Gesamtes Protokol
Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen!
Schön, Sie doch so bald wiederzusehen. Die Sitzung ist
eröffnet.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 41 a und b sowie
Zusatzpunkt 8 auf:
41 a) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN eingebrachten Entwurfs eines Zweiund-
zwanzigsten Gesetzes zur Änderung des Bun-
deswahlgesetzes
– Drucksache 17/11819 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
b) Erste Beratung des von den Fraktionen CDU/
CSU, SPD, FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs eines
Einundzwanzigsten Gesetzes zur Änderung
des Bundeswahlgesetzes
– Drucksache 17/11820 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
ZP 8 Erste Beratung des von den Abgeordneten Halina
Wawzyniak, Dr. Dagmar Enkelmann, Jan Korte,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion DIE
LINKE eingebrachten Entwurfs eines … Geset-
zes zur Änderung des Bundeswahlgesetzes
– Drucksache 17/11821 –
Überweisungsvorschlag:
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Hierzu soll eineinhalb Stunden debattiert werden. –
Dazu sehe und höre ich keinen Widerspruch. Dann wol-
len wir so verfahren.
Der erste Redner in unserer Debatte ist der Kollege
Michael Grosse-Brömer für die CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Nachdem wir gestern bis kurz vor Mitternacht
debattiert haben, ist es nur angemessen, dass wir heute
Morgen mit einem wichtigen Thema beginnen: mit einer
Grundlage der Demokratie bzw. der parlamentarischen
Daseinsberechtigung, nämlich mit dem Wahlrecht.
Wir behandeln heute die 22. Novelle des Bundes-
wahlgesetzes, und wir nehmen aufgrund der Entschei-
dung des Bundesverfassungsgerichtes vom Juli dieses
Jahres zwei Anpassungen beim Verfahren der Sitzvertei-
lung vor. Erstens wird dabei der Effekt des negativen
Stimmgewichtes, der bei der Umrechnung von Stimmen
in Parlamentssitze zur Verfälschung des Wählerwillens
führen kann, in Angriff genommen. Zweitens wird das
Thema Überhangmandate urteilsgemäß berücksichtigt.
Beides – das finde ich wichtig – werden wir durchfüh-
ren, ohne die Grundpfeiler unseres deutschen Wahlsys-
tems in irgendeiner Form zu beeinträchtigen. Ich halte
das für gut so, weil die Bürger in Deutschland, wie ich
glaube, ihrem Wahlrecht vertrauen; sie sind mit der per-
sonalisierten Verhältniswahl ein Stück weit vertraut und
können auch künftig auf diese Grundlage setzen.
Auch im Ausland gilt unser Modell durchaus als
nachahmenswert. Zu den vielen Vorzügen unseres Wahl-
systems gehört jedenfalls meiner Einschätzung nach,
dass politische Mehrheitsverhältnisse im Parlament ad-
äquat abgebildet sowie stabile Regierungen und ein
handlungsfähiges Parlament garantiert werden. Deswe-
gen haben wir daran nichts geändert. Ich glaube, das ist
in unser aller Interesse, weil wir hier ein Erfolgsmodell
vorweisen können.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das negative
Stimmgewicht kann man intensiv diskutieren; im Urteil
des Bundesverfassungsgerichtes gibt es Definitionen
dazu. Um es kurz zu sagen: Letztlich geht es darum, dass
26508 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Michael Grosse-Brömer
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(B)
ein Zugewinn bei den Stimmen am Ende zu weniger
Mandaten führen kann. Es ist recht naheliegend, dass das
vielleicht nicht das ideale Ergebnis ist. Deswegen ist
schon mit der Wahlrechtsnovelle von 2011 die Listen-
verbindung abgeschafft worden: Durch die Einführung
von Ländersitzkontingenten konnten wandernde Sitze,
die im alten Wahlrecht noch möglich waren, vermieden
werden. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Lö-
sungsansatz dem Grunde nach bestätigt. Ländersitzkon-
tingente dürfen sich aber nicht, wie in der Novelle von
2011 noch vorgesehen, nach der Wahlbeteiligung in dem
jeweiligen Bundesland bestimmen; das entscheidende
Kriterium sollte der Bevölkerungsanteil sein, um das ne-
gative Stimmgewicht effektiv zu bekämpfen.
Mit der heutigen Novelle setzen wir nun die Vorgaben
des Bundesverfassungsgerichtes um. Nach dem Kom-
promissmodell, das wir heute in erster Lesung behan-
deln, werden die 598 Sitze in einem ersten Schritt auf die
Bundesländer verteilt. Ein Bundesland wird dabei künf-
tig so viele Sitze erhalten, wie es Anteil an der deutschen
Wohnbevölkerung hat. In einem zweiten Schritt werden
diese Sitze dann auf die jeweiligen Landeslisten der Par-
teien verteilt. Dabei erhält jede Landesliste so viele
Sitze, wie ihr nach Zweitstimmen zustehen. So weit zur
groben Systembeschreibung.
Zum zweiten Punkt. Eine weitere wichtige Anpas-
sungsmaßnahme betrifft die Überhangmandate. Sie sind
die Konsequenz unseres bewährten Wahlsystems mit
den zwei Stimmen. Sie garantieren, dass Kandidaten, die
einen Wahlkreis direkt gewonnen haben, unabhängig
vom Zweitstimmenergebnis tatsächlich ins Parlament
einziehen. Angesichts der Arbeit der Kollegen vor Ort
ist dies eine durchaus sinnvolle Möglichkeit, deren Ar-
beit und deren Einsatz vor Ort zu honorieren oder eben
zu sanktionieren; das ist der richtige Grundgedanke.
Das Bundesverfassungsgericht hat in seinem Urteil
die Zulässigkeit von Überhangmandaten im Grundsatz
bestätigt, aber auf eine gewisse Zahl beschränkt. Wir als
einbringende Fraktionen haben intensiv über die Umset-
zung dieser Vorgaben beraten. Schließlich haben wir uns
darauf verständigt, dass Überhangmandate bestehen
bleiben sollen, aber im weiteren Verlauf der Sitzvertei-
lung ein Vollausgleich aller Überhangmandate vorge-
nommen werden soll. Das bedeutet, dass für jedes anfal-
lende Überhangmandat weitere Ausgleichsmandate an
die anderen Parteien vergeben werden. Ziel dieses Ver-
fahrens ist es, dass am Ende der Proporz nach Zweit-
stimmen wieder vollständig hergestellt ist. Damit setzen
wir die zweite Vorgabe des Bundesverfassungsgerichtes
um.
Wir standen vor einer großen Aufgabe. Wir hatten
auch eine große Verantwortung. Ich bin davon über-
zeugt, dass die einbringenden Fraktionen nach inten-
siven Beratungen dieser Verantwortung sehr gerecht
geworden sind. Ich glaube fest, dass wir eine verfas-
sungsgemäße Lösung gefunden haben.
Ich möchte noch einmal darauf hinweisen, dass es uns
gelungen ist, der möglichen Versuchung zu widerstehen,
eine radikale Änderung unseres Wahlsystems durchzu-
führen.
Dazu hätte man sich hinreißen lassen können; aber wir
haben es geschafft, auch bei unterschiedlichen Interes-
senlagen ein Stück weit dem Wunsch des Gerichtes, for-
muliert durch den Präsidenten, nachzukommen, das neue
Wahlrecht auf eine möglichst breite parlamentarische
Grundlage zu stellen.
– Herr Wiefelspütz, ich wollte Sie in meiner Rede ei-
gentlich noch positiv erwähnen; das habe ich jetzt gerade
gestrichen.
Ungeachtet dieser Tatsache ist die Reihenfolge der Red-
ner angesichts der Bedeutung der Fraktionen nicht zufäl-
lig. Infolgedessen glaube ich, dass die CDU ihren großen
Anteil daran hat. Wir können uns nun wechselseitig ga-
rantieren, dass wir der Verantwortung nachgekommen
sind, und aus meiner Sicht völlig zu Recht feststellen,
dass wir eine schwierige Aufgabe fraktionsübergreifend
gut gelöst haben.
– Das Lob von rot-grüner Seite macht mich nicht nur
verlegen, sondern es verwirrt mich auch ein bisschen.
Wir wollen bei dem ganzen Lob nicht vergessen: Ein
Wermutstropfen bleibt, nämlich die Tatsache, dass durch
dieses Ausgleichssystem eine Vergrößerung unseres Par-
lamentes nicht auszuschließen ist. Das ist ein Kritik-
punkt, den wir aufnehmen müssen. Ich lege allerdings
Wert darauf, dass dieser Umstand der Rechtsprechung
des Bundesverfassungsgerichtes geschuldet ist und ge-
rade auch dem Wunsch, den ich angesprochen habe und
der bestätigt worden ist: dass man auf einer breiten inter-
fraktionellen Grundlage eine Entscheidung treffen muss.
Da muss man eben Kompromisse machen, man muss ab-
wägen.
Der Kollege Wiefelspütz wird sich, wie mancher an-
dere Kollege, daran erinnern, dass wir schon seit Beginn
der 90er-Jahre über die Verkleinerung des Parlamentes
beraten, dass wir 1998 beschlossen, eine Verkleinerung
durchzuführen, und dass bei der Bundestagswahl 2002
erstmals eine Verkleinerung durchgesetzt wurde. Das als
Beleg dafür, dass hier nicht Kolleginnen und Kollegen
sitzen, die grundsätzlich nur darauf achten, dass das Par-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26509
Michael Grosse-Brömer
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lament vergrößert wird. Dass es zu einer Vergrößerung
des Parlamentes kommen kann, ist einer verfassungs-
gemäßen, bundesverfassungsgerichtlich vorgegebenen
Maßgabe geschuldet, insgesamt den Vorgaben nachzu-
kommen und auf breiter parlamentarischer Basis Kom-
promisse zu schließen. Daraus ergibt sich jetzt die Mög-
lichkeit der Vergrößerung.
Wir sollten aber auch darauf hinweisen, dass diese
Vergrößerung nicht allein mit Bezug auf das Jahr 2009
berechnet werden darf. 2009 waren es 24 Überhangman-
date, 1990 waren es 6, und bei den Wahlen 2002 fielen
insgesamt nur 5 Überhangmandate an. In dieser Debatte
darf man nicht übertreiben, auch deshalb nicht, weil wir
in Deutschland auch bei dieser maßvollen Erhöhung der
Anzahl der Sitze immer noch, gemessen an der Bevölke-
rung, das zweitkleinste Parlament in Europa haben.
Auch nach dem neuen Wahlrecht vertritt ein deutscher
Abgeordneter mehr Bürger als zum Beispiel ein franzö-
sischer oder ein britischer Abgeordneter. Er vertritt mehr
Bürger als fast jeder andere Abgeordnete in einem euro-
päischen Land. Wir sind immer noch, was die Größe des
Parlaments bezogen auf die Einwohnerzahl angeht, eines
der kleinsten Parlamente in Europa.
Dennoch möchte ich aus Sicht der Union darauf hin-
weisen, dass es auch verschiedene andere Lösungsmo-
delle gab, zum Beispiel ein Kompensationsmodell. Das
hätte zu regionalen Verwerfungen geführt. Der Kollege
Krings wird darauf in seinem Wortbeitrag gleich einge-
hen.
Wir haben Wert darauf gelegt, dass ein Wähler in Kiel
nicht irgendwann feststellen muss, dass er jemanden in
Konstanz am Bodensee gewählt hat. Ich glaube, es ist
sinnvoll, dass man wissen und feststellen kann, dass man
dort, wo man gewählt hat, einen Abgeordneten ins Parla-
ment geschickt hat. Das ist, jedenfalls aus meiner Sicht,
ein wichtiger Aspekt.
Ich will darauf hinweisen, dass uns nach diesem Ur-
teil des Bundesverfassungsgerichtes viele gesagt haben:
Das mit der schnellen Umsetzung im Parlament wird
schwierig; da kann man wahrscheinlich gar nicht viel
Hoffnung haben; machtpolitische Motive werden wahr-
scheinlich eine schnelle Einigung verhindern. Es ist
nicht so gekommen. Wir haben es geschafft, in intensi-
ven Verhandlungen, die eben nicht von machtpolitischen
Motiven dominiert waren, einen überparteilichen Kon-
sens in recht kurzer Zeit hinzubekommen. In nicht ein-
mal sechs Monaten haben sich vier der fünf Fraktionen
verständigt.
Die Fraktion Die Linke hat sich bewusst, auf meine
Anregung hin, an den Beratungen beteiligt, aber – das
muss ich schon sagen – leider nicht konstruktiv. Sie kön-
nen nicht Idealmodelle vorstellen, gar nicht kompro-
missbereit sein und sich dann hier hinstellen – ich gehe
mal davon aus, dass das gleich so sein wird – und sagen,
dass Sie das einzige Modell haben, das nicht zu einer
Vergrößerung führt.
Frau Wawzyniak, Sie können damit zwar populär wer-
den,
aber Sie handeln damit nicht verantwortungsbewusst;
das sage ich Ihnen.
Sie hätten eine andere Aufgabe gehabt. Es ist leicht, es
besser zu wissen, aber schwer, es besser zu machen. Das
werden wir wahrscheinlich in Ihrer Rede gleich feststel-
len.
Ich will zum Schluss sagen: Herzlichen Dank allen
Kollegen!
Wir mussten Abstriche machen. Ein noch größerer Dank
gebührt aus meiner Sicht den Mitarbeiterinnen und Mit-
arbeitern, die noch stärker als wir zu Wahlrechtsexperten
wurden. Sie haben uns sehr stark unterstützt. Schließlich
danke ich auch den Experten des Bundesinnenministe-
riums. Was wir denen im Vorfeld und zwischendurch an
Arbeit aufgegeben haben, war nicht wenig. Ich bitte, die-
ses Lob und diesen Dank auszurichten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Wahlen stellen
die unmittelbarste Form politischer Teilhabe des Bürgers
in der parlamentarischen Demokratie dar. Wahlen dienen
der Ermittlung des Volkswillens, der sich in letzter Hin-
sicht im Parlament durch unsere Mandate manifestiert.
Fragen des Wahlrechts tangieren also fundamentale
Elemente unserer Demokratie. Sie müssen mit großer
Verantwortung behandelt werden. Ich bin sehr davon
überzeugt, dass die einbringenden Fraktionen dieser Ver-
antwortung in sehr vernünftigem Maße gerecht gewor-
den sind.
Ich bedanke mich für die gute Zusammenarbeit und
hoffe, dass dieses von uns jetzt eingebrachte Wahlrecht
nicht nur Akzeptanz beim Bundesverfassungsgericht fin-
det, sondern auch in der breiten Bevölkerung.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Thomas Oppermann ist der nächste Redner für die
SPD-Fraktion.
Guten Morgen, Frau Präsidentin! Meine sehr verehr-
ten Damen und Herren! Vor knapp einem Jahr haben wir
hier schon einmal über das richtige Wahlrecht gestritten.
Damals gab es vier Gesetzentwürfe, einen der Linken,
einen der SPD, einen der Grünen und einen der Koali-
26510 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Thomas Oppermann
(C)
(B)
tion. Die weitere Geschichte ist bekannt: Die Koalition
hat mit ihrer Mehrheit ihren Gesetzentwurf gegen die
Minderheit durchgesetzt.
Wir haben in Karlsruhe geklagt. Das Urteil, der Richter-
spruch aus Karlsruhe war eindeutig: Das Wahlrecht, wie
Sie es verabschiedet haben, ist verfassungswidrig. Die
Botschaft aus Karlsruhe, die damit verbunden war, war
eindeutig: Wahlrecht darf nicht als Machtrecht miss-
braucht werden. Das Wahlrecht ist nicht dazu da, nach
den Machterhaltungsbedürfnissen der Mehrheit gestaltet
zu werden.
Vielmehr ist das Wahlrecht das vornehmste demokrati-
sche Recht der Bürgerinnen und Bürger.
Nach unserem Grundgesetz geht alle Staatsgewalt
vom Volke aus. Sie wird in Wahlen und Abstimmungen
vom Volk ausgeübt. Das bedeutet, dass die Wahlen das
Verfahren sind, in dem die Staatsgewalt vom Volke auf
das Parlament übertragen wird. Dieses Verfahren muss
sehr genau und präzise gestaltet sein. Es muss fair und
transparent sein, und es muss verlässlich und berechen-
bar sein.
– Es muss nicht unbedingt so sein, lieber Kollege
Wieland, dass jeder Einzelne die komplexe Mechanik
des Wahlrechtes versteht.
Aber er muss sich darauf verlassen können, er muss da-
rauf vertrauen dürfen, dass seine Stimme am Ende die
Wirkung hat, die er mit dieser Stimme verbindet.
Am besten ist natürlich ein Wahlrecht, das im Einver-
nehmen der konkurrierenden Parteien hier im Bundestag
verabschiedet wird. Schade, dass sich die Linken diesen
Ruck nicht geben konnten.
Sie haben ja auch einen Vorschlag gemacht und könnten
sich in diesem Wahlrecht auch wiederfinden.
Ehrlich gesagt, da ist Ihnen der billige Punkt, den Sie
jetzt noch machen wollen, wichtiger als der wertvolle
Konsens der Demokraten in diesem Hause. Hier verpas-
sen Sie wieder einmal eine Chance; das muss ich ganz
ehrlich sagen.
Ihnen hätte ich eigentlich zugetraut, dass Sie diese
Chance erkennen; aber Sie haben das leider wieder nicht
geschafft.
Ich bin froh, dass wir nach den Irrungen und Wirrun-
gen der Koalition beim Wahlrecht jetzt zu einem ge-
meinsamen Entwurf von SPD, Grünen, CDU/CSU und
FDP kommen. Das ist ein großer Schritt nach vorne.
Das Wahlrecht selber bleibt in seinen Grundzügen na-
türlich erhalten. Es hat sich seit der ersten Bundestags-
wahl 1949 bewährt. Es war eine kluge Entscheidung des
Parlamentarischen Rates, genau genommen des Aus-
schusses des Parlamentarischen Rates, der sich mit dem
Wahlrecht befasst hat, dieses Wahlrecht, das eine Kom-
bination aus Personal- und Verhältniswahl ist, in
Deutschland einzuführen.
Die Union wollte übrigens im Parlamentarischen Rat
das Mehrheitswahlrecht durchsetzen. Auch das Mehr-
heitswahlrecht hat ja Vorzüge.
Es schafft eine enge Bindung zwischen den Wählern und
den Gewählten. Es sorgt für eindeutige Mehrheitsver-
hältnisse. Es hat aber den Nachteil, dass letztlich zu viele
Wählerstimmen unter den Tisch fallen. Deshalb hat die
SPD zusammen mit den kleinen Parteien im Parlamenta-
rischen Rat dafür gesorgt, dass wir ein Verhältniswahl-
recht bekommen, aber kein reines Verhältniswahlrecht,
wie wir es in der Weimarer Republik hatten. Dieses hatte
bekanntlich dazu geführt, dass die Parteienlandschaft to-
tal zersplitterte.
Das hat am Ende den radikalen und extremen Kräften
geholfen, sich an die Macht zu putschen.
Deshalb war es eine kluge Entscheidung, die Persön-
lichkeitswahl, die Direktwahl in den Wahlkreisen zu
kombinieren mit der Verhältniswahl, die dafür sorgt,
dass sich das ganze Spektrum der Meinungen und Inte-
ressen einer Gesellschaft auch im Parlament wieder-
findet. Entscheidend für die Zusammensetzung des Par-
laments sind die Zweitstimmen. Entscheidend ist, was
für ein Parlament die Wähler am Ende haben wollen. Bei
der Verhältniswahl haben wir, um der Zersplitterung der
Parteienlandschaft entgegenzuwirken, zum Glück die
Fünfprozentklausel.
Ich bedaure in diesem Zusammenhang ausdrücklich,
dass das Bundesverfassungsgericht die Fünfprozentklau-
sel bei den Europawahlen für verfassungswidrig erklärt
hat. Ich möchte von dieser Stelle aus keine Urteilskritik
betreiben; aber mir persönlich fällt es schwer, diese Ent-
scheidung nachzuvollziehen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26511
Thomas Oppermann
(C)
(B)
Klar ist: Niemand in Deutschland will auf das Zwei-
stimmenwahlrecht verzichten. Dabei wird es bleiben.
Aber wir müssen zwei Korrekturen anbringen. Die eine
Korrektur ist beim negativen Stimmgewicht notwendig.
Es sollte eine Selbstverständlichkeit sein, dass die
Stimmabgabe der Wählerinnen und Wähler den von ih-
nen gewünschten Effekt haben muss. In bestimmten
Konstellationen kann es jedoch vorkommen, dass man
der Partei, die man wählt, mit der Stimmabgabe schadet
– darum wird vom negativen Stimmgewicht gesprochen –
und einer anderen Partei nützt. Das ist eine etwas ab-
surde Konsequenz unseres Wahlrechtes.
Wir schließen das Auftreten des negativen Stimmge-
wichts aus, indem wir die Wahlgebiete jetzt voneinander
trennen. Das heißt, die Wählerstimmen werden nicht
mehr verrechnet. So haben wir mit einem handwerkli-
chen Kunstgriff dafür gesorgt, dass das negative Stimm-
gewicht nicht mehr auftreten kann.
Das zweite große Problem, das wir zu korrigieren hat-
ten, sind die Überhangmandate. Die Überhangmandate
sind ein Stachel im Fleisch der durch das Grundgesetz
gebotenen Gleichheit der Wahl. Überhangmandate sind
sozusagen ein leistungsloser politischer Einfluss für die
Parteien, die davon begünstigt werden.
Die Union hatte zuletzt 24 Überhangmandate. Das ist
der Gegenwert von 1,6 Millionen Wählerstimmen. Diese
Wählerstimmen haben Sie in der Bevölkerung bei den
Zweitstimmen nicht bekommen.
– Herr Kauder, ich will doch nur das Ausmaß des Fort-
schrittes beschreiben, den wir bald gemeinsam realisie-
ren. Da muss ich schon einmal auf diesen Punkt zurück-
kommen.
– Sich mit Ihnen zu versöhnen, ist nicht immer ganz ein-
fach.
Aber so wenige Tage vor Weihnachten will ich am Ende
meiner Rede den Versuch noch einmal machen, Herr
Kauder.
Indem wir die Überhangmandate neutralisieren, in-
dem wir sie ausgleichen, kommen wir zu dem korrekten
Wahlergebnis. Damit sorgen wir dafür, dass am Ende die
Wählerinnen und Wähler darüber bestimmen, wie sich
der Bundestag zusammensetzt und wie die Mehrheits-
verhältnisse im Bundestag aussehen, und dass nicht
mehr Zufälligkeiten bzw. die Absurdität des jetzigen
Wahlrechts die Mehrheiten in diesem Hause festlegen.
Deshalb bin ich froh, dass wir jetzt zu einer gemeinsa-
men Regelung gekommen sind. Dass die Überhangman-
date von jetzt ab keine Rolle mehr spielen werden, ist
durchaus historisch zu nennen.
Der Bundestag muss deshalb auch nicht unverhältnis-
mäßig groß werden. Ich habe es ausrechnen lassen: Je
mehr Stimmen die SPD bekommt, desto kleiner wird der
Bundestag.
Es gibt also vernünftige Anreizstrukturen.
Ich freue mich, dass die nächste Bundestagswahl auf
der Grundlage eines verfassungskonformen Wahlrechts
durchgeführt werden kann.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Ruppert für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Ich beginne mit der Feststellung: Heute ist ein
guter Tag für dieses Land,
weil wir gemeinsam ein Wahlrecht beschlossen haben
– weil wir beschließen werden, Herr Wieland; ich kann
es gar nicht abwarten –, weil wir als Demokraten gezeigt
haben, dass die Gemeinsamkeiten stärker sind als die
Unterschiede. Wir haben, glaube ich, einen guten Kom-
promiss gefunden.
Wir wollten mehrere Prinzipien unter einen Hut brin-
gen: Erstens. Der Bundestag soll – so der Ausgangs-
punkt der Überlegungen der Koalition – nicht vergrößert
werden. Zweitens. Das negative Stimmgewicht soll ab-
geschafft werden. Drittens. Es darf keine Verzerrung
durch föderalen Proporz geben. Es sollen also proportio-
nal nicht mehr Baden-Württemberger, sosehr ich sie
schätze, als Brandenburger im Bundestag vertreten sein.
26512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Stefan Ruppert
(C)
(B)
Viertens wollten wir uns mit der Frage befassen: Wie
halten wir es mit dem subjektiven Wahlrechtsschutz?
Das haben wir dann aber separat gemacht.
Diesen Mühen haben sich auch Linke und Grüne un-
terzogen. Auch sie haben sich für ein Wahlrecht ausge-
sprochen, durch das eine Vergrößerung des Bundestages
verhindert wird.
Lediglich die sozialdemokratische Partei hat von Anfang
an nur Modelle auf den Tisch gelegt, die zu einer Vergrö-
ßerung des Bundestages führen. Die SPD-Fraktion emp-
findet das offensichtlich als keinen so gravierenden
Nachteil wie die anderen Fraktionen in diesem Hause.
Vier Fraktionen also haben sich der Mühe unterzogen,
ein Bundestagswahlrecht vorzuschlagen, durch das der
Bundestag nicht vergrößert wird. Unsere sozialdemokra-
tischen Kollegen haben die Vergrößerung gleich einge-
plant.
Wir haben erlebt, dass Karlsruhe das Bundestags-
wahlrecht verworfen hat, weil es in Teilen verfassungs-
widrig war.
– Herr Wiefelspütz, ich wünsche Ihnen, dass Sie von Ih-
rer Fraktion auch noch Redezeit eingeräumt bekommen.
Wir haben erlebt, dass die Verfassungsrichter im Zu-
sammenhang mit den Überhangmandaten nun die
Zahl 15 für zulässig halten. Aus Art. 38 Grundgesetz
wurde abgeleitet, dass jetzt 15 Überhangmandate und
nicht wie bisher 30 Überhangmandate – dies war die
Rechtsprechung von 1997 – zulässig sind.
Wir haben diese Veränderung zur Kenntnis genom-
men und einen neuen Anlauf für ein gemeinsames Wahl-
recht unternommen. Ich finde, das ist relativ gut gelun-
gen.
Was sind die Alternativen? Die Linke schlägt uns
heute ein Wahlrecht vor, bei dem der Osten am Ende
schlecht wegkommt.
Das verwundert auf den ersten Blick. Als CDU-Abge-
ordneter braucht man danach in Brandenburg etwa
360 000 Stimmen, um ein Mandat zu erringen, während
man in Baden-Württemberg nur etwa 60 000 Stimmen
benötigt. Ihnen ist der baden-württembergische Wähler
also sechsmal lieber als der brandenburgische. Das ver-
wundert schon ein wenig.
– Herr Wieland, Sie haben dieses Modell auch eine Zeit
lang favorisiert.
Diese föderale Verzerrung ist aus unserer Sicht nicht
hinnehmbar.
Sie von den Grünen haben uns dann noch vorgeschla-
gen: Diejenigen Kollegen der CSU, die ihren Wahlkreis
in Bayern gewonnen haben, sollten aufgrund der fehlen-
den Verrechnungsmöglichkeit gleich nach Hause ge-
schickt werden. Am besten solle überhaupt kein Vertre-
ter aus dieser Partei im Bundestag zugelassen werden.
Auch diese Idee, dass jemand, der seinen Wahlkreis di-
rekt gewonnen hat, einfach zu Hause bleiben kann, weil
er einem grünen Wahlrechtsmodell zum Opfer gefallen
ist, hat uns nicht überzeugt.
Man kann über Überhangmandate unterschiedlicher
Auffassung sein.
Ich bin auch der Meinung, dass man eher das Verhältnis-
wahlrecht etwas stärken sollte als die Zahl der Über-
hangmandate zu groß werden zu lassen.
Allerdings ist Ihre Feindschaft gegen Überhangman-
date, lieber Herr Oppermann, doch eher jüngeren Da-
tums.
Man erinnere sich an die Zeit, als Sie mit Ihrem Bun-
deskanzler Gerhard Schröder eine Vertrauensfrage zu
bestehen hatten. Die haben Sie nur gewonnen, weil Sie
seitens der SPD Überhangmandate hatten. Damals
spielte die Verfassungswidrigkeit der Überhangmandate
keine Rolle; Sie haben sie vielmehr als äußerst legitim
dargestellt und für in Ordnung gehalten. Insofern glaube
ich, dass sich Ihre sozialdemokratischen Überzeugungen
je nach aktueller politischer Befindlichkeit gelegentlich
ändern.
Heute debattieren wir in erster Lesung über ein, wie
ich finde, gutes Wahlrecht. Wir werden eine Anhörung
durchführen und zur Kenntnis nehmen, ob wir einzelne
Teile, zum Beispiel in der Begründung, verbessern und
vereinfachen und sprachliche Änderungen vornehmen
können, um das Ganze etwas verständlicher zu machen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26513
Dr. Stefan Ruppert
(C)
(B)
Den Anhängern eines Einstimmenwahlrechts, die es
in der öffentlichen Debatte durchaus auch gibt, sage ich
aber noch einmal: Ich kann nicht nachvollziehen, warum
ein Wahlrecht, bei dem der Wähler eine Stimme hat, de-
mokratischer sein soll als ein Wahlrecht, bei dem der
Wähler zwei Stimmen und damit ein höheres Maß an
Einfluss hat.
Von daher bin ich ein ausgesprochen großer Anhänger
des Zweistimmenwahlrechts.
Mit der ersten Stimme kann man denjenigen wählen, den
man vor Ort schätzt, und mit der Zweitstimme kann man
dann die Partei seiner Präferenz wählen.
Herr Wieland, ich hätte auch einen konkreten Vor-
schlag, wen Sie wählen können. Ich kann Sie nur einla-
den: Kommen Sie bei uns vorbei. Wir erklären Ihnen das
genauer.
– Jeder kann helfen, Herr Wieland.
Wir haben in dieser Legislaturperiode auch beim sub-
jektiven Wahlrechtsschutz etwas erreicht. Auch das ha-
ben wir breit diskutiert und gemeinsam vereinbart. Wir
werden uns noch dafür einsetzen, dass im Ausland le-
bende Deutsche auch hier wählen können, wenn sie ge-
wisse Voraussetzungen erfüllen.
Ich finde, das ist eine Fülle von guten Veränderungen.
Als Demokraten haben wir gezeigt, dass wir solche Ver-
änderungen durchaus auch im gemeinsamen Gespräch
erreichen können – ohne Schärfe gegeneinander und mit
guten Ergebnissen.
Dem Wähler draußen kann ich sagen: Das perfekte
Wahlrecht wird es nie geben. Jedes Wahlrecht wird ge-
wisse Anomalien haben, weil beispielsweise hinter ei-
nem Mandat in Berlin aufgrund geringerer Wahlbeteili-
gung weniger Wähler stehen als hinter einem Mandat in
anderen Gebieten mit höherer Wahlbeteiligung. Wir
werden uns also daran gewöhnen müssen, dass es immer
kleinere Anomalien im Wahlrecht gibt.
Ich glaube, das bringt die Demokratie nicht ins Wan-
ken. Wenn das bestehende, bewährte Zweistimmenwahl-
recht erhalten bleibt, dann haben wir vielmehr einen
großen Beitrag zur Stärkung der repräsentativen Demo-
kratie geleistet.
Ich freue mich auf die Anhörung und werde froh sein,
wenn wir als Juristen irgendwann weniger als in der Ver-
gangenheit mit mathematischen Dingen konfrontiert
werden; denn es ist durchaus auch anstrengend, die je-
weiligen Auswirkungen der Veränderungen genau aus-
zurechnen. Ich danke aus allen Fraktionen denen, die da-
ran mitgewirkt haben, allen Mitarbeitern und dem BMI.
Ich glaube, wir haben ein gutes Ergebnis gefunden.
Vielen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Halina Wawzyniak.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Wir reden über drei Gesetzentwürfe zu zwei
Wahlrechtsthemen. Wir haben zwei Gesetzentwürfe zum
Sitzzuteilungsverfahren. Hier geht es um die spannende
Frage: Wie werden eigentlich aus den Prozenten Man-
date, und was passiert dabei mit den Direktmandaten?
Dazu gibt es einen Gesetzentwurf der anderen Fraktio-
nen und einen der Linken.
Darüber hinaus haben wir einen Allparteienantrag
zum Wahlrecht für Auslandsdeutsche vorliegen. Das ist
im Übrigen der Beweis: Wenn die Inhalte stimmen, kann
man etwas gemeinsam machen. Zum Dank dafür haben
Sie Herrn Grindel heute gar nicht hergeholt.
Ich wollte mich nämlich ausdrücklich bei ihm dafür be-
danken, dass er den Kauder-Quatsch nicht mitmacht,
dass da, wo „CDU/CSU“ draufsteht, nicht auch „Linke“
draufstehen kann.
Jetzt kommen wir zum Gesetzentwurf zum Sitzzutei-
lungsverfahren. Noch einmal zum Hintergrund: Die Ko-
alitionsmehrheit hatte einen Gesetzentwurf beschlossen.
Er ist vom Bundesverfassungsgericht gekippt worden.
Wir haben Ihnen das gleich gesagt. Hätten Sie auf uns
gehört, müssten wir diese Debatte jetzt nicht führen.
Das Bundesverfassungsgericht hat zwei Bedingungen
genannt, die für die Verfassungsmäßigkeit eines Sitzzu-
teilungsverfahrens vorliegen sollen: Zum einen darf der
Effekt des negativen Stimmgewichts nur in vernachläs-
sigbarem Umfang auftreten. Zum anderen dürfen Über-
hangmandate nur in einem Umfang auftreten, mit dem
der Grundcharakter der Wahl als Verhältniswahl nicht
aufgehoben wird. Noch einmal: Negatives Stimmge-
wicht bedeutet, mehr Stimmen führen zu weniger Sitzen
und umgekehrt. Überhangmandate sind die Mandate, die
entstehen, wenn man mehr Direktmandate gewinnt, als
einer Partei nach Zweitstimmen zustehen.
26514 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
Jetzt haben Sie alle – außer uns – einen gemeinsamen
Gesetzentwurf vorgelegt. Wenn ich diesen detailliert be-
schreiben müsste, bräuchte ich erstens diese wunderbare
Anzeigetafel für eine Powerpoint-Präsentation, und zwei-
tens wären dann meine elf Minuten Redezeit sehr schnell
vorbei.
Die Kurzfassung lautet wie folgt: Die auf ein Bundes-
land anfallenden Mandate sind abhängig von der Bevöl-
kerungszahl. Dabei fallen pro Bundesland doppelt so
viele Mandate an wie Wahlkreise. Innerhalb der Bundes-
länder erfolgt die Verteilung an die Parteien mittels der
Methode, dass in den Ländern die pro Landesliste er-
zielte Zahl der Zweitstimmen durch einen Zuteilungsdi-
visor geteilt wird. Von der Anzahl der Mandate werden
dann die Direktmandate abgezogen.
Soweit in einzelnen Landeslisten mehr Direktman-
date als Listenmandate vorhanden sind, wird die Zahl
der Bundestagssitze erhöht. Die so erhöhte Gesamtzahl
wird dann entsprechend der Zweitstimmen an die Par-
teien verteilt. Dazu wird die Anzahl der Zweitstimmen
der Parteien durch einen Parteiendivisor geteilt. Klingt
kompliziert, ist kompliziert! Man kann es sehr verkürzt
sagen: Die Anzahl der Mandate wird erst auf die Bun-
desländer umgerechnet und dann auf die Parteien.
Nun ist es so, dass das Bundesministerium des Innern
Berechnungen angestellt hat und deshalb sagt: Dieses
Modell hätte seit 1994 immer zu einer zahlenmäßigen
Erhöhung der Bundestagssitze geführt. In der Begrün-
dung des Gesetzentwurfs selbst steht:
Eine Vergrößerung der Zahl der zu vergebenden
Sitze kann … auch dann nötig werden, wenn keine
Partei Überhangmandate erzielt hat …
Wahlrecht.de kommt zu dem Ergebnis, dass es fak-
tisch immer zu einer zahlenmäßigen Erhöhung der
Bundestagssitze kommt, obwohl der Bundestag ent-
schieden hat, ab der Bundestagswahl 2002 nicht mehr
aus 656 Abgeordneten zu bestehen, sondern aus 598 Ab-
geordneten.
Jetzt kommen wir einmal zum regionalen Proporz.
Der Bundeswahlleiter hat eine Berechnung auf Basis des
Wahlergebnisses von 2009 gemacht. Jetzt wird es für
die SPD in Mecklenburg-Vorpommern interessant. Bei
598 Sitzen erhielte die SPD in Mecklenburg-Vorpom-
mern drei Sitze, bei 671 Sitzen erhielte sie zwei Sitze.
Ich würde mich bei meinen Genossen bedanken.
Für die CDU in Sachsen-Anhalt sieht es nicht viel
besser aus. Bei 598 Sitzen bekäme die CDU in Sachsen-
Anhalt sechs Sitze, bei 671 Sitzen bekäme sie noch fünf
Sitze. Auch da würde ich mich herzlich bedanken. – Fakt
ist: Auch in Ihrem Gesetzentwurf wird der regionale
Proporz nicht wirklich hergestellt. Man kann ein solches
Gesetz machen, muss es aber nicht.
Der Hammer ist, dass in Ihrem Gesetzentwurf nicht
einmal der Punkt „Alternativen“ vorkommt, so, als gäbe
es überhaupt keine Alternativen. Ich sage Ihnen: Weil es
eine verfassungsgemäße Alternative gibt, lehnen wir das
Zuteilungsmodell ab. Gäbe es keine verfassungsgemäße
Alternative, wäre eine zahlenmäßige Vergrößerung des
Parlaments hinzunehmen.
Die verfassungsgemäße Alternative ist der Gesetzent-
wurf der Linken. Wir hatten den Vorschlag schon einmal
in einem umfangreicheren Antrag eingebracht. Wir wei-
sen in unserem Gesetzentwurf selbstverständlich darauf
hin, dass es auch andere Modelle gibt. Die Linke hat hier
mindestens einen Seriositätsvorsprung.
Die vorgelegte Alternative ist in jedem Fall verfas-
sungsgemäß. Ich zitiere aus der Anhörung im Innenaus-
schuss am 5. September 2011. Der Sachverständige
Strohmeier sagte: Der Gesetzentwurf beseitigt komplett
die Verfassungswidrigkeit im Bundeswahlgesetz. Der
Sachverständige Pukelsheim sagte: Der Gesetzentwurf
beseitigt das negative Stimmgewicht. Der Sachverstän-
dige Grzeszick sagte: Das absolute negative Stimmge-
wicht wird durch den Gesetzentwurf der Linken vermie-
den. Der Sachverständige Schorkopf sagte: Der Entwurf
hat den Vorteil, dass er das absolute negative Stimmge-
wicht beseitigt.
Was schlagen wir eigentlich vor? Wir schlagen vor, zu
errechnen, wie viele Mandate sich bundesweit für eine
Partei ergeben. Davon werden die auf eine Partei bun-
desweit entfallenden Direktmandate abgezogen. Entste-
hen ausnahmsweise Überhangmandate, wird ausgegli-
chen, bis das Zweitstimmenergebnis wiederhergestellt
wird. Sehr verkürzt kann man sagen: erst die Verteilung
der Mandate an eine Partei, dann an die Bundesländer.
Ein ähnliches Modell ist das Modell Pukelsheim III.
Beide Modelle – unser Modell und Pukelsheim III – hät-
ten seit 1994 lediglich im Jahr 2009 zu einer zahlenmä-
ßigen Vergrößerung des Bundestages geführt.
Jetzt kann man sich fragen, warum wir ein Modell
vorschlagen, nach dem die Mandate zuerst an die Partei
und erst dann an die Länder verteilt werden, statt wie Sie
alle ein Modell, das erst die Mandate an die Bundeslän-
der und dann an die Partei verteilt. Ganz einfach: Es
heißt Bundestagswahl, weil eine Bundespartei gewählt
wird. Es ist eben keine verbundene Wahl von Landespar-
teien zur Bildung eines Bundestages.
Zum Einwand, der regionale Proporz würde in unse-
rem Gesetzentwurf nicht ausreichend berücksichtigt: Er
wird in der Tat nicht vollständig hergestellt, aber das ist
in Ihrem Gesetzentwurf auch nicht der Fall. Ich verweise
auf die Beispiele der CDU in Sachsen-Anhalt und der
SPD in Mecklenburg-Vorpommern.
Unser Gesetzentwurf hat aber Vorteile. Es gibt kein
negatives Stimmgewicht. Das Problem der Überhang-
mandate wird gelöst, und es kommt nicht zu einer zah-
lenmäßigen Vergrößerung des Bundestages. Das sind
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26515
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
drei Vorteile auf einmal. Das gibt es tatsächlich – bei der
Linken.
Diese drei Vorteile überwiegen den Nachteil, dass es
nicht zu einem hundertprozentigen Ausgleich des regio-
nalen Proporzes kommt. Solange wir am Zweistimmen-
wahlrecht festhalten, wird es nie möglich sein, alle vier
Prinzipien zu 100 Prozent zu erfüllen. Deswegen muss
man eine Abwägung vornehmen. Wir sagen: Unser Ge-
setzentwurf hat drei Vorteile und erfüllt alle Kriterien
des Bundesverfassungsgerichts. Deshalb bitten wir, ihm
zuzustimmen.
Es ist bereits auf die Allparteiengespräche hingewie-
sen worden. SPD und Grüne haben ursprünglich das
Modell Pukelsheim III präferiert. Das Modell ähnelt un-
serem, sieht aber zugunsten des regionalen Proporzes
vor, als Mindestmandatszahl die Zahl der Direktmandate
um 10 Prozent zu erhöhen. Wir waren bereit, uns auf
dieses Modell einzulassen. Wir sind im Übrigen immer
noch dazu bereit, uns darauf einzulassen.
– Das heißt, wenn Sie und die Grünen zu dem Modell
zurückkehren, dann sind wir gerne bereit, das weiter mit-
zutragen. Aber Sie wollten sich unbedingt ganz schnell
mit Union und FDP einigen. Wir stehen bereit, Pukels-
heim III gemeinsam mit Ihnen zu verabschieden.
Ich wiederhole: Weil es eine verfassungsgemäße Al-
ternative gibt, lehnen wir Ihr Modell ab. Denn es führt
zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages.
Gäbe es keine verfassungsgemäße Alternative, müsste
selbstverständlich die zahlenmäßige Vergrößerung des
Bundestages hingenommen werden.
– Na klar, Herr Wiefelspütz, Sie dürfen immer.
Sie wollen eine Zwischenfrage zulassen. Dann halte
ich die Redezeit an. – Bitte schön, Herr Wiefelspütz.
Verehrte Frau Kollegin Wawzyniak! Sie haben – ich
hoffe, es schadet Ihnen nicht, wenn ich das jetzt sage –
sich sehr seriös an den Beratungen des neuen Wahlrech-
tes beteiligt. Es ist kurz vor Weihnachten.
Man kann das Wahlrecht sehr unterschiedlich gestal-
ten. Ich halte das Modell, das Sie vorschlagen, für ver-
fassungskonform. Halten Sie denn das, was voraussicht-
lich mit großer Mehrheit vom Deutschen Bundestag
verabschiedet wird – ich greife den Beratungen etwas
voraus –, für verfassungsgemäß, oder ist das, was der
Bundestag beschließen wird, aus Ihrer Sicht verfas-
sungswidrig?
Herr Wiefelspütz, ich kann Ihre Frage kurz beantwor-
ten: Ich werde meiner Fraktion nicht empfehlen, gegen
dieses Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht zu zie-
hen.
Zu dem Gesetzentwurf bezüglich der Auslandsdeut-
schen. Eine neue Regelung ist nötig, weil das Bundes-
verfassungsgericht die geltende Regelung als verfas-
sungswidrig ansieht. Wir alle haben die Vorgaben aus
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts – trotz des
Kauder-Unsinns, dass der Name der Linken nicht auf ei-
ner gemeinsamen Vorlage stehen darf –
gemeinsam umgesetzt.
Wir hätten uns sehr gewünscht, dass in diesem Zusam-
menhang auch das Wahlrecht für Menschen, die seit
mindestens fünf Jahren hier in Deutschland leben und
trotzdem nicht wählen dürfen, weil sie die deutsche
Staatsbürgerschaft nicht besitzen, geklärt worden wäre.
Das war nicht möglich. Aber seien Sie sicher: Eine kraft-
volle Linke-Fraktion wird das in den nächsten Bundes-
tag erneut einbringen.
Zum Abschluss meiner Rede möchte ich Ihnen sagen,
dass wir aus meiner Sicht noch zwei Probleme zu klären
haben. Das eine ist – hier befinden wir uns in Gesprä-
chen – die Prozenthürde bei der Europawahl. Das andere
ist das Wahlrecht für Menschen, die unter Vollbetreuung
stehen. Ich weiß, dass das in allen Fraktionen umstritten
ist. Wir sollten darüber seriös diskutieren. Ich freue mich
auf die Anhörung. Vielleicht gibt es doch die Möglich-
keit, sich wenigstens auf Pukelsheim III zu einigen.
Dann muss ich nicht wiederholen: Wir lehnen den vor-
liegenden Gesetzentwurf ab, weil es eine verfassungsge-
mäße Alternative gibt, die nicht zu einer zahlenmäßigen
Vergrößerung des Bundestags führt.
Volker Beck hat jetzt das Wort für Bündnis 90/Die
Grünen.
26516 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Es ist
Weihnachten,
und es gibt einen Gesetzentwurf, den immerhin vier
Fraktionen gemeinsam eingebracht haben. Bedauerlich
ist, dass es nicht möglich war, die Ergebnisse des Ver-
mittlungsausschusses vom Mittwoch in der heutigen Ta-
gesordnung des Deutschen Bundestages zu berücksichti-
gen.
Hier blockiert die Koalition die Einigung. Die Bürger
wissen nicht, welches Steuerrecht am 1. Januar 2013
gilt. Das ist unnötig.
Aber Sie sind so durcheinander aufgestellt und auf an-
dere Themen konzentriert, dass Sie nicht in der Lage
sind, mit uns gemeinsam zu entscheiden.
Zurück zum Thema. Was uns vorliegt, ist ein Kom-
promiss. Ich habe mich sehr dafür eingesetzt – die Union
hat schließlich auch mitgemacht –, dass die Linke an den
Wahlrechtsgesprächen beteiligt wird. Für mich ist das
eine demokratische Selbstverständlichkeit, für andere
leider nicht. Ich finde aber, dass Sie Ihrem Anliegen,
stärker an interfraktionellen Gesprächen beteiligt zu
werden, mit Ihrem Ausstieg aus den Verhandlungen
nicht wirklich einen guten Dienst geleistet haben.
Ich habe große Sympathien für den inhaltlichen An-
satz Ihres Gesetzentwurfs. Aber es gab nun einmal ver-
schiedene Interessen in diesem Hause. Die Koalition
hatte andere Modelle favorisiert – quasi einen Aufschlag
von 50 Abgeordneten auf die Gesamtzahl und dann Ver-
teilung –,
in der Hoffnung, dass das gerade einmal so reicht und es
nicht zu mehr als 15 Überhangmandaten kommt. Das
hätte ein großes verfassungsrechtliches Risiko zur Folge
gehabt, entsprach aber dem Anliegen der Koalition, die
eigenen Überhangmandate zu behalten, in der Hoffnung,
trotz einer Minderheit bei den Stimmen die Mehrheit der
Sitze im nächsten Deutschen Bundestag zu bekommen.
Ein Kompromiss ist – das habe ich während Ihrer
Rede bei Wikipedia nachgeschlagen –
„die Lösung eines Konflikts durch gegenseitige freiwil-
lige Übereinkunft unter beiderseitigem Verzicht auf
Teile der jeweils gestellten Forderungen.“
Wir haben – im Gegensatz zu Ihnen – in der letzten
Wahlrechtsdebatte einen Gesetzentwurf eingebracht, der
keine Vergrößerung des Bundestages zur Folge gehabt
hätte. Wir hatten noch Pukelsheim III favorisiert. Aber
das war mit der Koalition nicht zu machen. So haben wir
dem Kompromiss zugestimmt, was uns nicht leichtgefal-
len ist.
Wir dürfen aber die eigentliche Frage nicht aus den
Augen verlieren: Was ist das Ziel dieser Wahlrechtsre-
form?
– Wir haben ein politisches Ziel. Es geht nicht um Hal-
tungsnoten, Frau Kollegin, auch nicht um Unterwerfung
oder um Besiegen des anderen. Vielmehr geht es darum,
dass wir den Charakter des Wahlrechts erhalten und ihm
gerecht werden.
Da ist das Ziel, dass der Wählerwille unverfälscht in den
Stärkeverhältnissen des Deutschen Bundestages zum
Ausdruck kommt;
denn das Wahlrecht hat diese Funktion, und die dürfen
wir nicht beschädigen. Wir haben gesagt: Wenn wir die-
ses Ziel erreichen, sind wir bereit, mit den anderen Frak-
tionen über den Weg dorthin zu reden und den aus unse-
rer Sicht zweit- oder auch nur drittbesten Vorschlag zu
akzeptieren. Wir haben hier nicht die Mehrheit und kön-
nen unseren Vorschlag nicht einfach durchsetzen. Des-
halb muss man sich aufeinander zubewegen. Ich finde es
grundsätzlich richtig, egal ob man die Mehrheit hat oder
nicht, im Wahlrecht einen breiten Ansatz zu verfolgen,
der von möglichst vielen Fraktionen getragen wird.
Die Gleichheit der Wahl und die Chancengleichheit
der Parteien sind durch den vorgeschlagenen Entwurf
gewährleistet. Ich würde sagen: Einen Schönheitspreis
für normenklare Formulierung werden wir mit diesem
Gesetzentwurf sicher nicht gewinnen.
Man muss den Text mindestens zweimal oder dreimal le-
sen, um ihn wenigstens im Ansatz zu verstehen. Wir
werden deshalb im Ausschuss einen verbesserten For-
mulierungsvorschlag zur Diskussion stellen. Auch wenn
das Bundesverfassungsgericht bei seinem letzten Wahl-
rechtsurteil es schon aufgegeben hat, uns zu ermahnen,
einen verständlichen Gesetzestext zu formulieren – im
vorletzten Urteil hat es uns das noch mitgegeben –: Wir
sollten ein verständliches Wahlrecht formulieren.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26517
Volker Beck
(C)
(B)
Dieser verfassungsrechtlichen Vorgabe – Herr Ruppert,
Herr van Essen, Sie lachen selbst – werden wir nicht
hundertprozentig gerecht, um es einmal freundlich aus-
zudrücken. Ich würde sagen: Man kann es einfach nicht
verstehen. Das verstehen noch nicht einmal alle Juristen.
Es verstehen einige Wahlrechtsexperten, und am Ende
versteht es hoffentlich wenigstens der Bundeswahlleiter;
denn er soll das Gesetz anwenden.
Für den Vorschlag, den wir machen, zahlen wir einen
hohen Preis. Das muss man ganz offen bekennen. Er
kann zu einer zahlenmäßigen Vergrößerung des Deut-
schen Bundestages führen, die der Arbeitsfähigkeit des
Hauses nicht förderlich ist und die Mehrkosten verur-
sacht. Wenn wir diesen Weg gehen, müssen wir uns des-
halb meines Erachtens bei der zweiten und dritten Le-
sung verpflichten, dass wir in der nächsten Wahlperiode
im Lichte des Wahlergebnisses daran arbeiten, dass nach
Möglichkeit schon die Entstehung von Direktmandaten
verhindert wird, damit ein Ausgleich von vorneherein
entfällt.
Das kann man mit verschiedenen Methoden errei-
chen. Man kann das durch eine Wahlkreisreform mit
dem Ziel der Verringerung der Zahl der Wahlkreise er-
reichen, man kann es auch mit dem Vorschlag von mehr
Demokratie erreichen, der Mehrpersonenwahlkreise
durch Zusammenlegung mehrerer Wahlkreise bildet.
Darüber sollten wir im nächsten Deutschen Bundestag in
Ruhe diskutieren. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt dürfen
wir in diese Mechanismen gar nicht mehr eingreifen,
weil Kandidatenaufstellungen auf Grundlage der Teile
des Wahlrechts, die nicht verfassungswidrig sind, bereits
stattgefunden haben.
Wir sollten in den Ausschussberatungen für den Be-
richt auch deutlich sagen, welche Alternativen insgesamt
auf dem Tisch lagen: unser alter Gesetzentwurf, der Ge-
setzentwurf der Linken, Pukelsheim III, Ihr Modell, um
50 Sitze zu erhöhen. Wir sollten auch deutlich machen,
worin die jeweiligen Vor- und Nachteile bestehen.
Die Modelle, die in puncto Verhältniswahlrecht opti-
mal sind – ohne zahlenmäßige Vergrößerung des Parla-
ments –, haben den Nachteil einer regionalen Proporz-
verzerrung, den Sie nicht in Kauf nehmen wollten. Das
Bundesverfassungsgericht hat gesagt, dass der regionale
Proporz ein verfassungsrechtlich legitimes Interesse des
Gesetzgebers ist, aber es verfassungsrechtlich nicht er-
forderlich ist, dass man ihm gerecht wird. Man kann ihm
aber Rechnung tragen, wobei man allerdings einen Preis
dafür zu zahlen hat. Das tun wir mit diesem Gesetzent-
wurf. Ich denke, der Gesetzentwurf ist ein anständiger
Kompromiss. Er hat auch die Schwächen eines Kompro-
misses, sodass jeder ein bisschen unzufrieden und ein
bisschen zufrieden ist.
Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat der Kollege
Dr. Günter Krings das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Vier Fraktionen des Deutschen Bundestages le-
gen dem Haus heute einen guten und ausgewogenen Ge-
setzentwurf zur Änderung des Bundeswahlgesetzes vor.
Das Voraburteil, dass dieser Gesetzentwurf gut und aus-
gewogen ist, will ich mit vier Zielen untermauern, die
durch Verabschiedung dieses Gesetzentwurfs erreicht
werden sie sind für ein gutes Wahlrecht entscheidend:
Erstens. Durch seine Verabschiedung wird sich eine
weitestgehende Beseitigung des negativen Stimmge-
wichts ergeben. Ich formuliere das bewusst etwas vor-
sichtig, weil es so weit beseitigt wird, wie das Verfas-
sungsgericht es verlangt.
Zweitens. Damit verbunden ist eine Beseitigung der
Überhangmandate in ihrer Wirkung, natürlich nicht eine
Beseitigung der Mandate selber.
Drittens. Damit verbunden ist auch – das ist ebenso
wichtig – die Vermeidung einer extremen Ungleichver-
teilung von Bundestagsmandaten innerhalb von
Deutschland. Der Kollege Ruppert hat hier bereits sehr
eindrucksvolle Zahlen vorgelegt. Es darf natürlich nicht
sein, dass das Gewicht einer Wählerstimme für eine Par-
tei in einem Bundesland fünf- oder sechsmal größer ist
als in einem anderen Bundesland. Auch das vermeiden
wir.
Viertens. Mit diesem Gesetzentwurf ist keine grundle-
gende Abkehr vom Prinzip der personalisierten Verhält-
niswahl verbunden. Jeder Bundesbürger behält zwei
Stimmen. Er kann einmal eine Parteiliste und einmal ei-
nen Direktkandidaten wählen. Das ist ein bewährtes und
gutes System.
Wenn man diese Ziele diskutiert, dann muss man gar
nicht alle Verästelungen des Wahlrechts verstehen oder
erklären können. Die Erreichung dieser Ziele stößt auf
eine ganz hohe Akzeptanz in der Bevölkerung, also au-
ßerhalb unseres Hauses.
Es ist richtig: Kein Wahlgesetz ist alternativlos. Auch
dieser Gesetzentwurf ist natürlich nicht ohne Alterna-
tive. Das beweist schon der Umstand, dass im vergange-
nen Jahr vier verschiedene Modelle in den Deutschen
Bundestag eingebracht und dort diskutiert worden sind.
Es gab neben dem Entwurf der Koalition auch drei Ent-
würfe aus der Opposition. Keiner dieser vier Gesetzent-
würfe hat aber alle der vier eben genannten Kriterien er-
füllt. Keiner dieser vier Gesetzentwürfe war also
geeignet, alle diese vier Ziele zu erreichen. Hält man die
Erreichung der vier genannten Ziele für notwendig, dann
bleibt keine andere Lösung übrig, dann muss man den
Weg, den wir mit diesem gemeinsamen Gesetzentwurf
gegangen sind, gehen.
26518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Günter Krings
(C)
(B)
Auch das Bundesverfassungsgericht hat uns keine
Abkehr von unserem bewährten Wahlrechtsystem emp-
fohlen. Das Gericht wusste natürlich, dass es uns mit der
neuen, der deutlich strengeren Rechtsprechung aus die-
sem Jahr zu den Überhangmandaten realistischerweise
nur den Weg zu unserem jetzigen Vorschlag eines Aus-
gleichs von Überhangmandaten weisen konnte.
Insbesondere war klar, dass die Forderung des Ge-
richts, unter anderem vom Gerichtspräsidenten artiku-
liert, dass ein neuer Gesetzentwurf in einem fraktions-
übergreifenden Konsens entwickelt werden sollte, nur
im Wege eines solchen vollen Ausgleichs zu erfüllen ist.
Meine Damen und Herren, man darf hier und heute also
mit vollem Recht sagen, dass bei diesem Gesetzentwurf
nicht nur vier Fraktionen Pate gestanden haben, sondern
dass auch der Zweite Senat des Bundesverfassungsge-
richts bei diesem Gesetzentwurf Pate gestanden hat.
Ich mache auch keinen Hehl aus Folgendem: Wenn
wir, wie es auch die Richter des Bundesverfassungsge-
richts fordern, dauerhaft sicherstellen wollen, dass
grundlegende Änderungen im Wahlrecht nur in einem
fraktionsübergreifenden Konsens hergestellt, also mit
großen Mehrheiten beschlossen werden sollen, dann ist
es schon sinnvoll, die Grundzüge des Wahlsystems in
der Verfassung, im Grundgesetz, zu verankern. Das liegt
durchaus in der Logik der Hinweise aus Karlsruhe. Dem
gerecht zu werden, war uns in der Kürze der Zeit nicht
möglich. Ich bin der Auffassung, dass wir uns das durch-
aus als Projekt für die nächste Wahlperiode vornehmen
sollten.
Natürlich ist die Lösung eines Vollausgleiches von
Überhangmandaten – darauf ist hingewiesen worden –
mit einer bitteren Pille verbunden, nämlich mit der mög-
lichen zahlenmäßigen Vergrößerung des Bundestages.
Ich sage das auch als Redner der einzigen Fraktion in
diesem Hause, die von diesem Ausgleich aller Wahr-
scheinlichkeit nach nicht profitieren wird. Unsere
Mandatszahl wird, wenn man Berechnungen nach dem
geplanten Wahlrecht auf der Grundlage der alten Wahl-
ergebnisse oder aber auch Wahlprognosen zugrunde legt,
eben nicht steigen. Alle anderen Fraktionen profitieren
von dem Ausgleich. Ich weise aber noch einmal darauf
hin: Wir haben als einzige Fraktion dieses Hauses kei-
nen, jedenfalls keinen signifikanten Anteil an dieser Ver-
größerung.
Ich habe natürlich großes Verständnis für die Kritik
an der Konsequenz einer möglichen zahlenmäßigen Ver-
größerung des Bundestages. Ich habe aber kein Ver-
ständnis für Kritiker, die zwar die vier eingangs benann-
ten Ziele als richtig und wichtig ansehen, aber die aus
dem System des Ausgleichs folgende Konsequenz nicht
akzeptieren wollen. Man kann über das richtige Wahl-
recht politisch streiten. Man kann aber nicht über die Re-
geln der Logik streiten. Die Logik zeichnet genau dieses
Ergebnis vor.
Für mich wird daher am Ende der Wahlrechtsdebatte
sehr deutlich, dass zu Beginn dieser Debatte vor weni-
gen Jahren einige Kritiker, des alten Koalitionsentwurfs
zumal, ihre Angriffe nicht wirklich zu Ende gedacht ha-
ben. Ich erwarte daher von jedem Kritiker, egal ob hier
im Haus oder außerhalb des Hauses, dass er klipp und
klar sagt, welches der konsentierten Ziele des Wahlsys-
tems er opfern möchte. Gehen wir das also noch einmal
kurz durch:
Erster Punkt. Beseitigung des negativen Stimmge-
wichts. Wer das nicht will und so vielleicht eine Vergrö-
ßerung verhindern will, handelt nach beiden Urteilen aus
Karlsruhe klar verfassungswidrig.
Zweite Möglichkeit. Man könnte eine Vergrößerung
verhindern, indem man Überhangmandate nicht aus-
gleicht. Jedenfalls ab der interessanten Grenze von
15 Überhangmandaten wäre das klar verfassungswidrig.
Eine solche Lösung, 15 Überhangmandate bestehen zu
lassen und nicht auszugleichen, wäre mit den Opposi-
tionsfraktionen nicht machbar gewesen. Der Konsens
wäre dann aufgegeben.
Dritte Möglichkeit. Wir nehmen föderale Ungerech-
tigkeiten in Kauf, das war der Ansatz der Linken, und
zwar nicht irgendwelche föderalen Ungerechtigkeiten,
sondern bizarre Verzerrungen der Vertretung von Abge-
ordneten im Deutschen Bundestag aus den einzelnen
Bundesländern. Möglich wäre dann etwa, dass eine Par-
tei in einem Bundesland 20 bis 30 Prozent der Zweit-
stimmen bekommt, aber keinen einzigen Abgeordneten
aus diesem Bundesland im Deutschen Bundestag hat.
Nach einem Gesetzentwurf, der im Bundestag einge-
bracht wurde, würde es sogar möglich sein, dass direkt
gewählte Abgeordnete, die als Wahlkreissieger aus einer
Bundestagswahl hervorgegangen sind, in bestimmten
Fällen ihr Mandat nicht antreten können.
Meine Damen und Herren, darüber kann man aus Ih-
rer Sicht offenbar sprechen. Ich finde, das wäre das
stärkste Gift für die Akzeptanz des Wahlrechts und für
die Akzeptanz unserer Demokratie. Es ist gut, dass wir
das gemeinsam verhindert haben.
Die vierte Option. Man könnte als Kritiker natürlich
sagen: Wir wollen etwas ganz anderes. Wir wollen ein
ganz anderes Wahlrecht, also beispielsweise ein reines
Verhältniswahlrecht. Damit liebäugeln vielleicht die ei-
nen oder anderen auf der linken Seite des Hauses, jeden-
falls auch, so haben wir gehört, ein paar Wissenschaftler.
Ich frage nur: Wo bleibt bei einem reinen Verhältnis-
wahlrecht in einem 80-Millionen-Volk die Anbindung
zwischen Bundestagsabgeordnetem und Volk? Das mag
vielleicht in einem kleinen überschaubaren Land gehen,
aber nicht in einem Land unserer Größenordnung. Der
Vorwurf, wir säßen hier im Raumschiff Berlin und hätten
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26519
Dr. Günter Krings
(C)
(B)
den Blick für die Probleme verloren, hätte wahrschein-
lich erstmals seine Berechtigung, wenn wir eine reine
Verhältniswahl mit Listen von mehreren Hundert Kandi-
daten hätten.
Natürlich könnte man auch ein reines Mehrheitswahl-
recht einführen. Damit würde man das Problem auch be-
seitigen. Die Union sähe das gelassen. Das hieße nach
aktuellen Prognosen, dass wir knapp 60 Prozent der
Mandate im Deutschen Bundestag bekommen würden.
Das ist eine komfortable, solide Mehrheit. Aber es wäre
kein faires Wahlrecht, weil es kleine Parteien und deren
Interessen nicht berücksichtigen würde. Dass wir das
nicht wollen, beweist, dass wir nicht unsere eigenen In-
teressen in den Mittelpunkt stellen, sondern die Interes-
sen aller Parteien, dass wir eben einen echten Interessen-
ausgleich wollen.
Um eine mögliche zahlenmäßige Vergrößerung des
Bundestags in Grenzen zu halten, wäre die Union natür-
lich auch bereit gewesen, die vom Verfassungsgericht
gesetzte Grenze von 15 Überhangmandaten anzuneh-
men, auch wenn sie wenig erklärbar erscheint, und erst
ab dem 16. Überhangmandat auszugleichen, so schwie-
rig das sein mag. Aber wir haben akzeptiert, dass das für
die Opposition kein gangbarer Weg ist. Von daher haben
wir auch akzeptiert, dass die mögliche zahlenmäßige
Vergrößerung des Bundestags etwas stärker ausfallen
könnte.
Auch unser Koalitionsentwurf aus dem letzten Jahr
war von dem Ziel getragen, dass der Bundestag nicht
oder allenfalls um ganz wenige Sitze vergrößert wird.
Das war der berühmte mikroinvasive Eingriff in das be-
währte Wahlrecht, eben nur durch den Grundsatz der
Listentrennung. Ich will ausdrücklich zugestehen: Auch
die Entwürfe von Grünen und Linken zeugten von dem
Bemühen, eine Vergrößerung zu vermeiden, aber eben
unter Inkaufnahme von wirklich grotesken Nachteilen in
regionaler und föderaler Hinsicht,
die in einem demokratischen Wahlrecht nicht akzeptabel
sind.
Das Verfassungsgericht hat grundsätzlich bestätigt,
dass auch unser Ansatz vom letzten Jahr eine Lösung für
das Problem des negativen Stimmgewichts bedeutet
hätte.
Herr Krings, Frau Wawzyniak würde Ihnen gerne
eine Zwischenfrage stellen. Geht das?
Ja, gern. Das soll sie tun.
Bitte schön.
Herr Krings, ich würde Sie einfach nur gern fragen
wollen, was Sie Ihren Mitgliedern – „Mitglieder“ heißt
das bei Ihnen – in Sachsen-Anhalt sagen.
Ich habe vorhin ausgeführt: 598 Sitze – 6 Mandate. Nach
der Vergrößerung: 671 Sitze – 5 Mandate. Wie erklären
Sie Ihren Mitgliedern in Sachsen-Anhalt, dass sie nach
Ihrer Reform am Ende ein Mandat verlieren?
Ich kann die Zahlen ausdrücklich nicht bestätigen. Ich
weiß nicht, woher diese so exakten Berechnungen kom-
men. Es mag bestimmte Fallkonstellationen geben, bei
denen sich die Mandatszahl durch Rundung um ein
Mandat nach oben oder unten verändern kann. Und ich
erinnere mich genau, dass Zahlen – auch die vom BMI
vorgelegten – von Ihnen immer kritisiert werden. Es
würde mich deshalb sehr wundern, wenn Sie jetzt mit
solchen Zahlen operieren. Die Linken sind aber auch da-
für bekannt, dass Sie Positionen und Begründungen aus-
tauschen. Das will ich Ihnen ausdrücklich zugestehen.
Aber entscheidend ist doch, dass wir heute schon
durch die Existenz von Überhangmandaten eine gewisse
unvermeidbare föderale Verzerrung haben. Die Vor-
schläge Ihrer Fraktion – ursprünglich auch der Grünen;
auch die SPD fand sie ganz sympathisch – hätten diese
föderalen Verzerrungen deutlich verschlimmert. Die Si-
tuation, die wir durch Überhangmandate systembedingt
hinnehmen müssen, wäre dann deutlich verschlimmert
worden, indem dann nämlich ein Bundesland nicht nur
nicht in den Genuss von Überhangmandaten kommt,
sondern auch noch zusätzlich den Preis für Überhang-
mandate in anderen Ländern hätte zahlen müssen. Also:
Sie hätten eine ohnehin im System angelegte föderale
Ungerechtigkeit potenziert. Genau das haben wir ver-
mieden. Genau das zeichnet die Qualität des Gesetzent-
wurfes aus.
Meine Damen und Herren, die Koalition hat bereits
im letzten Jahr einen Entwurf vorgelegt, der – nach Aus-
sage des Verfassungsgerichts – das Problem des negati-
ven Stimmgewichts gelöst hätte. Allerdings hat das Ver-
fassungsgericht, das wissen wir, im laufenden Spiel die
Tore verschoben. Die jüngste Entscheidung, die uns zu
diesem Wahlrecht gebracht hat, war in der Begründung
in mancher Hinsicht schon bemerkenswert. Ich will ei-
nen einzigen Satz aus der Entscheidung zitieren. Als
man feststellte, man dürfe nur noch 15 Überhangman-
26520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Günter Krings
(C)
(B)
date ausgleichslos zulassen, sagte der Senat – Zitat,
Randziffer 144 –:
Der Senat ist sich bewusst, das die Zahl von
15 Überhangmandaten als Akt richterlicher Norm-
konkretisierung nicht vollständig begründet werden
kann.
Ich hoffe, dass ich im Namen des ganzen Hauses sagen
kann: Ein solcher Verzicht auf Begründungen sollte im
Verfassungsgericht keine Schule machen.
Als Gesetzgeber haben wir aus Karlsruhe immer stär-
kere Anforderungen in Bezug auf die Rationalität bei der
Gesetzesbegründung zu berücksichtigen. Ich nenne die
Hartz-IV-Regelsätze. Ich nenne die Pendlerpauschale
und andere Dinge, bei denen uns ins Stammbuch ge-
schrieben worden ist, dass wir sie rationaler begründen
müssen. Ich fände es schön, wenn auch künftig, was bis-
her immer der Fall war, auch das Gericht selbst sich wie-
der dieser Regel unterwirft. Sie gilt für den Gesetzgeber,
gilt aber auch für Entscheidungen des Bundesverfas-
sungsgerichtes.
Herr Kollege.
Insgesamt, Frau Präsidentin, bin ich der Auffassung,
dass wir einen guten und ausgewogenen Entwurf haben,
dass wir die Qualität des Bundestages nicht nur an seiner
Größe messen dürfen.
Ich glaube, dass wir immer noch selbstbewusst sagen
können: Gemessen an der Bevölkerungszahl werden wir
das zweitkleinste Parlament in der Europäischen Union
bleiben. Aus dem Grunde bin ich gespannt auf die Bera-
tungen.
Herr Kollege.
Ich komme zum Ende. – Wir werden in den Beratun-
gen mögliche Verfeinerungen noch einmal diskutieren.
Im Kern haben wir einen guten Entwurf dank der guten
Mithilfe des Bundesinnenministeriums. Dafür vielen
Dank!
Für die Geduld der Präsidentin bedanke ich mich
auch.
Ich habe gar keine Geduld. Das verstehen Sie ganz
falsch.
Für die SPD-Fraktion hat das Wort der Kollege
Dr. Dieter Wiefelspütz.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Wahlrecht ist Wettbewerbsrecht in der Demokratie
und deshalb von überragender Bedeutung. Unser Wahl-
recht hat der Sache nach Verfassungsrang. Auch wenn
wir heute wichtige Änderungen besprechen, will ich
doch hervorheben, dass wir mit unserem Wahlrecht seit
1949 ganz hervorragende Erfahrungen gemacht haben,
auch in der Umsetzung. Wir haben seit 1949 immer ver-
fassungskonforme Bundestagswahlen erleben dürfen.
Sie sind auch im Detail, im operativen Durchführen der
Wahlen geradezu perfektionistisch umgesetzt worden.
Das ist uns gleichsam selbstverständlich geworden.
Viele erwarten das. Wenn man sich aber in der Welt um-
schaut, ist es das nicht. Mich hat in den letzten Wochen
und Monaten interessiert, wie der amerikanische Präsi-
dent gewählt wird. Ich war neugierig.
Es ist das reine Chaos, was rechtlich und technisch in
den USA läuft.
Man muss aber gar nicht so weit weg schauen. Ich
will das auf den europäischen Kontext beziehen. Herr
Oppermann hat das mit der 5-Prozent-Klausel angedeu-
tet. Ich finde, die Art und Weise, wie wir unser Europäi-
sches Parlament in der Europäischen Union wählen,
hoch bedenkenswert und problematisch. „One man, one
vote“ gilt in Europa nicht. Das ist ein riesiges Legitima-
tionsproblem. Darüber muss man, glaube ich, auch in
Deutschland sehr viel mehr reden.
Aber das ist jetzt nicht unbedingt unser Thema. Ich
will nur sagen: Man sollte heute auch die Tatsache her-
vorheben, dass wir hier in Deutschland ein ganz vorzüg-
liches Wahlrecht haben, das große Vorzüge hat und ein
wesentlicher Teil unserer politischen Kultur geworden
ist. Das ist eine große Leistung in unserem Land.
Gleichwohl haben wir in den letzten Jahren Probleme
an diesem Wahlrecht erkannt. Wir sind heute Morgen
hier zusammengekommen, um diese Probleme zu behe-
ben. Das erste Problem – das kann ich Ihnen nicht erspa-
ren – heißt: CDU/CSU und FDP.
– Wir haben drei Probleme. Das erste Problem sind Sie.
Wir können ja alle bis drei zählen, ich komme schon
noch dahin. Sie sind deshalb das Problem, weil Sie so
vermessen gewesen sind, zu glauben, Sie könnten alleine
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26521
Dr. Dieter Wiefelspütz
(C)
(B)
ein Wahlrecht auf den Weg bringen – ohne SPD, ohne
Bündnisgrüne, ohne Linkspartei.
Das ist ein unglaublicher Vorfall.
Da haben Sie die Sache so richtig vor die Wand gefah-
ren. Ich räume aber ein, unter Menschen und unter Par-
teien gilt: Jeder hat eine zweite Chance
oder auch eine dritte Chance. Hier will ich freimütig sa-
gen: Diese zweite oder dritte Chance – Sie Besserwisser,
Herr Wieland – haben Sie genutzt.
Wahlrecht geht nur gemeinsam. Auch das ist eine wich-
tige Botschaft.
Das zweite Problem ist das negative Stimmgewicht.
Das dritte Problem sind die Überhangmandate.
– Lieber Herr Wieland, es ist kurz vor Weihnachten, ich
freue mich auf eine Frage von Ihnen.
Herr Wieland, Sie möchten eine Zwischenfrage stel-
len. Bitte schön.
Frau Präsidentin, schön, dass Sie sowohl Geduld wie
auch Aufmerksamkeit für das Plenum haben. – Herr
Kollege Wiefelspütz, wieso nennen Sie mich einen Bes-
serwisser, wo Sie doch wissen, dass meine Hauptkritik
an dem gefundenen Kompromiss der Schönheitsfehler
ist, dass dieser Kompromiss nicht heißt: „Wiefelspütz II/
Pukelsheim III“? Das wäre doch sprachlich nicht zu top-
pen gewesen und jedem Grundschüler eingängig.
Lieber Kollege Wieland, wir sind dabei, ein nach mei-
ner Einschätzung ganz ordentliches Wahlrecht zu verab-
schieden, wobei der Begriff „Kompromiss“ diesen Na-
men auch verdient. Kompromisse haben bei uns ja nicht
immer einen guten Ruf, auch das ist hier schon angedeu-
tet worden. Aber das Ergebnis ist wirklich brauchbar, so-
lide, vor allen Dingen auch verfassungskonform, fair
und gerecht. Es wird von allen getragen.
Sprachlich ist das Ganze jedoch ganz schwierig und
kaum zu verstehen.
– Die Sprache ist schon schlimm genug; wenn man
sich jetzt aber vorstellt, es hieße „Wiefelspütz II/
Pukelsheim III“ – das wäre ein Anschlag auf die deut-
sche Sprache, lieber Herr Wieland. Davon kann ich nur
dringend abraten.
Sie verschlechtern dieses wunderbare Ergebnis, über das
wir heute reden, nachhaltig.
Wir hatten die Aufgabe, negatives Stimmgewicht zu
beseitigen und Überhangmandate zu neutralisieren. Das
ist gelungen. Da will ich freimütig sagen: Das ist eine
Leistung aller. Wir haben fair beraten, jedenfalls im
zweiten und dritten Anlauf, und zwar in einer guten
Atmosphäre.
Kompromisse haben in Deutschland leider nicht im-
mer einen guten Ruf. Das ist ganz falsch. Auch in der
veröffentlichten Meinung gab es den einen oder anderen
kritischen Hinweis. Da schlägt sich sehr häufig Besser-
wisserei nieder. Diejenigen, die glauben, wir könnten
hier ein Patentrezept vorlegen, verkennen, dass wir einen
Kompromiss finden müssen, der von allen getragen
wird.
Natürlich gibt es zu dem Modell, das wir gefunden
haben, Alternativen. Einige davon sind angesprochen
worden, gar nicht einmal abschließend. Entscheidend ist
aber, dass man sich zusammensetzen und eine breite
Mehrheit erreichen muss. Das können die Kritiker nicht
– das ist kein Vorwurf –, sondern das müssen wir hier
leisten. Wir haben es aber auch geleistet.
Das Ergebnis lässt sich sehen. Wir werden mit einem
verfassungsgemäßen Wahlrecht in die nächste Bundes-
tagswahl hineingehen. Das kann man von uns erwarten
und verlangen. Das haben wir geleistet, auch wenn es im
zweiten oder dritten Anlauf war. Insgesamt gesehen kön-
nen wir eine zufriedenstellende Lösung vorlegen. Diese
Lösung wollen wir gerne verteidigen bzw. im Einzelnen
auch noch sprachlich verbessern; das ist angedeutet wor-
den.
Eines sollte uns allen aber auch klar sein – das will
ich zum Schluss noch sagen –: Es gibt kein perfektes
Wahlrecht und wird auch kein perfektes Wahlrecht ge-
ben. Bei uns in Deutschland hat es sich entwickelt: mit
zwei Stimmen, mit Listen und Direktmandaten. Jedes
Wahlrecht kann an der einen oder anderen Stelle wegen
mathematischer Besonderheiten Fallstricke enthalten
und zu Problemen führen. Deswegen wird das Wahlrecht
weiterhin beobachtet werden müssen – nicht, um es in ir-
gendeiner Weise zu manipulieren. Das Problem bei dem
Wahlrecht, das wir voraussichtlich Ende des nächsten
Monats verabschieden werden, besteht darin, dass sich
der Bundestag unter Umständen vergrößern wird, und
zwar in einem Umfang, den wir alle nicht wollen. Des-
26522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Dieter Wiefelspütz
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wegen muss man dieses Wahlrecht weiterhin beobach-
ten.
Ich hoffe, dass sich die Vergrößerung des Bundesta-
ges in Grenzen halten wird. Niemand im Hause will ei-
nen Deutschen Bundestag mit 800 oder 850 Sitzen. Ich
halte es auch nicht für sehr wahrscheinlich, dass es dazu
kommen wird. Aber 20, 30 oder 40 Sitze mehr, das ist
durchaus im denkbaren Bereich. Das halten wir aller-
dings insgesamt gesehen – das darf ich sagen – für ver-
tretbar. Wenn ich alles rundherum abwäge und auch die
Tatsache berücksichtige, dass wir ein verfassungskonfor-
mes, faires und wettbewerbsgerechtes Wahlrecht haben,
dann kann ich feststellen, dass wir zwar keinen Grund
zur Selbstzufriedenheit haben, aber dass heute eine or-
dentliche Arbeit vorgelegt worden ist. Es lohnt sich aber
auch, den Gesetzentwurf noch weiter zu beraten und zu
verbessern.
Insgesamt möchte ich mich für meine Fraktion bei al-
len Beteiligten sehr herzlich bedanken. Alle haben an ei-
nem Tisch gesessen – auch die Linke, was ich für richtig
halte. Die Bandbreite der Diskussionen war groß, und
der Kompromiss war schnell gefunden und überzeu-
gend. Insoweit hat der Deutsche Bundestag gezeigt, was
er zu leisten imstande ist, wenn er muss. Wenn wir alle
bereit sind, nicht nur an unsere eigenen Interessen zu
denken – auch wenn es legitim ist, dass die Parteien an
ihre Interessen denken –,
Herr Kollege!
– sondern auch die jeweiligen Interessen der anderen
und vielleicht auch noch die Interessen des Gemeinwe-
sens zu beachten und zur Kenntnis zu nehmen, dann
kommt dabei etwas Vernünftiges heraus. Deswegen,
glaube ich, kann man mit diesem Ergebnis wirklich gut
leben.
Schönen Dank fürs Zuhören.
Der Kollege Jörg van Essen hat jetzt das Wort für die
FDP-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich bin dem Kollegen Wiefelspütz dankbar, dass er da-
rauf hingewiesen hat, welch gutes Wahlrecht wir in
Deutschland haben. Ich glaube, es gibt kaum ein faireres
Wahlrecht als das, was wir seit 1949 in der Bundesrepu-
blik Deutschland haben. Es ist auch überhaupt kein
Wunder, dass dieses Wahlrecht für viele der neuen De-
mokratien, nachdem die Diktaturen in den Ländern im
Osten von den Bürgern abgewählt worden waren, Mo-
dell war. Dass das so ist, ehrt uns.
Trotzdem ist unser Wahlrecht auch ein kompliziertes
Wahlrecht. Die Fairness ist einem Mischsystem – Mehr-
heitsentscheidungen im Wahlkreis, das Verhältnismäßig-
keitsprinzip auf Bundesebene – geschuldet. Deshalb gibt
es immer wieder Friktionen zwischen den verschiedenen
Prinzipien. Ich glaube, dass wir gut beraten sind, diese
Friktionen hinzunehmen und bestimmte Bereiche, bei-
spielsweise das negative Stimmgewicht, das wir jetzt
hatten, nicht überzubetonen. Solche Probleme gibt es
immer, aber solange die Gesamtarchitektur stimmt,
glaube ich, sind wir gut beraten, es bei dieser Gesamt-
architektur zu belassen.
Die Beratungen haben gezeigt, dass es eine hochex-
plosive Mischung ist, wenn Rechtswissenschaft auf Ma-
thematik trifft.
Als Jurist, der einen Mathematiker zum Bruder hat, er-
lebe ich das auch im privaten Bereich.
Das Ergebnis ist dann leider ein Text – der Kollege Beck
hat es angesprochen –, der für viele schwer verständlich
ist. Ich gebe zu: Ich gehöre auch dazu. Aber anders ist es
nicht zu schaffen. Das macht einen Teil der Probleme
deutlich, unter denen wir bei unserer Arbeit zu leiden
hatten.
Dass es aber den Mathematikern im Übrigen nicht an-
ders geht, sehen wir im Zusammenhang mit dem Begriff
„Pukelsheim III“, der mehrfach hier in der Debatte er-
wähnt worden ist. Für diejenigen, die nicht so im Thema
sind wie wir, muss man es vielleicht erklären: Professor
Pukelsheim ist ein Mathematikprofessor, der sich insbe-
sondere mit den Fragen des Wahlrechts befasst.
– So genau kenne ich ihn nicht, als dass ich das beurtei-
len könnte, Herr Wiefelspütz. Aber die Tatsache, dass
auch er als besonderer Spezialist im Wahlrecht offen-
sichtlich drei Anläufe brauchte – Pukelsheim III ist das
dritte Modell –,
macht deutlich, dass es offensichtlich selbst für die Spe-
zialisten in der Mathematik eine schwierige Thematik
ist.
Ich würde gerne insbesondere einen Aspekt anspre-
chen, nämlich die Größe des Bundestages. Es war inte-
ressant, dass die zu erwartende Größe des Bundestages
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26523
Jörg van Essen
(C)
(B)
ein besonderer Kritikpunkt war, als die Fraktionen ihre
Einigung verkündet hatten. Selbst solch dümmliche Be-
merkungen wie jene, dass der Bundestag dann das zweit-
größte Parlament der Welt nach dem chinesischen Volks-
kongress sei, wurden veröffentlicht.
– Vom Bund der Steuerzahler, wenn ich mich recht ent-
sinne, Frau Künast.
Es ist natürlich schlichter Unsinn.
– Nein, Herr Wiefelspütz. Sie haben geredet; das hätten
Sie dann vortragen können.
Schauen wir uns die Größe benachbarter Parlamente
an. Frankreich, Italien und Großbritannien haben etwa
ein Viertel weniger Einwohner als wir; sie alle haben
circa 60 Millionen Einwohner. Das französische Parla-
ment hat 577 Abgeordnete, das italienische Parlament
hat 630 Abgeordnete, also 32 Abgeordnete mehr als wir
bei einem Viertel weniger Bürgern, und das englische
Parlament hat 650 Abgeordnete, also erheblich mehr als
wir. Wenn man nach Osten schaut, sieht man: Polen hat
etwa die Hälfte unserer Einwohnerzahl und 460 Abge-
ordnete.
All das macht deutlich: Der Bundestag ist eines der
kleinsten Parlamente. Ich halte das auch für gut so; es ist
unser gemeinsamer Wille, dass wir es so halten. Aber in-
sofern kann eine maßvolle Vergrößerung des Bundesta-
ges, wie ich finde, hingenommen werden. Selbst bei
671 Abgeordneten – das ist eine Zahl, die aus einer
Hochrechnung herrührt – wäre unser Parlament noch er-
heblich kleiner als all die Parlamente in den großen
Nachbarstaaten um uns herum. Ich weise darauf hin: De-
mokratie kostet auch Geld. Alle Erfahrung in der Ge-
schichte zeigt, dass Nichtdemokratie für den Bürger am
teuersten kommt. Ich finde also, dass eine vernünftige
Größe des Parlaments zu einer Demokratie dazugehört.
Ich würde gerne eine letzte Bemerkung machen. Wir
haben als Koalition die Kritik des Bundesverfassungsge-
richts zu hören bekommen – die Kritik betraf nicht alle;
wir waren als Koalition dafür verantwortlich –, dass es
beim ersten Versuch zu lange gedauert hat. Diese Kritik
war berechtigt, und sie wird von uns akzeptiert. Aber ich
bin dem Kollegen Krings dankbar, dass er deutlich
macht: Es darf auch Kritik in umgekehrte Richtung ge-
ben. Das, was wir in dem Urteil zur Möglichkeit von
„etwa 15“ Überhangmandaten lesen konnten, ist etwas,
das man sich in einem Urteil des Bundesverfassungsge-
richts nicht wünscht.
Auch sonst muss ich selbst nach mehrfacher Lektüre die-
ses Urteils des Bundesverfassungsgerichtes sagen: Ich
kann mich daran erinnern, dass es Urteile gab, die sich
mir besser erschlossen haben als dieses.
Nichtsdestotrotz: Das Wahlrecht ist eines der Kern-
rechte in einer Demokratie. Deshalb ist das Signal, das
wir heute senden: Vier Fraktionen haben sich auf ein
neues Modell geeinigt. Es ist ein ausgesprochen gutes
Modell. Es ist eine gute Nachricht für unser Land, dass
es möglich wurde; darüber freue ich mich ganz außeror-
dentlich. Deshalb danke ich für die wirklich guten Bera-
tungen, die wir zwischen allen Fraktionen geführt haben.
Ganz herzlichen Dank.
Wolfgang Wieland hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Wir sind
ja nun in der Weihnachtszeit, der Zeit des Schenkens.
Manchmal sagt man als Beschenkter: Das Geschenk
wäre doch wirklich nicht nötig gewesen. So geht es mir
mit dem Beschluss des Zweiten Senats des Bundesver-
fassungsgerichtes zu den Auslandsdeutschen vom Juli
dieses Jahres, über den wir hier reden müssen. Da war
die sogenannte kleine Runde der Innenpolitiker sehr
schnell, noch schneller als die große Runde, auch dank
der straffen Führung des Kollegen Grindel; so selten ich
ihn loben kann, so wenig will ich die Gelegenheit jetzt
verpassen.
Der Kollege Oppermann und ich sind beide wohler-
zogen,
deswegen kritisieren wir das Bundesverfassungsgericht
nicht so scharf. Ich will es daher mit den Worten des
Minderheitenvotums von Frau Lübbe-Wolff machen.
Sie hat geschrieben:
Sollten die am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten
– das sind wir –
gemeint haben, dass man sich an ständiger Recht-
sprechung des Bundesverfassungsgerichtes zumin-
dest dann gefahrlos orientieren kann,
wenn nichts dafür ersichtlich ist, dass sie innerhalb
des Gerichts jemals umstritten gewesen wäre, muss
der vorliegende Beschluss sie überraschen.
Er hat überrascht.
26524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Wolfgang Wieland
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Ohne jede Vorwarnung wurde ein Wahlrecht, das es im
Grunde während der gesamten Nachkriegszeit gab, nun-
mehr für verfassungswidrig erklärt, und uns wurde ein
Problem beschert. Das muss man so sagen. Ob wir es gut
gelöst haben, werden wir sehen. Die Lösung war relativ
simpel: Wir nehmen den Text dieser Entscheidung und
schreiben ihn wörtlich in einen Gesetzentwurf nach dem
Motto „Sie werden sich das nächste Mal nicht selber für
verfassungswidrig erklären“.
Das ist logisch, beschert den Beschwerdeführerinnen
aber Steine statt Brot.
Die Beschwerdeführerinnen waren zwei in Belgien
lebende Deutsche, die noch nie in Deutschland gelebt
hatten und fragten: Warum macht ihr diese schematische
Dreimonatsfrist? Wir sind Deutsche, wir orientieren uns
– heute ja kein Problem über die neuen Medien – nach
Deutschland, wir wollen wählen, also das allgemeine
Wahlrecht im Sinne eines Wahlrechts für alle Deutschen. –
Dem kann man durchaus nahetreten.
Wir sind heute angesichts von Wahlbeteiligungen von
teilweise unter 50 Prozent dankbar für jede Wählerin, für
jeden Wähler. Egal ob Biodeutscher, Beutedeutscher
oder Namibiadeutscher, der immer noch glaubt, dass es
noch einen Kaiser gibt:
Wer Deutscher ist, soll wählen können.
– Ich sehe, der Gedanke belebt. Mir ist selbst ein Wähler
von Dieter Wiefelspütz lieber als ein Nichtwähler. So
weit gehe ich.
Aber auch diese Möglichkeit hat das Gericht wohl
versperrt. Es wird ausgeführt – ich zitiere –:
Danach ist die Möglichkeit, eine reflektierte Wahl-
entscheidung zu treffen, für die Wahlteilnahme un-
abdingbar. Hieran fehlt es bei mangelnder Vertraut-
heit mit den Verhältnissen in Deutschland.
Ein bisschen Vertrautheit muss sein. Wir müssen das
Kunststück vollbringen, aus dem Grundgedanken des
Gerichts – eigentlich sollten alle Deutschen wählen kön-
nen, aber ein bisschen müssen sie mit Deutschland schon
vertraut sein – einen Paragrafen zu machen.
Unser Vorschlag ist, was Normenunklarheit angeht,
nicht zu übertreffen, das muss man deutlich sagen.
„Aus anderen Gründen“ vertraut, ohne irgendein Bei-
spiel – das ist schwierig. Die Alternative wäre eine
elende Kasuistik mit Typgruppen: Pendler oder wer das
alles sein kann. Die schwierige Frage, die Frau Lübbe-
Wolff aufwirft, ob die Zugehörigkeit zu einem Karne-
valsverein ausreichen würde, wollten wir im Gesetzes-
text nicht beantworten.
Dafür gibt es gute Argumente. Ich als Preuße sehe gute
Argumente dafür, dass man das reichen lässt. Für viele
Kollegen hier ist das der eigentliche Lebensinhalt.
Aber auch wir konnten nicht jede Streitfrage klären.
Herr Kollege.
Frau Präsidentin, das ist mein letzter Satz. – Deswe-
gen haben wir klugerweise gesagt: Wir bitten die Sach-
verständigen, uns in der Anhörung bessere Formulierun-
gen vorzuschlagen. Wir konnten nicht mehr leisten als
das, was Ihnen vorliegt.
Vielen Dank.
Der Kollege Stephan Mayer hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnen!
Sehr geehrte Kollegen! Wir debattieren heute über das
vielleicht wichtigste Gesetz für die Arbeit des Deutschen
Bundestages, weil es für unsere Arbeit konstitutiv ist.
Manche zählen es zum materiellen Verfassungsrecht. Es
geht um das Bundeswahlgesetz.
Wir setzen das Urteil des Bundesverfassungsgerichts
vom 25. Juli dieses Jahres um, das – mit Verlaub; das ist
schon mehrere Male gesagt worden – nicht einfach um-
zusetzen und in der einen oder anderen Hinsicht durch-
aus auch etwas schwer nachzuvollziehen ist. Dieser ge-
lungene Kompromiss vermeidet das Phänomen des
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26525
Stephan Mayer
(C)
(B)
negativen Stimmgewichts. Das ist ein ganz wichtiger
Aspekt. Der zweite wichtige Aspekt ist, dass es uns ge-
lungen ist, die Wirkung von Überhangmandaten unter
Inkaufnahme von Ausgleichsmandaten und einer mögli-
chen deutlichen Erweiterung des Bundestages zu beseiti-
gen.
In der ersten Stufe der Verteilung der Bundestagssitze
– das wird auch in Zukunft so sein – erfolgt eine länder-
weise Verteilung der Sitze auf die Landeslisten. Verbin-
dungen von Listen werden in Zukunft ausgeschlossen
sein. In der zweiten Stufe erfolgt dann zur Vermeidung
von Überhangmandaten eine Erhöhung der Gesamtzahl
der Sitze im Bundestag, und zwar so weit, bis bei einer
anschließenden bundesweiten Oberverteilung auf die
Parteien und einer Unterverteilung auf die Landeslisten
alle Wahlkreismandate auf Zweitstimmenmandate der
Parteien angerechnet werden können.
Es kommt zu einer deutlichen Erweiterung des § 6
des Bundeswahlgesetzes. Das ist unter den Gesichts-
punkten der Verständlichkeit, der Normenklarheit und
der leichten Lesbarkeit des Gesetzes mit Sicherheit nicht
schön. Der Gesetzentwurf stellt aber einen Kompromiss
dar. Diesbezüglich halte ich es mit dem früheren US-Au-
ßenminister und Nobelpreisträger Henry Kissinger, der
gesagt hat:
Ein Kompromiss ist nur dann gerecht, brauchbar
und dauerhaft, wenn beide Parteien damit unzufrie-
den sind.
Meine Unzufriedenheit bezieht sich vor allem darauf,
dass ich durchaus die Gefahr sehe, dass es mit der nächs-
ten Bundestagswahl zu einer deutlichen Vergrößerung
des Deutschen Bundestages kommt. Ich glaube, auch
diesbezüglich sollten wir einen Blick über die Landes-
grenzen werfen – das ist schon angesprochen worden –:
Ein Vergleich der nationalen Parlamente in Europa
macht deutlich, dass der Deutsche Bundestag selbst bei
einer Erhöhung der Mandatszahl um 100 im Vergleich
zur Bevölkerungszahl immer noch das zweitkleinste Par-
lament in der Europäischen Union nach dem spanischen
Parlament wäre. Ich glaube, wenn man einen solchen
Vergleich bezogen auf die Bevölkerungszahl anstellt,
kommt man sehr wohl zu dem Schluss, dass es noch ak-
zeptabel ist, dass nach dem jetzt zur Debatte stehenden
Bundeswahlrecht eine Vergrößerung des Bundestages
ansteht.
Ich möchte aber schon zu bedenken geben, dass ir-
gendwann einmal die Grenze der Arbeitsfähigkeit eines
Parlaments erreicht ist. Wenn man irgendwann einmal
über 700 oder 750 Abgeordnete zählen würde, dann
wäre es unabhängig vom Vergleich mit der Bevölke-
rungszahl schwierig, das Parlament arbeitsfähig zu hal-
ten.
Demokratie kostet Geld. Auch diesbezüglich kann
man einen interessanten Vergleich anstellen: Wie viel
kostet eigentlich der Deutsche Bundestag? Wie viel kos-
ten wir Parlamentarier, unsere Mitarbeiter, die Mitarbei-
ter des Deutschen Bundestages, alles drum herum? Dies
kostet einen Bundesbürger im Jahr einen einstelligen
Euro-Betrag. Es ist ganz interessant, auch für die Dis-
kussion mit der Bevölkerung, dass das Parlament nicht
so teuer ist, wie viele glauben. Demokratie kostet nun
einmal Geld. Jede andere Staatsform wäre für Deutsch-
land und für die Deutschen mit Sicherheit weitaus teurer.
Ich bin sehr froh darüber, dass sich die Grünen mit ih-
rer kruden Idee, dass einem direkt Gewählten das Man-
dat zu entziehen ist, wenn in dem Bundesland Überhang-
mandate anfallen würden, nicht durchsetzen konnten.
Lieber Herr Kollege Wieland, so kann nur eine Partei ar-
gumentieren,
die nicht Gefahr läuft, außerhalb von Berlin überhaupt
Direktmandate zu gewinnen.
Es ist nun einmal aufgrund unseres personalisierten Ver-
hältniswahlrechts so,
dass die Verbindung zwischen dem direkt gewählten
Wahlkreisbewerber und den Bürgerinnen und Bürgern in
seinem Wahlkreis ganz wichtig ist. Ihre Herangehens-
weise und Ihre Sichtweise lassen wirklich tief blicken,
wenn Sie sagen – ganz perfide –: Der Wahlkreisbewer-
ber hat dann sein Mandat gar nicht gewonnen, deswegen
muss es ihm gar nicht entzogen werden.
Was ist denn das für eine Denkweise, zu meinen, dass
ein direkt gewählter Abgeordneter, unabhängig davon,
mit welchem Prozentsatz er gewonnen hat, sein Mandat
nicht errungen hat und nicht in den Deutschen Bundes-
tag einziehen darf?
Ich glaube, das ist eine Verhöhnung des Wählerwillens.
Das möchte ich an dieser Stelle deutlich sagen.
Es ist schade, dass sich die Linken dem Kompromiss,
der jetzt gefunden wurde, nicht anschließen konnten.
Der Gesetzentwurf, der von den Linken vorgelegt wird,
würde zwar eine Vergrößerung des Bundestages ver-
26526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Stephan Mayer
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(B)
meiden, was durchaus – das möchte ich betonen – ein er-
strebenswertes Ziel ist, aber dies würde mit deutlichen
föderalen Verzerrungen und entsprechenden Wechsel-
wirkungen zwischen den Landeslisten einhergehen.
Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen von den
Linken, bei Ihrem Gesetzentwurf besteht die konkrete
Gefahr, dass es zu einer deutlichen Überrepräsentanz
von Abgeordneten einer Partei in bestimmten Bundes-
ländern kommt und gleichzeitig zu einer deutlichen Un-
terrepräsentanz von Abgeordneten derselben Partei in
anderen Bundesländern.
Ich glaube, das würde auch dem Wunsch, dass es im
Deutschen Bundestag eine möglichst ausgewogene Re-
präsentanz der Bundesländer gibt, nicht genügen.
Sie bringen auch wieder – steter Tropfen höhlt den
Stein – die Idee, die 5-Prozent-Klausel abzuschaffen, in
Ihren Gesetzentwurf ein. Das fordern Sie nicht zum ers-
ten Mal. Ich glaube, Ihnen sitzt die Angst vor der anste-
henden Bundestagswahl im Nacken. Wir werden auch
diesem Wunsch wieder eine deutliche Absage erteilen.
Es wurde schon erwähnt: Wir setzen mit diesem Ge-
setzentwurf auch den Beschluss des Bundesverfassungs-
gerichts vom 4. Juli dieses Jahres hinsichtlich des akti-
ven Wahlrechts von Auslandsdeutschen um. Hier ist es
wichtig, dass wir für im Ausland lebende Deutsche eine
Möglichkeit schaffen, an Bundestagswahlen teilzuneh-
men. Der Gesetzentwurf enthält die Konkretisierung,
dass man über 14 gewesen sein und ununterbrochen
mindestens drei Monate in Deutschland gelebt haben
muss. Dieser Zeitraum darf auch nicht mehr als 25 Jahre
zurückliegen. Die Alternative ist, dass man persönlich
oder unmittelbar mit dem politischen Geschehen in der
Bundesrepublik Deutschland vertraut ist. Ich glaube,
dass es mit dieser offenen Formulierung möglich ist,
dass die Deutschen, die im Ausland leben und an der
Bundestagswahl teilnehmen wollen, dies auch in Zu-
kunft tun können.
Kein Kompromiss ist perfekt. Aber, ich glaube, mit
diesem Kompromiss, den vier Fraktionen heute vorle-
gen, wird eine solide, eine rechtmäßige und vor allem
eine verfassungsgemäße Grundlage für die Durchfüh-
rung der nächsten Bundestagswahlen geschaffen. Ich
möchte vermuten, dass dieses Bundeswahlrecht nur ein-
mal zur Anwendung kommen wird. Wahrscheinlich wird
es im Laufe der nächsten Wahlperiode wieder zu einer
Novellierung des Bundeswahlrechtes kommen. Das ist
nun einmal so. Das Bundeswahlrecht ist nicht starr, ist
nicht fix, ist nicht apodiktisch, es unterliegt natürlich ei-
nem steten Wandel.
In diesem Sinne sollten wir die weiteren Beratungen
sehr stringent angehen. Die Anhörung zu den Gesetzent-
würfen ist für den 14. Januar 2013 geplant. Ich hoffe,
dass es in den Wochen danach zu einer Verabschiedung
unseres Gesetzentwurfes kommen wird.
Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich freue mich jetzt sehr, als zweiter Frau in dieser
Debatte Gabriele Fograscher für die SPD-Fraktion das
Wort zu geben.
Vielen Dank. – Frau Präsidentin! Verehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Das Wahlrecht ist der Grundpfeiler
unserer Demokratie, und es ist die Legitimation jedes
einzelnen Abgeordneten hier im Hause.
Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages wer-
den in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher
und geheimer Wahl gewählt. Sie sind Vertreter des
ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht
gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen.
So heißt es in Art. 38 Abs. 1 Grundgesetz.
Der Parlamentarische Rat konnte sich 1949 nicht auf
eine Festschreibung des Wahlsystems im Grundgesetz
verständigen. So wurde das erste Bundeswahlgesetz zu-
nächst von den Ministerpräsidenten der Länder erlassen.
Zur Bundestagswahl 1953 wurde erstmals nach einem
vom Bundestag selbst erlassenen Gesetz gewählt; nach
diesem Gesetz hatten die Wählerinnen und Wähler eine
Stimme. Zur Bundestagswahl 1957 wurde dann die
Zweitstimme eingeführt. Das bis zur Bundestagswahl
2009 gültige Wahlrecht entsprach im Wesentlichen dem
Wahlrecht von 1957. Seitdem gab es die Wahl mit ver-
bundenen Landeslisten, das heißt, das Auftreten des ne-
gativen Stimmgewichts war möglich. Der Effekt des ne-
gativen Stimmgewichts wurde 2005 bei der Nachwahl in
einem Wahlkreis in Dresden offensichtlich. Dies war der
Grund, weshalb das Bundesverfassungsgericht dieses
Wahlrecht 2008 in Teilen für verfassungswidrig erklärte.
Es sah den Grundsatz der Gleichheit der Wahl verletzt.
Die Lösung dieses Problems haben Sie von den Ko-
alitionsfraktionen zunächst im Alleingang versucht.
Sie sind damit in Karlsruhe gescheitert. Wir begrüßen es,
dass Sie jetzt wieder zu der guten Tradition zurückge-
kehrt sind, das Wahlrecht auf der Grundlage einer brei-
ten Mehrheit in diesem Hause zu erarbeiten, einzubrin-
gen und zu verabschieden.
Was soll das neue Wahlrecht leisten? Die Gleichheit
der Stimmen soll hergestellt werden. Dafür muss das ne-
gative Stimmgewicht beseitigt werden. Die einfachste
Lösung wäre, vom Zwei-Stimmen-Prinzip Abstand zu
nehmen. Das wollen wir aber nicht; denn im Grundsatz
hat sich das Wahlrecht seit 1957 bewährt.
Stattdessen geben wir das bisher gültige Prinzip der
verbundenen Landeslisten auf. Dies war ein Vorschlag
der Regierungsfraktionen. Wir wollen, dass sich das
Zweitstimmenverhältnis der Parteien in der Sitzvertei-
lung im Bundestag widerspiegelt. Überhangmandate
verzerren dieses Verhältnis. Deshalb werden in Zukunft
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26527
Gabriele Fograscher
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alle Überhangmandate ausgeglichen. Dies entspricht
dem Vorschlag, den wir als SPD-Bundestagsfraktion be-
reits eingebracht haben.
Dies könnte – das ist mehrfach erwähnt worden – zu ei-
ner Vergrößerung des Bundestages führen. Deshalb wer-
den wir die Entwicklung beobachten und gegebenenfalls
reagieren müssen.
Wir wollen den Länderproporz erhalten. Bei der letz-
ten Bundestagswahl hat die CDU in Baden-Württemberg
zehn Überhangmandate errungen. Damit war Baden-
Württemberg im Bundestag im Verhältnis zu den ande-
ren Bundesländern überrepräsentiert. Deshalb wollen
wir in Zukunft einen bundesweiten Ausgleich von Über-
hangmandaten.
Der Gesetzentwurf der Linken löst zwar das Problem
des negativen Stimmgewichts, der Überhangmandate
und der Größe des Bundestages, führt allerdings zu einer
erheblichen Verzerrung der Länderverhältnisse. Deshalb
erhält er nicht unsere Zustimmung.
Wir wollen nicht, dass sich die Fraktionsstärken und
somit die Mehrheitsverhältnisse durch das Ausscheiden
von Abgeordneten während der Wahlperiode ändern
können. Durch den Ausgleich der Überhangmandate
sind jetzt alle Mandate mit Zweitstimmen unterlegt, so-
dass frei werdende Sitze durch Nachrücker von der je-
weiligen Landesliste nachbesetzt werden können.
Der Innenausschuss wird – auch das wurde schon er-
wähnt – am 14. Januar 2013 eine Anhörung durchfüh-
ren, um noch offene Fragen zu klären. Unbefriedigend
bleibt nach wie vor die schwer zu verstehende Fassung
des § 6 Bundeswahlgesetz. Auch das Bundesverfas-
sungsgericht hat die fehlende Normenklarheit bereits be-
anstandet. Hier erwarten wir noch Anregungen von den
Sachverständigen.
Gegenstand der Anhörung wird auch die ebenfalls
vom Bundesverfassungsgericht beanstandete Regelung
des Wahlrechts für Auslandsdeutsche sein. Die jetzt vor-
geschlagene Formulierung entspricht zwar der Urteilsbe-
gründung des Bundesverfassungsgerichts, scheint uns
aber zu unbestimmt und zu interpretierbar. Deshalb wer-
den wir versuchen, mithilfe der Sachverständigen eine
bessere Formulierung zu finden.
Ein Thema, das wir nicht aus den Augen verlieren
wollen, das heute in der Debatte aber wenig angespro-
chen wurde, ist der Ausschluss vom Wahlrecht, in § 13
Bundeswahlgesetz geregelt. Im Lichte der UN-Behin-
dertenrechtskonvention müssen wir die Anregungen und
Bitten von Behindertenverbänden, die ein inklusives
Wahlrecht fordern, sehr ernst nehmen. Mit der Ratifizie-
rung der UN-Behindertenrechtskonvention haben wir
die Pflicht, gleiche Bürgerrechte für Menschen mit Be-
hinderung konsequent umzusetzen. Barrierefreiheit, ein-
fache Sprache und eine Möglichkeit für Analphabeten
sind wichtige Voraussetzungen für die demokratische
Teilhabe von Menschen mit Handicaps. Deshalb bitte
ich Sie von der Regierungskoalition, darüber mit uns
noch einmal ins Gespräch zu kommen, um das im Sinne
der vielen Betroffenen zu regeln.
Ich freue mich auf die weiteren Beratungen zum
Wahlrecht und danke für die Aufmerksamkeit.
Der Kollege Reinhard Grindel hat jetzt das Wort für
die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Ich bitte um Nachsicht, dass ich nun
als Mann hier spreche und Ihnen sieben freudlose Minu-
ten bereite, aber vielleicht führt mein Vortrag ja dazu,
dass Sie das eine oder andere doch noch freundlich auf-
nehmen. – Ich will mich zum Wahlrecht für Auslands-
deutsche äußern.
Eine Bemerkung vorab: Lieber Kollege Beck, die
Forderung nach weiterer Abschaffung von Direktwahl-
kreisen kann man wirklich nur erheben, wenn man weit,
weit weg von der täglichen Wahlkreisarbeit ist, die direkt
gewählte Abgeordnete, von denen wir in unserer Frak-
tion ja viele haben, leisten. Die Wahlkreise in den neuen
Ländern, aber auch in Flächenländern wie Niedersachen
und Baden-Württemberg sind schon jetzt so groß, dass
man dort kaum flächendeckend Präsenz zeigen kann.
Ihre Forderung würde Bürgerferne und weniger Bürger-
nähe bedeuten. Das ist schon ein erstaunlicher Beitrag
eines grünen Abgeordneten, den Sie hier geleistet haben.
Jetzt aber genug des Streits; denn beim Wahlrecht für
Auslandsdeutsche – das hat der Kollege Wieland hier ja
schon gesagt – sind wir uns alle, bis hin zur Linken, ei-
nig.
Minderheitenvotum von Frau Lübbe-Wolff hin oder
her: Wir müssen uns mit der Entscheidung des Bundes-
verfassungsgerichts auseinandersetzen.
Bisher waren Auslandsdeutsche alleine unter einer
Voraussetzung wahlberechtigt, nämlich dann, wenn sie
sich mindestens drei Monate in ihrem Leben ununterbro-
chen auch tatsächlich in Deutschland aufgehalten haben.
Dieser Regelung lag der Gedanke zugrunde, dass als
wahlberechtigte Bürger nur Deutsche gelten sollen, die
aufgrund eigener Erfahrung mit den politischen Verhält-
nissen in Deutschland vertraut sind.
Eines ist ganz deutlich – auch für die Zukunft –: Al-
lein die Beobachtung des politischen Prozesses vom
Ausland aus unter Zuhilfenahme moderner Kommunika-
tionsmittel reicht nicht aus. Außerdem konnte durch das
26528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Reinhard Grindel
(C)
(B)
sogenannte Sesshaftigkeitserfordernis in der Tat klar de-
finiert werden, an welchem Ort man ins Wählerverzeich-
nis aufgenommen werden muss.
Das Bundesverfassungsgericht hat die Berechtigung
dieser Dreimonatsregel durchaus anerkannt, aber es hat
sich aus Anlass der hier bereits angesprochenen zwei
Wahlprüfungsbeschwerden gegen die ausschließliche
Gültigkeit dieses Prinzips der Sesshaftigkeit gewandt
und gesagt, es gebe erhebliche verfassungsrechtliche Be-
denken, wenn alleine auf diesen Grundsatz abgestellt
wird.
Dazu hat das Bundesverfassungsgericht darauf ver-
wiesen – das gehört auch zu den Änderungen bzw. Er-
gänzungen des Wahlrechts, die wir jetzt vornehmen –,
dass sich eine Vertrautheit mit den politischen Verhält-
nissen schwerlich einstellen kann, wenn der entspre-
chende deutsche Wahlbürger die Dreimonatsfrist zu ei-
nem Zeitpunkt erfüllt hat, als er lediglich Kleinkind
gewesen ist.
Die zweite Personengruppe sind solche Auslands-
deutsche, die die Bundesrepublik schon vor so langer
Zeit verlassen haben, dass die von ihnen erworbenen ei-
genen Erfahrungen in den aktuellen politischen Verhält-
nissen unseres Landes und in der heutigen Realität keine
Entsprechung mehr finden.
Das Bundesverfassungsgericht hat sich dann auch
noch der eben von Herrn Wieland angesprochenen drit-
ten Fallgruppe zugewandt. Dabei handelt es sich um Per-
sonen, die zwar zu keinem Zeitpunkt mindestens drei
Monate lang ununterbrochen in Deutschland ansässig
gewesen sind, jedoch trotzdem mit den politischen Ver-
hältnissen sehr wohl vertraut und von ihnen betroffen
sein können, etwa weil sie als Grenzgänger ihren Beruf
in der Bundesrepublik ausüben oder weil sie durch ihr
Engagement in Vereinen, Parteien oder sonstigen Orga-
nisationen in erheblichem Umfang am politischen Leben
unseres Landes teilnehmen.
Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht
die alte Vorschrift des § 12 Abs. 2 Satz 1 Bundeswahlge-
setz für nichtig erklärt und uns als Gesetzgeber zu einer
entsprechenden Änderung aufgefordert. Wir haben – ich
will das betonen – im großen Einvernehmen aller Frak-
tionen reagiert.
Das Sesshaftigkeitserfordernis von drei Monaten wird
um zwei bedeutsame weitere Erfordernisse ergänzt: Zum
einen muss der mindestens dreimonatige ununterbro-
chene Aufenthalt nach Vollendung des 14. Lebensjahres
erfolgt sein. Zum anderen darf er nicht länger als
25 Jahre zurückliegen.
Mit der Altersgrenze von 14 Jahren nehmen wir im
Interesse der Einheit der Rechtsordnung Bezug auf an-
dere Vorschriften, bei denen man von diesem Alter an
eine für eigenverantwortliche Entscheidungen hinrei-
chende Reife und Einsichtsfähigkeit annimmt. Das be-
trifft den Beginn der Strafmündigkeit und die Religions-
mündigkeit.
Mit der Einführung der Fortzugsfrist von 25 Jahren
wird eine bereits früher im Bundeswahlgesetz einmal
gültige Frist wieder aufgegriffen. Sie erscheint auch des-
halb sinnvoll, weil damit von uns ein Zeitraum erfasst
wird, in den die wohl grundlegendste Änderung der poli-
tischen Verhältnisse in Deutschland, nämlich der Prozess
der Wiedervereinigung, gefallen ist.
Um die Fallkonstellation des der Wahlprüfungsbe-
schwerde zugrundeliegenden Sachverhalts aufzugrei-
fen, haben sich die Fraktionen entschieden, in § 12
Abs. 2 Satz 1 des Bundeswahlgesetzes eine neue Nr. 2
einzuführen, mit der auch demjenigen Auslandsdeut-
schen das Wahlrecht gegeben wird, der aus anderen
Gründen persönlich und unmittelbar Vertrautheit mit den
politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik
Deutschland erworben hat und von ihnen betroffen ist.
Wir können uns das alles in der Anhörung natürlich
noch einmal anschauen. Aber ich finde, es dient der Ei-
nigkeit zwischen den Fraktionen in dieser Frage, wenn
wir mit dieser Formulierung praktisch den Begründungs-
text des Urteils aus Karlsruhe abbilden.
In der Gesetzesbegründung haben wir dann – lieber
Herr Wieland, das haben Sie wahrscheinlich aus Zeit-
gründen nicht mehr erwähnt –
zur Unterstützung unserer Änderung
– wenn wir in einer Debatte zum Asylrecht wären und
das ein Angriff hätte sein sollen, hätte ich gesagt, Sie
hätten das böswillig verschwiegen; aber jetzt bin ich da-
von ausgegangen, dass Sie dazu aus Zeitgründen nichts
haben sagen können –
Tatbestandsvoraussetzungen aufgeführt – das ist in der
Tat in der Sache wichtig –, anhand derer die Wahlämter
vor Ort Gruppen definieren können, bei denen man vom
Vorliegen der Voraussetzungen ausgehen kann, also zum
Beispiel Ortskräfte mit deutscher Staatsangehörigkeit an
Auslandsvertretungen, Mitarbeiter von Entwicklungsor-
ganisationen oder Außenhandelskammern, Abkömm-
linge von deutschen Beamten bei der EU-Kommission,
die im Bundesgebiet tätig sind, Zeitungskorresponden-
ten oder, wie gesagt, die von mir benannten Grenzgän-
ger. Die Tatsachen, die für die Aufnahme in das Wähler-
verzeichnis sprechen sollen, sind glaubhaft zu machen.
Ich will hier ein Thema kurz ansprechen, das uns be-
schäftigt hat, nämlich: In welcher Gemeinde müssen die
Auslandsdeutschen ihren Eintrag ins Wählerverzeichnis
beantragen? Bei denen, die sich schon mehr als drei Mo-
nate in Deutschland aufgehalten haben, kommt als An-
knüpfungspunkt natürlich die letzte Heimatgemeinde in
Betracht. Die Auslandsdeutschen, die noch nie oder zu-
mindest weniger als drei Monate in Deutschland waren,
müssen sich an dem Ort melden – darauf haben wir uns
verständigt –, aus dem sich ihre Betroffenheit von den
politischen Verhältnissen in der Bundesrepublik ergibt.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26529
Reinhard Grindel
(C)
(B)
Das wird in aller Regel der Arbeitsort oder der Ort sein,
an dem das gesellschaftliche Engagement in einer Orga-
nisation stattfindet, auf das auch abgestellt werden kann.
Was wir bewusst nicht gemacht haben, ist, einen Vor-
schlag aufzugreifen, dass wir ein Wahlamt oder eine
Gemeinde sozusagen als Auffangbecken für Auslands-
deutsche benennen, weil dieses dem Grundsatz der Ver-
gleichbarkeit der Größe der Wahlkreise möglicherweise
widersprechen würde. Dies wäre der Fall, wenn man
zum Beispiel sagen würde: Auslandsdeutsche kommen
grundsätzlich in den Wahlkreis Berlin-Mitte.
Ich kann nur sagen: Wenn wir immer so entspannt,
fröhlich und sachlich diskutieren würden, wie das bei
diesem Gesetzentwurf geschehen ist, würden wir in un-
serem Land weiterkommen.
Herzlichen Dank fürs Zuhören.
Vielen Dank für die freudvolle Entspannung, Herr
Grindel.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Gesetzent-
würfe auf den Drucksachen 17/11819, 17/11820 und 17/
11821 an die Ausschüsse vorgeschlagen, die Sie in der
Tagesordnung finden. Gibt es dazu andere Vorschläge? –
Das ist nicht der Fall. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 42 auf:
Beratung der Antwort der Bundesregierung auf
die Große Anfrage der Abgeordneten Yvonne
Ploetz, Matthias W. Birkwald, Diana Golze, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion Die Linke
Alterssicherung und Altersarmut von Frauen
in Deutschland
– Drucksachen 17/9431, 17/11666 –
Hierzu liegt auch ein Entschließungsantrag der Frak-
tion Die Linke vor.
Verabredet ist es, hierzu eineinhalb Stunden zu debat-
tieren. – Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das
so verabredet.
Ich eröffne die Aussprache. Ich gebe das Wort der
Kollegin Yvonne Ploetz für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Können
Sie sich das Gefühl vorstellen, wenn Sie Ihren beiden
Enkeln Weihnachtsgeschenke kaufen wollen, dies aber
nicht geht, weil Ihnen schlichtweg das Geld fehlt, und
das, obwohl Sie wirklich jeden Cent zur Seite legen,
auch dann, wenn es am Ende des Monats nicht mehr für
ein richtiges Essen reicht? So geht es Frau Hoffmann,
die mich vor kurzem in meiner Sprechstunde besucht
hat.
Frau Hoffmann hat eine Minirente von 480 Euro, ob-
wohl sie ihr Leben lang hart gearbeitet hat. Ihren beiden
Kindern hat sie den besten Start ins Leben ermöglicht.
Frau Hoffmann war Friseurin und in den letzten Jahren
vor der Rente in Minijobs als Reinigungshilfe tätig. Zum
Amt, so sagt sie, will sie nicht. Sie schämt sich. Ich
finde, diese Scham sollte jeder Seniorin und jedem Se-
nior erspart bleiben.
Kein Mensch, der ein Leben lang hart gearbeitet hat, sei
es im Beruf, für die Familie oder für die Gesellschaft,
darf im Alter mit Sozialhilfe abgespeist werden.
So wie Frau Hoffmann geht es vielen älteren Men-
schen, insbesondere Frauen. Es ist die klassische Kon-
stellation: raus aus dem Beruf, Kinder erziehen, Angehö-
rige pflegen und parallel zum Teilzeitjob ehrenamtlich
tätig sein.
Mittlerweile haben zwei von drei Frauen eine Rente
unterhalb der Grundsicherung. 83,5 Prozent der Frauen
haben eine Altersrente von unter 850 Euro, davon wie-
derum ein Viertel von unter 250 Euro. Die Durch-
schnittsrente einer Frau ist halb so hoch wie die eines
Mannes. Das gilt im Westen wie im Osten. Auch im Os-
ten sinken die Renten von Jahr zu Jahr.
Für die Frauen gilt: Die meisten bleiben abhängig von
ihrem Mann oder vom Staat. Das alles hat mit Würde im
Alter nichts zu tun.
Die Bundesregierung möchte nun Frauen wie Frau
Hoffmann mit der sogenannten Lebensleistungsrente un-
ter die Arme greifen. Ich finde, diesen Etikettenschwin-
del muss man den Menschen erklären: Man soll 40 Jahre
Beitrag zahlen, man soll jahrzehntelang privat vorsor-
gen, um dann 10 bis 15 Euro mehr als die Grundsiche-
rung, die Sozialhilfe im Alter, von 707 Euro zu bekom-
men.
Ich möchte das Wort „Lebensleistungsrente“ kurz
analysieren. Lebensleistung und Rente haben, wie jeder
weiß, der einmal im Jahr – bleich und mit flatternden
Fingern – einen Brief mit dem Statusbescheid seiner
Rentenversicherung aufschlitzt, rein gar nichts mehr
miteinander zu tun. So stand es vor wenigen Wochen im
stern geschrieben. – Und, ja, das wird noch viel mehr der
Fall sein, wenn Sie, wie geplant, das Rentenniveau von
derzeit 50 auf 43 Prozent senken werden.
Ich bitte Sie eindringlich: Lassen Sie das bleiben! Wir
brauchen kein niedrigeres, sondern ein höheres Renten-
niveau.
26530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Yvonne Ploetz
(C)
(B)
Wenn Sie unbedingt etwas senken wollen, dann neh-
men Sie bitte die Rente mit 67 zurück.
Das würde insbesondere Frauen zugute kommen. Wir
wissen schon heute, dass gerade einmal 11,7 Prozent der
Frauen im Alter von 64 Jahren noch sozialversiche-
rungspflichtig beschäftigt sind, davon gerade einmal
5,8 Prozent der Frauen Vollzeit. Hier zeigt sich wieder
ganz deutlich, wie Sie Politik gegen die Realitäten ma-
chen, und zwar Sie alle: FDP, CDU/CSU, Grüne und
SPD.
Ja, wir brauchen einen Mindestlohn von 10 Euro und
eine Mindestrente, wenn wir den Kampf gegen Altersar-
mut wirklich aufnehmen und gewinnen wollen.
Aber zurück zur Lebensleistungsrente nach von-der-
Leyen-Art. Ich habe schon erklärt, wo die beiden Haupt-
hürden liegen. Man braucht 40 Beitragsjahre, und man
soll jahrzehntelang privat vorgesorgt haben, um dann im
Alter 10 bis 15 Euro mehr als die Grundsicherung zu be-
kommen. Ich finde, das ist ganz böse Satire. Sie verhöh-
nen damit die Menschen und ihre Arbeit regelrecht.
10 Euro mehr: Das reicht gerade mal für ein Eis mit dem
Enkel.
Ich finde, man darf den Menschen im Land nichts
vormachen. Wir wissen doch genau, dass eine Frau im
Leben nicht auf 40 Versicherungsjahre kommt, sondern
nur auf 30.
Und die private Vorsorge? Ja, Frauen haben mehr
Riester-Verträge als Männer abgeschlossen. Aber die
Hälfte aller Frauen hat keinen Riester-Vertrag. Andere
Verträge werden auf ruhend gestellt oder nicht voll be-
spart. Man muss doch einmal zur Kenntnis nehmen, dass
jahrzehntelange Einzahlungen in der gewünschten Höhe
eben nicht zu den Irrungen und Wirrungen eines norma-
len Lebens passen, und schon gar nicht zu dem Leben ei-
ner Frau, die im Niedriglohnsektor beschäftigt ist. Sie
kann das Geld für die private Vorsorge doch nirgends
mehr abknapsen.
Das ist aber nicht der einzige Haken. Ich will einen
weiteren nennen. Die Riester-Rente wird auf die Grund-
sicherung im Alter angerechnet. Das heißt, die Grund-
sicherung wird um den angesparten Betrag gekürzt. Das
Geld der Sparerin oder des Sparers verpufft in diesem
Fall regelrecht. Ich finde, das ist ganz absurd. Das ist ein
absurder Systemfehler, genauso wie die Zerschlagung
der gesetzlichen Rente zugunsten der privaten Vorsorge
von Anfang an der Fehler eines Systems war, das sich
die Politik von Wirtschaftsinteressen diktieren lässt.
Die Hälfte aller Frauen in meinem Alter hat heute
schon Angst vor Altersarmut; das ist nicht ganz unbe-
gründet. Das hat Arbeitsministerin Ursula von der Leyen
dankenswerterweise ganz klar benannt. Die Altersarmut
wird in den nächsten Jahren und Jahrzehnten stark zu-
nehmen. Aber, Frau Arbeitsministerin, eine Ministerin
darf nicht dabei stehen bleiben, Probleme aufzuzeigen,
sondern muss Lösungen entwickeln,
Lösungen dafür, dass Millionen Frauen eben nicht direkt
von der prekären Beschäftigung in die Altersarmut rut-
schen.
Nehmen wir als Beispiel die Minijobs. Eine Minijob-
berin hat nach 45 Versicherungsjahren einen Rentenan-
spruch von 139,95 Euro im Monat. Das zeigt doch wie-
der: Minijobs sind für Frauen der ganz sichere Weg in
die Altersarmut. Und was machen Sie? Sie weiten diese
Sackgasse noch aus. Wir sagen: Legen Sie sie endlich
still!
Das, was ich hier angesprochen habe, sind Fakten, die
aus der Antwort der Bundesregierung auf unsere Große
Anfrage zur Altersarmut von Frauen hervorgehen. Sie
als Regierung kommentieren all diese erschreckenden
Zahlen so: Es
… kann von einer besonders unzureichenden sozia-
len Absicherung von Frauen bzw. einer besonderen
Betroffenheit von Armut im Alter generell nicht die
Rede sein.
Das ist das nächste Adventsmärchen der christlich-libe-
ralen Regierung – völlig herzlos, unengagiert und le-
bensfremd. Wir alle wissen: Die Weihnachtszeit ist auch
die Zeit der Besinnung. Wir können für die Frauen nur
hoffen, dass Sie zur Besinnung kommen.
Danke schön.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26531
(C)
(B)
Der Kollege Peter Weiß hat jetzt das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-
gen! Meine Damen und Herren! Es ist gut, dass wir im
Deutschen Bundestag einmal ausführlich über die Al-
terssicherung der Frauen sprechen. Es ist so, dass vor al-
len Dingen in Westdeutschland viele Frauen in den ver-
gangenen Jahrzehnten spätestens mit der Geburt des
ersten Kindes ganz und sogar auf Dauer aus dem Er-
werbsleben ausgeschieden sind. Manche Frauen haben
sich – ich denke dabei an meine eigene Mutter – die in
wenigen Berufsjahren erworbenen Rentenansprüche
auch noch auszahlen lassen, sodass gar keine eigene Al-
tersrente anfallen wird. Für sie bedeutet Altersversor-
gung für Frauen, von der Altersversorgung des Mannes
abhängig zu sein. Das ist der Grund, warum die durch-
schnittliche Rentenzahlung an Frauen so niedrig ist.
Aber bemerkenswert ist, dass sich in den letzten Jahr-
zehnten ein deutlicher Wandel, was die eigenständige
Alterssicherung von Frauen angeht, vollzogen hat. Es
wäre daher gut gewesen, wenn diejenigen, die eine
Große Anfrage an die Bundesregierung gestellt haben,
auch die Antworten aus dieser Anfrage hier vorgetragen
und nicht verschwiegen hätten.
Die Erwerbstätigenquote der Frauen, das heißt der
Anteil von Frauen in Erwerbstätigkeit an der weiblichen
Bevölkerung in Deutschland, ist im Jahr 2011 bei
67,8 Prozent angelangt. Das ist, wenn man den Zeitraum
von 2002 an nimmt, eine Steigerung um 8,8 Prozent. Sie
liegt damit deutlich über der Steigerung der normalen
Erwerbstätigenquote in Deutschland.
Auch bei den sozialversicherungspflichtigen Beschäfti-
gungsverhältnissen haben wir eine Steigerung um 2 Pro-
zent. Der Anteil der Frauen, die eine eigene Alterssiche-
rung aufgebaut haben, ist von 1999 bis 2011 von
83 Prozent auf 91 Prozent gestiegen.
– Auch dazu sage ich etwas, Frau Ferner. – Wenn man
jetzt das Niveau der Alterssicherung der Frauen mit dem
der Männer vergleicht, dann stellt man fest, dass das Al-
terssicherungsniveau der Frauen 1999 noch bei 39 Pro-
zent des Niveaus der Männer lag, aber bis 2011 immer-
hin schon auf 43 Prozent gestiegen ist.
Schauen wir uns die Dynamik in Westdeutschland an,
Frau Ferner. Wie sieht es bei den jüngsten Altersjahrgän-
gen aus, was die Rente anbelangt? In der jüngsten Al-
tersgruppe hatten 1999 bereits 87 Prozent der Frauen
eine eigene Alterssicherung und 2011 immerhin 92 Pro-
zent. Was übrigens erstaunlich ist: Bei der zusätzlichen
Altersversorgung, zum Beispiel der Riester-Rente oder
der betrieblichen Altersversorgung, sind die Frauen bes-
ser als die Männer. Das heißt, Frauen handeln in Sachen
Altersvorsorge durchaus klug, klüger noch als die Män-
ner. Das muss man anerkennen.
– Die Frauen rufen natürlich zu Recht: Da auch.
Ein zentraler Punkt gerade der Union war und ist,
dass wir angesichts der Tatsache, dass nach wie vor
hauptsächlich Frauen die Erziehungs- und Pflegeleistung
bei uns in Deutschland erbringen, diese Erziehungs- und
Pflegeleistung bei der Rente anerkennen.
Deshalb waren wir es, die die Anerkennung von Kinder-
erziehungszeiten überhaupt ins Rentenrecht aufgenom-
men haben.
Deshalb waren auch wir von der Union es, die die Aner-
kennung von Pflegeleistungen ins Rentenrecht aufge-
nommen haben. Auch das ist eine wichtige Reform.
Wir haben mit dem Pflege-Neuausrichtungs-Gesetz, das
am 1. Januar in Kraft treten wird, die Leistung noch ein-
mal verbessert.
Ich verstehe die Unruhe bei den anderen Fraktionen.
Die haben in ihrer Regierungszeit nichts für die Aner-
kennung von Pflege- und Erziehungsleistung getan.
Wir, die Union, waren es.
Um zu einer eigenständigen Alterssicherung der
Frauen beizutragen, kommt es wesentlich auf die politi-
schen und rechtlichen Rahmenbedingungen an.
Wir haben 2007 mit der Einführung des Elterngeldes ei-
nen wichtigen Schritt unternommen,
26532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Peter Weiß
(C)
(B)
der es möglich macht, dass Frauen aus dem Erwerbsle-
ben für ein Jahr aussteigen, um Kinder zu erziehen
– Männer machen Gott sei Dank immer mehr auch da-
von Gebrauch –, und anschließend wieder schneller ins
Berufsleben zurückkommen. Mit der Idee der Großel-
ternzeit hat übrigens Frau Bundesministerin Schröder
eine weitere gute Idee entwickelt,
wie die positiven Effekte des Elterngeldes in flexibler
Weise genutzt werden können.
Mit dem Anfang 2012 in Kraft getretenen Familienpfle-
gezeitgesetz wird es zudem Beschäftigten erleichtert,
ihre pflegebedürftigen Angehörigen zu betreuen und
auch weiterhin Rentenansprüche zu erwerben.
Am 1. Januar 2013 tritt eine Neuregelung zu Minijobs
in Kraft, die nicht unwesentlich ist. Wir kehren nämlich
das bisherige System um. Künftig ist auch bei Minijobs
eine Einzahlung in die Rentenversicherung die Regel
und nicht die Ausnahme, selbst wenn man auf der Basis
von Minijobs nie eine anständige Rente erwerben kann.
Das ist richtig.
– Frau Ferner, Sie wissen, wie viele Menschen dauerhaft
in ihrem Leben nur Minijobs ausüben und nichts ande-
res.
Auch wenn der Minijob in der Regel nur einen Teil der
Berufsbiografie umfasst, ist es wesentlich, dass auch in
der Zeit, in der man einen Minijob hat, Rentenversiche-
rungsbeiträge gezahlt und entsprechende Ansprüche er-
worben werden.
Durch den gezielten quantitativen und qualitativen
Ausbau der Kinderbetreuung, insbesondere auch mit
dem zum 1. August nächsten Jahres in Kraft tretenden
Rechtsanspruch auf einen Betreuungsplatz ab dem voll-
endeten ersten Lebensjahr, schaffen wir eine weitere Vo-
raussetzung dafür, dass Familie und Beruf für Frauen
und Männer in Deutschland besser vereinbar sind.
Ich darf noch einmal erwähnen, dass wir, der Bund, da-
für kräftig Geld in die Hand nehmen: 4 Milliarden Euro
für die Schaffung und den Betrieb von Kindertagesein-
richtungen und jetzt zusätzliche 580 Millionen Euro für
weitere 30 000 Betreuungsplätze für Kinder unter drei
Jahren.
Im Parlament liegt zurzeit ein Betreuungsgeldergän-
zungsgesetz zur Beratung, mit dem wir vorsehen, dass
Frauen – oder natürlich auch Männer –, die das Betreu-
ungsgeld in Anspruch nehmen, einen zusätzlichen
Finanzzuschuss vom Staat erhalten, wenn sie dieses
Geld für eine zusätzliche Altersversorgung ansparen.
Auch das ist ein wichtiger Beitrag, um die eigenständige
Altersversorgung von Frauen zu stärken und zu unter-
stützen.
– Der Kollege Strengmann-Kuhn redet in diesem Fall
von „Geldverschwendung“. Ich finde, jeder Euro für die
Altersversorgung ist nicht Geldverschwendung, sondern
gut angelegtes Geld.
Um erwerbstätige Eltern, gerade mit kleinen und mitt-
leren Einkommen, zu entlasten, hat sich die Bundes-
regierung in ihrer Demografiestrategie darauf verstän-
digt,
familienunterstützende und haushaltsnahe Dienstleistun-
gen zu stärken. Das Unternehmensprogramm „Erfolgs-
faktor Familie“ fördert die Familienfreundlichkeit in der
Personalpolitik der Unternehmen, und im Rahmen der
Initiative „Familienbewusste Arbeitszeiten“ unterstützt
die Bundesregierung aktuell gemeinsam mit den Wirt-
schaftsverbänden und den Gewerkschaften die Einfüh-
rung flexibler Arbeitszeitmodelle in der betrieblichen
Praxis. Deswegen ist eine der allerwichtigsten Maßnah-
men, neben den rentenrechtlichen, dass wir durch ent-
sprechende Gestaltung einer familienfreundlichen Ar-
beitswelt dafür sorgen, dass Männer und Frauen mit
Familie, mit Kindern, die Chance haben, im Arbeitsle-
ben zu bestehen und eigenständige Altersversorgungsan-
sprüche aufzubauen. Das ist der Kern.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, verehrte
Kolleginnen und Kollegen, die Auflistung dieser frauen-
und familienpolitischen Maßnahmen, die ich hier kurz
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26533
Peter Weiß
(C)
(B)
vorgenommen habe, zeigt: Wir haben in der Tat noch
viel vor uns. Unter der Regierungsverantwortung von
Angela Merkel, unter der Regierungsverantwortung von
Ursula von der Leyen und Kristina Schröder haben wir
so viele die Position und Situation von Frauen stärkende
Entscheidungen getroffen wie nie zuvor in der deutschen
Politik.
Es ist richtig, dass wir über eine eigene Alterssiche-
rung der Frauen diskutieren, dass wir zur Kenntnis neh-
men, dass die historische Entwicklung dazu geführt hat,
dass viele Frauen von Altersarmut bedroht sind.
Aber die vorliegenden Entwicklungsfaktoren zeigen:
Wir machen einen Sprung nach dem anderen nach vorn,
um die Situation von Frauen im Erwerbsleben und die
Situation der Frauen, was die Alterssicherung anbelangt,
deutlich zu verbessern. Auf diesem Weg wollen wir vo-
rangehen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Elke Ferner für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kollegen und Kolleginnen!
Herr Weiß, eines muss man Ihnen lassen: Wie Sie die
Tatsachen verdrehen, was Sie eben getan haben, ist
schon bewundernswert.
Diese Wahlperiode kann man zumindest unter dem Ge-
sichtspunkt der Gleichstellungspolitik wirklich nur als
Stillstandswahlperiode wahrnehmen und nicht als Fort-
schrittswahlperiode.
Altersarmut von Frauen fällt nicht vom Himmel, son-
dern sie hat Ursachen, Herr Weiß. Wer Altersarmut ver-
meiden will, muss deshalb an den Ursachen ansetzen
und nicht an den Symptomen. Altersarmut ist das Ergeb-
nis von Erwerbsarmut. Die Erwerbsarmut von Frauen ist
das Ergebnis von falschen Rahmenbedingungen, die im-
mer noch das Ein-Ernährer-Modell der Nachkriegszeit
privilegieren, obwohl die gesellschaftliche Realität
schon längst eine andere geworden ist.
Frauen sind mehr denn je auf eine eigenständige Exis-
tenzsicherung angewiesen, auch wenn sie verheiratet
sind oder in einer Partnerschaft leben.
Wir haben bei der Frage der Vermeidung von Alters-
armut kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsdefizit.
Wir alle wissen: Nur wer lange möglichst durchgängig
Vollzeit zu guten Löhnen sozialversicherungspflichtig
gearbeitet hat, wird im Alter eine auskömmliche Rente
erhalten. Das gilt für Frauen wie für Männer.
Deshalb muss man auch beim Arbeitsmarkt ansetzen,
Frau von der Leyen; man darf nicht auf eine sogenannte
Lebensleistungsrente setzen, die nicht die Lebensleis-
tung in Form von langjähriger Erwerbsarbeit belohnt,
sondern ausschließlich die langjährige private Vorsorge.
Herr Weiß, Sie haben eben auf das Erwerbsleben ab-
gehoben. Was habe ich von Ihnen denn zum Thema
Mindestlöhne gehört? Nichts habe ich von Ihnen gehört!
Ein Mindestlohn würde den meisten Frauen sofort hel-
fen, und zwar beim aktiven Einkommen und auch bei
den Altersbezügen.
Deshalb fordern wir die Einführung eines flächende-
ckenden gesetzlichen Mindestlohns. Zwei Drittel der
Niedriglöhner sind Frauen. Die Verweigerungshaltung
der schwarz-gelben Koalition bei der Einführung eines
flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohns führt bei
Frauen zu einem höheren Armutsrisiko im Alter.
Wer, Frau von der Leyen, als Arbeitsministerin hin-
nimmt, dass Menschen, die Vollzeit arbeiten, am Ende
des Monats nicht von ihrem Einkommen leben können,
sondern zum Sozialamt bzw. zum Jobcenter gehen müs-
sen, hat als Rentenministerin nicht das Recht, drohende
Altersarmut zu beklagen.
Wir werden nach der kommenden Bundestagswahl ei-
nen gesetzlichen Mindestlohn einführen und damit die
Situation für 5,8 Millionen Frauen und Männer verbes-
sern – bei den aktiven Bezügen und bei der Altersversor-
gung.
26534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Elke Ferner
(C)
(B)
Kommen wir zum Thema Minijobs. Anstatt Minijobs
einzuschränken oder wenigstens den bestehenden Miss-
brauch zu unterbinden, haben Sie die Minijobgrenze um
50 Euro auf 450 Euro angehoben. Damit vergrößern Sie
nicht nur das Heer der bisher über 7 Millionen Men-
schen, die in einem Minijob sind, sondern insbesondere
auch das Armutsrisiko im Alter für Frauen.
Das, was Sie eben gesagt haben, Herr Weiß, dass wir
jetzt sozusagen eine Regel-Ausnahme-Umkehr haben,
glauben Sie doch selber nicht. Sie haben in Ihr eigenes
Gesetz geschrieben, dass 90 Prozent der Betroffenen das
gar nicht in Anspruch nehmen werden, sondern aus der
Versicherungspflicht herausoptieren werden.
Wir reden bei 400 Euro übrigens über einen Renten-
anspruch von 4,15 Euro im Monat. Das reicht nicht zum
Leben und zum Sterben schon gar nicht. Das wissen Sie
genauso gut wie wir.
Wir brauchen nicht mehr ungeschützte, sondern mehr
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung.
Ich finde, der DGB hat ein sehr interessantes Modell
dazu vorgelegt, auf dessen Basis eine Neuordnung der
Minijobs erfolgen könnte. Darüber hinaus müssen alle
Maßnahmen ergriffen werden, um den Missbrauch end-
lich zu bekämpfen. Wer von den Beschäftigten weiß
denn, dass er oder sie Anspruch auf Lohnfortzahlung im
Krankheitsfall hat, dass bezahlter Urlaub gewährt wer-
den muss, dass tariflich bezahlt werden muss? Und was
tun die Arbeitgeber, obwohl sie eigentlich mehr bezah-
len müssen in Form der pauschalen Abgaben? Sie setzen
genau an den Stellschrauben an! Deshalb lohnt es sich
am Ende des Tages für den Arbeitgeber, einen solchen
Minijob anzubieten. Wir wollen aber mehr sozialversi-
cherungspflichtige Beschäftigung.
– Bitte schön. – Herr Präsident?
Ich konnte nicht so schnell sein wie die Kollegin
Ferner. – Bitte schön.
Frau Kollegin, Sie sind ja stellvertretende Vorsitzende
der SPD-Fraktion.
Können Sie mir vielleicht Auskunft darüber geben, wie
viel Minijobber Sie in Ihrer Fraktion beschäftigen?
Das Thema hatten wir schon bei der letzten Debatte.
Wenn Sie sich die Zahlen genau angucken, dann werden
Sie feststellen, dass die Zahl der Minijobber in Ihrer
Fraktion und auch in der FDP-Fraktion prozentual gese-
hen
deutlich höher ist als in der SPD-Fraktion.
Die SPD-Fraktion selber – die Fraktion! – hat einen
Minijobber in der Pressestelle. Wie das bei den Abge-
ordneten aussieht, kann ich Ihnen nicht sagen, weil diese
Zahlen nur einer Kommission des Ältestenrats zur Ver-
fügung gestellt werden und im Prinzip nichtöffentlich
sind. Eines aber kann ich Ihnen sagen: Wenn wir eine
andere Regelung für eine auf den Monat bezogen niedrig
bezahlte Beschäftigung hätten, dann hätten wir alle hier
andere Beschäftigungsverhältnisse. Die Bundestagsver-
waltung wertet jedes Arbeitsverhältnis, das mit weniger
als 400 Euro im Monat vergütet wird, als Minijob und
meldet das auch so an. Wir haben gar keine andere Wahl,
als so anzumelden.
Aber gucken Sie sich erst einmal Ihre eigenen Zahlen
an, bevor Sie auf uns zeigen! Dann können wir gern
noch einmal darüber reden.
Teilzeitarbeit führt auch zu einer niedrigen Rente im
Alter. Wir stellen hier einen traurigen Rekord auf. Nach
den Niederlanden sind wir das Land mit dem höchsten
Anteil an Teilzeitarbeit. Fast die Hälfte aller Frauen im
Westen arbeitet Teilzeit; im Osten sind es immerhin
34 Prozent. Aus Untersuchungen wissen wir – in den
letzten Wochen gab es noch eine Untersuchung vom Sta-
tistischen Bundesamt –, dass die meisten Teilzeitbe-
schäftigten eine höhere wöchentliche Arbeitszeit wün-
schen, sie aber nicht bekommen. Teilzeitbeschäftigung
bringt aber nicht nur eine geringere Rente mit sich, son-
dern in der Regel auch eine Dequalifizierung. Teilzeitbe-
schäftigte nehmen deutlich weniger an Fortbildungen
und Maßnahmen zur beruflichen Qualifizierung teil als
Vollzeitkräfte. Sie werden im Übrigen auch schlechter
bezahlt.
Das, was die Bundesregierung macht, ist aber wirk-
lich der Hammer. Frau von der Leyen, Sie sollten sich
einmal die Homepage Ihres Ministeriums ansehen. Dort
gibt es einen sogenannten Teilzeitrechner. Man gibt sein
früheres Gehalt, seine frühere Stundenzahl und seine jet-
zige Stundenzahl ein – Frau von der Leyen interessiert
das offenkundig nicht –, und dann wird ein Stundenlohn
ausgeworfen, netto. Welch Wunder, er ist natürlich bei
der Teilzeitarbeit höher als bei der Vollzeitarbeit. Was
sagt uns das aber? Besser wäre es, wenn ausgerechnet
worden wäre, welche Rente sich dabei ergibt. Dann hätte
man feststellen können, dass bei einer Arbeitszeit von
20 Stunden mit einem Durchschnittseinkommen nicht
28, sondern nur 14 Euro Rente pro Jahr herauskommen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26535
Elke Ferner
(C)
(B)
Offenkundig hat die Bundesregierung überhaupt kein In-
teresse daran, dass mehr Frauen wie von ihnen ge-
wünscht arbeiten können, nämlich vollzeitnah und nicht
nur Teilzeit oder „kleine Teilzeit“.
Ein weiteres Thema ist Equal Pay. Der Lohnunter-
schied zwischen Männern und Frauen ist immer noch
sehr groß. Wir sind immerhin um einen Prozentpunkt
besser geworden. Der Unterschied beträgt nur noch
22 Prozent statt 23 Prozent. Ganz klasse! Herr Weiß hat
uns gerade angepriesen, dass die Rente der Frauen im-
merhin schon 42 Prozent des Niveaus der Männer be-
trägt. Das ist toll. Das hängt natürlich damit zusammen,
dass die sogenannten typischen Frauenberufe schlechter
bezahlt werden als die Männerberufe, aber auch damit,
dass Frauen für gleiche Arbeit weniger Geld gezahlt
wird als den Männern. Was fällt der Bundesregierung
dazu ein? Sie unterstützen den Equal Pay Day mit Geld.
Sie führen ein Messverfahren, das Logib-D-Verfahren,
ein – das aber kein vernünftiges Messverfahren ist – und
bieten den Unternehmen an, es freiwillig anzuwenden.
Das ist alles. Wir haben den Entwurf eines Entgelt-
gleichheitsgesetzes in den Bundestag eingebracht. Sie
machen nichts. Sie haben noch nicht einmal ein Konzept –
von wegen „Strategie“, Herr Weiß. Ich sage Ihnen: Wir
werden nach der Bundestagswahl in diesem Haus ein
Gesetz zur Durchsetzung der Entgeltgleichheit beschlie-
ßen, weil wir andere Mehrheiten haben werden.
Auch bei der Bewertung der sogenannten typischen
Frauenberufe ist noch einiges zu tun. Warum derjenige,
der unsere Waschmaschine repariert, ein höheres Ein-
kommen bekommt, als diejenige, die unsere Kinder er-
zieht, erschließt sich mir nicht. Das hat etwas mit Ge-
rechtigkeit, vor allen Dingen aber mit Wertschätzung zu
tun.
Wir haben auch über Rahmenbedingungen zu spre-
chen. Rahmenbedingungen sind beispielsweise das Steu-
errecht. Unser Steuerrecht privilegiert immer noch die
Einverdienerehe mit dem Ehegattensplitting, mit der
Steuerklasse V. Die Steuerklasse V ist eine der wesentli-
chen Hürden für Ehefrauen, wieder erwerbstätig zu wer-
den, nachdem sie für die Kindererziehung ausgesetzt ha-
ben. Diese Steuerklasse V gehört abgeschafft und ersetzt
durch das Faktorverfahren. Auch beim Ehegattensplit-
ting müssen wir Änderungen vornehmen. Es ist nicht
einzusehen, dass die Ehe begünstigt wird. Wir wollen
eine Individualbesteuerung für neue Ehen, bei der die
Unterhaltsverpflichtung gegenseitig steuerlich berück-
sichtigt wird. Dann ist die Chancengleichheit auf dem
Arbeitsmarkt anders; denn dann präjudiziert nicht mehr
die steuerliche Besserstellung die Entscheidung, ob man
Vollzeit erwerbstätig ist oder nicht.
Ein weiteres Thema ist die Teilung der Arbeit im Er-
werbsleben, aber auch in der Familie. Dazu brauchen wir
– das ist richtig, Herr Weiß – etwas anderes als die Dau-
erpräsenzkultur, die wir jetzt haben. Wo sind denn die
Initiativen zu familienfreundlichen Arbeitszeiten? Wo
sind die Initiativen dafür, dass man für einen befristeten
Zeitraum seine Arbeitszeit auf Teilzeit oder vollzeitnahe
Teilzeit reduzieren kann? Wo sind denn die Initiativen
für ein besseres, geschlechtergerecht ausgestaltetes El-
terngeld? Von Ihnen haben wir dazu bisher nichts gehört.
Ein wesentlicher Punkt bei der Rente ist der Nach-
teilsausgleich für diejenigen, die ihre Erwerbsbiografie
nicht mehr umschreiben können. Da muss ich Ihnen sa-
gen: Nehmen Sie sich ein Beispiel an unseren Vorschlä-
gen! Ich greife nur einmal den Punkt „Solidarrente“
heraus, also die Fortführung der Rente nach Mindestent-
geltpunkten. Würde diese Regelung zum 1. Januar in
Kraft treten, machte das für diejenigen, die, sagen wir
einmal: von 1992 bis Ende dieses Jahres die Hälfte des
Durchschnittseinkommens verdient haben, 147 Euro
mehr an Rente aus. Das bekommen Sie mit Ihrer Le-
bensleistungsrente nicht hin. Da geht es lediglich um
Cent-Beträge am Tag, um nicht mehr und um nicht we-
niger.
Wir haben hierzu Konzepte vorgelegt. Auf Ihre Kon-
zepte warten wir noch. Ich prophezeie Ihnen: Sie werden
sich in dieser Koalition auf nichts einigen können. Eines
ist klar: Wenn wir die Altersarmut überwinden wollen,
dann müssen wir die Erwerbsarmut überwinden. Das
geht nur mit einer anderen Bundesregierung.
Das Wort hat nun Heinrich Kolb für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die
Linke hat der Bundesregierung eine Große Anfrage mit
dem schönen Titel „Alterssicherung und Altersarmut
von Frauen in Deutschland“ zur Beantwortung vorge-
legt, die wir heute hier debattieren. Weil die Linken ja
immer ein Haar in der Suppe finden müssen,
kommen sie auf Basis der genannten Zahlen zu dem Er-
gebnis, um die Alterssicherung von Frauen in Deutsch-
land sei es sehr schlecht bestellt. So heißt es jedenfalls in
Ihrem Entschließungsantrag. Zum Beleg führt die Kolle-
gin Ploetz hier aus, dass die Frauen eine sehr niedrige
Rente hätten – ich habe mir die Zahlen notiert –:
83,5 Prozent unter 850 Euro.
Dazu möchte ich Folgendes anmerken: Wenn wir
über Alterssicherung reden, Frau Kollegin Ploetz und
26536 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
(C)
(B)
liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, dann
müssen wir das netto verfügbare Gesamtalterseinkom-
men vor Augen haben. Dann reden wir aber nicht nur
über Rente. Bei Frauen – das ist in dem Ergänzenden
Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungs-
bericht auch so ausgeführt worden – ist zunächst natür-
lich die eigene erworbene Rente von Bedeutung, also
das Ergebnis von Erwerbsarbeit unter dem Gesichts-
punkt der Beitragsäquivalenz. Die Bundesregierung
weist darauf hin, dass es darüber hinaus auch abgeleitete
Leistungen und Leistungen des sozialen Ausgleichs gibt,
die bei Frauen in besonderer Weise zum Tragen kom-
men.
Wenn man das Ganze zusammenführt, dann sieht die
Welt schon ganz anders aus. Das hätten Sie der Antwort
auf die Große Anfrage oder zumindest dem Ergänzenden
Bericht der Bundesregierung zum Rentenversicherungs-
bericht, nämlich der Tabelle C.4.1a, entnehmen können.
Dort werden das persönliche Nettoeinkommen und das
äquivalenzgewichtete Haushaltsnettoeinkommen von
Verheirateten und Alleinstehenden, auch nach Ge-
schlecht differenziert, dargestellt. Alleinstehende Frauen
haben demnach im Schnitt ein persönliches Nettoein-
kommen von 1 292 Euro; ebenso hoch ist natürlich auch
ihr äquivalenzgewichtetes Haushaltsnetto. Bei verheira-
teten Frauen sieht es ganz anders aus. Sie haben zwar
nur ein persönliches Nettoeinkommen von 686 Euro,
aber ein äquivalenzgewichtetes Haushaltsnetto von
1 585 Euro.
Deswegen lautet eine Antwort auf Ihren Entschlie-
ßungsantrag: So wie Sie die Sache angehen, ist es nicht
richtig. Ich weiß, es geht Ihnen um eine Standardisie-
rung, darum, eine bestimmte These zu transportieren.
Das ist ja Ihr Geschäftsmodell, mit dem Sie sich im poli-
tischen Wettbewerb versuchen zu behaupten. Die Zahlen
geben das, was Sie behaupten, nämlich es sei um die Al-
terssicherung von Frauen in Deutschland sehr schlecht
bestellt, jedoch nicht her.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Birkwald?
Ja, klar.
Vielen Dank, Herr Kolb, dass Sie die Zwischenfrage
zulassen. – Sie haben mit Ihrem Redebeitrag den Ein-
druck erweckt, es sei alles gar nicht so schlimm. Sie
agieren mit Durchschnittszahlen nach dem Motto: Wenn
der eine null Euro hat und der andere 1 Million Euro,
dann haben beide im Durchschnitt eine halbe Million.
Zu den armen Frauen haben Sie kein Wort verloren. Ich
würde Sie doch bitten, einmal dazu Stellung zu nehmen,
dass von dem Zeitpunkt der Einführung der Grundsiche-
rung im Alter bis heute die Anzahl derer, die im Alter
Grundsicherung in Anspruch nehmen müssen, um
69 Prozent zugenommen hat und dass zwei Drittel davon
Frauen sind.
Insgesamt müssen heute schon 436 000 Menschen im
Alter Grundsicherung in Anspruch nehmen. Das ist aber
nur die offizielle Zahl. Es gibt eine Studie der Armuts-
forscherin Irene Becker, in der eine Dunkelziffer ge-
nannt wird; denn insbesondere viele Frauen sagen – die
Kollegin Ploetz hat vorhin darauf hingewiesen –: Ich
gehe nicht zum Sozialamt. Ich möchte eine Rente haben;
ich möchte keine Sozialleistungen. – Diese Dunkelziffer
liegt zwischen 60 und 68 Prozent, sodass wir schon
heute von 1,1 bis 1,4 Millionen armen alten Menschen
ausgehen müssen. Zwei Drittel davon sind Frauen. Das
ist der erste Punkt.
Der zweite Punkt ist: In den neuen Bundesländern er-
halten weit über 90 Prozent der Menschen nur die Leis-
tungen der gesetzlichen Rentenversicherung; bei den
Frauen sind es sogar 95 Prozent. In diesem Fall können
Sie nicht sagen: Da gibt es noch andere Alterseinkom-
men. – Die Betroffenen erhalten heute nichts aus Be-
triebsrenten, Lebensversicherungen oder Ähnlichem.
Das heißt, es gibt sehr viele ältere Frauen, die nichts an-
deres haben als diese mickrigen Rentenbeträge.
Deswegen ist meine Frage an Sie: Wie steht denn Ihre
Fraktion bzw. wie steht die Koalition zu der Forderung,
endlich dafür zu sorgen, dass Müttern auch für die Kin-
der, die vor 1992 geboren sind, drei Entgeltpunkte auf
dem Rentenkonto gutgeschrieben werden? Wie stehen
Sie also zur Frage der Kindererziehungszeiten, und wie
stehen Sie zur Rente nach Mindestentgeltpunkten? – Die
Kollegin Ferner hatte das angesprochen. Alleine diese
beiden Maßnahmen würden dazu beitragen, dass Hun-
derttausende – mittelfristig Millionen – von älteren
Frauen aus der Altersarmut herauskämen.
Sie haben ja drei Punkte angesprochen. Sie werden
ein bisschen länger stehen bleiben müssen, Herr Kollege
Birkwald, wenn ich entsprechend Ihrer Fragen detailliert
antworten soll.
Der erste Punkt ist die Grundsicherung im Alter. Dazu
möchte ich grundsätzlich noch etwas ausführen. Wir ha-
ben in Deutschland so eine Neigung, ein Problem im so-
zialen Bereich zu identifizieren, dann eine Leistung zu
gestalten, um dieses Problem anzugehen, aber dann hin-
terher „Skandal!“ zu rufen, wenn genau diese Leistung
in Anspruch genommen wird. So funktioniert das im
Moment bei der Grundsicherung im Alter. Wir haben sie
ja nicht erfunden; das war Rot-Grün. Die Grundsiche-
rung im Alter wurde ausdrücklich eingeführt, um Armut
im Alter zu vermeiden. Aber jetzt sagen Sie, Herr
Birkwald: Wenn jemand die Grundsicherung im Alter in
Anspruch nimmt, dann ist er arm. – Die Inanspruch-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26537
Dr. Heinrich L. Kolb
(C)
(B)
nahme von Grundsicherung bedeutet entweder Armuts-
vermeidung oder Armut. Ich glaube, die Wahrheit liegt
eher bei dem, was sich die Kollegen von Rot-Grün da-
mals gedacht haben: Die Grundsicherung vermeidet Ar-
mut.
Der Frau Hoffmann, die Sie in Ihrem Beitrag zitiert
haben, Frau Kollegin Ploetz, muss man wirklich sagen:
Die Grundsicherung ist damals auch eingeführt worden,
um zu vermeiden, dass es „verschämte“ Armut gibt.
Es gibt einen Anspruch auf Grundsicherung. Diejenigen,
bei denen die Rente nicht reicht, haben das Recht – das
ist ein soziales Recht, das wir als Leistung in unserem
Sozialstaat eingeführt haben –, diese Leistung in An-
spruch zu nehmen.
Ich bin immer noch bei Ihrer ersten Frage, Herr Kol-
lege Birkwald. Sie haben die Situation der Frauen, die
Grundsicherung beziehen, beschrieben. Aber wenn man
eine Gesamtsicht herstellen will, dann muss man doch
auch sagen, dass insgesamt unter 3 Prozent derjenigen,
die älter als 65 sind, überhaupt Grundsicherung in An-
spruch nehmen müssen. Das zeigt doch sehr deutlich,
dass das stimmt, was ich eingangs gesagt habe, nämlich
dass die Skandalisierungsthese nicht trägt. Bei den aller-
meisten Personen in Deutschland reicht die eigene Al-
tersvorsorge aus.
Der zweite Punkt ist die Situation der Frauen in den
neuen Bundesländern. Sie wissen so gut wie ich, Herr
Birkwald, dass die Frauen in den neuen Bundesländern
aufgrund der geschlossenen Erwerbsbiografien, die es in
einer Vielzahl von Fällen gibt, eine deutlich höhere ei-
gene Rente erhalten.
Es ist richtig, dass sich das mit der privaten Vorsorge
und der betrieblichen Altersvorsorge alles erst entwi-
ckeln muss. Aber ich glaube, der Trend muss uns ermuti-
gen, der in dem Ergänzenden Bericht der Bundesregie-
rung zum Rentenversicherungsbericht in der Tabelle C.4.2
dargestellt worden ist: Je jünger die Frauen sind, desto
höher ist der Anteil der eigenen Alterssicherung; denn
heute erwerben, anders als früher, als ein anderes Part-
nerschaftsmodell gelebt wurde, mehr und mehr Frauen
ihre eigenen Rentenansprüche. Deswegen kann man das,
was Sie gesagt haben, nicht so stehen lassen.
Zu Ihren anderen Fragen. Kindererziehungszeiten,
Rente nach Mindestentgeltpunkten: Darüber diskutieren
wir derzeit in der Koalition. Zu beiden Punkten ist zu sa-
gen: Es kostet recht viel Geld. Aber darüber setzen Sie
sich immer relativ locker hinweg. Ich sehe mir den For-
derungsteil Ihres Entschließungsantrags an und erkenne:
Sie haben da die eierlegende Rentenwollmilchsau erfun-
den; Geld spielt keine Rolle.
Alles, was nur irgendwie denkbar ist, Herr Kollege
Birkwald, haben Sie am Ende niedergeschrieben. Das ist
aber keine verantwortliche Rentenpolitik. Wir müssen
uns natürlich auch danach richten, welche Mittel zur
Verfügung stehen. Aber ich kann Ihnen sagen: Wir wer-
den sicherlich einen eigenen Vorschlag in diesem Sinne
vorlegen.
Bevor meine Redezeit zu Ende geht, möchte ich Frau
Ferner darauf hinweisen, dass es im Internet sicherlich
nicht nur einen Teilzeit-Nettorechner gibt, sondern auch
einen Rentenrechner.
Ich habe es auf die Schnelle nicht nachprüfen können;
aber es würde mich sehr verwundern, wenn man im In-
ternet nicht auch ausrechnen könnte, welchen Rentenan-
spruch man mit seinem Bruttoentgelt, das verbeitragt
wird, erwerben kann.
Da haben Sie wirklich aus einer Mücke einen Elefanten
gemacht; das muss man nicht machen.
Der letzte Punkt. Ich möchte ausnahmsweise der Kol-
legin Ploetz recht geben. Sie hat darauf hingewiesen,
dass es bei der Grundsicherung im Alter einen System-
fehler gibt: Private und betriebliche Vorsorge werden an-
gerechnet. Frau Kollegin Ploetz, auch wenn Sie das
überrascht: Das sehen wir genauso; da gibt es heute ei-
nen Fehlanreiz im System, den man nach unserer Auf-
fassung beseitigen sollte. Wenn wir Menschen ermutigen
wollen, neben den Beiträgen zur gesetzlichen Renten-
versicherung eigene Anstrengungen bei der Altersvor-
sorge zu unternehmen, darf es nicht sein, dass wir ihnen
am Ende sagen: Ätsch, das hat sich aber nicht gelohnt;
falls du in die Situation kommst, Grundsicherung bezie-
hen zu müssen, wird dir alles angerechnet. – Wie gesagt:
Das gehen wir an.
– Es wird zwar nicht mehr in diesem Jahr geschehen;
aber im Januar nächsten Jahres, lieber Toni Schaaf,
werden wir auf der Basis von Ergebnissen eine intensive
Rentendebatte zu den Vorstellungen der Koalition führen
können.
26538 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
(C)
(B)
Bis dahin wünsche ich Ihnen eine ruhige Zeit zwi-
schen den Jahren; wir alle haben sie uns verdient. Frohe
Weihnachten, einen guten Rutsch und ein gutes neues
Jahr 2013!
Danke schön.
Das Wort hat nun Wolfgang Strengmann-Kuhn für
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Al-
tersarmut in Deutschland ist weiblich. Das war schon
das Ergebnis der Großen Anfrage, die wir, die grüne
Bundestagsfraktion, letztes Jahr gestellt haben. Ich
möchte eine Zahl aus der Antwort der Bundesregierung
nennen; es sind keine Zahlen von uns. Herr Kolb, hören
Sie vielleicht einmal zu; denn ich bin gerade dabei, et-
was zu den eben von Ihnen genannten Zahlen klarzustel-
len. In der Antwort der Bundesregierung auf unsere
Große Anfrage zu dem Thema „Altersarmut in Deutsch-
land“ wurde deutlich, dass es allein 1 Million alleinste-
hende Frauen mit einem Einkommen unter der Risiko-
grenze gibt. Diese Grenze liegt bei 930 Euro; das ist
nicht sehr viel. Hinzu kommen 500 000 Frauen, die in
Paarhaushalten leben, wenngleich sie in der Tat meist
bessergestellt sind als alleinstehende Frauen. Insgesamt
liegt das Einkommen von über 1,5 Millionen Frauen un-
ter der Altersarmutsrisikogrenze: unter 930 Euro, wenn
sie alleine leben, unter 700 Euro pro Kopf, wenn sie in
einem Paarhaushalt leben. Sie würden wahrscheinlich
sagen: Das ist noch nicht Armut. – Aber wir sind uns
vielleicht einig: Das ist sehr wenig Geld. Wenn man die
Grenze heruntersetzt, ist die Gruppe derjenigen, die tat-
sächlich von Armut betroffen sind, immer noch groß.
Wie gesagt: Es sind hauptsächlich Frauen. Ich bin des-
wegen der Linken durchaus dankbar, dass sie mit einer
weiteren Großen Anfrage an dieser Stelle nachgehakt hat
und das Thema der Altersarmut von Frauen angeht.
Der Kollege Peter Weiß tut mir fast schon ein biss-
chen leid,
weil ich weiß, dass Teile der CDU/CSU-Fraktion – man-
cher Sozialpolitiker, auch er – gerne etwas vorgelegt hät-
ten, um die Altersarmut insgesamt und die Altersarmut
von Frauen zu bekämpfen; aber da ist nichts. Ich habe in
einer Fernsehdokumentation gesehen, dass die Bundes-
ministerin schon als Kind beim Krippenspiel den Weih-
nachtsengel gespielt hat. Es ist erstaunlich – vielleicht
auch nicht –,
dass sie heute nicht hier steht und sagt: Wir retten die ar-
men alten Frauen. – Sie hat das in den letzten Jahren per-
manent angesprochen, nicht nur zur Weihnachtszeit.
Aber mittlerweile ist klar: Der Lack ist ab; da wird in Sa-
chen Bekämpfung von Altersarmut nichts mehr kom-
men.
Wenn man etwas gegen Altersarmut machen will,
dann muss man in erster Linie bei den Ursachen anset-
zen. Es gibt drei wichtige Ursachen, warum Frauen in
der Altersarmut landen.
Die erste Ursache ist: Frauen verdienen immer noch
weniger als Männer.
Sie haben einen geringeren Lohn – es ist schon gesagt
worden –: 22 bis 23 Prozent weniger Stundenlohn. Das
müssen wir unbedingt beenden. Wir finden: Frauen ver-
dienen mehr.
Wir brauchen einen gesetzlichen Mindestlohn, der
Frauen ein höheres Einkommen beschert, wir brauchen
endlich ein Gesetz gegen Entgeltdiskriminierung, wir
brauchen Equal Pay im Leiharbeitssektor und vieles
mehr, um die Schere zwischen Männern und Frauen bei
der Bezahlung zu schließen.
Der zweite Punkt. Frauen verdienen nicht nur pro
Stunde weniger, sondern sie arbeiten auch weniger. Halt,
falsch! Frauen arbeiten nicht weniger. Wenn man es ge-
nau nimmt, arbeiten Frauen mehr, aber der Erwerbstätig-
keitsumfang von Frauen, die bezahlte Arbeit von Frauen
ist geringer, sowohl in Wochenstunden als auch in Le-
bensarbeitszeit. Das heißt, sie haben weniger Lohn, we-
niger Erwerbsarbeitszeit, und das führt am Ende zu einer
geringeren Rente. An diesem Punkt muss man unbedingt
ansetzen.
Wir brauchen Anreize und müssen Rahmenbedingun-
gen dafür schaffen, dass Frauen mehr arbeiten können,
und zwar nicht nur in Minijobs, sondern in bezahlter, so-
zialversicherungspflichtiger Teilzeit- oder Vollzeitarbeit,
damit am Ende ein ordentliches Einkommen und folg-
lich eine ordentliche Rente herauskommen.
Ein wichtiger Punkt in Bezug auf diese Rahmenbe-
dingungen ist schon angesprochen worden: In Deutsch-
land wird die Alleinverdienerehe besonders subventio-
niert. Deswegen ist es überhaupt kein Wunder, dass der
Gender Pay Gap, also der Unterschied bei den Löhnen,
in Deutschland besonders groß ist. Am stärksten wird
die Alleinverdienerehe durch das Ehegattensplitting sub-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26539
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(C)
(B)
ventioniert. Wir wollen das Ehegattensplitting abschaf-
fen und durch eine Individualbesteuerung ersetzen, da-
mit endlich Gleichheit herrscht und für Frauen ein
Anreiz besteht, mehr erwerbstätig zu sein.
Gleichzeitig muss man eines deutlich machen: Wir
brauchen zwar Anreize für Frauen, mehr zu verdienen,
wir müssen aber umgekehrt auch dafür sorgen, dass
Männer weniger arbeiten und sich mehr um die Kinder-
erziehung kümmern. Nur so werden wir tatsächlich eine
Gleichstellung zwischen Männern und Frauen im Er-
werbsleben und auch in der Rente bekommen. Das Ehe-
gattensplitting ist ein wichtiger Punkt. Wir müssen die
Rahmenbedingungen stärken. Die zwei Vätermonate in
der Elternzeit reichen nicht aus, sie müssen ausgeweitet
werden und vieles mehr.
Wir haben genügend Konzepte vorgelegt, die Gleich-
heit zwischen Männern und Frauen im Erwerbsleben
herstellen.
Frau Ferner, es reicht nicht, Erwerbsarmut zu be-
kämpfen und die Gleichstellung von Männern und
Frauen auf dem Arbeitsmarkt herzustellen, wir müssen
auch die soziale Absicherung insbesondere von Frauen
stärken.
Allein die Erwerbsarmut zu bekämpfen, reicht nicht aus,
um Altersarmut zu vermeiden.
Derzeit ist es so: Bei einem Verdienst von 2 000 Euro
braucht man 40 Jahre, um auf 30 Entgeltpunkte zu kom-
men, was ein bisschen über dem Grundsicherungsniveau
liegt. Wenn man weniger verdient, weil man Teilzeit ar-
beitet oder einen Job mit Mindestlohn hat, dann liegt die
Rente auch nach 40 Jahren nicht über dem Grundsiche-
rungsniveau. Hier müssen wir ansetzen. Wir müssen das
Rentenrecht so verändern, dass am Ende eine Rente he-
rauskommt, die tatsächlich vor Armut schützt.
Da setzt man auch wieder im Lebensverlauf an. Un-
sere Perspektive ist langfristig die Bürgerversicherung.
Da müssen wir schrittweise hinkommen. Ein wichtiger
erster Schritt ist, die Minijobs wieder rentenversiche-
rungspflichtig zu machen. Der Wechsel von Opt-in zu
Opt-out reicht nicht aus. Vielmehr brauchen wir wieder
eine Rentenversicherungspflicht für alle Menschen, die
erwerbstätig sind.
Wir müssen aber auch dafür sorgen, dass Nichter-
werbstätigkeitsphasen besser abgesichert sind. In Paar-
haushalten sollten die Rentenanwartschaften im Er-
werbsverlauf geteilt werden. Es ist nicht einzusehen,
dass eine Alleinverdienerehe vom Staat subventioniert
wird; vielmehr sollten in einer Ehe die Anwartschaften
geteilt werden. Das wäre solidarisch. Das würde eigent-
lich sogar zu einem konservativen Weltbild passen.
Das würde dazu führen, dass Frauen in längerfristiger
Perspektive einen höheren eigenständigen Rentenan-
spruch erwerben und damit besser vor Altersarmut ge-
schützt wären.
So viel zu den präventiven Maßnahmen, die alle notwen-
dig sind.
Wir sagen aber auch: Viele Erwerbsbiografien sind
jetzt schon geschrieben. Wir müssen auch sicherstellen,
dass bei allen Unwägbarkeiten, die im Lebensverlauf
passieren können, am Ende für diejenigen, die lange in
die Rentenversicherung eingezahlt haben, ein Mindest-
niveau gewährleistet ist, und zwar nicht in Form einer
Lebensleistungsrente – eigentlich muss man ja „Rent-
chen“ sagen –, sondern in Form einer echten Garantie-
rente, die auch diejenigen schützt, die tatsächlich von
Altersarmut bedroht sind, insbesondere die Frauen.
Wir haben ein Konzept für eine Garantierente vorge-
legt. Wir sagen: Wer 30 Versicherungsjahre hat – alle
rentenrechtlichen Versicherungszeiten zählen dazu –,
soll eine Garantierente von 30 Entgeltpunkten erreichen.
Das entspricht ungefähr 850 Euro. Damit muss man
nicht mehr zum Grundsicherungsamt, wenn man lange
in die Rentenversicherung eingezahlt hat. Dieses Kon-
zept einer Garantierente haben wir durchrechnen lassen.
Dabei haben wir festgestellt, dass 85 Prozent derjenigen,
die diese Garantierente beziehen würden, Frauen sind.
Das heißt, die Garantierente ist eine echte Frauenmin-
destrente. Sie schützt die Frauen vor Altersarmut.
Das unterscheidet unser Konzept stark von dem Kon-
zept der CDU; allerdings kann man dabei ja noch nicht
einmal von einem wirklichen Konzept reden. Da gibt es
nichts außer dem Begriff „Lebensleistungsrente“ und der
Festlegung auf 40 Beitragsjahre.
Eindeutig ist: 40 Beitragsjahre sind von den Frauen, die
von Altersarmut bedroht sind, überhaupt nicht erreich-
bar.
Bei der Solidarrente der SPD werden 40 Versiche-
rungsjahre gefordert, von denen 30 Beitragsjahre sein
müssen. Auch das ist von den meisten Frauen, die von
Altersarmut bedroht sind, nicht zu erreichen. Das heißt,
auch die SPD hat keine Antwort auf die drohende Alters-
armut von Frauen.
26540 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
(C)
(B)
Wir haben ein Konzept, mit dem wir die Frauen, die
von Altersarmut bedroht sind, tatsächlich vor Altersar-
mut schützen können, mit dem wir sie davor bewahren
können, dass sie nach langer Erwerbstätigkeit, langen
Kindererziehungszeiten zum Sozialamt oder zum
Grundsicherungsamt müssen. Sie erhalten eine Rente,
die vor Armut schützt.
Da ich sehe, dass meine Redezeit vorbei ist, sage ich
einen letzten Satz – ich habe gesagt, dass Frau von der
Leyen schon als Kind den Weihnachtsengel gespielt hat –:
Nächstes Jahr gibt es eine neue Ministerin oder einen
neuen Minister, und dann werden wir uns daranmachen,
die Altersarmut von Frauen endlich zu bekämpfen.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Heike Brehmer für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen!
Wir verschließen die Augen nicht davor, dass durch
veränderte wirtschaftliche und demographische
Strukturen in Zukunft die Gefahr einer ansteigen-
den Altersarmut besteht.
So steht es im Koalitionsvertrag unserer christlich-libe-
ralen Koalition aus dem Jahr 2009.
Diese Aussage zeigt, dass wir den Kampf gegen Alters-
armut bereits zu Beginn unserer Legislaturperiode fest in
unserer Agenda verankert haben.
Ich kann die Aussage aus unserem Koalitionsvertrag
nur wiederholen und bestätigen: Unsere christlich-libe-
rale Koalition verschließt nicht die Augen vor dem Pro-
blem der Altersarmut
und widmet sich dem Thema mit einem hohen Maß an
politischer Verantwortung.
Es war unsere Bundesarbeitsministerin, Frau von der
Leyen, welche mit ihrem Regierungsdialog Rente
das Thema Altersarmut aufgegriffen und es zu einem
wichtigen Handlungsfeld unserer Politik gemacht hat.
Wir dürfen nicht vergessen, um wen es hier geht: Es geht
um die vielen Menschen in unserer Bundesrepublik, vor
allem Frauen, die Zeit ihres Lebens fleißig und hart gear-
beitet haben. Sie haben in die Rentenkasse eingezahlt,
sie haben aber auch ihre Kinder erzogen oder Familien-
angehörige gepflegt. Die Lebensleistung dieser Frauen
verdient Anerkennung und großen Respekt, auch in der
Alterssicherung.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von der Fraktion
Die Linke, Sie nutzen Ihre Anfrage an die Bundesregie-
rung wieder einmal, um mit den Emotionen unserer Bür-
gerinnen und Bürger zu spielen. Anstatt sich sachlich
mit dem Thema auseinanderzusetzen, ist in Ihrer An-
frage von „unzureichender“ sozialer Absicherung die
Rede.
Fakt ist: Die Rente ist und bleibt ein Spiegel unseres ge-
samten Erwerbslebens.
In Ihrem Antrag schreiben Sie, dass viele Seniorinnen
heute Witwenrente bekommen und davon leben müssen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, bitte vergessen Sie
nicht, dass die Rolle der Frau früher eine andere war als
heute.
Insbesondere in den alten Bundesländern waren die
Frauen meist zu Hause und haben die Kinder erzogen
oder Angehörige gepflegt. Selbst in der ehemaligen
DDR – ich spreche hier als Abgeordnete aus den neuen
Bundesländern – sind viele Frauen zu Hause geblieben.
Ich kann aus eigener Erfahrung berichten, dass meine
Mutti zu Hause war und uns Kinder zu Hause erzogen
hat. Wir waren nicht im Kindergarten und auch nicht im
Hort, weil es selbst zu DDR-Zeiten nicht genügend
Plätze gab.
Woher sollen heute die Rentenleistungen für unsere Se-
niorinnen kommen, welche circa 70 Jahre oder älter
sind?
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26541
Heike Brehmer
(C)
(B)
Inzwischen hat sich das Bild der Frau verändert. Fakt
ist, dass in den letzten Jahren die Erwerbstätigenquote
von Frauen in Deutschland überproportional gestiegen
ist. Die Anzahl derer, die eine zusätzliche Altersvorsorge
in Anspruch nehmen, ist unter Frauen sogar höher als bei
Männern. Das geht aus der Antwort der Bundesregie-
rung auf Ihre Anfrage deutlich hervor. Von einer, wie Sie
es nennen, „unzureichenden Absicherung“ bei Frauen
kann also nicht die Rede sein.
Wir müssen unsere Altersvorsorge zukunftsfest ma-
chen. Eine nachhaltige Vorsorge muss auf drei Säulen
beruhen: erstens die gesetzliche Rentenversicherung, die
das Kernstück unserer Altersvorsorge ist, zweitens die
private Vorsorge und drittens die betriebliche Altersvor-
sorge.
Wir in der CDU/CSU wollen, dass jeder, der Zeit seines
Lebens gearbeitet und vorgesorgt hat, im Alter von sei-
ner Rente leben kann und ein Alterseinkommen oberhalb
der Grundsicherung bekommt.
Wir wollen, dass wir die Anerkennung der Beitrags-
zeiten von Frauen, die Kinder erzogen oder Angehörige
gepflegt haben, schrittweise verbessern.
Das gilt insbesondere für diejenigen Frauen, die ihre
Kinder vor 1992 geboren haben.
Mit ihrer Entscheidung für ein oder mehrere Kinder ha-
ben diese Mütter einen wesentlichen Beitrag für unsere
Rentenversicherung geleistet. Das sollten wir nicht ver-
gessen.
Wir haben auf unserem Bundesparteitag in Hannover
die schrittweise Anerkennung dieser Lebensleistung in
unserem Beschluss „Sichere Rente – starker Generatio-
nenvertrag“ auf den Weg gebracht.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Strengmann-Kuhn?
Nein.
CDU und CSU waren es auch, die im Jahr 1986 erstmals
Familienleistungen in der Rentenversicherung anerkannt
und diese schrittweise ausgebaut haben. Um unsere
Rentnerinnen vor einer möglichen Altersarmut zu schüt-
zen, wollen wir daran anknüpfen und auch weiterhin an
unseren Überzeugungen festhalten. Wir wollen und wer-
den uns auch künftig dieser Thematik widmen.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen von den Linken,
in Ihrem Entschließungsantrag fordern Sie kostenlose
Kitaplätze. Sie wissen schon, dass nicht nur der Ausbau
der Kindertagesstätten viel Geld kostet, sondern auch die
Betreibung, und dass kostenlose Kindergartenplätze die
Kommunen, kreisfreien Städte und Länder zusätzlich
schwer belasten würden? Der Landtag in Sachsen-An-
halt hat gestern die Änderung des Kinderförderungsge-
setzes beschlossen. Bisher haben Eltern, die zu Hause
und nicht berufstätig sind, nur einen gesetzlichen An-
spruch auf Halbtagsbetreuung ihrer Kinder. Der Landtag
hat nun beschlossen, dass alle Kinder einen Anspruch
auf Ganztagsbetreuung haben. Diese Änderung kostet
das Land ab dem Jahr 2016 jährlich 53 Millionen Euro.
Diese fallen zusätzlich zu den aktuell 184 Millionen
Euro, die das Land bereits zahlt, an.
Ich möchte nur noch darauf hinweisen, dass auch wir
uns kostenlose Kindertagesbetreuung nicht leisten kön-
nen.
Wir wollen junge Familien mit Kindern finanziell ent-
lasten. Das geschieht in erster Linie durch das Kinder-
geld und durch die steuerlichen Freibeträge. Die CDU/
CSU-Bundestagsfraktion hat sich für eine Verbesserung
dieser Familienleistungen eingesetzt. Wir haben das
Kindergeld um 20 Euro pro Kind und Monat erhöht: für
das erste und das zweite Kind auf 184 Euro, für das
dritte Kind auf 190 Euro und für alle weiteren Kinder
auf 215 Euro im Monat.
Ich möchte an dieser Stelle an die Blockadehaltung der
SPD, der Grünen und der Linken im Bundesrat erinnern.
Auch im Hinblick auf den Abbau der kalten Progression
in der Einkommensteuer konnten Sie sich im Vermitt-
lungsausschuss diese Woche nicht einigen.
SPD, Grüne und auch die Linken sorgen im Bundesrat
weiterhin dafür, dass die hart arbeitenden Menschen in
26542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Heike Brehmer
(C)
(B)
unserem Land ab Januar 2013 weiterhin hoch besteuert
werden.
Vielleicht denken Sie einmal an die Menschen mit einem
kleinen Portemonnaie, die sich etwas für die private Al-
tersvorsorge zurücklegen wollen. Hier könnten Sie im
Bundesrat Ihrer Verantwortung nachkommen.
Verehrte Kollegen von den Linken, in Ihrer Großen
Anfrage geht es unter anderem um die Beschäftigungs-
zahlen der Frauen in Ost- und Westdeutschland. Als Ab-
geordnete aus den neuen Bundesländern
möchte ich Ihnen gerne meine Ansicht dazu schildern. In
den neuen Bundesländern waren nach der Wiederverei-
nigung viele Betriebe nicht mehr konkurrenzfähig. Viele
Bürger, darunter viele Frauen, verloren ihren Arbeits-
platz. Verehrte Kollegen von den Linken, das sind die
Folgen der verfehlten Politik der SED-Diktatur.
Sie reden in Ihrer Großen Anfrage von Altersarmut und
„unzureichender“ Alterssicherung. Der Normalbürger zu
DDR-Zeiten – daran möchte ich Sie gerne erinnern –
hätte im Durchschnitt vielleicht 340 Ostmark Rente er-
halten. Ich möchte auch daran erinnern, dass es damals
weder Arbeitslosengeld noch eine Grundsicherung im
Alter gab.
Ich möchte zum Abschluss meiner Rede kommen.
Wir haben in der heutigen Debatte die sozialen Heraus-
forderungen diskutiert – und tun es noch –, die an uns
Frauen gestellt werden. Die christlich-liberale Koalition
nimmt diese Herausforderungen an. Dieses Thema ist
bei unserem Ministerium, bei unserer Ministerin in sehr
guten Händen. Für uns in der Union gehört es zu unseren
festen Überzeugungen, dass das Ziel einer menschlichen
Gesellschaft nur erreicht werden kann, wenn Frauen in
allen Bereichen dieser Gesellschaft mitwirken. Eine
gleichberechtigte Teilhabe von Mann und Frau ist dafür
eine Grundvoraussetzung.
Das gilt auch bei der Absicherung im Alter. Um dem
Problem der Altersarmut zu begegnen, werden wir uns
auch zukünftig mit viel Herz und Verstand für die Be-
lange unserer Frauen einsetzen.
Ich danke für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Anton Schaaf für die SPD-Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Liebe
Frau Kollegin Brehmer, Sie können alle Themen dieser
Erde ansprechen; es wird aber nicht funktionieren, da-
von abzulenken, dass Sie in dieser Legislaturperiode
rentenpolitisch völlig gescheitert sind.
Ich weiß, wie das in Koalitionen ist: Da muss man
Kompromisse machen, und manche Wege sind schwie-
rig zu gehen. Das ist auch in Ordnung. Ich habe zwei
Koalitionen gemacht; die eine war etwas besser als die
andere.
Was ich der Union und dieser Ministerin allerdings nicht
durchgehen lassen kann, ist, dass Sie zugelassen haben,
dass Rentenpolitik in diesem Lande zur Klientelpolitik
verkommt.
Sie sind mit hehren Zielen gestartet. Gehen wir die
Punkte einmal durch: Rentenangleichung Ost/West: völ-
lige Fehlanzeige, Frau Brehmer. Vermeidung von Alters-
armut, im Koalitionsvertrag vereinbart: völlige Fehl-
anzeige in dieser Legislaturperiode. Rente nach
Mindesteinkommen stand in Ihrem Konzept: völlige
Fehlanzeige. Erwerbsminderungsrente: Fehlanzeige.
Dann startet die Ministerin durch, mit einem riesigen
medialen Aufwand, mit ihrem Vorstoß zu einer Zu-
schussrente. Auch dieses Konzept ist in der Koalition
völlig gescheitert.
Heraus kommt eine „Lebensleistungsrente“. Da müs-
sen wir über Klientelpolitik reden. Für diese „Lebens-
leistungsrente“ sollen die Menschen erst einmal ganz
viele Jahre gearbeitet und Beiträge gezahlt haben. Das
reicht aber nicht aus als Bemessungsgrundlage für eine
„Lebensleistungsrente“. Es geht Ihnen also überhaupt
nicht um die Lebensleistung der Menschen. Vielmehr
sollen die Menschen diese Rente nur dann bekommen,
wenn sie zusätzlich langjährig privat vorgesorgt haben.
Das ist Klientelpolitik, meine Damen und Herren, und
zwar zugunsten der Versicherungswirtschaft.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26543
Anton Schaaf
(C)
(B)
Wie sieht Ihre Bilanz dieser Legislaturperiode aus?
Was haben Sie diesem Parlament real vorgelegt? Nur ei-
nes hat das Parlament tatsächlich erreicht – wir hatten
dazu am Montag eine Anhörung –: Das ist die steuerli-
che Besserstellung für Selbstständige, die eine Rürup-
Rente abgeschlossen haben. Das ist auch Klientelpolitik
und nichts anderes.
Das ist das, was die Rentenpolitik dieser Regierung
und dieser Koalition in dieser Legislaturperiode ausge-
macht hat. Wenn man einen Strich darunter zieht, dann
sieht man, dass Sie für die Arbeitnehmerinnen und Ar-
beitnehmer nichts gemacht haben – und schon gar nicht
für die Frauen in diesem Lande.
Dann wurde es abenteuerlich und, wie ich finde, schä-
big – um das ehrlich zu sagen. Der CDU-Parteitag hat,
wie ich finde, richtigerweise beschlossen, dass man et-
was für die Frauen tun muss, die vor 1992 Kinder gebo-
ren haben.
– Bis hierhin bin ich ja bei Ihnen.
Einen Tag später kam der Bundesfinanzminister um die
Ecke und sagte: Wir machen bei dem Thema nichts, weil
wir für Griechenland haften müssen. – So etwas an
Schäbigkeit habe ich schon lange nicht mehr gehört –
um ehrlich zu sein.
Entweder belügen Sie die Öffentlichkeit, wenn es da-
rum geht, wie wir für Griechenland, die Finanzkrise und
die schwierige Situation in den südeuropäischen Län-
dern haften, oder Sie spielen tatsächlich mit Ressenti-
ments gegen die südeuropäischen Länder und insbeson-
dere Griechenland, um nicht Geld in die Hand nehmen
zu müssen und Frauen, die vor 1992 Kinder geboren ha-
ben, besserzustellen. Das und nichts anderes ist doch der
Hintergrund.
Ich habe keinen Widerspruch aus Ihren Reihen dazu
gehört. An der Stelle habe ich nur den tapfer kämpfen-
den Peter Weiß erlebt, der in seiner völligen Verzweif-
lung vorgeschlagen hat, nur die Frauen besserzustellen,
die mehrere Kinder vor 1992 geboren haben. In seiner
Verzweiflung hat er selbst zu diesem Trick noch gegrif-
fen. Aber selbst dieser Trick ist gescheitert, Peter; selbst
dabei kommt nichts heraus.
Um wirklich voranzukommen, hätten Sie zumindest
die Erziehungsleistung von Frauen in Ost- und West-
deutschland einfach gleichermaßen anerkennen können.
Selbst das, die Erziehungsleistungen in Ost und West in
der Rente gleichzustellen, haben Sie nicht hinbekom-
men. Selbst dazu waren Sie in keinster Weise in der
Lage.
Von Ihren Strategien ist am Ende also nicht viel übrig
geblieben.
Schauen wir uns noch einmal die Lebensleistungs-
rente an. Gestern, am 13. Dezember, dem Geburtstag
meiner Mama, die ich von hier aus zu ihrem Geburtstag
noch einmal grüße,
schrieb die Welt – Herr Präsident, ich zitiere mit Ihrer Er-
laubnis –: „Rentenreform droht endgültig zu scheitern“.
Das, was Sie als Rentenreform bezeichnen, Ihr Vor-
schlag der Lebensleistungsrente, droht jetzt also endgül-
tig zu scheitern.
Ihr geschätzter Kollege Straubinger Max, CSU, wird
in diesem Artikel zitiert.
Dort steht:
Straubinger machte deutlich, dass auch die CSU bei
der Lebensleistungsrente mehr Probleme als Lösun-
gen sieht.
Ja, Sie verursachen neue Probleme und Ungleichheiten.
Der Straubinger Max hat recht. Nehmen Sie sich ein
Beispiel an ihm!
Lassen Sie mich zum Schluss noch zwei Anmerkun-
gen machen:
Ich finde, die Saarbrücker Zeitung hat etwas Schönes
geschrieben – Herr Präsident, ich zitiere mit Ihrer Er-
laubnis –:
Die Union möchte dem Rentenkonzept der SPD et-
was Greifbares entgegensetzen. Aber die FDP hat
daran offenkundig wenig Interesse.
Sie lassen sich von dieser kleinen Klientelpartei auch in
der Rentenpolitik mit dem Nasenring durch die Arena
ziehen. Das ist das, was tatsächlich dabei herauskommt.
Deswegen werden Sie in dieser Legislaturperiode mit
Sicherheit auch nichts mehr hinkriegen.
Herr Strengmann-Kuhn, wir sind an der einen oder
anderen Stelle vielleicht noch nicht ganz beieinander,
aber ich bin mir sicher: Ab September nächsten Jahres
werden wir uns relativ zügig auf den Weg machen, um
Antworten auf die Fragen zu geben, wie wir Altersarmut
26544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Anton Schaaf
(C)
(B)
verhindern und Frauen auch im Rentenrecht besserstel-
len können.
Ich bin mir sicher: Wir kriegen das zügig hin. Die
kriegen das auf gar keinen Fall hin.
Danke.
Das Wort hat nun Pascal Kober für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Toni Schaaf, eines muss sich diese Regierungsko-
alition von der SPD mit Sicherheit nicht vorwerfen las-
sen, nämlich dass wir für die Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer nichts gemacht hätten.
Wir haben eine Politik gemacht, die so viele Menschen
wie seit Jahrzehnten nicht mehr in Arbeit gebracht hat.
Das ist eine Leistung dieser Regierungskoalition, die
sich sehen lassen kann, Toni.
– Deine Nervosität zeigt, dass wir recht haben.
Wir sind die wahre Arbeitnehmer- und Arbeitnehmerin-
nenpartei, nicht ihr. Wir bringen die Menschen in Arbeit,
und das ist das Wichtigste, wenn es um rentenpolitische
Fragen geht.
Toni Schaaf, auch ich grüße deine Mutter, die gestern
Geburtstag hatte, von diesem Ort aus. Während dieser
Rentendebatte habe ich eine SMS von einem Freund be-
kommen, dem gerade ein Sohn, Julius Paul Konstantin,
mit 53 Zentimetern und 3 440 Gramm geboren wurde.
Auch für die Generation dieser Kinder, die jetzt geboren
werden, müssen wir Politik machen, auch an sie müssen
wir denken, wenn wir in der Rentenpolitik etwas errei-
chen wollen,
weil alles von künftigen Generationen bezahlt werden
muss, entweder über Beiträge oder über Steuern.
Lieber Toni Schaaf, liebe Frau Ferner, liebe SPD, Sie
sollten in der Debatte schon ehrlich sein. Sie tun so, als
ob man mit der Einführung eines flächendeckenden ge-
setzlichen Mindestlohns – der Mindestlohn ist eine For-
derung in Ihrem Wahlkampf – von 8,50 Euro in ganz
Deutschland etwas gegen Altersarmut erreichen könnte.
Dann sollten Sie zumindest so ehrlich sein, einmal vor-
zurechnen, wie viel man denn in Deutschland verdienen
müsste, um, wenn man 40 Jahre lang ganztägig arbeitet,
auf einen Rentenanspruch zu kommen, der höher als die
gegenwärtige Grundsicherung ist.
Da müssen Sie 14, 15 oder 16 Euro die Stunde verdie-
nen, nicht die 8,50 Euro, die Sie hier propagieren. Sie
streuen mit Ihrer Forderung den Menschen Sand in die
Augen und machen ihnen Hoffnungen, die Sie in keiner
Weise erfüllen können.
Diese Regierungskoalition macht eine erfolgreiche
Politik, auch wenn es um die Erwerbstätigkeit von
Frauen geht. Es ist richtig: Gerade bei Frauen müssen
wir weitere Anstrengungen unternehmen, damit sie bes-
sere Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Ein wichti-
ger Schlüssel dafür ist die Kinderbetreuung. Die Bun-
desregierung hat – daran waren Sie beteiligt – den
Ausbau der Kinderbetreuung bereits mit 4,6 Milliarden
Euro forciert. Jetzt sind allerdings auch die Länder ge-
fordert, auch die, in denen Sie Regierungsverantwortung
haben,
ihren Teil der Zusagen einzuhalten und eine ausrei-
chende Kinderbetreuung sicherzustellen.
Aber auch wir lassen nicht nach. Diese Regierungs-
koalition unterstützt den Betrieb und den weiteren Aus-
bau der Kinderbetreuung ab 2014 mit jährlich 845 Mil-
lionen Euro. Das kann sich sehen lassen. Das ist ein
wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Chancen für
Frauen am Arbeitsmarkt.
Darüber hinaus unterstützt die Bundesregierung bei-
spielsweise mit dem Programm „Perspektive Wiederein-
stieg“ Frauen und ihre Partner im Prozess des berufli-
chen Wiedereinstiegs.
Mit über 650 lokalen Bündnissen für Familien vernetzen
wir Akteure aus Wirtschaft, Verwaltung und Zivilgesell-
schaft. So verbessern wir die Lebensbedingungen von
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26545
Pascal Kober
(C)
(B)
Familien, von Eltern und erleichtern den Wiedereinstieg
in den Beruf.
Wir müssen aber auch insgesamt an einigen Stellen in
der Gesellschaft umdenken, beispielsweise wenn es um
die Berufswahl von Frauen geht. Auch das, Frau Ferner,
ist ein wichtiger Punkt; denn wir sehen, dass sich
50 Prozent aller jungen Frauen auf nur 10 Prozent von
den rund 350 existierenden Ausbildungsberufen konzen-
trieren, und zwar häufig im Dienstleistungsbereich, etwa
als Verkäuferin, Arzthelferin, Friseurin, wo es eher ge-
ringere Karriere- und Verdienstmöglichkeiten gibt. Da
muss man die jungen Frauen ermutigen, neue und andere
Berufsbilder zu entdecken, damit sie die gleichen Chan-
cen wie die Männer haben.
– Nein, Frau Ferner, Frauen sind nicht selber daran
schuld. Aber jeder kann seinen Beitrag leisten. Wir sind
bereit, das zu tun.
Liebe Frau Ferner, wenn Sie wirklich etwas gegen Al-
tersarmut und für die Erwerbstätigkeit von Frauen tun
wollen, dann wählen Sie bei der nächsten Bundestags-
wahl diese Bundesregierung.
Damit werden Sie dieses Ziel erreichen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Jutta Krellmann für die Fraktion
Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen
und Herren! Ich stelle noch einmal fest: Niedriglöhne
und Minijobs ergeben eine schlechte Rente.
Frauen sind davon besonders betroffen. Überraschung!
All das haben wir vorher nicht gewusst. Jetzt wissen wir
es genau, und zwar allein wegen dieser Anfrage.
70 Prozent aller Beschäftigten im Niedriglohnsektor
sind Frauen. Zwei Drittel aller Minijobber sind weiblich.
Die Folge: Frauen sind häufiger auf Grundsicherung im
Alter angewiesen und von Armut im Alter bedroht, egal
was Herr Kolb von der FDP dazu sagt. Aber es kommt
noch dicker: Selbst in normalen Arbeitsverhältnissen
sind Frauen schlechter gestellt als ihre männlichen Kol-
legen. Frauen verdienen im Durchschnitt – das haben
auch andere schon gesagt – 22 Prozent weniger als ihre
männlichen Kollegen.
Als ich in Hameln bei der IG Metall angefangen habe
zu arbeiten, war das große Thema der AEG-Frauen die
Abschaffung der Niedriglohngruppen. Die Abschaffung
dieser unteren Entgeltgruppen ist gelungen. Dafür haben
wir gekämpft.
Heute gibt es die Lohngruppe 1 nicht mehr. Die Dis-
kriminierung von Frauen in vielen anderen Bereichen
und Arbeitsbereichen ist aber geblieben und hat sich so-
gar teilweise noch verstärkt.
Meine Damen und Herren von der Koalition, was ist
so schwer daran, wirksam gegen Altersarmut vorzuge-
hen? Man bräuchte doch nur einen Mindestlohn einzu-
führen. Das wäre doch wirklich nicht schwierig.
Stattdessen doktern Sie mit völlig untauglichen Mit-
teln an den Ergebnissen Ihrer Niedriglohnpolitik herum
und versagen bei der Gleichstellungspolitik. Damit muss
Schluss sein.
Ihre Miniaufstockung von Renten mit dem zynischen
Namen „Lebensleistungsrente“ für Menschen, die ein
Leben lang gearbeitet haben, wird kaum bei den Frauen
ankommen, weil die meisten Frauen gar nicht so viele
Beitragsjahre zusammenbekommen.
Auch bei der Bekämpfung einer anderen Ursache
niedriger Frauenrenten versagen Sie. Abgesehen von
schlechten Löhnen sind auch längere Erwerbsunterbre-
chungen wegen Kindererziehung und Pflege ein Grund
für niedrige Renten von Frauen. Denn immer noch sind
meistens sie es, die zu Hause die Kinder erziehen und
Angehörige pflegen.
Wir brauchen endlich eine funktionierende Infrastruk-
tur für Erziehung und Pflege, damit auch Frauen in ihren
Berufen tätig bleiben können.
Statt das anzugehen, wollen Sie sich den Rechtsanspruch
auf einen Kitaplatz billig durch das Betreuungsgeld ab-
kaufen lassen oder setzen auf schlecht bezahlte und
kaum abgesicherte Tagesmütter, die ihrerseits wahr-
scheinlich auch in der Altersarmut landen werden. Zu-
sätzlich brauchen wir genau in den Bereichen, in denen
hauptsächlich Frauen arbeiten, gute Arbeitsbedingun-
gen und gute Löhne.
Die Linke sagt: Wir brauchen familienfreundliche Ar-
beitszeiten und eine Arbeitskultur, in der nicht diejeni-
gen der tolle Hecht oder die tolle Frau sind, die bis
20 Uhr im Büro sitzen, sondern diejenigen, die spätes-
tens um 17 Uhr alles geschafft haben und dann ihre Kin-
der abholen können, um mit ihren Familien zusammen
leben zu können.
26546 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Jutta Krellmann
(C)
(B)
Die Linke sagt: Wir brauchen eine Pflegeversiche-
rung, die diesen Namen auch verdient und die eine
Pflege ermöglicht, in deren Hände man seine Eltern und
Großeltern gerne gibt.
Die Linke sagt außerdem: Um Minirenten zu verhin-
dern, müssen wir Minijobs abschaffen, einen allgemei-
nen gesetzlichen Mindestlohn von 10 Euro einführen
und die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarif-
verträgen verbessern.
Aber gute Löhne können nur dann zu guten Renten
führen, wenn das Rentenniveau insgesamt ausreichend
hoch ist. Das ist nicht mehr der Fall und wird für viele,
egal ob Männer oder Frauen, in die Altersarmut führen,
wenn Sie nicht gegensteuern.
Es bleibt dabei: Wir brauchen einen grundlegenden
Kurswechsel in der Arbeits- und Rentenpolitik, auch und
gerade für Frauen.
Vielen Dank.
Das Wort hat nun Frank Heinrich für die CDU/CSU-
Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Ich möchte noch einmal auf den eigentlichen
Anlass dieser Debatte zurückkommen, nämlich die
Große Anfrage, die Sie als Linke an die Bundesregie-
rung gerichtet haben. Das Thema ist wichtig, wie auch
Redner unserer Fraktion schon gesagt haben, aber für
mich bzw. für uns ist die Fragestellung irgendwie selt-
sam. Denn es wirkt so, als hätte es zwischen den Aussa-
gen, die Sie in der Einleitung zu Ihrer Großen Anfrage
gemacht haben, und den Aussagen, die Sie jetzt machen,
keine Antwort gegeben.
Es wirkt, als wären Sie schon voreingenommen und
wüssten die Antwort schon vorher, wollten sie aber noch
einmal bestätigt haben. Sie klauben sich ein Stück weit
einfach das heraus, was Sie bestätigt. Ich lese einfach ein
paar kurze Passagen aus Ihrer Großen Anfrage vor:
„Frauen sind …“, „Sie haben …“, „Sie verfügen …“,
„Sie sind …“. Das stammt nur aus den ersten sechs oder
sieben Zeilen der Anfrage.
Dann stellen Sie Fragen und machen jetzt, nachdem
Sie die Antwort der Bundesregierung bekommen haben,
die gleichen Aussagen, ohne zur Kenntnis zu nehmen,
dass dazwischen Dinge widerlegt worden sind.
– Die sind ja auch entsprechend ausgefallen. – Für uns
ist das ein wichtiges Thema. Mich erinnert Ihr Vorgehen
an die Szenerie – ich weiß nicht, ob Sie diese kennen –,
in der ein Mann einen Pfeil sieht, der in einer Scheunen-
wand steckt, und dann herausfindet, dass dieser Pfeil im
Schwarzen einer Zielscheibe steckt.
Später stellt sich heraus, dass die Zielscheibe um den
Pfeil herum gemalt wurde. Genauso verhält es sich mit
Ihrer Großen Anfrage. Sie haben die Antworten schon
vorweggenommen.
Im Einstiegstext zu Ihrer Großen Anfrage sagen Sie,
was Sie denken. Welchen Sinn machen Fragen, wenn
schon in der Vorbemerkung Folgendes behauptet wird:
Die bisher bekannt gewordenen Vorhaben … sind
jedoch nicht geeignet, dem Problem der Altersar-
mut und unzureichenden Absicherung von Frauen
für das Alter in adäquater und ausreichender Weise
zu begegnen.
Weiter heißt es:
Die darüber hinaus anvisierten rentenrechtlichen
Änderungen sind ebenfalls nicht geeignet, das Pro-
blem im Kern zu lösen.
Dann gibt es falsche Behauptungen. In Frage 33 Ihrer
80 Fragen heißt es:
Wie bewertet die Bundesregierung den Trend der
Abnahme weiblicher Vollzeitbeschäftigung …?
In der Kleinen Anfrage, die Sie letztes Mal gestellt ha-
ben, wurde darauf bereits geantwortet: Diesen Trend gibt
es gar nicht.
In einer anderen Frage werden Sie darauf hingewie-
sen, dass Sie die Antwort auf Ihre Frage in dem vorange-
gangenen Satz hätten finden können. Ich finde, das
Thema ist zu wichtig, als dass wir so einfältig und leicht-
fertig damit umgehen sollten.
Ich kann mich an dieser Stelle des Eindrucks nicht er-
wehren, dass Sie offensichtlich das politische Ziel sozia-
listischer Färbung haben,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26547
Frank Heinrich
(C)
(B)
ein Stück weit einen Angriff auf die Kernwerte unserer
Gesellschaft zu starten, und das wird dann auch noch als
solidarisch dargestellt.
Ihr Entschließungsantrag enthält Forderungen wie die
Abschaffung des Ehegattensplittings und des Betreu-
ungsgeldes.
Kann es sein, dass Sie freiwilligen Verzicht von Bürgern
auf Erwerbsarbeit zugunsten von Erziehung einfach
nicht zulassen wollen?
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Binder?
Nein, im Moment nicht. Ich möchte zum Punkt kom-
men. –
Politik darf doch den Lebensentwurf von Familien nicht
so stark beeinflussen, von Eingriffen in andere Auto-
nomiebereiche ganz zu schweigen.
Meine Kollegin Brehmer hat am Anfang gesagt, dass
die Rente für uns als christlich-liberale Verantwortungs-
träger Erwerbsbiografie, Erziehungsleistung und pflege-
rische Tätigkeit widerspiegeln und so die Versorgung im
Alter sichern und die Lebensleistung tatsächlich würdi-
gen soll. Ich habe gesagt: eine wichtige Debatte. Die De-
batte wird auf jeden Fall zum richtigen Zeitpunkt ge-
führt. In diesem Jahr haben nicht nur Sie, meine Damen
und Herren von der Linken, diese Anfrage gestellt. Frau
von der Leyen ist teilweise verbal fast dafür vermöbelt
worden, dass sie auf Altersarmut als Problem hingewie-
sen hat.
Man hat ihr vorgeworfen, hier ein Angstszenario zu
skizzieren.
Wir nehmen dieses Thema in den Fokus. Ich zitiere:
Die Bundesregierung sieht, dass durch veränderte
wirtschaftliche Strukturen und den demografischen
Wandel in Zukunft die Gefahr besteht, dass Alters-
armut zunimmt.
Weiter heißt es:
Vor diesem Hintergrund und der Notwendigkeit, im
Hinblick auf die Alterssicherung auch den Haus-
haltszusammenhang und abgeleitete Alterssiche-
rungsansprüche zu berücksichtigen, kann von einer
besonders unzureichenden sozialen Absicherung
von Frauen … nicht die Rede sein.
Der Anteil von Frauen, die im Alter Leistungen der
Grundsicherung beziehen, ist sehr gering.
Es ist eine wichtige Debatte mit einem konstruktiven
Ausblick. Die drei Säulen wurden bereits genannt: die
gesetzliche Rente, die betriebliche Altersvorsorge und
die private Vorsorge. Herr Strengmann-Kuhn hat vorhin
immer wieder gefragt: Was tut die Bundesregierung?
Herr Kober hat bereits auf den Rechtsanspruch auf einen
Betreuungsplatz und den bedarfsgerechten Ausbau der
qualitativ hochwertigen Kinderbetreuungsinfrastruktur
hingewiesen. Die Bundesregierung fordert Unternehmen
auf, die Einrichtung betrieblicher Betreuungsplätze zu
fördern. Meine Redezeit reicht nicht aus, um all das, was
die Bundesregierung tut, aufzulisten.
Herr Kollege, Sie müssen zum Ende kommen.
Ich komme zum Ende.
In der heutigen Ausgabe des Tagesspiegel wird das
noch einmal bestätigt. Es kommt nicht nur bei den Be-
trieben, sondern auch bei den Familien an:
Eltern wählen ihren Arbeitgeber immer stärker
nach der Familienfreundlichkeit aus.
Wenn das Signal nicht deutlich genug ist! Ein wichtiges
Thema mit einer seltsamen Fragestellung, –
Herr Kollege!
– eine wichtige Debatte zum richtigen Zeitpunkt.
Aber wir brauchen auch einen konstruktiven Ausblick.
Wir laden Sie zu weiteren Debatten ganz herzlich ein.
Das Wort hat nun Ottmar Schreiner für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich
bin eigentlich erstaunt darüber, dass die Bundesregie-
rung bislang hier nicht das Wort ergriffen hat.
26548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Ottmar Schreiner
(C)
(B)
– Bitte?
Wir haben hier eine Debatte über die schriftliche Ant-
wort der Bundesregierung auf eine Große Anfrage.
Diese Antwort der Bundesregierung ist in den Debatten-
beiträgen mehrfach in Zweifel gezogen worden.
Hier sitzt die amtierende Bundesministerin und hat es
bislang nicht nötig, im Parlament zu dem Thema zu re-
den. Hier sitzt der Staatssekretär Fuchtel, ausgestattet
mit einer neuen Brille, und hat es nicht nötig, hier im
Parlament zu dem Thema zu reden.
Das geht einfach nicht.
– Die ist wirklich gewöhnungsbedürftig. Dieses Gerät ist
gewöhnungsbedürftig, Herr Staatssekretär, aber das ist
ein anderes Thema.
Die Vorredner haben schon zusammengefasst, um
was es sich hier handelt: Pannen, Pleiten, Pech. Weiß der
Teufel, was hier zustande gekommen ist. Nichts.
Schauen Sie sich die Ankündigungen der letzten Jahre
und die Koalitionsvereinbarung an. Ich habe alleine
schon wegen des Rentendebakels große Zweifel, ob es
sich bei dieser Koalition um eine christlich-liberale Ko-
alition handelt.
Es handelt sich ohne Zweifel um eine liberale Koalition,
aber was den christlichen Teil betrifft, sind einige Frage-
zeichen angebracht.
– Große Fragezeichen. – Schauen wir uns an, was zu gu-
ter Letzt dabei herausgekommen ist. Auch hier gilt der
Satz von Altkanzler Helmut Kohl. Eine seiner berühm-
testen Erkenntnisse war ja: Entscheidend ist, was hinten
rauskommt. – Hier ist hinten bislang nichts herausge-
kommen.
Frau Ministerin, Herr Staatssekretär, liebe Kolleginnen
und Kollegen von der Koalition, kommt denn noch et-
was hinten heraus?
Der Kollege Schiewerling leitet eine Arbeitsgruppe,
die sich mit dem Versuch beschäftigen soll, die verschie-
denen Überlegungen, die seit Jahren auf dem Koalitions-
markt sind, jetzt erneut zusammenzufügen. Ich ent-
nehme der Presse, dass der Kollege Schiewerling die
Arbeitsgruppe nicht mehr einberuft.
– Das kann man in den Zeitungen nachlesen.
Herr Kollege Schiewerling, haben Sie jede Hoffnung
aufgegeben? Hier ist Schluss mit lustig, es findet nichts
mehr statt.
Ich habe in meinem ganzen parlamentarischen Leben
kein vergleichbares Beispiel dafür erlebt, dass in einem
zentralen Politikfeld alle Ankündigungen über Jahre hin-
weg bis hin zu den Vereinbarungen im Koalitionsvertrag
in keinem einzigen Punkt eingehalten worden sind. Das
habe ich bisher in diesem Ausmaß nicht erlebt. Wir erle-
ben ein völliges Fiasko der Koalition.
Frau von der Leyen hat ohne Zweifel das Verdienst,
dass sie mit der Lampe auf die Probleme geleuchtet hat.
Ich kenne eine ganze Reihe von Beispielen. Sie hat unter
anderem in den Medien darauf hingewiesen, dass bei-
spielsweise jemand, der 1 900 Euro verdient, bei 40 Bei-
tragsjahren auf eine Rente von etwas mehr als 800 Euro
kommt. Wenn das Rentenniveau weiter gesenkt wird,
wird sich der Betrag in Richtung Grundsicherung bewe-
gen – und das bei 1 900 Euro Monatsverdienst. Das
heißt, der komplette Niedriglohnsektor wird in absehba-
rer Zeit in der Altersarmut versumpfen, wenn nichts ge-
schieht.
Der Niedriglohnsektor ist aber eine Domäne, in die
ganz überwiegend Frauen abgeschoben werden. Damit
sind wir beim Thema. In dem Armuts- und Reichtums-
bericht, dem ungeschönten – ich spreche von der ersten
Version –
– dem echten –, ist zu lesen, dass 25 Prozent der Be-
schäftigungsverhältnisse in Deutschland inzwischen aty-
pische, das heißt prekäre, instabile, unsichere Beschäfti-
gungsverhältnisse sind. Das ist ein neuer Rekord. Dass
23 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse im Niedrig-
lohnsektor angesiedelt sind, ist ebenfalls ein Rekord.
Wir haben es also mit der Situation zu tun, dass rund ein
Viertel aller Beschäftigten entweder in einem prekären
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26549
Ottmar Schreiner
(C)
(B)
Beschäftigungsverhältnis oder im Niedriglohnsektor be-
schäftigt ist. Diese Beschäftigten sind zu fast 70 Prozent
Frauen. Das heißt, die Altersarmut dieser Frauen ist
– das belegen alle Daten, die die Bundesministerin in
den letzten Monaten vorgetragen hat – geradezu vorpro-
grammiert. Das weiß jeder.
Es geschieht nichts. Es geschieht deshalb nichts, weil
die Koalition handlungsunfähig ist. Übrigens: Ich wider-
spreche der Saarbrücker Zeitung ungern, weil mein
Wahlkreis in der Nähe von Saarbrücken liegt. Wenn sie
aber schreibt, dass die FDP – Herr Kollege Kolb, ich
muss Sie jetzt ausdrücklich in Schutz nehmen – den Ver-
such der CDU blockiere, bei der Bekämpfung der Al-
tersarmut einen Schritt nach vorne zu machen, dann trifft
das nicht zu.
Sie von der FDP blockieren zwar, aber Sie sind nicht die
Einzigen. Ihre Helfershelfer in der CDU/CSU – die Ren-
tenpolitiker Mißfelder, Spahn und wie die ganze Truppe
heißt – sind die eigentlichen Verhinderer und Blockierer
in dieser Koalition.
Die Ministerin und das Häuflein der Sozialpolitiker sind
umstellt von Herrn Kolb und seinen Rentenjüngern in
der FDP-Fraktion auf der einen Seite
und der jungen Garde der neoliberalen Jungideologen
Mißfelder, Spahn und Konsorten auf der anderen Seite.
Sie tun mir fast schon leid, und da Weihnachten ist, wün-
sche ich Ihnen eine gute Erholung über die Festtage.
Ich will zur Lebensleistungsrente von Frau von der
Leyen jetzt nichts mehr sagen. Dazu ist bereits vieles
dargestellt worden.
Frau von der Leyen, was bisher von Ihnen kam, ist
nichts als weiße Salbe. Wenn Sie eine Aufstockung um
etwa 10 Euro als Honorierung von Lebensleistung dar-
stellen, dann bedeutet das, dass man die Leute veralbert,
vereiert, im schlimmsten Fall verarscht.
Das geht wirklich nicht, Frau von der Leyen.
Den Vogel abgeschossen – nicht Sie, Herr Vogel; Sie
brauchen gar nicht zusammenzuzucken – –
– Ach so, okay. Dann kann es ja ganz lustig werden.
Ich möchte noch kurz auf den abgeschossenen Vogel
eingehen. Frau von der Leyen, damit gemeint sind nicht
Sie; nicht Sie haben den Vogel abgeschossen. Den Vogel
abgeschossen hat vermutlich die wichtigste Person in der
Bundesregierung nach der Bundeskanzlerin, nämlich der
Bundesfinanzminister. Der Bundesfinanzminister hat
vor wenigen Tagen in der Bild am Sonntag erklärt, er
sehe derzeit überhaupt keinen Spielraum im Haushalt
2013 für die auf dem CDU-Parteitag beschlossene Bes-
serstellung älterer Mütter in der Rente. Als Grund hat er
die neuen Hilfsmaßnahmen für Griechenland angeführt.
Das ist bodenlos.
Mit dem gleichen Argument könnte hier im Bundestag
jemand einen Antrag stellen, den Bundeswehreinsatz in
der Türkei unterbleiben zu lassen, weil das Geld dafür
aufgrund der Hilfen für Griechenland nicht da sei. Es
gibt überhaupt keinen inneren Zusammenhang zwischen
dem Bundeswehreinsatz in der Türkei und den Grie-
chenland-Hilfen, und es gibt auch nicht den geringsten
inneren Zusammenhang zwischen den Rentenleistungen
für Mütter, die vor 1992 geboren haben, und den Grie-
chenland-Hilfen. Das ist abenteuerlich und bringt die
Europapolitik in schwersten Misskredit. So etwas darf
man hier wirklich nicht stehen lassen. Das geht doch gar
nicht.
Herr Kollege, Sie müssen zum Schluss kommen.
Ja, ich komme zum Schluss.
Wenn der Bundesfinanzminister einen adäquaten Bei-
trag zur Verbesserung der Situation geliefert hätte, dann
hätte er vielleicht einmal erklärt, ob und in welchem
Ausmaß die Bundesregierung im Rahmen ihrer Mög-
lichkeiten in Europa darauf hingewirkt hat, dass bei-
spielsweise in Griechenland die wirklich Vermögenden
– die Milliardäre, die Millionäre – ihrerseits einen Bei-
trag zur Sanierung des griechischen Staatshaushalts leis-
ten.
Herr Kollege!
Solange sie nicht zur Kasse gebeten werden, ist es un-
stattlich, in Deutschland ältere Frauen, die Kinder gebo-
ren haben, wegen Griechenland in Haftung zu nehmen.
26550 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
(C)
(B)
Das Wort hat nun Johannes Vogel für die FDP-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Lieber Kollege Schreiner, das war ja wirklich eine be-
merkenswerte Rede.
Ich habe ein bisschen auf die Zeit geachtet: Die Hälfte
der Zeit haben Sie sich mit persönlichen Angriffen auf
Vertreter der Regierungskoalition beschäftigt,
gipfelnd in der Auseinandersetzung über die Brille des
Parlamentarischen Staatssekretärs. Wer keine Argu-
mente hat, der geht gegen die Person. Das ist, glaube ich,
bezeichnend, Herr Kollege Schreiner.
– Auf die „Rentenjünger“ wollte ich jetzt nicht näher
eingehen.
Schauen wir uns einmal an, was Sie inhaltlich gesagt
haben, lieber Kollege Schreiner. Sie haben gesagt, Sie
hätten den Eindruck, diese Koalition lege beim Renten-
paket nichts mehr vor. Sie haben sich auf einen Presse-
bericht gestützt, aus dem das hervorgehe.
Ich gehöre diesem Parlament sehr, sehr viel kürzer an als
Sie. Aber eins habe selbst ich schon in meiner ersten Le-
gislaturperiode gelernt: Man soll nicht alles glauben,
was in der Zeitung steht.
Insofern: Wenn entsprechende Zeitungsmeldungen das
Fundament Ihrer Argumente sind, dann ist das bezeich-
nend.
Gehen Sie einmal davon aus, dass diese Koalition in
intensiven Gesprächen ist. Im Gegensatz zu Ihnen wol-
len wir die Arbeit nicht schon drei Jahre nach Beginn der
Legislaturperiode einstellen.
Wir werden ein gutes Paket zu den Themen Lebensleis-
tungsrente, Grundsicherung, Rentenflexibilisierung und
den anderen Themen vorlegen.
Interessant ist ja – wir reden hier über Altersarmut –,
dass dieses Paket sowieso nur auf der Systematik auf-
bauen kann, die wir im Rentensystem schon haben. Da,
lieber Toni Schaaf, fand ich bemerkenswert, wie du hier
gegen die eigene Politik gewettert hast – gegen die Poli-
tik, die die rot-grüne Regierung einmal begonnen hat.
Eins ist klar: Gerade die Menschen, die wenig haben, ge-
rade die, die weniger ins Rentensystem einzahlen, sind
doch darauf angewiesen, dass das Rentensystem solide
und zukunftssicher aufgebaut ist.
Wir reden ja über Altersarmut für die Jüngeren, für zu-
künftige Generationen. Heute ist Altersarmut in
Deutschland zum Glück nicht so weit verbreitet. Wenn
wir auch in Zukunft Altersarmut vermeiden wollen,
dann muss das Rentensystem in Zeiten des demografi-
schen Wandels solide aufgebaut sein. Deswegen habt ihr,
liebe Kolleginnen und Kollegen, in der ehemaligen rot-
grünen Koalition die zweite Säule der Rentenversiche-
rung aufgebaut, zu der wir uns bekennen.
Dagegen wurde heute von dir, lieber Toni Schaaf,
sehr polemisiert. Die SPD hat sich mit dem aktuellen
Rentenkonzept, das sie beschlossen hat, von der eigenen
Politik – Stichwort „zweite Säule“, Stichwort „Rente mit
67“ – verabschiedet.
Da kann ich nur sagen: Wenn diese Politik Realität
würde, dann wäre das für die jüngere Generation der si-
cherste Weg in die Altersarmut, liebe Kolleginnen und
Kollegen, und das wollen wir nicht.
Neben der Frage der Systematik des Rentensystems
ist eines auch klar; da stimme ich Ihnen, Frau Kollegin
Ferner, ausnahmsweise zu. Wir sind im Deutschen Bun-
destag häufig nicht einer Meinung, aber in einem Punkt
muss ich Ihnen ausdrücklich recht geben.
Sie haben betont: Die eigene Rente kann immer nur
Spiegel des eigenen Arbeitslebens sein. – Das ist richtig.
Deshalb: Wer sich seriös mit der Verhinderung von Al-
tersarmut beschäftigen will, der muss neben dem Ren-
tensystem auch immer auf das schauen, was am Arbeits-
markt passiert.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26551
Johannes Vogel
(C)
(B)
– Genau! – Nur ist Ihre teilweise realitätsverweigernde
Wünsch-dir-was-Politik am Arbeitsmarkt
– das gilt auch für Sie, liebe Kolleginnen und Kollegen
von den Linken – dann nicht die bessere Antwort. Es ist
eben nicht so einfach, wie Sie sich das vorstellen mit ge-
setzlichem Mindestlohn usw. usf.
Es kommt darauf an, sich der schwierigen Aufgabe zu
stellen, für die Menschen am Arbeitsmarkt Einstiegs-
chancen – denn das größte Risiko für Altersarmut ist län-
gere Arbeitslosigkeit – und Aufstiegschancen zu organi-
sieren.
Da kann ich nur sagen: Ausweislich der Zahlen, aus-
weislich zum Beispiel der niedrigsten Jugendarbeitslo-
sigkeit in Europa, ausweislich unseres Handelns, aus-
weislich des Ausbaus der Qualifikationsmöglichkeiten
für mehr Aufstiegsperspektive am Arbeitsmarkt widmen
wir uns dieser Aufgabe sehr viel erfolgreicher als Sie mit
all den Konzepten, die Sie uns hier vorlegen, liebe Kol-
leginnen und Kollegen.
In diesem Sinne hat uns, finde ich, diese Debatte lei-
der nicht wirklich neuere Erkenntnisse gebracht, Herr
Kollege Birkwald, als die Kleine Anfrage zu diesem
Thema, die Sie im Laufe dieses Jahres bereits gestellt
haben.
Ich freue mich trotzdem, dass wir Gelegenheit hatten,
hier noch einmal ausführlich zu debattieren. Ich nutze
diese Gelegenheit auch, um zum Ende meiner Rede ver-
söhnlich Ihnen allen frohe Weihnachten zu wünschen so-
wie ein paar schöne ruhige Tage im Kreise von Men-
schen, die Ihnen wichtig sind. Ich freue mich darauf,
dass wir alle uns im neuen Jahr in dieser Runde im Deut-
schen Bundestag wiedersehen.
In diesem Sinne: Schöne Feiertage!
Das Wort hat nun Paul Lehrieder für die CDU/CSU-
Fraktion.
Lieber Jörn Wunderlich, schauen wir mal! – Sehr ge-
ehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Kollege Strengmann-Kuhn, Sie haben zu Beginn
und zum Ende Ihrer Rede unsere sehr engagierte und dy-
namische Arbeitsministerin, Frau von der Leyen, rück-
blickend als Weihnachtsengel apostrophiert.
Vom Äußeren könnte man sicherlich auf die Idee kom-
men, dass sie für eine solche Funktion geeignet wäre –
wie für andere Sachen auch. Ich komme gleich noch da-
rauf.
– Frau Ferner, zu Ihnen komme ich auch noch.
Auf jeden Fall: Es hat nichts mit Weihnachten zu tun.
Schauen Sie sich einmal den Entschließungsantrag an!
Wir haben im März den ersten Entwurf zur Vermeidung
gerade von Altersarmut hier durch Frau von der Leyen
vorgelegt bekommen. Da hat die Linke gemerkt:
Hoppla, da ist was! Dann stellen wir eine Große An-
frage. – Aus dieser Großen Anfrage ist der vor drei Ta-
gen hier vorgelegte Entschließungsantrag entstanden,
der – wir sind in der Vorweihnachtszeit – etliches Wün-
schenswerte, aber leider Gottes keine Finanzierung ent-
hält. Das ist aber genau die Diskussion, die wir führen
müssen.
Sie fordern die Verbesserung der Vereinbarkeit von
Familie und Beruf. Das haben wir gemacht. Lieber
Anton Schaaf, weil du gesagt hast, wir hätten nichts er-
reicht, sage ich: Es ist nicht nur das Rentenpolitik, wo
„Rentenpolitik“ draufsteht; auch Familienpolitik ist Ren-
tenpolitik. Das haben wir gemacht. Wir haben den Aus-
bau der Kinderbetreuungseinrichtungen vorangebracht,
um die Möglichkeiten von Frauen, Berufstätigkeit und
Familie zu verbinden, zunehmend zu verbessern. Da
sind wir auf einem guten Weg. Das haben wir umgesetzt.
Daran kann man einen Haken machen. Frau Familienmi-
nisterin Schröder – –
– Nein! Erledigt! Erfolgt! – Wir haben sogar noch
580 Millionen Euro für die Betreuungseinrichtungen
draufgelegt, weil manche Regionen – erstaunlicherweise
sozialdemokratisch regierte – hier noch Hausaufgaben
machen müssen.
– Liebe Frau Ferner, wenn Sie mitdenken können, kön-
nen die Stenografen auch mitschreiben.
26552 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Paul Lehrieder
(C)
(B)
Lieber Anton Schaaf, Sie haben ausgeführt, dass der
Kollege Straubinger recht hat. Natürlich hat der Kollege
Straubinger wie immer recht. Sie sagten weiterhin, erst
ab September 2013 werde es besser werden. Ihren Opti-
mismus in Ehren, aber ich glaube, es wird ab September
2013 noch besser, weil die christlich-liberale Koalition
über den September 2013 hinaus weiter regieren wird.
Meine Damen und Herren, ich habe mir die einzelnen
Forderungen im Entschließungsantrag der Linken ange-
sehen. Ich will nicht verhehlen, liebe Frau Ploetz, dass
die Forderung nach einer „Stärkung des Solidaraus-
gleichs in der gesetzlichen Rentenversicherung … durch
die Ausweitung der dreijährigen Kindererziehungszeiten
auf Zeiten vor 1992“ sehr große Sympathie bei mir aus-
löst.
– Das ist doch nicht völlig neu, lieber Kollege Birkwald.
Fairerweise muss man dazu sagen: Wenn man die
Vorschläge ad hoc umsetzt, kostet das 14 Milliarden Euro.
Man muss deshalb auch sagen, woher das Geld kommt.
Wir können jetzt keine neuen Schulden machen und zu-
lasten der nächsten Generation das verfrühstücken, was
wir eigentlich den Müttern geben wollen.
Es macht keinen Sinn, den Müttern etwas zu geben, was
wir den zukünftigen Generationen, also den jetzigen
Kindern, wieder wegnehmen.
Das wäre der falsche Weg.
Diese Sorge treibt auch den Bundesfinanzminister
um. Natürlich muss er auf die Schwierigkeiten bei der
Finanzierung hinweisen.
Natürlich muss er sagen, dass das momentan mit der
Schuldenbremse, mit dem Ziel eines ausgeglichenen
Haushalts schwer zu vereinbaren ist. Wir arbeiten daran,
Frau Kollegin Ferner, Mittel und Wege zu finden, um die
Situation zu verbessern. Es wird nicht von jetzt auf
gleich gehen. Natürlich sehen auch wir hier eine Gerech-
tigkeitslücke, auf die Sie in Ihrem Antrag zu Recht hin-
gewiesen haben.
Es ist richtig – darauf haben die Vorredner bereits hin-
gewiesen –, dass die Altersarmut in Deutschland über-
wiegend Frauen betrifft. Dafür verantwortlich sind die
geringen Einkommen und die geringe Anzahl der Versi-
cherungsjahre. Frauen verdienen weniger als Männer,
haben eine eher unregelmäßige Erwerbsbiografie, da sie
aufgrund von Schwangerschaft und Kindererziehung öf-
ter pausieren oder Teilzeit arbeiten. Das ist von den Vor-
rednern schon alles thematisiert worden.
Es sind auch im Jahr 2012, also in diesem Jahr, mehr-
heitlich Frauen, die ihre Erwerbstätigkeit unterbrechen,
um sich familiären Fürsorgeaufgaben wie Kinderbetreu-
ung oder Pflege von Familienangehörigen zu widmen.
Nach dieser Auszeit entscheiden sie sich häufig für Teil-
zeitarbeit, arbeiten weniger oder arbeiten in weniger gut
bezahlten Branchen bzw. in geringfügiger Beschäfti-
gung. Das wirkt sich auf die Rentenhöhe aus. Jede Un-
terbrechung führt beim Wiedereinstieg zu Gehaltseinbu-
ßen und somit zwangsläufig zu Abschlägen in der Rente.
Die Alterssicherung der Frauen ist in hohem Maße
nach wie vor vom Einkommen der Männer abhängig.
Häufig erreichen die Frauen erst durch die Kombination
ihrer eigenen, sehr niedrigen Rente mit der ihres Gatten
bzw. mit einer Hinterbliebenenrente ein ausreichendes
Einkommen. Allerdings sind – entgegen Ihrer Auffas-
sung, meine sehr geehrten Damen und Herren der Lin-
ken – familienbedingte Erwerbsunterbrechungen per se
im Rahmen des langen Verlaufes eines Erwerbslebens
noch nicht der alleinige Auslöser für die Probleme bei
der Alterssicherung.
Hier bedarf es der differenzierten Betrachtung der viel-
fältigen Ursachen und Wirkungszusammenhänge. Ak-
tuelle Studien zeigen, dass sich familienbedingte Er-
werbsunterbrechungen sehr unterschiedlich auf den
weiteren Erwerbsverlauf auswirken können. Sie doku-
mentieren, dass das eigentliche Problem nicht die Er-
werbsunterbrechung an sich ist,
sondern das, was darauf in ihrer weiteren Biografie folgt.
Die eigentliche Frage ist also, ob und wie der Wiederein-
stieg ins Berufsleben gelingt und welchen Umfang die
Erwerbstätigkeit danach hat.
Da in Deutschland die Alterssicherung insgesamt sehr
eng mit dem Erwerbsleben verknüpft ist, kommt hier der
Arbeitsmarktintegration eine große Bedeutung zu. Die
Auswertungen der Erwerbsbiografien belegen erwar-
tungsgemäß, dass die Rentenhöhe sehr eng mit der
Dauer der sozialversicherungspflichtigen Vollzeit- oder
vollzeitnahen Beschäftigung zusammenhängt. Vor dem
Hintergrund aktueller wissenschaftlicher Studien, die auf
einen wachsenden Anteil von Frauen mit Erwerbspräfe-
renzen im vollzeitnahen Bereich hinweisen, ist eine bes-
sere Mobilisierung dieser Erwerbspotenziale ein wesent-
licher Beitrag zur Stärkung der eigenen Alterssicherung.
Viele Frauen sind aber beispielsweise in bestimmten
Berufen, Branchen und auf den höheren Stufen der Kar-
riereleiter noch immer unterrepräsentiert.
Auch darauf wurde hingewiesen. Daher ist es unsere
Aufgabe, Frauen bei der Vereinbarkeit von Familie und
Beruf konsequent zu unterstützen. Um die Vereinbarkeit
von Familie und Beruf weiter zu verbessern, ist der Aus-
bau der Kinderbetreuung von zentraler Bedeutung. Ne-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26553
Paul Lehrieder
(C)
(B)
ben öffentlichen Kinderbetreuungseinrichtungen sind
auch betriebliche Angebote erforderlich.
Ich darf darauf hinweisen: Am 30. November 2012,
also vor wenigen Wochen, hat die christlich-liberale
Bundesregierung daher die nächste Runde des Förder-
programms „Betriebliche Kinderbetreuung“ gestartet.
Seit vorletzter Woche können Unternehmen an dem
neuen Förderprogramm „Betriebliche Kinderbetreuung“
des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen
und Jugend teilnehmen. Das Programm richtet sich an
Unternehmen aller Größen und Branchen mit Sitz in
Deutschland. Dabei werden Arbeitgeber finanziell ge-
fördert, wenn sie neue betriebliche Kinderbetreuungs-
plätze einrichten. Mit diesem Zuschussprogramm sollen
Unternehmen motiviert werden, ihre Beschäftigten bei
der Kinderbetreuung zu unterstützen.
Für Mitarbeiter haben familienbewusste Arbeitsbe-
dingungen zweifelsohne einen hohen Stellenwert bei der
Auswahl des Arbeitgebers. Beschäftigte, die bei der Ver-
einbarkeit von Familie und Beruf unterstützt werden,
kehren früher aus der Elternzeit zurück, fehlen seltener,
sind meist weniger gestresst und arbeiten motivierter.
Somit stellt sich mit dieser familienfreundlichen Kom-
ponente durchaus ein Standortvorteil mit Blick auf den
sich abzeichnenden Fachkräftebedarf heraus.
Gerade im Hinblick auf die Fachkräftesicherung können
Unternehmen somit von einer familienfreundlichen Per-
sonalpolitik nur profitieren.
Eine familienbewusste Arbeitswelt ist entscheidend
für eine gelungene Vereinbarkeit von Familie und Beruf.
Jeden, der sich für gebündelte Informationen rund um
das Thema „Familienfreundlichkeit“ interessiert, lade
ich ein – liebe Frau Ferner, nehmen Sie sich etwas zum
Schreiben –, sich auf der Internetseite www.erfolgsfak-
tor-familie.de umzuschauen.
– Das freut mich.
Ich wünsche Ihnen, Frau Ferner, und allen Kollegin-
nen und Kollegen eine schöne Weihnachtszeit und erhol-
same Feiertage. Auf ein gutes 2013, in dem wir dieses
Thema weiter bearbeiten werden und in der christlich-li-
beralen Koalition zu einem guten Ende führen werden!
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschließungs-
antrag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/11854.
Wer stimmt für diesen Entschließungsantrag? – Wer
stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschließungs-
antrag ist mit den Stimmen des Hauses gegen die Stim-
men der Fraktion Die Linke abgelehnt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-
ordnungspunkt 43 auf:
– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Entsendung bewaffneter deutscher Streit-
kräfte zur Verstärkung der integrierten Luft-
verteidigung der NATO auf Ersuchen der
Türkei und auf Grundlage des Rechts auf kol-
schlusses des Nordatlantikrates vom 4. Dezem-
ber 2012
– Drucksachen 17/11783, 17/11892 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Philipp Mißfelder
Dr. Rolf Mützenich
Marina Schuster
Wolfgang Gehrcke
Kerstin Müller
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung
– Drucksache 17/11893 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Norbert Barthle
Klaus Brandner
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Michael Leutert
Priska Hinz
Hierzu liegt ein Entschließungsantrag der Fraktion
Die Linke vor. Über die Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses werden wir später namentlich ab-
stimmen.
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache und erteile Kollegin Elke
Hoff für die FDP-Fraktion das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Meine Damen und Herren! Wir ent-
scheiden heute über den Einsatz von Patriot-Raketenab-
wehrsystemen in der Türkei, bei einem unserer wichti-
gen Bündnispartner. Ich glaube, dass wir heute zwei
wichtige politische Signale hier von Berlin aussenden:
Wir machen sehr deutlich – das ist die erste Botschaft –,
dass Deutschland ein zuverlässiger Bündnispartner ist
und dass unser Bündnispartner Türkei sich auch an die-
ser Stelle auf Deutschland verlassen kann.
26554 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Elke Hoff
(C)
(B)
Die zweite wesentliche politische Botschaft, die wir
heute von dieser Stelle aussenden, ist, dass sich das
Bündnis und die Bundesregierung auf das Parlament
verlassen können, weil wir hier in einem wirklich bei-
spielhaften Zusammenspiel zwischen Teilen der Opposi-
tion, den Regierungsfraktionen und der Bundesregierung
innerhalb kürzester Zeit zu der Entscheidung, dass aus
sicherheitspolitischen Gründen eine Entsendung von
deutschen Streitkräften sinnvoll und notwendig ist, ge-
kommen sind, nachdem in einer intensiven Diskussion
alle notwendigen Fragen beantwortet worden waren.
Deshalb an dieser Stelle ein herzliches Dankeschön auch
an die Kolleginnen und Kollegen der Opposition.
Warum ist das so wichtig? Weil die Soldatinnen und
Soldaten eine breite politische Rückendeckung benöti-
gen, wenn sie in einen anspruchsvollen und gefährlichen
Auslandseinsatz gehen. Basierend auf den Erfahrungen,
die wir mit dem Parlamentsbeteiligungsgesetz an dieser
Stelle gemacht haben, glaube ich, dass auch für unsere
Soldatinnen und Soldaten dieses hohe Gut des politi-
schen Konsenses wichtig ist für die Erfüllung ihres Auf-
trages vor Ort.
Die Türkei hat eine Anfrage an die NATO gestellt. Es
ist darüber diskutiert worden, wie wir dieser subjektiven
Bedrohungsempfindung eines wichtigen Bündnispart-
ners Rechnung tragen, gleichzeitig aber auch innerhalb
unseres eigenen Landes Klarheit darüber schaffen kön-
nen, welcher Auftrag damit verbunden ist.
Ich glaube, dass es sehr gut war, dass die Bundesre-
gierung in dem Mandat Einsatzort und Anzahl der Sol-
daten klar festgelegt hat, aber auch sehr deutlich die
politischen Schranken aufgezeigt hat: Dieser Einsatz ist
ausschließlich defensiv. Er dient explizit nicht der Im-
plementierung einer sogenannten Flugverbotszone über
syrischem Territorium. Die Aufstellung der Systeme und
die Art der Entsendung unserer Soldaten zeigen klar,
dass die Wirkungsmöglichkeit ausschließlich auf türki-
sches Territorium und damit auf NATO-Territorium be-
schränkt ist.
Dies sind wesentliche Voraussetzungen für die Zu-
stimmung der Opposition. Aber auch aus Sicht der Re-
gierungsfraktionen sind sie dringend notwendig. Denn
damit können wir Missverständnissen in der öffentlichen
Debatte vorgreifen. Wir haben festgestellt, dass schon
angefangen wird, zu spekulieren, Dinge zu unterstellen.
Das geht sogar so weit, dass unterstellt wird, dass
Deutschland oder die NATO Konfliktpartei in Syrien
würde. Ich glaube, meine Damen und Herren, dass wir
mit diesem Mandat hinreichend geklärt haben, wie der
Sachverhalt ist.
Ich möchte an der Stelle eines ausdrücklich betonen:
Das Parlamentsbeteiligungsgesetz sieht selbstverständ-
lich für dieses Parlament auch die Möglichkeit vor,
Streitkräfte aus einem Einsatzgebiet abzuziehen, sollte
sich die sicherheitspolitische Lage bzw. die Geschäfts-
grundlage dieses Mandates signifikant verändern.
Das heißt, wir haben eine Reihe von Brandmauern ein-
gebaut, die explizit deutlich machen, dass weder die
NATO noch die Bundesrepublik Deutschland ein Inte-
resse daran haben, unmittelbar Konfliktpartei in Syrien
zu werden.
Damit ist ein weiterer Punkt verbunden. Ich glaube,
dass es sehr wichtig ist, meine Damen und Herren, an
dieser Stelle darauf hinzuweisen, dass wir mit einem
Verbündeten in unserer unmittelbaren Nähe, mit unse-
rem Nachbarn, den Niederlanden, gemeinsam zeigen,
dass wir in Zukunft dem Gedanken von Smart Defence,
von Pooling und Sharing, die notwendige Aufmerksam-
keit schenken. Das reibungslose Miteinander, die Ab-
stimmung hinter den Kulissen und die erfolgreiche poli-
tische Rückendeckung, die sich die Niederlande und
Deutschland gemeinsam geben, zeigen meiner Ansicht
nach, dass dies ein guter Weg ist, um in Zukunft die Ko-
operationen im sicherheitspolitischen Bereich zwischen
europäischen Partnern substanziell voranzutreiben.
Ich gehe davon aus, dass wir gemeinsam mit unseren
niederländischen Verbündeten versuchen werden, so
viele Dinge wie möglich gemeinsam abzubilden – nicht
nur, um Ressourcen zu schonen, sondern auch, um den
Gedanken einer gemeinsamen europäischen Sicherheits-
und Verteidigungspolitik an einem ganz konkreten Bei-
spiel voranzutreiben, meine Damen und Herren.
Meine Fraktion wird dem Mandat zur Entsendung
von Patriot-Raketen die Zustimmung erteilen. Ich freue
mich, dass es einen breiten Konsens gibt.
Lassen Sie mich an der Stelle unseren Soldatinnen und
Soldaten, die entsandt werden, ein herzliches Danke-
schön und ein herzliches „Glück auf!“ mit auf den Weg
geben.
Herr Minister, ich freue mich auch, dass es gelungen
ist, unsere Soldatinnen und Soldaten nicht schon zum
Weihnachtsfest oder zum Jahreswechsel in den Einsatz
bringen zu müssen, sodass sie die Festtage noch gemein-
sam mit ihren Familien zu Hause feiern können.
Ich darf mich bei Ihnen allen sehr herzlich für die her-
vorragende Zusammenarbeit in diesem Jahr bedanken
und wünsche allen ein gesegnetes Weihnachtsfest und
einen guten Rutsch ins neue Jahr.
Vielen Dank.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26555
Elke Hoff
(C)
(B)
Das Wort hat nun Rainer Arnold für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Verantwortliche Sicherheitspolitik heißt, Risiken früh-
zeitig zu erkennen und langfristig Vorsorge zu betreiben.
Das gilt in erster Linie für politische Prozesse, auch in
Syrien. Wir finden, es ist ein richtiger Schritt, dass sich
die Opposition in Syrien zusammengefunden hat und für
die deutsche Außenpolitik ein Gesprächspartner sein
kann.
Dazu gehört allerdings auch, dass bei aller Kritik an
Russland – und Russlands Verhalten ist zu kritisieren –
gleichzeitig akzeptiert und erkannt wird, dass russische
Interessen mitbedacht werden müssen, wenn man in Pro-
zesse eintreten will, die das Blutvergießen beenden sol-
len. Dazu gehört auch, dass die syrische Armee am Ende
nicht zerschlagen wird; denn wir wissen, dass dieses
Land, vollgestopft mit Waffen, eine Armee braucht, die
den Daumen auf diese Waffen hält. Dazu gehört weiter-
hin, dass wir unserer Verantwortung für die Flüchtlinge
gerecht werden. Diese Verantwortung umfasst mehr, als
nur Geld zu geben.
Wir wissen aber auch: Nicht alle Risiken sind vor-
sorgend politisch anzugehen. Dieses Land hat fast
1 000 Mittelstreckenraketen und besitzt chemische
Kampfstoffe, die in Raketen verfüllt werden können. Die
Realität ist, dass Assad fast täglich seine eigene Bevöl-
kerung beschießt, dass Granaten in der Türkei einschla-
gen – eine Familie wurde ausgelöscht, und ein türkisches
Flugzeug wurde über dem Mittelmeer abgeschossen –
und dass Qassam-Raketen auf die eigene Bevölkerung
gerichtet werden. Wer sagt uns eigentlich, dass nicht ei-
nes Tages eine fehlgeleitete Qassam-Rakete in der Tür-
kei einschlagen könnte?
Wir werden bei der Verlegung militärischer Fähigkei-
ten diese Risiken bedenken, gleichzeitig aber prüfen:
Tragen die Patriot-Systeme zur Eskalation der Situation
bei, oder wirken sie deeskalierend? Wir stimmen der
Verlegung dieser Systeme zu, weil wir der festen Über-
zeugung sind: Sie wirken deeskalierend. Hierfür gibt es
eine ganze Reihe von Gründen.
In erster Linie ist diese Verlegung einer routinemäßig
vorhandenen, integrierten NATO-Fähigkeit der Luftver-
teidigung zum Schutz der Türkei eine politische Ansage.
Sie lautet: Die NATO hält zusammen. Es ist gut, wenn
dies alle wissen. Dieses Wissen hat in der Geschichte der
NATO zu Frieden und Stabilität bei uns geführt.
Sollte aber – selbst wenn es ein unwahrscheinlicher
Fall ist – eine Rakete auf türkisches Gebiet zufliegen, in
urbanem Gebiet einschlagen und den Tod von Hunderten
Menschen verursachen, dann würde das zu einer absolu-
ten Eskalation der Situation bis hin zum Ausbruch eines
Krieges führen. Deshalb ist es besser, dass Patriot-Sys-
teme dies möglicherweise verhindern. Insofern trägt die
Verlegung militärisch zur Deeskalation bei. Dieses Sys-
tem ist per se defensiv ausgerichtet.
Wir stimmen auch deshalb zu, weil die Regierung,
aber auch die NATO und die Türken bei der Diskussion
über diesen Antrag zugehört haben. Die Bedenken der
Opposition wurden aufgenommen. Das gilt vor allen
Dingen für die Formulierung, dass dieses System aus-
drücklich nicht auf syrischem Staatsgebiet wirken darf.
Das trifft aber schon aus operativen Gründen zu: Die
Entfernungen sind nämlich so groß, dass dies technisch
gar nicht möglich wäre. Für Fachpolitiker ist ebenfalls
klar: Patriot-Systeme sind nicht das Mittel der Wahl zur
Durchsetzung einer Flugverbotszone.
Nun hören wir natürlich immer wieder den Einwand:
Dieses defensive System könnte auch andere Funktionen
haben; es könnte der Türkei möglicherweise eigene
Handlungsoptionen und -freiräume eröffnen. Dazu ist zu
sagen: Bisher hat sich die Türkei in dieser ernsten Situa-
tion an ihrer Grenze außerordentlich besonnen verhalten.
Dies muss so bleiben; das dürfen wir den Türken durch-
aus signalisieren. Dazu ist auch zu sagen: Das Patriot-
System macht die Türkei in keiner Weise unverwundbar.
Das System ist in der Lage, in einem sehr eng gefassten
Kreis mit Radius von 30 Kilometern urbanes Gebiet und
sensible Infrastruktur zu schützen, aber nicht das ge-
samte Staatsgebiet.
Die Regierung hat in der Diskussion über die Man-
datsfrage zugehört und am Ende unsere Rechtsauffas-
sung übernommen. Wir sagten von vornherein: Nach
dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 2008 ist
dieser Einsatz zu mandatieren. Dazu gehört dann auch,
AWACS ins Mandat aufzunehmen.
In einem Punkt stimme ich mit der Kollegin Hoff völ-
lig überein. Die schnelle Diskussion im Deutschen Bun-
destag über diesen Einsatz zeigt: Wir haben überhaupt
keinen Grund, uns von irgendjemandem – weder von un-
seren Freunden in der NATO noch von einigen Kollegen
der CDU/CSU – einreden zu lassen, die Bündnisfähig-
keit werde beschränkt, weil es in Deutschland einen Par-
lamentsvorbehalt gibt. Der deutsche Parlamentsvorbe-
halt behindert nichts. Wir zeigen heute, dass er gut
funktioniert.
Nun wünschen wir uns allerdings, dass die Regierung
auch noch in zwei anderen Punkten auf die Opposition
hört. Der erste Wunsch bezieht sich auf die Frage der Fi-
nanzierung. In Ihrem Koalitionsvertrag steht, dass wei-
tere Aufgaben der Bundeswehr aus dem Einzelplan 60
finanziert werden sollen. Im Mandat steht aber, dass das
Geld direkt aus dem Etat der Bundeswehr kommt.
Gleichzeitig erzählen Sie den Soldaten, es sei kein Geld
26556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Rainer Arnold
(C)
(B)
für dies und jenes vorhanden, vor allen Dingen nicht für
Beförderungen von Mannschaftsdienstgraden. Ich hätte
mir schon gewünscht, dass die Bundeskanzlerin sagt, wo
es langgeht, wenn sich die Ressorts in dieser Frage nicht
einigen können. Aber sie taucht auch bei diesem Thema
ab.
Meinen zweiten Wunsch richte ich direkt an Sie, Herr
Minister: Wann erkennen Sie angesichts der Realitäten,
über die wir heute und möglicherweise auch im Januar
diskutieren, endlich, dass Ihr Ansatz „Breite vor Tiefe“
nicht zukunftsfähig ist?
Wir verlegen ein System von Patriot-Raketen inklusive
knapp 400 Soldaten in die Türkei, und gleichzeitig müs-
sen diese Soldaten umziehen, weil Sie die Fähigkeit der
Patriot-Raketen sozusagen halbieren, eine Fähigkeit, die
innerhalb der NATO in nur drei Ländern vorhanden ist.
Sie halbieren die Fähigkeit, statt zu sagen: Deutschland
ist an dieser Stelle stark, hier können wir dem Bündnis
etwas Präventives anbieten.
Mein letzter Punkt. Ich habe mit Sicherheitsvorsorge
begonnen und will damit auch enden. Sicherheitsvor-
sorge ist etwas anderes, als immer nur situativ zu disku-
tieren und zu reagieren. Wir alle wissen um die Umbrü-
che in der arabischen Welt und im nördlichen Afrika.
Deutsche Politik handelt hier – siehe Libyen, siehe die
Debatten, die wir aktuell geführt haben; der Einstieg in
die Diskussion über die Patriot-Raketen war wirklich
nicht ganz glücklich – ein Stück weit situativ statt kon-
zeptionell und langfristig unterlegt.
Herr Minister und Frau Bundeskanzlerin, es reicht
nicht aus, wenn Sie bei einer Konferenz die Überschrift
produzieren: „Es gibt Länder, die strategische Partner
sind“. Nein, wir brauchen in der deutschen Gesellschaft,
vor allen Dingen auch im Deutschen Bundestag, eine
echte sicherheitspolitische Debatte über die strategische
Ausrichtung und über die wohlverstandenen Stabilitäts-
interessen Deutschlands.
Diese Debatte fehlt bis jetzt. Sie könnten sie ansto-
ßen. Warten Sie nicht darauf, dass sie sich irgendwie er-
gibt. Geben Sie hier eine Regierungserklärung zur Si-
cherheitspolitik ab. Wir können dann gemeinsam
darüber diskutieren. Wir bieten Ihnen das ausdrücklich
an. Ich bin überzeugt davon: Es gibt eine Reihe von
Punkten, bei denen Konsens zu erzeugen wäre. Aber es
ist nicht gut, dass Sie solche Überschriften produzieren,
um möglicherweise Rüstungsexporte zu erleichtern, aber
in der Gesellschaft, im Parlament den Diskurs darüber
verweigern. Das tut den deutschen Interessen nicht gut,
weil wir einen Nachholbedarf an strategischer Orientie-
rung haben. Ich wünsche mir, dass Sie auch hier auf die
Opposition hören.
Ansonsten ist es ein Thema, das zu den friedlichen
Tagen kurz vor Weihnachten passt. Wir sind froh, dass
an die Soldaten das Signal ausgeht: Der Deutsche Bun-
destag trägt Ihre schwierige Aufgabe mit sehr großer
Mehrheit.
Herzlichen Dank und ein frohes Fest.
Das Wort hat nun Philipp Mißfelder für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Zunächst einmal möchte ich mich bei meinem
Kollegen Arnold dafür bedanken, dass er das Mandat
und die Tragweite des Mandates richtig eingeordnet hat.
Gerade der defensive Charakter, den Sie stark herausge-
arbeitet haben – das ist etwas, was die Fraktionen im
Deutschen Bundestag weitgehend verbindet –, zeigt, wie
wichtig die Beratung im Vorfeld war. Damit konnten wir
in der Öffentlichkeit dem Eindruck entgegenwirken, wir
würden auch nur einen Schritt, und sei er noch so klein,
in Richtung Eskalation gehen.
Wir gehen auf eine Bitte ein, die unser NATO-Partner
Türkei an uns gerichtet hat. Es ist eigentlich eine Selbst-
verständlichkeit: Wenn ein NATO-Partner uns um Hilfe
bittet, dann entsprechen wir dieser Hilfe auch. Trotzdem
hat es im Vorfeld Diskussionen gegeben. Ich glaube, das
hängt damit zusammen, dass aufgrund der Vielzahl von
Einsätzen, die wir mittlerweile hier im Plenum zu bera-
ten haben, zu Recht kritische Fragen gestellt werden. Sie
sind bei uns rauf und runter diskutiert worden. Ich
glaube, wir haben gemeinsam mit der Regierung mit die-
sem Mandat die richtigen Antworten auf die drängenden
Fragen gefunden.
Ich möchte eine grundsätzliche Bemerkung zur
NATO selber machen. Deutschland ist das Land, das am
stärksten von der NATO profitiert hat. Die NATO hat
uns zu Zeiten des Kalten Krieges geschützt; die NATO
hat Deutschlands Bürgern immer Sicherheit garantiert;
die NATO hat vor allem einen enormen Beitrag dazu ge-
leistet, dass unser Vaterland wiedervereinigt worden ist.
Um es deutlich zu sagen: Für unsere Fraktion ist es
eine Selbstverständlichkeit, dass wir helfen, wenn uns
ein NATO-Partner, in diesem Falle die Türkei, um un-
sere Hilfe bittet. Deshalb weise ich die Kritik am Mandat
und die Kritik an der Türkei ausdrücklich zurück. Sei-
tens der SPD-Fraktion ist schon gesagt worden: Die Tür-
kei leistet zurzeit wirklich sehr, sehr gute Arbeit.
Gerade dadurch, dass sie sich so zurückhaltend verhält,
wirkt sie deeskalierend.
Herr Kollege Nouripour, ich höre Ihre Zwischenrufe;
die Zuschauer zu Hause können Zwischenrufe in der Re-
gel nicht verstehen. Sie, Herr Kollege, haben sich im
Vorfeld sehr kritisch geäußert. Die Türkei ist für uns ein
wichtiger strategischer Partner und Freund. Ich glaube,
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26557
Philipp Mißfelder
(C)
(B)
wir werden keine Lösung des Syrien-Konflikts ohne die
Türkei erreichen. Deshalb müssen wir die Türkei poli-
tisch und an dieser Stelle auch militärisch unterstützen,
damit die Lage in der Türkei sicher bleibt.
Die Türkei ist außerhalb Syriens das mit Abstand am
stärksten von diesem Konflikt betroffene Land: 120 000
Flüchtlinge, zum Teil katastrophale Zustände. Deshalb
möchte ich hier auch sagen – das haben wir in dieser
Woche schon oft betont –, dass die militärische Kompo-
nente für uns nie die Gesamtlösung darstellt. Unsere
Fraktion legt größten Wert auf einen gesamtpolitischen
Ansatz. Deshalb hat unser Außenminister in dieser Wo-
che in Marrakesch zu Recht starke Signale ausgesendet,
die zeigen, dass wir die politische Unterstützung der Op-
position in Syrien vorantreiben und weiter an einer poli-
tischen Lösung arbeiten.
Es ist natürlich sehr schwierig, eine solche Lösung zu
finden. Neben dem militärischen Engagement, über das
wir hier heute beraten, und der Soforthilfe, die geleistet
wird, ist aber auch strukturelle Hilfe unabdingbar, um
der Flüchtlingsproblematik gerecht werden zu können.
Problematisch ist in diesem Fall natürlich vor allem
die Rolle Russlands. Ich möchte unserem Bundesaußen-
minister insbesondere dafür danken, dass er sein Werben
um die Russen nicht aufgegeben hat. Die Situation ist
sehr verfahren, weil die UNO sich in einer Selbst-
blockade befindet und weil China und Russland nicht
konstruktiv mitarbeiten. Dadurch verhindern sie letzt-
endlich, dass die UNO ihrer Rolle als Weltpolizei ge-
recht werden kann. Wir sollten trotzdem weiter auf Dia-
log setzen. Das tun Sie, Herr Minister, und dafür danke
ich Ihnen.
Ich fand es richtig, dass sich der NATO-Russland-Rat
mit dem Thema beschäftigt hat, auch wenn die Ergeb-
nisse bei weitem noch nicht so waren, wie sie sein müss-
ten.
Wir profitieren von einer sicheren, von einer starken
Türkei, die als Regionalmacht in vielen anderen Kon-
flikten, aber auch bei der Neuorientierung der arabischen
Welt zukünftig eine fundamentale Rolle spielen wird.
Deshalb sind wir gut beraten, wenn wir der Türkei das
notwendige Vertrauen entgegenbringen. Deshalb sind
wir gut beraten, wenn wir den Sicherheitsinteressen der
Türkei, die um unsere Solidarität wirbt, gerecht werden
und uns darum kümmern, dass die Türkei ein sicheres
Land ist, das sich in der NATO-Partnerschaft gut aufge-
hoben fühlt.
Die Zivilbevölkerung in der Türkei ist voller Sorge
über mögliche Angriffe aus Syrien. Deshalb möchte ich
an dieser Stelle auf den Fortgang des Mandats eingehen.
Der amerikanische Präsident hat deutliche Worte zur
Problematik der Chemiewaffen in Syrien gefunden.
Nach den aktuellen Erkenntnissen sind syrische Waffen
weiterhin auf Israel gerichtet, nicht auf die Türkei. Das
könnte sich natürlich jederzeit ändern. Mit dieser Sorge
haben die türkische Politik und die türkische Zivilbevöl-
kerung zu leben. Gerade deshalb ist es so wichtig, dass
wir diese Patriot-Systeme einsetzen. Damit begegnen
wir von vornherein der Gefahr einer weiteren Eskala-
tion, die angesichts dieser schwierigen Situation in Sy-
rien jederzeit stattfinden kann. Außerdem beruhigen wir
damit auch die türkische Bevölkerung und sorgen dafür,
dass das türkische Staatsgebiet unverletzt bleibt und
keine Region unbewohnbar wird.
Ich glaube auch, dass wir der Auffassung der Ameri-
kaner zustimmen können, dass der Einsatz von Chemie-
waffen das Überschreiten einer roten Linie darstellt, an-
gesichts dessen sich die Weltgemeinschaft endgültig
fragen lassen muss, warum sie bislang nicht in der Lage
gewesen ist, dem UNO-Statut „Responsibility to Pro-
tect“ gerecht zu werden, also der Verpflichtung, die Zi-
vilbevölkerung zu schützen. Bislang blockiert sich die
UNO selbst; bislang liefert die UNO in diesem Konflikt
um Syrien ein Trauerspiel ab.
Wir können es nicht hinnehmen, dass Assad sein Volk
weiter tötet. Wir können es nicht hinnehmen, dass es
möglicherweise zu einer weiteren Eskalation in Rich-
tung Libanon kommt oder gar unser NATO-Partner Tür-
kei in diesen Konflikt hineingezogen wird. Deswegen
werben wir für dieses Mandat und für unsere weiteren
politischen Initiativen, um den Konflikt einzugrenzen.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Gregor Gysi für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Deutsch-
land besitzt zwölf einsatzfähige Patriot-Feuereinheiten,
die uns seit 1989 immerhin 3,048 Milliarden Euro ge-
kostet haben. Die Linke hat immer erklärt: Wir müssen
darauf verzichten, die modernste Kriegstechnik einzu-
kaufen. Sie ist auch die teuerste. Sie sahen das immer
anders. Es gibt kein Land, das Deutschland überfallen
will. Wir brauchen überhaupt nicht die modernste
Kriegstechnik auf der Welt.
Damit ist auch eine riesige Verschwendung von Steuer-
geldern verbunden.
Nun kommt ein neuer Aspekt hinzu: Wer die mo-
dernsten Waffen besitzt, wird am häufigsten zum Krieg
eingeladen. Denn die Türkei bittet nur die USA, Holland
und Deutschland um Hilfe, weil wir die modernste Tech-
nik haben. Vielleicht hören Sie einmal auf die Linke und
hören auf, immer die modernste Kriegstechnik einzu-
kaufen.
26558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Gregor Gysi
(C)
(B)
Zweitens. Mit Patriot-Raketen kann man, so sagt es
auch der Bundesverteidigungsminister, nicht ein einzi-
ges Geschoss abwehren, das bisher aus Syrien in der
Türkei eingetroffen ist. Sie sind also gar nicht dafür ge-
eignet. Eigentlich ist es sinnlos. Nun wird der Verdacht
eines möglicherweise bevorstehenden Einsatzes von
Chemiewaffen geäußert. Ich halte diesen für falsch; denn
auch Assad weiß, dass dann die internationale Gemein-
schaft einmarschieren würde. Das wird nicht passieren.
Mit Patriot-Raketen können Sie übrigens auch Chemie-
waffen nicht bekämpfen.
Wieso also wird etwas stationiert, das überhaupt nicht
gebraucht wird? Das macht nur in einem Fall Sinn:
Wenn es eine Flugverbotszone gibt. Aber der Außen-
minister und der Verteidigungsminister sagen beide, dass
es sie nicht geben wird. Ich sage Ihnen: Das ist ein
schweres Eingeständnis von Untreue. Wir sollen
25,1 Millionen Euro bis zum 31. Januar 2014 für etwas
ausgeben, das niemand braucht, nur zur Beruhigung der
Gefühle der türkischen Regierung? Dazu sage ich Ihnen:
Wenn die türkische Regierung besser schlafen will, dann
soll sie endlich einmal die Menschenrechtsverletzungen
gegenüber Oppositionellen, Kurdinnen und Kurden und
Alawiten einstellen, also lernen, Minderheiten anders zu
behandeln.
Drittens. Sie kennen die Bedenken Russlands. Sicher-
heit in Europa kann es nur mit und nicht gegen Russland
geben. Das wissen auch Sie, Herr Westerwelle.
Viertens. Die schlimmste Katastrophe – dazu komme
ich jetzt – ist eine andere: Sie marschieren mit der Bun-
deswehr in den Nahen Osten ein.
– Machen Sie nicht? Ich bin ja noch nicht fertig. Hören
Sie zu. – Sie marschieren mit der Bundeswehr in den
Nahen und Mittleren Osten ein, nicht etwa auf Beschluss
der UNO, nicht etwa, um die Einhaltung eines Waffen-
stillstandes zu kontrollieren,
sondern auf Wunsch der Türkei im Rahmen des NATO-
Bündnisses. Sie machen Deutschland schon mit dem
Einmarsch und erst recht mit dem Abschuss einer einzi-
gen Rakete zur Kriegspartei im Nahen und Mittleren Os-
ten.
Genau das darf Deutschland niemals werden. Wir kön-
nen dort eine Rolle als Vermittler spielen, aber um Got-
tes Willen nicht als Kriegspartei. Die Folgen wären ver-
heerend. Sie wissen gar nicht, was Sie damit anrichten
können.
– Ich wusste, dass Sie sich aufregen werden, aber Sie
müssen mir trotzdem zuhören.
Die Türkei stellt sich immer deutlicher gegen Israel.
Die Bundesregierung steht immer auf der Seite Israels.
Die Türkei unterstützt die Hamas. Die Bundesregierung
redet nicht einmal mit der Hamas. Ich habe jetzt keine
Zeit, zu sagen,
was davon ich richtig und was davon ich falsch finde.
Sie selbst begeben sich damit in unlösbare Widersprü-
che.
Lassen Sie diesen Schnellschuss. Mir ist es ein Rätsel,
dass wieder einmal auch SPD und Grüne zustimmen.
Jetzt habe ich noch eine Frage. Herr Schockenhoff
von der CDU hat hier am Mittwoch Folgendes erklärt.
Er hat gesagt:
Da der UN-Sicherheitsrat bis heute blockiert ist und
keine wirksamen Maßnahmen ergreifen konnte, war
kein anderer Weg möglich, als die syrische Opposi-
tion mit Waffen zu versorgen, um das syrische Re-
gime zu stoppen. … Ja, ich sage das ganz offen …
So weit sein Zitat.
Das muss jetzt geklärt werden. Das wäre völker-
rechtswidrig, und es würde auch das Recht der Bundes-
republik Deutschland ganz energisch verletzen, wenn
heimlich Waffen nach Syrien geliefert worden sein soll-
ten.
Mein letzter Satz: Wir müssen in Anbetracht unserer
Geschichte gemeinsam verhindern, dass Deutschland
zur Kriegspartei im Nahen oder Mittleren Osten wird.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26559
(C)
(B)
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Also, bei aller Liebe, Gregor Gysi – –
– Na ja, manchmal kann man ja auch mit ihm einen Kaf-
fee trinken.
Nur ein kleiner Hinweis, ein Satz: Die Türkei ist
NATO-Partner, sie ist im NATO-Bündnis, es gilt der
NATO-Vertrag. Angesichts des Antrags der Bundes-
regierung von einem Einmarsch der Deutschen in den
Nahen Osten zu sprechen, das ist ein derart abstruser
Populismus, dass man auf diese Rede nicht weiter einge-
hen muss.
Zum Thema. Nach 21 Monaten blutigem Bürgerkrieg
– dazu wurde hier wenig gesagt – gibt es immer mehr
Anzeichen dafür, dass das Regime Assad auf sein Ende
zusteuert.
Ich begrüße sehr, dass die Bundesregierung und mehr
als 100 weitere Staaten die Nationale Koalition endlich
als legitime Vertreterin des syrischen Volkes anerkannt
haben. Das war überfällig, und das ist für die Menschen
in Syrien sehr wichtig.
Die Tatsache allerdings, dass die Zahl der Flüchtlinge
gerade noch einmal dramatisch zunimmt – jeden Tag
sind es 3 000 mehr, die sich an den Grenzen melden –,
deutet darauf hin, dass das Regime jetzt noch brutaler
gegen sein eigenes Volk vorgeht, mit Brandbomben und
mit Scud-Raketen. Mehr als eine halbe Million Syrer
sind in die Nachbarländer geflohen, allein die Türkei hat
136 000 aufgenommen. Bis zu 2 Millionen Flüchtlinge
irren innerhalb Syriens umher.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,
im Kontext der Stationierung der Patriot-Systeme war
viel von Solidarität mit dem NATO-Partner Türkei die
Rede. Ich möchte hier sehr deutlich sagen: Für mich ge-
hört zur Solidarität auch, dass wir den betroffenen Nach-
barländern bei der Bewältigung dieses Flüchtlingsdra-
mas helfen, und zwar nicht nur mit humanitärer Hilfe,
sondern ganz konkret mit der unbürokratischen Auf-
nahme von Flüchtlingen. Selbst der Vorsitzende des
Auswärtigen Ausschusses, Ihr Kollege Polenz, hat ge-
sagt: Lassen wir doch wenigstens die Flüchtlinge, die
von ihren hier lebenden Angehörigen eingeladen wer-
den, nach Deutschland kommen!
Das wäre ein wichtiges politisches Signal und ein wich-
tiges Signal der Humanität, gerade jetzt vor Weihnach-
ten.
Ich habe für die Fraktion der Grünen von Anfang an
deutlich gemacht: Wenn sich der Partner Türkei durch
den blutigen Bürgerkrieg an seinen Grenzen bedroht
fühlt und sich deshalb an die NATO wendet, dann wer-
den wir eine solche Anfrage ernsthaft prüfen; denn ge-
nau das ist der Sinn des NATO-Bündnisses.
Frau Kollegin, gestatten Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Hänsel?
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich glaube, nicht. – Meine Damen und Herren von der
Linken, bei allem Misstrauen, das man gegenüber
Erdoğans sonstigen Interessen haben kann und muss,
sage ich: Dass die Türkei nach mehrfachem Granatenbe-
schuss Sorge hat, in Zukunft von syrischen Scud-Rake-
ten bedroht zu werden, können Sie ihr nicht ernsthaft ab-
sprechen.
Es ist zwar richtig: Viel Rationalität hätte ein solches
Vorgehen aus Sicht des syrischen Regimes nicht; denn
solange dieser Bürgerkrieg nicht internationalisiert wird,
kann der Diktator Assad Menschen morden, sie foltern,
sie vertreiben, sie mit Raketen beschießen. Aber welche
Rationalität hat ein zerfallendes Regime? Maßen Sie
sich an, zu wissen, welche Teile des Regimes morgen
mit Raketen um sich schießen?
Und das Assad-Regime verfügt über Chemiewaffen. Das
Regime hat das nicht bestritten, sondern es im Gegenteil
noch einmal zugegeben. Ein Einsatz dieser Waffen ist
ein Szenario, auf das die Patriot-Systeme keine ausrei-
chende Antwort wären. Selbst der russische Protest ge-
gen die Stationierung der Patriot-Systeme hat sich merk-
würdig schnell gelegt.
Also: Der NATO-Partner Türkei sieht sich subjektiv
in seiner Sicherheit bedroht. Allein das ist hinreichend
für eine Anwendung von Art. 4 NATO-Vertrag.
Dennoch ist uns wichtig, dass wir mit der Stationierung
der Patriot-Systeme nicht in den Bürgerkrieg hineinge-
zogen werden. Wir begrüßen es daher sehr, dass im
Mandat jetzt ganz klar festgehalten ist: Die Patriots die-
nen nicht der Einrichtung einer Flugverbotszone. Sie
werden so aufgestellt, dass sie nicht in den syrischen
Luftraum hineinwirken. Damit hat die Bundesregierung
unsere Bedenken ausgeräumt, ebenso mit der klaren An-
sage in den Ausschüssen: Sollte sich daran etwas ändern,
26560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Kerstin Müller
(C)
(B)
wird der Bundestag noch einmal mit dieser Angelegen-
heit befasst.
Meine Fraktion wird dem Mandat aus diesen Gründen
mit großer Mehrheit zustimmen.
Ich will aber auch sehr deutlich sagen: Es geht uns da-
rum, dass die Türkei eingebunden wird. NATO bedeutet
eben auch: Verantwortung auf beiden Seiten. Mir ist lie-
ber, wir binden die Türkei frühzeitig im Rahmen der
NATO ein und senden damit die klare Botschaft: Keine
Alleingänge! Dafür sorgen wir aber für eure Sicherheit.
Frau Kollegin, Sie müssen zum Schluss kommen.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Ich komme zum letzten Satz. – Wir verbinden mit
dieser breiten Zustimmung aber auch die Forderung,
dass die Bundesregierung nicht nur militärisch, sondern
auch humanitär und menschenrechtlich alles tut, um den
Nachbarstaaten zu helfen und das Leid der syrischen Be-
völkerung zu lindern.
Vielen Dank.
Letzter Redner in der Debatte ist Reinhard Brandl für
die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
In den letzten Tagen haben wir als Parlament unsere
Bündnisfähigkeit unter Beweis gestellt. Es vergingen
nur zehn Tage vom Beschluss der NATO bis zur Be-
schlussfassung hier im Bundestag. Niemand kann sagen,
unser parlamentarisches Verfahren halte etwas auf bzw.
die Reaktionsfähigkeit der Regierung sei durch uns ein-
geschränkt.
Im Gegenteil: Ich würde sogar sagen: Wenn das Par-
lament heute nicht in der Verantwortung wäre, dann
hätte es die Regierung sehr schwer gehabt, das Thema so
schnell zu einem breiten Konsens zu führen.
Ich möchte mich bei unserem Verteidigungsminister
und unseren Soldaten in der Bundeswehr bedanken, weil
ja nicht nur wir diesen kurzen Vorlauf hatten. Die Solda-
ten müssen sich auf diesen Einsatz vorbereiten, und wir
wissen, dass die Patriot-Staffeln auch andere Einsatzver-
pflichtungen haben. Innerhalb von wenigen Wochen
jetzt in den Einsatz zu gehen, ist eine enorme logistische
Herausforderung. Von unserer Seite allen Dank und Res-
pekt dafür!
Zum Mandat selbst. Die Türkei hat die NATO zum
Schutz ihrer Bevölkerung und ihres Territoriums um
Hilfe gebeten. Wir als NATO-Mitglied haben die Fähig-
keit, diese Hilfe zu leisten, und wir helfen unserem be-
drohten Partner Türkei selbstverständlich. Genau dafür
ist die NATO auch da.
Die wenigen Kritiker des Mandats fragen: Ist die Tür-
kei überhaupt bedroht? Warum soll Assad die Türkei
denn überhaupt angreifen? Herr Gysi hat gesagt, Assad
wisse doch, dass er dann die gesamte internationale Ge-
meinschaft und die NATO gegen sich hätte. Richtig, aber
genau das zeigt ja, dass die Strategie der Abschreckung
funktioniert. Genau das ist der Ansatz der NATO. Mit
der Stationierung der Patriots unterstreichen wir das und
setzen ein sichtbares Zeichen der Bündnissolidarität: Die
Türkei ist einer von uns!
Es geht aber nicht nur darum, Zeichen zu setzen. Die
Türkei ist bedroht – Punkt! Herr Gysi, ich finde es, ehr-
lich gesagt, ziemlich arrogant, das von hier aus zu ver-
neinen. Ich weiß nicht, wie sicher Sie sich fühlen
würden, wenn an unseren Grenzen Scud-Raketen ein-
schlagen würden, die auch bis zu uns reichen würden,
und wenn Sie genau wissen würden, dass derjenige, der
sie abschießt, über geschätzte 1 000 Tonnen chemische
Massenvernichtungswaffen verfügt, die er gegen uns
einsetzen kann.
Wir müssen doch damit rechnen, dass das Regime
zerfällt, dass dann Chaos herrscht und dass dann irgend-
jemand in diesem Chaos auf die Idee kommt, sich bei
denen zu rächen, die die Opposition unterstützt und zum
Beispiel auch die Flüchtlinge aufgenommen haben. Die
Türkei ist nun einmal das einzige Land in Reichweite.
„In Reichweite“ ist hier durchaus wörtlich zu nehmen.
Wenn das keine Bedrohung für ein Land und ein Volk
darstellt, dann weiß ich nicht, was eine Bedrohung sein
soll.
Vor diesem Hintergrund finde ich auch die Diskussion
über die Stationierungsorte nicht angemessen. Das Krite-
rium muss doch sein: „Wo entfalten die Raketen die
größte Schutzwirkung? Wo sind Menschenansammlun-
gen? Wo sind die großen Städte? Wo ist die wichtige In-
frastruktur?“, und nicht: Je weiter weg von der Grenze,
desto besser.
Auch die Unterstellungen zwischen den Zeilen ge-
genüber der Türkei haben mich geärgert.Wenn die Tür-
kei in ihrem Antrag explizit schreibt: „Es ist eine rein
defensive Maßnahme, und es geht nicht um die Durch-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26561
Dr. Reinhard Brandl
(C)
(B)
setzung einer Flugverbotszone“, dann sollten wir unse-
rem Bündnispartner Türkei glauben.
Verehrte Kolleginnen und Kollegen, wir sind Teil der
NATO. Wir haben von der Solidarität der Partner in der
NATO jahrzehntelang profitiert. Jetzt sind wir gefragt,
Solidarität zu zeigen. Wir sollten uns dem nicht verwei-
gern. Ich bitte Sie herzlich um Zustimmung zu diesem
Mandat.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses zu dem An-
trag der Bundesregierung zur Entsendung bewaffneter
deutscher Streitkräfte zur Verstärkung der integrierten
Luftverteidigung der NATO auf Ersuchen der Türkei.
Der Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung
auf Drucksache 17/11892, den Antrag der Bundesregie-
rung auf Drucksache 17/11783 anzunehmen.
Wir stimmen nun über die Beschlussempfehlung na-
mentlich ab. Hierzu liegen mir eine ganze Reihe persön-
licher Erklärungen zur Abstimmung vor.1)
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. Sind alle Plätze an
den Urnen besetzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich
die Abstimmung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimme noch nicht abgeben konnte? – Das ist nicht der
Fall. Ich schließe die Abstimmung und bitte die Schrift-
führerinnen und Schriftführer, mit der Auszählung zu
beginnen. Das Ergebnis der Abstimmung wird Ihnen
später bekannt gegeben.2)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich mache darauf
aufmerksam, dass wir jetzt noch nicht am Schluss der
Tagesordnung sind und auch zu diesem Tagesordnungs-
punkt noch eine Abstimmung durchführen werden. Des-
halb wäre ich dankbar, wenn diejenigen, die jetzt an den
Beratungen teilnehmen, Platz nehmen, sodass ich dann
auch Abstimmungsergebnisse zweifelsfrei feststellen
kann.
Kollegin Vogler, wir stimmen jetzt gleich über einen
Antrag Ihrer Fraktion ab. Es wäre schön, wenn ich fort-
fahren könnte. Das gilt auch für die übrigen Mitglieder
der Fraktion Die Linke, welche noch im Plenarsaal ste-
hen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-
ßungsantrag der Fraktion Die Linke auf Drucksa-
che 17/11896. Wer stimmt für den Entschließungsan-
trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? Der
Entschließungsantrag ist mit den Stimmen der Koali-
tionsfraktionen, der Fraktion der SPD und der Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen gegen die Stimmen der Fraktion
Die Linke abgelehnt.
Ich rufe die Tagesordnungspunkte 44 a bis 44 c auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Ingo
Egloff, Burkhard Lischka, Sebastian Edathy, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Genossenschaftsgründungen erleichtern, Woh-
nungsgenossenschaften stärken, bewährtes
Prüfsystem erhalten
– Drucksache 17/9976 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Kultur und Medien
b) Beratung des Antrags der Abgeordneten Heidrun
Bluhm, Johanna Voß, Dr. Kirsten Tackmann, wei-
terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKE
Genossenschaften aktiv fördern, Mitglied-
schaften erleichtern und unterstützen
– Drucksache 17/11828 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
c) Beratung des Antrags der Abgeordneten Beate
Walter-Rosenheimer, Ingrid Hönlinger, Kerstin
Andreae, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN
Kleine und Kleinstgenossenschaften stärken,
Bürokratie abbauen
– Drucksache 17/11579 –
Überweisungsvorschlag:
Rechtsausschuss
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine Stunde vorgesehen. – Ich höre keinen
Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der Kollege
Ingo Egloff für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Der genossenschaftliche Teil der Wirtschaft hat
sich in den 100 Jahren seines Bestehens gut behauptet.
Die hohe Insolvenzfestigkeit und auch die zum Teil
1) Anlagen 8 bis 12
2) Ergebnis Seite 26565 C
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schon sehr alte und erfolgreiche Geschichte einiger Ge-
nossenschaften zeigt, dass man mit dieser Gesellschafts-
form in einem marktwirtschaftlichen System überleben
kann.
Genossenschaften sind soziale, demokratische und
verantwortungsbewusste Institutionen. Die Genossen-
schaft ist die einzige Rechtsform, die es erlaubt, bürger-
schaftliches Engagement und wirtschaftliches Interesse
unter einem Dach zu verbinden.
Bei Genossenschaften steht die Befriedigung der ei-
genen Nutzerinteressen im Vordergrund, nicht die Ren-
dite. Sie sind nicht anfällig für Spekulationen und auch
nicht für feindliche Übernahmen. Keine Heuschrecke
kann sie zerfleddern oder kaputtsanieren.
Es ist vor allem dieser Unterschied zu den Kapitalge-
sellschaften, der sie gänzlich unbeeindruckt durch die
Krise gebracht hat. So zeigen spätestens seit 2008 die
Genossenschaftsbanken anschaulich, dass es solide Al-
ternativen zum Finanzgebaren der Geschäftsbanken gibt.
Die Wohnungsgenossenschaften sind das Kernstück
eines sozialen Wohnungsmarktes. Über 5 Millionen
Menschen wohnen in Deutschland in solchen Wohnun-
gen und halten gleichzeitig Genossenschaftsanteile. In
großen Städten wie Hamburg oder Berlin sind Wohnbau-
genossenschaften das letzte Bollwerk gegen explodie-
rende Mieten und die Verdrängung der angestammten
Bewohner.
Wir wollen am Ende dieses Jubiläumsjahres, des In-
ternationalen Jahres der Genossenschaften, der stolzen
Geschichte ein paar Kapitel hinzufügen. Mit unserem
Antrag unterstützen wir die Genossenschaften in ihren
traditionellen Geschäftsfeldern und fordern gezielte
Maßnahmen zur Weiterentwicklung dieses genossen-
schaftlichen Wirtschaftens.
Der Deutsche Bundestag hat bereits in der Vergangen-
heit eine Reihe von Reformen eingeleitet, auf deren
Ergebnissen unser aktueller Antrag aufbaut: In der Ge-
nossenschaftsgesetzesnovelle von 2006 waren es Anre-
gungen aus der Europäischen Union, die zum Nutzen der
Genossenschaften übernommen wurden: Ausweitung
des Förderzwecks, eine geringere Vorgabe für die Min-
destanzahl an Mitgliedern und Verzicht auf die Bestel-
lung eines Aufsichtsrates für Kleinstgenossenschaften.
Andere Grundlagen wurden indirekt gelegt: Im Anle-
gerschutzgesetz von 2005 wird bei Genossenschaften als
einziger Rechtsform auf die Prospektpflicht verzichtet,
und mit dem Erneuerbare-Energien-Gesetz wurde die
Geschäftsgrundlage für neue Energiegenossenschaften
geschaffen, die in den letzten Jahren zahlreich gegründet
worden sind.
Die Zahl der nach 2006 gestiegenen Neugründungen
ist erfreulich, aber im Vergleich zu Kapitalgesellschaften
immer noch verschwindend gering. Ein großer Teil der
neuen Genossenschaften füllt die Lücken, die der stetig
sinkende Anteil der öffentlichen Hand an sozialen und
kulturellen Leistungen hinterlässt. Genossenschaften
entstehen in der Gesundheitsversorgung, als Träger ehe-
mals kommunaler Aufgaben, auch in Form von Energie-
genossenschaften und vor allem als Sozialgenossen-
schaften. Sie reagieren oftmals auf die Privatisierung
ehemals staatlicher Leistungen, oder sie greifen Trends
wie den demografischen Wandel schneller und in einer
Weise auf, wie sie staatlicherseits nicht angeboten wird.
Dieser Fortentwicklung der Genossenschaften außer-
halb ihrer angestammten Felder müssen wir politisch
Rechnung tragen.
Die SPD-Bundestagsfraktion stellt mit dem vorliegen-
den Antrag die Weichen dafür. Es ist uns gelungen, die
verschiedensten Genossenschafts- und Raiffeisenver-
bände zur Mitarbeit an diesem Antrag anzuregen, eigene
Vorschläge einzubringen und gemeinsam mit uns – sa-
lopp formuliert – dem genossenschaftlichen Dickschiff
ein bisschen frischen Wind in die Segel zu blasen. Im ge-
meinsamen Interesse an der Förderung solidarischer
Wirtschaftsformen bedanken wir uns ausdrücklich für
die gemeinsame Arbeit bei den Genossenschaftsverbän-
den.
Erfreulich finden wir, dass der Parlamentarische
Staatssekretär beim Bundesjustizministerium, der Kol-
lege Max Stadler, hier vor ein paar Tagen in der Befra-
gung der Bundesregierung bereits in Aussicht gestellt
hat, bis zum Ende der Legislaturperiode zu einem ge-
setzgebenden Verfahren zu kommen, das den fraktions-
übergreifenden Wunsch nach verbesserten Bedingungen
für Genossenschaftsgründungen erfüllt. Herr Kollege
Stadler, ich glaube, wir laufen in die gleiche Richtung.
Ich hoffe, dass wir hier gemeinsam Gutes zustande brin-
gen und dafür sorgen werden, dass der Genossenschafts-
gedanke gefördert wird.
Ich will unseren Antrag, der sich in vielen Punkten
mit Überlegungen anderer Fraktionen deckt, kurz be-
gründen, bevor ich die Forderungen skizziere:
Problem Nummer eins. Genossenschaften haben ver-
gleichsweise hohe Rechtsformkosten, die mit erhebli-
chem Aufwand verbunden sind. Die Gründungsprüfung
vor der Eintragung in das Genossenschaftsregister wird
von den Prüfungsverbänden gegen Entgelt durchgeführt.
Für die regelmäßige Prüfung der Geschäftsführungen
und Vermögen fallen Gebühren an. Hinzu kommen
Rechnungslegungsvorschriften, Bilanz- und Veröffentli-
chungspflichten auch für sehr kleine Genossenschaften.
Problemfeld zwei. Genossenschaftsgründer erhalten
keine Gründungsförderung, weil die Förderprogramme
auf die Aufnahme einer selbstständigen Tätigkeit durch
einen einzelnen Unternehmensgründer abzielen. Das
Kriterium der ausreichenden unternehmerischen Ent-
scheidungsfreiheit wird regelmäßig nicht zuerkannt, ge-
rade bei Genossenschaften nicht, die offen auf Mitglie-
derzuwachs angelegt sind. Dasselbe gilt für den ERP-
Gründerkredit, das sogenannte Startgeld der Kreditan-
stalt für Wiederaufbau. Hier wird jeder Stimmenanteil
eines anderen Gesellschafters, der Satzungsänderungen
ermöglicht, als förderschädlich bewertet. Auch Beteili-
gungskapital der KfW wird nur dann gewährt, wenn der
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Antragsteller als Person mehr als 25 Prozent der Firmen-
anteile hält. Das ist selten ein Problem für kleine und
selbst mittlere Kapitalgesellschaften, ist aber in Genos-
senschaften regelmäßig nicht der Fall.
Problem Nummer drei. Genossenschaften können nur
unter stark erschwerten Bedingungen Kredite ihrer Mit-
glieder aufnehmen. Darlehen ihrer Genossen stellen
Bankgeschäfte dar, bei denen nach dem Kreditwesen-
gesetz zum Beispiel verlangt wird, dass der Vorstand ei-
ner Genossenschaft über eine Bankleiterqualifikation
verfügt. Das führt schon bei traditionellen Winzergenos-
senschaften zu Problemen, wie wir erfahren mussten,
wird aber noch viel schwieriger bei Energiegenossen-
schaften und anderen investitionsintensiven Genossen-
schaften.
Wir haben es speziell bei Wohnungsgenossenschaften
mit einem beiderseitigen Problem zu tun, wenn Privat-
insolvenzen eintreten. Einerseits kann der Insolvenzver-
walter die Mitgliedschaft des Schuldners in der Woh-
nungsgenossenschaft kündigen. Das berechtigt diese
zwar nicht zur Kündigung des Mietverhältnisses. Aber
das Wohnrecht ist trotzdem gefährdet. Andererseits ist
den Wohnungsgenossenschaften nicht zumutbar, sich in
diesen Fällen immer häufiger in der Situation zu befin-
den, dass Bewohner keine Mitglieder mehr sind.
Speziell die Genossenschaftsbanken sind von einem
Verordnungsvorschlag der Europäischen Kommission
betroffen, bei Unternehmen von öffentlichem Interesse
einen regelmäßigen Wechsel des Abschlussprüfers zu er-
zwingen. Hier drohen auf nationales Recht zu übertra-
gende Bestimmungen das bewährte und erfolgreiche
System der Prüfung durch genossenschaftliche Prüfver-
bände auszuhebeln.
Unsere Forderungen lauten deshalb:
Erstens. Förderkriterien, die Genossenschaften benach-
teiligen, müssen ausgeschlossen sein. Nicht Mindestbe-
teiligungen, sondern die Organstellung sollte Kriterium
von Förderrechtlinien sein. Damit Existenzgründungen
in der Rechtsform der Genossenschaft in vergleichbarer
Weise gefördert werden können, müssen gegebenenfalls
neue, geeignete Förderinstrumente entwickelt werden.
Zweitens. Genossenschaften wird unter der Verpflich-
tung zur Offenlegung aller Risiken durch eine Änderung
des Kreditwesengesetzes oder des Genossenschafts-
gesetzes ermöglicht, zur Finanzierung des Genossen-
schaftsbetriebs Kredite ihrer Mitglieder aufzunehmen.
Drittens. Wir wollen Erleichterungen für sogenannte
Kleinstgenossenschaften in Anlehnung an die Kriterien
der Micro-Richtlinie der Europäischen Union für Kapi-
talgesellschaften, die bezüglich Rechnungslegung sowie
Prüf- und Veröffentlichungspflichten gewährt werden
sollen.
Viertens. Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften
sollen im Falle der Privatinsolvenz vor dem Wohnungs-
verlust, im Gegenzug Wohnungsgenossenschaften vor
Mietern ohne Genossenschaftsanteil geschützt werden.
Wir sollten auf dem Weg zu einer Gesetzesinitiative
außerdem darauf achten, dass die Frage der Haftung bei
ehrenamtlicher Vorstands- und Aufsichtsratstätigkeit für
in Wahrnehmung ihrer Pflichten verursachte Schäden
geklärt wird. Zu prüfen ist, ob sie entsprechend der Re-
gelung für Vereinsvorstände in § 31 a BGB auf Vorsatz
und grobe Fahrlässigkeit beschränkt werden kann.
Geprüft werden sollte auch, ob und wie für genossen-
schaftliche Kultur- und Kreativunternehmer in Anleh-
nung an das geplante Investitionsprogramm für Sozial-
unternehmer ein KfW-Förderprogramm aufgelegt
werden kann, und ab welcher Darlehenssumme es erfor-
derlich ist, dass auch eine Kleinstgenossenschaft der
Pflichtprüfung unterliegt, wenn sie von ihren Mitglie-
dern mehr als nur Kleinkredite aufnimmt.
Von ganz erheblicher Bedeutung wird es außerdem
sein, dass die Bundesregierung sich bei der EU-Kom-
mission für die Genossenschaftsbanken starkmacht. Das
bewährte gesetzliche Dauerprüfmandat der genossen-
schaftlichen Prüfungsverbände muss erhalten bleiben.
Insgesamt sind wir, so glaube ich, alle gemeinsam in
der Lage, ruhig und sachlich über dieses Problem zu dis-
kutieren und nach Lösungen zu suchen, die der Tatsache
Rechnung tragen, dass in Deutschland 21 Millionen
Menschen Mitglied einer Genossenschaft sind. Das ist
ein Viertel der Bevölkerung. Das zeigt, welche Bedeu-
tung die 8 000 Genossenschaften in der Bundesrepublik
Deutschland haben. Dessen sollten wir uns immer be-
wusst sein. Wir sollten Bewährtes erhalten – Stichwort
„Insolvenzfestigkeit“ – und es trotzdem ermöglichen,
dass neue Genossenschaften gegründet werden. Wenn
wir das als Maßstab anlegen, sind wir gemeinsam auf ei-
nem guten Weg.
Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Detlef Seif für die Unions-
fraktion.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren Kolle-
gen! Nach der über 150-jährigen Geschichte der Genos-
senschaften hat diese Unternehmensform in der Tat ei-
nen festen Platz in vielen wirtschaftlichen Bereichen
unserer Gesellschaft: im Einkauf, im Verkauf, im Ver-
kehrsbereich, im Kreditwesen und – das ist ganz beson-
ders wichtig – im Wohnungswesen. Mit der letzten No-
velle im Jahr 2006 wurde das Tätigkeitsfeld der
Genossenschaften noch erweitert und auf soziale und
kulturelle Zwecke ausgedehnt. Die Zahl der Gründungen
war rückläufig. Die Zahl der Genossenschaften hatte im
Jahr 2005 ihren Tiefststand erreicht. Es gab nur noch
75 Neugründungen. Man muss aber sehen, dass das auch
der Fusion vieler Genossenschaften geschuldet ist. Die
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Detlef Seif
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Novelle bewirkte jedenfalls, dass eine deutliche Zu-
nahme der Neugründungen von Genossenschaften statt-
gefunden hat. Von 241 Neugründungen im Jahr 2009
stieg die Zahl im Jahr 2011 auf 370.
Für einige Unternehmen – das haben die letzten Jahre
gezeigt – steht die Gewinnmaximierung im Vorder-
grund: Börsennotierung, Dividende. Das ist auch kein
Wunder. Der Vorstandsvorsitzende einer Aktiengesell-
schaft wird danach bewertet, wie hoch der Profit für die
einzelnen Aktionäre ist. Da ist es wohltuend, dass es in
Abgrenzung dazu Genossenschaften gibt, deren Zweck
darauf gerichtet ist, die einzelnen Mitglieder zu fördern.
Der Mensch steht hier im Mittelpunkt. Die Genossen
sind mit ihrer Gesellschaft persönlich verbunden; unab-
hängig von der Höhe des Geschäftsanteils hat man in der
Regel nur eine Stimme. Deswegen wird die Genossen-
schaft zu Recht als die demokratischste Gesellschaft be-
zeichnet.
Die Geschichte zeigt auch, dass es keine andere Un-
ternehmensform gibt, die so gut durch wirtschaftlich
schwierige Zeiten kommt. Das Insolvenzrisiko von Ein-
zelunternehmen ist doppelt so hoch wie das von Ge-
nossenschaften, das Insolvenzrisiko von Aktiengesell-
schaften und GmbHs sogar siebenmal so hoch. Die
Kreditgenossenschaften – das haben Sie schon angedeu-
tet – haben sich in der Finanzmarktkrise als Pfeiler der
Finanzwirtschaft erwiesen.
Die Wohnungsgenossenschaften mit ihrer wichtigen
Funktion der Wohnungsbeschaffung und -bereitstellung
sind nicht wegzudenken. In der Zukunft werden wir es
zunehmend auch mit Energiegenossenschaften zu tun
haben. Wir alle wissen: Die Energiewende wird nur ge-
lingen können, wenn wir auf eine dezentrale Stromver-
sorgung setzen. Gerade da können Energiegenossen-
schaften eine wichtige Funktion einnehmen.
Genossenschaften sind also ein Erfolgsmodell. Insoweit
ziehen wir eigentlich grundsätzlich am selben Strang.
Festzuhalten ist aber, dass bereits die Novelle des Jah-
res 2006 viele Verbesserungen gebracht hat; Sie haben es
ja im Einzelnen erläutert. Für wichtig erachte ich insbe-
sondere, dass die Mindestmitgliederzahl auf drei redu-
ziert wurde. Kleine Genossenschaften mit weniger als
20 Mitgliedern können Organe leichter bestellen. Da hat
also schon viel Bürokratieabbau stattgefunden. Man
hatte sich erhofft, durch die Abschaffung der Verpflich-
tung zur Prüfung des Jahresabschlusses bei kleineren
Genossenschaften eine wesentliche Entlastung herbeizu-
führen. Die Prüfung hat aber ergeben: Die Entlastung lag
tatsächlich nur in der Größenordnung von 20 Prozent.
Der Bericht empfiehlt, eine kleine Genossenschaft oder
die sogenannte Kooperativgenossenschaft einzuführen,
die von der Pflichtmitgliedschaft und der Pflichtprüfung
befreit ist. So sollen bürokratische Belastungen reduziert
und Neugründungen von Kleingenossenschaften erleich-
tert werden.
Aber was ist eine kleine Genossenschaft? Ab wel-
chem Schwellenwert fängt sie an? Meine Damen und
Herren, wir dürfen eins nicht übersehen: Wir haben zwar
oftmals eine unerträgliche Bürokratie, aber hinter jeder
Regelung steckt im Normalfall ein Sinn. Der Sinn ge-
rade bei der Genossenschaftsprüfung liegt darin, den
ordnungsgemäßen Geschäftsbetrieb sicherzustellen. Es
gilt, sicherzustellen, dass gerade die Genossen geschützt
werden, und sicherzustellen, dass auch die Gläubiger ge-
schützt werden. Deshalb müssen wir höllisch aufpassen,
dass wir in dem Bereich nicht eine Regelung einführen,
die dies nicht in ausreichendem Umfang berücksichtigt.
Warum? Die Genossenschaften haben sich bewährt.
Wenn wir aber ein neues System einrichten, das ohne
eine Prüfung arbeitet, dann besteht ein hohes Risiko,
dass sich zukünftig gerade Kleinstgenossenschaften
nicht so an Rechtsvorschriften halten, wie sie es sollten,
dass Mängel, die in der Prüfung entdeckt werden könn-
ten, nicht aufgedeckt werden. Ich denke, wir müssen
daran arbeiten, dass in der Tat auch die Kleinstgenos-
senschaften von vornherein angehalten werden, Rechts-
vorschriften zu beachten. Wenn jemand, der ein Unter-
nehmen hat, weiß, dass er nicht geprüft wird, dann liegt
es in der Natur der Sache, dass er leichtfertiger arbeitet.
Genau da müssen wir ansetzen. Der Ansatz, hier grund-
sätzlich eine Neuregelung zu schaffen, ist gut; aber das
muss mit dem Risiko abgewogen werden.
Meine Damen und Herren, SPD und Linke regen an,
dass die Mitglieder von Wohnungsgenossenschaften bei
Privatinsolvenz vor Wohnungsverlust geschützt werden
müssen. Dieser Ansatz ist richtig. Vor zwei Wochen ha-
ben wir in erster Lesung ein Gesetz zur Verkürzung des
Restschuldbefreiungsverfahrens beraten. Danach sieht
der neue § 67 c des Genossenschaftsgesetzes vor:
Die Kündigung der Mitgliedschaft in einer Woh-
nungsgenossenschaft durch den Gläubiger … oder
den Insolvenzverwalter … ist ausgeschlossen,
wenn 1. die Mitgliedschaft Voraussetzung für die
Nutzung der Wohnung des Mitglieds ist und 2. sein
Geschäftsguthaben höchstens das Vierfache des auf
einen Monat entfallenden Nutzungsentgelts … be-
trägt.
Das ist so ähnlich wie bei der Kautionsregelung. Man
kann hier im Detail sicher darüber streiten, ob man in die
eine oder andere Richtung geht. Ich meine, dieses Gesetz
erfasst das Problem im Wesentlichen. Das ist eine sach-
gerechte Lösung. Hier und heute bräuchte es deshalb
keine zusätzliche Gesetzesinitiative.
Ich denke, die eine oder andere Anregung ist zumin-
dest nachdenkenswert. Ich gehe auch davon aus, dass die
Bundesregierung das in ihre Überlegungen mit einbezie-
hen wird. Wichtig ist aber, dass wir keine Schnellschüsse
machen. So habe ich zum Beispiel Bedenken, ob die vor-
geschlagene Kreditaufnahme der Genossenschaften bei
Mitgliedern überhaupt zulässig ist. Das könnte nämlich
einen Verstoß gegen Art. 5 der EU-Richtlinie über die
Aufnahme und Ausübung der Tätigkeit der Kreditinsti-
tute darstellen. Man muss diese rechtlichen Bedenken
zumindest ausräumen. Wenn man das kann – in Ordnung –,
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dann kann man über diesen Punkt nachdenken. Ich gehe
davon aus, dass auch Sie ein Interesse daran haben. Qua-
lität geht vor Schnelligkeit. Wir werden alle gemeinsam
daran arbeiten, dass die wichtigste Unternehmensform,
Genossenschaft, zukünftig optimale Rahmenbedingun-
gen hat.
Vielen Dank.
Bevor ich der nächsten Rednerin das Wort erteile,
gebe ich Ihnen das von den Schriftführerinnen und
Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentlichen
Abstimmung über die Beschlussempfehlung des Aus-
wärtigen Ausschusses zu dem Antrag der Bundesregie-
rung „Entsendung bewaffneter deutscher Streitkräfte
zur Verstärkung der integrierten Luftverteidigung der
NATO auf Ersuchen der Türkei und auf Grundlage des
des Nordatlantikrates vom 4. Dezember 2012“ bekannt:
abgegebene Stimmen 555. Mit Ja haben 461 Kollegin-
nen und Kollegen gestimmt, mit Nein 86, und es gab
8 Enthaltungen. Die Beschlussempfehlung ist angenom-
men.
Endgültiges Ergebnis
Abgegebene Stimmen: 555;
davon
ja: 461
nein: 86
enthalten: 8
Ja
CDU/CSU
Ilse Aigner
Peter Aumer
Dorothee Bär
Thomas Bareiß
Norbert Barthle
Günter Baumann
Ernst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika Bellmann
Dr. Christoph Bergner
Peter Beyer
Steffen Bilger
Clemens Binninger
Peter Bleser
Dr. Maria Böhmer
Wolfgang Börnsen
Norbert Brackmann
Klaus Brähmig
Michael Brand
Dr. Reinhard Brandl
Helmut Brandt
Dr. Helge Braun
Heike Brehmer
Ralph Brinkhaus
Cajus Caesar
Gitta Connemann
Alexander Dobrindt
Thomas Dörflinger
Marie-Luise Dött
Dr. Thomas Feist
Enak Ferlemann
Ingrid Fischbach
Dirk Fischer
Dr. Maria Flachsbarth
Klaus-Peter Flosbach
Dr. Hans-Peter Friedrich
Michael Frieser
Erich G. Fritz
Hans-Joachim Fuchtel
Alexander Funk
Ingo Gädechens
Dr. Thomas Gebhart
Norbert Geis
Alois Gerig
Eberhard Gienger
Peter Götz
Dr. Wolfgang Götzer
Ute Granold
Reinhard Grindel
Hermann Gröhe
Michael Grosse-Brömer
Markus Grübel
Manfred Grund
Monika Grütters
Florian Hahn
Jürgen Hardt
Gerda Hasselfeldt
Dr. Matthias Heider
Helmut Heiderich
Mechthild Heil
Frank Heinrich
Rudolf Henke
Michael Hennrich
Ansgar Heveling
Ernst Hinsken
Peter Hintze
Christian Hirte
Robert Hochbaum
Karl Holmeier
Franz-Josef Holzenkamp
Joachim Hörster
Anette Hübinger
Hubert Hüppe
Thomas Jarzombek
Dieter Jasper
Dr. Franz Josef Jung
Dr. Egon Jüttner
Bartholomäus Kalb
Hans-Werner Kammer
Steffen Kampeter
Alois Karl
Bernhard Kaster
Volker Kauder
Dr. Stefan Kaufmann
Roderich Kiesewetter
Eckart von Klaeden
Ewa Klamt
Volkmar Klein
Jürgen Klimke
Axel Knoerig
Jens Koeppen
Manfred Kolbe
Dr. Rolf Koschorrek
Hartmut Koschyk
Thomas Kossendey
Michael Kretschmer
Gunther Krichbaum
Dr. Günter Krings
Rüdiger Kruse
Dr. Hermann Kues
Günter Lach
Dr. Karl A. Lamers
Andreas G. Lämmel
Dr. Norbert Lammert
Katharina Landgraf
Ulrich Lange
Dr. Max Lehmer
Paul Lehrieder
Dr. Ursula von der Leyen
Ingbert Liebing
Matthias Lietz
Dr. Carsten Linnemann
Patricia Lips
Dr. Jan-Marco Luczak
Daniela Ludwig
Karin Maag
Dr. Thomas de Maizière
Hans-Georg von der Marwitz
Andreas Mattfeldt
Stephan Mayer
Dr. Michael Meister
Maria Michalk
Dr. h. c. Hans Michelbach
Dr. Mathias Middelberg
Philipp Mißfelder
Dietrich Monstadt
Dr. Gerd Müller
Stefan Müller
Dr. Philipp Murmann
Bernd Neumann
Michaela Noll
Dr. Georg Nüßlein
Franz Obermeier
Eduard Oswald
Henning Otte
Dr. Michael Paul
Rita Pawelski
Ulrich Petzold
Dr. Joachim Pfeiffer
Sibylle Pfeiffer
Beatrix Philipp
Ronald Pofalla
Christoph Poland
Ruprecht Polenz
Eckhard Pols
Thomas Rachel
Eckhardt Rehberg
Lothar Riebsamen
Klaus Riegert
Dr. Heinz Riesenhuber
Johannes Röring
Dr. Norbert Röttgen
Dr. Christian Ruck
Erwin Rüddel
Albert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang Schäuble
Dr. Annette Schavan
Dr. Andreas Scheuer
Karl Schiewerling
Tankred Schipanski
Georg Schirmbeck
Christian Schmidt
Patrick Schnieder
Dr. Andreas Schockenhoff
Nadine Schön
Dr. Kristina Schröder
Bernhard Schulte-Drüggelte
Uwe Schummer
Detlef Seif
Johannes Selle
Reinhold Sendker
Dr. Patrick Sensburg
Bernd Siebert
Thomas Silberhorn
Johannes Singhammer
Jens Spahn
Carola Stauche
26566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Dr. Frank Steffel
Erika Steinbach
Christian Freiherr von Stetten
Dieter Stier
Gero Storjohann
Stephan Stracke
Max Straubinger
Karin Strenz
Thomas Strobl
Lena Strothmann
Michael Stübgen
Dr. Peter Tauber
Antje Tillmann
Dr. Hans-Peter Uhl
Arnold Vaatz
Volkmar Vogel
Stefanie Vogelsang
Andrea Astrid Voßhoff
Marco Wanderwitz
Kai Wegner
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg Wellmann
Peter Wichtel
Annette Widmann-Mauz
Klaus-Peter Willsch
Elisabeth Winkelmeier-
Becker
Dr. Matthias Zimmer
Wolfgang Zöller
Willi Zylajew
SPD
Ingrid Arndt-Brauer
Rainer Arnold
Heinz-Joachim Barchmann
Doris Barnett
Dr. Hans-Peter Bartels
Sören Bartol
Dirk Becker
Uwe Beckmeyer
Gerd Bollmann
Klaus Brandner
Willi Brase
Edelgard Bulmahn
Martin Burkert
Petra Crone
Martin Dörmann
Elvira Drobinski-Weiß
Sebastian Edathy
Ingo Egloff
Siegmund Ehrmann
Dr. h. c. Gernot Erler
Petra Ernstberger
Elke Ferner
Gabriele Fograscher
Dr. Edgar Franke
Dagmar Freitag
Sigmar Gabriel
Michael Gerdes
Martin Gerster
Iris Gleicke
Günter Gloser
Kerstin Griese
Gabriele Groneberg
Wolfgang Gunkel
Bettina Hagedorn
Klaus Hagemann
Michael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang Hellmich
Rolf Hempelmann
Dr. Barbara Hendricks
Gustav Herzog
Gabriele Hiller-Ohm
Frank Hofmann
Dr. Eva Högl
Josip Juratovic
Oliver Kaczmarek
Johannes Kahrs
Dr. h. c. Susanne Kastner
Ulrich Kelber
Lars Klingbeil
Hans-Ulrich Klose
Daniela Kolbe
Angelika Krüger-Leißner
Ute Kumpf
Christian Lange
Dr. Karl Lauterbach
Burkhard Lischka
Kirsten Lühmann
Caren Marks
Katja Mast
Petra Merkel
Ullrich Meßmer
Dr. Matthias Miersch
Dr. Rolf Mützenich
Dietmar Nietan
Thomas Oppermann
Heinz Paula
Johannes Pflug
Dr. Wilhelm Priesmeier
Florian Pronold
Dr. Sascha Raabe
Mechthild Rawert
Stefan Rebmann
Gerold Reichenbach
Dr. Carola Reimann
Sönke Rix
René Röspel
Dr. Ernst Dieter Rossmann
Karin Roth
Michael Roth
Annette Sawade
Anton Schaaf
Axel Schäfer
Bernd Scheelen
Marianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar Schreiner
Frank Schwabe
Dr. Martin Schwanholz
Rolf Schwanitz
Stefan Schwartze
Rita Schwarzelühr-Sutter
Dr. Carsten Sieling
Sonja Steffen
Peer Steinbrück
Christoph Strässer
Kerstin Tack
Dr. h. c. Wolfgang Thierse
Franz Thönnes
Wolfgang Tiefensee
Rüdiger Veit
Ute Vogt
Andrea Wicklein
Heidemarie Wieczorek-Zeul
Dr. Dieter Wiefelspütz
Dagmar Ziegler
Manfred Zöllmer
Brigitte Zypries
FDP
Jens Ackermann
Christian Ahrendt
Christine Aschenberg-
Dugnus
Daniel Bahr
Florian Bernschneider
Sebastian Blumenthal
Claudia Bögel
Nicole Bracht-Bendt
Klaus Breil
Rainer Brüderle
Angelika Brunkhorst
Marco Buschmann
Sylvia Canel
Helga Daub
Reiner Deutschmann
Bijan Djir-Sarai
Patrick Döring
Mechthild Dyckmans
Hans-Werner Ehrenberg
Rainer Erdel
Jörg van Essen
Otto Fricke
Dr. Edmund Peter Geisen
Hans-Michael Goldmann
Miriam Gruß
Dr. Christel Happach-Kasan
Heinz-Peter Haustein
Manuel Höferlin
Elke Hoff
Birgit Homburger
Heiner Kamp
Michael Kauch
Dr. Lutz Knopek
Pascal Kober
Dr. Heinrich L. Kolb
Gudrun Kopp
Dr. h. c. Jürgen Koppelin
Sebastian Körber
Holger Krestel
Patrick Kurth
Heinz Lanfermann
Sibylle Laurischk
Harald Leibrecht
Sabine Leutheusser-
Schnarrenberger
Lars Lindemann
Dr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin Lotter
Oliver Luksic
Horst Meierhofer
Patrick Meinhardt
Gabriele Molitor
Jan Mücke
Petra Müller
Burkhardt Müller-Sönksen
Dr. Martin Neumann
Dirk Niebel
Hans-Joachim Otto
Cornelia Pieper
Gisela Piltz
Jörg von Polheim
Dr. Birgit Reinemund
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Stefan Ruppert
Björn Sänger
Frank Schäffler
Christoph Schnurr
Jimmy Schulz
Marina Schuster
Dr. Erik Schweickert
Werner Simmling
Joachim Spatz
Dr. Max Stadler
Torsten Staffeldt
Dr. Rainer Stinner
Stephan Thomae
Manfred Todtenhausen
Dr. Florian Toncar
Serkan Tören
Johannes Vogel
Dr. Daniel Volk
Dr. Guido Westerwelle
Dr. Claudia Winterstein
Dr. Volker Wissing
Hartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Kerstin Andreae
Marieluise Beck
Volker Beck
Cornelia Behm
Birgitt Bender
Viola von Cramon-Taubadel
Ekin Deligöz
Katja Dörner
Harald Ebner
Hans-Josef Fell
Dr. Thomas Gambke
Kai Gehring
Katrin Göring-Eckardt
Britta Haßelmann
Bettina Herlitzius
Priska Hinz
Dr. Anton Hofreiter
Bärbel Höhn
Ingrid Hönlinger
Thilo Hoppe
Uwe Kekeritz
Katja Keul
Sven-Christian Kindler
Ute Koczy
Tom Koenigs
Oliver Krischer
Agnes Krumwiede
Fritz Kuhn
Stephan Kühn
Renate Künast
Markus Kurth
Undine Kurth
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26567
Vizepräsidentin Petra Pau
(C)
(B)
Dr. Tobias Lindner
Nicole Maisch
Jerzy Montag
Kerstin Müller
Beate Müller-Gemmeke
Dr. Konstantin von Notz
Omid Nouripour
Friedrich Ostendorff
Dr. Hermann E. Ott
Lisa Paus
Brigitte Pothmer
Tabea Rößner
Claudia Roth
Krista Sager
Manuel Sarrazin
Elisabeth Scharfenberg
Dr. Gerhard Schick
Markus Tressel
Jürgen Trittin
Daniela Wagner
Beate Walter-Rosenheimer
Wolfgang Wieland
Dr. Valerie Wilms
Josef Philip Winkler
Nein
SPD
Klaus Barthel
Bärbel Bas
Lothar Binding
Ulla Burchardt
Dr. Peter Danckert
Angelika Graf
Hans-Joachim Hacker
Petra Hinz
Dr. Bärbel Kofler
Christine Lambrecht
Steffen-Claudio Lemme
Hilde Mattheis
Swen Schulz
Dr. Marlies Volkmer
Waltraud Wolff
DIE LINKE
Jan van Aken
Agnes Alpers
Dr. Dietmar Bartsch
Herbert Behrens
Matthias W. Birkwald
Heidrun Bluhm
Steffen Bockhahn
Christine Buchholz
Eva Bulling-Schröter
Dr. Martina Bunge
Roland Claus
Sevim Dağdelen
Dr. Diether Dehm
Heidrun Dittrich
Werner Dreibus
Dr. Dagmar Enkelmann
Klaus Ernst
Wolfgang Gehrcke
Nicole Gohlke
Diana Golze
Annette Groth
Dr. Gregor Gysi
Heike Hänsel
Dr. Rosemarie Hein
Dr. Barbara Höll
Andrej Hunko
Ulla Jelpke
Dr. Lukrezia Jochimsen
Katja Kipping
Harald Koch
Jan Korte
Jutta Krellmann
Katrin Kunert
Caren Lay
Sabine Leidig
Ralph Lenkert
Michael Leutert
Stefan Liebich
Ulla Lötzer
Dr. Gesine Lötzsch
Thomas Lutze
Ulrich Maurer
Dorothée Menzner
Cornelia Möhring
Kornelia Möller
Niema Movassat
Thomas Nord
Petra Pau
Jens Petermann
Richard Pitterle
Yvonne Ploetz
Ingrid Remmers
Paul Schäfer
Kathrin Senger-Schäfer
Raju Sharma
Dr. Petra Sitte
Kersten Steinke
Sabine Stüber
Alexander Süßmair
Dr. Kirsten Tackmann
Frank Tempel
Dr. Axel Troost
Alexander Ulrich
Kathrin Vogler
Johanna Voß
Halina Wawzyniak
Jörn Wunderlich
Sabine Zimmermann
fraktionsloser
Abgeordneter
Wolfgang Nešković
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Monika Lazar
Hans-Christian Ströbele
Enthalten
SPD
Marco Bülow
Marlene Rupprecht
Ewald Schurer
BÜNDNIS 90/
DIE GRÜNEN
Memet Kilic
Maria Klein-Schmeink
Sylvia Kotting-Uhl
Dorothea Steiner
Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn
Wir fahren nun fort in der Debatte zum Tagesord-
nungspunkt 44: Genossenschaftsgründungen. Das Wort
hat die Kollegin Johanna Voß aus der Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Das Jahr der Genossenschaften geht nun zu Ende. Zahl-
reiche Publikationen hat es gegeben, zahlreiche Veran-
staltungen und Filmreihen haben stattgefunden. Eine
Wahlkreisreise per Rad zu solidarischer Ökonomie hat
mir gezeigt, wie viel sich tut: Eine-Welt-Läden, weitere
Läden, neue Energiegenossenschaften, Jugend- und Be-
schäftigungsprojekte und mehr.
Die Linke und die anderen Oppositionsfraktionen ha-
ben hier im Parlament sowohl in dieser Legislaturpe-
riode als auch schon davor dazu fleißig gearbeitet, etwa
in Form von Anfragen. Es gab auch eine Genossen-
schaftskonferenz der Linken.
Die UNO hat mit dem Jahr der Genossenschaften
mehr verbunden als den Wunsch, dass gefeiert wird. Sie
hat eine Resolution mit einem Arbeitsauftrag verab-
schiedet. Sie fordert alle Mitgliedsländer auf, bekannt zu
machen, welche Beiträge Genossenschaften zur Beseiti-
gung von Armut und zur Sicherung des Lebensunterhalts
leisten können. Sie fordert die Mitgliedstaaten auf, Ge-
nossenschaften zu fördern. Sie fordert dazu auf, die
Rechts- und Verwaltungsvorschriften für Genossen-
schaften zu überprüfen und die Bestandsfähigkeit von
Genossenschaften zu stärken. Und da fehlt was.
Dass wir hier heute überhaupt über Genossenschaften
und den diesbezüglichen Reformbedarf sprechen, ist der
geleisteten parlamentarischen Arbeit und den Anträgen
der Opposition zu verdanken.
Inzwischen sind Genossenschaften aber auch mehr
und mehr zum Lückenbüßer geworden, nämlich dort, wo
kaputtgesparte und durch Schuldenbremsen drangsa-
lierte Kommunen ihre Aufgaben in der öffentlichen Da-
seinsvorsorge nicht mehr wahrnehmen können. Genos-
senschaften sollen aber die öffentliche Daseinsvorsorge
nicht ersetzen; sie dürfen nicht Lückenbüßer sein. Wir
brauchen sozialen Wohnungsbau, gesicherte Gesund-
heitsversorgung, öffentliche Büchereien und Schwimm-
bäder auch ohne genossenschaftliche Beteiligung.
Auch dank vieler neuer Energiegenossenschaften, die
zur Regionalisierung der Energieversorgung und zum
Umstieg auf erneuerbare Energien beitragen, steigt die
Anzahl der Genossenschaftsgründungen nun wieder.
26568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Johanna Voß
(C)
(B)
Aber das darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass Ge-
nossenschaften weit mehr Auftrieb erhalten könnten und
sollten.
Was sind die Hindernisse?
Ein ganz wichtiges Hindernis ist: Für viele Selbsthil-
feprojekte sind die Kosten zu hoch. Sie können die
Gründungskosten und die Prüfungskosten nicht schul-
tern.
Ein weiteres Hindernis: Genossenschaften sind bei
Fördermaßnahmen benachteiligt. Fördermaßnahmen
sind oft auf individuelle, selbstständige Tätigkeiten zu-
geschnitten – Ingo Egloff hat das gerade gut ausgeführt –,
und sie stehen für kollektive Lösungen nicht zur Verfü-
gung.
Noch etwas: Bildung über Genossenschaften wird in
Schulen, in der Berufsausbildung und auch an Universi-
täten stiefväterlich behandelt. Sie gehört aber unbedingt
in die Curricula.
Diese Nachteile gehören beseitigt! Bitte denken Sie
auch daran!
Seit 2006 gibt es für kleine Genossenschaften mit ei-
ner Bilanzsumme bis 1 Million Euro und einem Umsatz
bis 2 Millionen Euro Erleichterungen bei den umfassen-
den Jahresabschlussprüfungen. Dass dies nicht reicht,
hat die Linke schon damals kritisiert und eine weiterge-
hende Befreiung gefordert. Weil kleine Genossenschaf-
ten immer noch regelrecht totgeprüft werden, wählen
viele Initiativen andere Rechtsformen. Sie konstituieren
sich beispielsweise als eingetragener Verein, wie dies
zahlreiche Weltläden oder Dorfläden, auch in meinem
Wohnort, tun.
Die Reform von 2006 wurde im Jahr 2009 evaluiert.
Es wurde empfohlen, weitere Erleichterungen zu schaf-
fen. Im Mai dieses Jahres sprach der Petitionsausschuss
eine ähnliche Empfehlung aus. Von Schnellschuss kann
also keine Rede sein. Ich sage, dass sich die Regierung
hier Versäumnisse vorwerfen lassen muss und nachlie-
fern sollte. Alljährlich hat die Bundesregierung ange-
kündigt, dass sie hierzu noch einen Gesetzentwurf vorle-
gen wird. Im November 2011 kündigte sie das in einer
Antwort auf eine Frage der Kollegin Hönlinger an. Auch
in der Antwort auf die Kleine Anfrage der Linken im
Sommer dieses Jahres hat sie das angekündigt. Heute
wieder. Ich frage Sie: Wann legen Sie endlich einen Ent-
wurf vor? Gibt es beim Thema Genossenschaften von
Ihnen noch etwas anderes als Ankündigungen?
Leider ist auch nicht überall, wo Genossenschaft
drauf steht, Genossenschaft drin. In den letzten beiden
Novellen wurden die Rechtsgrundlagen der Genossen-
schaften immer mehr denen von Kapitalgesellschaften
angepasst. Wir wollen die Demokratie in Genossen-
schaften wieder stärken und die Rechte der Generalver-
sammlung und der Mitglieder wieder ausbauen.
Auch den Einfluss sogenannter investierender Mit-
glieder auf die Geschäftspolitik wollen wir beschränken;
denn hier geht es vor allem um die Dividende und nicht
um das Wohl der Mitglieder.
Zu den Agrargenossenschaften. Rund 850 Agrarge-
nossenschaften gibt es in Ostdeutschland. Sie haben dort
in der Landwirtschaft einen Anteil von 27 Prozent. Sie
produzieren gemeinschaftlich, betreiben keinen Raub-
bau im Interesse kurzfristiger Renditen. Sie erhalten und
schaffen Arbeitsplätze im Dorf, bilden Lehrlinge aus
und erbringen Leistungen für das Dorf; und das alles in
einer weitgehend demokratischen Wirtschaftsform nach
dem Prinzip: ein Mann/eine Frau – eine Stimme.
Agrargenossenschaften mit gelebten genossenschaft-
lichen Prinzipien sind Vorbild für eine zukunftsfähige
Landwirtschaft. Sie produzieren nachhaltig, ökologisch,
tiergerecht und auch effizient. Deshalb müssen sie in ih-
rer Besonderheit gestärkt werden. Sie dürfen nicht zu
verkleideten Kapitalgesellschaften mutieren.
In der Agrarpolitik dürfen sie nicht diskriminiert wer-
den. Wir wollen eine stärkere Berücksichtigung der Ge-
nossenschaften bei der Weiterentwicklung der Gemein-
samen Agrarpolitik der EU
und in der Bodenpolitik, vor allem bei der Privatisierung
der BVVG-Flächen. Sie brauchen auch Schutz vor
feindlichen Übernahmen durch Kapitalgesellschaften.
Die Potenziale der Genossenschaften sollten in der
Agrarressortforschung und in der Agrarberichterstattung
stärker als bislang berücksichtigt und präsentiert werden.
Zu den Wohnungsgenossenschaften. Heidrun Bluhm
hat bereits einiges gesagt.
Viele Mieter fühlen sich nicht wohl. Sie haben keine
Mitspracherechte mehr, und es wird ein Mietwucher be-
trieben, wie es auch sonst in der Wohnungspolitik üblich
ist, gerade in Berlin.
Ich danke meiner Namenskollegin Elisabeth Voß für
ihre geleistete Arbeit und für ihr Buch. Sie hat viel für
die Genossenschaften und die Verbreitung der guten Ge-
danken, die mit dieser Bewegung verbunden sind, getan.
Das internationale Jahr der Genossenschaften geht nun
zu Ende. Da heißt es für die Bundesregierung: Liefern!
Nicht immer nur ankündigen, liefern!
Der Kollege Marco Buschmann hat nun für die FDP-
Fraktion das Wort.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26569
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir beraten
heute über Anregungen für die Änderung des Rechts der
eingetragenen Genossenschaften. Dies ist gut; denn
diese Rechtsform ist extrem praxisrelevant. Die Genos-
senschaftsbanken sind schon erwähnt worden. Sie bilden
eine ausgesprochen stabile, gleichberechtigte und unver-
zichtbare dritte Säule im deutschen Bankensystem. Die
Einkaufs- und Absatzgenossenschaften haben eine wich-
tige Funktion für den Mittelstand, weil Größenvorteile
größerer Wettbewerber ausgeglichen werden, indem
kleine Unternehmen miteinander kooperieren. Auch
über die Wohnungsbaugenossenschaften und über die
Energiegenossenschaften haben wir schon viel gehört.
Es werden hier Vorschläge zur Entbürokratisierung
gemacht, insbesondere in der Gründungsphase, im Prü-
fungswesen und bei den Bilanzierungspflichten. Diese
Anregungen sind im Grundsatz zu begrüßen. Herr Kol-
lege Egloff hat ja schon angedeutet, dass im Hause
grundsätzlich kein Dissens darüber besteht, dass hier et-
was zu tun ist. Gerade deshalb brauchen wir die Ent-
schließungsanträge vielleicht gar nicht, weil ja allgemein
bekannt ist, dass die Bundesregierung einen Gesetzent-
wurf auf den Weg bringen wird,
der gerade die Gründung erleichtern soll – Stichwort:
„Minigenossenschaften“ –; das konnten wir auch schon
in den Zeitungen lesen.
Herr Kollege Egloff, Sie haben recht, wenn Sie mir
entgegenhalten, dann könnten wir, was diese Punkte an-
geht, hier einen breiten Konsens finden. Allerdings ist es
so, dass Sie, so meine ich, in Ihren Vorschlägen zum Teil
über das hinausgehen, was ein umsichtiger und kluger
Gesetzgeber tun sollte; Herr Kollege Seif hat das schon
angedeutet. Aus der Perspektive des Verbraucher- und
Anlegerschutzes schießen Sie über bestimmte Grenzen
hinaus. Das ist, glaube ich, nicht klug; denn Sie behan-
deln die Genossenschaft – das merkt man in Ihrem An-
trag und Ihren Begründungen ganz deutlich – wie einen
eingetragenen Verein oder eine GmbH. Das erkennt man
auch bei den Schwellenwerten, die Sie zugrunde legen.
Das halte ich für einen Denkfehler.
Die Genossenschaft ist ihrem Wesen nach eine Publi-
kumsgesellschaft. Das hält das Genossenschaftsgesetz in
§ 1 Abs. 1 ausdrücklich fest. Demnach ist die Genossen-
schaft definiert als eine Gesellschaft „von nicht ge-
schlossener Mitgliederzahl“. Ihre Mitgliedschaft ist also
potenziell breit gestreut; die Zahl von 21 Millionen Mit-
gliedern spricht Bände. Die Genossenschaft richtet sich
auch an geschäftlich unerfahrenes Publikum, nicht zwin-
gend, aber eben potenziell. Denken Sie beispielsweise an
die sogenannten Konsumentenvereine, dort liegt das be-
reits im Wesen.
Da sich eine Publikumsgesellschaft an Gesellschafter
wendet, die ganz anders als der GmbH-Gesellschafter
keinen unmittelbaren Einfluss auf die Geschäftsführung
haben, besteht ein entscheidender Unterschied etwa zur
GmbH. Der Genosse ähnelt also eher dem Aktionär, der
ja bekanntlich auch keinen unmittelbaren Einfluss auf
die Geschäftsführung der Aktiengesellschaft hat.
Der große Unterschied, auf den es mir jetzt ankommt,
wenn wir hier feststellen, dass es sich bei der Genossen-
schaft sozusagen um eine Publikumsgesellschaft han-
delt, liegt darin, dass die Genossenschaft, anders als die
Aktiengesellschaft, das Risiko der unbeschränkten Haf-
tung mit dem Privatvermögen birgt.
Diese Tatsache muss man vielen Kollegen noch ein-
mal ins Gedächtnis rufen. § 6 Nr. 3 des Genossenschafts-
gesetzes sieht vor, dass die Satzung vorsehen kann, dass
im Fall der Insolvenz unbeschränkter Nachschuss geleis-
tet werden muss. Kübler und Assmann bringen das in ih-
rem Lehrbuch auf die schöne Formel: Jeder Genosse
kann in der Insolvenz der eingetragenen Genossenschaft
mit seinem ganzen Vermögen in Anspruch genommen
werden; solange auch nur ein Genosse zahlungsfähig ist,
haben die Gläubiger Aussicht auf volle Befriedigung. –
Zwar kennt auch die GmbH die Nachschusspflicht, aber
bei der GmbH hat es der Gesellschafter eben selber in
der Hand, diesen Fall abzuwenden, weil er selber Kon-
trollmöglichkeiten und Einfluss auf die Geschäftsfüh-
rung hat.
Wir haben es also mit einer ganz eigenwilligen Kom-
bination im deutschen Gesellschaftsrecht zu tun, näm-
lich mit einer Publikumsgesellschaft, die sich auch an
unerfahrene Anleger wendet, kombiniert mit dem poten-
ziellen Risiko der unbeschränkten Haftung dieser Anle-
ger mit ihrem gesamten Privatvermögen. Diese eigen-
willige Kombination macht es aus der Perspektive des
Verbraucher- und Anlegerschutzes zwingend erforder-
lich, dass man als Gesetzgeber entsprechende Vorkeh-
rungen trifft. Herr Kollege Seif hat das ja schon ange-
deutet.
Die Antwort des Gesetzgebers auf dieses besondere
Regelungsproblem, das niemand ignorieren kann, ist
eben das Prüfungswesen: zum einen die Gründungsprü-
fung und zum anderen die Prüfungsverbände mit ihren
besonders qualifizierten und erfahrenen Prüfern, die da-
für sorgen sollen, dass in dieser besonderen Konstella-
tion das Risiko für die Mitglieder der Genossenschaften
überschaubar bleibt. Dieses Instrument hat sich bewährt.
Die niedrige Zahl der Insolvenzen, diese Insolvenzfes-
tigkeit, ist nicht nur, aber auch auf dieses Prüfungswesen
zurückzuführen.
SPD und insbesondere Grüne wollen nun diese Prü-
fungspflichten außen vor lassen und die Möglichkeit zur
Genossenschaftsgründung allein vom Vorliegen be-
stimmter Bilanzkennziffern abhängig machen. Sie haben
sich dabei an der Micro-Richtlinie orientiert, die im We-
sentlichen auf kleine Kapitalgesellschaften abzielt. Das
ist, glaube ich, nicht sachgerecht. Wenn man Genossen-
schaftsgründungen erleichtern und Prüfungspflichten
verringern möchte, dann muss man auch das besondere
Risiko, das ich vorhin skizziert habe, nämlich die poten-
ziell unbegrenzte Nachschusspflicht, zwingend in den
Blick nehmen, und zwar aus Gründen des Anleger- und
Verbraucherschutzes. Ich meine, wenn man solche Er-
leichterungen vornehmen will, muss man, um den
26570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Marco Buschmann
(C)
(B)
geschäftlich Unerfahrenen zu schützen, zwingend
festlegen, dass die Satzung eine unbegrenzte Nach-
schusspflicht bzw. eine Nachschusspflicht überhaupt
nicht vorsehen darf. Denn ich glaube, niemand hat etwas
davon, wenn man über Fälle in den Zeitungen liest, in
denen sich Unerfahrene auf dieses Risiko eingelassen
haben und möglicherweise am Ende ruiniert sind. Das
würde dem Genossenschaftswesen sicherlich schaden.
Deshalb halte ich es für zwingend erforderlich, so etwas
festzulegen.
Genau diese Anforderung fehlt allerdings in Ihren
Anträgen gänzlich. Es gibt auch noch andere Gründe,
aber allein aus gesellschaftsrechtlichen Gründen, aus
Gründen des Anleger- und Verbraucherschutzes halte ich
sie für nicht zustimmungsfähig. Hier müssen wir bei der
Beratung mehr ins Detail gehen; die Gründung von Ge-
nossenschaften darf nicht einfach an Bilanzkennziffern
festgemacht werden.
Lassen Sie mich am letzten Sitzungstag vor Weih-
nachten versöhnlich schließen: Ich glaube, einem kon-
struktiven Gespräch steht nichts im Wege. Ich habe Ih-
nen ausführlich begründet – ohne Schaum vor dem
Mund, sondern mit guten Sachargumenten –, warum ich
mich Ihren Vorschlägen nicht in Gänze anschließen
kann. Aber ich freue mich auf die konstruktiven Bera-
tungen, sobald der Gesetzentwurf der Bundesregierung
vorliegt. Ich wünsche Ihnen ein frohes Fest und einen
guten Rutsch.
Herzlichen Dank.
Das Wort hat die Kollegin Beate Walter-Rosenheimer
für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Es freut mich nicht nur vor Weihnachten,
wenn Sie keinen Schaum vor dem Mund haben, wenn
wir hier diskutieren.
„Gemeinsam mehr erreichen“, das ist der Grundge-
danke der Genossenschaften. Ob Dorfladen, Energiege-
nossenschaften oder regionale Volks- und Raiffeisenban-
ken: In der Gemeinschaft lassen sich Ziele leichter
erreichen. Wie kein anderes Modell bieten genossen-
schaftliche Unternehmen die Möglichkeit der Mitwir-
kung und Mitgestaltung. Die eingetragene Genossen-
schaft ist traditionell seit vielen Jahren die mit Abstand
insolvenzsicherste Rechtsform in Deutschland. Die In-
solvenzquote lag 2011 bei 0,13 Prozent. Das ist außerge-
wöhnlich gut.
Das ist doch genau das, was eine starke Gesellschaft
braucht: dass sich Menschen solidarisch zusammen-
schließen, um gemeinsam für soziale oder ökologische
Zwecke einzutreten. Wenn das dann auch noch wirt-
schaftlich ist, ist es umso besser.
Gerade jetzt, 2012, im internationalen Jahr der Ge-
nossenschaften, sollte man also ansetzen, um die gute
Struktur weiter zu verbessern. Es ist allerdings nicht
mehr allzu viel Zeit. Wir wollen, dass es leichter und at-
traktiver wird, Genossenschaften zu gründen. Deshalb
braucht es vereinfachte Bedingungen für kleine und
Kleinstgenossenschaften.
Ein konkreter Punkt ist: Kleinstgenossenschaften sol-
len zukünftig selbst darüber entscheiden dürfen, ob die
sogenannte Pflichtprüfung durch den Genossenschafts-
verband durchgeführt werden soll. Das soll für Genos-
senschaften bis zu einem Schwellenwert von 350 000
Euro Bilanzsumme und 700 000 Euro Umsatzerlöse gel-
ten. Für Kleinstgenossenschaften steht die finanzielle
Belastung durch gesetzliche Prüfungen nicht immer im
Verhältnis zu ihrer Finanzkraft. Sie sollen also freiwillig
wählen, ob sie den Genossenschaftsverband zur Unter-
stützung heranziehen wollen. Das erscheint uns fair. Ma-
chen wir es den Kleinen doch nicht unnötig schwer!
Für kleine Genossenschaften, die bereits jetzt die
Pflichtprüfung nur alle zwei Jahre durchführen lassen,
soll es neue Schwellenwerte geben. Wir schlagen vor,
die Bilanzsumme auf 4,84 Millionen Euro und den Um-
satz auf 9,68 Millionen Euro zu erhöhen. Wir stellen sie
damit Kapitalgesellschaften gleich. Die neuen Schwel-
lenwerte passen wir dem Handelsgesetzbuch an. So sin-
ken die Prüfkosten.
Damit ist es aber nicht getan. Wir wollen die Haftung
ehrenamtlicher Vorstands- und Aufsichtsratsmitglieder
gegenüber der Genossenschaft auf Vorsatz und grobe
Fahrlässigkeit beschränken oder den Haftungsbetrag re-
duzieren, weil nur so die Bereitschaft zu ehrenamtlichem
Engagement in Genossenschaften gefördert werden
kann. Das ist gut so; denn wir alle wissen und sind uns
sicher einig, dass nicht nur die Gesellschaft insgesamt,
sondern sicherlich auch die Genossenschaften von eh-
renamtlichem Engagement leben. Das wollen wir för-
dern, denn es dient dem Gemeinwohl.
Im Hinblick auf die Existenzgründung – Sie haben es
angesprochen – müssen in unseren Augen bessere För-
derbedingungen geschaffen werden. Die staatliche Grün-
dungsförderung ist bei dieser zukunftsfähigen Rechts-
form im Vergleich zu anderen Rechtsformen derzeit
völlig unzureichend. Fördermittel werden in der Regel
vergeben, um einzelne Unternehmer zu unterstützen.
Eine solche Förderung ist für Genossenschaften in der
Regel uninteressant, da die Vorstandsmitglieder selbst
nicht mit erheblichem Kapital an der Finanzierung betei-
ligt sind. Die Förderprogramme sollen so eingerichtet
werden, dass darüber die Kosten der Gründungsprüfung
aufgefangen werden, sofern entsprechende soziale und
ökologische Bedingungen erfüllt werden.
Wir wollen es den Genossenschaften erleichtern, bei
ihren Mitgliedern Kredite aufzunehmen. Das Kapital
von neu gegründeten kleinen Genossenschaften ist oft
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26571
Beate Walter-Rosenheimer
(C)
(B)
sehr gering. Wächst die Genossenschaft, indem immer
mehr Mitglieder hinzukommen, dann wächst auch der
organisatorische Aufwand.
Genossenschaften sind nicht nur zu regelmäßigen
Meldungen an die Bankenaufsicht verpflichtet. Bei-
spielsweise muss der Vorstand auch über die Bankleiter-
qualifikation verfügen. Das ist gerade in kleinen Genos-
senschaften manchmal einfach unerfüllbar. Engagement
darf nicht mit schier unüberwindbaren bürokratischen
Hürden aufgehalten werden; wir wollen es fördern.
Außerdem muss die Insolvenzordnung hinsichtlich
der Genossenschaften überprüft werden, und zwar im
Hinblick auf die Übernahme eines Krisenbetriebes oder
eines insolventen Unternehmens. Hier muss geschaut
werden, ob solche Betriebe seitens der Mitarbeiterinnen
und Mitarbeiter gefördert werden können.
Ganz besonderes Augenmerk legen wir dabei auf Woh-
nungsgenossenschaften. Bei der Privatinsolvenz eines
Mitglieds einer Wohnungsgenossenschaft droht der
Wohnungsverlust. Das kann und darf nicht sein. Wir
wollen deshalb, dass ein Ausweg aus dieser ungerechten
Situation gefunden wird.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, wir
finden Ihren Antrag gut. Er geht uns aber in manchen
Punkten nicht weit genug. Wir machen sozusagen Nägel
mit ein bisschen größeren Köpfen. Ein Unterschied ist
zum Beispiel, dass wir die Schwellenwerte bei der Kate-
gorisierung als sogenannte kleine Genossenschaften an-
heben wollen. Diese Genossenschaften müssen nur alle
zwei Jahre zur Pflichtprüfung. Da gehen wir also mit den
Erleichterungen ein Stück weiter.
– Ja, wir finden das sinnvoll. Aber wir können gerne da-
rüber reden. – Die Forderungen der Linken sind uns ein
bisschen zu diffus. Wir hätten es gern, dass Sie etwas
Konkreteres vorlegen.
Von der Regierungskoalition haben wir 2012 leider
wenig zu diesem Thema gehört. Wir finden, dass Sie
nicht zu viele Bedenken haben sollten. Sie sollten aus
dem Jahr 2013 nicht wieder ein Jahr der Ankündigungen
machen, sondern wirklich Änderungen vorlegen.
Nachhaltigkeit, Verantwortungsbewusstsein, Selbsthilfe
und Effizienz sind Markenzeichen der demokratischen
Gesellschaftsform der Genossenschaft. Wir wollen des-
halb Genossenschaften stärken und weiter voranbringen.
Wir waren bei der Vorbereitung unseres Antrags mit vie-
len relevanten Akteuren im Bereich der Genossenschaf-
ten im Gespräch. An dieser Stelle herzlichen Dank an
unsere Gesprächspartner. Wir finden, dabei ist ein praxis-
orientiertes, gutes Papier herausgekommen; ich werbe
um Ihre Zustimmung.
„Gemeinsam mehr erreichen“ – das ist das Motto der
Genossenschaften. Auch Ihnen, liebe Kolleginnen und
Kollegen, muss daran gelegen sein, solche Ideen voran-
zubringen. Ich danke Ihnen sehr herzlich und wünsche
Ihnen frohe Festtage und einen guten Rutsch ins neue
Jahr.
Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege
Dr. Matthias Heider das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! Wenn 21 Millionen Men-
schen in Deutschland einem gemeinsamen Grundgedan-
ken folgen, dann muss da etwas dran sein. Wenn über
7 600 eingetragene Genossenschaften das Wir vor das
Ich stellen, dann ist das ein Erfolgsmodell. Wenn Genos-
senschaften in Zeiten der Verwerfungen an den Finanz-
märkten mit Selbsthilfe, in Selbstverantwortung und
Selbstverwaltung handeln, dann zeigt dies: Es handelt
sich um ein Modell, über das wir uns im kommenden
Jahr etwas länger unterhalten müssen.
Genossenschaften sind allerdings keine Patentlösung
für alle gesellschaftlichen oder ökonomischen Probleme.
Sie handeln nicht in einem öffentlichen Auftrag und sind
in der Regel keine Non-Profit-Organisationen. Gegen-
stand ihres Geschäfts – der Kollege Buschmann hat rich-
tigerweise darauf hingewiesen – ist eine unternehmeri-
sche Tätigkeit. Die regionale Verankerung und die feste
Bindung an ihre Mitglieder bringt eine Vielzahl von Ge-
schäftsmodellen hervor, die im Vergleich zu anderen Un-
ternehmen und auch Rechtsformen bodenständiger und
in der Tat auch viel nachhaltiger sind.
Die relativ geringe Insolvenzquote – fast alle Redner
haben sie angesprochen – zeigt, dass die Erfolge in der
inneren Struktur unserer Genossenschaften liegen.
Fernab von den Finanzmärkten, die ich gerade schon er-
wähnt habe, sind es insbesondere die kleinen Genossen-
schaften, die sich jetzt an vielen einzelnen Stellen in der
Gesellschaft etablieren und denen eine immer größere
Bedeutung zukommt. Ich spreche zum Beispiel von den
kleinen Dorfläden, die entstehen, wenn sich große Dis-
counter zurückziehen oder wenn dem Tante-Emma-
Laden in den kleinen Ortschaften im ländlichen Raum
die Luft ausgegangen ist.
Ich will nicht all das wiederholen, was schon gesagt
worden ist. Lassen Sie mich daher folgendes Beispiel
nennen. In meinem Wahlkreis gibt es einen solchen klei-
nen Dorfladen, in einem kleinen sauerländischen Dörf-
chen mit tausend Einwohnern, in Hüinghausen. Dort gab
es zuvor keinen Lebensmittelladen mehr. Die Dorfbe-
wohner haben jetzt Verantwortung übernommen, und sie
beliefern ihre Mitbürgerinnen und Mitbürger mit Haus-
haltswaren, mit Lebensmittel und mit Tierfutter. Es gibt
auch einen Bringservice.
26572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Matthias Heider
(C)
(B)
Die Mitglieder dieser Genossenschaft haben einen
Slogan: „Wir werden alles tun, damit unser Dorf eine
Zukunft hat“. Sie wollen den Zusammenhalt von Jung
und Alt fördern und das Wir-Gefühl stärken. Das ist ge-
nau der Kern der Botschaft der Genossenschaftserfinder
Raiffeisen und Schulze-Delitzsch im 19. Jahrhundert.
Viele Neugründungen von Genossenschaften zwi-
schen 2006 und 2010, immerhin über 900, finden in in-
novativen Geschäftsfeldern statt. Genossenschaften sind
Pioniere neuer Märkte wie im Bereich der Energiewirt-
schaftsdienstleistungen, aber auch der neuen Sozialleis-
tungen. Es gab alleine 485 neu gegründete Energiege-
nossenschaften, die vor allem im ländlichen Raum und
in den kleinen Gemeinden entstanden sind.
Es freut mich, dass wir ein Thema gefunden haben, zu
dem wir offenbar fraktionsübergreifend sehr schnell eine
gemeinsame Meinung erzielen könnten. Unser gemein-
sames Anliegen muss es sein – Kollege Egloff hat das
einleitend richtig gesagt –, die Genossenschaftsgründun-
gen zu erleichtern, Genossenschaften zu fördern, un-
nütze Bürokratien abzubauen und Kosten zu minimie-
ren.
Zu der Feststellung dieser Zielsätze hätte es eigentlich
keiner Anträge bedurft. Lassen Sie mich an dieser Stelle
– nicht allzu kleinkariert – kurz vor Weihnachten sagen:
Wir hätten uns gefreut, wenn Sie im Zuge der Beratung
des Jahressteuergesetzes 2013 schon im Vermittlungs-
ausschuss dafür gestimmt hätten, die Aufbewahrungs-
pflicht von zehn auf acht Jahre zu verkürzen. Das wäre
eine schnelle Hilfe für die Genossenschaften gewesen.
Es gibt in den Anträgen dennoch einige Unterschiede.
Diese Baustellen müssen wir uns im nächsten Jahr ge-
nauer anschauen. Bei intensiver Betrachtung eignen sie
sich unter Umständen für eine längere Diskussion. Es
geht im Wesentlichen um die Haftung und um die Nach-
schusspflicht, es geht um die genossenschaftliche
Pflichtprüfung, und es geht um die Einführung der soge-
nannten Kleinstgenossenschaften.
Die genossenschaftliche Pflichtprüfung ist eine be-
treuende und besonders umfassende, periodische Prü-
fung der gesamten wirtschaftlichen Verhältnisse. Dieses
Bewertungsregime hat sich seit 1889 bewährt. Aus Sicht
des Bundesverfassungsgerichts, das 2001 das so ent-
schieden hat, ist die Pflichtmitgliedschaft von Genossen-
schaften im Prüfungsverband verfassungsgemäß, und sie
dient dem Schutz der Genossenschaftsmitglieder und
dem Schutz der Gläubiger.
Einerseits soll die Position der Mitglieder im Innen-
verhältnis zur Genossenschaft besonders gesichert und
gestärkt werden. Gleichzeitig werden der ordnungsge-
mäße wirtschaftliche Umgang mit den von den Mitglie-
dern gehaltenen Geschäftsanteilen überprüft und die Ge-
nossen vor den möglichen wirtschaftlichen Folgen ihres
Tuns frühzeitig gewarnt und bewahrt. Dieses hohe
Schutzniveau, das wir in der Genossenschaft vorfinden,
ist letztendlich der innere Kern der Genossenschaften
und der Grund, weshalb wir so wenige Insolvenzen auf
diesem Sektor beobachten können.
Auf der anderen Seite sollen natürlich auch die Gläu-
biger der Genossenschaften vor Schaden bewahrt wer-
den. Dieses Prüfungssystem gewährleistet eine Sicher-
heit, die man sicherlich bei keiner anderen Rechtsform
in dieser Ausführlichkeit feststellen kann.
Es bleibt also festzuhalten: Die Pflichtprüfung ist
grundsätzlich etwas Gutes. Sie bietet eine Sicherheit für
dieses Geschäftsmodell. Das ist eine verpflichtende Prü-
fung. Meine Fraktion hat das bereits 2006 mit einer Ver-
änderung der jährlichen Prüfungsperiode bei einer Bi-
lanzsumme unter 2 Millionen Euro vorangetrieben. Ich
sehe aber auch, dass wir Raum für weitere Änderungen
haben. Vielleicht können wir vom verpflichtenden ge-
prüften Jahresabschluss bei einigen, weiteren Genossen-
schaften anderer Größenordnung im zweiten Geschäfts-
jahr absehen. Voraussetzung dafür ist aber erstens, dass
im Innenverhältnis der Schuldner – Stichwort: Haftungs-
beschränkung – vor weitergehender Haftung und Nach-
schusspflicht geschützt wird, und zweitens, dass im Au-
ßenverhältnis dem Gläubiger durch entsprechende
Firmierung als haftungsbeschränkte Genossenschaft si-
gnalisiert wird, dass eine Kontrolle der wirtschaftlichen
Verhältnisse entsprechend der Pflichtprüfung alter Prä-
gung nicht stattfindet. Das ist auch ein Kreditargument
der Genossenschaft. Das wird man näher beleuchten
müssen.
Mit anderen Worten: Wir sollten in der Diskussion
keine Automatismen entstehen lassen. Die Anträge der
Opposition gehen in die richtige Richtung. Im Detail
werden wir das noch nachvollziehen müssen. Ich be-
grüße es, dass das Bundesjustizministerium signalisiert
hat, dass es im nächsten Jahr einen Gesetzentwurf zum
Thema Genossenschaften geben kann. Da das offen-
sichtlich fraktionsübergreifend begrüßt wird, wünsche
ich mir, dass wir darüber noch einmal intensiv diskutie-
ren.
An dieser Stelle darf ich Ihnen für Ihre Aufmerksam-
keit danken und Ihnen ein frohes Weihnachtsfest wün-
schen. Wir sehen uns im nächsten Jahr wieder.
Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Rita
Schwarzelühr-Sutter das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Es ist Weihnachtszeit, und man kann wirklich sagen: Ge-
nossenschaften sind wahrlich ein Gewinn für alle. Das
stimmt. Das Motto des Genossenschaftsjahres hat sich
wirklich bestätigt. Genossenschaften haben auch vor
dem Hintergrund der Finanz- und Wirtschaftskrise be-
wiesen, dass „Mehr Wir und weniger Ich!“ das richtige
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26573
Rita Schwarzelühr-Sutter
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Rüstzeug ist, um gut durch Krisen zu kommen. Das
Konzept der gemeinschaftlichen Selbsthilfe ist aufge-
gangen.
Im Mittelpunkt der Genossenschaft steht die langfris-
tige Orientierung an den Mitgliedsinteressen und nicht
die kurzfristige Gewinnmaximierung. Die Identität von
Eigentümer und Kunde ist ein prägendes Merkmal. Ge-
nossenschaften sind vor allem regional verankert, und
ihre Mitglieder sind fest mit ihnen verbunden, sodass sie
Geschäftsmodelle hervorbringen, die im Vergleich zu
anderen Unternehmen bodenständiger und nachhaltiger
sind. Dem Gründungszweck sind keine Grenzen gesetzt.
Entscheidend ist, dass Menschen in ihrer Region und ih-
rem Umfeld gemeinsam etwas positiv bewegen und ver-
ändern wollen.
Ich glaube, wir sind uns in diesem Bereich wirklich
einig. Bauen Sie aber bitte nicht wieder Hürden durch
Bürokratie und Angst vor Haftung auf. Meines Wissens
ist bisher noch nie der Fall eingetreten, dass Mitglieder
mit ihrem persönlichen Vermögen haften mussten, wie
Sie es beschrieben haben.
Ich komme aus dem ländlichen Raum, aus dem
Schwarzwald. Gerade in ländlichen Räumen bietet die
Rechtsform der Genossenschaft eine große Chance. Wir
haben Genossenschaften im Bereich der Nahversorgung,
der Energieerzeugung und der Vermarktung. Wir haben
Genossenschaften im Bereich der medizinischen Versor-
gung und im Bereich der sozialen Infrastruktur, zum
Beispiel bei Schwimmbädern, Freizeit- und Bildungs-
einrichtungen oder bei kulturellen Einrichtungen.
Dies ist vor dem Hintergrund des demografischen
Wandels besonders interessant, aber auch angesichts der
immer knapper werdenden Kassen der Kommunen. Es
gibt zahlreiche Beispiele. So wie es im Sauerland ist, ist
es auch im Hochschwarzwald. Es gibt zum Beispiel in
dem kleinen Ort St. Märgen eine solche Initiative. Dort
wurde mit einer Bürgerinitiative ein wahres Kulturgut,
ein Haus, vor dem Abriss bewahrt. Es war erst ein
Pilgerheim des Klosters von St. Märgen, dann war es ein
Grandhotel, dann sollte es dem Bagger zum Opfer fallen.
Einige Frauen haben es geschafft – die Initiative ging
von den Landfrauen aus –, eine Genossenschaft zu grün-
den, die in dem Haus ein Café betreibt, in dem familien-
freundliche Teilzeitarbeitsplätze gesichert und regionale
Lebensmittel verwertet werden. Dies ist also ein echtes
Pfund, mit dem man wuchern kann.
Zahlreiche Energiegenossenschaften haben sich ge-
gründet. Sie bieten eine großartige Chance, die Men-
schen bei der Energiewende mitzunehmen und sie einzu-
beziehen.
Genossenschaften sind, wie gesagt, keine Patentlö-
sungen. Ihre Merkmale sind jedoch in mehrfacher Hin-
sicht dazu geeignet, einen volkswirtschaftlichen und ge-
sellschaftlichen Mehrwert hervorzubringen. Warum gibt
es nicht mehr? Die Rechtsformkosten sind hoch, und der
erhebliche Aufwand, den man betreiben muss, ist ab-
schreckend; er schreckt viele von der Gründung vor al-
lem sehr kleiner Genossenschaft ab. Wir müssen hier ei-
nen Ausgleich finden. Die Genossenschaften müssen das
gewährleisten können, für das sie stehen, nämlich Si-
cherheit. Es ist eine Rechtsform, die zur Bewältigung be-
stimmter Herausforderungen besonders geeignet ist. Da-
her sollte man die Hürden für Genossenschaften senken.
Wir wollen die rechtlichen und steuerrechtlichen Rah-
menbedingungen für genossenschaftliches Wirtschaften
verbessern. Deswegen wollen wir die Gruppe der
Kleinstgenossenschaften einführen. Diese sollen bei der
Rechnungslegung davon befreit werden, einen Anhang
zu erstellen und den Jahresabschluss im Bundesanzeiger
zu veröffentlichen. Kleinstgenossenschaften sollen von
der Prüfpflicht befreit werden. Sie müssen den Jahresab-
schluss aber an den Prüfungsverband senden und sind
diesem auskunftspflichtig. Sie sollen auch – das finde
ich ganz wichtig – Gründungs- und Fördermittel bekom-
men können. Warum sollen die Kleinstgenossenschaften
davon ausgeschlossen sein? Manchmal wird genau das
als letzter Kick gebraucht, um eine Kleinstgenossen-
schaft zu gründen, mit der man zum Beispiel die oben
genannten Herausforderungen im ländlichen Raum be-
wältigen kann.
Genossenschaften haben sich seit mehr als 100 Jahren
als Erfolgsmodell bewiesen. Lassen Sie uns gemeinsam
dieses Potenzial heben. Geben Sie Ihrem Herzen einen
Ruck und verlieren Sie sich nicht wieder in bürokrati-
schen Vorwänden. Dann können wir zusammen ein gu-
tes neues Jahr haben.
Frohe Weihnachten.
Der letzte Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Wir haben in unserem Gesellschaftsrecht eine lange Tra-
dition unterschiedlicher Rechtsformen, Gesellschaftsfor-
men von BGB-Gesellschaften bis hin zu börsennotierten
Aktiengesellschaften. Dieses Gesellschaftsrecht ist
durchaus dynamisch angelegt, so wie die Märkte, auf de-
nen sich diese Gesellschaften bewegen. Gerade die Eu-
ropäisierung und die Internationalisierung unserer
Rechtsordnung haben dazu geführt, dass auch neue
Rechtsformen, Gesellschaftsformen etabliert worden
sind. Ein gutes Beispiel dafür ist die englische Limited,
die sich seit einigen Jahren auch bei uns wachsender Be-
liebtheit erfreut.
Wichtig ist allerdings, dass jeder die Gesellschafts-
form wählen kann, die seinen Ansprüchen am nächsten
kommt. Wir haben die Situation, dass die unterschiedli-
chen Gesellschaftsformen mit spezifischen Vor- und
Nachteilen verbunden sind, die wohl abgewogen werden
müssen. Wir können als Gesetzgeber den Rahmen dafür
26574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Thomas Silberhorn
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bieten, aber welche Gesellschaftsform letztlich gewählt
wird, bleibt Ausdruck der Privatautonomie.
Die eingetragene Genossenschaft hat nicht nur eine
lange Tradition bei uns, sondern sie verfügt auch über
ein Alleinstellungsmerkmal. Die Genossenschaft muss
einem Förderzweck dienen, der – anders als bei allen an-
deren Gesellschaftsformen – nicht allein in der Absicht,
Gewinn zu erzielen, liegen darf. Die Genossenschaft
muss den Erwerb oder die Wirtschaft ihrer Mitglieder
oder ihre sozialen oder kulturellen Belange fördern. Die
Genossenschaften leisten damit einen wichtigen Beitrag
für den Zusammenhalt in unserer Gesellschaft.
Hier sind schon die unterschiedlichsten Genossen-
schaftsformen angeführt worden: Erzeugung, Vermark-
tung und Vertrieb von Nahrungsmitteln; regionaler Woh-
nungsbau; Energieversorger; Gesundheitsmarkt –
überall haben wir erfolgreiche Genossenschaften.
Die Entwicklung ist auch deshalb so positiv verlau-
fen, weil wir das Genossenschaftsrecht im Jahr 2006
novelliert haben. Bei dieser Reform des Genossen-
schaftsrechts haben wir eine ganze Reihe von Erleichte-
rungen – insbesondere für die kleinen Genossenschaften –
eingeführt: von der Kapitalbeschaffung und der Kapi-
talerhaltung bis dahin, dass für die Gründung einer Ge-
nossenschaft heute nicht mehr sieben Mitglieder erfor-
derlich sind, sondern schon drei Mitglieder ausreichen.
Auch Sacheinlagen sind heute zugelassen, wenn es die
Satzung vorsieht, und vieles mehr. Die steigende Anzahl
von genossenschaftlichen Neugründungen in den letzten
Jahren belegt, dass die Reform des Genossenschafts-
rechts erfolgreich war und dass dieses Gesellschaftsmo-
dell eine erfolgreiche Praxis hat.
Die Anträge der Opposition beinhalten eine Reihe
von Gedanken, die wir uns auch machen und über die
auch die Bundesregierung berät. Die Bundesregierung
hat schon angekündigt, dass sie einen Gesetzentwurf
vorlegen will. Mir scheint allerdings, dass ein zentrales
Anliegen der Opposition bereits aufgegriffen worden ist,
nämlich der Schutz des Mieters von Genossenschafts-
wohnungen im Falle einer Privatinsolvenz. Das haben
wir zum Gegenstand der zweiten Stufe der Insolvenz-
rechtsreform gemacht. Die erste Lesung dazu hat bereits
Ende November stattgefunden.
Den Vorwurf der Benachteiligung von Genossen-
schaften gegenüber anderen Gesellschaftsformen kann
ich nicht ganz nachvollziehen. Es ist jedem Einzelnen
überlassen, für welche Gesellschaftsform er sich ent-
scheidet.
Wenn die Linke den Eindruck vermittelt, als würde
sie den LPGs nachtrauern, dann kann ich das zwar nach-
vollziehen; aber wir sind trotzdem froh, dass diese Zei-
ten vorbei sind.
Ich habe schon erwähnt, dass Genossenschaften wie
alle Gesellschaftsformen mit spezifischen Vor- und
Nachteilen verbunden sind. Für die eingetragene Genos-
senschaft spricht sicherlich, dass sie im Vergleich zu an-
deren Rechtsformen Kostenvorteile bietet. Aber die Ge-
nossenschaft unterliegt auch Prüfungspflichten, die sonst
nur mittelgroße oder große Unternehmen, die als Kapi-
talgesellschaft organisiert sind, erfüllen müssen. Wir
müssen darauf achten, dass zwischen Rechten und
Pflichten dieser Gesellschaftsform ein ausgewogenes
Gleichgewicht besteht. In dieses Gleichgewicht können
wir nicht ohne Weiteres eingreifen. Es gibt aber wie im-
mer Spielraum für Optimierungen.
Ich bin gespannt darauf, was uns die Bundesregierung
im Frühjahr als Ergebnis ihrer Beratungen vorlegen
wird. Es ist schon angesprochen worden, dass das
Thema Kleinstgenossenschaften dabei eine Rolle spielen
wird. Wir sollten in der Tat sorgfältig erwägen, ob wir
nicht an dieser Stelle weitere Vereinfachungen und Er-
leichterungen schaffen können.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, es gibt in
Deutschland mehr als 7 500 Genossenschaften und ge-
nossenschaftliche Unternehmen. Sie sind damit ein
wichtiger Bestandteil unserer mittelständischen Wirt-
schaft. Über 20 Millionen Mitglieder haben diese Ge-
nossenschaften. Mehr als 800 000 Mitarbeiter sind bei
ihnen beschäftigt. Sie sind eine treibende Kraft unserer
Wirtschaftsordnung. Wir wollen dafür sorgen, dass die-
ses Gesellschaftsmodell weiter so erfolgreich bleibt.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9976, 17/11828 und 17/11579 an
die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorge-
schlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der
Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 10 auf:
Erste Beratung des von den Abgeordneten
Monika Lazar, Volker Beck , Memet Kilic,
weiteren Abgeordneten und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Entwurfs
eines Gesetzes zur Verbesserung der Situation
von Opfern von Menschenhandel in Deutsch-
land
– Drucksache 17/10843 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die
Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich höre
keinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Monika Lazar für die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-
nen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26575
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Die Konvention des Europarates zur Bekämpfung des
Menschenhandels stellt Menschenhandel zur sexuellen
und zur Arbeitsausbeutung als erstes international
rechtsverbindliches Dokument ausdrücklich in einen
menschenrechtlichen Kontext und verpflichtet die Mit-
gliedstaaten zu umfassenden Maßnahmen zur Prävention
von Menschenhandel, zur Strafverfolgung der Täterin-
nen und Täter und zum Schutz der Opfer.
In der Denkschrift der Bundesregierung zur Konven-
tion steht, dass die Regelungen des Übereinkommens
– Zitat – „bereits heute umfassend im nationalen deut-
schen Recht verwirklicht“ sind, „sodass bei Ratifizie-
rung keine Änderungen des deutschen Rechts, insbeson-
dere des Strafrechts und Aufenthaltsrechts, erforderlich
sind.“ Ich sehe das anders.
Die konsequente Umsetzung der Konvention erfor-
dert nämlich gesetzliche Neuregelungen, unter anderem
im Aufenthaltsgesetz, im Asylbewerberleistungsgesetz,
im SGB II, im SGB III, im Schwarzarbeiterbekämp-
fungsgesetz und in der Gewerbeordnung.
Dass CDU und FDP anscheinend keinen Einsatz für
die Opfer von Menschenhandel zeigen, erlebe ich derzeit
hautnah in meinem Heimatland Sachsen. In dieser Wo-
che beschloss der Landtag den Doppelhaushalt 2013/
2014. Auf Initiative von CDU und FDP wurden die Mit-
tel für die Fachberatungsstelle KOBRAnet in Zittau um
fast 50 Prozent von jetzt schon geringen 75 000 Euro auf
40 000 Euro gekürzt. Das bedeutet faktisch die Schlie-
ßung der Fachberatungsstelle; denn die Mitarbeiterinnen
von KOBRAnet, die unter diesen Bedingungen nicht
mehr zur Verfügung stehen, sagen ganz bewusst: Durch
guten Willen und Ehrenamt können Betroffene von
Menschenhandel nicht adäquat unterstützt werden.
Nach Thüringen könnte Sachsen damit das nächste
Bundesland im Osten sein, das keine spezialisierte Fach-
beratungsstelle anzubieten hat. Auch in allen anderen
Ostbundesländern existiert größtenteils nur eine Bera-
tungsstelle pro Bundesland mit meistens nur einer Perso-
nalstelle. Eine solche Haltung ist nicht zu akzeptieren.
Entscheidend für einen erfolgreichen Kampf gegen
den Menschenhandel ist die Stärkung der Opfer. Dafür
müssen die Opferrechte dringend weiter ausgebaut und
darf die Unterstützungsstruktur nicht abgebaut werden.
Menschenhandel kann sowohl zur sexuellen als auch
zur Arbeitsausbeutung stattfinden und sowohl mit psy-
chischer als auch mit physischer Gewalt einhergehen.
Die Bundesregierung hat bei der Ratifizierung der
Konvention des Europarates geschlafen und es ver-
säumt, notwendige Gesetzesänderungen vorzunehmen.
Deshalb bringen wir Grünen heute einen umfassenden
Gesetzentwurf ein.
Nach der Konvention des Europarates sind Vertrags-
staaten verpflichtet, Opfern einen verlängerbaren Auf-
enthaltstitel zu erteilen, wenn der Aufenthalt aufgrund
der persönlichen Situation des Opfers erforderlich ist
oder das Kindeswohl dies erfordert. Dieser Anforderung
wird der bisherige § 25 Abs. 4 a des Aufenthaltsgeset-
zes, der den Erhalt der Aufenthaltserlaubnis allein von
der Beteiligung im Strafverfahren abhängig macht, nicht
gerecht. Daher regelt unser Gesetzentwurf, dass Betrof-
fene nicht nur eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, wenn
ihre Beteiligung am Strafverfahren für sachdienlich er-
achtet wird, sondern auch zur Vermeidung von Härtefäl-
len.
Außerdem soll der Erhalt der Niederlassungserlaubnis
erleichtert werden. Das gilt insbesondere für Opfer, die
zum Zeitpunkt der Tat minderjährig sind.
Mit Blick auf die Entschädigungs- und Lohnansprü-
che ergeben sich verschiedene Umsetzungsanforderun-
gen. Damit Betroffene ihre Rechte wahrnehmen können,
müssen sie diese kennen. Die Information über die
Rechte muss deshalb umfassend, unabhängig von einem
Strafverfahren, ab dem Zeitpunkt, an dem konkrete An-
haltspunkte für Menschenhandel vorliegen, und in einer
Sprache erfolgen, die die Betroffenen verstehen. Des-
halb gibt es umfassende Informationspflichten im Auf-
enthaltsgesetz, im Schwarzarbeiterbekämpfungsgesetz
für die Finanzkontrolle Schwarzarbeit und in der Gewer-
beordnung für die Gewerbeaufsicht.
Als Ausgleich für die zahlreichen Hindernisse bei der
tatsächlichen Erlangung von Entschädigungsleistungen
schlagen wir einen Ausgleichsfonds beim Bundesamt
der Justiz vor. Beim Bundesministerium für Familie, Se-
nioren, Frauen und Jugend soll eine Berichterstatterstelle
eingerichtet werden, die Ergebnisse von Maßnahmen zur
Bekämpfung des Menschenhandels und der schweren
Arbeitsausbeutung messen und neue Maßnahmen zur
Verbesserung erwirken kann.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir
von Ihnen keine warmen Worte zum Weihnachtsfest. Es
ist unsere humanitäre Pflicht, die Menschen, die Men-
schenrechtsverletzungen erlitten haben, zu stärken und
zu stützen. Mit dem vorgelegten Gesetzentwurf kommen
wir diesem Ziel ein Stück näher.
Vielen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun die Kollegin Elisabeth
Winkelmeier-Becker das Wort.
26576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
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(B)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Für warme Worte zum Weihnachtsfest eignet sich das
Thema Menschenhandel gewiss nicht. – Die Situation
von Opfern von Menschenhandel haben wir in dieser Le-
gislaturperiode schon mehrfach auf der Tagesordnung
gehabt: zunächst im vergangenen Jahr, als wir die Be-
denk- und Stabilisierungsfrist für Opfer von Menschen-
handel von einem auf drei Monate verlängert haben
– das geschah damals im Zuge der Anpassung an den
EU-Visakodex –, aber auch bei der Ratifizierung der
Europaratskonvention zur Bekämpfung von Menschen-
handel. Seither stellen wir uns auch in Deutschland der
Bewertung des Kontrollgremiums GRETA, das perio-
disch Berichte erarbeiten wird und Vorschläge zur Ver-
besserung im Kampf gegen den Menschenhandel unter-
breitet.
Wir hatten in diesem Zusammenhang eine Diskussion
und eine Sachverständigenanhörung zu der Frage, ob wir
noch mehr tun müssen, um diese Konvention ratifizieren
zu können, oder was unabhängig von Zwang politisch
gewünscht und sinnvoll ist. Wir haben uns damals im
Anschluss an Auffassungen der Bundesregierung und
des Bundesrates dagegen entschieden, im Rahmen des
Ratifizierungsprozesses Maßnahmen zu ergreifen, aber
in der Tat bleibt die Frage, ob etwas politisch gewünscht
wird und umzusetzen ist, auf der Tagesordnung; denn
wir lassen uns nicht immer nur zwingen.
Zunächst einmal ein Blick auf die Zahlen und Fakten:
2,4 Millionen Menschen pro Jahr sind weltweit von
Menschenhandel betroffen. Nach Angaben der ILO sind
es vor allem Frauen und Kinder, die infolgedessen
schwer traumatisiert und für ihr Leben gezeichnet sind.
Ein Großteil der Opfer kommt mittlerweile aus Osteu-
ropa. Darüber hinaus stammt eine relevante Zahl der Op-
fer aus Afrika, vor allem aus Nigeria. Ein großer Teil der
Opfer wird zur Prostitution und zur Schwarzarbeit ge-
zwungen. Deutschland ist sowohl als Transitland als
auch als Zielland stark betroffen. Hinter dem Menschen-
handel stecken häufig sehr gut strukturierte Netzwerke
der organisierten Kriminalität.
Mich machen vor allem die krassen Fälle der sexuel-
len Ausbeutung sehr betroffen. Mir hat eine Kollegin aus
dem Bundestag, die früher als Rechtsanwältin tätig war,
dazu ein sehr nahegehendes Beispiel genannt:
Eine junge Frau aus einem Drittstaat ist mit falschen
Versprechungen nach Deutschland gelockt worden.
Dann geht es ganz klassisch weiter: Sie wird in ein Bor-
dell gebracht, und die Papiere werden ihr abgenommen.
Sie wird von sechs Männern vergewaltigt. Sie wird mo-
natelang in diesem Bordell festgehalten und dort auf
übelste Weise ausgenutzt. Bei einer Razzia wird sie dann
aufgegriffen. Ungewöhnlich ist in diesem Fall: Sie ist
zur Aussage bereit. Sie muss aber erleben, dass die Täter
nur zu einer Bewährungsstrafe verurteilt werden. Sie
selbst darf auch aus humanitären Gründen nicht in
Deutschland bleiben. Sie wird nach Hause zurückge-
schickt und findet dort die gleichen Strukturen vor. Sie
wird wieder nach Deutschland gebracht.
In den Regionen in Deutschland findet so etwas all-
täglich statt. Wir können davon ausgehen, dass wir im
Moment auch hier in Berlin von vielen Frauen umgeben
sind, die das Schicksal dieser Frau teilen. Ähnliche
Schicksale schildern uns die Hilfsorganisationen, etwa
Schwester Lea Ackermann von Solwodi, und auch das
BKA.
Hier stellt sich uns folgender Problemzusammenhang
dar: Zumeist sind die Opfer nicht zur Aussage bereit,
weil sie Sorge haben und weil sie traumatisiert sind und
sich gar nicht dazu durchringen können, sich mit ihrer
Situation auseinanderzusetzen. Tun sie es doch, dann
wird ihnen aufgrund der Koppelung von Aufenthaltstitel
und Aussage häufig die Glaubwürdigkeit mit der Folge
abgesprochen, dass die Täter ohne Strafe davonkommen
und die kriminellen Strukturen unangetastet bleiben.
Deshalb ist es aus meiner Sicht der richtige Weg, für
mehr Sicherheit für die Opfer zu sorgen, damit sie sich
trauen, auszusagen, und man besser an die Täter anstatt
an die Opfer herankommt.
Natürlich wird hier das Risiko von Missbrauch gese-
hen. Aber auch hier sagen uns die Fachleute – aus mei-
ner Sicht sehr glaubhaft –, dass diese Gefahr minimal ist,
weil man anhand des Ortes, wo eine Person aufgegriffen
wird, und anhand der Verletzungen, die zu sehen sind,
objektive Anhaltspunkte dafür finden kann, ob diese
Person Opfer von Menschenhandel war oder ob sie sich
den Aufenthalt erschleichen will. Wer sich als Frau einen
Aufenthalt in Deutschland erschleichen will, findet si-
cherlich einfachere Wege, als den Weg der Zwangspros-
titution zu gehen.
Im Übrigen müssen wir uns entscheiden – dabei
richte ich den Appell ausdrücklich an die Kolleginnen
und Kollegen aus den Koalitionsfraktionen –: Es wäre
doch ein tolles Anliegen auch im Rahmen von Law and
Order, wenn wir uns mehr darum kümmern, die Täter zu
finden, statt uns vor einigen Opfern zu schützen.
Trotzdem bin ich der Auffassung, das Aufenthalts-
recht ist nicht die Lösung aller Probleme. Denn wir
müssen auch sehen, dass viele Opfer aus Osteuropa
kommen, also auch aus EU-Staaten, für die das Aufent-
haltsrecht längst gegeben und geregelt ist. Deshalb ge-
hört für mich auch eine Reform des Prostitutionsgesetzes
dazu. Auch die Fachleute sagen uns, dass das Prostitu-
tionsgesetz seit 2001 zu einer deutlichen Verschlechte-
rung für Frauen in Zwangsprostitution geführt hat.
– Doch, auch das hat etwas damit zu tun. Denn es gibt
kaum noch eine Handhabe für die Ordnungsbehörden,
Razzien zu machen oder sich überhaupt in die Bordelle
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26577
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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(B)
zu begeben, wo die Frauen gehalten werden. Hier hat das
sicherlich gut gemeinte Prostitutionsgesetz leider genau
das Gegenteil bewirkt und schützt im Prinzip die Täter
und nicht die Opfer.
Wir haben mittlerweile mehrere Beschlüsse von
Fachministerkonferenzen. Auch die Gleichstellungs-
ministerkonferenz und die Innenministerkonferenz ha-
ben im Sommer 2012 den Fokus darauf gelegt. Es ist
doch ein Unding, dass es leichter ist, ein Bordell zu er-
öffnen als eine Frittenbude.
Wir müssen ganz klar dafür sorgen, dass es den
Frauen ermöglicht wird, in regelmäßigen Abständen ver-
trauliche Gespräche mit Ärzten oder Ordnungsbehörden
zu führen. Wir müssen hier zu einem Verbot von Wer-
bung kommen. Auf meiner Wunschliste stünde auch die
Bestrafung derjenigen Freier, die wissen, dass sie eine
Zwangsprostituierte vor sich haben.
Ich würde mir eines wünschen – ich weiß, dass wir in
verschiedenen Punkten unterschiedlicher Meinung sind –:
Lassen Sie uns doch ein Paket aus all diesen Maßnah-
men schnüren! Jeder springt ein Stück weit über seinen
Schatten, und dann schaffen wir es vielleicht auch, zu ei-
nem guten Paket für die Frauen zu kommen. Das wäre
eine gute Weihnachtsbotschaft.
Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion hat nun die Kollegin Marlene
Rupprecht das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen!
Liebe Kollegen! Am Freitag vor Weihnachten sind wir
alle eigentlich schon in Gedanken auf dem Heimweg,
aber wir haben ein sehr schwer verdauliches Thema auf
der Tagesordnung. Umso ernsthafter, merke ich, gehen
die Kolleginnen, die dazu reden, damit um. Es ist wie
immer: Frauen kümmern sich darum. Nachher wird Herr
Kober sprechen, weil keine Frau mehr da ist.
Eigentlich wäre Frau Laurischk die Rednerin für dieses
Thema gewesen. Aber das nur nebenbei.
Wir haben es mit einem Gesetzentwurf der Grünen zu
tun, die einen Vorschlag machen, wie die Konvention
des Europarates mit Leben erfüllt werden kann und
wirklich umgesetzt wird. Ich will das noch einmal Revue
passieren lassen; daran können Sie sehen, wie „schnell“
wir so manche Dinge befördern. 2005 hat Deutschland
die Unterschrift zur Konvention geleistet. Es hat drei
Jahre gedauert, bis genügend Staaten sie als inländisches
Recht anerkannt haben und sie 2008 in Kraft treten
konnte.
Wir haben in der Zwischenzeit immer wieder mit
Nichtregierungsorganisationen Gespräche darüber ge-
führt, dass wir das auch in deutsches Recht umsetzen
sollten. Ich bin als Mitglied der Parlamentarischen Ver-
sammlung des Europarates immer wieder massiv von
den Kolleginnen und Kollegen, deren Staaten sie bereits
ratifiziert und in inländisches Recht umgesetzt hatten,
angegangen und gefragt worden: Warum geht Deutsch-
land nicht voran und macht dies endlich auch?
I
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Wann ratifizieren wir denn? Wann
sind wir so weit? Gut, wir haben sie 2012 ratifiziert, und
darüber bin ich froh. Von 2005 bis 2012 sind es „nur“
sieben Jahre. Ich denke, das ist eine überschaubare Zeit.
Gemessen an der Ewigkeit ist das ganz kurz, nicht ein-
mal ein Wimpernschlag. Für diejenigen, die in der Zeit
betroffen sind, ist das sehr lang.
Die SPD-Fraktion hat vor der Ratifikation einen An-
trag vorgelegt, in dem sie feststellt, dass wir in den
Bereichen, die jetzt auch die Grünen vorschlagen, Ände-
rungen vornehmen müssen. Er ist im Ausschuss abge-
lehnt worden.
Nun, wo es darum geht, die Konvention in inländi-
sches Recht zu überführen, heißt es in der Denkschrift
der Bundesregierung: Es ist nichts zu ändern. – Ich
denke, es liegt daran, dass wir vieles im Recht täterzen-
triert sehen. Das heißt, wir würden die Täter gerne be-
strafen. Aber die Opfer spielen zum Beispiel im Straf-
recht fast überhaupt keine Rolle, genauso wenig wie die
Auswirkungen einer Straftat auf die Opfer. Wir machen
häufig Opfer zu Tätern bzw. Täterinnen, wenn beispiels-
weise Aufenthaltsrechte missachtet werden.
Wenn wir im selben Tempo weitermachen, haben wir
in sieben Jahren alle Gesetze geändert. Das wäre ja toll!
Fangen wir mit dem an, was uns am leichtesten fällt, mit
Regelungen, die keinem wehtun. So sollten wir den Op-
fern die Beratung und den Schutz zugestehen, den sie
brauchen, wenn sie gegen Täter aussagen wollen oder
nicht aussagen wollen.
Wenn Frauen nicht aussagen wollen, bedeutet das bislang:
Sie werden abgeschoben, und zwar häufig in Länder, in
denen die Opfer genau den Tätern bzw. Tätergruppen – es
handelt sich hier in der Regel um organisierte Kriminali-
tät – begegnen und Druck aufgebaut wird. Also ist es
wichtig, dass wir hier anfangen und sagen – gerade jetzt
vor Weihnachten –: Nein, wir wollen sehen, wo wir et-
was machen können, ohne dass unsere ideologischen
Scheuklappen heruntergehen. Wir wollen die Opfer bes-
ser schützen und ihnen mehr Rechte geben.
Da komme ich zu den Beratungsstellen. In dieser Wo-
che haben wir im Rahmen einer Anhörung zur Finanzie-
rung von Frauenhäusern auch KOK angehört. KOK
– das ist ein bundesweiter Koordinierungskreis für Mi-
grantinnen und Migranten, die, aus welchen Gründen
auch immer, hier sind und Opfer geworden sind – weiß
nicht, wie er weiter existieren soll, weil die Mittel nicht
26578 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Marlene Rupprecht
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mehr genehmigt werden. Mein Gott! Wir entscheiden
manchmal über Milliarden in einer Nacht. Aber warum
schaffen wir es dann nicht, 100 000 Euro für die Finan-
zierung einer Stelle freizubekommen? Eine solche
Summe zahlen andere aus der Portokasse. Wenn ich mir
unsere Bundespressebälle anschaue, dann kann ich nur
sagen: Wenn alle das Geld, das sie für die Eintrittskarten
gezahlt haben, gespendet hätten, dann hätten wir den
KOK und noch ein paar andere NGOs finanzieren kön-
nen. Das wäre leicht machbar. Es gibt aber nicht den
politischen Willen, dies zu tun. Deshalb geschieht es
nicht. Auch wenn Sie es nicht gerne hören – ich meine
das hoch moralisch –: Wir wollen es nicht, oder es ist
uns wurscht. Deshalb machen wir es nicht. – Da könnten
wir ansetzen.
Die Grünen machen viele Vorschläge. Vieles davon
war auch in unserem Antrag drin. Ich bin froh, dass Sie
die Ergebnisse der Anhörung in den Gesetzestext haben
einfließen lassen und ein so vielfältiges Artikelgesetz
vorgelegt haben. Ob Aufenthaltsrecht, Asylbewerber-
leistungsgesetz oder Schwarzarbeitsbekämpfungsge-
setz, in all diesen Bereichen geht es nicht nur um Frauen,
sondern auch um junge Menschen, die bei der Arbeit
ausgebeutet werden. Es geht zum Beispiel um Men-
schen, die nicht über eine reguläre Agentur hierher ge-
kommen sind und die dann aufgrund ihrer Notlage aus-
genutzt werden und 12, 14 oder 18 Stunden in Familien
arbeiten, um alte Menschen, die dement und pflegebe-
dürftig sind, zu betreuen. Da haben wir null Hemmun-
gen, weil das günstiger ist als eine reguläre Beschäfti-
gung. Auch das ist Ausbeutung und eine Form von
Menschenhandel. Auch das sollten wir uns genau anse-
hen.
Ich möchte gern aufgreifen, was Frau Winkelmeier-
Becker und Frau Lazar gesagt haben. Wenn der vorlie-
gende Gesetzentwurf in die Ausschussberatungen geht
und, wie ich hoffe, eine Anhörung dazu stattfindet, soll-
ten wir gemeinsam die nächsten Schritte planen. Viel-
leicht schaffen wir es, das Ganze schneller als in einem
Zeitraum von sieben Jahren umzusetzen. Mir wäre es
recht, wenn wir das gemeinsam schaffen würden. Das
Parlament sollte konstruktiv arbeiten und nicht in Bun-
kermentalität verfallen. Es wäre für Sie genauso wie für
uns toll, wenn wir unsere Energie zur Lösung von Pro-
blemen und nicht nur zum Abwehren von Vorschlägen
nutzen würden.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen allen frohe Weih-
nachten und ein ruhiges Gewissen. Vielleicht denken Sie
daran, dass es die eine oder andere gibt, die nicht weiß,
wo sie die Nacht verbringen soll, weil sie von ihrem
Partner, der sie unter dem Vorwand, sie zu heiraten, hier-
her geholt hat, sich nicht hat zur Prostitution zwingen
lassen und rausgeschmissen wurde. Schlimm wäre es,
wenn es dann kein Frauenhaus gäbe, weil wir es wegen
unserer Uneinigkeit nicht finanzieren.
Ich wünsche Ihnen eine ruhiges und gutes Gewissen
und fröhliche Weihnachten.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit über einem Jahrzehnt – ich glaube, das kann man sa-
gen – wird das zuvor lange totgeschwiegene und ver-
nachlässigte Phänomen des Menschenhandels im politi-
schen Raum diskutiert. Es sind große Verbesserungen
erzielt worden, aber wir sind uns alle einig, dass wir bei
der Bekämpfung des Menschenhandels trotzdem noch
am Anfang stehen.
Menschenhandel ist nicht nur eine schwere Form von
organisierter grenzüberschreitender Kriminalität, son-
dern auch eine der furchtbarsten Menschenrechtsverlet-
zungen. Eine Vielzahl internationaler Initiativen und
Programme wurde aufgelegt. Mit dem UN-Protokoll zur
Verhütung, Bekämpfung und Bestrafung des Menschen-
handels aus dem Jahr 2000 und der Europaratskonven-
tion zur Bekämpfung von Menschenhandel aus dem Jahr
2005 sind auch spezialisierte Rechtsinstrumente entstan-
den, die wiederum glücklicherweise regionale und natio-
nale Rechtsänderungen angestoßen haben.
Trotz dieser Entwicklung bleibt der Menschenhandel
weltweit eine der drängendsten menschenrechtlichen
Fragen. Jedes Jahr werden nach Angaben des Bundeskri-
minalamts in Deutschland 600 bis 1 200 Opfer identifi-
ziert. Meistens sind es Fälle sexueller Ausbeutung. Wir
müssen diese Zahlen mit größter Skepsis betrachten;
denn wir müssen wissen, dass die Dunkelziffer bei den
Opfern viel höher liegt.
Die Entwicklung von Opferrechten ist vorangekom-
men. Aber trotz der öffentlichen Aufmerksamkeit für
das Thema in Deutschland müssen wir in diesem Be-
reich deutlich besser werden. Frau Winkelmeier-Becker
hat in ihrer Rede Ausführungen dazu gemacht, was wir
in dieser Legislaturperiode schon vorangebracht haben.
Wir müssen weiter an diesem Thema arbeiten und dür-
fen an dieser Stelle nicht nachlassen.
Noch immer wird der größte Teil der Betroffenen
nicht als Opfer von Menschenhandel identifiziert. Auch
können die identifizierten Betroffenen Rechte auf Auf-
enthalt, sichere Unterbringung, materielle und psychoso-
ziale Unterstützung, Entlohnung und Entschädigung in
der Praxis nur dann wahrnehmen, wenn sie als Zeugin-
nen und Zeugen in Strafverfahren auftreten.
Es erfolgt auch keine ausreichende Einbindung der
Prävention von Menschenhandel in eine menschen-
rechtsorientierte Gestaltung von Migration insgesamt.
Auch da müssen wir besser werden; denn diese Präven-
tion zielt bekanntlich darauf ab, dass reguläre und irre-
guläre Migrantinnen und Migranten erst gar nicht in aus-
beuterische und sklavereiähnliche Situationen gelangen.
Auch daran müssen wir verstärkt arbeiten.
Angesichts der bereits ergriffenen Maßnahmen ist es
jedoch auch notwendig, die vorliegenden Konzepte und
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Pascal Kober
(C)
(B)
die menschenrechtlichen Auswirkungen der Maßnahmen
gegen Menschenhandel, die wir bisher getroffen haben,
immer wieder zu überprüfen. Opfer von Menschenhan-
del befinden sich in einem spannungsreichen politischen
Feld zwischen Verbrechensbekämpfung, Migrationspoli-
tik und Menschenrechten. Deshalb diskutieren wir sol-
che Fragen auch in verschiedenen Ausschüssen, heute
im Rahmen des Familienausschusses.
In vielen Staaten – darunter auch in Deutschland –
liegt der Schwerpunkt der Maßnahmen und der Rechts-
reformen nach wie vor im Bereich der Strafverfolgung.
Ein umfassenderer Denkansatz über Menschenrechte ist
in dieser Frage noch nicht vollständig entwickelt wor-
den. Auch daran sollten wir künftig weiterarbeiten.
Die völkerrechtlichen Instrumente zum Menschen-
handel decken längst nicht alle Verpflichtungen ab, die
sich zum Beispiel aus der Frauenrechtskonvention erge-
ben.
Auch in Deutschland lässt sich erkennen, dass der
Kampf gegen Menschenhandel nach wie vor primär als
Kriminalitätsbekämpfung verstanden und durchgeführt
wird. Die Betroffenen dienen häufig nur als Informa-
tionsquellen oder als Zeuginnen und Zeugen des Verbre-
chens und werden als solche vom Gericht geschätzt;
wenn das aber nicht der Fall ist, dann sind sie im Nach-
teil. Sie aber als Subjekte wahrzunehmen, die Opfer von
traumatisierender Gewalterfahrung oder sklavereiähnli-
chen Arbeitsverhältnissen wurden, dürfen wir dabei
nicht übersehen.
Es mangelt noch immer – darauf haben wir alle hin-
gewiesen – an ausreichenden Beratungs- und Unterstüt-
zungsangeboten für Betroffene. Die Durchsetzung von
Rechtsansprüchen hat für die Opfer von Menschenhan-
del vor allem auch symbolische Bedeutung. Denn da-
durch kann es gelingen, dass die betroffenen Menschen,
die oft über einen langen Zeitraum unter einem totalen
Verlust selbstbestimmter Lebensführung gelitten haben,
sich wieder als eigenständige Subjekte erleben können.
Ein aktives Eintreten für das eigene Recht bietet die
Chance, auch ein Bewusstsein der eigenen Würde wie-
derzugewinnen und zu stärken. Gerade an dieser Stelle
müssen in Deutschland die Unterstützungsangebote prä-
senter und leichter zugänglich werden. So muss Frauen
aus dem Ausland, die in Deutschland zur Prostitution ge-
zwungen wurden und gewaltähnliche Erfahrungen ge-
macht haben, der Zugang zu Hilfsangeboten, wie zum
Beispiel Frauenhäusern, erleichtert werden. Bisher müs-
sen sie meist abgewiesen werden, weil die Finanzierung
des Aufenthalts sowie der mögliche illegale Aufenthalt
der Frau an sich nicht geklärt sind. Hier könnte eine Än-
derung im Asylbewerberleistungsgesetz Abhilfe schaf-
fen. Um eine Aussage im Rahmen einer gerichtlichen
Verfolgung der Täter zu ermöglichen, bedarf es eines be-
sonderen Schutzes; schließlich gilt es, ein langwieriges
und quälendes Verfahren durchzustehen.
Eine qualitative Betreuung der Frau während des Ver-
fahrens muss auch in Deutschland in Zukunft gewähr-
leistet sein. Eine sichere und angemessene Regelung zur
Finanzierung von Fachberatungsstellen sowie von Frau-
enhäusern ist im Zusammenhang mit Menschenhandel
zwingend. Dessen sind wir uns hier, glaube ich, alle be-
wusst.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! In der
Tat haben wir es mit einem sehr schwerwiegenden Men-
schenrechtsproblem zu tun, wenn wir hier heute über die
Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution
sprechen. Ich muss sagen: Es ist schon sehr frustrierend,
wenn man in diesem Haus seit vielen Jahren diese De-
batte miterlebt hat. Herr Kober, Sie haben ja sehr schöne
Worte gefunden; aber es fehlen die Taten von Ihrer Seite.
Sie hätten in der Vergangenheit sehr viel mehr tun
können. Die Vorschläge, die heute auf dem Tisch liegen
– ich meine den Gesetzentwurf der Fraktion die
Grünen –, gehen auf jeden Fall in die richtige Richtung,
was die Verbesserung der Situation der Opfer von Men-
schenhandel angeht. Ich bin ihnen dankbar, dass wir
diese Diskussion erneut hier im Parlament führen. Ich
denke, dass über diesen Gesetzentwurf natürlich noch
weiter diskutiert wird. Er ist ja erst einmal eingebracht
worden. Ich würde hier gerne einige Anregungen geben,
wo Regelungen weiter gehend sein müssten.
Grundsätzlich muss man sagen, dass Mädchen und
Frauen, aber eben auch junge Männer und Jungen – das
wurde hier schon gesagt – von kriminellen Banden nach
Deutschland verschleppt werden, meistens zur Zwangs-
prostitution, häufig aber auch, um hier ausbeuterische
Arbeit zu verrichten. Man muss einfach wissen, dass
viele von ihnen, die dadurch quasi in der Illegalität sind,
hier sowieso ein äußerst schwieriges Leben haben.
Heute ist die Rede davon, die Situation dieser Men-
schen zu verbessern. Ich meine, wir sollten uns alle
daran erinnern, dass Terre des Femmes, die Frauen-
rechtsorganisation, allen Abgeordneten einen Brief ge-
schrieben hat, in dem sie darauf hinweist, dass diese
Opfer, wenn sie abgeschoben werden, Racheaktionen
und Gewalt in ihren Heimatländern ausgesetzt sind. Des-
wegen kann es nicht richtig sein, dass Personen, die hier
aussagebereit sind, vor ein Gericht treten und als Zeuge
aussagen, einen gewissen Schutz im Sinne eines Aufent-
haltsrechts nur bis zum Ende des Prozesses erhalten.
Wir, die Linke, sind vielmehr der Meinung, dass sie auch
dann geschützt werden müssen, wenn dieser Prozess be-
26580 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Ulla Jelpke
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(B)
endet ist. Das bedeutet, dass sie ein unbefristetes Aufent-
haltsrecht bekommen müssen.
Nur dadurch ist es wirklich möglich, sie zu schützen.
Man muss sich einfach vorstellen: Diese Personen wer-
den in ihre Herkunftsländer abgeschoben, wo sie wieder
diesen verbrecherischen Banden ausgeliefert sind. Da
muss man natürlich präventiv vorarbeiten.
Ich möchte noch einige Bemerkungen zu diesem Ge-
setzentwurf der Grünen machen. Es geht dort um viele
Punkte; sie werden wir auch weiter diskutieren. Ich kon-
zentriere mich heute auf das Aufenthaltsrecht. Gerade
dann, wenn man davon ausgeht, dass viele Opfer Angst
haben, hier in Deutschland auszusagen, muss man sie
meiner Meinung nach vor einer Abschiebung schützen.
Sie sprechen davon, dass das ein Härtefall ist, der
nach Ihrem Gesetzentwurf ins Ermessen der Ausländer-
behörden gestellt wird, die nämlich dann entscheiden: Ist
es ein Härtefall, ja oder nein? Das finde ich sehr schwie-
rig, weil die Ermessensspielräume, die die Ausländerbe-
hörden sehen, häufig nicht die sind, die wir für notwen-
dig halten, um den Opfern entsprechenden Schutz zu
geben.
Nach Ihrem Gesetzentwurf soll das Asylbewerber-
leistungsgesetz geändert werden, und die Opfer sollen
die volle Gesundheitsversorgung erhalten. Das ist gegen-
wärtig nicht der Fall. Wir kennen den neuen Entwurf
zum Asylbewerberleistungsgesetz noch nicht. Sicher ist
es ein wichtiger Schritt, ihnen überhaupt Gesundheits-
versorgung zu gewähren, die sie bisher ja nicht haben.
Sie sind traumatisiert, sie brauchen Therapie; wir haben
das hier schon von verschiedenen Kollegen gehört. Wir
sind aber der Meinung: Wir sollten diese Opfer ganz aus
dem Regelungsbereich des Asylbewerberleistungsgeset-
zes herausnehmen und sie so stellen, dass sie den ent-
würdigenden und demütigenden Vorstellungen, die hin-
ter dem Asylbewerberleistungsgesetz stehen, nicht
unterliegen.
Zum Schluss möchte ich noch auf Folgendes hinwei-
sen – das ist hier heute auch schon angesprochen worden –:
In der Tat gibt die Umsetzung der Europaratskonvention
diesem Haus die Möglichkeit, die Verhütung und Be-
kämpfung von Menschenhandel wirklich anzupacken.
Die Kolleginnen und Kollegen aufseiten der Koalition
haben bisher nur Forderungen umgesetzt, die nicht sehr
weitgehend gewesen sind. Ich fordere Sie auf, übrigens
nicht nur deshalb, weil Weihnachten ist – ich finde, das
Thema sollte uns immer bewegen –, wirkliche Schritte
umzusetzen, um den Opfern zu helfen und ihnen den
Schutz und die Unterstützung zu geben, die sie brau-
chen. Mit Sonntagsreden ist es nicht getan. Die Men-
schen, die von Menschenhandel betroffen sind, die Op-
fer, brauchen wirklich andere Maßnahmen. Dazu gehört
ein unbefristeter Aufenthaltstitel in diesem Land, damit
sie ein neues Leben beginnen können.
Ich danke Ihnen.
Das Wort hat der Kollege Norbert Geis für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Es ist wiederholt gesagt worden – ich schließe
mich dieser Feststellung an –, dass der Menschenhandel
eine der übelsten Menschenrechtsverletzungen darstellt,
die man sich vorstellen kann, und dass wir alles tun müs-
sen, um den Menschenhandel, der auch in Deutschland
vorkommt, einzudämmen, zurückzudrängen. Wir müs-
sen dafür sorgen, dass er nicht weiter zunimmt, sondern
zurückgeht.
Da ist der Vorschlag der Grünen durchaus diskus-
sionswürdig. Es wäre vermessen, hier zu sagen: Dem
schließen wir uns in gar keinem Fall an. – Es gilt natür-
lich, diesen Vorschlag zu diskutieren.
– Ich danke Ihnen. Das ist eine Anregung, und die neh-
men wir auch gern auf.
Man darf dabei einige Gesichtspunkte nicht außer
Acht lassen:
Erstens. Dass die Konvention des Europarates in
Deutschland umgesetzt worden ist, das hat der Bundes-
rat im letzten Jahr einstimmig festgestellt. Er hat uns
mitgeteilt, dass von der deutschen Rechtsordnung alle
die Aufgaben, die die Konvention gegen den Menschen-
handel uns aufgegeben hat, erfüllt worden sind. Das
sollte man festhalten.
Zweitens. Man sollte bei dem Gesetzentwurf der Grü-
nen und auch bei dem, was Frau Jelpke gerade gesagt
hat, Folgendes bedenken: Wir dürfen nicht in eine
Schieflage geraten. Einmal gibt es die Verpflichtung des
Staates, das Ausländerrecht, das Asylbewerberleistungs-
gesetz, das Asylverfahrensgesetz, das Aufenthaltsgesetz,
das heißt die Regelungen, die dort getroffen worden
sind, durchzusetzen – das ist die eine Aufgabe des Staa-
tes –, und zum anderen gibt es natürlich die Verpflich-
tung, dem Menschenhandel entgegenzutreten. Dabei
kann der Staat in einen Zielkonflikt geraten. Hier muss
versucht werden, einen vernünftigen Ausgleich zu fin-
den. Es müssen vernünftige Regelungen getroffen wer-
den, bei denen das eine Gut genauso beachtet wird wie
das andere. Das, glaube ich, ist auch die Aufgabe bei der
Diskussion über Ihren Gesetzentwurf.
Ich weise darauf hin – Frau Winkelmeier-Becker hat
es schon gesagt –, dass das Prostitutionsgesetz vom
20. Dezember 2001 – es jährt sich in den nächsten Tagen –
nicht das gebracht hat, was man sich damals erhofft hat.
Man hatte sich erhofft, durch die Legalisierung der Pros-
titution den Menschenhandel zurückzudrängen. Das war
nicht der Fall. Wir haben heute ein viel höheres Maß an
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26581
Norbert Geis
(C)
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Menschenhandel und ein viel höheres Maß an Prostitu-
tion als beispielsweise Schweden: In Schweden ist die
Prostitution verboten; bei uns gibt es 60-mal mehr Pros-
tituierte. In Schweden gibt es auch viel weniger Men-
schenhandel. Liebe Frau Rupprecht, es gibt in Deutsch-
land 62-mal mehr Menschenhandel als in Schweden. –
Diese Zahlen habe ich mir nicht einfallen lassen; sie sind
aus einer Studie der Göttinger Universität. Das sind ge-
waltige Zahlen, die man nicht außer Acht lassen darf.
Ein ehemaliger Leitender Kommissar des LKA Ham-
burg hat laut einem Artikel der Zeit gesagt, dass 95 Pro-
zent der in Hamburg tätigen Prostituierten Zwangs-
prostitution nachgehen müssen. Viele sind über
Menschenhandel nach Hamburg gekommen. – Das hat
seinen Grund; es liegt an der liberalen Ausgestaltung un-
seres Prostitutionsgesetzes.
Wir dürfen unsere Augen nicht davor verschließen: Frau
Rupprecht, wir haben das liberalste Gesetz zur Prostitu-
tion, und Deutschland ist ein Zentrum des Menschen-
handels geworden, insbesondere des Menschenhandels
mit Frauen.
Die Grünen wollen das Ausländergesetz und das
Asylbewerberleistungsgesetz ändern. Sie sagen mit
Recht, dass sich die Frauen fürchten, zur Polizei zu ge-
hen. 88 Prozent der in Deutschland registrierten Opfer
des Menschenhandels, die in Deutschland sexuell ausge-
beutet werden, kommen neben Deutschland aus den
Ländern Rumänien und Bulgarien. Diese halten sich le-
gal in Deutschland auf. Wenn sie ab 2014 die Freiheit
haben, in Deutschland eine Arbeit aufzunehmen, kann
die Polizei überhaupt nichts mehr machen. Von jedem,
der eine Pommes-Frites-Bude aufmacht, von jedem
Metzgermeister, von jedem Bäckermeister verlangen
wir, dass er die Genehmigungsauflagen einhält. Für Bor-
delle gibt es so etwas nicht. Das kann nicht sein.
Liebe Frau Lazar, das ist ein Grund dafür, dass die Poli-
zei nichts machen kann. Die Polizei kann nicht einfach
ohne Anlass in ein Bordell gehen, wie es früher der Fall
war, und nachschauen, ob Zwangsprostitution betrieben
wird oder nicht. Dieses Gesetz muss man ändern.
Ich möchte einen letzten Punkt aufgreifen. Es ist rich-
tig, was Sie, Frau Rupprecht und die anderen Redner, ge-
sagt haben, nämlich dass sich die Frauen fürchten, zur
Polizei zu gehen, weil man dann ihren Status entdeckt.
Das ist ein Grund, warum sich die Polizei bei der Verfol-
gung des Straftatbestandes Menschenhandel so schwer-
tut. Ein anderer Grund ist, dass die betroffenen Perso-
nen, die Opfer, große Angst haben müssen, dass, wenn
sie mit einer Kronzeugenregelung und einer Aufenthalts-
erlaubnis in Deutschland bleiben dürfen, ihren Verwand-
ten im Herkunftsland unter Umständen von dieser orga-
nisierten Truppe Rache geschworen wird. Das muss man
bedenken. Deswegen ist das Erste, das A und O, die Be-
kämpfung der Täter. Darin stimmen wir auch alle über-
ein.
Herr Geis!
Augenblick; Ich bin sofort fertig. Lassen Sie mich
noch zwei, drei Sätze sagen. – Das Erste ist also: Be-
kämpfung der Täter. Das Zweite ist: bessere Instrumente
für die Polizei. Wir müssen § 233 Strafgesetzbuch ergän-
zen. Das Dritte ist, dass wir ganz vorsichtig mit der Än-
derung des Ausländergesetzes umgehen, aber Ihren Vor-
schlag aufgreifen und diskutieren.
Danke schön.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung des Gesetzent-
wurfs auf Drucksache 17/10843 an die in der Tagesord-
nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Damit
sind Sie einverstanden. Dann ist das so beschlossen.
Jetzt rufe ich den Zusatzpunkt 9 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE
GRÜNEN
Verantwortung der Bundesregierung ange-
sichts der Kostenexplosion bei Infrastruktur-
großprojekten S 21 und BER
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen hat der Kollege Sven-Christian Kindler.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Kollegin-
nen und Kollegen! Das ist die letzte Debatte im Bundes-
tag im Jahr 2012. Wir reden noch einmal über große
Summen und große Themen, nämlich über die Infra-
strukturprojekte Stuttgart 21 und den Pannenflughafen
BER. Ich frage mich angesichts der Kostenexplosionen
schon: Wo ist eigentlich der Verkehrsminister Peter
Ramsauer? Er ist der zuständige Minister. Diese Versa-
gen sind auch Versagen der Bundesregierung, auch Ver-
sagen von Peter Ramsauer. Ich finde es eine Frechheit,
dass er heute nicht hier ist.
Er duckt sich lieber weg. Das ist auch völlig klar; denn
von Infrastrukturplanung hat er einfach wenig Ahnung.
Das ist leider so.
Wir wissen, wir brauchen eine gute Infrastruktur in
diesem Land, gerade im Verkehrsbereich. Das Problem
26582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Sven-Christian Kindler
(C)
(B)
ist: Kostenexplosionen und Terminverschiebungen sind
inzwischen nicht mehr die Ausnahme, sondern sind un-
ter dieser Bundesregierung zur Regel geworden. Das
liegt an der grottenschlechten Verkehrsplanung. Man
orientiert sich eben nicht an sachlichen Kriterien, zum
Beispiel am Kosten-Nutzen-Verhältnis, an der Frage der
Wirtschaftlichkeit oder an der Frage der Zukunftsorien-
tierung. Bei Schwarz-Gelb geht es vor allen Dingen um
die Frage, wie viele rote Schleifen man durchschneiden
und wie viele schillernde Großprojekte man auf den Weg
bringen kann. Das ist das große Problem bei der Ver-
kehrspolitik von Schwarz-Gelb, leider viel zu oft auch
von der SPD. Mit dieser ideologischen Verkehrspolitik
muss endlich Schluss sein.
Sie ist nämlich auch teuer für den Bund, für die Steuer-
zahlerinnen und Steuerzahler, weil eben nicht in den Er-
halt investiert wird, nicht in sinnvolle Infrastrukturmaß-
nahmen, sondern in teure Großprojekte.
Jetzt ist herausgekommen, dass das Projekt Stutt-
gart 21 6,8 Milliarden Euro kosten soll. Der Bundesrech-
nungshof hat übrigens schon im Jahr 2008 festgestellt
– da wollte ihm aber keiner zuhören –:
Der Bundesrechnungshof weist nochmals darauf
hin, dass das Bundesministerium selbst von Kos-
tensteigerungen für Großprojekte
– darüber reden wir heute –
von mindestens 60 Prozent, teilweise sogar bis zu
100 Prozent ausgeht.
Damals lag der Kostendeckel bei 4,5 Milliarden Euro;
dieser Wert war unrealistisch. Der Bundesrechnungshof
hat im Nachhinein recht behalten. Damals haben die
Deutsche Bahn und die schwarz-rote Regierung diese
Warnung empört zurückgewiesen. Sie haben den Kopf in
den Sand gesteckt, genauso wie heute Schwarz-Gelb.
Mit diesem Kopf-in-den-Sand-Stecken muss bei Stutt-
gart 21 endlich Schluss sein.
Wir müssen endlich wissen – denn es kann teuer werden,
sowohl für den Bundeshaushalt, weil die Deutsche Bahn
zu 100 Prozent dem Bund gehört, als auch für die Fahr-
gäste –, wie viel uns das Projekt kostet. Wir brauchen
eine unabhängige Prüfung – das kann nicht die Deutsche
Bahn machen, da sie eigene Interessen hat –, um zu wis-
sen, was das Projekt kosten wird und welche Ausstiegs-
optionen es gibt. Hier brauchen wir endlich Transparenz.
Kommen wir zu einem weiteren Großprojekt, bei dem
es gerade zu Kostenexplosionen kommt, dem Pannen-
flughafen Berlin Brandenburg. Über den lacht angesichts
der Terminverschiebungen die ganze Welt. Es gab bisher
drei Terminverschiebungen; jetzt kommt es vielleicht
zur vierten. Klaus Wowereit hat heute in der Berliner
Zeitung gesagt, er wisse nicht, ob der Termin im Oktober
2013 zu halten sei. Was hier passiert, ist schon ein star-
kes Stück.
Auf einmal sind Rechnungen in Höhe von 250 Millio-
nen Euro aufgetaucht, Forderungen von Baufirmen, die
man bisher nicht eingerechnet hatte. Rainer Schwarz, der
zuständige Geschäftsführer für den kaufmännischen Be-
reich und damit für Finanzen, hat sie jetzt anscheinend
gefunden. Ich finde, das Missmanagement von Rainer
Schwarz in der Vergangenheit geht in der Zukunft nicht
mehr. Das zeigt sich heute einmal mehr: Einen Betrag
von 250 000 Euro hat er nicht gefunden. Rainer Schwarz
muss endlich entlassen werden.
Im Haushaltsausschuss haben wir das gefordert. Die ein-
zige Fraktion, die dagegen gestimmt hat, war die SPD.
Das Missmanagement von Rainer Schwarz soll anschei-
nend das Missmanagement von Klaus Wowereit überde-
cken. Das finde ich ziemlich peinlich, liebe SPD.
Aber es geht nicht nur um den Geschäftsführer; es
geht auch um den Aufsichtsrat, um Staatssekretär
Bomba vom BMVBS und um Staatssekretär Gatzer vom
BMF, die nicht richtig kontrolliert haben. Der Aufsichts-
rat soll sich vor dem Eröffnungstermin darum kümmern,
ob dieser Termin auch zu halten ist, ob zum Beispiel die
technischen Probleme mit der Brandschutzanlage beho-
ben sind. Der Aufsichtsrat soll sich nicht darum küm-
mern, wie viel Sekt und wie viele Schnittchen es beim
Empfang gibt. Das hat der Aufsichtsrat aber gemacht.
Auch der Aufsichtsrat hat beim Flughafen versagt, auch
er muss endlich ausgewechselt werden.
Es ist klar: Wir brauchen endlich eine sachliche, fi-
nanziell realistische Verkehrsplanung. Wir müssen in Er-
halt und sinnvolle Zukunftsprojekte investieren. Teure
schillernde Großprojekte, die wenig bringen, den Steuer-
zahler aber Milliarden kosten, können wir uns nicht
mehr leisten. Wir brauchen endlich eine echte Wende in
der Verkehrspolitik.
Vielen Dank.
Der Kollege Heinz Peter Wichtel hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26583
(C)
(B)
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen! Liebe Kolle-
gen! Im letzten Halbjahr ist kaum eine Woche vergan-
gen, in welcher wir nicht das Thema des neuen Haupt-
stadtflughafens auf unserer Tagesordnung hatten. Es war
immer wieder ärgerlich, festzustellen, dass die Verzöge-
rungen nicht in den Gremien des Parlaments diskutiert
wurden. Mit Recht haben wir im Verkehrsausschuss im-
mer wieder nachgefragt und versucht, Aufklärung da-
rüber zu erhalten, aus welchem Grund die Eröffnung tat-
sächlich verschoben werden muss und warum das alles
nicht läuft. Die Besichtigung vor Ort hat nicht so viele
Erkenntnisse gebracht, dass wir am Ende außer dem,
was wir bauphysisch gesehen haben, etwas von dem hät-
ten erkennen können, was uns wenige Wochen später
durch neue Berichte der Geschäftsleitung eingeholt hat.
Auch beim Thema Stuttgart 21 haben wir heute Morgen
im Ausschuss wieder so etwas erlebt.
Aus meiner Sicht können wir die Verfahren – auch
wenn wir im Ausschuss meinen, dass sie vielleicht an-
ders sein sollten – aber auch gar nicht in den Griff be-
kommen, weil andere handelnde Personen zuständig
sind. Deswegen kann ich nicht verstehen, was die Ak-
tuelle Stunde heute bewirken soll – außer dass man wie-
der einmal über das Thema gesprochen hat. Mehr wird
aus meiner Sicht nicht passieren.
Die Frage nach der Verantwortung, auch nach der Re-
gierungsverantwortung zum Beispiel für den Berliner
Flughafen, die mein Vorredner bereits gestellt hat, ist
doch eindeutig zu beantworten: Es gibt einen Mehrheits-
aktionär – die Länder Brandenburg und Berlin –, der
hauptsächlich die Verantwortung trägt. Die Bundeslän-
der halten 75 Prozent an der Flughafen Berlin Branden-
burg GmbH. Sie sind federführend bei dem Bauprojekt;
nicht der Bund. In Brandenburg – nicht im Bund – sitzen
zudem die meisten Genehmigungsbehörden. Auch der
Aufsichtsratsvorsitzende, der Regierende Bürgermeister
von Berlin, repräsentiert Berlin – und nicht den Bund.
Übrigens war es Herr Wowereit, der den Flughafen zur
Chefsache erklärt hat – wenn ich mich richtig erinnere,
hat er das sogar als sein Lebenswerk bezeichnet –, und
nicht ein Politiker des Bundes.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich glaube, dass
man diese Geschichte einmal vom Kopf auf die Füße
stellen muss.
Wir sollten die Verantwortlichkeiten auch ruhig dort las-
sen, wo sie sind.
Die Kollegin von der SPD kann ruhig noch ein biss-
chen dazwischenrufen; von mir bekommt sie auf ihre
Zwischenrufe sowieso keine Antwort.
Ich halte das nicht für in Ordnung: Beim Thema nie mit-
diskutieren, aber hier dazwischenrufen, das sind mir im-
mer die Liebsten.
Aus meiner Sicht müssen wir bei der Begleitung von
Großprojekten immer wieder feststellen, dass bei be-
stimmten Verwaltungsaufgaben und -abläufen immer
wieder versucht wird, die politische Verantwortung ab-
zuschieben. Ich denke, davon müssen wir wegkommen.
Es schadet der Bundesrepublik Deutschland, wenn es zu
Verzögerungen bei Großprojekten kommt. Das schadet
unserem Ansehen im Bereich der Planung von Objekten
und der modernen Gestaltung. Deswegen denke ich, dass
wir die Vorgänge aus sachlichen Gründen lückenlos auf-
klären müssen. Wir müssen nachvollziehen: Wo lagen
die Fehler? Wie sind sie entstanden? Warum sind sie ent-
standen? – Denn es geht darum, diese Fehler bei zukünf-
tigen Projekten möglichst auszuschließen.
Wir können feststellen, dass Probleme gerade dann
auftreten, wenn Projekte eine lange Laufzeit haben,
wenn der Zeitraum von der ersten Planung und Kosten-
schätzung bis zur Umsetzung viel zu lang ist. Deswegen
muss überlegt werden, wie man die Phase der Entwick-
lung, der Weiterplanung und des Größerwerdens eines
Objektes, das man baut, gestalten kann und wie man da-
mit umgeht, wenn neue Probleme festgestellt werden.
Solche Desaster, wie sie jetzt bei dem einen oder ande-
ren Projekt auftreten, kann man nicht weiter zulassen.
Ich denke, dass man die Landesregierungen im Zu-
sammenhang mit dem Berliner Flughafen nicht aus der
Verantwortung entlassen kann.
Ich habe mich gewundert, dass die Bundesregierung eine
Kommission gebildet hat, um festzustellen, ob die Auf-
sichtsratsmitglieder alle Antworten erhalten haben oder
nur zum Teil informiert worden sind, ob die Geschäfts-
führung richtig und umfassend informiert hat. Ich denke,
dass gerade ein Aufsichtsratsvorsitzender – das habe ich
an dieser Stelle schon einmal gesagt – eigentlich einen
viel engeren Kontakt zur Geschäftsführung haben
müsste und dass die Geschäftsführung ihn schon aus Ei-
genschutz eher informieren müsste.
Insofern stimme ich der im Haushaltsausschuss geäu-
ßerten Überzeugung zu: Wenn bei der Bewertung der Er-
gebnisse der Untersuchung, die stattfinden soll, in der
Tat herauskommt, dass die Geschäftsführung nicht ob-
jektiv über all das informiert hat, über das sie hätte infor-
mieren müssen, dann ist sie aus meiner Sicht abzulösen.
Ich denke auch, Herr Wowereit sollte den Aufsichtsrats-
vorsitz niederlegen und ihn jemand anderem überlassen,
wenn er zeitlich und inhaltlich nicht in der Lage ist, die
damit verbundene umfängliche Verantwortung zu tra-
gen.
26584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Peter Wichtel
(C)
(B)
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Für die SPD-Fraktion hat Sören Bartol jetzt das Wort.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Heute Mor-
gen haben wir im Verkehrsausschuss des Deutschen
Bundestages hautnah erlebt, welches Amtsverständnis
der Bundesverkehrsminister Dr. Peter Ramsauer hat: Er
ist nicht zu der Sondersitzung zu den Mehrkosten von
Stuttgart 21 erschienen, die wir beantragt haben. Wieder
einmal hat er gekniffen und sich nicht den Fragen der
Abgeordneten gestellt. Das zeigt: Immer wenn es ernst
wird, duckt er sich weg. Er ist ein Schönwetterminister,
der gerne über seine Reform der Flensburger Punkte re-
det, aber nicht zu seiner Verantwortung steht.
Als Bundesverkehrsminister ist er für die Infrastruktur
des Landes verantwortlich. Das gilt für die Mehrkosten
bei Stuttgart 21 genauso wie bei dem neuen Flughafen
Berlin Brandenburg.
Ich will es an dieser Stelle ganz deutlich sagen: Der
Bund ist Mitgesellschafter beim Flughafen Berlin Bran-
denburg und war somit bei allen Entscheidungen im
Aufsichtsrat dabei. Hier trägt Bundesverkehrsminister
Ramsauer die Mitverantwortung. Während der Bundes-
verkehrsminister mit seiner sogenannten Soko BER
medial geschickt den Aufklärer gibt, verschweigt er,
dass der Bund ganz allein für weitreichende Verzögerun-
gen beim Bau des Regierungsterminals am neuen Flug-
hafen BER verantwortlich ist. Der Abfertigungsbereich
für Staatsgäste und Regierungsmitglieder am neuen
Flughafen geht später in Betrieb als lange geplant. Der
Protokollbereich wird erst im Jahre 2016 und nicht, wie
eigentlich vorgesehen, im Jahr 2014 eröffnet. Die Kos-
ten dafür haben sich außerdem fast verdoppelt.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, beim Projekt Stutt-
gart 21 steht Minister Ramsauer ebenfalls in der Verant-
wortung. Er vertritt uns alle als Eigentümer. Er hat die
Aufgabe, von unserem Unternehmen Deutsche Bahn
Schaden fernzuhalten. Die jetzt bekannt gewordenen
Mehrkosten von über 1 Milliarde Euro sind nach dem
Regierungswechsel 2009, in der Regierungszeit von
Schwarz-Gelb, entstanden. Damit sind die Mehrkosten
von 1 Milliarde Euro auch Ramsauers Milliarde; er muss
sie mit verantworten.
Minister Ramsauer hat bisher nicht schlüssig erklären
können, wie sich die Mehrkosten von 1 Milliarde Euro
zum Beispiel auf die erwarteten Gewinne der Deutschen
Bahn auswirken. Im Zweifel sinken die Gewinne. Dann
stellt sich die Frage, wie die Deutsche Bahn dem Bun-
desverkehrsminister jedes Jahr weiterhin mindestens
eine halbe Milliarde Euro an Zwangsdividende zahlen
soll. Ich sage Ihnen voraus: Das wird am Ende auch
Auswirkungen auf den Bundeshaushalt haben.
Ich will, dass wir in ganz Deutschland einen besseren
Lärmschutz an der Schiene und barrierefreie Bahnhöfe
haben. Dabei erwarte ich vom Bundesverkehrsminister
und der Deutschen Bahn, dass sie sich an dieser Stelle
finanziell stärker engagieren. Vor diesem Hintergrund
warne ich davor, dass die Deutsche Bahn mit den Mehr-
kosten alleingelassen wird. Wenn das Unternehmen am
Ende voraussichtlich fast 2 Milliarden Euro an Mehrbe-
lastung hat, bleibt für andere Projekte in Deutschland
kein Spielraum mehr. Der Bahn droht dann die Luft aus-
zugehen. Dann muss der Bundesverkehrsminister
Ramsauer den Menschen in Nordrhein-Westfalen erklä-
ren, warum der Rhein-Ruhr-Express nicht kommen
kann. Dann muss der Bundesverkehrsminister Ramsauer
den Menschen im Rheintal erklären, dass sie leider auf
ihren zusätzlichen Lärmschutz verzichten müssen. Dann
muss der Bundesverkehrsminister Ramsauer der
Hafenwirtschaft in Hamburg und Bremen erklären, dass
die Y-Trasse in Niedersachsen erst später kommen kann.
Es fehlt schlichtweg das Geld.
Ich betone daher ganz klar: Zusätzliche Kosten, die
im Schlichtungsverfahren und im sogenannten Filder-
Dialog im Zusammenhang mit dem Flughafenbahnhof
entstanden sind, sind Forderungen der Region Stuttgart
und des Landes Baden-Württemberg. Daher erwarte ich,
dass der Bundesverkehrsminister die Deutsche Bahn ak-
tiv dabei unterstützt, dass sich die dortigen Projektpart-
ner an den Mehrkosten beteiligen.
Wir brauchen einen Bundesverkehrsminister, der zu
seiner Verantwortung steht und sich kümmert. Ich kann
derzeit nicht erkennen – und jeder, der hier zuschaut,
sieht es, weil er nicht auf der Regierungsbank sitzt –,
dass der Minister das tut.
Vielen Dank.
Für die FDP-Fraktion spricht unser Kollege Oliver
Luksic.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Kollege Bartol, ich darf darauf hinweisen: Wenn ihr am
Abend vorher als einzige Fraktion zu einer Sitzung ein-
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26585
Oliver Luksic
(C)
(B)
ladet, dann hat das eine andere Qualität, als wenn der
Ausschussvorsitzende im Namen des Ausschusses Herrn
Wowereit dreimal einlädt, um als Aufsichtsratsvorsitzen-
der zu berichten, und Herr Wowereit dreimal absagt. Das
letzte Mal konnte er nicht, weil er am Abend vorher auf
der US-Wahlparty war.
Ich wäre beim Thema Einladung insofern ganz vorsich-
tig, Kollege Bartol.
– Ja, da klatschen auch die grünen Kollegen, Herr
Bartol.
Zu den beiden Großprojekten, die wir heute diskutie-
ren. Ja, sowohl Stuttgart 21 – der Kollege Simmling
wird später dazu sprechen – als auch der Hauptstadtflug-
hafen sind wahrlich keine gute Werbung für den Stand-
ort Deutschland. Das ist es, was uns als FDP-Fraktion
umtreibt.
Lassen Sie mich auf das Thema Flughafen eingehen.
1996 wurde das Projekt vorgestellt; die Eröffnung wurde
mehrfach verschoben: 2011, 2012, 2013. Jetzt sind wir
bei Oktober 2013, und auch daran müssen wir ein Frage-
zeichen machen. Der Grund sind intransparente Ent-
scheidungsprozesse, Planungsfehler und Planungslücken
sowie ständiges Überschreiten der Bauzeit und der Bau-
kosten. Es ist wirklich ein Schlag ins Gesicht der Steuer-
z
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Es wurde dort nach dem
Motto gebaut: „Lege Kabel und gucke, dass Strom
durchgeht“. – Das Ganze wird immer wieder gedeckt
durch das Dreigestirn Wowereit, Platzeck und Schwarz.
Das ist das Problem.
Bevor er eröffnet werden soll, stößt der neue Flugha-
fen bereits an Kapazitätsgrenzen. Das muss man sich
einmal auf der Zunge zergehen lassen. Jetzt wird festge-
stellt: Wir reden von einer „Sanierung im Bestand“. Auf
der Baustelle wird gerade eine Pause gemacht, weil eine
„Sanierung im Bestand“ durchgeführt werden muss, und
das bei einem Projekt, das noch nicht einmal fertigge-
stellt ist. Das ist wirklich ein Skandal.
Kollege Bartol, bereits im Frühjahr 2012 war klar
– Wowereit hat das einräumen müssen –, dass wir mit ei-
ner pünktlichen Eröffnung des Flughafens nicht rechnen
können. Jeder weiß ganz genau – Herr Kollege Wichtel
hat es zu Recht gesagt –, dass der Aufsichtsratsvorsit-
zende ein besonders enges Verhältnis zum Geschäftsfüh-
rer hat. Es brennt hier lichterloh an allen Ecken und
Enden, und im brandenburgischen Boden versickert
Geld schneller als Wasser. Die Vogel-Strauß-Taktik so-
wohl von Herrn Platzeck als auch von Herrn Wowereit
stößt langsam an Grenzen.
Wieso wurde immer anders gebaut, als es genehmigt
wurde? Darauf bekommen wir bis heute keine Antwort.
Wir bekommen auch keine Antwort auf die Frage, wa-
rum Gewerke nicht vollständig abgenommen wurden.
Auch Herr Platzeck trägt Verantwortung, weil sich die
Behörden, die für die Genehmigung sowohl des Lärm-
schutzes als auch der Entrauchungsanlage zuständig
sind, in Brandenburg befinden. Leider ist es im Moment
so – ich kann das auch nicht ändern –, dass, wenn bei
Aufsichtsräten in Deutschland etwas schiefgeht, immer
die SPD dabei ist,
ob das der Ökonomieerklärer Steinbrück bei Thyssen-
Krupp mit einem Milliardenverlust oder Herr Beck in
Rheinland-Pfalz mit dem Nürburgring ist. Jetzt wird
diese grandiose Tradition mit Herrn Wowereit und Herrn
Platzeck fortgesetzt. Angesichts dessen, was die SPD
sich im Moment mit ihren Aufsichtsräten antut, sollte
man ein bisschen vorsichtig sein, Kollege Bartol.
– Genau. Ich unterstütze Sie. In dem Punkt wäre die
Frauenquote wahrscheinlich sinnvoll gewesen. Es wäre
in der Tat von Vorteil, wenn Wowereit und Platzeck
nicht Aufsichtsräte wären; das stimmt.
Was Stuttgart 21 angeht, will ich offen sagen: Ich teile
die Kritik, die Kollege Bartol eben vorgetragen hat, in
Teilen. Was wir heute Morgen gehört haben, war nicht
zufriedenstellend. Ich glaube, das Vertrauensverhältnis
zur Bahn ist in der Tat ein Stück weit gestört. Natürlich
sind Kosten und Verzögerungen auch deshalb entstan-
den, weil die Grünen vor Ort alles blockieren, was sie
blockieren können.
Die Bahn kann aber nicht erklären, wieso und weshalb
es zu welchen Kostensteigerungen kommt. Die Koali-
tion hat gesagt, dass wir im Januar darauf drängen wer-
den, dass sowohl Herr Kefer als auch Herr Grube in den
Ausschuss kommen, damit wir Transparenz und Öffent-
lichkeit herstellen können. Diesbezüglich brauchen wir
von Ihnen keine Nachhilfestunden. Dafür sorgt diese
Koalition.
Wir stehen für Transparenz und Offenheit bei Groß-
projekten. Ich glaube, die Sonderkommission von
26586 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Oliver Luksic
(C)
(B)
Staatssekretär Odenwald leistet gute Arbeit beim Thema
Flughafen. Wir wollen nicht für ein Weiter-so sorgen.
Deswegen haben die Haushälter immer darauf gedrängt,
dass Mittel gesperrt werden. Wir sind der festen Über-
zeugung, dass sowohl Herr Schwarz als auch Herr
Wowereit als Aufsichtsratsvorsitzender nicht mehr trag-
bar sind. Ich hoffe, dass Herr Wowereit uns nicht noch
vor dem Weihnachtsfest eine weitere böse Bescherung
hinsichtlich des Kosten- und Zeitplans für den Flughafen
bereiten wird.
Vielen Dank.
Jetzt hat Sabine Leidig das Wort für die Fraktion Die
Linke.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich möchte mich in meinen fünf Minuten Redezeit
– meiner Fraktion stehen leider keine weiteren Minuten
zur Verfügung – auf das Projekt Stuttgart 21 konzentrie-
ren, weil wir darüber sehr viel wissen.
Wir wissen, dass wir es bei der aktuellen Entwicklung
nicht mit einer zufälligen Kostensteigerung zu tun ha-
ben. Wir wissen, dass wir über eine Kostenlüge, und
zwar eine planmäßige, sprechen müssen.
Wir haben das heute in der Sondersitzung des Aus-
schusses von Herrn Kefer gehört. Als ich 2009 meine
Arbeit im Ausschuss aufgenommen habe, gab es einen
Auftritt von Herrn Grube, der Stein und Bein geschwo-
ren hat, dass die Kostenobergrenze von 4,5 Milliar-
den Euro für dieses Projekt auf keinen Fall überschritten
wird, weil alles andere unwirtschaftlich wäre. Es vergin-
gen keine zwei Wochen, da kamen die ersten Zweifel an
der Validität dieser Zahlen auf. Unter anderem wurde
schon damals ganz deutlich gesagt, dass die Kostenredu-
zierungen beim Brandschutzkonzept nicht haltbar sind.
Das lag auf dem Tisch. Damit hätte sich jeder beschäfti-
gen können.
2011 hat Arno Luik im stern einen umfangreichen
Bericht über bahninterne Untersuchungen, Kosten-, Ri-
siken- und Chancenabschätzungen veröffentlicht. Da-
nach musste man damit rechnen, dass Mehrkosten in
Höhe von mindestens 1,2 Milliarden Euro auf dieses
Projekt zukommen. Damals waren viele Risiken noch
nicht einmal mit Kosten hinterlegt. Daraufhin ist Hany
Azer, der Projektleiter, zurückgetreten, dem diese Risi-
ken offensichtlich zu groß waren.
Herr Kefer hat uns in der heutigen Ausschusssitzung
offen gesagt, dass sogenannte nicht stichhaltige Risiken
vor der Volksabstimmung aus den Projektkosten heraus-
gerechnet worden sind. Man hat also absichtlich den An-
schein erweckt, man könnte dieses Projekt mit diesen
4,5 Milliarden Euro wirtschaftlich betreiben. Tatsächlich
wusste die Bahn, wussten die Zuständigen längst, dass
dies nicht der Fall ist. Ich finde, das ist eine wirklich
mehr als peinliche Angelegenheit. Das muss Konse-
quenzen haben. Ich finde, ein solcher Bahnvorstand
muss abgelöst werden.
Das Zweite ist, dass wir natürlich volle Transparenz
brauchen. Es ist nicht hinnehmbar, dass diejenigen, die
die Verantwortung für den sinnvollen Einsatz von Steu-
ermitteln tragen, derart abgespeist werden. Man enthält
Ihnen die notwendigen Unterlagen für die Wirtschaft-
lichkeitsprüfung und für die konkrete Bezifferung weite-
rer Risiken vor mit der Begründung: Wenn man sie ver-
öffentlichen würde, dann würde – so Herr Kefer wörtlich
– die Gefahr für das Projekt untragbar. Was heißt das
denn? Wenn die Leute wüssten, was noch alles auf sie
zukommt, dann würden sie es kippen. Ich finde, so etwas
dürfen wir uns nicht bieten lassen.
Inzwischen haben wir die skurrile Situation, dass nie-
mand es gewesen sein will. Vor zwei Jahren haben wir
hier nach der großen Protestkundgebung und dem ge-
waltsamen Polizeieinsatz über Stuttgart 21 diskutiert.
Damals hat sich Bundeskanzlerin Merkel hier hingestellt
und gesagt: Stuttgart 21 ist eine Schicksalsfrage für die
Republik. Die Autorität Deutschlands wird in Europa
untergraben, wenn dieser Tunnelbahnhof nicht gebaut
wird. – Inzwischen sagt der zuständige Staatssekretär:
Der Bund hat eigentlich gar nichts damit zu tun. Wir ge-
ben nur das Geld. Das ist ein eigenwirtschaftliches Pro-
jekt der Bahn. Wir waschen unsere Hände in Unschuld.
Wir geben nur das Geld, das notwendig wäre, um den
bestehenden Bahnhof zu sanieren.
Ich finde, das ist genau die richtige Strategie. Machen
Sie einen vernünftigen Kopfbahnhof. Es würde reichen,
den bestehenden Bahnhof zu sanieren. Das würde viel-
leicht 1 Milliarde Euro kosten. Dann hätte man wirklich
einen Topbahnhof mit Kapazitäten, die weit über das hi-
nausgehen, was der zukünftige Tiefbahnhof jemals wird
leisten können; denn er stellt in Wirklichkeit eine Verrin-
gerung der Bahnkapazität dar.
Mein letzter Punkt. Ich richte mich an die Kollegin-
nen und Kollegen von den Grünen. Sie haben die Land-
tagswahl gewonnen. Herr Kuhn sitzt hier als designierter
Oberbürgermeister von Stuttgart. Ich gratuliere dazu. Ich
finde, das ist ein deutlicher Ausdruck dafür, dass der
Protest gegen Stuttgart 21 auch in der Stadtpolitik Nie-
derschlag gefunden hat. Aber jetzt müssen Sie die nöti-
gen Schritte gehen, um aus dem Projekt auszusteigen.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26587
Sabine Leidig
(C)
(B)
Die Voraussetzungen sind gegeben. Die Kostengrenze
ist gekappt. In den Unterlagen zu der Volksabstimmung
steht explizit – die SPD hat es in ihren Werbematerialien
für den Weiterbau auch explizit so geschrieben –, dass
die Projektkosten in Höhe von 4,088 Milliarden Euro be-
stätigt sind, dass es keinerlei Zweifel an dieser Größe
gibt. Die Leute sind natürlich davon ausgegangen, dass
dies die Kosten für das Projekt sind. Ich halte es für un-
redlich, jetzt zu sagen: Alle haben sowieso gewusst, dass
es teurer wird. Deshalb können wir weiterbauen. Das Er-
gebnis der Volksabstimmung gilt, egal was kommt.
Damit vergraulen und verärgern Sie die Leute. Dies
führt auch zu einer Demokratie- und Politikverdrossen-
heit, die wirklich schädlich und gefährlich ist. Ich finde,
Sie müssten sich als Landesregierung ernsthaft damit be-
fassen, wie Sie den Ausstieg hinkriegen können. Herr
Kefer hat heute eine Brücke gebaut und gesagt, die Aus-
führungsverpflichtung der Bahn würde bestehen, aber er
würde – so habe ich es verstanden – davon Abstand neh-
men, wenn es eine Zusicherung der Projektpartner gäbe,
dass sie nicht klagen, wenn die Bahn nicht baut.
Jetzt liegt der Ball bei Ihnen.
Ich fordere Sie auf: Stehen Sie zu Ihrem Wort! Ma-
chen Sie diesem Spuk Stuttgart 21 endlich ein Ende.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat das Wort der Kollege
Thomas Jarzombek.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren!
Stuttgart erfindet sich neu. Wir erleben eine neue
Gründerzeit in dieser Stadt. Stuttgart 21 ist ein
großartiges Beispiel für eine nachhaltige Perspek-
tive mitten in der Wirtschaftskrise.
Die baden-württembergische Landeshauptstadt be-
kommt dadurch historische Impulse für ihre wirt-
schaftliche Entwicklung, für die Mobilität und die
Stadtentwicklung – das Projekt sucht in der Bun-
desrepublik seinesgleichen.
Diese Aussage ist richtig, aber sie kommt gar nicht
von mir, sondern sie ist von Bundesverkehrsminister
Tiefensee.
Dies konnte man im April 2009 in der Stuttgarter Zei-
tung nachlesen. Ich kann Ihnen sagen: Man darf nicht
immer nur das Haar in der Suppe suchen. Denn Stuttgart
bekommt eine tolle Chance, die Stadt zu verschönern.
Ich komme aus Düsseldorf. Wir haben in Düsseldorf
eine Straße am Rhein tiefer gelegt. Dies wurde sehr viel
teurer als veranschlagt, aber heute glauben alle, dass es
diese hohen Kosten wert war.
Die Vorteile von Stuttgart 21 liegen auf der Hand: Das
Umland wird viel besser angebunden. Flughafen und
Messe werden in einem Drittel der Zeit erreicht. Auch
im Hinblick auf die transeuropäischen Netze ist diese
Maßnahme sinnvoll.
Kommen wir zu den Kosten. Der Kollege Bartol hat
gesagt: Der Bundesverkehrsminister ist schuld.
– Da haben Sie hundertprozentig recht: Er ist nicht da,
und er ist schuld.
– Warten Sie einmal ab, bevor Sie applaudieren! Es
kommt das nächste Zitat: Das Gesamtprojekt sei vom
Bund „akribisch durchgerechnet“ worden, betonte der
Bundesverkehrsminister. Er habe „keinen Zweifel daran,
dass das Geld gut eingesetzt“ sei. Stuttgart 21 soll nach
aktuellen Berechnungen der Bahn 3,1 Milliarden Euro
und die ICE-Trasse Wendlingen–Ulm 2 Milliarden Euro
kosten. So Bundesverkehrsminister Tiefensee laut Stutt-
garter Nachrichten vom 29. Oktober 2008. – Die Frage
ist richtig: Wo ist Herr Tiefensee, warum ist er nicht
hier? – Sie sehen, man muss diese Diskussion mit Ehr-
lichkeit unterfüttern.
Ich hätte mir gewünscht, dass wir heute einmal über
die Frage reden, warum eigentlich sämtliche Projekte
immer teurer werden und was wir dagegen tun können.
Sie machen hier reines Finger-Pointing.
Das Finger-Pointing wäre sehr viel ehrlicher gewesen,
wenn nicht Ihre eigene Bundesregierung dieses Projekt
durchgepresst hätte und wenn nicht Ihre eigene Bundes-
regierung an allen Stellen immer erklärt hätte, dass diese
Zahlen so hundertprozentig korrekt sind.
26588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Thomas Jarzombek
(C)
(B)
Die Grünen haben vorhin gefordert, es müsse eine un-
abhängige Prüfung geben. Wir haben heute Morgen ge-
hört, dass es McKinsey gewesen ist.
Es gab sogar einen Volksentscheid. Das Ergebnis ist be-
kannt.
Die Kosten für den Bund sind fix;
was das Land angeht, weiß ich es nicht. Es gibt Abge-
ordnete, die der Meinung sind, jetzt müsste das Land Ba-
den-Württemberg eigentlich auch noch einmal in die Ta-
sche greifen. Ich zitiere, was der Kollege Beckmeyer im
Plenum des Deutschen Bundestages gesagt hat:
Herr Fricke, Sie sind einer, der bei Ausgaben immer
auf die Bremse drückt. Vielleicht erinnern Sie Ihre
Kollegen im Landtag einmal daran – schließlich be-
teiligen sie sich an Stuttgart 21 –, bei dieser Ange-
legenheit ein wenig mehr Bereitschaft zu zeigen,
um so auch das Landesinteresse zum Ausdruck zu
bringen.
Insofern können Sie gleich einmal erklären, wie hoch
der Anteil des Landes Baden-Württemberg ist.
Zum Flughafen gibt es nicht viel mehr, was man da
noch sagen kann. Ich finde, es ist wirklich traurig. Als
wir mit einer Delegation – Kollege Hofreiter war dabei –
in Malaysia und Singapur unterwegs waren und dort für
deutsche Industriepartner, die Infrastrukturprojekte reali-
sieren, geworben haben, wurde uns vorgehalten: Ihr
könnt doch noch nicht einmal einen Flughafen richtig
bauen. – Dieser Schaden ist noch viel größer als das
Geld, das im märkischen Sand versickert ist – ich kann
Ihnen die Zitate nennen –: von 1,7 Milliarden Euro – das
hat Klaus Wowereit 2004 erklärt – über 2,8 Milliarden
Euro zu 4,5 Milliarden Euro, und wir sind noch immer
nicht am Ende dieser Kostenentwicklung.
Was die Leute wirklich fuchst, ist, dass es niemanden
gibt, der dafür verantwortlich ist, dass der Flughafen
nicht nur teuer, sondern auch schlecht ist. Sie erinnern
sich an die Sitzung des Verkehrsausschusses, in der Pro-
fessor Schwarz da gewesen ist. Da stünde eine Rück-
trittskaskade an – die aber nicht stattfinden darf, weil die
Länder Berlin und Brandenburg keine Beamten, sondern
ihre gewählten Spitzenvertreter in den Aufsichtsrat ge-
schickt haben. Würde Wowereit da zurücktreten – so ist
doch ihre Sorge –, müsste er auch als Bürgermeister zu-
rücktreten. Deshalb darf er nicht zurücktreten. Auch Pro-
fessor Schwarz darf nicht zurücktreten; denn sonst
müsste auch der Aufsichtsratsvorsitzende zurücktreten.
Auf meine Frage an Professor Schwarz, warum er denn
nicht zurücktritt, hat er uns – Sie waren dabei – allen
Ernstes erklärt, er sei ja gar nicht der Chef des Flugha-
fens, sondern nur der Sprecher der Geschäftsführung
und er trage überhaupt keine Verantwortung für diesen
Bau. – Da fällt mir nichts mehr ein. Wenn es niemanden
gibt, der für so etwas die Verantwortung übernehmen
will, dann dürfen Sie sich nicht wundern, wenn Sie dafür
bei Ihren beiden Landtagswahlen die Quittung bekom-
men werden.
Vielen Dank.
Mechthild Rawert hat jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Sie wollten mit der Wahrheit anfangen. Ich selber
war, obwohl ich keine Verkehrspolitikerin bin, bei dem
Besuch auf dem Flughafen dabei. Ich kann Ihnen sagen:
So stimmt Ihre Aussage nicht. Mit anderen Worten: Sie
war wahrheitswidrig.
Am Mittwoch dieser Woche habe ich den Berliner
Tagesspiegel aufgeschlagen und war überrascht: Da
standen Details aus der letzten Sitzung der von Herrn
Ramsauer eingerichteten Soko BER. Zitiert wurde aus
dem Protokoll der Sitzung vom 6. Dezember. Wie kann
es sein, dass dem Tagesspiegel ein Protokoll vorliegt,
das noch nicht einmal den Gesellschaftern der Flugha-
fengesellschaft vorliegt, obwohl der Chef der Berliner
Senatskanzlei und auch der Chef der Brandenburgischen
Staatskanzlei ausdrücklich um diese Protokolle gebeten
hatten? Warum hat Herr Ramsauer eine Soko zum BER,
nicht aber zur neuen BND-Zentrale eingerichtet, obwohl
der Kostenanstieg hier viel markanter ist?
Warum hat Herr Ramsauer keine Sonderkommission zu
Stuttgart 21 eingerichtet? Warum hat Herr Ramsauer
keine Sonderkommission zum neuen Regierungsflugha-
fen eingerichtet, dessen Inbetriebnahme sich noch viel
länger, nämlich bis 2016/2017, verzögert? Das ist heute
sicher.
Könnte es nicht sein, dass der Bund mit Herrn
Ramsauer an der Spitze mit der Soko zum BER von ei-
genen Problemen ablenken will und Nebelkerzen zün-
det? Könnte es nicht sein, dass es nicht um die Sache,
sondern um die Wahlkämpfe in Bayern und im Bund
geht?
Woraus bezieht die Soko eigentlich ihre Legitimation,
Vernehmungen vorzunehmen, wie es in der Presse heißt?
Welche Legitimation hat Herr Ramsauer, bei Eröffnun-
gen anwesend zu sein, nicht aber hier, wo es heute da-
rauf ankommt?
Herr Ramsauer verhält sich hier nicht wie ein verant-
wortlicher Gesellschafter der Flughafengesellschaft.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26589
Mechthild Rawert
(C)
(B)
Zur Erinnerung: 26 Prozent gehören dem Bund. Nein,
er zielt darauf ab, seine Mitgesellschafter Berlin und
Brandenburg aus politischen Motiven zu schädigen.
Das erweckt fast den Eindruck, dass es nicht das Ziel
von Herrn Ramsauer ist, den Hauptstadtflughafen BER
so bald wie möglich an den Start zu bringen.
Bedauert er es? Ist es das Interesse des Bundes, dass der
Flughafen in den Negativschlagzeilen bleibt?
Herr Ramsauer, wenn Sie zu Ihrer Verantwortung als
Gesellschafter stehen würden, dann würden Sie ihre
Energien in die Finanzierung des Flughafens stecken.
Während Berlin und Brandenburg zügig gehandelt und
Mittel nachgeschossen haben, eiert der Bund herum.
Auch in der Sitzung des Haushaltsausschusses vom
Mittwoch wurden mit der Bewilligung von 85 Millionen
Euro nicht die gesamten erforderlichen Mittel freigege-
ben, sondern nur ein Teilbetrag.
Sehenden Auges nimmt man damit in Kauf, dass sich
nicht nur die Firmen fragen, ob der Bund überhaupt zu
dem Projekt steht. Während die beiden Länder an einem
Erfolg des wichtigsten Infrastrukturprojektes in Ost-
deutschland interessiert sind, schickt das Bundesver-
kehrsministerium lieber vertrauliche Informationen an
Tagesspiegel, Bild und Co.
Kolleginnen und Kollegen von der Union, ich frage
mich wirklich: Was ist eigentlich bei Ihnen los? In Berlin
stimmt die CDU dafür, hier stimmen Sie dagegen. Frau
Vogelsang wird ihre Äußerungen sicherlich noch wie-
derholen. Daher verzichte ich aus Zeitgründen darauf,
sie jetzt hier anzusprechen. Warum fallen Sie ihren eige-
nen Parteifreunden im Berliner Senat in den Rücken?
Um das Chaos perfekt zu machen: Die Brandenburger
CDU will jetzt sogar noch Sperenberg als Flughafen aus-
bauen. Ein aufgeschreckter Hühnerhaufen ist gar nichts
dagegen.
Die CDU in Brandenburg hat dann noch den Vogel
abgeschossen. Sie hat ein Gutachten bestellt, bei dem he-
rauskam, dass der Flughafen BER viel zu klein ist. Dum-
merweise hat der gleiche Gutachter früher behauptet, der
Flughafen sei viel zu groß und überdimensioniert.
Noch ein paar klärende Worte zu den Mehrkosten:
Die Flughafengesellschaft braucht zur Fertigstellung
des Flughafens inklusive der Umsetzung des erweiterten
Lärmschutzes – das ist uns ein sehr wichtiges Anliegen –
nach jetzigem Stand weitere Finanzmittel in Höhe von
1,2 Milliarden Euro. So weit richtig.
Es gab verschiedenste Nachbauten auf dem Flugha-
fen. Die Planungen des Flughafens mussten angepasst
werden. Hier seien nur die Terminals, die zusätzlichen
Piers, Doppelstockbrücken und die Drehkreuzfunktion
erwähnt.
Wichtig – ich habe es schon erwähnt – sind die
305 Millionen Euro für den zusätzlichen Lärmschutz,
die unabhängig von der Verschiebung gezahlt werden
müssen, um den höheren Anforderungen gerecht zu wer-
den. Diese Anforderungen haben sich aus dem Gerichts-
urteil vom Juni dieses Jahres ergeben.
Im Ergebnis wird der Lärmschutz am neuen Flughafen
weit besser sein als an irgendeinem anderen großen deut-
schen Airport. Wer so tut, als sei der Lärmschutz infrage
gestellt, agiert bewusst fahrlässig. Niemand stellt ihn in-
frage.
Zum Schluss. Richtig ist, dass wir künftig Großpro-
jekte besser planen, umsetzen und auch kommunizieren
müssen. Wir müssen Antworten auf folgende Fragen ge-
ben: Wie können wir es schaffen, Zeit- und Kostenrah-
men einzuhalten? Wie können wir es erreichen, dass
Baufirmen keine unrealistischen Bewerbungen einrei-
chen oder horrende Nachforderungen stellen? Wie kön-
nen wir es schaffen, dass unsere Bürgerinnen und Bürger
stärker in die Entscheidungsprozesse eingebunden wer-
den?
Will Deutschland seinen Status als führende Wirt-
schaftsnation behalten –
Frau Kollegin.
– der letzte Satz –, müssen Großprojekte allerdings
auch künftig möglich sein;
denn wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten
wollen keinen Abschied vom Fortschritt.
26590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
(C)
(B)
Frau Kollegin.
Ich wünsche Ihnen nichtdestotrotz eine rege Anwe-
senheit auf der Regierungsbank und auch hier im Parla-
ment,
ein frohes Weihnachtsfest und einen guten Rutsch! Rut-
schen Sie nur da, wo Sie es selber wollen. Sorgen Sie
nicht dafür, dass andere an falscher Stelle ausrutschen,
liebe Union.
Für die FDP-Fraktion hat der Kollege Werner
Simmling das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Meine Damen und
Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich habe es so
befürchtet, dass diese Debatte wieder voller Spekulatio-
nen ist und nichts zur Wahrheitsfindung beiträgt. Des-
halb ist es meine Meinung, dass diese Debatte viel zu
früh stattfindet, da zahlreiche offene Fragen und Zusam-
menhänge erst einmal geklärt werden sollten. Seit kur-
zem liegen uns Zahlen vor. Hier müssen wir einfach ein-
mal die Zusammenhänge erläutern.
Wir brauchen mehr Transparenz. Auch wir sind über
die Kostensteigerung von 4,5 Milliarden Euro auf
5,6 Milliarden Euro sehr besorgt. 1,1 Milliarden Euro
zusätzliche Kosten beim Bahnhofsprojekt Stuttgart 21
sind immens. Darüber hinaus können noch durch externe
Einflussfaktoren zusätzliche Risiken in einer Höhe von
1,2 Milliarden Euro entstehen. Die Aussage Mehdorns:
„Stuttgart 21 ist das bestgeplante und am besten berech-
nete Projekt der Deutschen Bahn“ gilt spätestens seit
dem 12. Dezember dieses Jahres nicht mehr. Sie hinter-
lässt einen bitteren Nachgeschmack.
Kostensteigerungen sind inzwischen bei großen Infra-
strukturprojekten leider durchaus üblich, aber in dieser
Größenordnung ungewöhnlich. Das ist – das wurde
schon ausgeführt – ein hoher Reputationsschaden für die
Deutsche Bahn, aber auch für den Wirtschaftsstandort
Deutschland.
Leider sind sie kein Einzelfall, wie mein Kollege Oliver
Luksic bereits anführte,
da der Berliner Flughafen in der Verantwortung der SPD
bereits ein Milliardengrab produziert hat. Durch diese
vorgezogene Debatte zu Stuttgart 21 könnte man fast
vermuten, dass heute hier der Versuch unternommen
wird, das Wowereit’sche Finanzdebakel um den Berliner
Flughafen aus dem Schussfeld zu ziehen. Aber das nur
am Rande.
Unstrittig ist, dass man jetzt nach den Fehlern bei der
Kalkulation und Planung von Stuttgart 21 nach mehr
Transparenz fragen muss. Eine gewisse Erklärung – das
wurde uns heute Morgen in der Ausschusssitzung so ge-
sagt – ist, dass wir uns heute in vielen Bereichen schon
in der Ablauf- und nicht mehr in der Entwurfsplanung
befinden und damit ein realistischeres Kostenbild haben.
Aber genau das müssen wir nun untersuchen.
Gegenwärtig lässt sich nur feststellen, dass die Deut-
sche Bahn angekündigt hat, dass sie sich ihrer Verant-
wortung bewusst sei, die von ihr zu vertretenden Mehr-
kosten in Höhe von 1,1 Milliarden Euro zu übernehmen.
Aber dabei ist auch noch der Aufsichtsrat im Spiel, der
darüber im Januar entscheiden muss; denn die Wirt-
schaftlichkeit des Projekts hat sich drastisch verringert.
Wir sollten daher das Ergebnis der nächsten Sitzung des
Aufsichtsrats einmal abwarten und dann erst in die kon-
struktive Diskussion einsteigen.
Der erste Schritt kann doch nur sein: Alle Beteiligten
müssen an einen Tisch und alle Fakten und offenen Fra-
gen zur Finanzierung und Kostenverteilung diskutieren.
Aber der wieder öffentlich hochkochende Streit über die
Kostenverteilung zwischen der Bahn, der Landesregie-
rung Baden-Württemberg, der Stadt und der Region
Stuttgart ist im Zuge dessen schon jetzt kontraproduktiv
und entzieht sich der objektiven Diskussion.
An dieser Stelle möchte ich ganz deutlich machen,
dass für uns Liberale eindeutig das Verursacherprinzip
gilt. Es muss doch klar sein, dass die Mehrkosten, die
aus der Schlichtung oder infolge des Filder-Dialogs,
durch den veränderten Flughafenbahnhof und weitere
Verzögerungen entstanden sind, nicht allein der Bahn
aufgebürdet werden können.
Auch muss eine juristische Auseinandersetzung ver-
mieden werden, um dieses zentrale Infrastrukturvorha-
ben, welches eine große Bedeutung nicht nur für Baden-
Württemberg, sondern für Deutschland und Europa hat,
erfolgreich zu realisieren.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, selbstver-
ständlich formieren sich nach der Nennung der Fakten
jetzt die Gegner des Projekts, und wie auf Stichwort
werden wieder die Rufe nach einem Ausstieg aus dem
Projekt laut.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26591
Werner Simmling
(C)
(B)
Sie, sehr geehrte Damen und Herren von den Grünen,
forcieren diese hastige und unsachliche Debatte. Verges-
sen Sie aber bitte nicht, dass Sie in Stuttgart einen Koali-
tionspartner haben, der Ihren Aktionismus ganz anders
sieht. Er steht zu Stuttgart 21 und schließt eine Beteili-
gung an den Mehrkosten inzwischen nicht mehr aus.
Das ist seriös und verhindert verkehrspolitischen Un-
sinn. Denn ohne Stuttgart 21 macht auch die Schnell-
bahnstrecke Wendlingen–Ulm keinen Sinn. Wir dürfen
die europäischen Verkehre nicht ausbremsen. In Frank-
reich fährt der TGV mit 300 km/h und bei uns auf dem
Weg von Paris nach Wien mit 70 km/h auf der Geislin-
ger Steige. Dieser Blamage sollten wir uns nicht ausset-
zen. Also überlegen Sie sich alles noch einmal!
Ich wünsche Ihnen friedvolle Weihnachten und ein
gutes neues Jahr.
Vielen Dank.
Der Kollege Dr. Anton Hofreiter hat jetzt das Wort für
Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und
Kollegen! Vom Kollegen Wichtel ist angemerkt worden,
dass die Aktuelle Stunde umsonst sei, weil nur geredet
wird und am Ende dann wieder nichts passiert. Ja, das ist
zu befürchten. Allerdings ist das das zentrale Problem.
Denn warum behandelt der Bundestag diese Probleme?
Wer ist denn beteiligt?
Am Berliner Flughafen ist der Bund mit 26 Prozent
beteiligt. An der Bahn ist er mit 100 Prozent beteiligt.
Bei beiden gibt es extreme Kostensteigerungen: beim
Berliner Flughafen mindestens 1,2 Milliarden Euro. Bei
Stuttgart 21 wurden 1,1 Milliarden Euro eingestanden;
dazu kommen weitere 1,2 Milliarden Euro, für die die
Schuld irgendwohin abgeschoben wird. Also sind wir
bei 2,3 Milliarden Euro. Letztendlich wissen alle Pro-
jektbeteiligten, dass zumindest bei Stuttgart 21 das Ende
der Fahnenstange bei weitem noch nicht erreicht ist, son-
dern dass wir mit weitaus höheren Kostensteigerungen
zu rechnen haben.
Das heißt, es sind in zwei Fällen Gesellschaften des
Bundes – einmal ein Minderheitsgesellschafter, einmal
als Alleineigentümer – ganz extrem betroffen. Wo, wenn
nicht hier, in der zentralen Vertretung des Bundes, im
Parlament, sollten wir über solch massive Kostensteige-
rungen für den Steuerzahler reden? Wo, wenn nicht hier?
Dass nichts passieren wird, ist genau das Problem.
Das Ministerium müsste nämlich eingreifen. Bei Stutt-
gart 21, wo wir Alleineigentümer sind, müsste es ganz
massiv eingreifen. Denn seien wir ehrlich: Es gibt im
Grunde niemanden, der sich mit diesem Projekt ernsthaft
beschäftigt hat und nicht wusste, dass das Projekt ver-
kehrspolitisch sinnlos ist und nie und nimmer zu diesem
Preis zu bauen ist.
Wie ist das Projekt zustande gekommen? Die Landes-
regierung in Baden-Württemberg, damals Oettinger,
wollte unbedingt ein Prestigeprojekt, weil er das toll
fand. Herr Mehdorn wollte unbedingt die Bahn privati-
siert haben. Dann haben die beiden einen Deal geschlos-
sen: Dafür, dass die Südwest-CDU sowohl im Deutschen
Bundestag als auch im Bundesrat die Stimmen für die
Bahnprivatisierung besorgt, kriegen sie Stuttgart 21, ob-
wohl auch Herrn Mehdorn und die Bahnspitze wussten,
dass das Projekt sinnlos ist.
Die Bahnprivatisierung ist zum Glück verhindert
worden. Stuttgart 21 ist uns an der Backe geblieben und
wird noch weitaus teurer.
Gehen wir nur von den 1,1 Milliarden Euro Zusatz-
kosten aus, die angeblich die Bahn zu tragen bereit ist.
Über zehn Jahre verteilt bedeutet das, wenn wir von op-
timistischen Baukosten ausgehen, 100 Millionen Euro
Eigenmittel jährlich. Jeder sollte einmal in seinem Wahl-
kreis nachschauen, wie viele Bahnprojekte nicht reali-
siert werden können, weil die Bahn zum Beispiel sagt:
„Der Bahnhof kann nicht saniert werden“, oder: „Das
Überholgleis kann nicht hergerichtet werden.“ Dabei
geht es um Summen von 100 000, 500 000, 1 Million
oder 2 Millionen Euro. Aber bei Stuttgart 21 wird so ge-
tan, als ob 100 Millionen Euro Eigenmittel – das ist noch
der optimistischste Fall für die Bahn – kein Geld wären.
Das ist im Grunde ein Skandal.
Schauen wir uns das zweite wunderbare Projekt an,
den Berliner Flughafen. In den Aufsichtsratsunterlagen
vom 20. März, die der Ausschuss nach großen Mühen
endlich bekommen hat, steht wörtlich: Der AN – was
auch immer das ist – hat die „Grobmontagen“ bei der
Entrauchungsanlage durchgeführt, aber die „Feinjustie-
rung “ fehlt noch. – Wer bitte, der eini-
germaßen des Lesens mächtig ist, wagt ernsthaft zu be-
haupten, dass eine Inbetriebnahme zum 3. Juni möglich
ist, wenn in den Aufsichtsratsunterlagen vom 20. März
steht, dass die Entrauchungsanlage nicht verkabelt ist?
Wie viele Entrauchungsanlagen und wie viele technische
Geräte kennen Sie, die ohne Verkabelung funktionieren?
Nun zu Herrn Wowereit. Herr Wowereit ist regelmä-
ßig in den zuständigen Ausschuss, den Ausschuss für
Verkehr, Bau und Stadtentwicklung, eingeladen worden.
Herr Wowereit hat freiwillig den Posten des Aufsichts-
26592 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Dr. Anton Hofreiter
(C)
(B)
ratsvorsitzenden übernommen. Damit ist er verantwort-
lich gegenüber allen drei Gesellschaftern und nicht nur
gegenüber dem Land Berlin. Es ist offensichtlich, dass er
sich nicht traut oder – simpel ausgedrückt – zu feige ist,
sich den Fragen des Fachausschusses zu stellen und dar-
zulegen, wie er seine Katastrophenbaustelle in den Griff
kriegen will. Das ist ein weiterer Skandal.
Wenn man sich das Ganze anschaut, kann man letzt-
endlich nur eines daraus schlussfolgern: Es ist dringend
notwendig, dass Verkehrsprojekte nicht aus ideologi-
schen Gründen oder deshalb, weil man ein Prestigepro-
jekt haben will, realisiert werden. Vielmehr sollten Infra-
strukturprojekte umgesetzt werden, um ein Problem zu
lösen. Die Infrastruktur sollte dem Problem angemessen
errichtet werden. Die Kosten müssen von Anfang an
transparent sein, und die Planung muss vernünftig sein.
Nach der Planungsphase muss man einen Schlussstrich
ziehen und sagen: So ist die Planung – sie darf sich nicht
jedes halbe Jahr ändern –, und so wird es gebaut.
Fakt ist aber: Man erfindet Großprojekte, nicht um
Verkehrsprobleme zu lösen. Die Kosten werden kleinge-
rechnet. Wenn dann der Bau begonnen hat und es schon
zu spät ist, rückt man mit den tatsächlichen Kosten he-
raus. Das trifft auf beide hier zur Diskussion stehende
Projekte zu. Es ist an der Zeit, dass wir von einer groß-
projektfixierten Verkehrspolitik hin zu einer vernunftge-
leiteten Verkehrspolitik kommen.
Vielen Dank.
Dr. Stefan Kaufmann hat nun das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! In der letzten Sitzung vor
Weihnachten haben wir ein vorweihnachtliches Märchen
vom Kollegen Hofreiter zur Historie von Stuttgart 21 ge-
hört. Die Deutsche Bahn hatte heute leider kein Weih-
nachtsgeschenk für uns parat, eher eine schöne Besche-
rung. Der Streit über das Bahnprojekt Stuttgart 21
begleitet uns seit Jahren. Auch eine Volksabstimmung,
die in Stadt und Land eine klare Zustimmung der Bevöl-
kerung zu Stuttgart 21 ergab, hat zu keiner wirklichen
Befriedung der Situation in Stuttgart geführt. Im Ergeb-
nis stehen sich Befürworter und Gegner noch immer
kaum versöhnlich gegenüber. Die Deutsche Bahn ist lei-
der nicht ganz unschuldig an diesem Zustand.
Ich möchte vorausschickend festhalten, dass ich das
Projekt Stuttgart 21 zur Neuordnung des Bahnknotens
Stuttgart nach wie vor für sinnvoll halte. Kollege
Jarzombek hat bereits einiges zu den großen Chancen
gesagt.
Die Unionsfraktion nimmt darüber hinaus positiv zur
Kenntnis, dass der Vorstand der Deutschen Bahn am
Projekt festhalten möchte. Zudem ist das Projekt trotz
höherer Kosten aus Sicht der Deutschen Bahn nach wie
vor wirtschaftlich, jedenfalls dann, wenn man die Kosten
eines Projektausstiegs hinzu- bzw. dagegenrechnet.
Einzuräumen ist allerdings, dass es sich bei Stutt-
gart 21 offensichtlich nicht – das hat der Kollege
Simmling schon gesagt – um das am besten durchge-
rechnete Projekt der Bahngeschichte handelt. Dies gibt
die Bahn ja auch selbstkritisch zu.
An dieser Stelle sei aber noch einmal erwähnt, dass die
höheren und zum Teil auch kaum planbaren Kosten die-
ses Projekts insbesondere aus den Risiken resultieren, die
im Zusammenhang mit dem zu bauenden umfangreichen
Tunnelsystem stehen. Dieses Tunnelsystem ist Folge der
Grundsatzentscheidung im Jahr 1994, den Citybahnhof
sowie den Flughafen Stuttgart an die ICE-Trasse anzubin-
den. Nur am Rande sei erwähnt, dass auch die maßgebli-
chen Alternativkonzepte, namentlich K 21, Frau Leidig,
an dieser Grundsatzentscheidung festhalten und eine
Flughafenanbindung mit entsprechenden Tunnelbauten
vorsehen. Auch das muss deutlich gesagt werden.
Die entscheidende Frage in den nächsten Wochen
wird nun sein, wie die erhöhten Kosten den Projektpart-
nern zugerechnet werden können. Sicherlich muss hier,
wie es die Bahn auch tut, zwischen den Planungsver-
säumnissen der Bahn und den Kosten, die aus der
Schlichtung oder Verzögerung des Projektes entstanden
sind, differenziert werden. Auch die Risiken, die aus
dem sogenannten Filder-Dialog über den Flughafen-
bahnhof resultieren und zu einer Qualitätsverbesserung
des Projekts führen sollen, sind separat zwischen den
Projektpartnern zu diskutieren.
Lassen Sie mich mit drei Forderungen schließen, die
aus meiner Sicht für die Fortführung des Projekts ganz
entscheidend sind:
Erstens. Es muss zukünftig absolute Transparenz bei
der Finanzierung und Durchführung dieses Projekts
herrschen. Insofern sind wir dem Bahnvorstand und ins-
besondere Dr. Volker Kefer dankbar, dass er das von ihm
eingeleitete Sechs-Punkte-Programm zur Kostenent-
wicklung umgehend an die verantwortlichen Gremien
weitergeleitet hat.
Zweitens. Der Beitrag des Bundes zur Projektbe-
schleunigung sollte eine personelle Stärkung des Eisen-
bahn-Bundesamtes sein. Auch dort ist ein Teil der Ver-
antwortung für die Verzögerung des Projekts zu suchen.
Drittens. Das Projekt Stuttgart 21 muss nach den er-
forderlichen Diskussionen der nächsten Wochen und ins-
besondere auch der Zustimmung des Aufsichtsrats der
Bahn zügig umgesetzt werden. Hierbei ist vor allem an
die Projektförderungspflicht der Projektpartner zu erin-
nern. Ohne eine engagierte Kooperation der Projektpart-
ner kann das Projekt weder zügig noch kostenoptimiert
realisiert werden.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26593
Dr. Stefan Kaufmann
(C)
(B)
Bisher tut insbesondere die grün-rote Landesregie-
rung von Baden-Württemberg zu wenig, um die enor-
men finanziellen Risiken und Herausforderungen dieses
Projekts konstruktiv zu begleiten. Wer wie die Landesre-
gierung – und hoffentlich nicht bald auch noch der neue
Stuttgarter OB, Herr Kuhn – den Bau aus parteitakti-
schen Gründen immer wieder verzögert und seine
Freude über jede schlechte Nachricht bei Stuttgart 21
presseöffentlich kaum verbergen kann wie Landesver-
kehrsminister Hermann, der ist beileibe nicht unschuldig
an der heutigen Situation.
Die Projektpartner sind in der Pflicht und können sich
nicht einfach davonstehlen, Frau Bender.
Am Ende wird das Projekt nur erfolgreich sein, wenn
es von allen gemeinsam getragen wird. Dies war im Üb-
rigen auch der Geist des Finanzierungsvertrages aus dem
Jahr 2009. Das Projekt darf jedenfalls nicht weiter bloß
ein Spielball politischer Interessen und wechselnder
politischer Mehrheiten sein. Anderenfalls steht die Zu-
kunft großer, planungsintensiver Infrastrukturprojekte in
Deutschland insgesamt auf dem Spiel. Dies sollten wir
immer im Hinterkopf behalten, gerade bei unseren Dis-
kussionen hier im Bundestag.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und allen eine
erholsame und frohe Weihnachtszeit.
Jetzt hat Ute Kumpf für die SPD-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Meine lieben Kolleginnen und Kol-
legen! Es ist tatsächlich eine schöne Bescherung, die
wir heute haben – es sind, glaube ich, alle Stuttgarter
Abgeordneten anwesend, mit Ausnahme des Kollegen
Maurer –:
Wir haben zum Jahresende die Quittung von der Bahn
präsentiert bekommen und sehen nun, was Stuttgart 21
kostet. Kollege Hofreiter spricht immer von einem Lieb-
lingsprojekt, wenn wir im Verkehrsausschuss darüber
debattieren. Die Bahn hat es uns schon schwer gemacht,
gerade den Befürwortern von Stuttgart 21; denn ange-
sichts dieser Kostenrechnung, die jetzt offengelegt wird,
kommen wir doch ins Grübeln. Auch die Projektpartner
vor Ort verstehen diese Rechnung nicht ganz. Ich als Be-
fürworterin ärgere mich natürlich saumäßig darüber
– entschuldigen Sie diesen Ausdruck –, dass die Gegner
von Stuttgart 21 dadurch Aufwind bekommen. Dadurch
wird die Stimmung in Stuttgart wieder ganz schön auf-
geheizt.
Das ist die Situation, die wir in Stuttgart haben. Der
designierte OB Kuhn – am 7. Januar tritt er sein Amt
an – wird damit zu kämpfen haben. Das finde ich sehr
schwierig. Es ist ziemlich problematisch, wenn wir uns
bei allen großen Projekten immer wieder gegenseitig die
Schuld zuschieben und mit dem Finger auf den anderen
zeigen; schließlich weisen gleichzeitig drei Finger zu-
rück auf einen selbst.
Herr Kefer hat in der Sondersitzung des Verkehrsaus-
schusses heute Morgen lapidar den Satz gesagt: Na ja,
bei großen Projekten ist das so.
Ich glaube, es ist nicht mehr zu vermitteln, dass man es
bei großen Projekten einfach so hinnimmt, dass sie teuer
werden können, dass man einfach vor sich hin plant,
nicht entsprechend Rücksicht nimmt, nicht mit allen in-
frage kommenden Partnern kommuniziert. Das können
wir uns in dieser Form nicht mehr leisten.
Lieber Kollege Hofreiter und andere, wenn ein Pro-
jekt ein Großprojekt ist, heißt das nicht unbedingt, dass
es prestigeträchtig ist. Wir brauchen komplexe Systeme.
Auch die Energiewende wird nur auf eine bestimmte Art
und Weise zu organisieren sein. Alles gleichzeitig
schlechtzureden, was als Großprojekt gilt, ist falsch.
Schlichtweg ein bisschen mehr Differenzierung tut
schon not,
um den Leuten das Ganze verständlich zu machen.
Äußerungen wie die von Herrn Kefer führen doch dazu,
dass die Leute für solche Projekte im Infrastrukturbe-
reich nicht gewonnen werden.
Wir brauchen aber die Leute vor Ort.
Alle – ihr auch – spüren das doch. Ihr werdet genauso
gefragt, wie ihr euch dazu positioniert habt. Die Grünen
dürfen sich jetzt keinen schlanken Fuß machen. Auch
die Grünen stehen in Baden-Württemberg in der Verant-
wortung. Es gab einen Volksentscheid zu Stuttgart 21.
26594 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012
Ute Kumpf
(C)
(B)
Dieser Volksentscheid ist positiv ausgegangen. Die Um-
setzung dieses Volksentscheids wird unter bestimmten
Prämissen durchgeführt.
Es gibt einen Kostendeckel. Jetzt geht es darum, der
neuen Situation Rechnung zu tragen.
Zur Bundesregierung – jetzt wird nicht getwittert oder
gelesen, Kollege Ferlemann und Kollege Mücke; aufge-
passt! –:
Es kann nicht sein, dass Sie gebetsmühlenartig immer
wieder sagen: Es ist ein eigenwirtschaftliches Projekt der
Bahn. Wir lassen uns da überhaupt nicht hineinziehen;
wir geben nur 563 Millionen Euro. – Der Bund gibt aber
nicht nur 563 Millionen Euro, sondern Mittel in Höhe
von insgesamt 1,229 Milliarden Euro zu diesem Projekt;
denn man muss auch die hinzukommenden Mittel ein-
rechnen. Genauso wie Sie zur Bewältigung der Pro-
bleme beim Flughafen BER eine Soko eingerichtet ha-
ben, sollten Sie sich Gedanken darüber machen, wie der
Kostenkonflikt im Zusammenhang mit Stuttgart 21 ge-
löst werden kann. Wir erwarten, dass Minister Ramsauer
hierbei Verantwortung übernimmt und zu diesem Projekt
steht.
Die Bahn beziffert die Verzögerungskosten mit
400 Millionen Euro. Beim Eisenbahn-Bundesamt arbei-
ten gerade einmal fünf Personen an dem Genehmigungs-
verfahren. Hürden wie diese müssen wirklich abgebaut
werden. Mit mehr Personal könnten die prognostizierten
Kosten verringert werden.
Am 16. Januar findet die nächste Sitzung des Ver-
kehrsausschusses statt. Herr Ramsauer, Herr Grube und
Herr Kefer werden die Frage beantworten müssen, wel-
che Kostenrisiken im Projekt Stuttgart 21 noch stecken,
zu welchem Zeitpunkt es tatsächlich unwirtschaftlich
und nicht mehr vertretbar wird und was ein Ausstieg für
die Bahn kostet. Es kursieren unterschiedliche Zahlen:
einmal 2 Milliarden Euro, einmal 3 Milliarden Euro.
Herr Ramsauer muss darauf Antworten geben, und er
kann sich nicht wieder davonmachen. Wenn er Richtung
Schweiz unterwegs ist, dann muss er vielleicht eine Zwi-
schenlandung in Stuttgart machen, um sich mit Herrn
Kretschmann darüber zu verständigen, wie der Konflikt
zwischen Bund, Land, Kommune und der Region gelöst
wird.
Wenn er dies nicht tut, dann kommt umso schneller
der Ruf: Die Kanzlerin soll es richten. – In der Heilbron-
ner Stimme stand heute: Weil der Ramsauer es nicht
bringt, soll die Kanzlerin es richten. – Ich glaube, das
kann er sich nicht erlauben und nicht auf sich sitzen las-
sen. Herr Ramsauer muss hier Rede und Antwort stehen.
Stefanie Vogelsang hat jetzt das Wort für die CDU/
CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen und
Herren! Lieber Herr Kollege Hofreiter, letzter Tagesord-
nungspunkt vor der Weihnachtspause ist eine Aktuelle
Stunde über ein Thema, für das wir Verantwortung haben.
Wir, der Deutsche Bundestag, haben das Budgetrecht,
und bei uns liegt die Budgetverantwortung. Darüber
haben wir in den unterschiedlichsten Ausschusssitzungen
– im Verkehrsausschuss, im Haushaltsausschuss – di-
verse Male diskutiert.
Die eigentliche Motivation dafür, dass Sie diese Ak-
tuelle Stunde beantragt haben, ist doch, zu skandalisie-
ren und vielleicht noch mit einem scheinbar großen Er-
folg in die Weihnachtspause zu gehen.
Ich persönlich glaube, dass wir uns mit solchen Dis-
kussionen überhaupt keinen Gefallen tun. Wie der eine
auf den anderen und der andere auf den einen zeigt, wol-
len die Bürgerinnen und Bürger gar nicht mehr sehen.
Qualifizierte Problemanalyse, qualifizierte Beschäfti-
gung mit Strukturschwächen und Fehlentscheidungen
kann man in einer Aktuellen Stunde jetzt und hier nicht
leisten.
Am Anfang dieser Woche war unser Thema die Ver-
leihung des Friedensnobelpreises an die Europäische
Union durch das Nobelpreiskomitee, bei der die Bundes-
kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland und der fran-
zösische Staatspräsident Hollande anwesend waren. Wir
haben in dieser Woche den Europäischen Rat mit inten-
siven Diskussionen vorbereitet. Wir haben uns mit der
Abwägung zwischen dem Recht auf freie Religionsaus-
übung auf der einen Seite und dem Recht auf körperliche
Unversehrtheit von Kleinkindern auf der anderen Seite
auseinandergesetzt. Wir haben heute eine Abstimmung
darüber gehabt, ob wir unserer Beistandspflicht im Rah-
men der NATO-Verpflichtung nachkommen und unsere
Patriot-Raketen in die Türkei entsenden.
Jetzt beschäftigen wir uns in einem Hin und Her mit
diesem Thema.
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 215. Sitzung. Berlin, Freitag, den 14. Dezember 2012 26595
Stefanie Vogelsang
(C)
(B)
Ich glaube, den Grundstock der Planungen hat der dama-
lige Verkehrsminister Stolpe in einer rot-grünen Bundes-
regierung gelegt.
Ein Kollege hat in seiner Rede gesagt: Das ist eine völlig
desaströse Verkehrsplanung gewesen. – Planung macht
man von Anfang an!
Ich glaube, dass es darauf ankommt, dass wir engma-
schig kontrollieren. Aus diesem Grund, Frau Kollegin
Rawert, hat der Haushaltsausschuss die Mittel gesperrt.
Wegen der engmaschigen Kontrolle hat der Haushalts-
ausschuss die Mittel nicht komplett freigegeben; aber er
hat auch nicht nur 84 Millionen Euro freigegeben, wie
Sie das fälschlicherweise dargestellt haben. Als wirklich
wesentlichen Beitrag zum Bau des Flughafens hat er die
Verpflichtungsermächtigung aus dem Nachtragshaus-
halt für 2012 in Höhe von 312 Millionen Euro freigege-
ben. Er hat genau die Mittel gesperrt gehalten – das ist
ein ganz wesentlicher Aspekt –, die man noch nicht für
tatsächliche Aufgaben und tatsächlich rechtsverbindli-
che Verpflichtungen in den nächsten Wochen braucht.
Ich persönlich empfinde es als ein Desaster, in wel-
cher Art und Weise die Flughafengesellschaft hier in
Berlin kommuniziert, in welcher Art und Weise mit uns
gesprochen wird, in welcher Art und Weise wir infor-
miert werden. Ich finde, es ist ein Desaster, wie da mit
Geldern umgegangen wird, wie das eine oder andere
hochgerechnet wird, wie wir am Mittwochmittag im
Haushaltsausschuss Informationen bekommen, die am
Mittwochabend schon wieder von gestern sind, wie man
auf einmal Rechnungen über 250 Millionen Euro in ir-
gendwelchen Waschkörben findet
und wie ein Geschäftsführer oder ein Sprecher der Ge-
schäftsführung, wie er sich nennt, seinen Aufsichtsrats-
vorsitzenden nicht informiert haben will. Ich glaube,
dass spätestens mit dieser Aktion auch wirklich jedem
hier im Hause hätte klar sein müssen, Frau Rawert, dass
Herr Schwarz seinen Stuhl räumen muss und dass eine
andere Person diese Aufgabe übernehmen muss, weil
wir noch ein bisschen Vertrauen in diesen Bereich haben
wollen.
Sowohl der Bund als auch Berlin – ich bin Berliner
Bundestagsabgeordnete – bekennen sich zu diesem
Flughafen. Wir wissen, wie wichtig diese Drehscheibe
Europas für die Hauptstadtregion ist. Deswegen werden
wir alles unternehmen, damit dieser Flughafen so schnell
wie möglich und so kostengünstig, wie das jetzt noch
möglich ist, fertiggebaut wird.
Ich habe Vertrauen in das Verkehrsministerium, das
sich noch einmal die Analysen anschaut, um herauszu-
finden, ob die unterschiedlichen Systeme von Siemens
und Bosch irgendwann einmal kompatibel gemacht wer-
den können oder ob wir da ein absolutes Desaster erle-
ben müssen. Ich bin gespannt!
Ich glaube, dass die Wochen Ende Dezember/Anfang
Januar noch die eine oder andere Erkenntnis bringen
werden. Ich glaube aber nicht, dass wir dem Flughafen
Berlin Brandenburg mit Blick auf die Realisierung, den
Steuerzahlerinnen und Steuerzahlern und damit uns allen
einen Gefallen tun, wenn wir nur hin und her zeigen.
Stattdessen sollten wir uns um die Dinge tatsächlich
kümmern und die Probleme lösen helfen.
Ich bin die letzte Rednerin
in dieser Debatte. Es ist die letzte Debatte vor der Weih-
nachtspause. Ich wünsche Ihnen allen gesegnete Weih-
nachten. Haben Sie ein bisschen Zeit, über das nachzu-
denken, was wir gemacht haben. Auf gute Entscheidungen
im nächsten Jahr!
Die Aussprache ist geschlossen.
Damit sind wir am Schluss der heutigen Tagesord-
nung.
Ich wünsche Ihnen eine gute weitere Adventszeit, ge-
segnete Weihnachten und einen fröhlichen Jahreswech-
sel.
Damit wir uns auf jeden Fall wiedersehen, berufe ich
die nächste Sitzung des Deutschen Bundestages auf
Mittwoch, den 16. Januar 2013, 11 Uhr, ein. Genießen
Sie die Zeit und die gewonnenen Einsichten. Alles Gute!
Die Sitzung ist geschlossen.