETS, radikalzu reformieren, um ihn klimaschutztauglich zu ma-chen, oder die Bundesregierung muss politisch dasScheitern dieses Instruments feststellen und ein natio-nales Kohleausstiegsgesetz formulieren.Greenpeace Deutschland hatte im Mai letzten Jah-res ein solches Gesetz gefordert, da damals schonklar war, dass der Emissionshandel als Lenkungsin-strument versagt. Die Organisation legte gleichzeitigGrundzüge eines entsprechenden Gesetzentwurfs vor.Wir greifen auf diese Idee zurück.Daran angelehnt könnten ab 2014 die jährlichenStrommengen aus Kohlekraftwerken begrenzt und inden Folgejahren stetig und weitgehend linear reduziertwerden. Der Neubau von Kohlekraftwerken und derNeuaufschluss von Tagebauen müssten entsprechendverboten werden. Infolge eines solchen Gesetzeskönnte spätestens 2040 das letzte deutsche Kohlekraft-werk vom Netz gehen. Die Reststrommengen sind indiesem System an die Betreiber von Kohlekraftwerkenanhand von Effizienz-Benchmarks unter Berücksichti-gung der bisherigen Laufzeit zu vergeben.Vielfach wurde in den vergangenen Jahren ge-mahnt: Der EU-Emissionshandel ist die letzte markt-wirtschaftliche Ausfahrt im Klimaschutz. Wird sie auf-grund profitorientierter Lobbyinteressen verfehlt, somuss striktes Ordnungsrecht her. Denn wir dürfennicht zulassen, dass unser Planet verhökert wird.Das Scheitern des Emissionshandelssystems mussalso ein Kohleausstiegsgesetz zur Folge haben. Wir er-warten von der Bundesregierung, entsprechend zuhandeln.
Die europäische Klimapolitik steckt in der Krise.Die Klimaziele der EU hinken der Wirklichkeit hinter-her. Der Emissionshandel liegt auf der Intensivstation.Und ausgerechnet die Bundesregierung stellt sich dennotwendigen Rettungsmaßnahmen in den Weg.Der Emissionshandel gibt den klimaschädlichenCO2-Emissionen aus Fabriken und Kraftwerken einenPreis. Die Höhe des CO2-Preises ist ein Indikator fürden Ehrgeiz der europäischen Klimaschutzpolitik. Unddieser CO2-Preis befindet sich seit Monaten im freienFall. Wer das Klima mit einer Tonne CO2-Ausstoß be-lasten will, muss dafür heute nicht einmal 6 Euro be-zahlen. Vor anderthalb Jahren waren es noch 17 Euro.Das hat fatale Konsequenzen: Investitionen in Klima-schutz und Energieeffizienz lohnen sich kaum noch.Klimaverschmutzer kommen billig davon. Und imBundeshaushalt brechen die eingeplanten Einnahmenaus der Versteigerung der Emissionszertifikate weg,aus denen die Bundesregierung wichtige Projekte derEnergiewende finanzieren wollte.Das Problem ist seit Monaten auf dem Tisch. Aber dieBundesregierung findet nicht die Kraft und Geschlossen-heit für eine Lösung. Nicht einmal Minischritte wie dievon EU-Klimakommissarin Heedegaard geforderte Ver-schiebung anstehender CO2-Auktionen möchte dieBundesregierung mitgehen. Statt dessen streiten sichUmweltminister Altmaier und WirtschaftsministerRösler öffentlich über die Medien. Dieser Streit lähmtderzeit die ganze EU. Das ist eine Blamage für diedeutsche Klimapolitik.Notwendig sind schnelle und tiefgreifende Refor-men im Emissionshandel. 1,4 Milliarden überschüs-sige CO2-Zertifikate müssen endgültig vom Markt ge-nommen werden. Der Zufluss billiger und ökologischfragwürdiger Emissionszertifikate aus China und In-dien gehört eingeschränkt. Und wir brauchen einenCO2-Mindestpreis, um drastischen Preiseinbrüchenvorzubeugen. Vor allem muss das überholte EU-Kli-maziel von 20 Prozent Emissionsminderung bis 2020endlich auf 30 Prozent angehoben werden. Dass wirdas 30-Prozent-Ziel immer noch nicht haben, liegtnicht nur an polnischen Bedenken. Es liegt auch da-ran, dass die Bundesregierung die Anhebung nur halb-herzig unterstützt. Wenn sich die Kanzlerin mit Nach-druck für den Klimaschutz eingesetzt hätte, könntenwir das 30-Prozent-Ziel längst haben.Die Kohleverstromung ist eine der klimaschädlichs-ten Formen der Stromerzeugung. Deshalb erfordertder Klimaschutz die Ablösung der Kohlekraft durch er-neuerbare Energien, Energieeffizienz und effizienteGaskraftwerke. Doch der niedrige CO2-Preis hat diegegenteilige Wirkung: Er hat dazu geführt, dass derAnteil der Kohle an der Stromversorgung im letztenJahr massiv gestiegen ist, während klimaverträgli-chere Gaskraftwerke stillstanden. Dieser Kohleboomist kein Ergebnis des Atomausstiegs oder der Energie-wende. Er ist die Folge der verfehlten Klimapolitik derBundesregierung.Die Erfahrung zeigt, dass auch gestärkter Emis-sionshandel allein nicht genügend Anreize setzt, dieKohle zurückzudrängen. Deshalb brauchen wir dafürZu Protokoll gegebene Reden
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26950 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Bärbel Höhn
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weitere Instrumente jenseits des Emissionshandels: einnationales Klimaschutzgesetz mit strikten CO2-Minde-rungszielen und verbindliche Mindestwirkungsgradefür fossile Kraftwerke.Der vorliegende Gesetzentwurf der Grünen zeigt,wie man mit ambitionierten Vorgaben an die Effizienzvon Kohle- und Gaskraftwerken Ressourcen sparenund gleichzeitig das Klima schützen kann. Ich fordereSie auf: Stimmen sie diesem Gesetzentwurf zu. Undmachen sie endlich den Weg frei für die überfällige Re-form des europäischen Emissionshandels.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12064 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Es gibt keinen Wi-
derspruch. Dann ist die Überweisung so beschlossen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Gesetzent-
wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zur Änderung
des Bundes-Immissionsschutzgesetzes. Der Ausschuss
für Umwelt empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/9780, den Gesetzentwurf der Frak-
tion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/156 ab-
zulehnen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf
zustimmen wollen, um das Handzeichen. – Wer stimmt
dagegen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in
zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitionsfrak-
tionen gegen die Stimmen der Grünen bei Enthaltung
von SPD und Linken abgelehnt. Damit entfällt nach un-
serer Geschäftsordnung die weitere Beratung.
Tagesordnungspunkt 31:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Dr. Thomas Gambke, Britta Haßelmann, Lisa
Paus, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Auf europäischer Ebene ein betrugssicheres,
transparentes und bürokratiearmes Mehr-
wertsteuersystem schaffen
– Drucksache 17/12065 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Mit dem vorliegenden Antrag wollen die Grünenden Bundestag feststellen lassen, die Reformpläne derEuropäischen Kommission zur Überarbeitung des eu-ropäischen Mehrwertsteuerrechts im EuropäischenRat und im Ministerrat aktiv zu unterstützen. Damitsolle ein betrugssicheres und bürokratiearmes Mehr-wertsteuersystem geschaffen werden. Es wird hiergrundsätzlicher Handlungsbedarf im europäischenMehrwertsteuerrecht gesehen. Die Grünen fordern inIhrem Antrag auch wieder einmal Verbote –„KeineMehrwertsteuerbefreiungen und -ermäßigungen aufumweltschädliche Produkte und Dienstleistungen“–und wollen die Umsatzsteuersätze erhöhen, „dass dieBemessungsgrundlage der Mehrwertsteuer in derEuropäischen Union … verbreitert wird.“ Wir habenes hier wieder einmal mit einem Schaufensterantrag zutun, der die Realität nicht richtig darstellt. Aus diesemGrund hier noch einmal einige Gedanken zur Entwick-lung der letzten Jahre der Umsatzsteuerbetrugsbe-kämpfung auf EU-Ebene. Damit möchte ich deutlichmachen, dass die EU-Kommission und die Bundesre-gierung bereits seit langem engagiert für ein effizien-tes, einfaches und robustes Umsatzsteuersystem ein-steht.Die EU-Kommission hat in ihrem Grünbuch vorüber drei Jahren bereits analysiert, dass aufgrund derKomplexität der Mehrwertsteuervorschriften den Un-ternehmen ungeheure Verwaltungslasten aufgebürdetwerden. Dadurch besteht die Gefahr, dass die EU ihrewirtschaftliche Anziehungskraft verliert. Anlass zurBesorgnis geben insbesondere verschiedene Kernbe-standteile des Systems wie mehrwertsteuerliche Pflich-ten, Vorsteuerabzug und die unterschiedlich hohen undsehr differenziert anwendbaren Steuersätze. DieseFaktoren, so die Analyse, können KMU stärker belas-ten, weil es für sie zu kostspielig sein kann, für die zu-nehmend komplexer werdenden Umsatzsteuerbestim-mungen die Hilfe von Fachleuten in Anspruch zunehmen. Auch Professor Mario Monti sprach in einemBericht an Kommissionspräsident Barroso im Mai2010 davon, dass eine „binnenmarktorientierte Re-form der Mehrwertsteuervorschriften“ in der EU not-wendig sei. Damit soll der Kontinent wirtschaftlich at-traktiver werden.Vorgehen in Deutschland. Auch die Bundesregie-rung stimmt einer Reform des Mehrwertsteuersystemszu, und in einer Antwort an die SPD-Fraktion aufDrucksache 17/8748 vom 27. Februar 2012 stellt siesich grundsätzlich hinter die Aussage, dass ein EU-Mehrwertsteuersystem einfach, effizient und neutral,robust und betrugssicher sein muss. Dies ist ein deutli-ches Zeichen gewesen, dass bereits vor einem Jahrdeutlich gemacht wurde: Wir sind uns einig, dass nureine abgestimmte Reform sinnvoll und deswegen eineZusammenarbeit mit der EU-Kommission wichtig ist.Im Rahmen unserer Möglichkeiten haben wir alsCDU/CSU in Deutschland den Umsatzsteuerbetrugbekämpft. Bereits 2009 hat die CDU-geführte Bundes-regierung eine Anhebung der Grenze für die Istbe-steuerung auf 500 000 Euro durchgesetzt. Damitwurden nicht nur kleine und mittelständische Unter-nehmen noch besser unterstützt, sondern auch demUmsatzsteuerbetrug wurde entgegengewirkt. Weiter-hin hat sich die Union für Betrugsmöglichkeiten beider umsatzsteuerfreien Lieferung von Waren undDienstleistungen innerhalb der EU eingesetzt. Die er-dachte Gelangensbestätigung ist zwar alleine zu büro-kratisch, doch gemeinsam mit der Wirtschaft wird undwurde an einer bürokratiearmen und wirtschaftsent-lastenden Ausgestaltung gearbeitet.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26951
Manfred Kolbe
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Wir wollen auch die Möglichkeiten des Reverse-Charge-Verfahren ausdehnen, weil wir darin ein effi-zientes Instrument zur Umsatzsteuerbetrugsbekämp-fung sehen. Mit dem Jahressteuergesetz 2013 wolltenwir dieses sinnvolle Instrument auch auf die Strom-und Gaslieferung von inländischen Unternehmen aus-dehnen. Da aber Rot-Grün dieses Gesetz im Bundesratund Vermittlungsausschuss gestoppt hat, kommt eshier nicht zu einer verbesserten Betrugsbekämpfung.Die Grünen hätten hier zeigen können, dass sie nichtgut im Fordern sind, sondern ihren Worten auch Tatenfolgen lassen können. Dem war wieder einmal nichtso.Wichtig ist aus meiner Sicht, dass wir uns auf EU-Ebene grundsätzlich über grundlegende Maßnahmenzur Reform der Umsatzsteuersystematik in Europa ab-stimmen und die entsprechende Mehrwertsteuersys-temrichtlinie überarbeiten. Mit mehr Einfachheit undKlarheit machen wir die Umsatzsteuer weniger anfäl-lig für Betrug. Dabei müssen nationale Interessen undUnterschiede beachtet werden. Außerdem ist eine Ak-zeptanz der Reform in den Mitgliedsländern notwen-dig, damit diese dann auch konsequent umgesetzt wer-den – alles andere macht keinen Sinn.Schluss und kritischer Ausblick. Aber ich sage auch,dass wir vorher im eigenen Land über die Reform desUmsatzsteuersystems diskutieren müssen. Die christ-lich-liberale Koalition hat richtigerweise im Koalitions-vertrag die Reform ermäßigter Mehrwertsteuersätzeniedergeschrieben. Hier wurde ein Handlungsbedarfbereits analysiert. Hier bedauere ich, dass die einge-setzte Kommission aus Termingründen noch nicht ta-gen konnte. Ein wenig mehr Engagement der Beteilig-ten wäre hier aber sicherlich sinnvoll gewesen. DieÜberarbeitung und die Beseitigung von Benachteili-gungen bei den ermäßigten Mehrwertsteuersätzen istnach über 40 Jahren des Bestehens unserer Umsatz-steuersystematik zwingend geboten.Wir als christlich-liberale Koalition werden weiter-hin an einem effizienten, robusten und einfachen Um-satzsteuersystem für Deutschland und Europa arbeitenund müssen uns nicht von überholten Schaufenster-anträgen treiben lassen.Aus diesem Grund werden wir den vorliegenden An-trag ablehnen.
Ein betrugssicheres, transparentes und bürokratie-armes Mehrwertsteuersystem, wer wollte das dennnicht?Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen von derFraktion der Grünen, es ist ein sehr ehrenwertes An-liegen, zu versuchen, auf ein solches System hinzuwir-ken. Vielleicht bin ich zu pessimistisch, aber ichbefürchte, es nicht mehr zu erleben, dass wir in ganzEuropa ein Mehrwertsteuersystem haben werden, dasBetrug verhindert, ohne Bürokratie zu verursachen,und dabei noch für jeden Bürger verständlich ist.Nichtsdestotrotz ist es natürlich richtig, an Verbesse-rungen zu arbeiten und den Optimismus nicht zu ver-lieren. Aber wieso muss die Opposition die Regierungdarauf hinweisen? Das ist nur deswegen notwendig,weil CDU/CSU und ihr FDP-Anhängsel eine systema-tische Beschäftigung mit der Mehrwertsteuer sowohlauf nationaler Ebene als auch in der EU scheuen wieder Teufel das Weihwasser. National war die Klientel-koalition mit dem Ansatz gestartet, die Mehrwertsteuerneu zu ordnen. Der Katalog der Mehrwertsteuerermä-ßigungen sollte durchgearbeitet werden und unnötigeErmäßigungen gestrichen werden. So ist es im Koali-tionsvertrag vereinbart. Es kam anders. Statt einerNeuordnung des Systems wurde eine Steuerermäßi-gung für Hoteliers beschlossen, im Nachhinein dochetwas ganz Besonderes, weil es das Einzige ist, was dieFDP in der Regierungszeit erreicht hat. Na, das istdoch mal eine Bilanz.Die Kommission zur Reform der Mehrwertsteuer-sätze hat nicht ein einziges Mal getagt, ja sie hat sichnicht einmal konstituiert. Lediglich Herr Schäubledeutet nun an, dass für die nächste Legislatur geplantist, die Mehrwertsteuerermäßigungen komplett zustreichen. Daraus kann man aber wohl nur schließen:Herr Schäuble rechnet nicht mehr damit, 2014 Bun-desfinanzminister zu sein.Nun, die Fehler auf nationaler Ebene kann eine rot-grüne Bundesregierung in der nächsten Legislaturkorrigieren. Die Vernachlässigung der Arbeit auf EU-Ebene wird jedoch alle in der EU Zeit und Geld kosten.Zum Grünbuch der EU zur Zukunft der Mehrwert-steuer hat die SPD-Fraktion eine inhaltlich detaillier-tere und umfassendere Stellungnahme geschrieben alsdie Bundesregierung. Dieser Satz wäre übrigens auchrichtig, wenn wir statt von der SPD-Fraktion von Lob-byistengruppen sprechen würden; denn auch diese ha-ben umfassendere Stellungnahmen geschickt als dieBundesregierung. Dies mag mit der Missachtung er-klärbar sein, die die Bundesregierung gegenüber denEU-Institutionen vielfach zu haben scheint; es ist aberkurzsichtig. Es wäre ausgesprochen wichtig, deutscheund europäische Interessen bei der EU frühzeitig gel-tend zu machen und auf eine Fortentwicklung desMehrwertsteuersystems zu drängen. Mir ist bewusst,dass das ein schwieriger Weg sein wird, weil eine Än-derung der Mehrwertsteuersystemrichtlinie Einstim-migkeit braucht. Aber ist dies ein Grund, sofort vonvornherein auf Weiterentwicklung zu verzichten? DieEU zeigt sich bereit, an Verbesserungen zu arbeiten.Solange ein wichtiger Staat wie Deutschland dies blo-ckiert, werden sie nicht möglich sein. Und wenn ichauch nicht alles teile, was Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von den Grünen, in ihren Forderungskataloggeschrieben haben, so haben sie recht mit der Auffor-derung an die Bundesregierung: Sie müssen jetzt beider EU handeln. Wir zählen ihre letzten 248 Tage rück-wärts.Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.Zu Protokoll gegebene Reden
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26952 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
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Liebe Antragsteller: Sie stellen hier einen bunten
Strauß an Forderungen zur Behandlung der Mehr-
wertsteuer auf europäischer Ebene, wie sie zum Teil
auch schon von der Europäischen Kommission vorge-
schlagen wurden. Einige dieser Punkte sind sinnvoll,
verkörpern aber keine Neuigkeiten, da sie sich bereits
in der Umsetzung oder Prüfung befinden. Andere grei-
fen zentrale Punkte der Hoheitsrechte von Mitglied-
staaten an und sind daher abzulehnen.
SPD und Grüne haben in dieser Legislatur bereits
kleine Anfragen zum Umsetzungsstand des von Ihnen
aufgeführten Grünbuchs beziehungsweise der allge-
meinen Pläne der Europäischen Kommission zu einem
europäischen Mehrwertsteuersystem gestellt. An den
Positionen der Koalitionsfraktionen beziehungsweise
denen der Bundesregierung hat es seitdem keine ele-
mentaren Wechsel gegeben und für detaillierte Einzel-
fragen kann ich Ihnen nur die Lektüre der Antworten
der Bundesregierung empfehlen.
So ist beispielsweise die Einführung eines EU-
Mehrwertsteuer-Forums bereits beschlossen und die
Verbreiterung der Bemessungsgrundlage der Mehr-
wertsteuer wird ebenfalls unterstützt, um die Betrugs-
möglichkeiten einzudämmen und sich sinnloser und
teurer Subventionen zu entledigen. Zudem trägt eine
breitere Bemessungsgrundlage zur Haushaltskonsoli-
dierung der Mitgliedstaaten bei, welche höchste Prio-
rität genießt und durch einem guten Mix von Maßnah-
men zum einen auf der Einnahme- vor allem aber auch
auf der Ausgabenseite erfolgen sollte. Durch Regelun-
gen zu elektronischen Rechnungen auf Unionsebene
wurde zudem der Bürokratieaufwand für Unternehmen
bereits stark reduziert. Ihre Forderung für die Einfüh-
rung eines Reverse-Charge-Verfahrens im Business-to-
Business-Bereich ist ebenfalls hinfällig, da das gel-
tende Mehrwertsteuerrecht dies bereits für die über-
wiegende Zahl von grenzüberschreitenden Dienstleis-
tungen zwischen Unternehmen vorsieht und die
Bundesregierung des Weiteren eine punktuelle Aus-
dehnung des Verfahrens stets unterstützt hat.
Auch wenn wir schon viel erreicht haben, muss man
bei all diesen Maßnahmen jedoch verstehen, dass es
bei der Vielzahl der Regelungen der europäischen Ein-
zelstaaten und der Union als Ganzes nicht einfach
möglich ist, diese im Tabula-Rasa-Verfahren umzusto-
ßen. Es handelt sich um einen schrittweisen Prozess
zur Vereinfachung und Effizienzsteigerung. Wir sind
also stets bemüht, den europäischen Wirtschaftsraum
durch einfache und klare Regelungen für Unternehmen
und Bürger noch attraktiver zu machen. Viele Vor-
schläge sind jedoch nicht oder nur sehr langsam um-
setzbar, da in einer Gemeinschaft auch Einigkeit bei
der Durchführung herrschen muss. Projekte wie bei-
spielsweise die Schaffung von nationalen Anlaufstellen
für Unternehmen, über die sie ihre mehrwertsteuerli-
chen Pflichten in diesem Land abwickeln können fin-
den in der Union keinen Konsens.
Eine standardisierte europäische Mehrwertsteuer-
erklärung ist unserer Auffassung nach jedoch nicht
realisierbar: Art. 113 des Vertrags über die Arbeits-
weise der Europäischen Union beschränkt den Har-
monisierungsauftrag auf die materiell-rechtlichen
Mehrwertsteuerbestimmungen. Es mangelt damit an ei-
ner primärrechtlichen Rechtsgrundlage. Es liegt ganz
in der Hand der souveränen Mitgliedstaaten, wie sie
ihr Verfahrensrecht, ihre Steuerverwaltung und Ar-
beitsweise ausgestalten. Es ist nicht im Interesse der
Bundesrepublik diese Hoheit anzugreifen.
Das Gleiche gilt für die Vorstöße, ein gemeinsames,
grenzübergreifendes Mehrwertsteuerprinzip auf Ur-
sprungslandbasis zu schaffen. Die damit zwingend
notwendige Angleichung der Steuersätze, Zulassung
eines grenzübergreifenden Vorsteuerabzugs und Ein-
führung eines Clearing-Verfahrens greift abermals
massiv in die Souveränität der Mitgliedstaaten ein. Mit
der Verabschiedung des – von der deutschen Wirt-
schaft geforderten – Mehrwertsteuerpakets vom 1. Ja-
nuar 2010 hat die Bundesrepublik einen Paradigmen-
wechsel hin zum Bestimmungslandprinzip vollzogen.
Eine erneuter Systemwechsel gegen den Wunsch der
Betroffenen hätte keinerlei Basis oder Nutzen vorzu-
weisen.
Die FDP ist stets Europapartei gewesen. Der Ge-
winn einer solchen Gemeinschaft entspringt aber in
seiner Diversität und dem Austausch und nicht in der
erzwungenen Gleichmacherei und der Untergrabung
von Souveränität. Bis zu einem gewissen Maß ist es da-
her durchaus sinnvoll, gemeinsame Normen zu schaf-
fen, um die Interaktion miteinander zu vereinfachen.
Eine Aushöhlung von Hoheitsrechten wie Haushalt,
Steuererhebung und -verwaltung gefährdet jedoch un-
ser gemeinsames europäisches Projekt. Kein Staat in
der Union darf sich durch die Gemeinschaft gegängelt
oder unterworfen fühlen. Die Akzeptanz der Bürger
Europas für die Union ist der Nährboden, auf dem sie
gedeiht. Europa war stets erfolgreich und ein Garant
für Freiheit, weil Barrieren eingerissen und nicht weil
neue Regeln geschaffen wurden.
Wir werden dem Antrag daher nicht zustimmen.
Bei der Mehrwertsteuer gibt es ohne Frage nochsehr viel zu tun. Deshalb stand sie völlig zu Recht aufder To-do-Liste der Bundesregierung für diese Legis-laturperiode. Doch im Koalitionsvertrag 2009 standviel – und jetzt nach fast 4 Jahren Regierungszeit stehtdort noch immer viel – Unerledigtes. Sie wollten eineKommission einsetzen, die sich mit der Systemumstel-lung bei der Umsatzsteuer sowie dem Katalog der er-mäßigten Mehrwertsteuersätze befasst. Doch dieseKommission hat noch nicht ein einziges Mal getagt,obwohl sie bereits vor drei Jahren eingesetzt wurde.Dabei gibt es gerade bei der Mehrwertsteuer viel zutun, wie der vorliegende Antrag noch einmal aufge-zeigt hat.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26953
Richard Pitterle
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Wenn wir nur mal die weit verbreiteten Umsatz-steuer-Karussellgeschäfte herausgreifen. Dabei wirddie Umsatzsteuerfreiheit bei grenzüberschreitendenLieferungen ausgenutzt und dem Lieferanten inDeutschland von dem deutschen Finanzamt die Vor-steuer erstattet, obwohl die Umsatzsteuer im Empfän-gerland nicht abgeführt wurde. Das wird vor allemdadurch ermöglicht, dass bundesweit Tausende Steuer-fahnderinnen und Steuerfahnder sowie Betriebsprüfe-rinnen und Betriebsprüfer fehlen. Der Abbau von Stel-len in den Finanzverwaltungen in den Bundesländernhat dazu geführt, dass Umsatzsteuererklärungen nurunzureichend überprüft werden können. Eine lücken-hafte Zusammenarbeit der Steuerbehörden untereinan-der erleichtert die Betrügereien. Die seit vielen Jahrenstattfindenden Karussellgeschäfte führen in Europa zuSteuerausfällen im Milliardenhöhe. Es besteht alsonicht nur großer, sondern vor allem auch dringenderHandlungsbedarf. Darum fordern wir die Einrichtungeiner Bundesfinanzpolizei, die schlagkräftig nicht nurgegen den Umsatzsteuerbetrug, sondern auch gegennationale und internationale Geldwäsche tätig seinkann. Zusammen mit dieser und der Aufstockung desPersonals der zuständigen Bundesländer ließen sichMilliarden von Umsatzsteuerausfällen vermeiden. Unddie Bundesregierung könnte sich ersparen, die Steuer-ausfälle durch Kürzungen der Sozialleistungen bei denArmen wieder reinzuholen.Bei den Mehrwertsteuersätzen besteht ebenfalls Re-gelungsbedarf. Doch es ist Streit in Ihrer Regierungangesagt, wenn Sie beispielsweise Korrekturen bei derermäßigten Mehrwertsteuer angehen würden. Außer-dem gäbe es erheblichen Widerstand aus den den Re-gierungsparteien nahestehenden Kreisen. Bei Kürzun-gen von Sozialleistungen wird man sich dagegenschnell einig.Einen weiteren Punkt in dem Antrag, den ich aus-drücklich hervorheben möchte, ist der Bürokratie-abbau. Vereinheitlichung der Formulare in Europaund Annäherung der immer noch unterschiedlichenRechtsvorschriften bei der Mehrwertsteuer stellen ei-nen wesentlichen Beitrag zum Bürokratieabbau darund sorgen für Kosteneinsparungen sowohl bei Unter-nehmen als auch bei Behörden. Das hatten die Regie-rungsparteien 2009 ebenso erkannt und widmeten demBürokratieabbau ein eigenes Kapitel in ihrem Koali-tionsvertrag. Doch auch hier gilt das Gleiche wieoben: Es ist noch zu erledigen.Es besteht, wie der Antrag aufzeigt, großer undauch dringender Handlungsbedarf auf vielen Feldernder Umsatzbesteuerung. Doch in den letzten Monatenbis zu den Wahlen ist von dieser Bundesregierung nichtmehr viel zu erwarten. Daran ändert auch dieser An-trag nichts, dem wir zustimmen werden.Wir teilen die Auffassung, dass das Mehrwertsteu-ersystem einer gründlichen Überarbeitung bedarf.Doch das wird nicht mit dieser Bundesregierung erfol-gen. Sie wird nicht der Treiber sein, sondern steht aufder Bremse. Die Betrüger und Bürokraten freut es.Und der Koalitionsfrieden ist gesichert, zumindest beidem Thema Mehrwertsteuer.
Eine gerechte und ergiebige Steuerpolitik und dieSicherstellung der auf diesen politischen Vorgaben be-ruhenden Steuereinnahmen sind Kernelemente einerzukunftsfähigen Wirtschafts- und Finanzpolitik. Unddarum geht es uns bei dem vorgelegten Antrag zurUnterstützung der europäischen Initiative, das Mehr-wertsteuerregime betrugssicherer und bürokratieärmerzu machen. EU-Steuerkommissar Semeta hat im Ge-spräch mit dem Finanzausschuss des Deutschen Bun-destages im letzten November die Einnahmeverlustedurch Steuerbetrug und aggressive Steuergestaltungmit der gewaltigen Summe von 1 000 Milliarden Eurobeziffert. Die Schweizer Bank Wegelin musste kürzlicherklären, gezielt ein Geschäftsmodell verfolgt zu ha-ben, das Steuerhinterzieher aus anderen Ländern anlo-cken sollte. Und einige Angestellte der DeutschenBank sind angeklagt, bei sogenannten Karussellge-schäften, also Umsatzsteuerbetrug, Beistand geleistetzu haben. Es ist vollkommen klar, das wir da dringendund zielgerichtet Maßnahmen ergreifen müssen, die-sem Treiben nicht nur Einzelner, sondern auch vonganzen Organisationen, Einhalt zu gebieten.Und da klingt es schon wie Hohn und zeigt die Dop-pelzüngigkeit der Bundesregierung, wenn der Bundes-finanzminister heute Morgen in der Debatte um dieBankenunion seiner Sorge um den Steuerbetrug unddie Steuergestaltung Ausdruck verleiht und ganz be-sonders den Umsatzsteuerbetrug anspricht und gleich-zeitig in Brüssel auf der Bremse steht. Das ist einfachnicht hinnehmbar. Aber, liebe Kolleginnen und Kolle-gen von der Regierungskoalition, mit einer Zustim-mung zu unserem heute vorgelegten Antrag haben SieGelegenheit, endlich Farbe zu bekennen und daran zuarbeiten, Ihr völliges Versagen beim Thema Mehrwert-steuer zu korrigieren.Ihr Versagen auf diesem Gebiet ist unverantwort-lich. Diesen Schluss ziehen nicht nur wir Grüne, son-dern auch der Bundesrechnungshof, wie aus seinemgestern vorgelegten Bericht zur Umsatzsteuer hervor-geht. Und da uns heute Morgen verschiedene Rednerder Koalition Besserwisserei vorgeworfen haben: Werhat denn im Koalitionsvertrag vollmundig die Mehr-wertsteuerreform angekündigt? Wer hat denn die Bil-dung einer Kommission angekündigt, um den Dschun-gel der Ausnahmeregelungen der Mehrwertsteuer zulichten, die dann kein einziges Mal getagt hat? Wer hatdenn bei der einzigen Änderung der Mehrwertsteuer indie richtige Richtung, nämlich der Abschaffung einzel-ner ungerechtfertigter Ausnahmeregelungen, sich zudiesen Maßnahmen erst durch den Europäischen Ge-richtshof zwingen lassen müssen? Die schwarz-gelbeKoalition.Nicht, dass die Koalition ganz untätig war. Sie hatschon gearbeitet, aber leider auf der falschen Bau-stelle, und dabei nicht etwa die Staatsfinanzen im BlickZu Protokoll gegebene Reden
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26954 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Thomas Gambke
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gehabt, sondern schlicht ihre Klientel. Denn was hatdie Koalition geändert? Die Steuer auf Übernachtun-gen wurde gesenkt, die Ermäßigung für Pferde wurde,wie gesagt, auf Druck der EU-Kommission abge-schafft, um dann aber zeitgleich über den Weg des Um-satzsteuer-Anwendungserlasses neue Möglichkeiten zuschaffen, wie Züchter und Landwirte ihre Pferde dochzu 7 Prozent verkaufen können. Und sie hat es fertigge-bracht, den Verkauf von Maultieren weiterhin mit demverminderten Steuersatz zu unterstützen. Ein Hoch aufdie unterstützungsbedürftigten Maultierbesitzer in die-sem Land! Das ist wirklich alles andere als eine syste-matische Überarbeitung unserer Ermäßigungen, dasist in manchen Punkten wirklich ein schlechter Witz, inder Substanz ein Offenbarungseid dieser Koalition.Denn es gibt und gab noch einige wirklich wichtigeBaustellen, bei denen die Koalition erst einmal garnichts getan hat.So wurde die Wirtschaft mit der Einführung der Ge-langensbestätigung als alleinigem Liefernachweis fürEU-Exporte völlig verunsichert. Das BMF hat nachlangem Protest diese Neuregelung wieder kassiert. Beider Reform der Istbesteuerung dagegen musste dieBundesregierung zum Jagen getragen werden. Erstdurch unseren Druck wurde die Grenze für die Besteu-erung nach tatsächlich vereinnahmten Entgelten auf500 000 Euro festgesetzt und Unternehmen so wert-volle Liquidität gesichert. Und die Baustelle vermin-derte Mehrwertsteuersätze wurde zwar ausgeschildert,aber weder Bauleitung noch irgendein Arbeiter wur-den je zu dieser Baustelle geschickt. Deutlich mehr als3 Milliarden Euro ungerechtfertigter Branchensubven-tionen wurden nicht angepackt, und da reden wir nochnicht einmal über verrückte Regelungen der aktuellenTrüffel- und Mineralwasserbesteuerung.Diese Liste beweist, dass wir steuerpolitisch fastvier Jahre verschenkt haben. Zum nationalen Dilettan-tismus von Herrn Schäuble und seiner Koalition ausHotel- und Pferdefreunden kommt auf Ebene der EUdas internationale Versagen. Seit Ausbruch der Fi-nanzkrise wird über eine verbesserte Koordination derWirtschafts- und Finanzpolitiken verhandelt. Gleich-zeitig werden Wege gesucht, wie die haushalterisch an-geschlagenen Mitgliedstaaten der EU zu einer Erhö-hung ihrer Einnahmebasis kommen können. Leiderwurde die Mehrwertsteuer in diesem Prozess nicht auf-gegriffen. Es ist noch schlimmer: Die Bundesregierungbremst auf europäischer Ebene bei neuen Maßnahmengegen Mehrwertsteuerbetrug, wie bei einem Schnell-reaktionsmechanismus gegen Betrug, den die Euro-päische Kommission vorgeschlagen hat. So verhindertdie Bundesregierung wirksame Änderungen, von de-nen die Haushalte aller Mitgliedstaaten profitierenwürden. Wie bereits ausgeführt, entgehen den Haus-halten nach Schätzungen der EU durch Steuerhinter-ziehung und Betrug jährlich Einnahmen in Höhe von1 Billion Euro. Auf die Mehrwertsteuer entfällt dabeiein dreistelliger Milliardenbetrag. Es ist mehr alsfahrlässig, hier nicht tätig zu werden.Genau aus diesem Grund fordern wir die Bundesre-gierung auf, die Europäische Kommission bei einereuropaweiten Reform der Mehrwertsteuer zu unter-stützen. Die Kommission hat 2010 einen Prozess inGang gesetzt, der die Steuer europaweit stärker har-monisieren soll und so zu mehr Einnahmen für die Mit-gliedstaaten und einfacheren Regeln für die Steuerzahlerführen soll. Besonders die Themen Betrugsbekämp-fung und Vereinfachung durch europäische Harmoni-sierung sollten ernsthaft vom Deutschen Bundestagund der Bundesregierung unterstützt werden. Durchdiese Änderungen wird auch der europäische Binnen-markt ein Stück weit effektiver.Konkret fordern wir die europaweite Umkehr derSteuerschuldnerschaft bei der Umsatzsteuer, das Re-verse-Charge. So fallen Steuerschuld und Vorsteuerer-stattung an ein Unternehmen. Damit würde besondersKarussellbetrug wirksam erschwert. Fälle wie jüngstbei der Deutschen Bank, die den Betrug mit Emissions-zertifikaten zumindest begünstigt haben soll, würdender Vergangenheit angehören. Es ist wichtig, dass eu-ropaweit eine einheitliche Regelung für das Reverse-Charge getroffen wird, weil Betrug sonst nicht verhin-dert würde und das System kompliziert bleiben würde.Aber allein dieser Schritt reicht nicht aus, um Betrugvöllig zu verhindern. Wir wollen einheitliche Stan-dards und Formulare für die Mehrwertsteuer in dergesamten EU. Gleichzeitig müssen die Finanzbehör-den untereinander enger kooperieren und gemeinsameDatenbanken nutzen. Nur diese bessere Zusammenar-beit kann verhindern, dass Betrüger weiter darauf ver-trauen können, dass sie schneller untertauchen kön-nen, als ihnen die Finanzbehörden auf die Schlichekommen.Die Harmonisierung der Mehrwertsteuer hat wei-tere positive Effekte. Für Unternehmen werden Liefe-rungen von Waren und Dienstleistungen in den euro-päischen Binnenmarkt erleichtert. Sie müssen nichtmehr für jeden Mitgliedstaat andere umsatzsteuerlichePflichten und Regeln erfüllen. Auch müssen sie sichnicht mehr überall steuerlich registrieren, um Vorsteu-erbeträge erstattet zu bekommen, denn die Steuer-schuldnerschaft liegt bei Ihren Abnehmern. Dies wäredie größtmögliche bürokratische Entlastung für expor-tierende Unternehmen. Die Bundesregierung beschäf-tigt sich an dieser Stelle leider lieber mit der Gelan-gensbestätigung, eine Bankrotterklärung.Zum Schluss möchte ich noch auf die Ermäßigungenund Befreiungen eingehen. Auch hier brauchen wireinheitliche Regeln für alle Mitgliedstaaten. Sonder-regelungen für einzelne EU-Mitglieder darf es nichtgeben. Nur so kann verhindert werden, dass etwaLuxemburg als Steueroase für Amazon E-Books mit3 Prozent Mehrwertsteuer belegt, während sie im Restder EU mit dem normalen Mehrwertsteuersatz des je-weiligen Landes belegt werden müssen. Nur so kannverhindert werden, dass die CSU über den Steuersatzfür Übernachtungen in Österreich debattiert und des-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26955
Dr. Thomas Gambke
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wegen auch den deutschen Hoteliers Steuergeschenkemacht.Gleichzeitig widerspreche ich an dieser Stelle expli-zit der EU-Kommission, die die Steuerbefreiung für dieöffentliche Hand komplett infrage stellt. Es ist ganzklar, dass Leistungen, die zur öffentlichen Daseinsvor-sorge zählen, wie etwa Bildung, weiter steuerfrei seinmüssen. Nur an Stellen, wo private und kommunaleAnbieter im Wettbewerb stehen, müssen Lösungen ge-funden werden, die einen fairen Wettbewerb erlauben,aber ohne nachteilige Regelungen für die Kommunen.Sie sehen, bei der Mehrwertsteuer gibt es viele Bau-stellen. Leider hat die Koalition nicht eine angepackt.Den Schaden haben die Bürger, die – ob sie wollenoder nicht – über die Umsatzsteuer für die Lobbygrup-pen der Koalition bezahlen. Den Schaden haben dieUnternehmen, die mit einem komplizierten Umsatz-steuerrecht leben müssen, und den Schaden haben dieMitgliedstaaten der EU, denen wirksame Instrumentegegen Mehrwertsteuerbetrug vorenthalten bleiben.Diese Bundesregierung hat steuerpolitisch versagt, inDeutschland und in Europa. Zum Glück ist spätestensim September Schluss für Schwarz-Gelb, und so be-steht Hoffnung, dass die nächste Bundesregierung dieZeichen der Zeit erkennt und auch bei der Mehrwert-steuer für ein Mehr an Europa kämpft.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/12065 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist das so beschlossen.
Tagesordnungspunkte 32 a und 32 b:
a) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Petermann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-
derung des Grundgesetzes – Herstellung der
institutionellen Unabhängigkeit der Justiz
– Drucksache 17/11701 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
b) Erste Beratung des von den Abgeordneten Jens
Petermann, Jan Korte, Agnes Alpers, weiteren
Abgeordneten und der Fraktion DIE LINKE ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Herstel-
lung der institutionellen Unabhängigkeit der
Justiz
– Drucksache 17/11703 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Innenausschuss
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll genommen.
Die vorliegenden Gesetzesentwürfe der FraktionDie Linke zielen auf eine organisatorische Unabhän-gigkeit der Justiz von der Exekutive und damit auf eineumfassende und tiefgreifende Reform der Justizstruk-turen. Neben den dafür notwendigen Änderungen desGrundgesetzes müssten zahlreiche Änderungen aufeinfachgesetzlicher Ebene vorgenommen werden. Diein Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz normierte Unabhängig-keit der Richter zählt zu den verfassungsgestaltendenStrukturprinzipien des Grundgesetzes. Die richterlicheUnabhängigkeit ist nicht nur Ausdruck des Gewalten-teilungsprinzips, sie gehört auch zum Standard rechts-staatlichen Handelns. Die Gewährung des grundrecht-lich garantierten effektiven Rechtsschutzes ist nurdurch unabhängige Richter möglich, es gehört zumWesen richterlicher Tätigkeit, dass sie durch einennicht beteiligten Dritten in persönlicher und sachli-cher Unabhängigkeit ausgeübt wird. Sie steht, wie derehemalige Präsident des Bundesverfassungsgerichts,Dr. Hans-Jürgen Papier, zu Recht beschrieben hat, au-ßerdem in engem Zusammenhang mit der in Art. 20Abs. 3 Grundgesetz hervorgehobenen Bindung derRechtsprechung an Gesetz und Recht. Eine Abhängig-keit, gar inhaltliche Steuerung der richterlichen Tätig-keit durch die Exekutive wäre mit Art. 97 Grundgesetznicht vereinbar. Aber müssen wir uns Sorgen machen,dass es hier Abhängigkeiten und unzulässige Einfluss-nahmen gibt, wie uns die Anträge der Linken glaubenmachen wollen? Gibt es tatsächlich Strukturen, dieeine umfassende Reform der Justizstrukturen erforder-lich machen? Und sollten uns dafür die Beispieleanderer europäischer Länder mit organisatorischselbstständiger Justiz als Vorbild dienen?Als Richterin am Amtsgericht habe ich selbst durch-aus erlebt, dass mit dem zuständigen Justizministeriumdes Landes um knappe Gelder gerungen werdenmusste, dass hohe Fallzahlen, geringe Personalaus-stattung im richterlichen Dienst ebenso wie auf denGeschäftsstellen und in der Verwaltung durchausWünsche offen ließen. Oft ist es nur ein besonders en-gagierter Einsatz der Richter, aber auch der Mitarbei-ter in der Verwaltung und auf den Geschäftsstellen, derdie gewohnte zügige und fachlich hochwertige Bear-beitung der Streitfälle ermöglicht, die nicht zuletztauch einen echten Standortvorteil Deutschlands im in-ternationalen Vergleich ausmacht. Wir haben uns indieser Legislaturperiode mit der Dauer von Gerichts-verfahren befasst und erstmals Rechtsmittel gegenüberlange Verfahren eingeführt – auch in diesem Zu-sammenhang wurde deutlich, dass eine knappe Aus-stattung nicht ohne Auswirkung auf die Effizienz dergrundgesetzlich geschützten Rechtsgewährung bleibt.Und dennoch kann ich die Analyse der vorliegendenAnträge nicht teilen. Dort wird geradezu der Eindruckvermittelt, dass die Entscheidungsbefugnisse der Exe-kutive in Bezug auf die Ausstattung der Justiz oderauf Personalentscheidungen die Unabhängigkeit derRechtsprechung infrage stellen und die deutsche Justiz
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26956 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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in großem Maße verfassungswidrig agiere. Diesmöchte ich klar zurückweisen.Insbesondere habe ich keine Einflussnahme derExekutive auf die Justiz bei Personalentscheidungenerlebt: Ich selbst habe mich vor meiner Einstellung inden Richterdienst ausschließlich beim zuständigenOLG-Präsidenten vorgestellt. Beurteilungen wurdenselbstverständlich ausschließlich von Richtern der je-weiligen Gerichtsverwaltung vorgenommen. Dass hierBefugnisse der Justizverwaltung, die in Personalunionvon den Präsidentinnen und Präsidenten der Gerichtewahrgenommen werden, für eine Beeinflussung derJustiz genutzt werden, wird auch in den vorliegendenAnträgen nicht behauptet.Bei der personellen und sachlichen Ausstattung derGerichte bleiben immer Wünsche offen; dies gilt fürdie Justiz ebenso wie für die Exekutive auf allen staat-lichen Ebenen, das gilt gleichermaßen auch für dieAusstattung der Verfassungsorgane mit eigenem Haus-halt. Oder könnten Sie nicht noch mehr wissenschaft-liches Personal, mehr Hilfe bei der Presseauswertung,bei der Organisation und Vorbereitung von Terminengebrauchen, wenn es ein noch größeres Personalbud-get gäbe? Beim Bundestag, vermutlich ähnlich beimBundesrat, aber ebenso in jeder Schule, jeder Stadt-verwaltung, jeder sonstigen öffentlichen Verwaltungwird es ähnlich sein. Knappe Mittel sind also keines-wegs ein Sonderproblem der Justiz. Vor allem ist mirwichtig: Zu keinem Zeitpunkt habe ich erlebt, dassFragen der Ausstattung mit Personal oder Sachmittelndavon abhängig gemacht wurden, dass inhaltlicheVorgaben für die Rechtsprechung eingehalten wurden,dass bestimmte Verfahren vorgezogen oder anders be-handelt wurden, als es die jeweils zuständigen Richterin ausschließlich eigenverantwortlicher Entscheidungbestimmt haben. Hier gab und gibt es keinerlei synal-lagmatischen Zusammenhang zwischen den Ausstat-tungs- oder Personalentscheidungen der Justizverwal-tung auf der einen und richterlichen Entscheidungenauf der anderen Seite. Das ist nicht nur mein eigenersubjektiver Eindruck, sondern das kann objektiv belegtwerden. Der Global Competitiveness Report 2012 bis2013 des Weltwirtschaftsforums kommt zu dem Ergeb-nis, dass die deutsche Judikative im Bereich der Un-abhängigkeit weltweit auf dem siebten Platz und damitdeutlich vor den klassischen Vertretern einer selbstver-walteten Justiz liegt. Die Studie zeigt außerdem, dassdie von den Linken vorgeschlagenen Organisations-strukturen gerade keine Gewähr bieten, zu mehr tat-sächlicher Unabhängigkeit der Rechtsprechung zukommen. Klassische Vertreter einer selbstverwaltetenJustiz wie Frankreich, Spanien und Italien liegen aufden Plätzen 39, 60 und 68 dieses Reports deutlich hin-ter Deutschland. Wenn es in der Antragsbegründungheißt: „Deutschland muss wieder den Anschluss anden aktuellen europäischen Standard der Rechtsstaat-lichkeit finden“, ist das demnach – gelinde gesagt –absurd. Ein Missstand, eine Abhängigkeit der Justizvon der Exekutive, die aus verfassungsrechtlichenGründen eine grundlegende Justizreform erfordernwürde, ist also keinesfalls festzustellen. Ob die Ländereine etwaige Grundgesetzänderung mittragen würden,ist eher zweifelhaft.Gleichwohl: Jede Organisationsstruktur muss vonZeit zu Zeit überdacht werden. Vorschläge von Kolle-gen – schließlich basieren die Vorschläge der Linkenauf Positionen der Neuen Richtervereinigung – werdenaus Prinzip selbstverständlich ernst genommen. Wirwerden dazu ebenso selbstverständlich die Stellung-nahmen des Deutschen Richterbundes, der Berufsver-tretungen und Kammern im Bereich der Justiz, derLehre etc. berücksichtigen und dann die einzelnenVorschläge bewerten. Das ist uns unsere Justiz wert.
Brauchen wir eine funktionierende oder eine selbst-verwaltete Justiz? Nach meiner Meinung brauchen wireine funktionierende Justiz, die die Kriminalität er-folgreich bekämpft und die Bürgerrechte schützt, eineJustiz, die das Recht überall in der Gesellschaft durch-setzt. Wir wollen, dass alle Bürgerinnen und Bürgerunabhängig von Geld und Vermögen ihre Rechte, auchund gerade im zivilrechtlichen Bereich, in angemesse-ner Zeit durchsetzen können.Bedarf es dazu einer selbstverwalteten Justiz? Siefordern in Ihrem Gesetzentwurf, dass Deutschlandwieder den Anschluss an den europäischen Standardder Rechtsstaatlichkeit finden und die Justiz in Bundund Ländern institutionell unabhängig ausgestaltenmuss. Dabei verweisen Sie auf eine große Mehrheit an-derer europäischer Demokratien.In der Tat wird seit Jahren von einem europäischenTrend zu einer Selbstverwaltung der Justiz gespro-chen. Wir dürfen aber nicht einem Trend folgen, son-dern haben zu fragen, wie die Stellung der Justiz inunserer Staatsverfassung zu begreifen ist. So hat dasder frühere Präsident des BundesverfassungsgerichtsHans-Jürgen Papier, Vorgänger des heutigen Präsiden-ten Andreas Voßkuhle, schon in einem Vortrag beimHamburgischen Richterverein am 16. Februar 2004sinngemäß formuliert.Sie sehen, ich stehe der Einführung einer Selbstver-waltung der Justiz eher kritisch gegenüber. Papier hatschon damals festgestellt, „dass in der Diskussion nochnicht hinreichend geklärt ist, welche Verbesserungenmit einer Selbstverwaltung der Justiz erreicht werdensollen und auch tatsächlich erreicht werden könnten“.Sie schreiben von einer Begünstigung informellerAbhängigkeitsstrukturen. Jetzt frage ich zurück: Gibtes ein Problem in Deutschland mit der Unabhängigkeitder Richter? Im Gegenteil: Es gibt genügend Bei-spiele, die belegen, dass wir keine willfährigen Richterhaben, die auf Beförderungsposten schielen und des-halb regierungs- oder verwaltungsfreundliche Ent-scheidungen treffen.Bedarf es einer Gewaltentrennung, um die Gewal-tenteilung zu sichern, wie Sie meinen? Hierzu wäredann eine Grundgesetzänderung erforderlich. DochZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26957
Dr. Edgar Franke
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gerade das Grundgesetz will eine effektive Erfüllungstaatlicher Aufgaben durch ein Zusammenwirken derTeilgewalten; das Grundgesetz zeichnet sich geradedurch eine vielfältige Verschränkung aus.Sichert eine selbstverwaltete Justiz die Interessenund Bedürfnisse der Bürger? Es ergeben sich bei mirZweifel darüber, ob eine selbstverwaltete Justiz diesenInteressen der Bürger folgen würde oder vielmehr deneigenen.Und wie steht es um die demokratische Legitimationder Selbstverwaltungsorgane? Wäre nicht eine selbst-verwaltete Justiz der demokratischen Kontrolle mitparlamentarischer Verantwortlichkeit entzogen?Für die SPD-Bundestagsfraktion stelle ich hier fest,dass die richterliche Unabhängigkeit, die verfassungs-garantierte richterliche Unabhängigkeit, nicht von ei-ner Selbstverwaltung der Justiz berührt wird oder vonihr abhängig ist.Eine Selbstverantwortung würde auch den Staatnicht von seiner Pflicht entbinden, die Justiz so zu or-ganisieren und auszustatten, dass diese ihrer verfas-sungsrechtlichen Verpflichtung entsprechen kann.
Deutschland kann stolz sein auf sein Justizsystem.
Unsere Richterinnen und Richter, unsere Staatsanwäl-
tinnen und Staatsanwälte leisten hervorragende Ar-
beit. Die deutsche Justiz zeigt sich im internationalen
Vergleich als hochqualifiziert, effektiv, kostengünstig
und auch unabhängig. Das zeigen beispielsweise in-
ternationale Vergleichsstudien. Die deutsche Justiz be-
legte etwa im Global Competitiveness Report 2011 bis
2012 den siebten Platz – wohlgemerkt weltweit. Ge-
meinsam sollten wir hier im Hause jedenfalls festhal-
ten, dass die Bürgerinnen und Bürger darauf vertrauen
können, dass in Deutschland justizielle Entscheidun-
gen auf Recht und Gesetz beruhen. Wir sollten dem
Eindruck entgegentreten, es gebe Gefälligkeitsent-
scheidungen, wie die Begründung des vorliegenden
Gesetzentwurfes mit Formulierungen wie „informellen
Abhängigkeitsstrukturen“ in der Justiz vielleicht anzu-
deuten versucht.
Die Diskussionen um eine weitere Stärkung der in-
stitutionellen Unabhängigkeit der Justiz sind grund-
sätzlich gut und wichtig. Dabei ist die Debatte um eine
Selbstverwaltung der Justiz nicht neu. Bereits im Jahr
1953 beschäftigte sich der 40. Deutsche Juristentag
mit der Frage: „Empfiehlt es sich, die vollständige
Selbstverwaltung aller Gerichte im Rahmen des
Grundgesetzes gesetzlich einzuführen?“. Die vorlie-
genden Entwürfe von Gesetzen zur Herstellung der in-
stitutionellen Unabhängigkeit der Justiz gehen zudem
auf die Gesetzentwürfe der Neuen Richtervereinigung
e.V. aus dem Jahr 2010 zurück, die damals bereits aus-
führlich diskutiert wurden. Zweifelhaft ist aus meiner
Sicht jedoch, ob die vorgeschlagenen strukturellen Än-
derungen in der deutschen Justiz ihren anerkannt ho-
hen Standard wirklich steigern. Der internationale
Vergleich weckt daran jedenfalls Zweifel. In dem ein-
gangs erwähnten Global Competitiveness Report
jedenfalls liegen Länder mit ähnlichen Selbstverwal-
tungsstrukturen, wie sie der Entwurf vorschlägt, wie
etwa Frankreich, Italien und Spanien weit hinter
Deutschland mit aktuellen Rängen von 37, 60 und 65.
Daher ist mein Eindruck nach vielen Gesprächen mit
der Richterschaft, dass der eigentliche Treiber der Re-
formbestrebungen die Hoffnung ist, dass die Selbstver-
waltung dringend notwendige Verbesserungen für die
Finanz- und damit Personal- und Sachausstattung der
Justiz insbesondere in den Ländern erleichtert. Daran
habe ich jedoch große Zweifel. Sollten Gerichte und
Staatsanwaltschaften nicht mehr durch die Landesjus-
tizministerien verwaltet werden, wird es – so befürchte
ich – einen Trend zur Zusammenlegung der „Rumpf-
kompetenzen“, der dann nur noch sogenannten Justiz-
ministerien mit anderen Ministerien, zum Beispiel mit
den Innenministerien geben. Das heißt, dass in den
Kabinetten dieser Republik bei den Aufstellungen der
Haushaltsgesetzentwürfe den Finanzministern kein In-
teressenvertreter der Justiz mehr mit Kabinettsrang
gegenübersteht. Meine große Sorge ist, dass das die
Stellung der Justiz in den Haushaltsverhandlungen,
also bei der Grundlegung für Finanz- und damit Per-
sonal- und Sachmittelausstattung nicht verbessert,
sondern enorm schwächen wird.
Wir sind gespannt, ob sich diese Sorgen im Rahmen
der Ausschussberatungen entkräften lassen, und freuen
uns auf konstruktive Beratungen zum Besten der deut-
schen Justiz mit ihren vielen hochqualifizierten und
engagierten Richterinnen und Richtern sowie Staats-
anwältinnen und Staatsanwälten.
Mit den Gesetzentwürfen zur Herstellung der insti-tutionellen Unabhängigkeit der Justiz hat nun endlichein Thema den Bundestag erreicht, das auf europäi-scher Ebene seit vielen Jahren auf der Tagesordnungsteht. EU-Beitrittskandidaten müssen eine personellund institutionell unabhängige Justiz vorweisen. Daswäre für Deutschland ein Problem: Würde die Bundes-republik heute einen Antrag auf Aufnahme in die Euro-päische Union stellen, müsste Brüssel die Aufnahmeverweigern. Grund dafür ist unser Justizsystem, dasaus dem 19. Jahrhundert stammt und den heutigen An-forderungen der Europäischen Union an eine unabhän-gige rechtsprechende Gewalt nicht mehr gerecht wird.Die Parlamentarische Versammlung des Europarates,in der unsere heutige Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger einst als Berichterstatterin agierte,hat am 30. September 2009 explizit von der Bundes-republik Deutschland gefordert, erstens zur Sicherungder Unabhängigkeit der Justiz in der Zukunft ein Sys-tem der gerichtlichen Selbstverwaltung unter Berück-sichtigung der föderalen Struktur der deutschen Justizeinzurichten, und zwar nach dem Vorbild der bestehen-den Justizräte in der überwiegenden Mehrheit der eu-ropäischen Staaten, zweitens schrittweise die Gehältervon Richtern und Staatsanwälten sowie die zur Verfü-Zu Protokoll gegebene Reden
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26958 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Jens Petermann
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gung stehenden Mittel für Prozesskostenhilfe zu erhö-hen, drittens die Möglichkeit der Minister, der Justizfür die Strafverfolgung Anweisungen in einzelnen Fäl-len zu geben, abzuschaffen.Nach mehr als drei Jahren muss sich die Bundesre-gierung fragen lassen, welche dieser Forderungen er-füllt wurde. Die Antwort lautet: keine. Stattdessen sol-len die Ansprüche auf Prozesskostenhilfe erschwertund gekürzt werden. In einer Antwort auf eine KleineAnfrage aus dem Jahre 2010 macht das Justizministe-rium im Hinblick auf die notwendige Änderung desGrundgesetzes deutlich, dass es nicht gewillt ist, dieForderungen des Europarates umzusetzen. Die Links-fraktion hat sich des Themas angenommen und zeigt,dass eine Umsetzung der Forderung möglich ist.Gemäß Art. 97 Abs. 1 Grundgesetz sind die Richte-rinnen und Richter „unabhängig und nur dem Gesetzeunterworfen“. Bekanntermaßen ist damit die richterli-che Unabhängigkeit gemeint. Der preußische Justiz-minister Leonhardt hatte einst zur Unabhängigkeit derRichter zutreffend bemerkt: „Solange ich über die Be-förderung bestimme, bin ich gerne bereit, den Richternihre sogenannte Unabhängigkeit zu konzedieren.“ DasZitat aus dem 19. Jahrhundert ist auch heute noch zu-treffend und geeignet, die herrschenden Zustände zubeschreiben. An der Stellung der Richterinnen undRichter sowie Staatsanwältinnen und Staatsanwältehat sich seither kaum etwas geändert. Auch heute hatdie Politik die Justiz fest im Griff. Das geben die Ent-scheidungsträger in der Justiz natürlich nicht zu.Durch das Leugnen dieses Einflusses funktioniert die-ses System seit Jahrzehnten fast reibungslos. Und essind nicht nur die hohen Justizämter, die nach Partei-proporz vergeben werden. Schon bei den Einstellungenund Beförderungen kann die Parteizugehörigkeit desKandidaten unter Umständen eine entscheidendeRolle spielen. Nach meinem Verständnis ist damit be-reits frühzeitig eine Beeinträchtigung der Unabhän-gigkeit möglich und findet auch statt.Es werden zum Beispiel Vorgaben gemacht, nachdenen die richterliche Arbeit durch die Gerichtspräsi-denten zu bewerten ist. Aufgrund dieser Beurteilungenwerden dann die Beförderungsstellen vergeben. Es istnicht vorstellbar, dass Fachwissen, Denk- und Urteils-vermögen, Verhandlungsgeschick, Kooperationsbe-reitschaft oder Arbeitseinstellung bemessen werden,ohne gleichzeitig Aussagen über den Umgang mit dem„unabhängigen Amt“ zu treffen. Insofern ist es für dieeigene Karriere dienlich, die Rechtsauffassung desGerichtspräsidenten zu teilen. In der Folge kommt esdazu, dass sich die Fallbearbeitung auch an der Kar-rierenützlichkeit orientiert. Natürlich wird diese Tatsa-che von den entscheidungsbefugten Personen in denGerichten bestritten.Man hört indes immer wieder, die Justiz sei, trotz ih-rer Abhängigkeit von der Exekutive, leistungsfähig.Das stimmt nur bedingt und liegt ausschließlich andem hohen Einsatz der Richterinnen, Richter,Staatsanwältinnen, Staatsanwälte, Rechtspflegerin-nen, Rechtspfleger sowie der Angestellten. Personellsowieso chronisch unterbesetzt, sind die meisten Ge-richte auf dem baulichen und technischen Stand der70er-Jahre stecken geblieben. Dafür sind derzeit dieJustizministerien zuständig, deren vornehmste Auf-gabe es sein müsste, gegenüber der Legislative diehohe Bedeutung der dritten Gewalt auch über dieHöhe des geforderten Budgets zu verdeutlichen. Dochhier lässt die Leidenschaft in manchen ministeriellenAmtsstuben allzu oft zu wünschen übrig.Negativbespiele gibt es en masse, beispielsweise diedamalige Diskussion um die Auflösung des Bayeri-schen Obersten Landgerichts durch Herrn Stoiber, umTatkraft und Sparsamkeit der neuen Landesregierungzu demonstrieren, oder aber das OberlandesgerichtKoblenz in Rheinland-Pfalz, welches aufgelöst werdensollte, weil die Landesregierung ihren Wunschkandi-daten für den Präsidentenposten nicht durchsetzenkonnte und nun dem Gericht gezeigt werden sollte,dass es nur eine nachgeordnete Behörde sei und dieLandesregierung doch am längeren Hebel säße. Einbesonders negatives Beispiel liefert Hessen ab, wo derderzeitige FDP-Justizminister die hessischen Richte-rinnen und Richter um Verständnis für Einsparungenbittet. Dabei geht es um Stellenabbau und Gerichts-schließungen, und das, obwohl die Justizhaushalte zuden kleinsten in Bund und Ländern gehören und beihoher Deckungsquote – mindestens 30 Prozent – mit1 bis 3 Prozent einen geringen Teil des Gesamthaus-halts ausmachen. Für eine Haushaltskonsolidierungist diese Spielwiese der Finanzminister wirklich unge-eignet. Vor diesem Hintergrund ist es umso wichtiger,dass die selbstverwaltete Richterschaft ein eigenesBudget entwirft und dieses direkt mit dem Parlamentverhandelt; den Ministern fehlt dazu in der Regel dieunmittelbare Erfahrung.Durch den Einfluss der Exekutive auf die rechtspre-chende Gewalt wird der Gewaltenteilungsgrundsatzdes Art. 20 Abs. 2 Grundgesetz ad absurdum geführt.Art. 92 Grundgesetz konkretisiert für die Judikative,dass die rechtsprechende Gewalt den Richtern anver-traut ist. Diese Verfassungsnormen sollen Machtkon-zentration und Machtmissbrauch verhindern. Deshalbdarf der, der Gesetze schafft, nicht mit ihrer Durch-setzung betraut sein. Wer Gesetze ausführt, ist einschlechter Schiedsrichter, wenn es um ihre richtige An-wendung geht. Und das ist auch der Grund, warum wirLegislative, Exekutive und Judikative unterscheiden.Dazu passt es eben nicht, wenn die Exekutive be-stimmt, wem in der Judikative die Rechtsprechungübertragen wird, wer dort Karriere macht, wie vielPersonal für wie viele Eingangszahlen erforderlich ist,welche technische Ausstattung und welchen baulichenZustand die Gerichtsgebäude haben.Unsere Kritik richtet sich nicht an die einzelnenJustizminister, die nun langsam erkennen sollten, dassdas obrigkeitsstaatliche Modell der Justizverwaltungein alter Zopf ist, der abgeschnitten gehört. Sie sindnur ein kleines Zahnrad im großen Getriebe. MeineZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26959
Jens Petermann
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Kritik richtet sich an politische Positionen, diekrampfhaft an einem System festhalten, das mittler-weile 135 Jahre weitgehend unverändert als letzteTrutzburg des spätfeudalen Deutschen Kaiserreichsfortbesteht. Die Reformforderungen auch aus denRichterverbänden sind unüberhörbar. Die Zeit für einegemeinsame Diskussion ist überreif.Mit den vorgelegten Gesetzentwürfen lade ich Sie,verehrte Kolleginnen und Kollegen, herzlich dazu ein.
Die Rechtsprechung ist als eine der drei Staatsge-walten im Grundgesetz fest verankert. Sie ist unabhän-gig. Das ist Kern der Rechtsstaatlichkeit.Heute debattieren wir über Maßnahmen zur orga-nisatorischen Stärkung dieser Unabhängigkeit. DieLinke schlägt tiefgreifende Reformen der Justiz vor.Deren Basis ist eine Änderung der Verfassung. Ein-fachgesetzliche Regelungen sollen sich anschließen.Verfassungsändernde Maßnahmen müssen aber wohlüberlegt sein.Über ein Mehr an Autonomie in der Justiz ist schonlange diskutiert worden. Die Debatte hat an Schub-kraft gewonnen, als der Deutsche Richterbund einEckpunktepapier und einen Landesgesetzentwurf for-mulierte. Der frühere grüne Justizsenator von Ham-burg hat ein eigenes Modell für die Autonomie der Jus-tiz entwickelt und ist dazu in einen Diskursprozessgetreten. Die Neue Richtervereinigung hat Diskussions-entwürfe für die Bundesebene vorgeschlagen. DieseVorschläge hat die Linke ihren Gesetzentwürfen zu-grunde gelegt.Allerdings sind die Reformen, die die Linksfraktionvorschlägt, sehr weitreichend. Für solche Umstruktu-rierungen der Justiz bedarf es neben der Grundgesetz-änderung vieler Änderungen einfachgesetzlicher Vor-schriften. Dies betrifft sowohl die Bundes- als auch dieLänderebene; denn Justiz ist vorwiegend Länder-sache. Wollen wir einen neuen Aufbau der Justiz er-möglichen, so können wir dies sinnvoll nur in Zusam-menarbeit mit den Ländern erreichen. Das mussumfassend aufbereitet und diskutiert werden.Wir Grüne stehen Reformen der Justizstrukturen of-fen gegenüber. Auch die Länder mit grüner Regie-rungsbeteiligung zeigen hier Offenheit. So haben inBaden-Württemberg und Rheinland-Pfalz die Regie-rungskoalitionen vereinbart, die Unabhängigkeit derJustiz zu stärken. Die grün-rote Regierung in Baden-Württemberg hat bereits einen Gesetzentwurf erarbei-tet, der bald weiter beraten wird und neben der Recht-sprechung auch die Staatsanwaltschaft als Teil derJustiz in den Blick nimmt.Tatsächlich aber wäre es auch Sache des Bundes-justizministeriums gewesen, die Zeichen der Zeit zuerkennen. Es hätte diese Legislaturperiode nutzen kön-nen, um die Autonomie der Justiz thematisch anzupa-cken. Das ist leider nicht geschehen.Nun zu den Gesetzentwürfen der Linken: Das Rich-terbild, das unserem Grundgesetz zugrunde liegt,zeichnet sich dadurch aus, dass die Richterschaft ge-genüber der Exekutive unabhängig und dem Gesetzverpflichtet ist. Zur Verwirklichung der rechtsprechen-den Gewalt ist ein hohes Maß – aber nicht unbedingtein umfassendes Maß – an Selbstverwaltung notwen-dig. Verbesserungen der aktuellen Gesetzeslage sindhier sicher möglich. Wir Grünen unterstützen das An-liegen, der Richterschaft im Bund und in allen Ländernein entscheidendes Mitspracherecht bei der Richter-einstellung und Beförderung zuzusprechen. Gleichzei-tig müssen wir aber auch die Grenzen der Unabhän-gigkeit berücksichtigen. Die Richterschaft kann nichtvöllig losgelöst von der Exekutive agieren, mit voll-ständiger finanzieller, personeller und organisatori-scher Selbstständigkeit.Bei den Staatsanwaltschaften stellt sich die Frage,inwieweit diese überhaupt eine justizielle Selbstver-waltung ausüben sollten. Hier spielen ganz andereverfassungsrechtliche Erwägungen eine Rolle. DieStaatsanwaltschaften sind ein Organ der Rechtspflege,aber nicht der Rechtsprechung. Sie sind Teil der Exe-kutive. Nach Art. 92 des Grundgesetzes ist die recht-sprechende Gewalt den Richtern anvertraut.Die Linke will daraus jetzt machen: „Die rechtspre-chende Gewalt liegt in den Händen der Richter undStaatsanwälte.“ Damit verkennt sie, dass die Tätigkeitvon Staatsanwälten funktionell keine Rechtsprechungist. Staatsanwälte entscheiden eben nicht verbindlichin einem geregelten Verfahren, was im konkreten Fallrechtens ist. Die Staatsanwaltschaft erfüllt einen ande-ren Zweck als die Rechtsprechung. Sie führt das Rechtund damit exekutive Gewalt aus.Die Richter brauchen Unabhängigkeit, weil sieRecht sprechen. Die Staatsanwaltschaften müssen inihrer Tätigkeit unmittelbare demokratische Rückan-bindung haben, bis hin zur politischen Verantwortungder jeweiligen Ministeriumsspitze für die generelle Or-ganisation der Arbeit der Staatsanwaltschaft.Das heißt nicht, dass wir Grünen die Staatsanwalt-schaften von der Justizreform ausnehmen wollen. Ins-besondere das einzelfallbezogene Weisungsrecht derPolitik gegenüber der Staatsanwaltschaft sollte abge-schafft werden. Es darf nicht sein, dass aus politischenGründen Ermittlungen gegen einzelne Personen blo-ckiert oder forciert werden können. Das widersprichtder Gleichheit aller vor dem Gesetz.Dagegen halten wir es für sinnvoll, ein allgemeinesWeisungsrecht der Politik gegenüber der Staatsan-waltschaft zu erhalten. Das ist nötig, um Richtlinienfür die Handhabung der Strafverfolgung jenseits vonEinzelfällen aufzustellen. Das sichert die Einheitlich-keit des Vorgehens in gleichgelagerten Fällen und istmanchmal erforderlich, um Defizite zu beseitigen. Ichnenne nur als Beispiel den früheren Umgang mit Ver-fahrenseinstellungen bei Fällen häuslicher Gewalt, inZu Protokoll gegebene Reden
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26960 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Ingrid Hönlinger
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denen allzu leicht ein öffentliches Interesse an derStrafverfolgung verneint wurde.Meine Damen und Herren von der Linksfraktion,eine weitere Kritik kann ich Ihnen nicht ersparen: Beiden Kosten der Gesetzesumsetzung machen Sie es sichzu leicht. Der Gesetzentwurf formuliert lapidar, dassbei den Ländern Kosten entstehen können, deren Höhe„nicht absehbar“ ist.Natürlich hängen die Kosten von der konkretenAusgestaltung im Einzelnen ab. Aber schaut man in dieVorlagen der Neuen Richtervereinigung hinein, wirderkennbar, dass die Reformvorschläge aufgrund derÄnderung der Besoldungsstruktur der Richterschaftauf eine vermutlich ganz erhebliche Kostensteigerunghinauslaufen, zumindest während einer längerenÜbergangszeit. In Zeiten knapper Kassen ist das abernicht realistisch. Da gibt es – auch innerhalb der Jus-tizpolitik – andere Prioritäten. Da müssen wir zumBeispiel für ausreichend Personal in der Justiz und ge-gen eine Kürzung von Prozesskosten- und Beratungs-hilfe kämpfen.Außerdem werden wir noch mit der gesamten Rich-terschaft zu diskutieren haben, ob die angestrebte Ein-heitlichkeit der Besoldung aller Richterinnen undRichter, unabhängig davon, welche Funktion sie aus-üben, welche Qualifikation sie haben – und damit derWegfall von Leistungsanreizen –, wirklich in ihremSinne ist. Das würde ich bezweifeln. Zwar haben Sienicht die altersdiskriminierende Besoldungsregelungaus dem Gesetzentwurf der NRV übernommen, aberdie Ersetzung durch eine reine Dienstaltersregelungstellt keinen Anreiz dar, andere Funktionen anzustre-ben und sich dafür zu qualifizieren.Wichtig ist mir bei der Justizreform noch ein weite-rer Aspekt, der in der Diskussion bisher weder von denRichterverbänden noch von anderen Fraktionen auf-gegriffen wurde: Das ist die Durchsetzung der Ge-schlechtergleichstellung in der Justiz.Der Anteil der Frauen in der höheren Richterschaftist gering, obwohl an den Amtsgerichten zu über40 Prozent Richterinnen beschäftigt sind. Hier kanndie Politik im Rahmen einer Umstrukturierung neueBedingungen schaffen. Der Gesetzentwurf der Linkenbleibt eine Antwort auf die Frage schuldig, wie derGleichstellungsauftrag des Grundgesetzes in der Jus-tiz umzusetzen wäre.Wir sollten eine unabhängige und eine diskriminie-rungsfreie Justiz schaffen. Eine Justizreform mussgründlich beraten werden, vielleicht sogar vorbereitetdurch eine Bund-Länder-Kommission, um zu bestmög-lichen Ergebnissen zu kommen. Das wird uns in dieserWahlperiode und mit dieser Regierung nicht mehrmöglich sein. Aber wir nehmen die Diskussion alsLeuchtturmprojekt mit in die nächste Legislaturpe-riode.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/11701 und 17/11703 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. – Es gibt keinen Widerspruch. Dann haben wir
das so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Nouripour, Hans-Christian Ströbele, Marieluise
Beck , weiterer Abgeordneter und der
Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Prüfkriterien für Auslandseinsätze der Bun-
deswehr entwickeln – Unterrichtung und Eva-
luation verbessern
– Drucksachen 17/5099, 17/8697 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Roderich Kiesewetter
Dr. Rolf Mützenich
Dr. Rainer Stinner
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, sind die Re-
den zu Protokoll genommen.
Die aktuelle Situation in Mali und das Eingreifenfranzösischer Truppen führt uns vor Augen, wie kom-plex die Lage bei Auslandseinsätzen sein kann. Selbstmit den besten Informationen lassen sich die Gegeben-heiten vor Ort oft nicht vollständig einschätzen. DieZiele der beteiligten Nationen – das haben wir auch inAfghanistan erfahren – müssen deshalb kontinuierlichangepasst werden. In diesem Zusammenhang ist dieForderung nach exakten Prüfkriterien und festgeleg-ten Evaluationsverfahren zwar leicht ausgesprochen,sie bedarf aber einiger grundsätzlicher Überlegungen,die von den Antragstellern bisher nicht gemachtwurden.Zunächst einmal muss klar festgestellt werden, dassgrundsätzliche und sehr starke Kriterien für unsereAuslandseinsätze bereits formuliert sind. Mit denVerteidigungspolitischen Richtlinien 2011, dem neuenstrategischen Konzept der NATO 2010, dem EU-Vertrag von Lissabon 2009, dem Weißbuch der Bun-desregierung zur Bundeswehr 2006 oder der Europäi-schen Sicherheitsstrategie 2003 verfügen wir überGrundlagendokumente, die – entweder ressortspezi-fisch ausgerichtet oder auf hohem Abstraktionsgrad –die sicherheitspolitischen Herausforderungen und dieHandlungsspielräume der Bundesregierung beschrei-ben.Das erste entscheidende Kriterium sind für Deutsch-land immer der völkerrechtliche Rahmen und beson-ders die Existenz eines Mandats der Vereinten Natio-nen. Ein Einsatz könnte darüber hinaus nach Art. 1
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26961
Roderich Kiesewetter
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– Wahrung der internationalen Sicherheit – Art. 2– Verbrechen gegen die Menschlichkeit – oder im Rah-men der Nothilfe nach Art. 51 – Selbstverteidigungs-recht – der VN-Charta erfolgen. Schließlich ist auchein Einsatz im Rahmen von Bündnisverpflichtungeneinschließlich Art. 5 des NATO-Vertrags möglich.Das zweite herausragende Kriterium ist die Frage,welche anderen Partner aus NATO und/oder EUteilnehmen. Die multilaterale Ausrichtung deutscherAußen- und Sicherheitspolitik ist unverzichtbarerBestandteil unserer politischen Kultur.Drittes entscheidendes Kriterium ist, den Einsatzmilitärischer Mittel sorgsamst und im Verbund andererMöglichkeiten abzuwägen. Wesentlich ist, Konfliktlö-sung im Vorfeld möglicher militärischer Maßnahmendurch Diplomatie, Nachbarschaftspolitik, abgewoge-nes Krisenmanagement und Vorsorge zu erreichen.Militärische Eingriffe können nur als Ultima Ratiogelten. Das schließt möglicherweise abgestimmte prä-ventive Maßnahmen nicht von vornherein aus.Diese Kriterien sind gute Leitlinien für die Ent-scheidungen über einen Einsatz und den Umfang einesEinsatzes sowie für die anschließende Bewertung. DerDeutsche Bundestag ist bekanntlich über den Einsatz-auftrag, das Einsatzgebiet, die rechtlichen Grundlagendes Einsatzes, die Höchstzahl der einzusetzenden Sol-daten, die Fähigkeiten der einzusetzenden Streitkräfte,die geplante Dauer des Einsatzes sowie dessen voraus-sichtliche Kosten und Finanzierung zu informieren. ImAnschluss trifft das Parlament eine Entscheidung.Neben diesem sehr transparenten Verfahren werdenzurzeit Maßnahmen ergriffen, um eine neue sicher-heitspolitische Gesamtstrategie zu erarbeiten. Dieerfolgreiche Bundesakademie für Sicherheitspolitiksoll weiterentwickelt werden und ihre Rolle als höchst-rangige und ressortübergreifende Plattform desBundes noch stärker ausüben. Schon heute vernetzt siesicherheitspolitische Akteure und organisiert Diskus-sionen über strategische Fragestellungen. Ein so-genanntes Nationales Sicherheitsforum soll noch indiesem Jahr erstmalig stattfinden. Des Weiteren arbei-ten die distinguierten Think Tanks Stiftung „Wissen-schaft und Politik“ und German Marshall Fund aneinem breit angelegten Projekt zu Elementen einer au-ßenpolitischen Strategie für Deutschland. DasAuswärtige Amt ist hier federführend beteiligt, und ei-nige von uns Abgeordneten auch. Auf dem Gebiet derstrategischen Gesamtausrichtung ist sicher noch eini-ges zu tun, aber die zuständigen Minister haben dieserkannt, und es wird gehandelt.Man könnte in diesem Zusammenhang noch übereine Beteiligung unseres internationalen Personals beiden Vereinten Nationen, der Europäischen Union undbei der NATO nachdenken. Sie haben sicher aucheinen guten Blick auf die Erwartungen unserer Bünd-nispartner an die strategische GrundausrichtungDeutschlands.Zum Schluss möchte ich noch einmal konkret auf dieAuslandseinsätze zu sprechen kommen und ein Bei-spiel für eine gelungene Evaluation und ein nachhalti-ges Arbeiten aufführen: der Übergang von IFOR überSFOR zu EUFOR ALTHEA im ehemaligen Jugos-lawien. Der erfolgreiche Friedenseinsatz ist ein Bei-spiel wie koordiniert und nachhaltig ein Auslandsein-satz von A bis Z organisiert wird. Anfangs sorgtenunsere Truppen in den NATO-geführten EinsätzenIFOR bzw. SFOR für Schutz und Hilfe, nun sind sie imRahmen von EUFOR unter der Führung der EU tätig.Zuletzt beschloss das Parlament am 1. Dezember 2011auf Antrag der Bundesregierung eine Fortsetzung derBeteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte anEUFOR ALTHEA im Rahmen der Überwachung undUmsetzung des Dayton-Abkommens. Insgesamt liefendie Übertragung der Verantwortung, die Anpassungder Truppenstärke und die internationale Zusammen-arbeit während der Mission bis zur Beendigung derdeutschen Beteiligung reibungslos. Der Deutsche Bun-destag war zu jedem Zeitpunkt umfassend informiertund hat die entscheidenden Schritte mitentschieden.Wir sehen an diesem Beispiel, dass wir über ausrei-chende Einsatzkriterien und transparente Verfahrenverfügen und in der Lage sind, Einsätze im Nachgangzu bewerten und gegebenenfalls weiterzuführen. Einkleinteiliges Evaluationsverfahren des Bundestages,wie in dem Antrag gefordert, war hier nicht notwendig.Dennoch halte ich viel davon, sämtliche bisherdurchgeführten Einsätze weiter auszuwerten, um Emp-fehlungen für die Begleitung künftiger Einsätze zu ge-winnen. Insbesondere ist es hierbei vorteilhaft, auchauf die Erfahrungen unserer Partner in NATO und EUzurückzugreifen. Eine Regierung braucht für EinsätzeFlexibilität und politischen Handlungsspielraum undwir als Parlament brauchen Hintergrundwissen, umdie Einsätze wirksam mandatieren und kontrollieren zukönnen. Kleinteilige Kriterien wie im Antrag vorgese-hen helfen uns da aber nicht weiter.Zusammenfassend möchte ich sagen, dass die betei-ligten Ausschüsse aus guten Gründen den vorliegen-den Antrag abgelehnt haben.
Die Entscheidung, deutsche Soldaten in einen Aus-landseinsatz zu entsenden, ist wahrlich keine leichte.Sie bedarf in jedem einzelnen Fall einer individuellen,eingehenden Prüfung. Diese jedoch anhand im Vorfeldfestgelegter Prüfkriterien für Auslandseinsätze zufällen, lehnen wir ab. Ein derartiges pauschalisiertesVorgehen würde unserer moralischen Verantwortung,die wir als Abgeordnete des Deutschen Bundestagesfür die Einsätze deutscher Soldaten im Ausland über-nehmen, und außerdem der unverzichtbaren konkretenEinzelfallbeurteilung nicht gerecht werden. Auch wennwir uns in der CDU/CSU-Fraktion nicht auf Prüfkrite-rien für Auslandseinsätze festlegen wollen bzw. es auf-grund der unüberschaubaren Bandbreite sicherheits-politischer Herausforderungen gar nicht können, soZu Protokoll gegebene Reden
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26962 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Dr. Wolfgang Götzer
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müssen doch bei jedem einzelnen Auslandseinsatz derBundeswehr unabdingbare Voraussetzungen erfülltsein. Sie müssen vor allem als Ultima Ratio einer wer-teorientierten deutschen Außenpolitik zum Ziel haben,die Einhaltung der Menschenrechte zu gewährleistenund Frieden zu stiften.Ich habe in den letzten Jahren, in denen ich Mitgliedim Auswärtigen Ausschuss war, eine ganze Reihe vonMandatierungen neuer Auslandseinsätze und Verlän-gerungen von bestehenden Einsätzen mitgetragen.Natürlich wäre es leichter, wenn eine Art Kriterien-katalog einem dabei die Gewissheit geben könnte, dierichtige Entscheidung zu treffen. Nur leider kann ei-nem ein steifer Kriterienkatalog eine Gewissensent-scheidung – und um eine solche handelt es sich letzt-lich in diesem Fall – nicht abnehmen. Ich habe michbei Mandatierungen, genau wie meine Kollegen derUnionsfraktion, immer vor allem von folgenden Erwä-gungen leiten lassen: Gibt es eine völkerrechtlicheGrundlage für den Einsatz? Welchen Zielen dient er?Welches außenpolitische Interesse Deutschlands stehthinter dem Einsatz? Welche Länder bzw. welche Orga-nisationen beteiligen sich? Was kann der Einsatz be-wirken? Was wären die möglichen Konsequenzen einesNichthandelns? Können wir die Verantwortung für un-sere Soldaten in diesem Einsatz übernehmen? Ichglaube, wenn man eine Art Komplexitätsreduktionversucht, dann sind das die wesentlichen Punkte, aufderen Basis man eine derart gewichtige Entscheidungtreffen kann.Ich finde es wichtig und richtig, dass diese letzteLesung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/die Grü-nen uns mit der Notwendigkeit konfrontiert, uns nocheinmal fraktionsübergreifend über die Werte auszutau-schen, die einem solchen Einsatz zugrunde liegen müs-sen. Denn es ist vor allem auch eine ethische Entschei-dung, das Leben unserer Soldaten für die Sicherheit inmitunter entlegenen Regionen der Welt aufs Spiel zusetzen. Ein Auslandseinsatz deutscher Soldaten ist undbleibt nach der deutschen Staatsraison immer dasletzte Mittel.Aktuell stellt sich beispielsweise die Frage, ob wirden französischen Einsatz in Mali unterstützen undMali mit logistischen und humanitären Mitteln zu Hilfeeilen können. Oftmals muß es nicht gleich ein Einsatzdeutscher Soldaten mit Waffengewalt sein, der eine ge-fährliche Krisenlage entschärfen hilft. Bei diesenÜberlegungen müssen wir uns auch immer die Konse-quenzen eines Nichteingreifens vor Augen halten.Diese Debatte sollten wir nicht nur unter uns, sondernauch mit einer breiten Öffentlichkeit führen. Auslands-einsätze der Bundeswehr müssen besser kommuniziertwerden. Dies ist auch ein Teil der Verantwortung, diewir gegenüber unseren Soldaten im Auslandseinsatzhaben. Sie leisten einen wichtigen Dienst, der in denletzten Jahren fester Bestandteil der deutschen Außen-politik geworden ist. Diese Leistung gilt es unserenBürgern deutlich zu machen und entsprechend zuwürdigen.Hilfreich hierzu wären, da stimme ich mit demAntrag überein, Evaluierungen der Auslandseinsätzebei Mandatsverlängerungen oder am Ende eines Ein-satzes. Gerade abschließende Evaluierungen wärengut geeignet, unter Einbeziehung der Öffentlichkeit dielängst fällige Debatte um Kosten und Nutzen von Aus-landseinsätzen zu führen.
Das Recht des Deutschen Bundestages, über militä-rische Auslandseinsätze zu entscheiden, ist ein sehrhohes Gut, das nicht viele Parlamente besitzen. DiesesRecht hat seine historischen Wurzeln in der deutschenVergangenheit, aus der die Lehre gezogen wurde, dassdas Militär niemals wieder „Staat im Staate“ seindarf. Die Entscheidung über den Einsatz der Bundes-wehr im Ausland mit all ihren weitreichenden Konse-quenzen für die deutschen Soldatinnen und Soldatensowie die Menschen vor Ort in den Einsatzgebietensoll durch eine öffentliche Debatte und eine breitepolitische Willensbildung zustande kommen.Mit diesem Recht geht jedoch eine große Verant-wortung für die Abgeordneten einher, die diese Ent-scheidung zu fällen haben. Wir Abgeordneten bekom-men damit eine Verantwortung für die deutschenSoldatinnen und Soldaten, die wir in eine Gefahren-situation schicken, und deren Familien. Ebenso müs-sen wir der Verantwortung gerecht werden, die wir fürdie Menschen in den Ländern, in denen die Einsätzestattfinden, haben. Unser ehemaliger Kollege MichaelGroschek hatte in seiner Rede zu diesem Thema in derersten Lesung darauf hingewiesen, dass wir genausoeine Verantwortung für die potenziellen Opfer einesmilitärischen Einsatzes haben, egal welcher Herkunftsie sind und ob sie in Uniform oder in Zivil umkom-men. Es handelt sich hierbei also um Gewissensent-scheidungen, die sich sicherlich kein Abgeordneterleicht macht.Um eine solch schwere Entscheidung jedoch gutenGewissens treffen zu können, bedarf es einer guterEntscheidungsgrundlage. Wir Abgeordnete müssenabschätzen, ob ein Einsatz der Bundeswehr im Aus-land wirklich geboten und alternativlos ist und ob ervoraussichtlich mehr Gutes als Schlechtes bewirkenwird. Um diese Einschätzung vorzunehmen, brauchenwir Informationen über die Lage vor Ort und die Mög-lichkeiten und Grenzen des Militäreinsatzes. Das Par-lamentsbeteiligungsgesetz verpflichtet daher die Bun-desregierung, den Abgeordneten zur Wahrnehmungihrer parlamentarischen Verantwortung und Kontroll-funktion alle erbetenen Informationen zur Verfügungzu stellen.Der Antrag der Grünen ist in einem Punkt vollkom-men richtig: In Einklang mit dieser Gesetzesvorschriftfordert er eine verbesserte Unterrichtungspraxis desBundestages vonseiten der Bundesregierung. Denn esist wahr, dass diese bislang unzureichend ist. Zwarwerden wir wöchentlich über Lagevorfälle in den Ein-satzgebieten der Bundeswehr mit der sogenannten Un-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26963
Johannes Pflug
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terrichtung des Parlaments informiert, jedoch bestehthier noch erheblicher Verbesserungsbedarf. Es fängtdamit an, dass die Information nicht ganzheitlich ge-nug ist. Der Antrag fordert völlig zu Recht, dass so-wohl über militärische als auch über polizeiliche undzivile Entwicklungen in den Einsatzländern in ausrei-chendem Maße informiert werden muss. Dabei solltegenauso über Entsendungen von Polizisten, unbewaff-neten Soldaten und Zivilisten unterrichtet werden.Es geht damit weiter, dass sehr viele Informationenüber Auslandseinsätze der Bundeswehr nicht oder nuran wenige weitergegeben werden mit dem Verweis aufdie Qualifizierung der Information als geheim. Dabeiist es oft fraglich, ob diese Qualifizierung tatsächlichimmer notwendig ist. Denn diese nimmt nur der jewei-lige Autor eines Textes vor, und sie wird in der Regeldanach nicht mehr geprüft oder revidiert. Eine Infor-mation ist also ruck zuck als geheim eingestuft undbleibt damit für die allermeisten Abgeordneten für im-mer verborgen. Selbstverständlich gibt es in der Au-ßen- und Sicherheitspolitik sensible Informationen, diedurchaus geschützt werden müssen. Jedoch solltenwirklich nur Informationen vorenthalten werden, diehandelnde Personen oder die laufende Operation ge-fährden könnten. Und wenn dieses Gefährdungspoten-zial wegfällt, beispielsweise weil die Operation been-det ist, so spricht auch nichts dagegen, die Informationfreizugeben. Dies gilt ganz genauso für die Einsätzeder KSK.Die unzulängliche Informierung des Bundestageswird auch nicht durch die exklusive Unterrichtung derObleute aufgewogen. Die Bundeswehr ist eine Parla-mentsarmee, und das gesamte Parlament trägt die Ver-antwortung, über Auslandseinsätze zu entscheiden.Also muss auch das gesamte Parlament so weit wiemöglich mit den erforderlichen Informationen hierzuversorgt werden. Es darf keine zwei Klassen von Abge-ordneten geben. Ich halte es deshalb ebenfalls für einegute Idee, im Anschluss an die Unterrichtung der Ob-leute die Aufzeichnungen der Regierungsvertreter inder Geheimschutzstelle des Bundestages für alle Abge-ordneten zur Einsicht zu hinterlegen.Was die Evaluierungspraxis von Auslandseinsätzender Bundeswehr anbelangt, so sehe ich gleichermaßengroßes Verbesserungspotenzial. Es ist kaum zu glau-ben, dass über abgeschlossene Einsätze wie beispiels-weise die Operation „Enduring Freedom“ bislang kei-nerlei Evaluierungsberichte vorliegen. Zwar gibt esseit 2010 den halbjährlichen Fortschrittsbericht „Af-ghanistan“ der Bundesregierung für das ISAF-Man-dat, jedoch weiß jedes Kind, dass eine Selbstbeurtei-lung niemals so objektiv sein kann wie eine externeBeurteilung. Die SPD-Fraktion fordert deshalb ge-meinsam mit der Fraktion der Grünen seit Jahren eineEvaluierung des deutschen Afghanistan-Einsatzes, dievon unabhängigen Experten durchgeführt wird undden Zeitraum von 2001 an umfassen soll. Und dies hatnichts mit Outsourcing zu tun, wie es einige Kollegenvon der Regierungskoalition behauptet haben. Sicher-lich hat die Bundesregierung die Berichtsfunktioninne, sie hat ja gerade die Berichtspflicht. Aber eineunabhängige Evaluierung ist keine Ausgliederung vonRegierungsaufgaben, sondern eine wertvolle und nütz-liche Ergänzung zu den Einschätzungen, die uns dieRegierung gibt. Leider haben sich die Koalitionsfrak-tionen unserer Forderung verweigert und unserem An-trag aus dem Jahr 2010 nicht zugestimmt. Damit wurdeeine gute Chance vertan. Nehmen wir die Fortschritts-berichte „Afghanistan“ als Beispiel. Im Allgemeinenfallen diese positiver aus als Lagebeurteilungen vonunabhängigen Think Tanks. Aber erst unterschiedlichePerspektiven können uns ein möglichst objektives Bildvon der tatsächlichen Lage vor Ort geben. Dabei findeich den Punkt, den der Kollege Dr. Bijan Djir-Sarai inseiner Rede in der ersten Lesung gemacht hat, einenEvaluierungsbericht zu erstellen, der mittel- bis lang-fristig ausgerichtet ist, da der Erfolg eines Einsatzesoft erst im Laufe der Zeit erkennbar wird, gar nichtverkehrt. Jedoch heißt dies ja nicht, dass wir nicht so-wohl zeitnahe wie auch langfristige Evaluierungenvornehmen können.Nun möchte ich gleichwohl zu unserem Kritikpunktan dem Antrag der Grünen kommen. Wir halten es fürwenig hilfreich, einen statischen Kriterienkatalog auf-zustellen, der bei Entscheidungen über künftige Aus-landseinsätze herangezogen werden kann. Sich überZiele eines Einsatzes im Vorfeld zu verständigen, eineumfassende und kohärente Strategie zu erarbeiten, wiediese Ziele erreicht werden sollen, und im Anschlussden Einsatz anhand der Bilanz der erreichten odereben nicht erreichten Ziele zu bewerten, ist eine Forde-rung, die auch wir immer wieder machen und die ichausdrücklich teile. Jedoch muss trotzdem jeder Einsatzindividuell betrachtet und politisch entschieden wer-den. Eine Einsatzentscheidung des Bundestages ist janicht nur ein verfassungsrechtlich gebotener Verwal-tungsakt. Auch wenn unser Engagement im Ausland ineine außen- und sicherheitspolitische Gesamt-Agendaeingebettet sein sollte, so müssen die jeweiligen Um-stände eines jeden Einsatzes für sich betrachtet wer-den. Die jeweiligen Realitäten, Bedingungsgeflechteund Machtkonstellationen sind zu komplex, als dassdie Entscheidung zu einem Auslandseinsatz der Bun-deswehr anhand eines Kriterienkatalogs gefällt wer-den könnte.Ich fasse zusammen: Wir brauchen eine verbesserteVersorgung mit Informationen des gesamten Parla-ments – und nicht nur einiger weniger Abgeordneter –mit den relevanten Informationen zu den Auslandsein-sätzen der Bundeswehr. Diese Information muss um-fassend alle Gesichtspunkte einer Mission abdecken.Und diese Information muss sowohl laufend als auchin Form einer Gesamtevaluierung nach Beendigungeines Einsatzes geschehen. Die abschließende Eva-luierung sollte dabei von unabhängigen Experten vor-genommen werden. Wir müssen bereit sein, aus Feh-lern, die in der Vergangenheit gemacht wurden, zulernen. Es ist nichts Verwerfliches daran, dass Politikauch immer ein Prozess des „Trial and Error“ ist, so-Zu Protokoll gegebene Reden
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26964 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Johannes Pflug
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lange die Politik sich nicht scheut, Fehler einzugeste-hen und aus ihnen Lehren zu ziehen. Wir brauchen au-ßerdem endlich eine außen- und sicherheitspolitischeGesamtstrategie, die uns ebenfalls dabei helfen würde,über künftige Auslandseinsätze der Bundeswehr zuentscheiden. Im Vorfeld einer Operation muss sich mitden Partnern über die angepeilten Ziele und eine ge-meinsame Strategie zur Erreichung dieser Ziele ver-ständigt werden. Diese festgelegten Ziele sollten dannzur nachgelagerten Beurteilung eines Auslandseinsat-zes herangezogen werden. Was wir jedoch nicht brau-chen, ist ein starrer Kriterienkatalog für künftigeAuslandseinsätze, den es angesichts der höchst unter-schiedlichen Gegebenheiten von jedem einzelnen Ein-satz auch nicht geben kann.Deshalb werden wir uns bei dem vorliegenden An-trag der Stimme enthalten.
Noch nie hat eine Bundesregierung das Parlament
so ausführlich, so offen, so präzise und so schnell über
Auslandseinsätze der Bundeswehr informiert wie die
heute amtierende. Eine so detaillierte und auch selbst-
kritische Evaluierung eines Einsatzes vorzulegen, wie
es der Fortschrittsbericht Afghanistan darstellt, hat
keine vorhergehende Bundesregierung gewagt. Ich be-
danke mich vor allem bei den zuständigen Ministern,
federführend bei Außenminister Westerwelle und Ver-
teidigungsminister de Maizière, die immer für die In-
formation des Parlamentes zur Verfügung stehen und
vor allem auch im Vorfeld von Mandatsentscheidungen
die enge Abstimmung mit dem Parlament suchen. Na-
türlich gibt es Einsatzszenarien, bei denen Geheimhal-
tung notwendig ist, und es kann auch Fälle geben, bei
denen Geheimhaltung bezüglich der Details über das
Ende des Einsatzes hinaus notwendig ist. Hier müssen
wir weiterhin bei der politischen Abwägung bleiben,
was darf bekannt werden und was nicht. Hier ist die
Obleuteunterrichtung die bewährte und geeignete
Form, in der meine Fragen ausnahmslos vollständig
beantwortet werden. Die von Ihnen kritisierte Mangel-
haftigkeit bei der Unterrichtung kann ich nicht im
Mindesten erkennen.
Weiter fordern Sie in dem Antrag die Bundesregie-
rung auf, einen Kriterienkatalog zu erarbeiten, nach
dem Auslandseinsätze beurteilt werden. Damit habe
ich erhebliche Probleme. Erst einmal möchte ich mir
als Parlamentarier von keiner Bundesregierung vor-
schreiben lassen, nach welchen Kriterien ich die Ent-
scheidung treffe, ob ich einem Auslandseinsatz der
Bundeswehr zustimme oder nicht. Diese Gedanken
müssen wir uns als Parlamentarier schon selber ma-
chen. Und wir sollten uns darüber im Klaren sein, dass
es bei diesen Entscheidungen nicht darum gehen kann,
einzelne Kriterien abzuhaken.
Ich will das an zwei Beispielen deutlich machen:
Wir sind uns wohl alle einig, dass es äußerst wün-
schenswert ist, als völkerrechtliche Grundlage für ei-
nen Einsatz einen Beschluss des UN-Sicherheitsrates
zu haben. Wenn wir das aber ausdrücklich zur Voraus-
setzung machen würden, hätte Deutschland dem Ko-
sovo-Einsatz nicht zustimmen dürfen.
Und wir sind uns wohl auch alle einig, dass die Ein-
bettung eines Einsatzes in eine politische Gesamtkon-
zeption sehr wünschenswert ist. Wenn wir das aber zur
unabdingbaren Voraussetzung machen, dann könnten
auch die Kollegen von den Grünen heute nicht fordern,
dass sich die Bundeswehr in Mali beteiligt; denn hier
sind wir noch nicht so weit.
Schon diese beiden Beispiele zeigen, dass jeder Ein-
satz für sich bewertet werden muss und es mit dem Ab-
haken von Kriterien nicht getan ist.
Ähnlich ist es mit der Evaluierung von Einsätzen.
Natürlich muss bei jedem Einsatz geprüft werden: Was
war gut, was hätte anders laufen sollen? Die Bundes-
wehr selber macht das ja auch im Detail. Die Gesamt-
bewertung eines Einsatzes und die Frage, welche Leh-
ren aus einem Einsatz zu ziehen sind, das sind eminent
politische Fragen, auf die es keine objektive Antwort
gibt. Aus dem Afghanistan-Einsatz werden sehr unter-
schiedliche Lehren gezogen: zum einen die, dass sol-
che Einsätze länger dauern und schwieriger sind, als
anfänglich gedacht, sodass man sie in Zukunft eher
lassen sollte; zum anderen die, dass die anfängliche
Strategie falsch war, mit nur sehr geringen Kräften vor
Ort zu sein. Auch diese Bewertung kann und darf das
Parlament nicht outsourcen.
Ich bin seit langem der Ansicht, dass wir eine viel
grundsätzlichere Debatte über die deutsche Außen-
und Sicherheitspolitik in der Öffentlichkeit, aber auch
hier im Parlament brauchen. Deshalb plädiere ich für
die Formulierung einer deutschen außen- und sicher-
heitspolitischen Strategie, aus der sich dann auch Fol-
gerungen für Einsatzentscheidungen ableiten lassen.
Dabei darf es aber nicht nur um Kriterien für Bundes-
wehreinsätze gehen. Wir müssen im Gegenteil insge-
samt unsere Werte und Interessen definieren und uns
dann mit der Frage befassen, welche Mittel und Instru-
mente wir dafür einsetzen wollen und können. Das
geht dann von Entwicklungshilfe über Außenpolitik,
Außenwirtschaftspolitik bis zur Ultima Ratio eines mi-
litärischen Einsatzes. Eine solche umfassende Debatte
führen wir gerne, und wir halten sie auch für dringend
notwendig. Denn nur wenn wir uns in Deutschland da-
rüber im Klaren sind, was wir wollen, können wir
diese Positionierung auch in eine gemeinsame euro-
päische Außen- und Sicherheitspolitik einbringen.
Das Klein-Klein Ihres Antrages wird dieser Auf-
gabe in keiner Weise gerecht, und deshalb lehnen wir
ihn ab.
Der Ernstfall Frieden gehört für die Bundeswehrganz offensichtlich der Vergangenheit an. Die Bundes-wehr ist zur globalen Interventionsarmee umgebautworden. Inzwischen beteiligt sich die Bundeswehr inzahlreichen Regionen dieser Welt an Kriegs- und Be-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013 26965
Inge Höger
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satzungseinsätzen. An dieser Entwicklung waren vonRot-Grün bis Schwarz-Gelb alle Parteien in diesemParlament gleichermaßen beteiligt. Einzig die Linkehat sich diesem Kriegskurs bisher konsequent verwei-gert und wird sich ihm auch in Zukunft nicht anschlie-ßen.Immer stärker dominiert das Militär die deutscheund europäische Außenpolitik. Etwa 300 000 Solda-tinnen und Soldaten wurden aufgrund von Entscheidun-gen des Bundestages in Auslandseinsätze geschickt.Alle wesentlichen Entscheidungen in diesem Bereichwerden namentlich abgestimmt. Es entspricht durch-aus der besonderen Bedeutung einer Abstimmung überKrieg und Frieden, dass Abgeordnete hier jeweils eineindividuelle Entscheidung treffen und sich für dieseauch öffentlich verantworten müssen.Um eine fundierte Entscheidung treffen zu können,ist eine umfangreiche Information vor, während undnach einem Militäreinsatz notwendig. Den entsprechen-den gesetzlichen Anspruch gibt es im Parlamentsbeteili-gungsgesetz. Die Umsetzung dieses Informationsan-spruchs ist äußerst unzureichend. Es ist zum Beispielnicht nachvollziehbar, warum nicht alle Abgeordnetedie Unterrichtungen des Parlaments über die Lage inden Einsatzgebieten der Bundeswehr bekommen. Aberauch die sogenannten Fachpolitikerinnen und Fach-politiker werden meist nur oberflächlich informiert. Soist es absolut inakzeptabel, dass die Abgeordneten we-sentliche Informationen über die Tätigkeit von Spe-zialeinheiten wie dem Kommando Spezialkräfte bes-tenfalls aus den Medien erfahren. Deswegen begrüßenwir jede Initiative, diese Geheimnistuerei zu beenden.Die Linke ist jedoch realistisch genug, um zu wis-sen, dass das erste Opfer des Krieges immer die Wahr-heit ist. Wir vertrauen deswegen nicht darauf, dasseine umfassendere Unterrichtungspflicht die Schatten-seiten von Krieg und Militär wirklich angemessen of-fenlegt. Wir sind davon überzeugt, dass die Risikenund Nebenwirkungen von Militäreinsätzen dem ver-sprochenen Nutzen bei weitem überwiegen. Deswegenhalten wir es für nicht erstrebenswert, Prüfkriterienfür „gute“ oder „gerechte“ Kriege zu entwickeln. Dieentsprechende Forderung in dem hier vorliegendenAntrag der Grünen klingt sehr danach, als sollte hiereine Art Gütesiegel für zukünftige Kriege vorgeschla-gen werden. Die Aufstellung vermeintlich neutralerEntscheidungskriterien für einen Krieg halten wir fürgefährliche Augenwischerei.Außerdem ist völlig unklar, woher denn tatsächlichzuverlässige und neutrale Informationen kommen sol-len, auf die sich diese Kriterien anwenden lassen. Ge-rade in der wichtigen Zeit vor einer Entscheidung imBundestag sind die Debatten so geprägt von Lügenund Halbwahrheiten, dass eine objektive Beurteilungder Situation kaum möglich ist.Wesentlich sinnvoller ist deshalb ein grundsätz-liches Nein zu Auslandseinsätzen. Kriegführung unddemokratische Ansprüche lassen sich schwer mitein-ander vereinbaren. Deswegen setzt die Linke auf einerein zivile Außenpolitik.
Zunächst möchte ich mich für die lebhafte Debattezu unserem Antrag in erster Lesung bedanken. Das giltinsbesondere für den Kollegen Kiesewetter.Wir von Bündnis 90/Die Grünen fordern Prüfkrite-rien für Auslandseinsätze der Bundeswehr. Dies sollkeinesfalls, wie vom Kollegen Kiesewetter behauptet,eine Checkliste sein, die einfach abgehakt wird. Viel-mehr fordern wir Grundkoordinaten für eine gemein-same Debatte und gewissenhafte Bewertung.Daher verwundert es mich doch sehr, dass der Kol-lege Kiesewetter gleich noch weiter hervorprescht undselbst sieben handfeste Prüfkriterien benennen kann,die aus seiner Sicht erfüllt sein müssen. Wir könntenuns auf vieles einigen, Herr Kollege Kiesewetter, bei-spielsweise auf die Formulierung von realistischenund überprüfbaren Zielen bei künftigen Mandaten, dieBerichterstattung über Maßnahmen zur zivilen Krisen-prävention und die ganzheitliche Evaluierung von ak-tuellen Einsätzen.An anderer Stelle wurde kritisiert, dass durch dieEinbindung externer und unabhängiger Experten Ver-antwortung abgegeben wird. Das Gegenteil ist derFall.Durch die Einbindung von Expertise werden wir alsAbgeordnete erst unserer Verantwortung gegenüberden Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern in Uniformgenauso wie gegenüber der Öffentlichkeit gerecht.Denn nur umfassendes Informieren, kritisches Hinter-fragen und Über-den-Tellerrand-Hinausschauen istauch verantwortliches Entscheiden. Sie, Herr KollegeKiesewetter, und andere haben selbst eine umfassen-dere Unterrichtung der Abgeordneten gefordert.Sehen wir uns deshalb beispielhaft den zweiten so-genannten Fortschrittsbericht der Bundesregierung zuAfghanistan an. Hier hatte die Bundesregierung dochdie Möglichkeit, die Öffentlichkeit umfassend zu infor-mieren. Doch wo finden sich in dem Fortschritts-bericht die von Ihnen geforderten entwicklungs- undwirtschaftspolitischen Sichtweisen? Wieder einmalhält der Bericht nicht, was versprochen wurde. Er be-inhaltet keinerlei selbstkritische Evaluation des zivilenund militärischen Engagements und schönt in Teilendie entwicklungs- und sicherheitspolitische Lage. Wiesoll auf Basis eines solchen Berichts eine umfassendeEvaluation möglich sein?Meine Kollegin Katja Keul stellte daher bei unsererletzten Debatte im Plenum zu Recht fest, dass jeder Ab-geordnete, der Verantwortung übernimmt, auf eineumfassende Berichterstattung angewiesen ist. Eineumfassende Unterrichtung schließt auch Berichte mitein, die der Geheimhaltung unterliegen. Gelten diePrämissen „so viele Informationen wie möglich und sowenig Geheimhaltung wie nötig“, besteht kein Konfliktzwischen notwendiger Information und dem Schutz be-Zu Protokoll gegebene Reden
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26966 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 217. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 17. Januar 2013
Omid Nouripour
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teiligter Personen. Hierauf weisen wir in unserem An-trag ebenfalls hin.Die Praxis der Berichterstattung im Hinterzimmerführt nicht zu einer konstruktiven Berichterstattung imParlament und leistet erst recht keinen Beitrag zu ei-ner öffentlichen Debatte, die angesichts der vielenKonflikte weltweit dringend notwendig ist.Gerade aktuelle Umfragen des Sozialwissenschaft-lichen Instituts der Bundeswehr bezüglich des Einsat-zes in Afghanistan zeigen doch, dass die Bürgerinnenund Bürger in Deutschland Bedarf an mehr Informa-tion haben. Die Bürgerinnen und Bürger wollen wis-sen, warum neben Erfolgen auch Misserfolge undRückschläge zu verzeichnen sind. Was sind die Lehren,um in Zukunft Misserfolge zu verhindern?Aus dieser Verantwortung gegenüber unseren Bür-gerinnen und Bürgern heraus haben wir aus vollerÜberzeugung den vorliegenden Antrag gestellt. Dochgenau dieser Verantwortung wollen sich CDU/CSU,FDP und die Linke durch eine Ablehnung nicht stellen.Dabei verpflichten gerade die Auslandseinsätze derBundeswehr zu einem verantwortungsvollen undselbstbewussten Agieren von uns Parlamentariern.Deshalb bitte ich Sie, verehrte Kolleginnen undKollegen der Koalition und der Linken, unserem An-trag im Gegensatz zum Abstimmungsverhalten in denAusschüssen zuzustimmen.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Auswärtige Aus-
schuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf
Drucksache 17/8697, den Antrag der Fraktion Bünd-
nis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/5099 abzulehnen.
Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-
fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen
gegen die Stimmen der Linken und Grünen bei Enthal-
tung der SPD angenommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir sind damit am
Schluss unserer heutigen Tagesordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf Mittwoch, den 30. Januar 2013, ein.
An diesem Tag findet um 12 Uhr hier im Plenarsaal
die Gedenkveranstaltung des Deutschen Bundestages für
die Opfer des Nationalsozialismus statt. Aus diesem
Grund beginnt die Plenarsitzung erst um 13.30 Uhr.
Die Sitzung ist geschlossen. Ich wünsche Ihnen eine
friedliche Nacht.