Gesamtes Protokol
Ich grüße Sie sehr herzlich. Schönen Nachmittag! Die
Sitzung ist eröffnet.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 1 auf:
Befragung der Bundesregierung
Die Bundesregierung hat als Thema der heutigen Ka-
binettssitzung mitgeteilt: Entwurf eines Siebten Geset-
zes zur Änderung des Filmförderungsgesetzes.
Das Wort für den einleitenden fünfminütigen Bericht
hat der Beauftragte der Bundesregierung für Kultur und
Medien, Herr Staatsminister Bernd Neumann. Bitte
schön, Herr Staatsminister Bernd Neumann.
B
Herr Präsident! Die Bundesregierung hat heute denEntwurf eines Siebten Gesetzes zur Änderung des Film-förderungsgesetzes beschlossen. Dieses Gesetz ist dieGrundlage der Filmförderung durch die Filmförderungs-anstalt, kurz FFA genannt, also das Kernstück der deut-schen Filmförderung. Die FFA finanziert sich durch dieErhebung einer Filmabgabe. Da die Erhebung der Film-abgabe nach dem derzeit geltenden Filmförderungsge-setz zum 31. Dezember 2013 ausläuft, wurde ein Ent-wurf für ein Siebtes Gesetz zur Änderung dieses FFGerarbeitet, in dem den technischen und wirtschaftlichenVeränderungen und Entwicklungen der letzten JahreRechnung getragen wird.Ohne unser umfangreiches Fördersystem hätten nurwenige deutsche Filme eine Chance, gegenüber der fi-nanzstarken Konkurrenz durch US-amerikanische Filmezu bestehen. Die Filmförderung auf Bundes- und Län-derebene ist daher unabdingbar, um die Struktur derdeutschen Filmwirtschaft zu verbessern und die Vielfaltder deutschen Filmlandschaft zu erhalten. Dass die Film-förderung erfolgreich ist, drückt sich darin aus, dassdeutsche Filme mittlerweile internationales Ansehen ge-nießen und weltweit einen guten Ruf haben. Daher kön-nen wir, wie ich denke, mit ein wenig Stolz auf unserelebendige Filmkultur blicken.Der Entwurf sieht folgende wesentliche Änderungenvor:Zum Schutz der einzelnen Verwertungsstufen, insbe-sondere um einen exklusiven Auswertungszeitraum fürdas Kino zu sichern, enthält das FFG Sperrfristen. Diesebestimmen, welcher Zeitraum nach der Erstaufführungeines Filmes im Kino verstreichen muss, bis mit derAuswertung in der nächsten Verwertungsstufe begonnenwerden kann. Um dem geänderten NutzerverhaltenRechnung zu tragen – hiermit ist die Entwicklung beiden Internetnutzern gemeint –, wird die Sperrfrist für Vi-deo-on-Demand-Angebote mit der Sperrfrist für dieDVD-Auswertung gleichgesetzt, das heißt, sie wird vonneun auf sechs Monate reduziert.Ein weiterer Punkt. Um der oft beklagten Filmflutund Zersplitterung der Förderung entgegenzuwirken,werden wichtige Veränderungen bei der Referenzfilm-förderung, zum Beispiel erhöhte Referenzschwelle fürbesonders teure Filme, und der Projektfilmförderung– Stichwort „Mindestförderquote“ – vorgenommen.Die Möglichkeiten der Teilhabe behinderter Men-schen – ein besonderer Wunsch des Deutschen Bundes-tages – an den geförderten Filmen werden verbessert.Zukünftig muss von allen durch die FFA geförderten Fil-men eine barrierefreie Filmfassung mit Audiodeskrip-tion für sehbehinderte Menschen und Untertiteln für hör-geschädigte Menschen hergestellt werden.Durch die Aufnahme der Digitalisierung des Film-erbes in den Aufgabenkatalog der FFA soll sichergestelltwerden, dass das nationale Filmerbe angesichts der zü-gig voranschreitenden Digitalisierung der Kinos weiter-hin wirtschaftlich ausgewertet und öffentlich zugänglichgemacht werden kann.Ein vorletzter Punkt. Darüber hinaus wird die Abgabeauf Video-on-Demand-Anbieter mit Sitz im Auslandausgedehnt, die sich durch Internetauftritte in deutscherSprache gezielt an deutsche Kunden richten. Derzeit be-steht ein deutlicher Wettbewerbsnachteil für Unterneh-men mit Sitz in Deutschland, die eine Abgabe leistenmüssen, gegenüber den Marktführern mit Sitz im Aus-
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land, die bisher keine Abgabe zahlen, obwohl auch siezahlreiche deutsche Kinofilme anbieten.Da der aktuell rasante technische Wandel insbeson-dere durch die Ausweitung von Video-on-Demand-An-geboten erhebliche Auswirkungen auf die Verwertungvon Kinofilmen hat, lassen sich langfristig die wirt-schaftlichen Bedingungen für die verschiedenen Zahler-gruppen derzeit nicht absehen. Die Erhebung der Film-abgabe soll daher diesmal nicht um fünf, sondern nur umzweieinhalb Jahre verlängert werden. Wir werden nachanderthalb Jahren eine Evaluierung vornehmen, umdann zweieinhalb Jahre nach Inkrafttreten dieser Rege-lung gegebenenfalls Korrekturen vornehmen zu können.So weit zu den Hauptintentionen des Entwurfes fürein neues FFG.
Vielen Dank, Herr Staatsminister Bernd Neumann. –
Wir kommen jetzt zu den Fragen, die zu dem Themenbe-
reich gestellt werden, über den gerade berichtet wurde.
Die erste Fragestellerin ist Frau Kollegin Claudia Roth.
Bitte schön, Frau Kollegin Claudia Roth.
Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
Danke, Herr Vorsitzender. – Herr Neumann, ich
möchte mich auf den Punkt „Erfolg des deutschen
Films“ beziehen und frage Sie, wie Sie die doch recht
heftige Kritik von Feuilletonisten einschätzen, die von
einer „Tendenz zum Konsenskino“ sprechen, weil bei
den großen Festivals in Cannes oder Venedig, wo ja
Filmkunst ausgezeichnet wird, deutsche Filme seit ge-
raumer Zeit faktisch gar nicht mehr vertreten sind. In § 1
des Filmförderungsgesetzes heißt es:
Die Filmförderungsanstalt fördert … die
Struktur der deutschen Filmwirtschaft und die krea-
tiv-künstlerische Qualität des deutschen Films als
Voraussetzung für seinen Erfolg im Inland und im
Ausland.
Was läuft da nicht so ganz gut? Liegt es an den Autoren,
liegt es an den Regisseuren, oder liegt es an der Förde-
rung?
Bitte schön, Herr Staatsminister.
B
Kollegin Claudia Roth, diese Frage unterstellt ja, dass
es mit den internationalen Erfolgen deutscher Filme
nicht so weit her ist. Einer solchen Feststellung – sie
mag hier und dort in Feuilletons anklingen, aber dort
klingt vieles an – widerspreche ich.
Erstens. Gerade in den letzten Jahren kann man eine
gegenläufige Tendenz feststellen; das ist auch ein Erfolg
der Förderung. Selbst bei den letzten Filmfestspielen
von Venedig – das fällt mir in diesem Zusammenhang
ein – gab es einen deutschen Film, einen Krimi. Bei fast
allen Festivals – es gibt ja noch mehr als die Filmfesti-
vals in Venedig oder in Cannes; es gibt viele internatio-
nale Festivals –, bei denen es um künstlerisch anspruchs-
volle Filme geht, zum Beispiel in San Sebastián, sind
auch deutsche Filme vertreten.
Zweitens. In den letzten Jahren sind auch vielfach
deutsche Filme bei Oscar-Nominierungen für den besten
ausländischen Film dabei gewesen. Sie wissen: Seit
Schlöndorffs Blechtrommel Anfang der 80er-Jahre gab
es 20 Jahre lang überhaupt keine Nominierung eines
deutschen Films. Es ist in den letzten Jahren aber nicht
nur gelungen, Nominierungen zu erhalten, unter die letz-
ten sechs zu kommen, sondern in zwei Fällen – ich
denke an Das Leben der anderen oder Nirgendwo in
Afrika – sogar den Oscar zu erringen.
Drittens. Alle Produzenten werden es bestätigen: In-
zwischen verkaufen sich deutsche Filme sehr gut. Das
war nicht immer so. Es ist aber auch der Sinn der wirt-
schaftlichen Filmförderung, sich international auszurich-
ten. Vor wenigen Tagen, ich glaube vorgestern, wurde
hier als Europapremiere der Film Der Wolkenatlas ge-
zeigt. Mit 100 Millionen Euro Produktionskosten han-
delt es sich um die teuerste deutsche Produktion, die es
jemals gegeben hat. Dieser Film finanziert sich allein da-
durch – unabhängig von den Zuschauereinnahmen hier
in Deutschland –, dass er international überall verkauft
werden konnte.
Ich finde, diese Entwicklung ist positiv. Ich finde des-
halb auch, dass die Förderung und sind die Veränderun-
gen, die wir vornehmen – noch stärkere Konzentration
und Bündelung in manchen Bereichen –, richtig ist. In-
sofern sehe ich der weiteren Entwicklung eher optimis-
tisch als kritisch entgegen.
Bitte schön. Eine Nachfrage, Frau Kollegin Roth.Claudia Roth (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Vielleicht können wir uns einmal damit auseinander-setzen, was die Feuilletonisten unter Konsenskino ver-stehen.Ich habe eine Frage – es wird Sie nicht wundern, dassich als Grüne sie stelle –: Es gibt mehr und mehr Initiati-ven, die sich für Green Cinema einsetzen, zum Beispielin Potsdam. Sie beschäftigen sich mit der Frage: Wiekann der Aspekt der Nachhaltigkeit in der Filmproduk-tion, bei der es zu vielen Emissionen und zu einem ho-hen Energieverbrauch kommt, besser berücksichtigtwerden? – Ist es für Sie denkbar, dass Sie und wir unsmit diesen Initiativen treffen? Könnte die Nachhaltigkeitder Filmproduktion Teil der Förderungskriterien wer-den?
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Ja.
Ich muss sagen: Diese Anregung ist bisher noch nicht di-
rekt an mich herangetragen worden; aber wenn Sie
gleichzeitig als Mittlerin auftreten würden, sollten wir
uns damit befassen und uns ernsthaft damit auseinander-
setzen.
Dazu sind solche Befragungen auch da. – Nächster
Fragesteller ist unser Kollege Wolfgang Börnsen.
Herr Staatsminister, wir begrüßen es, dass die Bun-
desregierung für die Regierungsbefragung ein kultur-
politisches Thema vorlegt. Ich glaube, das sollte man in
Zukunft häufiger tun, weil es gerade auf diesem Gebiet
eine deutliche Profilierung gegeben hat. Das gilt auch
für das Thema „Filmland Deutschland“. Ich greife das
auf, was meine Kollegen, gleich, auf welcher Seite des
Hauses, mitgeteilt haben, und stelle fest: Das Filmland
Deutschland findet gerade in den europäischen Nachbar-
staaten große Unterstützung.
Meine Fragen beziehen sich auf zwei von Ihnen ge-
nannte Punkte.
Erstens. Sie haben gesagt: Die Frage der Barrierefrei-
heit wird in das FFG neu eingebunden. Sie war schon
einmal Gegenstand einer Novellierung. Was ändert sich?
Nach unserer Auffassung müssen wir beim Film und
auch beim Kino gegenüber allen Menschen, gleich, mit
welcher Behinderung, eine viel größere Offenheit zei-
gen. Geschieht dies nur bei 1 Prozent der Produktionen,
so finde ich das unvertretbar.
Die zweite Frage. Sie haben darauf aufmerksam ge-
macht, dass Sie vorhaben, mit dem neuen FFG eine Ver-
besserung im Bereich des Kinderfilms zu erzielen.
Meine Fraktion hat gemeinsam mit der FDP gerade ein
Fachgespräch zu diesem Thema durchgeführt, unter dem
Titel „Der Kinderfilm in Deutschland – ein Mercedes
ohne Stern?“. Was wollen Sie tun, damit mehr authenti-
sche Themen, Themen der Kinderumwelt, in Kinderfil-
men eine Rolle spielen und weniger das verfilmte Mär-
chen?
B
Zur ersten Frage nach Barrierefreiheit: Auch bisher
haben wir schon an die Produzenten appelliert, mög-
lichst barrierefreie Filme herzustellen; aber es gab kei-
nen gesetzlichen Zwang, dies zu tun, wenn man Förde-
rung erhält. Mit dem neuen Entwurf verpflichten wir
jeden Produzenten, der öffentliche Förderung erhält
– unter uns: das sind die meisten –, dass er barrierefreie
Fassungen herstellt.
Das kann man nicht mehr umgehen; das ist endgültig
Tatsache.
Zu Ihrem zweiten Punkt: Kinderfilm. Natürlich konn-
ten Kinderfilme schon bisher im Rahmen der allgemei-
nen Förderung durch die FFA unterstützt werden; aber
dies war kein ausdrückliches Gebot. Wir bringen in das
neue FFG eine Vorschrift ein, nach der eine Projektfilm-
förderung expressis verbis auch bei Kinderfilmen erfol-
gen soll, die auf Originalstoffen beruhen. Hier haben wir
zwei Aspekte integriert. Zum einen wollen wir speziell
für Kinderfilme etwas tun – übrigens auch an anderer
Stelle, nämlich bei der Absatzförderung –; das war bisher
so ausdrücklich nicht formuliert. Zum Zweiten wollen
wir vermehrt Bezug auf Originalstoffe nehmen. Im Fern-
sehen, insbesondere bei den öffentlich-rechtlichen Fern-
sehsendern, werden zwar Kinderfilme gezeigt, aber es
werden kaum Kinderfilme mit neuen Stoffen produziert.
Wir brauchen Filme, die sich mit den Problemen aus-
einandersetzen, mit denen Kinder heutzutage konfron-
tiert sind. Es ist schön, wenn wir zum wiederholten Male
Das fliegende Klassenzimmer von Erich Kästner sehen
können – das muss auch sein, allein schon wegen des Er-
halts des kulturellen Filmerbes. Uns ist aber auch daran
gelegen, dass jüngere Drehbuchautoren eine Chance ha-
ben, gefördert zu werden, wenn sie entsprechende Kin-
derfilme mit neuen Stoffen produzieren. Das ist der Sinn
dieser Vorschrift.
Nächste Fragestellerin, unsere Kollegin Angelika
Krüger-Leißner. Bitte schön, Frau Kollegin.
Herr Staatsminister, Sie haben heute die Veränderun-gen, die mit der siebten Novelle zum Filmförderungs-gesetz kommen sollen, kurz erläutert. Ich würde Siegerne daran erinnern, dass Sie Ihre Pressemitteilungüberschrieben haben mit: „FFG-Novelle justiert Filmför-derungssystem neu“. Das hört sich gewaltig an, und ge-nau das haben viele in der Branche erwartet.Der Kern des Filmförderungsgesetzes ist ja das Abga-bensystem, und an diesem Abgabensystem hat sichnichts ändert. Die Verbände haben ihre Enttäuschungdarüber, nachdem sie den Entwurf gelesen haben, öffent-lich gemacht. Das ist in den Stellungnahmen nachzulesen.Erste Frage: Welche Überlegungen haben maßgeblichdazu geführt, dass Sie von einer Änderung Abstand ge-nommen haben? Zweite Frage: Spielt dabei vielleichtauch das noch ausstehende Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts zur Klage der Kinobetreiber eine Rolle?
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Ja, letzteres auch. Sollte es Kritik an dem jetzigen
Entwurf gegeben haben – ich konzentriere mich in der
Regel lieber auf das Lob –,
und würde sie darauf abzielen, dass nichts Substanzielles
geändert worden ist, kann ich nur feststellen, dass das
nicht zutrifft. Ich konnte das auch in einem Gespräch mit
den Verfassern der Stellungnahme, in der es um die Ver-
änderung der Abgaben geht, deutlich machen. Ich will
das hier nicht wiederholen, aber lassen Sie mich noch
einmal auf die Verpflichtung, für Barrierefreiheit zu sor-
gen, auf die Veränderung der Sperrfrist sowie die Verän-
derung bei der Förderung hinweisen. Dadurch wollen
wir – ich habe das bereits ausgeführt – die Filmflut redu-
zieren, die Mittel konzentrieren und mehr für den Absatz
tun. Nehmen Sie als weiteres Beispiel den mutigen Ver-
such gegenüber der EU, durchzusetzen, dass ausländi-
sche Video-on-Demand-Anbieter eine Abgabe entrich-
ten müssen. Das war übrigens eine zentrale Forderung
der vier Verbände. All die genannten Maßnahmen verän-
dern die Filmförderung in hohem Maße.
Zur Schlagzeile in der Presseerklärung: Die muss im-
mer etwas bombastisch sein, damit die Presseerklärung
gelesen wird. Das kennen Sie ja.
Der zweite Punkt betrifft die Abgabensituation. Die
vier Verbände, die sich zusammengesetzt haben – unter
anderem die Produzenten, die Kinobetreiber, die Video-
thekenbetreiber –, wollten eine Veränderung bei den
Zahlungen.
Sie haben gesagt: Wir wollen eine Veränderung der Ab-
gaben, wir selbst wollen weniger zahlen, dafür sollen
zum Beispiel die Telekommunikationsunternehmen, die
durch ihre Leitungen Filme durchleiten, etwas zahlen,
und auch die Fernsehanstalten sollen erhöhte Beiträge
leisten. Nun wäre es besonders intelligent gewesen,
wenn sich alle zusammengesetzt und ein Konsenspapier
erarbeitet hätten. Es zeigte sich nun aber, dass diejeni-
gen, die mehr zahlen sollten, nicht dazu bereit sind.
Das waren einmal die öffentlich-rechtlichen Fernseh-
anstalten. Sie zahlen die Beträge, die wir ihnen im Rah-
men der letzten Novellierung verordnet haben. Wir sind
im Übrigen froh darüber, dass dies vor Gericht Bestand
hatte, und würden dies ungern während eines laufenden
bzw. noch anhängigen Klageverfahrens verändern. Zu-
gleich muss ich akzeptieren, wenn die Fernsehanbieter
sagen: Es gibt keine Gebührenerhöhung für uns, wir
können das nicht abrechnen, und wir sind nur bereit, un-
seren gesetzlichen Mindestbeitrag zu leisten.
Die Forderung, dass die Telekommunikationsunter-
nehmen mehr zahlen, würde ich sehr gern unterstützen,
weil diese Filme durchleiten. Diese Forderungen sind je-
doch nicht EU-konform, weil die EU uns auf unsere
Nachfrage hin gesagt hat: Ihr könnt für die reine Durch-
leitung nicht Geld nehmen, zumal sie für die Bereitstel-
lung im Kabelnetz ohnehin Geld zahlen. Das war also
nicht möglich und hat dazu geführt, dass wir gesagt ha-
ben: Wir würden das gern verändern, aber im Moment
geht das nicht.
Hier bin ich im Einvernehmen mit den Beteiligten zu
einem Kompromiss gekommen. Dieser Kompromiss
sieht so aus, dass wir das Ganze nicht über fünf Jahre
hinweg laufen lassen, sondern, weil sich die wirtschaftli-
chen Bedingungen in dieser Zeit sehr schnell ändern, nur
einen Zeitraum von zweieinhalb Jahren vorsehen. Das
heißt, schon anderthalb Jahre nach Inkrafttreten des Ge-
setzes werden wir evaluieren, um einen Vorschlag zu
machen. Bei diesem Gespräch hatte ich den Eindruck,
dass die Branche dies akzeptiert hat.
Ich bitte um Nachsicht dafür, dass ich dies so ausführ-
lich erklärt habe, aber kürzer geht das nicht.
Sie wollten trotz der Ausführlichkeit der Ausführun-
gen von Herrn Staatsminister Neumann noch eine Nach-
frage stellen?
Genau. – Ihre Ausführungen haben zum Teil bestä-
tigt, dass wir an den Kern, also an das Abgabensystem,
nicht herangehen.
B
Frau Kollegin, hier gibt es ja auch keinen Zwang da-
hin gehend, dass wir das ändern müssen.
Ja, aber um der Akzeptanz des FFG willen haben wir
darum gerungen, damit wirklich alle dabeibleiben.
Ich möchte die Stellungnahme des Vertreters eines
Verbandes wiedergeben. Er sagte, es handele sich um
wenige Änderungen, übrigens bereits schon in Richtli-
nien festgehalten. Und: Was die Förderung des Kinder-
films betrifft, so werde dies praktiziert. – Dies sind nur
zwei Beispiele. Lohnt sich also der Aufwand, dieses Ge-
setz mit all dem Prozedere im nächsten halben Jahr zu
novellieren, bei einer Geltungsdauer von nur zweiein-
halb Jahren? Oder wäre nicht eine Verlängerung um
zweieinhalb Jahre auch ein möglicher Weg?
B
Das wäre die einfachste Lösung gewesen, aber eswäre nicht die intelligenteste Lösung gewesen. Es ist im-mer am leichtesten, etwas zu vertagen. Ich dachte, wirkommen dem besonderen Bedürfnis der engagiertenFilmliebhaber – insbesondere Ihnen – entgegen, wennwir mit Ihnen darüber beraten und dann, wenn eine Ver-änderung der Abgaben im Augenblick nicht möglich ist,wenigstens die eine oder andere Änderung vornehmen.Liebe Frau Kollegin Krüger-Leißner, ich muss Ihnensagen: Sie saßen mit an dem großen runden Tisch, als
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wir anderthalb Tage lang mit über 70 Vertretern aus dergesamten Filmwirtschaft diskutiert haben. Neben demPunkt „Veränderung der Abgaben“ waren auch alle an-deren Punkte wichtig für die Beteiligten.
Wir hätten zum Beispiel sonst die Sperrfrist nicht ändernkönnen. Wir hätten nicht unserem Wunsch Ausdruck ge-ben können, ausländische Video-on-Demand-Anbieteraufzufordern, sich an der Finanzierung zu beteiligenusw.Das heißt, Sie dürfen die Filmförderung und -bewer-tung nicht an vier Hauptgruppen ausrichten. Es gibt soviele, die – angefangen beim Drehbuch bis hin zu denSchauspielern – an der Entstehung eines Films beteiligtsind. Es wäre aus meiner Sicht arrogant gewesen, zu sa-gen: Wir machen erst einmal gar nichts, warten zweiein-halb Jahre und reden dann über andere Themen.Wir waren der Auffassung, dass es klug ist, in dieserZeit Veränderungen, die sich anbieten, vorzunehmen.Das schlagen wir Ihnen vor. Ich würde mich freuen,wenn Sie das unterstützen könnten.
Vielen Dank. – Nächste Fragestellerin ist unsere Kol-
legin Kathrin Senger-Schäfer. Bitte schön, Frau Kollegin
Kathrin Senger-Schäfer.
Vielen Dank. Herr Staatsminister. Ich frage mich:
Was passiert mit dem Bereich der filmberuflichen Wei-
terbildung, wenn diese in der Zukunft im Filmförde-
rungsgesetz wegfällt? Sie begründeten das mit einer zu
starken Zersplitterung und damit, dass wir den Blick auf
die Kernaufgaben richten müssten. Welche Ursachen
sehen Sie denn für diese starke Zersplitterung? Daran
anknüpfend frage ich: Wie soll die filmberufliche Wei-
terbildung in § 2 Abs. 1 FFG dann konkret geregelt wer-
den? – Danke.
B
Frau Senger-Schäfer, diese Frage war Gegenstand des
runden Tisches. Am Ende war man einmütig der Auffas-
sung,
dass es sinnvoll ist, die von uns vorgeschlagene Ände-
rung vorzunehmen. Warum? Im Gesetz ist geregelt – ich
glaube, das steht in § 59 FFG –, dass die FFA generell
den Auftrag hat, Förderungshilfen für Weiterbildungs-
maßnahmen zu gewähren. Das hat dazu geführt, dass
viele Einzelmaßnahmen unterstützt wurden: einzelne
Produzenten, einzelne Kinobesitzer. Dies hat auch, weil
die Mittel begrenzt sind, zu einem mehr oder weniger
zerfledderten System ohne Schwerpunkte geführt. Daher
waren alle der Auffassung: Eine solche Förderung bringt
nicht viel.
Hinzu kommt, dass die Beitragszahler, also diejeni-
gen, die die FFA und damit die Filmförderung finanzie-
ren, der Auffassung waren, dass die FFA nicht generell
für Weiterbildung zuständig ist, sondern nur für Weiter-
bildungsmaßnahmen, die mit dem Auftrag der FFA zu
tun haben. Das ist nicht meine Auffassung, also nicht
Auffassung des BKM, sondern Auffassung der Beitrags-
zahler gewesen.
Was folgt daraus? Weiterbildung wird weiterhin ein
Thema sein. Die Frage, ob Unterstützung gewährt wird
oder nicht, wird in Zukunft vom Präsidium entschieden.
Da wir das Präsidium um einen Kreativen erweitern
– Frau Roth, Wolfgang Börnsen und andere, die dafür
eingetreten sind, werden sich darüber freuen –, kann
man davon ausgehen, dass angemessene Forderungen
gestellt werden.
In Zukunft sollen sich die Fördermaßnahmen auf
Themen beziehen und nicht auf Einzelpersonen. Wir un-
terstützen beispielsweise den Berlinale Talent Campus.
Hier sagt dann die FFA: Da geht es um Talente; das wol-
len wir unterstützen. – Es gibt sicherlich noch andere
Förderungsmöglichkeiten, die man sich vorstellen kann.
Ich darf es aber noch einmal sagen: Das war nicht un-
sere originäre Meinung, sondern wir haben aus dem, was
man uns vorgetragen hat, Konsequenzen gezogen. Wir
haben gesagt: Weiterbildungsmaßnahmen sollen ange-
boten werden, die Mittel sollen aber konzentriert verge-
ben werden, und über die Förderung entscheidet das Prä-
sidium, in dem dann alle Gruppierungen einschließlich
der Kreativen vertreten sein werden.
Vielen Dank. – Nächster Fragesteller ist Kollege
Burkhardt Müller-Sönksen.
Herr Staatsminister Neumann, die FDP-Fraktion be-
grüßt, wie vom Kollegen Wolfgang Börnsen schon aus-
geführt, dass die Bundesregierung ein Kulturthema auf
die Tagesordnung gesetzt hat. Das sollte man in diesem
Hause durchaus häufiger tun.
Wir haben gerade gehört, dass die Telekommunika-
tionsanbieter nicht an den Abgaben beteiligt werden,
weil europarechtliche Regelungen dem entgegenstehen.
Deshalb begrüßen wir ausdrücklich, dass Sie die Lauf-
zeit des Gesetzes auf zweieinhalb Jahre begrenzen wol-
len, um im Anschluss evaluieren zu können. Welche
Roadmap hat die Bundesregierung hinsichtlich dieser
Fragestellung?
Ich möchte meine zweite Frage gleich hinterherschi-
cken: Können Sie uns über den Stand der Umsetzung der
Digitalisierung von Kinos informieren?
B
Ihre erste Frage betrifft Telekommunikationsunter-nehmen, die Filme durchleiten, mehr nicht. Diese Unter-nehmen werden bereits herangezogen, zum Beispiel beiden Kabelgebühren. Es gibt die Vorschrift – Juristen
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wissen das besser –, dass man nicht zweimal für das-selbe herangezogen werden darf. Wir haben es ja ver-sucht. Von der EU wurde uns aber gesagt: Das gehtnicht. Diese Unternehmen leiten nur durch. Da sie schonfür die technischen Möglichkeiten zahlen, können sienicht auch noch herangezogen werden, wenn es um in-haltliche Fragen geht. Das bedauere ich sehr, weil dieUnternehmen indirekt trotzdem profitieren und weil dieUnternehmen, an die ich denke, nicht das Prädikat„Armut“ tragen. Deswegen habe ich mir vorgenommen– das ist der erste Schritt –, auch in Abstimmung mitVertretern der Filmbranche, Gespräche mit den Vertre-tern der Telekommunikationsunternehmen zu führen undsie zu animieren, einen freiwilligen Beitrag zu leisten.Das gab es früher auch. Früher haben Fernsehanstaltenund andere freiwillig Beiträge geleistet nach dem Motto:Es geht ja hier nur um ein paar Millionen – es geht janicht um Hunderte von Millionen –, die sehr helfen unddie in unserer Bilanz keine so große Rolle spielen. Dasbewahrte dann davor, dass man möglicherweise über an-dere juristische Schritte nachdachte. Das ist der einePunkt.Ihre zweite Frage betrifft die Digitalisierung. Die Di-gitalisierung, für die wir ja gemeinsam mit dem Kultur-ausschuss ein Programm erarbeitet haben, das auch vonRegierung und Kulturausschuss getragen wird, ist – manmuss es so sagen – erfolgreich. Sie ist ein Renner. Ichsollte darauf hinweisen, dass wir nicht alle Kinos unter-stützen, sondern nur die kleineren, die Arthouse-Kinosusw., die nicht in der Lage sind, aus eigener Kraft für dieDigitalisierung einer Leinwand aufzukommen. DiesesProgramm setzt sich zusammen aus Beiträgen des Bun-des, der Länder, der FFA und – das ist die positive Meldung– seit kurzem auch sicher einem Beitrag der Verleiher.
Das war ja bisher offen. Die Verleiher sind die größtenProfiteure der Digitalisierung. Jetzt haben wir die Ver-bindlichkeit, dass die Verleiher sich beteiligen. Das führtdazu, dass die von ihnen in der Vergangenheit bei schondigitalisierten Leinwänden nicht gezahlten Zuschüssenoch erfolgen.Die Digitalisierung kommt schneller voran, als wirdachten. Unser Programm sah fünf Jahre mit je 4 Millio-nen Euro vor. Wir stellen fest, dass es schneller geht. DieKinos wollen schneller digitalisieren, um auch wettbe-werbsfähiger zu werden. Ich konnte erreichen, dass imNachtragshaushalt 2012 noch einmal 3 Millionen Eurofür die Digitalisierung ausgegeben werden, sodass wirda schneller vorankommen. Wir hatten ja bisher nur4 Millionen Euro pro Jahr einkalkuliert. Ich habe jetztdie Haushälter gebeten, diese Mittel bei der Bereini-gungssitzung möglichst noch etwas zu erhöhen. Die Ge-samtsumme wird bleiben, aber wir können diesen Pro-zess der technologischen Veränderung dann durchunsere Förderung beschleunigen.
Fragen Sie noch einmal nach. Dann habe ich noch
eine Reihe von anderen Wortmeldungen. – Bitte schön,
Herr Kollege Burkhardt Müller-Sönksen.
Vielen Dank, Herr Präsident. Ich habe noch eine
kurze Nachfrage zur Gesamtsumme.
Er antwortet immer so lange.
Ist die Gesamtsumme auskömmlich, oder droht sie
durch den Erfolg erhöht werden zu müssen?
B
Das kann ich noch nicht abschätzen, Herr Kollege.
Ich antworte im Sinne des Präsidenten kurz.
Wobei ja, Herr Staatsminister, alle dankbar sind, dass
dieses Thema heute auf der Tagesordnung steht. –
Nächster Fragesteller: Kollege Johannes Selle.
Herr Staatsminister, wir begrüßen die Weiterentwick-
lung des Filmförderungsgesetzes. Denn die Branche be-
findet sich in einem schnellen Umbruch, wie wir ja
schon beim Thema Kinodigitalisierung gehört haben.
Die Kinodigitalisierung wird dazu führen, dass weniger
Filme herkömmlicher Produktionsart aufgeführt werden
können. Wir als Parlamentarier diskutieren über die Di-
gitalisierung des Filmerbes. Wie ist dafür im Filmförde-
rungsgesetz Vorsorge getroffen worden?
B
Digitalisierung über Film hinaus – das ist ohnehin dasStichwort – ist eine große Herausforderung, die wir ins-gesamt bestehen müssen. Es geht ja nicht nur um Film– das darf ich als Kulturstaatsminister sagen, der ja nichtnur für Film verantwortlich ist –, sondern auch umandere Bereiche. Da stehen wir vor großen Herausforde-rungen. Wir haben schon – ich hatte Sie im Kulturaus-schuss darüber informiert – den Beginn einer Digitalisie-rungsoffensive eingeleitet, indem wir deutlich mehrMittel zur Verfügung gestellt haben als bisher; aber dieseMittel werden wir noch deutlich erhöhen müssen. Wirwerden auch Beiträge Privater brauchen, um dieses Pro-blem zu lösen.Die Digitalisierung des Filmerbes ist nur ein Aspekt.Wir haben schon im letzten Haushalt diejenigen, die dasFilmerbe bei uns archivieren, zum Beispiel dieFriedrich-Wilhelm-Murnau-Stiftung und die DEFA-Stif-tung, zusätzlich mit mehreren Hunderttausend Euro aus-gestattet, darüber hinaus auch das Bundesarchiv, Abtei-lung Film. Wir haben vor, im neuen Haushalt – ich mussvorsichtig sein, um mich nicht unbeliebt zu machen;denn er ist noch nicht beschlossen – allein für die Digita-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24615
Staatsminister Bernd Neumann
(C)
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lisierung filmischen Erbes weitere 1 Million Euro zurVerfügung zu stellen. Das ist, verglichen mit früher,schon eine ganze Menge. Das filmische Erbe, das erhal-tenswert ist – die Entscheidung darüber treffen übrigensnicht wir; ich möchte, dass sie von Fachleuten getroffenwird –, soll also sukzessive und in zunehmendem Maßedurch Digitalisierung gesichert werden.
Vielen Dank. – Nächster Fragesteller: Kollege Marco
Wanderwitz. Bitte schön, Kollege Marco Wanderwitz.
Herr Staatsminister, Sie haben das Thema, um das es
mir geht, schon in einem Nebensatz angesprochen; aber
ich würde ganz gern noch ein paar Sätze mehr dazu hö-
ren. Es geht um die Frage: Besteht eigentlich tatsächlich
Veränderungsbedarf bzw. gibt es echte Veränderungen
bei der Besetzung der Gremien der Filmförderanstalt?
Vor diesem Hintergrund würde ich gerne wissen: Ers-
tens. Wie schätzen Sie das Funktionieren der Gremien
der FFA aktuell ein? Zweitens – zu der bereits kurz an-
gesprochenen Änderung –: Welche Motivation hat die
Bundesregierung veranlasst, verstärkt Kreative in die
Gremien zu holen?
B
Schon früher – in meiner Zeit als Abgeordneter und
Staatsminister ist dies, wie ich glaube, schon die vierte
Novellierung des Filmförderungsgesetzes – haben wir
immer wieder über die Gremien diskutiert. Es gab sogar
einmal eine Auflage des Haushaltsausschusses. Damals
hieß es, die Gremien seien zu groß. Darüber haben wir
dann diskutiert – ich war damals Abgeordneter –, und
die Konsequenz war: Wir haben die Zahl der Mitglieder
leicht erhöht.
Wir haben sie deshalb erhöht – auch Claudia Roth weiß
das bestimmt noch –, weil wir die Klassischen nicht hi-
nauswerfen wollten, uns aber daran gelegen war, die
Kreativen – Drehbuchschreiber und alle, die sonst noch
dazugehören – mit einzubeziehen. Wir haben also ge-
sagt: Auf zwei Mitglieder mehr kommt es nicht an.
Der Verwaltungsrat der FFA ist in seiner jetzigen Grö-
ßenordnung ein Gremium, das, wie ich finde, auf wun-
derbare Weise die gesamte Filmlandschaft widerspiegelt.
Er ist gewissermaßen ein Filmparlament. All diejenigen,
die an dem Prozess beteiligt sind, sind Mitglied. Wir ver-
ändern die Zusammensetzung dieses Gremiums an nur
einer Stelle. Das finde ich richtig. Ich möchte nämlich
niemanden streichen.
Das Präsidium ist sozusagen das Handlungsorgan der
FFA. Es ist insofern wichtig, als es einzelne Fördermaß-
nahmen beschließt. Hier haben wir eine Entscheidung
getroffen, die uns vor vier Jahren wahrscheinlich noch
riesigen Protest der Produzenten beschert hätte, da diese,
was ihre Einstellung angeht, eher konservativ sind. Wir
haben entschieden, den Vorschlag zu machen, einen Ver-
treter der Kreativen – die zwar keine Beitragszahler sind,
aber entscheidend zur Produktion eines Filmes beitragen –
mit einzubeziehen. Das wäre neu. Ich gebe zu: Das alles
ist nicht revolutionär. Im Rahmen der parlamentarischen
Beratung besteht durchaus die Möglichkeit, diese Rege-
lung zu ändern. Empfehlen würde ich das aber nicht.
Jetzt folgt die Frage unserer Kollegin Kathrin Senger-
Schäfer.
Herr Staatsminister, vielen Dank. – Ich habe eine
Frage zur Beschäftigungssituation der Kreativschaffen-
den in der Filmbranche. Mich würde interessieren, in-
wieweit in den Aufgaben der FFA, die in § 2 Abs. 1, 2, 5
und 6 des Filmförderungsgesetzes beschrieben sind
– das betrifft die Förderung, Strukturverbesserung, ge-
samtwirtschaftliche Belange, internationale Zusammen-
arbeit und Kooperation mit den Rundfunkanstalten –, die
Beschäftigungssituation der Kreativschaffenden Berück-
sichtigung findet und welche zusätzlichen Vereinbarun-
gen Sie im Bedarfsfall als nötig erachten, um eine Opti-
mierung des Filmförderungsgesetzes hinsichtlich der
Arbeitsbedingungen zu gewährleisten.
B
Hier muss man zwischen dem Sachverhalt und demSinn des Gesetzes unterscheiden. Was den Sachverhalt be-trifft, bin ich wie Sie der Auffassung – das entnehme ichIhrer besorgten Frage –, dass die Beschäftigungssituationvieler Filmschaffender, insbesondere vieler im schau-spielerischen Bereich Tätiger, generell unzureichend ist;das ist so.
Wenn man sich, wie im Bericht der Enquete-Kom-mission nachzulesen ist, vor Augen führt, wie vielKünstler und Schauspieler im Durchschnitt verdienen,kann man kaum fassen, dass sie trotzdem ein solch gro-ßes Engagement an den Tag legen. Hier besteht Korrek-turbedarf. Einen ersten Schritt haben wir in der GroßenKoalition unternommen. Jetzt folgt der zweite Schritt.Dabei geht es unter anderem um das ALG I und die An-rechnung beim Arbeitslosengeld. Das ist eine schritt-weise Verbesserung. Sie könnte noch stärker sein; ichempfehle das. Das wäre allerdings ein Schritt, den wir inder nächsten Legislaturperiode tun sollten.Wir haben das Filmförderungsgesetz von uns ausschon mit kulturpolitischen Forderungen belastet. Dasgeht ein Stück über den eigentlichen Auftrag hinaus;denn hier geht es praktisch nur um die wirtschaftlicheFörderung. Das FFG kann in keiner Weise die Verant-wortung von Tarifpartnern übernehmen. Wir haben ein-mal diskutiert – Frau Krüger-Leißner wird sich erinnern,Wolfgang Börnsen auch –, ob man bezogen auf Förde-rung und Beschäftigung zusätzliche Auflagen machenkann, sind aber sehr schnell nicht nur auf den Wider-
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24616 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Staatsminister Bernd Neumann
(C)
(B)
stand der gesamten Branche, sondern auch auf rechtlicheHürden gestoßen. Im Rahmen dieses Gesetzes kann bisauf Appelle eigentlich nichts mehr gemacht werden.Ich füge aber hinzu: Ich bin mit Ihnen der Auffas-sung, dass auf anderen Ebenen für die Verbesserung derBeschäftigungssituation der Filmschaffenden nach wievor mehr zu tun ist.
Vielen Dank. – Es gibt keine Fragen mehr zu dem Be-
richt, den Staatsminister Bernd Neumann gegeben hat,
sodass ich jetzt zu den Fragen zu anderen Themen der
heutigen Kabinettssitzung überleite.
Zu Wort gemeldet hat sich unsere Kollegin Dagmar
Enkelmann.
Wie wir alle gelesen haben, hat sich der Koalitions-
ausschuss am Sonntagabend oder Sonntagnacht unter
anderem mit der sogenannten Lebensleistungsrente be-
fasst. Einem Artikel aus der Welt konnte ich heute ent-
nehmen, dass Frau von der Leyen eine Rentenwohltat
verspricht. Die FDP hat sofort reagiert und vor überzo-
genen Erwartungen gewarnt. Frau von der Leyen ver-
spricht offenkundig wirklich das Blaue vom Himmel.
Real wird diese Rente – so habe ich das verstanden –
maximal 10 bis 15 Euro oberhalb der Grundsicherung
liegen, und maximal 2 Prozent der Betroffenen werden
überhaupt einen Anspruch darauf haben, weil die Zu-
gangsmöglichkeiten sehr stark beschränkt sind. Was dort
am Sonntagabend erarbeitet worden ist, ist also bei ge-
nauerem Hinsehen alles andere als eine Rentenwohltat.
Mit diesem Thema werden wir uns hier noch beschäfti-
gen.
Meine Frage: Hat sich das Kabinett mit diesen Vor-
schlägen befasst, und wurde die Ministerin zurückge-
pfiffen?
Zur Beantwortung steht zur Verfügung Herr Staats-
minister Eckart von Klaeden. Bitte schön, Kollege von
Klaeden.
E
Frau Kollegin Enkelmann, das Kabinett hat sich mit
dieser Frage nicht befasst; deswegen musste auch nie-
mand „zurückgepfiffen“ werden.
Sie haben das Stichwort selber gegeben: Wir werden
uns in diesem Hohen Hause mit der Frage noch beschäf-
tigen.
Zu diesem Bereich oder zu einem anderen Thema der
heutigen Kabinettssitzung unser Kollege Volker Beck.
So weit entfernt ist meine Frage gar nicht: Es geht
auch um die Umsetzung der Ergebnisse des Wahlge-
schenkegipfels vom Sonntag.
Ich habe aus den Ausschüssen gehört, dass der Be-
treuungsgeldantrag, der in den Fachausschüssen beraten
wurde, bezüglich der Altersvorsorge und des Bildungs-
sparens nicht die Elemente enthält, die Sie angeblich
hinzugefügt haben wollen.
Ich möchte wissen, über was wir jetzt eigentlich bera-
ten und wann das Betreuungsgeld in seiner Endform,
wie Sie es vereinbart haben, in den Bundestag einge-
bracht wird. Beabsichtigen Sie, ein Gesetz, das Sie noch
gar nicht verabschiedet haben, gleich wieder nachzufli-
cken, oder wie sollen die Beschlüsse des Koalitionsgip-
fels zum Betreuungsgeld im weiteren Gesetzgebungs-
verfahren umgesetzt werden?
Herr Staatsminister.
E
Herr Kollege Beck, dass die am Sonntag beschlosse-
nen Ergänzungen des Betreuungsgeldes in der Formulie-
rungshilfe nicht enthalten sein sollen, ist nicht zutref-
fend.
Wir werden beides am Freitag in diesem Hause beraten
und das Betreuungsgeldgesetz in zweiter und dritter Le-
sung verabschieden.
Ich beende nun die Themenbereiche der heutigen Ka-binettssitzung. Gibt es darüber hinaus sonstige Fragen andie Bundesregierung? – Das ist nicht der Fall. Somit be-ende ich die Befragung.Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 2 auf:Fragestunde– Drucksachen 17/11282, 17/11313 –Zu Beginn der Fragestunde rufe ich die dringlichenFragen auf Drucksache 17/11313 auf.Die dringlichen Fragen beziehen sich auf den Ge-schäftsbereich des Bundesministeriums der Verteidi-gung. Zur Beantwortung steht der ParlamentarischeStaatssekretär Christian Schmidt zur Verfügung.Ich rufe die dringliche Frage 1 unseres KollegenNiema Movassat auf:In welcher Weise gedenkt die Bundesregierung vor demHintergrund der Pressemeldungen vom 3. November 2012
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24617
(C)
(B)
ken, dass dieser nicht dem Parlamentsvorbehalt unterliegt,bzw. welche genauen Tätigkeiten sieht die Bundesregierungin ihren derzeitigen Planungen für einen Bundeswehreinsatzin Mali oder seinen Nachbarländern vor?Bitte schön, Herr Staatssekretär.C
Herr Präsident! Lieber Kollege Movassat, ich habe
ein gewisses Problem, weil ich eigentlich eine Rück-
frage stellen müsste;
denn in der Frage kommt zum Ausdruck – mit Genehmi-
gung des Parlamentspräsidenten wiederhole ich das hier
doch noch einmal –: Laut Pressemeldungen erwägt Bun-
desverteidigungsminister de Maizière einen Bundes-
wehreinsatz in Mali ohne Bundestagsmandat usw.
Das kann sich wohl nur auf das Interview in der Süd-
deutschen Zeitung von Samstag beziehen. Bei einem In-
terview sind für Fragen bekannterweise die Journalisten
und für Antworten die Gefragten verantwortlich. Eine
Frage des Journalisten lautete:
Bewaffnete Auslandseinsätze muss der Bundestag
billigen. Gibt es Überlegungen, einen Einsatz in
Mali zu beschließen, ohne das Parlament zu fragen?
Antwort:
Die Frage nach einem Mandat des Bundestages
richtet sich nach dem Auftrag unserer Soldaten. Wir
klären jetzt erst einmal, was unser Auftrag sein
könnte und was wir für dessen Erfüllung bräuchten.
Wenn das ein Mandat erforderlich macht, dann wer-
den wir dies selbstverständlich im Bundestag an-
streben.
Deswegen, verehrter Herr Präsident, sind mir die Insi-
nuierung und die Interpretation, die aus der Frage he-
rauszuhören sind, die Bundesregierung würde welches
Mandat auch immer anstreben, nicht ganz eingängig.
Deshalb kann ich auf die Frage nur pauschal antworten,
dass die Bundesregierung gegenwärtig prüft, und zwar
im Lichte dessen, was sich in der nächsten Zeit seitens
der Europäischen Union im Hinblick auf das Krisenma-
nagementkonzept entwickeln wird, das in den nächsten
Wochen zur Beratung ansteht, und natürlich der Ent-
scheidungen des Sicherheitsrats der Vereinten Nationen
bzw. von ECOWAS und der dort tätigen afrikanischen
Organisationen und Länder.
Ihre erste Nachfrage.
Danke schön. – Sie haben das richtige Interview zi-
tiert. Was natürlich auch nach der Antwort des Ministers
bleibt, ist, dass er nicht ausschließt, das Parlament nicht
daran zu beteiligen. Deshalb bleibt die Frage an dieser
Stelle wichtig. Es geht um einen Auslandseinsatz der
Bundeswehr. Das ist eine Frage, die die Öffentlichkeit
bewegt. Deshalb wurde dieses Interview ja auch in ande-
ren Medien aufgegriffen.
Insofern fragt man sich schon: Vor welchem Hinter-
grund will die Bundesregierung kein Parlamentsvotum
bezüglich dieses Bundeswehrmandats? Die Hauptbe-
gründung wird vermutlich sein, es gehe erst einmal um
Ausbildung. Dafür sei es nicht erforderlich, weil es keine
Kampfeinsätze oder dergleichen gebe. Aus Afghanistan
wissen wir aber noch: Das fängt mit der Ausbildung an,
und hinterher ist man mitten im Krieg. Daher habe ich an
dieser Stelle noch einmal die konkrete Nachfrage: Wird
die Bundesregierung, falls es zu diesem Auslandseinsatz
der Bundeswehr kommt, dies dem Parlament vorlegen?
C
Sehr verehrter Kollege, ich bin dankbar, dass Sie den
im Text Ihrer zweiten Frage beinhalteten Passus: „Kann
die Bundesregierung … mit absoluter Sicherheit aus-
schließen …?“, der schon denklogisch etwas problema-
tisch ist, nicht wiederholt haben. Ich finde, dass wir uns
hier nicht mit Ausschließungsfragen, sondern mit Sach-
fragen beschäftigen müssen.
Deswegen sagt die Bundesregierung völlig klar: Wir
sind auf der Grundlage der von mir gerade genannten
Bewertungen der internationalen Gemeinschaft und in-
ternationaler Organisationen im Hinblick auf die Krisen-
lage, die sich im Norden Malis entwickelt hat, und auf
die Kräftigung der Handlungsfähigkeit der malischen
Verantwortlichen im Süden grundsätzlich dazu bereit,
uns dieser internationalen Frage zu stellen und zu nä-
hern. Ob daraus eine militärische, eine Ausbildungs-,
eine zivile oder eine andere Option entsteht, ist bisher
nicht klar und verabschiedet. Deswegen kann ich auch
nichts ausschließen und werde nichts ausschließen.
Ich werde allerdings eines ausschließen: dass die
Bundesregierung sich nicht an § 2 Abs. 1 des Parla-
mentsbeteiligungsgesetzes in Verbindung mit dem Urteil
vom 7. Mai 2008 – 2 BvE 1/03 – des Bundesverfas-
sungsgerichts über die Frage, was ein bewaffneter Ein-
satz ist und dass er, wenn es ein bewaffneter Einsatz ist,
natürlich vom Parlament zu beschließen ist – ergänzt um
den Hinweis, dass das immer parlamentsfreundlich aus-
zulegen ist –, halten wird. Wir werden zu gegebener Zeit
natürlich auch unsere entsprechenden Schlussfolgerun-
gen ziehen. Weiteres kann ich nicht ausschließen.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Niema Movassat.
Danke. – Können Sie etwas zum aktuellen internatio-nalen Diskussionsstand über die Mission sagen? Es gibtja immer wieder mediale Berichterstattungen. Anschei-nend ist es so, dass die Diskussionen inzwischen weitersind als im Anfangsstadium; man befindet sich in einemfortgeschrittenen Stadium. Deshalb wäre es für das Par-lament interessant, frühzeitig über die Fragen Bescheid
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24618 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Niema Movassat
(C)
(B)
zu wissen: Welches Einsatzgebiet ist vorgesehen? Umwelche Art von Mission handelt es sich? Wie sind diederzeitigen Diskussionen, und wie beteiligt sichDeutschland an diesen Diskussionen?C
Vielen Dank. – Die international und in vielen Me-
dien aufgeworfene Frage, wie sich die Möglichkeit einer
Befriedung in Mali entwickelt, hat heute in zwei Aus-
schüssen dieses Hauses eine wichtige Rolle gespielt. So-
wohl im Auswärtigen Ausschuss als auch im Verteidi-
gungsausschuss erfolgte dazu eine Unterrichtung durch
die Bundesregierung. Dabei wurde deutlich, dass es ver-
schiedene Optionen gibt, die der Bundesaußenminister
mit seiner sehr tiefgreifenden Reise nach Mali in den
letzten Tagen auch fundiert hat.
Wir haben nach dieser Reise die Erkenntnis gewon-
nen, dass es notwendig ist, die terroristischen Aggressio-
nen, die sich im Norden Malis ergeben und die dort
schon bestehen, zu befrieden. Es ist abgewogen worden,
welche Verhandlungen möglich sind, ob die verschiede-
nen Gruppierungen, die sich dem islamistischen Terro-
rismus zuordnen, bereit sind, an einen Verhandlungstisch
zu kommen. Wir haben Signale von Tuareg-Strukturen
erhalten, die das sehr wohl bejahen. Von anderen Grup-
pierungen ist dazu bisher nichts zu hören.
Nachdem gerade in der malischen Hauptstadt eine
Konferenz stattgefunden hat, in der über diese Frage ge-
sprochen worden ist, und die Hohe Beauftragte der
Europäischen Union, Frau Ashton, mit der Erarbeitung
eines entsprechenden Krisenmanagementkonzepts be-
auftragt worden ist, versuchen wir, bis vermutlich Ende
des Monats – am 17./18. dieses Monats findet in Brüssel
eine Sitzung des Rates im Format der Außen- und Ver-
teidigungsminister statt – hierüber zu beraten, wenn-
gleich wir dabei auch zu berücksichtigen haben, dass die
45 Tage umfassende Frist, die der Sicherheitsrat der Ver-
einten Nationen bei seiner ersten Resolution bezüglich
Mali eingezogen hat, noch in diesem Jahr abläuft, sodass
wir abzuwarten haben, wie sich der Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen danach in dieser Frage betätigt. Hie-
rüber kann ich aber, auch mangels Zuständigkeit, keine
weitere Auskunft geben.
Ich darf nur noch einmal versichern, dass wir uns in
solche Überlegungen mit Bedacht einbringen, aber na-
tional von unserer Seite selbst keine stringenten Planun-
gen vorliegen. Sie können deswegen nicht vorliegen,
weil gegenwärtig noch gar nicht geklärt ist, in welchem
Rahmen und mit welchen Mitteln die Befriedung der Si-
tuation in Mali erreicht werden kann.
Ich komme jetzt zu den weiteren Nachfragen. Zu-
nächst unsere Kollegin Frau Kerstin Müller.
Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN):
H
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Dort ist die Rede von einer möglichen Ausbildungsmis-
sion in Bezug auf die malische Armee. Sie erwähnten
gerade auch die Wünsche der malischen Regierung und
die Wünsche von ECOWAS. Deren Vorstellungen liegen
nun weit auseinander. Sie sagten, Sie werden prüfen.
Können Sie uns wenigstens darüber unterrichten, was
die Bundesregierung prüft? Prüfen Sie, ob man sich an
einer Ausbildung der malischen Armee beteiligen wird,
oder prüfen Sie, ob man sich an einer möglichen euro-
päischen Mission zur Ausbildung der ECOWAS-Trup-
pen beteiligen wird? Bisher gibt es dazu von der Bundes-
regierung unterschiedliche Aussagen.
C
Dies befindet sich, Frau Kollegin, noch im Abwä-
gungs- und Planungsstadium. Wir müssen auch in Rech-
nung ziehen, dass zwischen den malischen und den
ECOWAS-Kräften noch nicht Klarheit darüber besteht,
wer für was unter welcher Führung verantwortlich sein
wird. Nach unseren Erkenntnissen und denen der
ECOWAS wird klar, dass die Ausbildung der malischen
Streitkräfte – ich betone: die Ausbildung – wohl nottut.
Es ist dann allerdings zu klären und zu prüfen, in wel-
chem Rahmen man eine Ausbildung, die per se eine mit-
tel- und langfristig angelegte Aufgabe ist, mit notwendi-
gen Krisenmanagementaufgaben, beispielsweise denen
der ECOWAS, in Einklang bringt.
Ich darf übrigens darauf hinweisen, dass in Mali bis
zum Putsch vor einiger Zeit eine Ausbildung, allerdings
fern von jeder militärischen Mission, im Rahmen der
Ausbildungshilfe in sehr kleinem Rahmen bereits statt-
gefunden hat, sodass wir in diesem Bereich erste Erfah-
rungen haben. Ich möchte allerdings für die Bundes-
regierung hinzufügen, dass wir dies als eine genuin
afrikanische Aufgabe, die dann durch Europa unterstützt
wird, verstehen. Ich betone: von europäischer Seite; es
ist nicht eine deutsche Aufgabe.
Auf europäischer Ebene wird sicherlich Wert darauf
zu legen zu sein, dass die europäischen Staaten, unser
französischer Nachbar und andere, einen Konsens fin-
den. So weit sind wir in der konkreten Planung noch
nicht. Das ist in Arbeit.
Eine weitere Nachfrage unseres Kollegen Jan van
Aken.
Vielen Dank. – Herr Schmidt, Sie verweisen immerdarauf, dass in der EU und im Sicherheitsrat noch ent-schieden werden muss. Nun ist es aber so, dass dieseEntscheidungen nicht vom Himmel fallen. Zur Erinne-rung: Die Bundesrepublik Deutschland ist Mitglied derEU und verhandelt mit. Die Bundesrepublik Deutsch-land ist Mitglied im UN-Sicherheitsrat und verhandeltmit.Deswegen noch einmal konkret: Was sind Ihre Vor-stellungen, die Vorstellungen der Bundesregierung, was
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24619
Jan van Aken
(C)
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die Ausbildung der malischen Rebellen angeht? Ganzkonkret: Was ist Ihre Vorstellung, wo das stattfindet?Können Sie sich vorstellen – ist das eine der Verhand-lungspositionen, die Sie als Bundesregierung vertreten? –,dass eine Ausbildung der malischen Armee auf mali-schem Boden stattfindet, in einem Land, in dem geradeBürgerkrieg herrscht und in dem zwei Drittel der Flächevon Rebellen besetzt worden sind, oder wollen Sie dasfür sich ausschließen? Was ist Ihre Verhandlungspositionbei den momentanen Gesprächen im UN-Sicherheitsratund bei der EU?C
Herr Kollege, bei der „Ausschließeritis“ gibt es fol-
gendes Problem: Wenn Sie der Infektion erlegen sind,
dann haben Sie keinen klaren Blick mehr für das, was
Sie nutzen müssen, um ein Ziel zu erreichen.
– Sie haben den Ihren, wir als Bundesregierung haben
den unsrigen. – Wir sind bei den Verhandlungen gegen-
wärtig zum großen Teil im Bereich der sogenannten Fak-
tenfindung, Fact Finding. Wir müssen also erst einmal
feststellen, wer für was bereit ist und was notwendig ist.
Es wird durchaus darüber nachgedacht, ob es sinnvoll
ist, die Ausbildung im Land oder außerhalb des Landes
durchzuführen. Ich weise darauf hin, dass wir bereits im
Rahmen der EU-Trainingsmission in Somalia die Aus-
bildung somalischer Sicherheitskräfte – diese sollen
dann in ihr eigenes Land zurückkehren – in einem Nach-
barland durchführen. Die Entscheidungsgrundlage im
Falle Malis ist noch nicht so verdichtet, dass man hierü-
ber eine klare Aussage treffen kann. Allerdings zeichnet
sich sehr deutlich ab – das ist auch die Position, die in
Europa eingenommen wird –, dass eine Bekämpfung der
Terroristen im Norden Malis nicht Aufgabe der Europäi-
schen Union oder europäischer Kräfte ist.
Nächste Fragestellerin ist unsere Kollegin Katja Keul.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär Schmidt, in der
französischen Presse ist zu lesen, dass es schon konkrete
Zeitpläne gibt. Danach beginnen wir schon in den nächs-
ten Wochen und Monaten mit dem Aufstellen von Trup-
pen. Spätestens im März 2013 soll – so ist es im Figaro
zu lesen – die Rückeroberung des Nordens starten. Spie-
geln diese Zeitpläne auch die deutsche bzw. die europäi-
sche Position wider? Haben Sie miteinander gesprochen,
oder handelt es sich um einen französischen Alleingang?
C
Ich kann nicht abschätzen, wer den von Ihnen er-
wähnten Artikel im Figaro, der in Deutschland viel
Beachtung findet, inspiriert hat. Ich will nur sagen:
Zeitungsmeldungen, die mit Zeitplänen zu solchen kom-
plexen Krisenmanagementplänen beitragen sollen, sind
nur sehr beschränkt konstruktiv. Ich möchte deswegen
zu den Aussagen in dem erwähnten Artikel keine Stel-
lung nehmen. Unsere Position wird auf der Grundlage
von gemeinsamen Gesprächen und Erörterungen erar-
beitet werden. Darin werden die Position und die Er-
kenntnisse der Reise des Bundesaußenministers, der
nach seiner Rückkehr die Obleute der beiden Fachaus-
schüsse unterrichtet hat, in starkem Maße einfließen.
Nächste Nachfrage stellt unser Kollege Dr. Rolf
Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Da ich weiß, dass ich
die Kollegen von der Fraktion Die Linke nicht fragen
darf, ob sie bereits jetzt ausschließen, dem Mandat zuzu-
stimmen, möchte ich die Bundesregierung Folgendes
fragen: Kann man daraus, dass sich die Bundeskanzlerin
so früh in diese Debatte eingemischt hat, schließen, dass
sie gegenüber der Federführung des zuständigen Res-
sorts eine gewisse Zurückhaltung an den Tag legt ange-
sichts der Erfahrungen, die sie mit dem UN-Mandat
1973 betreffend Libyen und dem Abstimmungsverhalten
des deutschen Vertreters im UN-Sicherheitsrat gemacht
hat?
C
Die Bundeskanzlerin, die in der letzten Woche anläss-
lich der Bundeswehrtagung in Strausberg in ihrer Rede
auf die Möglichkeit eines Mandats betreffend Mali Be-
zug genommen hat, befindet sich genauso wie die ge-
samte Bundesregierung in absoluter Übereinstimmung
mit dem federführenden Bundesminister des Auswärti-
gen und dem Bundesverteidigungsminister.
Nächste Nachfrage stellt unser Kollege Hans-Christian Ströbele.
Danke, Herr Staatssekretär. – Wie kommt die FrauBundeskanzlerin angesichts der Tatsache, dass die Di-mension, Ausgestaltung und Planung eines Einsatzes of-fenbar noch völlig im Nebel sind, und angesichts dervielfachen Beteuerungen der Bundesregierung, eine mi-litärische Beteiligung nur als Ultima Ratio anzusehen,eigentlich dazu, die Beteiligung an einer militärischenOption zuzusagen, wenn bisher alle anderen Möglich-keiten, den Konflikt in Mali zu bewältigen, noch nichtausgeschöpft sind?War der Bundeskanzlerin, als sie diese Zusage füreine Beteiligung an einer militärischen Option unbe-kannten Ausmaßes gemacht hat, bekannt, dass eine derMudschaheddin-Gruppen in Mali bereits angekündigthat, dass sie die Hauptstadt innerhalb von 24 Stunden er-obern wird, wenn es zu einem militärischen Eingreifendes Auslands kommt? Ist es nicht abzusehen, dass es
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24620 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Hans-Christian Ströbele
(C)
(B)
dann auch mindestens zu einer Art Partnering wie inAfghanistan mit den sehr desolaten malischen Truppenkommen muss?C
Herr Kollege Ströbele, Ihre exegetischen Fähigkeiten
in allen Ehren,
aber mir, wie wohl auch der Bundeskanzlerin selbst, hat
sich nicht erschlossen, dass sie eine Zusage im Hinblick
auf ein noch zu bestimmendes Mandat – Stichwort:
CONOPS, Operationsplan usw. – gegeben hätte.
Es ging um den übrigens auch in diesem Haus mehr-
fach erhobenen Vorwurf, die Bundesregierung würde
sich nicht rechtzeitig mit internationalen Konflikten, ins-
besondere solchen in Afrika, beschäftigen. Die Äuße-
rung der Bundeskanzlerin dokumentiert, dass sich die
Bundesregierung politisch mit diesen Fragen beschäf-
tigt, dass sie aber noch zu keiner endgültigen Antwort
gekommen ist. Das Thema liegt allerdings auf dem Tisch
der internationalen Gemeinschaft, und zwar spätestens
seit dem Beschluss des Sicherheitsrats der Vereinten Na-
tionen.
Ich darf darauf hinweisen, dass die Bundesrepublik
Deutschland gegenwärtig Mitglied im Sicherheitsrat der
Vereinten Nationen ist und die Resolution, die Mali be-
trifft und die im Sicherheitsrat verabschiedet worden ist,
mitgetragen hat. Daraus kann man schließen, dass die
Bundesregierung die Augen vor der Situation in Afrika
und in Mali nicht verschließt. Diese Situation hat übri-
gens zu einem gewissen Teil auch damit zu tun, dass die
Operation in Libyen Kräfte hervorgebracht hat, die, aus-
gerüstet mit militärischem Material, in anderen Ländern
vagabundieren und dort Unsicherheit erzeugen.
Es besteht also die Notwendigkeit, sich mit der Lage
in Mali zu beschäftigen. Das heißt aber nicht, dass schon
jetzt eine konkrete Antwort gegeben werden kann. Ich
habe darauf hingewiesen, welche Verfahrens- und Ent-
scheidungsabläufe in den nächsten Wochen zu erwarten
sind.
Herr Kollege Ströbele, Ihr Fraktionskollege
Dr. Frithjof Schmidt ist an der Reihe. Bitte schön.
Herr Staatssekretär, ich habe verstanden, dass Sie mo-
mentan noch prüfen, ob und gegebenenfalls welche
Truppen Sie ausbilden. Ich habe eine Nachfrage dazu,
was Sie genau prüfen: Ziehen Sie momentan in Erwä-
gung, in Mali auch Truppen auszubilden bzw. eine sol-
che Ausbildung fortzusetzen, während sie in Kampf-
handlungen verwickelt sind, oder können Sie eine solche
Erwägung im Augenblick schon ausschließen?
C
Herr Kollege Schmidt, die feine Ziselierung Ihrer
Frage spürend,
will ich sagen, dass wir die Ausbildung prüfen, nicht
Einsätze im Sinne eines Kampfeinsatzes bzw. im Sinne
dessen, was das Bundesverfassungsgericht in besagtem
Urteil erklärt hat. Das habe ich vorhin dargelegt.
Sie werden deswegen von mir keine weitere Antwort
erhalten können, weil wir mit dem Prüfprozess und mit
der Bewertung dessen, was möglich ist, auf nationaler
Ebene noch gar nicht so weit sind. Auch wenn ein Vor-
schlag auf europäischer Ebene zu beraten sein wird,
kann das nicht heißen, dass automatisch alle Mitglied-
staaten solch einem Vorschlag für das Krisenmanage-
mentkonzept unverändert zustimmen werden. Wir wol-
len allerdings erreichen, dass die Konsentierung bis zur
Erstellung dieses Konzeptes abgeschlossen ist.
Die Schwierigkeit in Mali wird in der Tat sein – Sie
gestatten, dass ich die Frage der Ausbildung durch die
Bundeswehr, die in diesem Zusammenhang nur eine sehr
nachgeordnete Rolle spielt, behandle –, dass die Hälfte
dieses afrikanischen Landes durch terroristische Kräfte
besetzt ist. Diese Kräfte stehen in einem gewissen Zu-
sammenhang damit, dass sich die gegenwärtige malische
Regierung selbst durch einen Putsch an die Macht ge-
bracht hat. Es gilt, dieses schwierige Geflecht so zu be-
handeln, dass daraus nicht ein in die Nachbarschaft noch
weiter hineingehender Brandherd entsteht. Das ist die
Aufgabe, die zugegebenermaßen schwierig ist, der wir
uns aber stellen.
Nächste Nachfrage, unser Kollege Uwe Kekeritz.
Herr Staatssekretär, ich habe aus vielen Beiträgen er-fahren, dass Sie prüfen, ob ausgebildet werden soll.Kann ich aus dem, was Sie gesagt haben, schließen, dassSie nicht prüfen, aktiv an Militäraktionen teilzunehmen?Kann ich außerdem schließen, dass dieses Nichtprüfenzwar länger als zwei, drei Monate andauert, dass Sieaber danach vielleicht doch prüfen, sich an kriegerischenoder militärischen Auseinandersetzungen aktiv zu betei-ligen?Es ist nämlich nicht so, dass nur das Magazin Cicerodarüber berichtet, dass Frankreich ganz konkrete Plänezu einer militärischen Intervention hat; darüber gibt esglobal zurzeit eine Reihe von Nachrichten. Meines Er-achtens ist es auszuschließen, dass Frankreich einen Al-leingang macht. Sie haben vorhin selber darauf hinge-wiesen, dass, wenn es zu irgendwelchen Aktionenkommt, dies europäische Aktionen sein werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24621
(C)
(B)
C
Herr Kollege Kekeritz, prüfen muss man, wenn man
sich binden will.
Ich will noch einmal festhalten: Stellen Sie sich vor,
ich würde Ihnen hier ungeprüft über Dinge berichten, die
die Bundesregierung erwägt. Was würden Sie dann über
die Bundesregierung denken? Da ich möchte, dass ich
als Vertreter der Bundesregierung in gutem Ansehen
stehe, sage ich das, was ich sagen kann, und nicht das,
wovon man möchte, dass ich es vielleicht tue: dass ich
Ihnen zustimme.
Der Rat für Außenbeziehungen der Europäischen
Union hat am 15. Oktober einen Auftrag erhalten – ich
bin jetzt nicht bei dem, was geprüft wird, sondern bei
dem, was wir beschlossen haben –, eine nichtexekutive
Ausbildungsmission in Mali im Rahmen eines Krisen-
managementkonzeptes zu prüfen. Dies ist tatsächlich
eine Beschränkung auf ein Ausbildungskonzept.
„Nichtexekutiv“ heißt, dass man auf kriegerische Aus-
einandersetzungen nicht einwirkt. Ich will die völker-
rechtlichen Fragestellungen dabei einmal beiseitelassen,
die angesichts der Situation in diesem Land gesondert
betrachtet werden müssten.
Bisher ist beabsichtigt – das ist keine Betrachtung, die
vorbehaltlich der Ergebnisse, die die „Fact-finding Mis-
sion“ der EU aus Mali mitgebracht hat, zu anderen Er-
gebnissen führt –, dass am 19. November der Rat für
Außenbeziehungen der Europäischen Union darüber et-
was vorgelegt bekommt. Wir sind grundsätzlich bereit,
uns an einer europäischen GSVP-Ausbildungsmission
für Mali zu beteiligen, wenn die Voraussetzungen dafür
geklärt und gegeben sind. Ich spreche ausdrücklich von
Ausbildungsmission, das heißt nicht von einer Kampf-
mission.
Es gibt keine weitere Nachfrage zur dringlichen Frage 1
des Kollegen Niema Movassat.
Jetzt kommt die dringliche Frage 2 des Kollegen
Niema Movassat:
Kann die Bundesregierung vor dem Hintergrund, dass sie
nach jetzigem Planungsstand kein Bundestagsmandat für eine
Mali-Mission anstrebt, mit absoluter Sicherheit ausschließen,
dass die Bundeswehr in Kampfhandlungen gleich welcher Art
und gleich welchen Umfangs verstrickt sein wird – wo auch
immer sie im Zusammenhang mit der Mali-Krise zum Einsatz
kommen wird?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
C
Zu der Frage, ob die Bundeswehr sich in Kampfhand-
lungen begeben will, kann ich sagen: Es gibt keinerlei
Intentionen in diese Richtung.
Ihre erste Nachfrage, Kollege Movassat.
Danke. – Der BundeswehrVerband hat sich ja eben-
falls zu dem geplanten Einsatz geäußert – ich zitiere –:
Uns treibt die Sorge um, dass die Bundeswehr wie-
der einmal unüberlegt und verantwortungslos in ei-
nen Einsatz entsendet wird, der Teil einer nur lü-
ckenhaften politischen Konzeption ist.
Das ist eine sehr klare Aussage. Der BundeswehrVer-
band sieht also die Gefahr, dass es aufgrund der Lage im
Land, selbst wenn man da nur im Rahmen einer Ausbil-
dungsmission hineingeht, zu kriegerischen Auseinander-
setzungen kommen kann. Daher meine Frage: Wie ge-
hen Sie mit der Kritik des BundeswehrVerbandes um?
C
Sehr verehrter Kollege, auch der BundeswehrVerband
gibt manchmal Presseäußerungen von sich, die man
nicht unbedingt teilen muss. Denn das, was verkürzt in
dieser Pressemeldung, die Sie zitiert haben, die ich aber
nicht überprüft habe, dargestellt wird, hieße ja, dass
20 Jahre Auslandseinsätze der Bundeswehr per se als
unüberlegt anzusehen wären. Dies jedoch entspricht
nicht der Wahrheit.
Ich habe keine Befugnis, jetzt für alle Mitglieder des
Hohen Hauses zu sprechen. Aber als jemand, der seit
22 Jahren dem Deutschen Bundestag angehört, würde
ich für die Bundesregierung und für den Deutschen Bun-
destag – wenn Sie gestatten – doch sehr die Bewertung
in Anspruch nehmen, dass sehr wohl sehr intensiv ge-
prüft und dann entschieden worden ist. Ich berichte ja
gerade von intensiver Prüfung. Es schwingt in der Kritik
der Eindruck mit, es würde Abenteuerhaftigkeit bedient.
Das kann ich absolut ausschließen.
Die Bundesregierung teilt in ihrer Zurückhaltung die
Einschätzung, dass bei Einsätzen im Rahmen von UN-
Mandaten und von regionalen Mandaten auch die Eska-
lationsgefahr betrachtet und, wo notwendig, dann auch
abgewendet werden muss. Jeder Auslandseinsatz der
Bundeswehr muss ein Ausnahmeeinsatz bleiben, und er
bedarf einer guten Begründung. Dem wollen wir nach-
kommen. Deswegen kann ich die Besorgnis des Bundes-
wehrVerbandes, soweit er diese geäußert haben sollte,
zerstreuen.
Ihre zweite Nachfrage.
Danke schön. – Aber der BundeswehrVerband nenntkonkrete Beispiele, so etwa das Beispiel Afghanistan.Da ist man zuerst zu Ausbildungszwecken hineingegan-gen und ist nun in einen Krieg verstrickt. Auch da standam Anfang offensichtlich kein überlegtes Vorgehen.Sonst hätte man ja gewusst, wo das schließlich endet.Jetzt noch eine Nachfrage. Sie werden ja laufend dieSicherheitslage im Land überprüfen und Berichte dazuvorliegen haben. Wenn man sich das einmal von außenanschaut, dann ergibt sich folgendes Bild: Nordmali ist
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24622 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Niema Movassat
(C)
(B)
besetzt durch Rebellen, und im Süden Malis hat sich dieRegierung an die Macht geputscht. Es gibt genugSprengstoff für Konflikte im ganzen Land. Daher dieFrage: Wie schätzen Sie die Sicherheitslage Malis ein?Schließen Sie aus, dass es auch in Südmali zu Auseinan-dersetzungen kommen kann?C
Herr Präsident, die letzte Frage zu Südmali will ich
noch beantworten. Ich würde allerdings ungern von ei-
ner konkreten Frage ausgehend zu einer allgemeinen
Betrachtung der Sicherheitslage Nordafrikas bzw. Malis
übergehen. Dieser Teil der Frage müsste dann in den
Ausschüssen beraten und in einer umfassenden Form be-
antwortet und bewertet werden.
Was die Sicherheitslage angeht, so will ich auf das
verweisen, was Sie, Herr Kollege, zu Afghanistan sagen.
Natürlich sehen Dinge nach zehn Jahren immer anders
aus. Das zeigt übrigens die allgemeine Lebenserfahrung.
Diejenigen, die nach zehn Jahren sagen, sie hätten von
Beginn an genau gewusst, wohin es geht, mag ich beson-
ders gern – das darf ich einmal sagen –; denn das zeugt
nicht von besonders qualifizierten Kenntnissen. – Herr
Präsident, ich bitte um Entschuldigung für diesen emo-
tionalen Ausbruch, wenn er denn als solcher angesehen
werden sollte.
Aber ich möchte doch an Sie appellieren, Respekt vor
dem Deutschen Bundestag zu haben, der sich in unzähli-
gen Debatten nun wirklich vertieft mit unterschiedlichen
Positionen zu solchen Fragen beschäftigt hat, und ich
möchte mich gleichzeitig davor hüten, ins Spekulative
abzugleiten. Das würde ich tun, wenn ich Ihre auf die
Zukunft gerichteten Fragen im Detail beantworten
würde.
Die Sicherheitslage in Mali ist im Norden schwieriger
als im Süden. Deswegen kann ich natürlich nicht sagen,
dass wir eine absolut friedliche demokratische Struktur
vorfinden, bei der es nur Auseinandersetzungen in Form
von Disputen und nichts anderem gibt. Deswegen muss
man das in die Planung mit einbeziehen. – Diesen Teil
beantworte ich; die allgemeine andere Frage bitte ich in
zukünftige Debatten zu verlegen.
Was die anderen Kolleginnen und Kollegen fragen,
wird sich jetzt herausstellen. Frau Katja Keul ist die
nächste Nachfragerin.
Herr Schmidt, wir fragen weiter, auch wenn wir
22 Jahre keine Antworten bekommen sollten.
Wir hören von Ihnen, dass Sie umfangreich prüfen:
den gesamtpolitischen Lösungsansatz, die Einbindung
der Region usw. Dabei hören wir auch immer, dass alle
sich darüber im Klaren sind, dass der wichtigste und
größte Player in der Region Algerien ist, sowohl in mili-
tärischer Hinsicht als auch möglicherweise in seiner
Rolle als Verhandlungsführer. Jetzt frage ich Sie: Warum
ist der Außenminister bei seiner Reise in die Region aus-
gerechnet in das Land, das der wichtigste Player in die-
ser Region ist, nicht gereist, und welche Gespräche führt
die Bundesregierung sonst mit Algerien?
C
Vielen Dank, Frau Kollegin. – Wenn ich Ihre emotio-
nale Komponente mit dem Verweis auf die 22 Jahre auf-
greifen darf: Wenden Sie sich doch bitte auch an Ihre ei-
gene Fraktion, die einige maßgebliche Entscheidungen
zu Afghanistan mitgetroffen hat. So ist es ja nun nicht,
dass hier Kollegen sitzen – mit Ausnahme der Linken –,
die über Auslandseinsätze nicht intensiv beraten hätten.
Ich gehe davon aus – ich weiß es ja auch aus vielen
Debatten –, dass das bei Ihnen, genauso wie bei uns
übrigens, der Fall war.
Das Thema Algerien, auf das Sie aus Ihrer Erfahrung
in mehrfacher Hinsicht hingewiesen haben, ist aufge-
nommen worden. Es bedarf bei der Betrachtung der
Möglichkeit, den einen oder anderen Nachbarn mit ein-
zubeziehen, auch eines gewissen konzeptionellen Inte-
resses. Ich will mir versagen, über die algerische Posi-
tion zu sprechen. Diese ist vernommen worden; dazu
bedarf es aber keiner Reise. Ich gehe davon aus, dass
man, wenn man die Lage betrachtet, sehen muss – das
gilt auch für die Europäische Union –, dass Algerien als
Nachbarland von Mali natürlich eine Rolle spielt. Das
gilt übrigens für andere Nachbarstaaten, etwa für Niger,
nicht in gleicher Weise; aber auch diese Länder müssen
mit einbezogen werden.
Nächste Nachfrage durch unseren Kollegen Dr. Rolf
Mützenich.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Herr Schmidt, nach-
dem sich die Bundeskanzlerin, der Verteidigungsminis-
ter und auch der Außenminister sehr frühzeitig in dieser
Debatte geäußert haben, hat sich der Herr Bundesminis-
ter für wirtschaftliche Zusammenarbeit ebenfalls zu die-
sem Thema eingelassen. Er hat erklärt, dass die Situation
im Norden Malis mit der Situation in Afghanistan – ich
nehme mal an: zum Zeitpunkt der Anschläge vom
11. September in New York und Washington – ver-
gleichbar sei. Teilen Sie diese Ansicht, und halten Sie
diese öffentliche Äußerung für hilfreich für die Debatte,
die die Bundesregierung in diesen Tagen zu bestreiten
hat?
C
Herr Kollege, die Äußerungen, die BundesministerNiebel gemacht hat, sind in den allgemeinen öffent-lichen Debattenkomplex einzubeziehen. Ich verstehe dasso, dass er einen warnenden Hinweis geben wollte, näm-lich sorgfältig zu prüfen, wohin die Dinge sich entwi-ckeln können, und aufzeigen wollte, welche Perspektiven
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24623
Parl. Staatssekretär Christian Schmidt
(C)
(B)
man sieht. Die Entscheidung hat er nicht vorweggenom-men. Das Bundeskabinett hat sich damit auch noch garnicht befasst; wir werden das im Rahmen der allgemei-nen Abstimmung auf verschiedenen Ebenen machen.Sie wissen, dass die Bundesregierung beispielsweiseden Ressortkreis „Zivile Friedenssicherung“ hat, an demauch das BMZ beteiligt ist. Schon allein daraus wird er-kennbar, dass es eine Vielfalt von Instrumentarien gibt,um in Regionen eine Befriedung zu fördern. Das Bun-desministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung hat hier eine große Bedeutung. Aus diesemInteresse heraus verstehe ich die Wortmeldung des Kol-legen Niebel, die sicherlich in weiteren Beratungen ein-bezogen werden wird.
Nächste Nachfrage durch unseren Kollegen Jan van
Aken.
Herr Schmidt, ich glaube, Sie machen gerade zwei
große Fehler.
Der erste Fehler ist, dass Sie hier nicht klipp und klar
sagen, dass Sie die Option, eine Ausbildungsmission auf
malischem Staatsgebiet durchzuführen, in den Bundes-
tag einbringen werden. Sie verschwurbeln das mit dem
Hinweis auf das Parlamentsbeteiligungsgesetz und da-
rauf, dass Sie keine Intention, was Kampfhandlungen
betrifft, haben. Sie machen aber keine klare Aussage.
Ich sage Ihnen eines: Sie werden damit nicht durch-
kommen. Wenn Sie auch nur einen einzigen Bundes-
wehrsoldaten – mit welchem Mandat auch immer – auf
malisches Staatsgebiet stellen, dann greift das Parla-
mentsbeteiligungsgesetz. Wenn Sie diesen Fall nicht in
den Bundestag einbringen, werden Sie vor dem Bundes-
verfassungsgericht verlieren. Das möchte ich Ihnen mit
auf den Weg geben. Es würde Sie nichts kosten, für die
Bundesregierung klarzustellen, dass Sie auf jeden Fall
den Bundestag beteiligen. Dass Sie hier eine Auskunft
verweigern, macht mich nicht nur nachdenklich, sondern
lässt bei mir auch alle Alarmglocken läuten.
Der zweite große Fehler – dieser ist noch viel weitge-
hender – ist, dass Sie hier systematisch jede Antwort
verweigern. Sie machen es sehr geschickt. Auf jede kon-
krete Frage gibt es eine unkonkrete Antwort. Das Glei-
che haben Sie bei Somalia getan, als es darum ging, den
Einsatz auch auf den Strand zu erweitern. Wochenlang
haben wir hier im Bundestag darüber debattiert, was das
genau heißen soll. Wir haben keine Antworten von Ihnen
bekommen. Das Ergebnis war eine lang andauernde und
große Unsicherheit. Dazu gab es dann keine allgemeine
Zustimmung, was mich gefreut hat; denn ich persönlich
fand diese Maßnahme falsch. Damals haben Sie einen
großen Fehler gemacht, den Sie jetzt wiederholen wol-
len.
Meine Frage: Gedenken Sie jetzt, Ihre Antworten zu
präzisieren?
C
Herr Kollege van Aken, ich darf an Ihrer Fehlerlosig-
keit einen kleinen Abstrich machen. Bevor nicht die
Bundesregierung eine Entscheidung über eine mögliche
Beteiligung an einem mandatspflichtigen Einsatz getrof-
fen hat, wird sie Ihnen keine Antwort darauf geben. Ein
entsprechender Antrag wurde noch nicht geschrieben; er
ist bis jetzt fiktiv. Das Bundeskabinett wird erst eine ent-
sprechende Beschlussfassung herbeiführen und dann
selbstverständlich einen Antrag in den Deutschen Bun-
destag gemäß dem Parlamentsbeteiligungsgesetz ein-
bringen. Ihre Sorge, dass sich die Bundesregierung nicht
ganz strikt an die rechtlichen Vorgaben bezüglich der
Beteiligung des Parlamentes halten wird, hoffe ich, Ih-
nen nehmen zu können. Wenn Sie Ihren diesbezüglichen
Vorwurf von meinem Fehlerkonto streichen würden,
wäre ich dankbar.
Sie können davon ausgehen: Wir kommen darauf zu-
rück, wenn die Notwendigkeit besteht. Am liebsten wäre
mir, wenn wir in Mali nicht mit Mitteln von außerhalb
die Befriedung herbeiführen oder unterstützen müssten.
Ob diese Mittel notwendig sein werden, kann ich nicht
absehen. Ich habe einen Zeitplan genannt und von eini-
gen Wochen gesprochen.
Ich habe das Urteil des Bundesverfassungsgerichts si-
cherheitshalber noch einmal nachgelesen. Dort heißt es:
… führt erst die qualifizierte Erwartung einer Ein-
beziehung in bewaffnete Auseinandersetzungen zur
parlamentarischen Zustimmungsbedürftigkeit …
Als Indiz hierfür wird das Mitführen von Waffen ge-
nannt. Das hat man als Einsatz im Sinne des Parlaments-
beteiligungsgesetzes zu verstehen. Ich weiß um den
eingeschränkten Spielraum der Bundesregierung. Des-
wegen werden wir uns völlig korrekt, wie Sie es von uns
gewohnt sind und erwarten können, verhalten.
Vielen Dank. – Aus gegebenem Anlass weise ich da-
rauf hin, dass wir in der Fragestunde sind. Nächste Frage
von der Kollegin Kathrin Vogler.
Herr Staatssekretär, ich schließe an das an, was Sievorhin zum Engagement des BMZ gesagt haben. Wir ha-ben uns im Unterausschuss „Zivile Krisenpräventionund vernetzte Sicherheit“ am Montag auch mit der Lagein Mali und im Sahel beschäftigt.Ich möchte Sie an dieser Stelle gerne fragen, wannsich der Ressortkreis – der übrigens nicht „Zivile Frie-denssicherung“, sondern „Zivile Krisenprävention“heißt –, dem Ihr Ministerium ja auch angehört, zuletztmit der Lage in Mali beschäftigt hat oder wann die Bun-desregierung plant, diesen Ressortkreis um eine Bera-tung zu der Frage zu bitten, was aus Sicht der verschie-denen Ressorts getan werden kann, um die Lage in Malinicht weiter eskalieren zu lassen.
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24624 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
(C)
(B)
C
Sie haben völlig recht, der Ressortkreis heißt „Zivile
Krisenprävention“. Wie konnte mir dieser Fehler nur un-
terlaufen? Ich bitte um Entschuldigung.
Der Ressortkreis beschäftigt sich durchgängig und
ständig insbesondere mit den potenziellen Krisenherden
– er heißt ja „Krisenprävention“ –, auch mit denen in
Afrika. Er hat sich im Rahmen seiner Beratungen bereits
mit der Situation in Mali beschäftigt und wird das auch
weiterhin tun. Wenn Sie genaue Daten haben wollen,
dann muss ich allerdings die Sekretariate bitten, Ort und
Uhrzeiten nachzunennen.
Ich glaube aber nicht, dass das besonders förderlich ist.
Wichtig ist, dass es getan wird.
Nächster Fragesteller: unser Kollege Uwe Kekeritz. –
Bitte schön, Kollege Uwe Kekeritz.
Herr Staatssekretär, sicherlich werden Sie auch meine
Frage nicht beantworten. Ich möchte Sie aber trotzdem
mit einer Aussage des Außenministers konfrontieren. Er
sagte nämlich, er wolle zunächst mit zivilen Maßnahmen
in Mali intervenieren und stelle dafür 13,5 Millionen
Euro zur Verfügung. Ich halte das für viel zu wenig.
Darüber hinaus macht mich das Wörtchen „zunächst“
etwas stutzig. Wir wissen, dass es in Mali zurzeit mehr
als 400 000 Vertriebene und Binnenflüchtlinge gibt.
Diese Menschen werden kaum von dem in Aussicht ge-
stellten Geld profitieren, weil es uns oder den Organisa-
tionen vor Ort überhaupt nicht möglich ist, Hilfestellun-
gen zu leisten. Das wäre viel zu gefährlich.
Wir wissen aber vor allen Dingen, dass diejenigen,
die das Land erobert haben, die Terroristen, aufrüsten
und ihre Macht festigen. Je länger man wartet, desto
schwieriger wird es, eine Lösung zu finden. Angesichts
dieser Situation kann ich mir nicht vorstellen, dass Sie
nicht über konkrete Maßnahmen nachdenken. Eine reine
Ausbildung ist ja überhaupt kein Lösungsansatz. Das
müssten Sie doch auch wissen.
Was denken Sie zu tun, und wie interpretieren Sie das
Wörtchen „zunächst“?
C
Die Bundesregierung ist sich, wie wir gerade im Zu-
sammenhang mit dem Begriff der „zivilen Krisenprä-
vention“ gehört haben, natürlich darüber bewusst, dass
man im Sinne einer zu vermeidenden Eskalation – Sie
gestatten, Herr Kollege, dass ich dieses Wort jetzt ver-
wende – zunächst versuchen muss, mit zivilen Mitteln,
Unterstützung und Hilfe das Problem bei der Wurzel an-
zugehen.
Die Verwendung des Wortes „zunächst“ durch den
Bundesaußenminister lässt allerdings auch den Hinweis
zu, dass er ähnliche Sorgen und Erkenntnisse hinsicht-
lich einer möglichen Eskalation durch die verschiedenen
Terrorgruppierungen hat. Es gibt ja auch Terrorgruppie-
rungen, die sich offensichtlich aus anderen afrikanischen
Ländern heraus betätigen; ich will in diesem Zusammen-
hang nur an Boko Haram und Nigeria erinnern. Im Sinne
einer notwendigen und sofortigen Hilfe – gerade auch im
Hinblick auf die von Ihnen genannten Binnenflücht-
linge, die vor allem vom Norden in den Süden ziehen –
muss daher etwas getan werden.
Sie mögen daraus aber auch eine grundsätzliche Zu-
rückhaltung vor militärischen Einsätzen erkennen, unge-
achtet wer sie durchführt – sei es nun die malische Ar-
mee, von der man nicht weiß, ob sie wirklich dazu fähig
und in der Lage ist, oder ECOWAS, die westafrikanische
Wirtschaftsorganisation, die sich bereits engagiert.
Ich will durchaus zugeben, dass wir in manchen Fra-
gen noch zu keiner abschließenden Bewertung gekom-
men sind und dass es vermutlich schwierig sein wird, so-
zusagen ein Gesamtbefriedungskonzept vorzulegen, das
dann in den nächsten Wochen oder Monaten nach einem
Stufenplan und mit Benchmarks exakt abzuarbeiten ist.
Es geht darum, die afrikanischen Fähigkeiten zu stär-
ken. Dahinter steckt auch der Gedanke der Ausbildung.
Denn wir sollten – das sollten wir auch sagen – schon
aus dem Grunde, dass Mali und viele andere Länder
Afrikas ehemalige Kolonien europäischer Staaten sind,
mit großer Zurückhaltung vorgehen, wenn es um die
Frage geht, sich dort wie auch immer – oder gar militä-
risch – zu engagieren. Das ist die Überlegung, die die
Bundesregierung allgemein anstellt und die der Bundes-
außenminister auf seiner sehr intensiven Reise in den
Gesprächen mit den Verantwortlichen zum Ausdruck ge-
bracht hat.
Vielen Dank. – Mir liegen hierzu keine weiterenNachfragen vor.Nachdem die dringlichen Fragen aufgerufen und be-antwortet worden sind, rufe ich jetzt die mündlichen Fra-gen auf Drucksache 17/11282 in der üblichen Reihen-folge auf.Wir kommen jetzt zum Geschäftsbereich des Bundes-ministeriums für Bildung und Forschung. Zur Beantwor-tung steht der Parlamentarische Staatssekretär Dr. HelgeBraun zur Verfügung.Frage 1 kommt von unserem Kollegen Swen Schulz:Welche für 2013 vorgesehenen Ausgaben aus dem Einzel-plan 30 werden aus Sicht der Bundesregierung angesichts dermittelfristigen Finanzplanung ab dem Jahr 2014 nicht mehrmöglich sein?Bitte schön, Herr Staatssekretär, zur Beantwortung.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24625
(C)
(B)
D
Danke, Herr Präsident. – Lieber Herr Kollege Schulz,
ich kann Sie vollends beruhigen: Wir haben eine mittel-
fristige Finanzplanung, die eine Finanzierung der Pro-
gramme des Bundes auch in den kommenden Jahren
möglich macht. Das, was Sie als Sondereffekt sehen, ist
allein dem Umstand geschuldet, dass wir im Haushalt
2013 gegenüber der Grundlinie, die wir ansonsten in den
Haushalten verfolgen, 320 Millionen Euro zusätzlich für
den Hochschulpakt verankert haben. Das geht auf die
Vereinbarung mit den Ländern zurück, dass wir die zu-
sätzlichen Studienplätze, deren Schaffung durch die dop-
pelten Abiturjahrgänge und die Aussetzung von Wehr-
dienst und Zivildienst motiviert ist, im Jahr 2013
ausfinanzieren.
Kollege Swen Schulz, Ihre erste Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Bedeutet das aber
auch, dass Sie für die nächsten Jahre keine zusätzlichen
Ausgaben vorsehen, etwa um Kostensteigerungen in-
folge von Nachverhandlungen des Hochschulpakts, ein
höheres BAföG oder anderes zu finanzieren?
D
Lieber Herr Kollege, die mittelfristige Finanzplanung
ist ein internes Planungsinstrument der Bundesregie-
rung. Die Tatsache, dass beim Wechsel vom damaligen
Finanzminister Steinbrück zum Finanzminister Schäuble
für den gesamten Hochschulpakt in der mittelfristigen
Finanzplanung nicht ein einziger Euro vorgesehen war,
macht zum Beispiel deutlich, dass man hinsichtlich
neuer Projekte, zum Beispiel einer Veränderung des
Hochschulpakts infolge neuer Verhandlungen zwischen
Bund und Ländern, keinerlei Ableitung aus der mittel-
fristigen Finanzplanung vornehmen kann. Ganz im Ge-
genteil: Sie können erkennen, dass diese Bundesregie-
rung, beschlossen vom Haushaltsgesetzgeber, mit der
Mehrheit von CDU/CSU und FDP, in jedem Jahr mehr
Geld im Haushalt bereitgestellt hat, als es in der mittel-
fristigen Finanzplanung vorgesehen war. Insofern kön-
nen Sie auch da beruhigt sein.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Schulz.
Danke schön, Herr Präsident. – Herr Staatssekretär,
nun ist das Vereinbaren eines gänzlich neuen Hochschul-
pakts, den es vorher gar nicht gab, etwas anderes als die
laufende Diskussion über die Hochschulpakte und deren
Verlängerung.
Lassen Sie mich an einem anderen Punkt nachfragen.
Wir haben den Beschlüssen des Koalitionsausschusses
entnommen, dass bereits 2014 viel ambitioniertere
Haushaltsziele erreicht werden sollen. Gibt es schon ir-
gendwelche Planungen oder Überlegungen aufseiten des
Bundesministeriums für Bildung und Forschung, wel-
cher Beitrag dann aus dem Haushalt des BMBF zu leis-
ten wäre?
D
Sie können sich auf das verlassen, was die Bundes-
kanzlerin in ihrer Regierungserklärung gesagt hat: Wir
nehmen das Ziel ernst, in Deutschland einen Anteil der
Ausgaben für Forschung am Bruttoinlandsprodukt von
3 Prozent und für Bildung von 7 Prozent zu erreichen.
Sie hat darauf hingewiesen, dass die Ziele, die wir auf
europäischer Ebene vereinbaren, generell eine höhere
Verbindlichkeit bekommen müssen.
Unter der Federführung unserer Bundeskanzlerin
wird die Bundesregierung diese Ziele erfüllen und ent-
sprechende Mittel in den nächsten Jahren in den Haus-
halt einstellen.
Vielen Dank. – Es gibt keine weiteren Nachfragen.
Ich rufe die Frage 2 des Kollegen Swen Schulz auf:
Ist nach Auffassung der Bundesregierung für die geplante
Kooperation zwischen Charité – Universitätsmedizin Berlin
und Max-Delbrück-Centrum für Molekulare Medizin, MDC,
Berlin-Buch, eine Änderung des Grundgesetzes erforderlich,
und, falls nein, für welche Art von Vorhaben ist die von der
Bundesregierung vorgeschlagene Änderung des Art. 91 b GG
vorgesehen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege, am Beispiel des Karlsruher Instituts für
Technologie, aber auch am Beispiel Max-Delbrück-Cen-
trum und Charité wird deutlich, dass außeruniversitäre
Forschungseinrichtungen und universitäre Forschungs-
einrichtungen in Deutschland viel enger zusammen-
arbeiten müssen. Der Trend der letzten Jahre ist, dass
immer mehr hervorragende Forschung aus den Universi-
täten ausgelagert und in außeruniversitäre Forschungs-
einrichtungen überführt wird. Das führt dazu, dass diese
Forschung in den Hochschulen fehlt.
Wir halten diese Entwicklung für nicht richtig. Des-
halb hat das Bundeskabinett beschlossen, Art. 91 b
Grundgesetz zu ändern, damit nicht nur durch Verwal-
tungsvereinbarungen und Kooperationsverträge eine
enge Verzahnung von außeruniversitärer Forschung und
universitärer Forschung, gegebenenfalls auch unter ei-
nem Dach, sondern auch eine echte Zusammenführung
solcher Institutionen möglich ist – auch mit kohärenten
Finanzierungsströmen.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege Schulz.
Vielen Dank. – Herr Staatssekretär, bedeutet das, dassSie die für die Charité und das Max-Delbrück-Centrum
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24626 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Swen Schulz
(C)
(B)
gefundene Lösung nur für die zweitbeste Lösung undletztendlich für unzureichend halten?D
Herr Kollege, nach der aktuellen grundgesetzlichen
Lage ist das die allerbeste Lösung, die man finden kann.
Klar ist, dass Grundlage von Kooperationen wie der zwi-
schen dem Max-Delbrück-Centrum und der Charité sehr
aufwendige, von allen beteiligten Partnern befürwortete
Vereinbarungen sind. Wenn wir in Zukunft in Deutsch-
land die Kooperation zwischen außeruniversitären und
universitären Einrichtungen sowie die Förderung der
Spitzenforschung an Universitäten unabhängig von einer
Kooperation mit außeruniversitären Partnern stärken
wollen, dann brauchen wir die Veränderung des
Art. 91 b Grundgesetz.
Eine zweite Nachfrage? – Nein. Aber der Kollege
Dr. Ernst Dieter Rossmann. Bitte schön, Kollege Ernst
Dieter Rossmann.
Herr Staatssekretär, ich erinnere mich, dass es früher
hieß, dass das Grundgesetz sehr schnell geändert werden
müsse, weil das die Voraussetzung dafür sei, um über-
haupt Fortschritte in Bezug auf die Kooperation zwi-
schen Max-Delbrück-Centrum und Charité zu erreichen.
Können Sie bestätigen, dass es solche Einschätzungen
sowohl aus der Wissenschaft als auch vom Ministerium
gegeben hat? Was hat Sie veranlasst, Ihre Haltung zu än-
dern?
D
Was Sie sagen, ist mir nicht erinnerlich. Klar ist, dass
wir aktuell Möglichkeiten gefunden haben, eine hervor-
ragende Kooperation, verbunden mit einer tollen For-
schungsagenda und vor allen Dingen auch mit der Mög-
lichkeit der Einrichtung neuer Studiengänge, zum
Beispiel Masterstudiengänge, die spezifisch auf die me-
dizinische Forschung ausgerichtet sind, auf den Weg zu
bringen. Insofern bin ich davon überzeugt, dass die be-
absichtigte Kooperation zwischen Max-Delbrück-Cen-
trum und Charité einer der Leuchttürme in der Gesund-
heitsforschung in Deutschland werden wird.
Wir haben hier eine Lösung gefunden. Eine vergleich-
bare Lösung zum Beispiel für hervorragende Hochschul-
institute, die keine Kooperation mit außeruniversitärer
Forschung eingehen, ist nicht denkbar. Diese Lösung ist
sicherlich nicht der Königsweg, den man auf jeden ande-
ren Standort übertragen kann. Insofern erübrigt sich
durch die hier gefundene Lösung im Hinblick auf eine
Kooperation die Änderung des Art. 91 b Grundgesetz in
keiner Weise.
Vielen Dank.
Die folgenden Fragen, also Frage 3 des Kollegen
Klaus Hagemann, Frage 4 des Kollegen Kai Gehring
und Frage 5 des Kollegen René Röspel, werden schrift-
lich beantwortet.
Ich komme zur Frage 6, die von unserem Kollegen
Michael Gerdes gestellt worden ist:
Wie definiert die Bundesregierung die europäische Inno-
vationsunion, die in dem von Bundesministerin Dr. Annette
Schavan am 31. Oktober 2012 in der Frankfurter Allgemeinen
Zeitung veröffentlichten Namensartikel angesprochen wurde,
und welche Maßnahmen werden von der Bundesregierung ak-
tuell durchgeführt, um die gewünschte Innovationsunion
Wirklichkeit werden zu lassen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Gerdes bezieht sich auf einen Namens-
artikel von Frau Bundesministerin Annette Schavan vom
31. Oktober 2012 in der Frankfurter Allgemeinen Zei-
tung, in dem sie auf die europäische Innovationsunion
hinweist.
Die Ziele und Inhalte der Innovationsunion sind in
den Kommissionsmitteilungen zur Europa-2020-Strate-
gie und zur Leitinitiative Innovationsunion beschrieben.
Mit der Europa-2020-Strategie aus dem Jahr 2010 legte
die Kommission die Nachfolgestrategie der Lissabon-
Strategie vor. Vor dem Hintergrund der großen gesell-
schaftlichen Herausforderungen wie Klimawandel, de-
mografische Entwicklung oder Endlichkeit der fossilen
Rohstoffe und Energiequellen stellt die Europa-2020-
Strategie eine Vision für eine europäische soziale Markt-
wirtschaft des 21. Jahrhunderts dar.
Kennzeichen sind ein hohes Beschäftigungs- und Pro-
duktionsniveau sowie ein ausgeprägter sozialer Zusam-
menhalt. Als eines der fünf Kernziele bis 2020 wird die
Steigerung der Forschungs- und Entwicklungsausgaben
auf 3 Prozent des BIP der EU weiterverfolgt.
Ziel der Innovationsunion ist eine Neuausrichtung der
Forschungs- und Innovationspolitik auf die großen ge-
sellschaftlichen Herausforderungen unter Abdeckung
der gesamten Innovationskette. Sie umfasst folgende
drei Grundelemente: a) Ausbau der Wissensbasis und
Förderung von Exzellenz, b) Zugang zu Kapital und
Ausbau der Finanzierungsinstrumente sowie c) die Er-
leichterung des Marktzugangs für europäische Unterneh-
men.
Ihre Nachfrage, bitte, Herr Kollege.
Herzlichen Dank. Herr Staatssekretär. – Ich habewohl vernommen, dass Sie auf die europäische Ebenehingewiesen haben. Aber welche Rolle wird dabeiDeutschland explizit spielen?
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24627
(C)
(B)
D
Im Grunde genommen ist die Innovationsunion et-
was, was sehr kongruent zu unserer deutschen Hightech-
Strategie ist. Die Innovationsunion adressiert die großen
globalen Herausforderungen. Hierzu haben wir die zen-
tralen Ziele in unserer Hightech-Strategie verankert. Sie
hebt ab auf die Schlüsseltechnologien, die es zur Bewäl-
tigung dieser globalen Herausforderungen gibt. Das sind
die Querschnittstechnologien in unserer Hightech-Stra-
tegie. Insofern kann man, so glaube ich, sagen, dass die
Hightech-Strategie ein Stück weit Vorbild für das war,
was jetzt in der Innovationsunion geschehen soll.
Haben Sie eine weitere Nachfrage? – Nein. Aber un-
ser Kollege Dr. Ernst Dieter Rossmann.
Herr Staatssekretär, wie bewertet die Bundesregie-
rung die Chancen für Länder wie Griechenland, Italien,
Spanien und Portugal, sich konstruktiv, innovativ und in-
vestiv an dieser Innovationsunion zu beteiligen, wenn
diese Länder gleichzeitig unter eine Haushaltskuratel ge-
stellt worden sind, in deren Zusammenhang wir lesen
können, dass diese Länder speziell in den Bereichen Bil-
dung und Forschung den Anteil von 3 Prozent am Brut-
toinlandsprodukt vielleicht erreichen, aber nur deshalb,
weil das Bruttoinlandsprodukt so stark fällt, und nicht
deshalb, weil die Mittel in diesen Bereichen erhöht wor-
den wären? Gibt es ein Monitoring bei der Bundesregie-
rung, um gegebenenfalls zu kreativen Ideen dahin ge-
hend zu kommen, wie man die Innovationskraft in dieser
Forschungsunion erhalten kann?
D
Lieber Herr Kollege, natürlich gibt es im Rahmen der
Diskussion, die wir jetzt über die mittelfristige Finanz-
vorausschau der Europäischen Union führen, auch eine
Diskussion über die Frage, wie wir die Wirtschaftskraft
der Länder, die jetzt im Defizitverfahren sind, stärken
können. Diese ist sehr wichtig. Deshalb sind auch viele
Strukturmittel, die in der Europäischen Union vorgese-
hen sind, grundsätzlich für den Aufbau von Forschungs-
infrastrukturen geeignet und nutzbar. Das ist ein Weg,
den wir weitergehen.
Auch die Bundesregierung selber pflegt intensive Ko-
operationen. Gerade heute, ganz aktuell, haben wir uns
mit Vertretern aus Portugal über das Thema der berufli-
chen Bildung auseinandergesetzt. Auch mit Vertretern
aus Spanien und Griechenland stehen wir in einem en-
gen Kontakt, um an den unterschiedlichen Grundlagen
für ein solches innovatives Wirtschaften zu arbeiten.
Dazu gehören zuallererst eine gute Bildung sowie die
Fachkräftesicherung in den beteiligten Ländern. Dazu
gehört auch der Aufbau von Forschungsinfrastrukturen.
Wir arbeiten daran, dass die europäischen Programme so
ausgerichtet sind, dass dies in den Ländern zielgerichtet
erfolgen kann. Wir sind in allen Fällen bereit, hierfür
deutsche Expertise bereitzustellen.
Wir kommen zur Frage 7, die ebenfalls von unserem
Kollegen Michael Gerdes gestellt worden ist:
Wann konkret will die Bundesregierung die von der Bun-
desministerin angesprochene steuerliche Forschungsförde-
rung auf die politische Agenda setzen, und welche weiteren
Möglichkeiten sieht die Bundesregierung zur Steigerung von
Innovationen bzw. innovativen Ideen, aus denen Produkte und
Dienstleistungen entstehen?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege, Sie fragen nach der Einführung der
steuerlichen Forschungsförderung. Ich beantworte Ihre
Frage wie folgt: Mit Blick auf die Anforderungen des
Art. 115 Grundgesetz sowie die europäischen Vorgaben
zur Haushaltsdisziplin besteht gegenwärtig nur ein be-
grenzter Spielraum für strukturell wirkende Steuermin-
dereinnahmen. Deshalb ist die Entscheidung über die
Einführung einer steuerlichen Förderung von Forschung
und Entwicklung unter Berücksichtigung des gebotenen
Konsolidierungskurses und der weiteren wirtschaftli-
chen Entwicklung zu einem späteren Zeitpunkt zu tref-
fen.
Ihre erste Nachfrage.
– Da sind Sie sprachlos.
Dann kommen wir zur Frage 8 unseres Kollegen
Dr. Ernst Dieter Rossmann:
Welche Gründe führt die Bundesregierung an, die Zuver-
dienstgrenze im Bundesausbildungsförderungsgesetz, BAföG,
nicht im Gleichschritt zum Inkrafttreten der neuen Minijob-
grenze von 450 Euro im Monat ebenfalls zum 1. Januar 2013
anzuheben, und ist noch in dieser Legislaturperiode eine ent-
sprechende BAföG-Änderung vorgesehen?
D
Zu Ihrer Frage ist zu sagen, dass es keine notwendigeVerquickung zwischen den Minijobs auf der einen Seiteund den Zuverdienstmöglichkeiten beim Auszubilden-den-BAföG auf der anderen Seite gibt. Abgesehen da-von, dass es hierbei auch um die Frage der Entbürokrati-sierung und um die Frage nach Anreizen für einenZuverdienst geht, ist festzustellen, dass der Minijobgrundsätzlich in allen Lebenslagen zum Tragen kommt,auch als Teilzeitbeschäftigung. Bei Auszubildendenmuss die zentrale Frage beantwortet werden, wie vielZuverdienst der Ausbildung zuträglich ist. Deshalb wirdüber den gesamten Bereich der BAföG-Gesetzgebungalle zwei Jahre ein Bericht vorgelegt. Im nächsten Ex-pertenbericht zum BAföG erwarten wir Aussagen dazu,ob es sinnvoll und notwendig ist, die 400-Euro-Grenzeauch für die Auszubildenden anzuheben. Aus der Anhe-bung der Minijobgrenze ergibt sich eine solche Anhe-bung aber nicht zwingend.
Metadaten/Kopzeile:
24628 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
(C)
(B)
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege.
Es ist bekannt, dass die SPD die Anhebung der Mini-
jobobergrenze nicht positiv sieht und sie ablehnt. Es geht
hier aber um die politische Stringenz. Daher möchte ich
nachfragen: Ist Ihnen bekannt, in welchem Zeitraum es
Unterschiede zwischen der Obergrenze für den Zuver-
dienst bei BAföG-Bezug und der Obergrenze für Mini-
jobs gegeben hat? Wie begründet man – ich frage nicht
nach der Notwendigkeit, sondern nach der politischen
Betrachtung –, dass man die Grenzwerte verschieden
hoch ansetzt?
D
Wir haben die Grenze im Rahmen des 22. BAföG-
Änderungsgesetzes auf 400 Euro angehoben. Davor war
diese Kongruenz nicht gegeben. Wie sich das in den Jah-
ren davor verhalten hat, kann ich Ihnen jetzt nicht sagen.
Zu Ihrer Frage nach der politischen Betrachtung: Ich
denke, man muss mit den Experten, die am BAföG-Be-
richt mitarbeiten, respektvoll umgehen. Insofern ist diese
Frage nicht im Zusammenhang mit den Minijobs zu be-
antworten. Es geht vielmehr um die Frage, ob ein Zuver-
dienst, ob eine zusätzliche Tätigkeit der originären Aus-
bildung zuträglich ist. Hier steht der Ausbildungserfolg
im Vordergrund.
Ihre weitere Nachfrage.
Plant die Bundesregierung, eine weitere BAföG-No-
velle in den Bundestag einzubringen? Wenn ja, zu wel-
chem Zeitpunkt?
D
Die Bundesregierung führt momentan Gespräche mit
den Ländern. Die Bundesministerin hat die Länder nach
der Vorlage des letzten BAföG-Berichts darum gebeten,
sich dazu zu äußern, wie sie sich die Fortentwicklung
des BAföG vorstellen. Die Rückmeldungen sind uns bis-
her nicht zugegangen. Auf der Grundlage dieser Bund-
Länder-Gespräche wird dann über eine neue BAföG-
Novelle zu entscheiden sein.
Eine weitere Nachfrage. – Bitte schön, Kollege
Schulz.
Herr Staatssekretär, die Bundesregierung führt also
Gespräche mit den Ländern. Hat die Bundesregierung
denn eigene Vorstellungen, wie das BAföG weiterentwi-
ckelt werden könnte?
D
Lieber Herr Kollege Schulz, Sie sind nicht ganz un-
schuldig daran, dass es jetzt zu diesen Gesprächen
kommt. Im Vorfeld der letzten BAföG-Erhöhung hat die
Bundesregierung in voller Liebe gegenüber den Studie-
renden einen Vorschlag zur Erhöhung der BAföG-Sätze
unterbreitet. Dabei ging es sowohl um die Freibeträge
als auch um die Höhe des BAföG. Daraufhin hat es einen
Aufschrei gegeben, nicht nur der Länder, sondern unter
anderem auch der Oppositionsfraktionen im Deutschen
Bundestag, dass, wenn die Bundesregierung sich unter-
steht, einen unabgestimmten Vorschlag zu machen, das
dann natürlich automatisch dazu führt, dass die Bundes-
regierung das alles allein finanzieren muss. Es gab sehr
unangenehme Diskussionen im Vorfeld der letzten
BAföG-Erhöhung.
Daraus haben wir selbstverständlich gelernt und ge-
hen hier ganz klar nach dem vorgeschriebenen Verfahren
vor. Bund und Länder haben eine gemeinsame Finanzie-
rungsverantwortung für das BAföG. Deshalb werden auf
der Grundlage des Berichts jetzt in interner Runde mit
den Ländern Gespräche geführt. Die Bundesregierung
hat sehr offen gesagt, dass wir, wenn die Länder mitge-
hen, weitgehend bereit sind, den Bundesanteil zu tragen.
Den nächsten Impuls erwarten wir – auch aufgrund der
Erfahrungen der letzten Runde – jetzt aber eindeutig von
Länderseite.
Jetzt gehen wir weiter zur Frage 9, ebenfalls gestellt
von unserem Kollegen Dr. Ernst Dieter Rossmann:
Welche Position bezieht die Bundesregierung zur Situa-
tion bei den überbetrieblichen Berufsbildungsstätten, ÜBS,
insbesondere hinsichtlich der Entwicklung der Teilnehmer-
zahlen und der Konsolidierungserfordernisse, und welche
Vorkehrungen hat sie im Bundeshaushalt getroffen, um eine
nachhaltige leistungsfähige ÜBS-Infrastruktur sicherzustel-
len?
Bitte schön, Herr Staatssekretär.
D
Lieber Herr Kollege Rossmann, überbetriebliche Bil-dungsstätten spielen eine wichtige Rolle in unseremAus- und Weiterbildungssystem. Wir haben seit 2009eine neu gefasste gemeinsame Förderrichtlinie unseresMinisteriums und des Bundesministeriums für Wirt-schaft und Technologie, die einen breiten Handlungs-spielraum bietet, um überbetriebliche Bildungsstätten zusanieren.Wir haben hierfür über viele Jahre einen Jahresbetragvon 29 Millionen Euro zur Verfügung gestellt. DieserBetrag ist im Rahmen der Konjunkturpakete in unseremEinzelplan auf ein jährliches Volumen von 40 MillionenEuro aufgestockt worden. Nachdem die Konjunktur-pakete ausgelaufen sind, ist der Betrag nicht wieder auf29 Millionen Euro jährlich zurückgefallen, sondern wirhaben diese zusätzlichen Gelder, die wir im Konjunktur-paket mobilisiert haben, fortgeschrieben, sodass wir jetztjährlich 40 Millionen Euro hierfür bereitstellen. Das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24629
Parl. Staatssekretär Dr. Helge Braun
(C)
(B)
Bundesministerium für Wirtschaft wird darüber hinausim Haushalt 2013, wenn er so beschlossen wird, wie ervon der Regierung eingebracht wurde, 28,5 MillionenEuro zur Verfügung stellen.
Ihre erste Nachfrage, Herr Kollege Rossmann.
Über welchen Kenntnisstand verfügt die Bundesre-
gierung hinsichtlich der wirtschaftlichen Situation der
überbetrieblichen Ausbildungsstätten in Deutschland?
Wir hören ja aus Kreisen von Wirtschaft und Gewerk-
schaften in den betroffenen Regionen, dass es dort aller-
größte Sorgen gibt, diese Infrastruktur an ausgebauten
überbetrieblichen Ausbildungsstätten auch über die
nächsten Jahre sinnvoll vorhalten zu können.
D
Konkrete Zahlen dazu liegen mir nicht vor, aber ich
kann aus der Erfahrung sagen, dass das außerordentlich
heterogen ist. Zum einen ist natürlich die Situation der
überbetrieblichen Bildungsstätten eng mit dem demogra-
fischen Wandel verbunden. Deshalb gibt es im Hinblick
auf großstädtische Regionen und ländliche Regionen er-
hebliche Unterschiede.
Das Zweite ist, dass die verschiedenen ÜBS unter-
schiedliche Nutzungskonzepte verfolgen. Diejenigen,
die sich aufgrund der Probleme durch den demografi-
schen Wandel, zum Beispiel aufgrund geringer Auszu-
bildendenzahlen, frühzeitig auf Weiterbildungsangebote
als zusätzliches Standbein fokussiert haben, sind in einer
besseren Situation als diejenigen, die dies nicht getan ha-
ben. Aber ich glaube, angesichts der heterogenen Trä-
gerschaft und der heterogenen Struktur in den unter-
schiedlichen Regionen Deutschlands ist eine allgemeine
Aussage darüber nicht möglich.
Ihre zweite Nachfrage, Kollege Rossmann.
Fühlt sich die Bundesregierung dafür mitverantwort-
lich – dazu ist sie ja eigentlich verpflichtet –, allen Ju-
gendlichen, zumal solchen, die noch keine Ausbildung
haben abschließen können, eine Brücke in Ausbildung
und Beschäftigungsfähigkeit zu bauen? Ist die Bundesre-
gierung daran interessiert, ein differenziertes Bild zu be-
kommen, und in welcher Weise wird sich die Bundesre-
gierung um ein solches differenziertes Bild bemühen,
bei dem sich tatsächliche Notstandsregionen und andere,
die noch eine gewisse Prosperität haben, zeigen werden,
und in welcher Reihenfolge und Form wird sie dies tun?
D
Ich glaube, dass wir mit dem Förderprogramm, das
wir haben, und über die Antragseingänge, die wir an die-
ser Stelle verzeichnen, ein relativ präzises Bild der Be-
darfslage bekommen. Wir sind hier nicht allein verant-
wortlich, sondern auch die Träger haben da große
Verantwortung. Insofern glaube ich, dass die bedarfsge-
rechte Steuerung dieses Titels im Hinblick auf die An-
forderungen und Anträge ein ganz gutes Instrument ist,
um den tatsächlichen Bedarf sicherzustellen.
Die Frage 10 der Kollegin Marianne Schieder wird
schriftlich beantwortet.
Ich rufe die Frage 11 des Kollegen Oliver Kaczmarek
auf:
Teilt die Bundesregierung vor dem Hintergrund des Vor-
schlages der Gewerkschaft für Erziehung und Wissenschaft
die Auffassung, dass wirksamere Erkenntnisse über die Leis-
tungsfähigkeit des Bildungswesens zu erhalten seien, indem
innerhalb von Studien über die Feststellung von Schülerkom-
petenzen – wie dem IQB-Ländervergleich – weniger der Ver-
gleich einzelner Bundesländer und stärker der Vergleich kohä-
renter Regionen erfolgt?
Bitte, Herr Staatssekretär.
D
Herr Kollege Kaczmarek, selbstverständlich hält die
Bundesregierung auch Ländervergleiche für außer-
ordentlich sinnvoll. Die Bildungssysteme sind nämlich
von Bundesland zu Bundesland unterschiedlich. Es ist
auch die Aufgabe des jeweiligen Bundeslandes, den re-
gionalen Besonderheiten politische Konsequenzen fol-
gen zu lassen. Insofern begrüßen wir, dass zum Beispiel
das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen
im Auftrag der Länder Bildungsstandards entwickelt hat
und Ländervergleichsergebnisse veröffentlicht. Neben
den Ergebnissen des Vergleichs einzelner Bundesländer
– ich denke, in diesem Sinne halten auch Sie das für
richtig – sind auch die Ergebnisse des Vergleichs von
Großstädten gesondert ausgewiesen und veröffentlicht
worden. Natürlich sind auch solche regionalen bzw. klei-
neren Analysen in Ergänzung der Ländervergleichsstu-
dien sinnvoll.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär, für die Beantwor-tung meiner Frage. – Es geht hier ja um wichtiges Steue-rungswissen, das uns zur Verfügung gestellt werden soll,damit wir überprüfen können, wie wirksam bildungs-politische Maßnahmen eigentlich sind. Vor diesem Hin-tergrund möchte ich mich auf das Rahmenprogramm„Empirische Bildungsforschung“ beziehen, in demwichtige Grundlagen gelegt werden, um soziale Belas-tungen bzw. Städte und Regionen mit gleicher sozialerBelastung vergleichen zu können. Liegen Ihnen Anträgevor, die diesen Gegenstand weiterführen und in denen eszum Beispiel darum geht, soziale Indizes zu entwickeln?Hat das Ministerium in diesem Bereich schon etwas ge-fördert, oder ist das für Sie im Rahmen der empirischenBildungsforschung erst einmal kein Schwerpunkt?
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24630 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
(C)
(B)
D
Vielen Dank. – Anfang dieses Jahres haben wir eine
große Tagung zur Bildungsforschung 2020 durchge-
führt. In diesem Rahmen sind zahlreiche Ergebnisse vor-
gestellt worden. Über die Frage, welche sozialen Lagen
den Bildungserfolg beeinflussen, ist auf dieser Tagung
natürlich umfassend diskutiert worden. Dieses Thema ist
auch Gegenstand unterschiedlichster Förderinitiativen.
Auch die in die Zukunft gerichtete Frage: „Wie kann
man den Bildungserfolg positiv beeinflussen, und wel-
che Initiativen und Möglichkeiten gibt es, um bei Pro-
blemen im Kontext eines Bildungssystems Abhilfe zu
schaffen?“, ist Gegenstand der empirischen Bildungsfor-
schung, auch im Rahmen der Ausschreibungen, die wir
unterstützen. Insofern ist dies eines der wesentlichen
Felder, mit denen wir uns auch im Rahmen unserer För-
derbekanntmachungen zur Bildungsforschung befassen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Eine Nachfrage habe ich noch. – Das BMBF ist ja in
der Steuerungsgruppe, die sich mit dem nationalen Bil-
dungsbericht befasst, vertreten. Halten Sie es für denk-
bar, dass sich die Bundesregierung dafür einsetzt, dass
im nationalen Bildungsbericht eine stärkere Orientierung
an regionalen Ergebnissen statt an den Ergebnissen auf
Länderebene vorgenommen wird?
D
Über den nationalen Bildungsbericht wird ja viel dis-
kutiert. Die Autorengruppe hat uns, schon als wir im
letzten Jahr eine Diskussion über Indikatoren geführt ha-
ben, inständig gebeten, das Indikatorensystem des natio-
nalen Bildungsberichts nicht ständig anzupassen und zu
verändern. Die Autorengruppe hat gesagt, dass die Qua-
lität der Aussagen des nationalen Bildungsberichts, was
die zeitlichen Verläufe angeht, immer mehr steigt, je
mehr man über eine in sich konsistente Zeitreihe verfügt.
Solche Fragen kann man mit der Autorengruppe bespre-
chen; ich will das auch gerne tun. Aber meine vorsich-
tige Einschätzung ist, dass wir an dem Kernindex, den
wir im Rahmen des nationalen Bildungsberichts erarbei-
ten, nicht zu viele Änderungen vornehmen sollten.
Im nationalen Bildungsbericht gibt es jedes Jahr ein
Schwerpunktthema, das nicht jährlich fortgeschrieben
wird, das aber in jedem neuen Bericht wieder behandelt
wird. In diesem Jahr waren es kulturelle Bildung und
kulturelle Kompetenzen. Das Thema des nächsten Bil-
dungsberichts ist auch schon festgelegt: Da wird das
Thema Behinderungen im Kontext von Bildung in den
Mittelpunkt rücken. Darüber hinaus haben wir aber noch
keine Festlegungen getroffen.
Herr Rossmann hat noch eine Nachfrage. Bitte.
Herr Staatssekretär, Sie haben gerade betont, wie
wichtig es ist, anhand der nationalen Bildungsberichte
konsistente Vergleichsreihen aufzubauen. Dann ist es
aber erst recht plausibel, dass man, wenn man auch in
eine regionale Betrachtung einsteigen will, damit nicht
zu lange wartet. Sonst verkürzt man die Reihe, über die
man zu aussagefähigen Vergleichen kommen könnte.
Deshalb die Frage: In welcher Form und bis wann
wollen Sie darauf dringen, neben der länderspezifischen
Betrachtung zu einer regionalen Betrachtung zu kom-
men? Wie weit lässt sich das mit dem nationalen Bil-
dungspanel verschränken, bei dem wir erst recht sehr
tiefgreifende individualbezogene Vergleichsverläufe
mitbekommen?
D
Ich kann Ihnen zusichern: Ich werde mit den Machern
unseres nationalen Bildungspanels Kontakt aufnehmen
und ihnen die Frage stellen, inwiefern auf der Grundlage
dessen, was Sie interessiert, solche Auswertungen mög-
lich sind. Ich werde darüber hinaus die Autoren unseres
nationalen Bildungsberichts fragen, ob sie das für mach-
bar und sinnvoll halten. Damit das in die Realität umge-
setzt werden kann, muss aber auch in der Steuerungs-
gruppe, in der nicht nur der Bund, sondern auch die
Länder vertreten sind, Einigkeit darüber erzielt werden.
Ich kann Ihnen nicht versprechen, dass ich das alles in
Ihrem Sinne umsetzen kann. Aber ich werde das anspre-
chen und es weiter verfolgen.
Die Fragen 12 und 13 des Kollegen Willi Brase, wel-
che sich mit Maßnahmen zur Ozeandüngung befassen,
sollen schriftlich beantwortet werden.
Wir sind damit am Ende dieses Geschäftsbereiches.
Herzlichen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung. Zur Beantwortung der Fragen steht die
Parlamentarische Staatssekretärin Gudrun Kopp zur Ver-
fügung.
Ich rufe die Frage 14 des Kollegen Dr. Sascha Raabe
auf:
Trifft es zu, dass der Bundesminister für wirtschaftliche
Zusammenarbeit und Entwicklung, Dirk Niebel, dem Aus-
wärtigen Amt „Untätigkeit“ hinsichtlich der Versorgung von
Flüchtlingen im Lager Dadaab, Kenia, vorgeworfen und das
Auswärtige Amt aufgefordert hat, für die mit der Ressortver-
einbarung der beiden Bundesministerien übernommene Al-
leinzuständigkeit für die humanitäre Hilfe „Verantwortung zu
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Gu
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Kollege Raabe,ungeachtet der von Ihnen zitierten Presseberichterstat-
Metadaten/Kopzeile:
Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24631
Parl. Staatssekretärin Gudrun Kopp
(C)
(B)
tung weise ich darauf hin, dass die Ressortvereinbarungzwischen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesminis-terium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-wicklung ein richtiger und notwendiger Schritt war. Siehat eine bessere und klarere Aufgabenteilung zwischenden Ressorts ermöglicht. Wir haben damit auf mehrjäh-rige Kritik hinsichtlich einer Fragmentierung der deut-schen humanitären Hilfe reagiert.Die medizinische Versorgung der Flüchtlinge inDadaab ist nicht eingestellt. Im Einvernehmen mit demBundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeitund Entwicklung hat das Auswärtige Amt dem HohenFlüchtlingskommissar der Vereinten Nationen, UNHCR,zugesagt, die Zuwendungen für 2013 um mindestens2,2 Millionen Euro aufzustocken, damit der UNHCR dieVersorgung der Flüchtlinge im Lager Dadaab aufrecht-erhalten kann. Neben Kenia hat das BMZ den UNHCRin Uganda, Südsudan und Tschad unterstützt. Auch fürdie Aktivitäten des UNHCR in diesen Ländern hat dasAuswärtige Amt eine Aufstockung der Zuwendungen anden UNHCR zugesagt, mindestens in Höhe der bislangüber das BMZ geleisteten Unterstützung. Insgesamtwird das Auswärtige Amt die Zuwendungen für das hu-manitäre Engagement des UNHCR in diesen vier Län-dern im Jahr 2013 um mindestens 5,8 Millionen Euroaufstocken.
Herr Raabe, Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
„ungeachtet der …
Presseberichterstattung“. Das hört sich so an, als hätte
sich die Presse etwas ausgedacht. Daher möchte ich bei
Ihnen nachfragen. Der Auslöser war ein Satz von Bun-
desminister Dirk Niebel. Er hat gesagt:
Es kann nicht sein, dass Menschen in der von Kri-
sen geschüttelten Region am Horn von Afrika unter
der Untätigkeit des Auswärtigen Amtes leiden.
Er hat das Auswärtige Amt ausdrücklich aufgefordert,
endlich Verantwortung zu übernehmen.
Wie passt das mit dem zusammen, was Sie gerade ge-
sagt haben, dass nämlich diese Ressortvereinbarung zwi-
schen dem Auswärtigen Amt und dem Bundesministerium
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung so
toll sei? Wie passt das mit der Aussage von Dirk Niebel
aus dem Jahr 2010 zusammen: „Wir wollen eine Außen-
und Entwicklungspolitik aus einem Guss machen“, ob-
wohl doch anscheinend bei der Abstimmung über eine
so gravierende Frage, bei der es wirklich um das Überle-
ben von Menschen geht, ein solches Chaos herrscht, dass
der Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit
und Entwicklung dem Außenminister solch schwere
Vorwürfe macht? Wie passt das mit Ihrer Aussage zu-
sammen, dass das angeblich eine blendende, reibungs-
lose und bessere Vereinbarung sei als die über die Res-
sortzuständigkeit, die es vorher gab?
Gu
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Herr Kollege Raabe, die beiden Minister Westerwelle
und Niebel sind seit über zwei Jahrzehnten eng mit-
einander befreundet. Selbst wenn es an der einen oder
anderen Stelle einmal eine Diskussion gibt, heißt das
nicht, dass die Dinge in der Substanz, wie Sie es darge-
stellt haben, chaotisch sind. Das weise ich auch aus-
drücklich zurück.
Sie haben sehr richtig darauf hingewiesen, dass die
Hilfe für die Flüchtlinge unser gemeinsames Anliegen
ist. Daran bestehen überhaupt keine Zweifel. Ich kann
Ihnen im Namen der beiden Minister, aber auch im Na-
men der gesamten Bundesregierung bestätigen, dass
diese Hilfe nach wie vor geleistet wird und dass die Zu-
ständigkeiten der Ressorts – Sie wissen: sie sind neu auf-
geteilt worden – so gestaltet wurden, dass es funktio-
niert. Denn es kommt darauf an, dass den Menschen vor
Ort geholfen wird.
Sie müssen sich hier jetzt überhaupt keine Sorgen ma-
chen. Wir haben intensiv nachgefragt, wie die Verhält-
nisse vor Ort sind, und die Rückmeldung bekommen,
dass die nötige Versorgung gewährleistet ist.
Bevor Sie jetzt Ihre zweite Nachfrage stellen, mache
ich vorsorglich darauf aufmerksam, dass wir uns auf
Frage- und Antwortzeiten verständigt haben und dass
zur Unterstützung ein optisches Signal eingeblendet
wird. Wenn die Lampe rot leuchtet, ist diese Zeit tatsäch-
lich abgelaufen. Ich bitte sowohl die Fragenden als auch
die Antwortenden, die Hilfestellung, die die Schriftfüh-
rerinnen und Schriftführer hier vorne über das Signal
leisten, in Anspruch zu nehmen.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Rote Signale sind mir immer sehr sympathisch, FrauPräsidentin.Nur damit kein Missverständnis aufkommt: Nicht ichhabe von „Chaos“ geredet, sondern der Minister hat ge-sagt, dass hier eine Untätigkeit des Auswärtigen Amtesvorliegt. Ich glaube, das kann man nicht leicht beiseite-wischen.Frau Staatssekretärin, wie passt das eigentlich damitzusammen, dass Sie in einer Antwort, die Sie uns schrift-lich gegeben haben, schreiben, dass das Ministerium be-reits im Mai dieses Jahres gegenüber der GIZ davon ge-sprochen hat, dass die gemeinsamen Projekte mit demUNHCR zum Ende des Jahres auslaufen könnten, unddass Sie im August die Beendigung der Finanzierungschriftlich bestätigt haben? Das heißt, das Ministeriumwusste lange vor Niebels empörter Aussage Ende Okto-ber, dass das ausläuft. Wenn das Ministerium monate-lang vorher wusste, dass das ausläuft, wie kann es danneigentlich sein, dass der Minister Monate später wie ausheiterem Himmel getroffen auf einmal feststellt: Da istaber etwas ganz schön schiefgelaufen?
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24632 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
(C)
(B)
Gu
Herr Kollege Raabe, wie gesagt: Dass die Finanzie-
rung der Soforthilfe aus dem BMZ aufgrund der Neuauf-
teilung der Ressortzuständigkeiten auslaufen würde, war
klar. Das hat aber gar nichts damit zu tun, dass die Hilfe-
leistungen vor Ort entsprechend geleistet werden. Sie
wissen selbst: Im Ausschuss hat der UNHCR noch ein-
mal bestätigt, dass für die Flüchtlinge gesorgt ist und
dass hier keinerlei überraschende Notsituation entstan-
den ist oder entsteht, in der die Menschen in irgendeiner
Weise sich selbst überlassen sind.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Karin Roth das
Wort.
Frau Staatssekretärin, wir haben uns ja am 24. Okto-
ber 2012 im Ausschuss über dieses Thema unterhalten.
Ich bin sehr froh, dass sich Außenminister Westerwelle
aufgrund dieser Debatte, aber auch aufgrund der öffentli-
chen Äußerung Ihres Ministers offensichtlich noch ein-
mal besonnen hat und dieses Projekt weiter fortsetzen
will. Das hat auch etwas mit parlamentarischem Einfluss
zu tun, auch wenn die Opposition das zunächst auf die
Tagesordnung gesetzt hat. Das ist auch gut so, und es ist
im Interesse aller, die in der Entwicklungspolitik arbei-
ten.
Deshalb frage ich noch einmal zu meinem Verständ-
nis und für das Protokoll: Ist es richtig, dass die bisheri-
gen 2,2 Millionen Euro, die bisher vom BMZ für dieses
Projekt der Not- und Übergangshilfe gezahlt wurden, das
am 31. Dezember ausgelaufen wäre, und die UNHCR-Be-
träge in Höhe von insgesamt 6,4 Millionen in gleichem
Umfang für das gleiche Projekt ausgegeben werden und
das Projekt mit den gleichen örtlichen Beschäftigten
weitergeführt wird?
Gu
Frau Kollegin Roth, es ist so, dass das BMZ die För-
derung im Umfeld des Flüchtlingslagers Dadaab weiter
fortführt. Ich habe Ihnen auch mitgeteilt, dass es darum
geht, die Stärkung der ortsansässigen Bevölkerung und
derjenigen, die sich für längere Zeit in dem Lager auf-
halten müssen, mit Mitteln in Höhe von 4,1 Millionen
Euro für den Zeitraum 2011 bis 2014 zu unterstützen.
Zusätzlich wird das BMZ Bildungsprojekte in UNHCR-
Flüchtlingslagern in Kenia, Dadaab und Kakuma, im
Jahre 2013 mit Mitteln in Höhe von bis zu 1 Million
Euro fördern.
Wir kommen zur Frage 15 des Kollegen Dr. Sascha
Raabe:
Wie wirkt das Bundesministerium für wirtschaftliche Zu-
sammenarbeit und Entwicklung, BMZ, auf das Auswärtige
Amt ein, damit die Versorgung der Flüchtlinge im keniani-
schen Lager Dadaab auch weiterhin aufrechterhalten bleibt,
und sind dem BMZ weitere ähnlich gelagerte Fälle bekannt,
in denen das Auswärtige Amt laufende Hilfsmaßnahmen der
vormaligen Entwicklungsorientierten Not- und Übergangs-
hilfe eingestellt hat bzw. die Einstellung plant?
Bitte, Frau Staatssekretärin.
Gu
Hierzu kann ich nur auf meine vorherige Antwort ver-
weisen und Ihnen sagen: Ähnlich gelagerte Fälle sind
mir und dem Haus nicht bekannt.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Frau Staatssekretärin, dann möchte ich noch einmal
präziser nachfragen. Es geht ja gerade darum, dass be-
reits im Mai bekannt war, dass eine Finanzierung, die
vormals vom BMZ durchgeführt wurde, ausläuft. Wir
haben dann gesehen, dass das in einem Zuständigkeits-
chaos geendet hat und der Entwicklungsminister
„Höchster Alarm!“ – spät, aber immerhin – gerufen hat
und seinen Außenminister in dieser wichtigen Frage mit
sehr scharfen Worten attackiert hat, bis das Auswärtige
Amt endlich reagiert hat. Können Sie ausschließen, dass
es weitere Fälle gibt, in denen die Finanzierung ausläuft,
die noch vom BMZ angeleiert wurde? Können Sie aus-
schließen, dass so etwas in diesem Bereich wieder pas-
siert? Sprich: Ist überall dort, wo das BMZ eine Finan-
zierung eingegangen ist, die jetzt vom Auswärtigen Amt
übernommen wird, gesichert, dass der Übergang nun rei-
bungslos funktioniert und das Auswärtige Amt das
durchführt? So habe ich es eben verstanden, und das hat
mich erstaunt.
Gu
Herr Kollege Raabe, ich kann Ihnen bestätigen, dass
das BMZ davon ausgeht, dass die mit dem Auswärtigen
Amt vereinbarte Ressortaufteilung reibungslos funktio-
niert.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
Von „reibungslos“ kann sich jetzt jeder ein eigenesBild machen. Ich kann dies gar nicht anders kommentie-ren, als das Ihr eigener Minister gemacht hat. NachdemMinister Niebel nun selbst erkannt hat, dass das mit demAuswärtigen Amt eben nicht funktioniert – sonst hätte erja nicht dem Auswärtigen Amt Untätigkeit vorgeworfen –,möchte ich Sie fragen, ob es in Ihrem Haus nicht dochÜberlegungen gibt, die damals in einer Nacht-und-Nebel-Aktion, fast am Haushaltsausschuss vorbei, er-folgte Zusammenlegung von EntwicklungsorientierterNot- und Übergangshilfe und humanitärer Hilfe, die
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24633
Dr. Sascha Raabe
(C)
(B)
dann ins Auswärtige Amt eingegliedert wurde, rückgän-gig zu machen und Letztere wieder in das BMZ zu verla-gern. Wir sind nach wie vor der Meinung, dass manKurz-, Mittel- und Langfristhilfe gar nicht voneinandertrennen kann. Auch alle Entwicklungsexperten sagenuns immer, die Zuständigkeit läge besser ausschließlichim BMZ; denn dann wäre sie wirklich in einer Hand,nämlich in der Hand, in die sie auch gehört. Ich möchteSie fragen, ob Sie insoweit endlich zu der richtigen Ein-sicht gelangen.Gu
Herr Kollege Raabe, unsere Version der richtigen Ein-
sicht ist: Wir möchten, dass diese Ressortvereinbarung
greift, weil es in der Vergangenheit leider üblich war,
dass in Notfällen, in Katastrophenfällen das eine Minis-
terium quasi die Esstöpfe, die Hardware, und das andere
Ministerium die Lebensmittel, die Software, lieferte. Es
hat sich in der Vergangenheit gezeigt, dass dabei unnöti-
gerweise wertvolle Zeit und auch Kompetenzen verloren
gegangen sind. Deswegen: Nothilfe aus einer Hand in ei-
nem Ministerium! Das hat sich nach unserer Meinung
nach wie vor als richtig erwiesen. Das haben wir jetzt
umgesetzt.
Was die strukturbildenden entwicklungspolitischen
Maßnahmen betrifft, die dann sofort auf dem Fuß folgen
müssen, werden wir als BMZ in Zukunft weiter unsere
wertvolle Arbeit leisten. Ich kann Ihnen noch einmal
versichern, dass zwischen unseren beiden Häusern eine
enge Abstimmung erfolgt und dass sie wirklich gut bis
sehr gut funktioniert.
Zu einer Nachfrage hat die Kollegin Karin Roth das
Wort.
Frau Staatssekretärin, Sie haben meine Frage vorhin
nur zur Hälfte beantwortet. Deshalb meine zweite Frage
an Sie: Kann ich davon ausgehen – Sie haben vorher für
das Außenministerium, für das Entwicklungsministe-
rium und für die Bundesregierung gesprochen –, dass die
2,2 Millionen Euro zur Fortsetzung des Projektes der
GIZ in Dadaab und in den anderen Flüchtlingslagern in
Kenia vonseiten der Bundesregierung, in dem Fall von-
seiten des AA und nicht vonseiten des BMZ, verwendet
werden? Können Sie das jetzt zusagen? Am Anfang Ih-
rer Beantwortung haben Sie das getan. Jetzt möchte ich
noch einmal bestätigt haben, dass der AwZ erfolgreich
war.
Gu
Die von mir am Anfang gemachten Äußerungen sind
richtig. Diese bestätige ich noch einmal ausdrücklich.
Frau Kollegin Roth, ich kann natürlich nicht für das
Auswärtige Amt antworten. Es gibt noch zwei weitere
Fragen zu diesem Komplex, die nachher meine Kollegin
Frau Staatsministerin Cornelia Pieper für das Auswär-
tige Amt beantworten wird.
Ich habe Ihnen das bestätigt und mache das noch ein-
mal. Ich bin zuversichtlich, dass wir im Sinne der Men-
schen, die unsere Hilfe brauchen, hier strukturiert und
verantwortungsvoll handeln.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Wir sind damit
am Ende Ihres Geschäftsbereiches.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Bundes-
ministeriums für Wirtschaft und Technologie. Zur Be-
antwortung der Fragen steht der Parlamentarische
Staatssekretär Peter Hintze zur Verfügung.
Die Fragen 16 und 17 des Kollegen Oliver Krischer
wie auch die Fragen 18 und 19 der Kollegin Beate
Walter-Rosenheimer sollen schriftlich beantwortet wer-
den.
Wir kommen zur Frage 20 der Kollegin Katja Keul – –
– Es tut mir leid: Die Frage 16 – hier gab es gerade Wi-
derspruch – ist vom Kollegen Krischer eingereicht wor-
den. Ich glaube, Sie, Kollege Mützenich, sind später an
der Reihe.
P
Darf ich aufklären, Frau Präsidentin? Der Kollege
Mützenich hat nun die Frage 21. Von ihm ist dann die
nächste Frage.
Gut, das war jetzt der Aufmerksamkeitstest für uns
alle. Wir haben das geklärt.
Ich rufe Frage 20 der Kollegin Katja Keul auf:
Welche Erkenntnisse hat die Bundesregierung über das
Rüstungsgeschäft zwischen der indonesischen Regierung und
dem Konzern Rheinmetall AG, das die Lieferung von moder-
nisierten Panzern an die indonesischen Streitkräfte zum Ge-
genstand hat, und welche Panzer-Reimporte hat die Bundes-
regierung in den letzten drei Jahren genehmigt?
Der Herr Staatssekretär hat das Wort.
P
Frau Präsidentin! Liebe Frau Kollegin Keul, der Bun-desregierung ist bekannt, dass deutsche Unternehmenmit Indonesien Gespräche über den Kauf von Panzernführen. Die Gespräche hierüber sind nicht neu und be-dürfen keiner Genehmigung durch die Bundesregierung.Ein Antrag auf Genehmigung der endgültigen Ausfuhrvon Panzern nach Indonesien liegt der Bundesregierungnicht vor.Durch das BMWi wurden in den letzten drei Jahrenfolgende Reimporte von Panzern genehmigt: 99 Kampf-panzer Leopard 1 aus Dänemark, 37 Kampfpanzer
Metadaten/Kopzeile:
24634 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Parl. Staatssekretär Peter Hintze
(C)
(B)
Leopard 2 und 2 Fahrschulpanzer für Leopard 2 ausÖsterreich, 6 Kampfpanzer Leopard 2 aus der Schweizund 11 Kampfpanzer Leopard 2 aus den Niederlanden.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank. – Meine Frage lautet: Ist der Bundes-
regierung bekannt, dass die Firma Rheinmetall derzeit
ältere Leopard-Panzer zu sogenannten MBT-Revolution-
Modellen umrüstet und dazu schreibt, Kampfpanzer
müssten neben der bisher antizipierten klassischen Du-
ellsituation künftig in asymmetrischen Szenarien beste-
hen, und dafür sei dieses Modell besser geeignet? Hat
die Bundesregierung eine Herstellungslizenz nach dem
Kriegswaffenkontrollgesetz für den Umbau dieser Leo-
pard-Panzer erteilt?
P
Das ist mir nicht bekannt.
Sie haben das Wort zu einer zweiten Nachfrage.
In einer heutigen Agenturmeldung heißt es:
Die geplante Unterzeichnung einer Absichtserklä-
rung mit dem Düsseldorfer Rüstungskonzern
Rheinmetall wurde am Mittwoch in Jakarta ver-
schoben, sagte ein Beamter des Verteidigungsmi-
nisteriums der dpa. Einige technische Details seien
noch offen. Das Ministerium hoffe auf eine Unter-
zeichnung an diesem Samstag. Nach Angaben aus
Jakarta ist der Kauf von 100 Leopardpanzern und
50 Mardern beschlossene Sache.
Sie haben eben gesagt, ein Antrag auf endgültige
Ausfuhr der Panzer sei noch nicht erteilt. Verstehe ich
Sie dahin gehend richtig, dass eine Voranfrage zur Aus-
fuhr dieser Panzer positiv beschieden wurde, und wie
begründen Sie gegebenenfalls die Nichtbeantwortung
dieser Frage vor dem Hintergrund, dass das indonesische
Verteidigungsministerium offensichtlich von der Bun-
desregierung nicht auf die Geheimhaltung solcher Tatsa-
chen hingewiesen wurde?
P
Die Bundesregierung ist für Äußerungen des indone-
sischen Verteidigungsministeriums in keiner Weise ver-
antwortlich. Im Übrigen ist vom Deutschlandfunk, der
die Meldung verbreitet hat, klargestellt worden, dass es
sich um das indonesische Verteidigungsministerium han-
delt. In der ursprünglichen Meldung las sich das noch
anders. Auf jeden Fall handelt es sich um eine Äußerung
aus Indonesien, die wir nicht kommentieren.
Meine Formulierung, dass der Antrag auf Genehmi-
gung der endgültigen Ausfuhr noch nicht vorliegt, be-
zieht sich darauf, dass das Bundesministerium für Wirt-
schaft und Technologie einen Antrag zur temporären
Ausfuhr von je einem Leopard-Panzer und einem Mar-
der-Schützenpanzer zur Präsentation auf der Messe In-
dodefense 2012 vom 7. bis 10. November 2012 positiv
beschieden hat. Ihre Vermutung muss ich im Bereich der
Spekulation belassen, weil wir nach regelmäßiger Staats-
praxis Voranfragen prinzipiell nicht im Parlament be-
kannt geben.
Bevor ich dem Kollegen Jan van Aken das Wort zu ei-
ner Nachfrage gebe, mache ich darauf aufmerksam, dass
die Aktuelle Stunde gegen 15.40 Uhr beginnt.
Herr van Aken, Sie haben das Wort.
Ich bedanke mich. – Herr Hintze, da Sie gerade die
Indodefense erwähnt haben: Welche Vertreterinnen und
Vertreter der Bundesregierung sind momentan auf der
Indodefense, und werden in diesem Zusammenhang Ge-
spräche zwischen Vertretern der Bundesregierung und
der indonesischen Regierung über einen Leopard-Pan-
zer- oder Marder-Schützenpanzerverkauf geführt?
P
Mir ist nicht bekannt, dass Vertreter der Bundesregie-
rung auf der Indodefense sind. Deswegen kann ich Ihre
Frage nicht beantworten.
– Das liefern wir schriftlich nach.
Der Staatssekretär hat die schriftliche Nachlieferung
zugesagt.
Zu einer weiteren Nachfrage hat der Kollege Rolf
Mützenich das Wort.
Danke, Frau Präsidentin. Es tut mir leid, dass ich
mich eben auf die alte Fassung unserer Tagesordnung
bezogen habe.
Herr Hintze, angesichts der auch von Ihnen bedauer-
ten unterschiedlichen öffentlichen Kommunikation, für
die Sie manchmal Verantwortung tragen und manchmal
nicht, möchte ich Sie fragen: Sind Sie mit mir mögli-
cherweise der Meinung, dass auch die Bundesregierung
bestrebt sein sollte, rechtzeitig und vielleicht im Rahmen
eines besonderen Gremiums den Bundestag etwas stär-
ker in die Erörterung von Rüstungsgeschäften seitens der
Bundesregierung einzubeziehen?
P
Diese Einschätzung teile ich nicht, unter anderemdeswegen nicht, weil ich nicht glaube, dass das Auswir-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24635
Parl. Staatssekretär Peter Hintze
(C)
(B)
kungen auf die Äußerungen des indonesischen Verteidi-gungsministeriums hätte. Dieses hat das Missverständnisausgelöst.
Die letzte Nachfrage zu Frage 20 stellt die Kollegin
Vogler.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Herr Staatssekretär,
liegen der Bundesregierung Anfragen auf Übernahme
einer Exportbürgschaft für eine Panzerlieferung an Indo-
nesien vor, oder haben Sie eine solche Anfrage bereits
beschieden?
P
Das ist mir nicht bekannt. Wenn es anders sein sollte,
teile ich es Ihnen schriftlich mit.
Nun kommen wir zur mehrfach angekündigten
Frage 21 des Kollegen Dr. Rolf Mützenich:
Unterstützt die Bundesregierung finanziell die von Indo-
nesien bestätigte Lieferung von 130 gebrauchten Leopard-2-
Panzern, und sind diese Panzer – ebenso wie die für Saudi-
eignet zum Kampfeinsatz auch gegen die Zivilbevölkerung in
städtischen Räumen?
P
Frau Präsidentin! Es darf sich keiner wundern: Die
Antwort ist dem Wortlaut und dem Sinn nach ähnlich,
weil es sich hierbei um den gleichen Sachverhalt han-
delt. Es gibt eine kleine Ausnahme, die aber gleich deut-
lich wird.
Der Bundesregierung ist bekannt, dass deutsche Un-
ternehmen mit Indonesien Gespräche über den Kauf von
Leopard-Panzern führen. Die Gespräche hierüber sind
nicht neu und bedürfen keiner Genehmigung durch die
Bundesregierung. Die den Gesprächen zugrunde liegen-
den Geschäfte werden derzeit durch die Bundesregie-
rung nicht finanziell unterstützt. Bisher liegt der Bundes-
regierung kein Antrag auf Ausfuhr von Leopard-Panzern
zum Verbleib in Indonesien vor. Die Bundesregierung
lehnt Spekulationen über eine technische Eignung der
betreffenden Panzer für angedachte Szenarien ab.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Weil Sie eben die in-
donesische Regierung kritisiert haben: Würden Sie in
der Konsequenz auch Ihren Verteidigungsminister kriti-
sieren wollen, der in einem ausführlichen Interview, das
in der Süddeutschen Zeitung gestanden hat, auf genau
dieses Rüstungsgeschäft eingegangen ist? Können Sie in
diesem Zusammenhang bestätigen, wie der Verteidi-
gungsminister es getan hat, dass es sich bei der Liefe-
rung, die Sie ja immer noch infrage stellen, offensicht-
lich nicht um gebrauchte Panzer der Bundeswehr
handelt?
P
Jetzt haben Sie eine ganze Masse von Fragen, Vermu-
tungen und Behauptungen vorgetragen.
– Ja, das weiß ich. Ich hoffe, dass wir beide damit intel-
lektuell fertig werden.
Ich habe mit meiner Antwort auf die Frage der Kolle-
gin Keul das Haus informiert, dass es sich bei dem Ver-
teidigungsminister, der zitiert wurde, um den indonesi-
schen Verteidigungsminister handelt, dass er seine
Äußerungen aus seiner Einschätzung, seiner Kompetenz
und seiner Sicht der Dinge gemacht hat und dass die
Bundesregierung hierfür keinerlei Verantwortung hat.
Das ist keine Kritik, sondern eine reine Information.
Was war der zweite Punkt? Helfen Sie mir bitte.
Ich bin der Meinung, dass wir auch dann, wenn wir
uns intellektuell nicht überfordern wollen, im Hinblick
auf die Äußerung des Verteidigungsministers durchaus
die Verantwortung der Bundesregierung zur Kenntnis
nehmen sollten.
P
Der Verteidigungsminister macht eine ausgezeichnete
Arbeit.
Ich finde, alle seine Äußerungen sind fundiert und beru-
hen auf einer stabilen Grundlage. Die Bundesregierung
steht hundertprozentig dahinter.
Sie haben das Wort zur zweiten Nachfrage.
Wenn die Bundesregierung voll hinter dem Bundes-
verteidigungsminister steht und auch ausschließen kann,
dass die Lieferung von Panzern nach Indonesien aus ge-
brauchten Panzern der Bundeswehr bestehen wird, kön-
nen Sie dann bestätigen, dass ein Rüstungsgeschäft in
den nächsten Tagen zwischen Deutschland und Indone-
sien mit Zustimmung der Bundesregierung stattfinden
wird?
P
Das ist zwar der kluge und zulässige, aber wahr-scheinlich nicht zielführende Versuch, die Regeln überdie Bekanntmachung von entsprechenden Rüstungsge-schäften, wie sie in der ständigen Staatspraxis festgelegt
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24636 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Parl. Staatssekretär Peter Hintze
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sind, etwas zu unterlaufen. Ich habe eben vorgetragen,wie es sich verhält, nämlich dass wir über Voranfragennicht informieren, die Entscheidungen in dem jeweiligenBericht nachzulesen sind und sich die Bundesregierungansonsten dazu nicht äußert.
Zu einer Nachfrage hat der Kollege Jan van Aken das
Wort.
Auch ich habe eine Nachfrage, die den deutschen Ver-
teidigungsminister de Maizière betrifft. Er hat erklärt:
Die 100 Leopard-Kampfpanzer stammen nicht aus Bun-
deswehrbeständen. – Meine Frage ist: Stammen denn die
50 Marder oder die unbekannte Anzahl Marder-Panzer,
die an Indonesien geliefert werden sollen, aus Bundes-
wehrbeständen?
P
Auch dazu kann ich, weil der Sachverhalt noch gar
nicht zur Behandlung ansteht, nichts sagen.
Im Übrigen wäre die Information, die Sie haben, für den
Kollegen Mützenich interessant, weil sie im Wider-
spruch zu seiner Frage steht. Sie könnten sich von Part-
ner zu Partner darüber austauschen, damit die Informa-
tionsbasis stimmt.
– Das gibt es schon einmal.
Das werden die Herren sicherlich in geeigneter Form
noch klären können.
Für heute sind wir am Ende des Geschäftsbereichs
des Bundesministeriums für Wirtschaft und Technolo-
gie. – Vielen Dank, Herr Staatssekretär.
Wir kommen zum Geschäftsbereich des Auswärtigen
Amtes. Zur Beantwortung der Fragen steht die Staatsmi-
nisterin Cornelia Pieper zur Verfügung.
Ich rufe die Frage 22 des Kollegen Dr. Rolf
Mützenich auf:
Wie schätzt die Bundesregierung die Probleme Indone-
siens – Achtung der Menschenrechte, Einsatz der Streitkräfte
im Inneren, Gewaltenteilungsproblematik, Beziehungen zum
Nachbarn Demokratische Republik Timor-Leste – ein, und
welche politischen Konsequenzen zieht sie aus dieser Ein-
schätzung?
Bitte, Frau Staatsministerin.
C
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Es geht im Zusam-
menhang mit Indonesien um Menschenrechtsfragen. Die
Republik Indonesien, Herr Abgeordneter, hat seit 1998
nach Einschätzung der Bundesregierung eine weitrei-
chende Transformation ihres politischen Systems vollzo-
gen und sich zu einem demokratischen Staat gewandelt.
Die Demokratie in Indonesien hat sich in der zweiten
Amtszeit von Präsident Susilo Bambang Yudhoyono
weiter gefestigt. Die Gewaltenteilung ist in der indonesi-
schen Verfassung verankert, wobei insbesondere im Be-
reich der Justiz noch Verbesserungsbedarf besteht, wie
Sie ja auch wissen.
Die Menschenrechtslage in Indonesien ist aus unserer
Sicht insgesamt zufriedenstellend. Systemische Defizite
bestehen nicht. Die indonesische Regierung verfolgt
eine Politik der Achtung der Menschenrechte und der
Stärkung des Justizsystems, wenn auch noch nicht mit
dem gewünschten Erfolg. Insbesondere sei die Lage in
Westpapua genannt. Die indonesische Regierung beab-
sichtigt, erkannte Schwächen im Menschenrechtsschutz
zu beseitigen durch die Umsetzung des für 2012 bis
2014 gültigen Nationalen Menschenrechtsaktionsplans.
Außerdem will sie Verbesserungen im Justizsystem vor-
nehmen.
Die Reform der Streitkräfte und ihre Rolle im indone-
sischen Staat stehen seit Jahren auf der politischen
Agenda. Das Thema „Verhinderung von Menschen-
rechtsverletzungen im Einsatz“ nimmt in der Ausbildung
der Streitkräfte inzwischen einen breiten Raum ein.
Zur Demokratischen Republik Timor-Leste, Herr Ab-
geordneter, pflegt Indonesien seit der Unabhängigkeit
mittlerweile stabile und wirtschaftlich immer engere Be-
ziehungen, die der Präsident mit einem Besuch von gro-
ßer Symbolik zur Amtseinführung des neuen timoresi-
schen Präsidenten im Mai 2012 unterstrichen hat.
Indonesien setzt sich zudem für den Beitritt von Timor-
Leste zur Gemeinschaft südostasiatischer Staaten,
ASEAN, ein.
Die Bundesregierung räumt den Beziehungen zu In-
donesien einen hohen Stellenwert ein. Defizite, insbe-
sondere im Menschenrechtsbereich, sind regelmäßig Ge-
genstand der Gespräche zwischen uns, also in den
bilateralen Kontakten mit der indonesischen Regierung.
Zudem besteht ein regelmäßiger Menschenrechtsdialog
der Europäischen Union mit Indonesien, wie Ihnen
wahrscheinlich bekannt ist.
Sie haben das Wort zur ersten Nachfrage.
Vielen Dank, Frau Präsidentin. – Wenn Sie in IhrerAntwort dennoch von Defiziten im Menschenrechtsbe-reich sprechen, Frau Staatsministerin, sind Sie dannnicht mit mir der Meinung, dass wir erst einmal dienächsten Jahre abwarten müssen, insbesondere dahin ge-hend, dass sich die Menschenrechtssituation und dieAchtung der Gewaltenteilung so verbessern, dass das
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24637
Dr. Rolf Mützenich
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(B)
Militär innerhalb Indonesiens nicht mehr zum Schutz derinneren Sicherheit eingesetzt werden soll? Und sind Siemit mir in diesem Zusammenhang der Meinung, dass dieLieferung von Panzern, insbesondere im Hinblick aufdie Aufgabe des Militärs im Inneren von Indonesien, ge-nau die falsche Entscheidung wäre?C
Herr Abgeordneter, ich bin fest davon überzeugt – das
sage ich auch im Namen der Bundesregierung –, dass
wir den Menschenrechtsdialog gerade mit Indonesien,
gerade mit der dortigen Zivilgesellschaft fortsetzen und
verstärken müssen. Sie wissen, da gibt es eine sehr le-
bendige Zivilgesellschaft. Ich durfte dieses Jahr im Aus-
wärtigen Amt den Interface Dialogue begrüßen. Im
April 2013, also nächstes Jahr, wird dieser Dialog mit
der Zivilgesellschaft in Jakarta stattfinden. Ich selbst
werde daran teilnehmen. Ich halte diese zivilgesell-
schaftlichen Kontakte für außerordentlich wichtig.
Was Ihre Nachfrage zu den sogenannten Panzerliefe-
rungen anbelangt, verweise ich auf die Antwort des von
mir sehr geschätzten Staatssekretärs Hintze.
Herr Mützenich, Sie haben das Wort zu einer zweiten
Nachfrage.
Vielen Dank. – Sie wissen, dass ich den Staatssekretär
ebenfalls schätze.
Ich möchte Sie, überleitend von den Fragen, die ich
zu seinem Geschäftsbereich gestellt habe, fragen, ob Sie
sich in die Meinungsbildung der Bundesregierung im
Hinblick auf die Panzerlieferungen nach Indonesien
durchaus ausreichend einbezogen fühlen. Insbesondere:
Sind Sie ausreichend gefragt worden, ob die Menschen-
rechte in Indonesien gewährleistet werden?
C
Ich sagte bereits: Wir sind in ganz intensivem Kontakt
mit Indonesien, was die Menschenrechte anbelangt.
Ich will außerdem sagen: Es ist bei den Menschen-
rechten noch nicht alles so, wie wir uns das vorstellen.
Sie wissen, dass es noch Benachteiligungen von Chris-
ten in Indonesien gibt. Ich habe das Problem Westpapua
genannt. Die Lage dort ist nicht zufriedenstellend. Dort
gibt es immer noch Menschenrechtsverletzungen.
Ich bitte aber, eines nicht zu verwechseln, Herr Abge-
ordneter: Das Thema Menschenrechte, welches Sie ja zu
Recht zum Thema im Rahmen der Fragestunde gemacht
haben, hat nichts mit der vorhergehenden Frage zu tun.
Im Übrigen stimmen wir uns mit dem Bundeswirt-
schaftsministerium in allen Fragen sehr gut ab.
Herzlichen Dank, Frau Staatsministerin.
Wir sind damit am Ende der Fragestunde. Die übrigen
Fragen werden, wie in unserer Geschäftsordnung festge-
legt, schriftlich beantwortet.
Ich rufe den Zusatzpunkt 1 auf:
Aktuelle Stunde
auf Verlangen der Fraktion DIE LINKE
Haltung der Bundesregierung zu Residenz-
pflicht und Sondergesetzen für Flüchtlinge so-
wie Asylbewerberinnen und Asylbewerber
Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat die Kolle-
gin Halina Wawzyniak für die Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine sehr geehrten Damen undHerren! Stopp aller Abschiebungen, Aufhebung der Re-sidenzpflicht, Schließung aller Isolationslager, Aufhe-bung der Sondergesetze und gleiche Rechte für alle hierlebenden Menschen! Kein Mensch ist illegal.
Seit mehr als sieben Monaten protestieren Flücht-linge. Sie boykottieren die sogenannten Sammelunter-künfte und verletzen bewusst die Residenzpflicht. Siehaben einen Fußmarsch von Würzburg nach Berlin un-ternommen. In Frankfurt am Main, am Oranienplatz inFriedrichshain-Kreuzberg und am Brandenburger Torwerben sie für ihre Forderungen. Bis Donnerstag ver-gangener Woche befanden sie sich im Hungerstreik.Doch die Staatsmacht denkt nicht daran, die Lebensver-hältnisse von Geflüchteten und Asylsuchenden zu verän-dern. Sie reagiert mit bürokratischen Auflagen, die un-sinnig, menschenverachtend und zu einem großen Teilrechtswidrig sind, so wie das Verbot von Sitzkissen undPappen als Sitzunterlagen bei Demonstrationen.
Selbst diese politisch motivierten, rechtswidrigenAuflagen wurden in der vergangenen Woche von Poli-zeibeamten herzlos exekutiert. Es scheint, als hättenpolitisch Verantwortliche den Sinn und Zweck des Ver-sammlungsrechts nicht verstanden.
Es wurde versucht, eine nicht verbotene Demonstra-tion durch faktisches Handeln zu verbieten, indem dieWahrnehmung des Demonstrationsrechts unmöglich ge-macht werden sollte. Erst ein Beschluss des Verwal-tungsgerichts Berlin beendete diesen Zustand. Es machtmich unglaublich wütend, dass in diesem Land ein Ver-waltungsgericht notwendig ist, um das Demonstrations-recht durchzusetzen, und ich finde das Handeln der Ver-antwortlichen beschämend.
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24638 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Halina Wawzyniak
(C)
(B)
Die Integrationsbeauftragte hat nach einer WocheHungerstreik ein Gespräch mit den Geflüchteten geführt.Auf die Idee, mit den in Lagern lebenden und häufig iso-lierten Asylbewerberinnen und Asylbewerbern solcheGespräche zu führen, ist Frau Böhmer in den sieben Jah-ren ihrer Amtszeit zuvor offensichtlich nicht gekommen.Sonst hätte sie das – ich zitiere – „bewegendste Ge-spräch als Integrationsbeauftragte“ schon eher habenkönnen. Doch ein wirkliches Entgegenkommen ist auchnach diesem Gespräch nicht zu verzeichnen. FrauBöhmer fragt sich, ob die Residenzpflicht heute nochzeitgemäß ist. Die Antwort ist einfach: Nein, sie ist esnicht, und sie wird es auch nie sein.
Doch statt eine Initiative zur Abschaffung zu ergrei-fen, wird geprüft. Die Residenzpflicht besagt, dass einVerlassen des den Flüchtlingen zugewiesenen Kreisesnur mit Erlaubnis der örtlichen Behörden möglich ist.Die Residenzpflicht ist damit nichts anderes als eine un-sichtbare Kette, mit der die Bewegungsfreiheit vonFlüchtlingen eingeschränkt wird. Die Zeit der Prüfungist längst abgelaufen. Ein paar gesetzliche Lockerungenändern nichts am menschenrechtswidrigen Charakter derResidenzpflicht. Schaffen Sie diese diskriminierendeRegelung ab! Stellen Sie die Geflüchteten den anderenhier lebenden Menschen endlich gleich!
Frau Böhmer hat darauf gedrungen, dass die Leistun-gen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angeglichenwerden. Wir haben ein Urteil des Bundesverfassungsge-richts dazu. Doch statt tätig zu werden, poltert Innen-minister Friedrich durch die Gegend und will Asylbe-werberinnen und Asylbewerbern weiter Leistungenkürzen oder diese sogar nur als Sachleistungen gewäh-ren. Herr Friedrich ist damit nichts anderes als ein Ver-fassungsfeind.
Schaffen Sie das Asylbewerberleistungsgesetz ab!Stellen Sie die Flüchtlinge den anderen hier lebendenMenschen rechtlich gleich!Frau Böhmer hat – wie der Integrationsbeirat – vorge-schlagen, dass Flüchtlinge nach sechs Monaten die Mög-lichkeit bekommen sollen, zu arbeiten. Sinnvoller wäreein sofortiger Arbeitsmarktzugang. Falls Sie es nochnicht bemerkt haben sollten: Die geltende Vorrangrege-lung beim Zugang zum Arbeitsmarkt besagt im Kernnichts anderes als die von der NPD menschenverachtendvorgetragene Losung: Arbeit zuerst für Deutsche. – Alsohandeln Sie! Schaffen Sie die Vorrangregelung endlichab! Stellen Sie die Geflüchteten den anderen hier leben-den Menschen endlich gleich!
Frau Böhmer hat auf den Vorschlag des Integrations-beirats verwiesen, eine stichtagsunabhängige Bleibe-rechtsregelung zu schaffen. Etliche Bundesländer for-dern Ähnliches. Auch hier gibt es keinen Grund, diesenVorschlag nicht umgehend umzusetzen. Handeln Sieendlich! Beenden Sie die Politik der Stammtische, undhören Sie damit auf, Stimmung gegen Flüchtlinge zumachen, indem Sie wie vor 20 Jahren von Asylrechts-missbrauch und Wirtschaftsflüchtlingen schwadronie-ren! Hören Sie auf, durch Gettoisierung in Lagern, durchdie Verweigerung einer Arbeitserlaubnis, durch dieSchlechterbehandlung von Flüchtlingen im Rahmen desAsylbewerberleistungsgesetzes und durch die Residenz-pflicht diese Stammtische auch noch zu bedienen!Das Urteil des Bundesverfassungsgerichts zum Asyl-bewerberleistungsgesetz besagt, dass eine Politik derAbschreckung, das heißt eine Politik, die aus migrations-politischen Gründen in die Grundrechte Einzelner ein-greift, verfassungswidrig ist.
Art. 1 des Grundgesetzes enthält eine Pflicht zum akti-ven Handeln des Staates zum Schutz der Menschen-würde eines jeden Einzelnen. Handeln Sie! Die Zeit istreif.
Stellen Sie die Geflüchteten den anderen hier lebendenMenschen endlich gleich!
Für die Bundesregierung hat der Parlamentarische
Staatssekretär Dr. Ole Schröder das Wort.
D
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Kolleginnenund Kollegen! Nicht zuletzt aufgrund unserer Vergan-genheit haben wir eine besondere Verantwortung für dieFlüchtlinge weltweit.
Wir werden dieser Verantwortung auch in besondererWeise gerecht.
Viele kommen zu uns, weil sie wissen, dass unserRechtssystem einen umfassenden Schutz vor Verfolgungbietet. Seit 2007 nehmen wir mehr Asylsuchende inDeutschland auf. Allein bis Ende Oktober dieses Jahreswurden 50 344 Erstanträge gestellt. Dazu kommen über11 000 Folgeanträge. Im EU-Vergleich liegt Deutschlanddamit an der Spitze.Wir haben uns jetzt auch entschieden, an jährlichenResettlement-Programmen teilzunehmen, weil wir derÜberzeugung sind, dass wir damit gerade die Menschenerreichen, die in besonders hilfloser Lage sind. Wir wol-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24639
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
(C)
(B)
len das auch in 2013 und 2014 tun. Wir wollen jedes Jahr300 Flüchtlinge dauerhaft in Deutschland aufnehmen.Wir haben jetzt 201 Menschen aus Shousha aus Tune-sien in dieser Art und Weise helfen können. Es handeltsich um Menschen, die in wirklich aussichtsloser Lagewaren, die doppelt verfolgt waren, zunächst nach Libyenflüchten mussten und dann aufgrund des Bürgerkriegsaus Libyen verdrängt wurden. Wir haben im Oktobernoch 105 irakische Flüchtlinge aus der Türkei aufge-nommen.
Wir müssen aber eben auch der Tatsache ins Auge se-hen, dass es Asylmissbrauch gibt, dass Menschen zu unskommen und Asyl beantragen, die in keiner Art undWeise verfolgt sind. Wir brauchen Asylverfahren, dieschnell sind, damit wir gerade denjenigen helfen können,die unserer Hilfe bedürfen.
Wir haben beispielsweise die Situation, dass seit derVisaliberalisierung zunehmend Personen aus Serbienund Mazedonien zu uns kommen, die überhaupt nichtverfolgt werden. Wir hatten bis Oktober 2012 allein10 775 Erstanträge aus diesen beiden Herkunftsländern.Dazu kommen 5 649 Folgeanträge. Allein im Oktoberwaren es 4 024 Erstanträge.Der Zusammenhang mit der Ende 2009 erfolgtenVisaliberalisierung liegt auf der Hand,
ebenso der Zusammenhang mit dem Urteil des Bundes-verfassungsgerichts,
das klargestellt hat, dass die Leistungen für Asylbewer-ber entsprechend ausgeweitet werden müssen. Wir müs-sen doch einmal feststellen, dass die Anerkennungsquotebei diesen Menschen bei null liegt.
Die einzigen, die Schutz bekommen, sind diejenigen, diehierbleiben müssen, weil sie nicht transportiert werdenkönnen oder Krankheiten haben, die nur hier behandeltwerden können.Sogenannte Reiseunternehmen organisieren denAsylmissbrauch in diesen Ländern. Die Vorgehensweiseist ausgesprochen ausgefeilt.
Sie reisen nicht in größeren Gruppen. Diesen Personenwerden vor dem Grenzübertritt Barmittel gegeben. DieseBarmittel werden ihnen nach dem Grenzübertritt wiederabgenommen. Die Kommunen stoßen mit ihren Kapazi-täten an Grenzen.
Deshalb sind Asylverfahren wichtig, die zügig verlaufenund dem Recht auf Asyl gerecht werden. Dazu ist dieResidenzpflicht ein wichtiger Baustein.
Sie stellt sicher, dass Asylbewerber nicht nur eine for-male Meldeadresse haben, sondern dass sie sich an demihnen zugewiesenen Ort aufhalten, sodass das Asylver-fahren durchgeführt werden kann.
Das ist im wohlverstandenen Eigeninteresse des Asylbe-werbers selbst.
Eine solche Residenzpflicht ist auch keine übermäßigeEinschränkung der persönlichen Entfaltungsfreiheit. Dashat das Bundesverfassungsgericht bereits 1997 eindeutigentschieden.Und: Wir haben die Residenzpflicht auch mehrfachgelockert, das letzte Mal in dieser Legislaturperiode. SeitJuli 2011 können sich die Betroffenen zusätzlich zu denAusnahmen,
die es ohnehin schon gab, in einem anderen Bezirk odereinem anderen Land aufhalten, zum Beispiel um dieSchule zu besuchen oder um einem Studium nachzuge-hen. Das ist möglich.Darüber hinaus können die Regierungen benachbarterLänder den Aufenthaltsbereich von Asylbewerberngrundsätzlich auf den Bereich des Nachbarlandes erstre-cken.
Die Residenzpflicht – das möchte ich hier auch klar-stellen – ist ebenfalls wichtig, um mögliche Ausreise-pflichten vollziehen zu können. Um eines klarzustellen:Die Residenzpflicht gilt nur für Asylbewerber, für dieje-nigen, die sich im Verfahren befinden, und nicht für die-jenigen, die anerkannt wurden. Das ist doch ganz ent-scheidend.
Ein anerkannter Asylbewerber darf selbstverständlichdie volle Reisefreiheit in ganz Europa in Anspruch neh-men. Er darf selbstverständlich arbeiten. Er darf selbst-verständlich auch im vollen Umfang von unserem So-zialstaat profitieren.
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24640 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
(C)
(B)
Es macht doch überhaupt keinen Sinn, dass jemand, dersich im Asylverfahren befindet, von allen diesen Mög-lichkeiten profitieren kann. Wir meinen, dass wir hierunterscheiden müssen.
Wir müssen auch die weiteren Folgen einer Aufhe-bung der Residenzpflicht im Blick haben. Es würdenicht nur zu einer Verlangsamung der Asylverfahrenkommen, es käme auch zu einer ungleichmäßigen Ver-teilung der Asylbewerber und der Lasten auf die Kom-munen. Gerade das wollen wir nicht, meine Damen undHerren.
Wenn jetzt einige Länder sogar fordern, das Asylbe-werberleistungsgesetz in Gänze und damit auch dasSachleistungsprinzip – darum geht es ja – vollständig ab-zuschaffen,
so muss ich sagen: Das führt zu einer zusätzlichen Sog-wirkung und dazu, dass vermehrt nicht diejenigen zu unskommen, die wirklich verfolgt sind, sondern diejenigen,die den Weg über das Asylrecht nutzen, um hier zu ar-beiten oder womöglich unser Sozialsystem zu missbrau-chen. Das wollen wir verhindern.
Wir haben in den gerade genannten Bereichen beson-dere Regelungen für Asylbewerber und zum Teil auchfür Geduldete. Das ist unseres Erachtens auch sachge-recht. Der Grund ist, dass während eines laufenden Asyl-verfahrens noch keine Aussage darüber getroffen wer-den kann, ob jemand dauerhaft bleiben darf oder nicht.Genau diese Unterscheidung machen wir.
Unser Interesse ist es, denen zu helfen, die unserenSchutz wirklich brauchen. Dazu benötigen wir ein zügi-ges, effizientes Asylverfahren, das zu sachgerechtenEntscheidungen führt. Dafür sind aus Sicht der Bundes-regierung und der Praktiker in Bund und Ländern dievon mir genannten Regelungen erforderlich.
Wir sind auch nicht der Auffassung, dass es sinnvollist, einem Asylbewerber vom ersten Tag an den Zugangzum Arbeitsmarkt zu ermöglichen. Hierfür gibt es an-dere Zugangsmöglichkeiten, die in unserem Aufenthalts-recht geregelt sind, aber eben nicht im Asylrecht. Das istauch sachgerecht. Für diejenigen, die bei uns arbeitenwollen, gibt es Möglichkeiten, zu uns zu kommen; dieentsprechenden Zugangsmöglichkeiten haben wir in die-ser Legislaturperiode ausgeweitet.Das Asylrecht jedoch ist dazu da, denjenigen zu hel-fen, die wirklich verfolgt werden, und nicht denjenigeneine Zugangsmöglichkeit zu verschaffen, die in Deutsch-land arbeiten wollen. Das ist nicht Sinn und Zweck desAsylrechts. Deshalb sollten wir diese Unterscheidungvornehmen. Nur so kommen wir am Ende zu sachge-rechten Lösungen und werden den Menschen gerecht,die unsere humanitäre Hilfe wirklich brauchen.
Bevor wir in der Debatte fortfahren, lassen Sie michFolgendes sagen:Erstens. Für diejenigen, die hier dieser Debatte fol-gen, möchte ich eine kleine Erklärung geben: Wir befin-den uns beim Tagesordnungspunkt „Aktuelle Stunde“.Eine Aktuelle Stunde hat den Vorteil, dass ein Thema,welches offensichtlich sowohl Parlamentarier wie auchdie Öffentlichkeit bewegt, hier debattiert werden kannund die Standpunkte dargelegt werden können. Für dieParlamentarier hat das jedoch den Nachteil, dass sie ihregegensätzlichen Positionen weder durch Zwischenfragennoch durch Kurzinterventionen darstellen können.
Das ist die Erklärung für diejenigen, die unsere Debattehier verfolgen.Zweitens. Ich habe eine Bitte, und zwar sowohl andiejenigen, die jeweils überwiegend das Wort haben– sprich: von mir das Wort erteilt bekommen haben –,als auch an diejenigen, die ihrer Zustimmung oder ihremUnmut Luft machen wollen oder die ihre Position ein-bringen wollen, obwohl sie nicht auf der Redeliste ihrerFraktion stehen, hier also nicht reden können: Bitte be-fleißigen Sie sich trotzdem parlamentarischer Aus-drucksformen!
Nun hat die Kollegin Daniela Kolbe für die SPD-Fraktion das Wort.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24641
(C)
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Werte Kolleginnenund Kollegen! Sehr geehrter Herr Staatssekretär, ob wirunserer Verantwortung gegenüber denjenigen, dieSchutz benötigen – Menschen aus Syrien, aus dem Iranusw. –, wirklich gerecht werden, das ist die große Frage.Wenn ich mit Asylsuchenden spreche, kommen mir damitunter Zweifel.Ich war mit meinem Kollegen Rüdiger Veit vor knappzwei Wochen, kurz nach Entstehen des Camps, am Bran-denburger Tor vor Ort und habe mit den Menschen ge-sprochen, die dort versuchen, ihre Positionen deutlich zumachen. Es hat geregnet, es war kalt, wir waren nichtwarm genug gekleidet, und schon nach wenigen Minu-ten haben wir unsere Mäntel enger um uns geschlungenund geflucht, dass wir keinen Schirm dabei hatten.Uns ist dabei mehr als deutlich geworden, dass dieFlüchtlinge das dort auf keinen Fall nur aus Spaß an derFreude machen, sondern dass ein massiver Leidensdruckdahinterstecken muss, wenn man unter diesen Bedingun-gen auf dem Pariser Platz in den Hungerstreik tritt.Die Flüchtlinge haben uns von ihren Forderungen be-richtet, sowohl von denen, die Bedingungen vor Ort zuverbessern, aber eben auch – darüber will ich vor allemsprechen – von ihren politischen Forderungen. Das, wasdiese Menschen dort auf sich nehmen, ist es wert, dasswir über ihre Anliegen sprechen, ihre politischen Forde-rungen ernst nehmen und ihnen hier Raum einräumen.Ich kann nicht alle Forderungen teilen, die die Flücht-linge vorbringen. An vielen Stellen jedoch kann ich sieabsolut nachvollziehen; da spürt man förmlich das Leidder Flüchtlinge. Nach der Jahrtausendwende war ichsehr viel in Schulklassen unterwegs und habe dort fürFlüchtlingsrechte und gegen Rassismus geworben. Ichkann Ihnen sagen: Auch Schülerinnen und Schüler ha-ben für vieles von dem, was wir den Flüchtlingen undAsylsuchenden in unserem Land antun, wenig Verständ-nis. Sie verstehen zum Beispiel nicht, warum es eine Re-sidenzpflicht gibt, warum Menschen also nicht denLandkreis verlassen dürfen, dem sie zugeordnet sind. Sieverstehen nicht, warum diese Menschen nicht arbeitendürfen,
warum wir junge Menschen, die zum Teil gut ausgebil-det sind und die hierherkommen, um Schutz zu suchenoder zu studieren oder um arbeiten zu können, der Ago-nie des Nichtstuns überantworten. Sie verstehen auchnicht, warum diese Menschen im ersten Jahr überhauptnicht arbeiten dürfen und anschließend an vielen Ortenso etwas wie ein Arbeitsverbot haben, da das Nach-rangigkeitsgebot in vielen Teilen der Republik de factoauf ein Arbeitsverbot hinausläuft. Die Schülerinnen undSchüler sind erstaunt, dass die Flüchtlinge in vielen Bun-desländern keinen Zugang zu einer vernünftigen Ge-sundheitsversorgung haben, dass vor allen Dingen einepsychologische Betreuung der Flüchtlinge nicht selbst-verständlich ist – es handelt sich doch gerade um Men-schen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben –,dass sie keinen Zugang zu Sprach- und Integrationskur-sen haben usw. Ich gebe zu: Ich habe das auch nie ver-standen; ich verstehe es auch jetzt nicht.Ich finde, am absurdesten ist die Residenzpflicht. Mitdem Begriff Residenzpflicht kann schätzungsweise dieMehrheit der Deutschen nichts anfangen: Was ist denndas, Residenzpflicht? – Residenzpflicht ist aber einWort, das jeder Asylbewerber, der nach Deutschlandkommt, lernt; ich glaube, es ist das erste deutsche Wort,das Asylsuchende in Deutschland lernen. Residenz-pflicht bedeutet: Menschen dürfen den Landkreis, demsie zugeordnet sind, nicht ohne Erlaubnis verlassen.Asylbewerberheime liegen aber aus Gründen, die wiralle kennen – diese Gründe führen bei mir immer wiederzu Magengrummeln –, am Rande von Städten und Land-kreisen. So kommt es durch die Residenzpflicht zu ab-surden Situationen: Straßen dürfen nur in eine Richtungbegangen werden, weil in der anderen Richtung derLandkreis endet. Supermärkte, die näher liegen, sindtabu, weil sie eben im falschen Landkreis liegen.Es gab dazu auch schon kreativen Protest seitens derFlüchtlinge, zum Beispiel ein Volleyballturnier, bei demdie Flüchtlinge aus dem einen Landkreis auf der einenSeite des Feldes standen und Flüchtlinge aus dem ande-ren Landkreis auf der anderen Seite. Ein Seitenwechselwar da nicht bzw. nur durch Rechtsbruch möglich, unddas ist absurd. Das ist aber nicht absurdes Theater; esgeht um die Lebenschancen von Flüchtlingen, auch vonjungen Flüchtlingen, die hier ihre Lebenszeit verbringenund Chancen wollen.Was ist eigentlich die Begründung für die Residenz-pflicht? Ich habe es so verstanden, dass es auch darumgeht, die Lastenteilung zwischen den Landkreisen undLändern sicherzustellen. In Ordnung; aber man kann dasauch anders organisieren,
und die Bundesregierung organisiert es auch anders,zum Beispiel bei den Resettlement-Flüchtlingen. Siewerden auch auf die Länder und Landkreise verteilt;aber eine Residenzpflicht besteht für sie nicht. Das isteine massive Erleichterung für diese Flüchtlinge.
– Das ist richtig: Sie haben einen anderen Status.
Aber bei beiden Gruppen geht es um Menschen.
Viele Bundesländer legen die Residenzpflicht so weitaus, wie es irgend geht. Das Interessante ist, dass ich vonden Konservativen keinerlei Klagen darüber höre. Dasjüngste Beispiel für ein Bundesland, in dem die Resi-denzpflicht sehr weit ausgelegt wird, ist Niedersachsen,bekanntlich von Schwarz-Gelb regiert. Insofern schei-
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Daniela Kolbe
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nen Sie die Residenzpflicht nicht grundsätzlich für sowichtig zu halten.Ich möchte es ganz kurz machen: Die Residenzpflichtist ein Relikt aus den 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts.Sie bringt nichts; sie diskriminiert nur. Deshalb solltenwir sie abschaffen; Frau Böhmer, da gebe ich Ihnen aus-drücklich recht.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Hartfrid Wolff für die FDP-Fraktion.Hartfrid Wolff (FDP):Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Vor-schläge zur Abschaffung der Residenzpflicht für Asylbe-werber oder zur Änderung des Asylbewerberleistungs-gesetzes hat es immer wieder gegeben, auch in dieserLegislaturperiode; daran ist nicht wirklich etwas aktuell.Wir haben diese Frage hier im Hause wiederholt beraten.Zuletzt stand das Aufenthalts- und Asylrecht hier vorzwei Wochen auf der Tagesordnung. Verbesserungen imAusländer- und Asylrecht sind allerdings immer wiederzu erwägen und zu prüfen.
Dabei darf es aber nicht einfach nur um die zunächst ge-fühlte gute Absicht gehen, Herr Kollege Veit. Es müssenauch die Folgen, die es für alle Beteiligten hat, berück-sichtigt werden.In diesem Zusammenhang kann ich feststellen: DieFDP ist stolz auf die Erfolge in der Zuwanderungs- undIntegrationspolitik, die sie in der Koalition gemeinsammit der CDU/CSU erreicht hat.
Wir haben die Weichen für eine Kultur des Willkom-mens gestellt.
Wir erschließen die Chancen der Zuwanderung für unserLand besser und stärken den Zusammenhalt unsererdurch Zuwanderer bereicherten Gesellschaft. Das giltgerade für die humanitäre Zuwanderung. Aber auch hiergilt: Fördern und Fordern gehören zusammen.
Offenkundig passt das einigen aus dem Oppositions-lager nicht. Wir haben in den vergangenen Tagen mehr-fach gehört, wie sich die Oppositionsparteien einfachnur gegen das stellen, was die Koalition macht, unabhän-gig davon, ob die eigene Position kürzlich noch eine an-dere war.
Wir aber halten Wort. Die christlich-liberale Koalitioneröffnet Perspektiven für Menschen, die in unser Landkommen. Im Vergleich zu den Vorgängerregierungenschneidet diese Koalition auf diesem Politikfeld heraus-ragend ab:
Wir haben den Einstieg in eine dauerhafte, bundesge-setzliche Bleiberegelung geschaffen. Erstmals wurde fürminderjährige und heranwachsende geduldete Ausländerein vom Aufenthaltsrecht der Eltern unabhängiges Blei-berecht in einem Bundesgesetz geschaffen. Das ist hu-manitäre Rechtssicherheit.
Wir haben die aufenthaltsrechtlichen Übermittlungs-pflichten öffentlicher Stellen geändert, um den Schul-und Kindergartenbesuch von Kindern zu gewährleisten.Wir haben – jetzt hören Sie einmal zu! – die Residenz-pflicht für Geduldete und Asylbewerber gelockert,
um ihnen die Aufnahme einer Beschäftigung oder Aus-bildung zu erleichtern.
Wir haben die Stabilisierungszeit für Menschenhandels-opfer auf drei Monate verlängert und sind damit einemdringenden Petitum von Opferverbänden, aber auch derPolizei gefolgt.
Diese Koalition hat es ermöglicht, dass Abschiebehäft-linge auf ihren Wunsch hin von Nichtregierungsorgani-sationen besucht werden dürfen, und die Bedingungenfür die Abschiebehaft signifikant verbessert. Wir habenerstmals, lieber Kollege Winkler, ein eigenständigesWiederkehr- bzw. Rückkehrrecht für ausländische Opfervon Zwangsverheiratungen geschaffen und den eigen-ständigen Straftatbestand der Zwangsheirat eingeführt.
Das ist aktiver Opferschutz und ein klarer Appell, unserefreiheitliche Werteordnung zu achten.
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Hartfrid Wolff
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Nichts dergleichen hat seinerzeit die rot-grüne Koali-tion zustande gebracht. Die rot-grüne Regierung war ge-radezu inaktiv bei diesen Themen,
obwohl die Probleme damals schon akut waren. Dass Siejetzt noch mehr fordern, wirft ein sehr schräges Bild aufIhre eigene Regierungszeit und die jetzige Lage.Die christlich-liberale Koalition hat Zuwanderung fürFachkräfte deutlich rationaler gestaltet und die Verfahrenentbürokratisiert und vereinfacht. Das eröffnet auchMenschen ohne Anspruch auf Asyl eine legale Möglich-keit der Zuwanderung. Wir haben die Visawarndatei ein-geführt. Wir erleichtern so für ein weltoffenes Indus-trieland wie Deutschland den unverzichtbareninternationalen Reiseverkehr und stärken zugleich dieSicherheit unseres Landes, und zwar ohne ausuferndeDatenerfassung und unter Wahrung der Bürgerrechte.
Wir haben, wie gesagt, die Residenzpflicht für Geduldeteund Asylbewerber gelockert, um ihnen die Aufnahme ei-ner Beschäftigung oder Ausbildung zu erleichtern. Damitsteigern wir die Chancen von jungen Migranten, auf demArbeitsmarkt Fuß zu fassen und sich in unserer Gesell-schaft weiterzuentwickeln.Aktuell ist mir wichtig, zu betonen: Für mich als Li-beralen ist das Demonstrationsrecht ein Ausfluss derfreien Meinungsäußerung. Auch wenn ich ganz sichernicht alle Anliegen unterstütze oder für tragbar halte, sobin ich doch der Meinung, dass Dialog immer möglichsein muss. Deshalb freue ich mich darüber, dass Staats-ministerin Böhmer in der letzten Woche durch ihre Ini-tiative ein deutliches Zeichen der Gesprächsbereitschaftgegeben hat.
Zum demokratischen Dialog gehört aber auch der Re-spekt vor geltenden Gesetzen. Wer meint, sich nicht andas geltende Recht halten zu müssen, bei dem habe ichgewisse Zweifel, ob wirklich Interesse an einem Dialogexistiert.
Mit unseren bisherigen Gesetzesinitiativen wurden inausgewogener Weise Maßnahmen zur Förderung der In-tegration und zur humanitären Besserstellung von Aus-ländern, die in Deutschland Hilfe und Schutz suchen, er-griffen. Wir fördern und fordern. So kommt Deutschland– und alle, die hier leben wollen – voran. Der Schlüsselfür gesellschaftlichen Zusammenhalt ist erfolgreiche In-tegration. Diese Koalition stellt dafür die Weichen.
Das Wort hat der Kollege Josef Winkler für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Das Bundesverfassungsgericht hat in seinemUrteil zum Asylbewerberleistungsgesetz einen wichti-gen Satz geprägt: Die Menschenwürde ist migrationspo-litisch nicht zu relativieren.
Herr Staatssekretär Schröder, daran hat sich das Handelnder Bundesregierung zu messen. Ich will Ihnen sagen:Es ist eine Verhöhnung der Flüchtlinge und eine Verhoh-nepiepelung des Parlamentes, wenn Sie hier das Zerrbildzeichnen, das deutsche Asylsystem sei das Paradies aufErden; es fehlten nur noch die Dreigängemenüs. So gehtdas nicht.
Wir haben ein Asylrecht, das aus meiner Sicht – ich binkatholisch – weder christlich noch besonders liberal ist.Die Residenzpflicht ist menschenrechtswidrig. Sie istaußerdem überflüssig und nicht sachgerecht. Deshalbmuss man sie abschaffen. Das steht an; hier gebe ichFrau Staatsministerin Böhmer recht.
Wir haben aber eine Bundesregierung, die hier mitgespaltener Zunge spricht. Ich will Frau Böhmer nichtkritisieren. Ich finde es wichtig, dass man im Laufe derZeit Positionen überprüft und auch einmal korrigiert. Woaber ist Bewegung bei der Unionsfraktion? Wo ist Bewe-gung bei den sogenannten Liberalen, Herr Wolff? Das,was Sie hier vorgetragen haben, war doch nicht liberal.
– Sie können sich an Rot-Grün abarbeiten; zwischen-durch gab es aber auch eine Große Koalition. Im nächs-ten Jahr können Sie, wenn Sie dann noch im Parlamentsein sollten, von der Oppositionsbank aus die neue rot-grüne Regierung kritisieren
und deren Positionen bewerten.
Jetzt aber geht es nicht um Rot-Grün. Jetzt geht es umdie Rechtslage, die wir in Deutschland haben. Für meineFraktion kann ich erklären: Die Abschaffung der Resi-
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Josef Philip Winkler
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denzpflicht, aber auch die Abschaffung des Asylbewer-berleistungsgesetzes sind nach dem Urteil des Bundes-verfassungsgerichts sach- und zeitgerecht.
Es ist einfach unnötig, dass nur medizinische Notfallbe-handlungen durchgeführt werden dürfen. Warum dürfendiese Leute keine dauerhafte Psychotherapie oder einedauerhafte ärztliche Behandlung, sondern nur medizini-sche Notfallbehandlungen erhalten? Dies war vielleicht1994, als es Hunderttausende von neuen Flüchtlingengab, eine Frage, die man sich einfach aus Kapazitäts-gründen stellen musste, aber doch heute nicht mehr. Dasmuss einfach nicht mehr sein. Warum wird die Hilfe inBayern zum Beispiel nicht bar ausgezahlt, sondern inForm von Sachleistungen, die nicht immer sachgerechtsind? Das ist doch reine Schikane.
Geben Sie es doch zu: Sie wollen die Leute abschre-cken und schikanieren. Deswegen wollen Sie die Resi-denzpflicht beibehalten. Nichts gegen Hintertupfing;aber deshalb wird man als Flüchtling in Bayern in dieabgelegensten Orte verfrachtet und in verrotteten Kaser-nen untergebracht. Man wird mit vielen Personen in ei-nem Zimmer untergebracht, und es gibt scheußliche sa-nitäre Einrichtungen. Sie zeichnen hier ein Bild vomParadies auf Erden, das die Menschen aus aller HerrenLänder nach Deutschland locken würde. Glauben Sie imErnst, dass diese Menschen das Urteil des Bundesverfas-sungsgerichts gelesen haben und die Koffer gepackt ha-ben, weil sie gesagt haben: „Oh, das Taschengeld wurdeum 50 Euro erhöht; lasst uns nach Deutschland gehen“?Das kann doch nicht Ihr Ernst sein; das ist doch absurd.
Einige Flüchtlinge sitzen hier oben auf der Tribüne.Wir hatten eben ein Gespräch im Menschenrechtsaus-schuss, an dem im Übrigen kein Mitglied der FDP-Frak-tion teilgenommen hat, Herr Wolff – das nur zu Ihremchristlich-liberalen Menschenbild.
– Ich wollte das nur einmal sagen. – Auch wenn wirnicht jede Forderung teilen und jede Vorgehensweise fürempfehlenswert halten, erklären wir uns solidarisch.Man muss sich einmal ausmalen, was Menschen in einesolche Verzweiflung treibt, dass sie in einen Hunger-streik treten. Das machen sie nicht aus Jux und Tollerei.Das tun sie, um auf die unzumutbare Lage von Men-schen in unserem hochentwickelten und nicht so armenLand aufmerksam zu machen. Dafür bin ich ihnen dank-bar. Auch das ist ein Grund dafür, warum meine Fraktionnoch einmal einen Antrag zur Abschaffung der Resi-denzpflicht eingebracht hat. Somit können wir dasThema im Ausschuss weiter bearbeiten.
Die Regierungskoalition hat ihre dafür Beauftragte imBundeskanzleramt angesiedelt. Auf diese deutliche Auf-wertung ist diese immer stolz. Es wäre schön, wenndiese Aufwertung praktische Konsequenzen hätte, in-dem zum Beispiel einer Empfehlung, über die Abschaf-fung der Residenzpflicht nachzudenken, ernsthaft ge-folgt wird.Herzlichen Dank.
Der Kollege Reinhard Grindel hat nun für die Unions-
fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Frau Wawzyniak, Sie haben es für notwendig erachtet,die Vorrangregelung im Aufenthaltsrecht mit dem NPD-Slogan „Arbeitsplätze nur für Deutsche“ zu vergleichen.Sie wissen ganz genau, dass die Vorrangregelung für je-den in Deutschland gilt, der eine rechtmäßige Arbeitser-laubnis hat. Diese Vorrangregelung gilt zugunsten vonEU-Bürgern, sie gilt für Angehörige von Drittstaaten, siegilt für Bluecard-Inhaber. Was Sie gesagt haben, ist inder Sache falsch, und der Stil war, was den NPD-Ver-gleich angeht, unverschämt. Sie sollten das zurückneh-men.
Das ist nicht zutreffend. Das ist eindeutig falsch. Dieje-nigen, die sich auskennen, wissen das.Sie haben heftig reagiert, als der Staatssekretär dasThema Asylmissbrauch angesprochen hat. Gestern hatsich die EU-Innenkommissarin, Frau Malmström, mitden Innen- und Justizministern der Westbalkanländer ge-troffen. Sie hat darauf hingewiesen, dass wir in der EUin diesem Jahr 73 Prozent mehr Asylanträge haben alsim letzten Jahr.
Sie hat sich ausschließlich auf den Bereich Asylmiss-brauch bezogen und diesen Hinweis verbunden mit derAndrohung, auf die Visafreiheit, etwa für Serbien, zuverzichten. Ich bitte Sie, einfach einmal zur Kenntnis zunehmen, dass das auch in der EU-Kommission so gese-hen wird.
Wir müssen auch einen Blick auf das Umfeld werfen,in dem die Debatte stattfindet. Wir haben in Deutschland
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Reinhard Grindel
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in diesem Jahr 60 000 Asylbewerber; das ist weit mehrals in den letzten Jahren. Sie brauchen für eine erfolgrei-che Integrationspolitik auch die Aufnahmebereitschaftder heimischen Bevölkerung.
Ich sage Ihnen: Wenn wir weiter eine ungesteuerte Zu-wanderung haben – das ist das, wofür Sie hier plädieren –,dann versündigen wir uns an einer erfolgreichen Integra-tionspolitik. Das ist der Sachverhalt.
– Herr Oppermann, wenn man in Hintergrundgesprä-chen immer wieder deutlich macht, dass man Innen-minister werden will, dann muss man sich mit der Sacheschon ein bisschen vertraut machen.Ich will Ihnen den Sinn der Residenzpflicht erklären.Die Residenzpflicht ist keine Schikane; mit der Resi-denzpflicht wird vor allen Dingen das Ziel der Lastentei-lung verfolgt.
Ich will Ihnen eines offen sagen: Die Kommunen, diesich im Augenblick an den Bund wenden und sagen:„Wir bekommen das mit den Unterbringungsmöglich-keiten nicht mehr hin“, liegen vor allen Dingen in Ba-den-Württemberg und Nordrhein-Westfalen, und diesewerden von Rot und Grün regiert. Wenn von Rot undGrün geführte Kommunen vor Ort, wo die Problemegroß sind, sagen: „Der Bund soll das lösen“, könnenSPD und Grüne auf Bundesebene doch nicht die Ab-schaffung der Residenzpflicht fordern; denn das würdefür noch viel größere Unterbringungsprobleme sorgen.Das geht nun wirklich nicht. Diese Art von Doppelzün-gigkeit ist nicht in Ordnung.
Die Flüchtlinge haben auch kürzere Verfahren gefor-dert. Kurze Verfahren setzen voraus, dass der Flüchtlinggreifbar ist, wenn man Rückfragen hat.
Das ist einfach nicht möglich, wenn er sich im Grundegenommen anmelden kann, wo er will, und die Auslän-derbehörde erst einmal ausfindig machen muss, wo ersich gerade aufhält. Kurze Verfahren und Aufhebung derResidenzpflicht – das lässt sich nicht miteinander verein-baren.Natürlich hat die Residenzpflicht auch den Zweck– das hat der Staatssekretär zu Recht festgehalten –, dassdiejenigen, die sich zu Unrecht auf das Asylrecht beru-fen, erfolgreich in ihre Heimatländer zurückgeführt wer-den können. Eine Politik nach dem Motto „Wer dasRecht hat, in Deutschland zu leben, bleibt hier, und werkein Recht hat, in Deutschland zu leben, bleibt auchhier“ wird die Bevölkerung nicht mitmachen.
Das führt zu einem Klima, in dem erfolgreiche Integra-tionspolitik zum Scheitern verurteilt ist. So wird sienicht gelingen.Ich kann Ihnen nur sagen: Voraussetzung für eine er-folgreiche Steuerung der Zuwanderung ist – das ist auchVoraussetzung für die Vermeidung eines solchen Miss-brauchs des Asylrechts, wie wir ihn zurzeit erleben –,dass wir innerhalb der EU ein einheitliches rechtlichesVerfahren zur Anerkennung von Asylbewerbern haben.Ferner müssen wir dahin kommen, dass das Niveau dersozialen Leistungen in etwa gleich ist. Insofern ist esrichtig, dass sich die EU-Innenminister hinsichtlich derMöglichkeit, in Deutschland bzw. in der EU zu arbeiten,auf ein neunmonatiges Arbeitsverbot, nach dem man tä-tig werden kann, verständigt haben.Ich sage es noch einmal: Wir müssen angesichts von60 000 Asylbewerbern, die in diesem Jahr nach Deutsch-land gekommen sind, darauf achten, dass es nicht zuweiteren Pull-Effekten kommt. Wir dürfen in der Tatkeine Signale aussenden, dass es gerade jetzt großenSinn macht, nach Deutschland zu kommen. Wir müssendafür sorgen, dass diejenigen Schutz finden, die tatsäch-lich verfolgt werden, und diejenigen in ihrer Heimat ihrGlück machen können, die aus sozialen und wirtschaftli-chen Gründen zu uns kommen. Das sind eine kluge Inte-grations- und auch eine kluge Entwicklungspolitik. Dazubekennen wir uns.Herzlichen Dank.
Das Wort hat der Kollege Rüdiger Veit für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Auch ein Willkommen an die Zu-schauer! Ich war zunächst ganz froh, dass die Linkspar-tei für heute eine Aktuelle Stunde beantragt hat, um hierim Parlament über die Forderungen der Flüchtlinge aufdem Pariser Platz zu sprechen – Prinzip: kurze Wege. Ichteile allerdings nicht die Wortwahl und auch nicht jedeIhrer Forderungen, Frau Kollegin. Da ich gerade beimLoben bin, will ich auch sagen, dass ich Frau Staatsmi-nisterin Böhmer und Frau Senatorin Dilek Kolat ganzherzlich dankbar dafür bin, dass sie mit den Flüchtlingendie Probleme besprochen haben, dass sie die Forderun-gen entgegengenommen haben und dass sie erreicht ha-ben, dass der Hungerstreik abgebrochen worden ist. Vie-len Dank!
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24646 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Rüdiger Veit
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Ich war heute Vormittag eigentlich noch relativ gutenMutes und habe in der Sitzung des Innenausschusses da-rum gebeten, die Beratung unseres SPD-Antrags zur Ab-schaffung der Residenzpflicht zu vertagen, weil ich derHoffnung war – ich tue mich schwer, diese Hoffnungaufrechtzuerhalten –, dass sich auch bei Schwarz-Gelbetwas bewegt. Ich würde mir – auch im Sinne des Bei-trags des Kollegen Winkler – wünschen, dem Gewichtvon Frau Staatsministerin Böhmer würde Rechnung ge-tragen und ihre Vorschläge würden in der schwarz-gel-ben Koalition Berücksichtigung finden. Aber diesen Op-timismus habe ich nach den Redebeiträgen der KollegenWolff und Grindel verloren.
Ich will mich den drei Forderungen zuwenden, die dieFlüchtlinge im Einzelnen vorgetragen haben.Erstens: möglichst baldige Arbeitsaufnahme. Ich erin-nere mich dunkel an einen Vorschlag des damaligen bay-erischen Innenministers Günther Beckstein und unseresInnenministers Otto Schily, die gesagt haben: Klar,Asylbewerber und Geduldete sollen möglichst schonnach sechs Monaten arbeiten. – Das ist nicht überall aufBegeisterung gestoßen; aber eigentlich müsste dieserVorschlag Ihnen auch aufgrund dieser personellen Alli-anz relativ nahe liegen. Mit diesem Vorschlag sollten Siesich eigentlich nicht so schwertun.Zweitens: Residenzpflicht. Ich höre wieder und wie-der, man müsse die Leute im Verfahren erreichen, sonstdauere es zu lange, und man müsse sie erreichen, wennman sie abschieben will, sonst würde man sie nicht fin-den. Das ist doch alles praxisfern. Wenn ich, um die Las-ten gleichmäßig zu verteilen – das wollen auch wir –,den Betreffenden einen Wohnort zuweise, an dem siesich mit ihren Familien regulär aufhalten, kann ich ihnendort auch ein behördliches Schriftstück zustellen. Wersich nicht abschieben lassen will, auch nicht unter An-wendung unmittelbaren Zwanges, den treffe ich wederunter seiner gemeldeten Adresse an noch im Asylbewer-berheim, der ist dann weg. Insofern ist das alles praxis-fremd.
Drittens: Asylbewerberleistungsgesetz. Ich darf Ihnenda vielleicht mit einigen persönlichen Erfahrungen die-nen, die ich in meiner früheren Funktion gemacht habe.Ich will aber zuerst auf einen anderen Punkt in diesemZusammenhang zu sprechen kommen. Ich finde es wirk-lich schlimm, dass Sie heute so diskutieren, als hättenwir Asylbewerber- und Spätaussiedlerzahlen der Jahre1990, 1991 und 1992.
Damals sind in manchem Jahr fast 1 Million Menschenneu zu uns gekommen. Jetzt reden wir über ein Zwan-zigstel dieser Zahl. Ich finde es geradezu absurd, wennKommunalpolitiker,
egal welcher Couleur – es mögen auch Parteifreunde vonmir dabei sein –, sich hinstellen und sagen: Diese Belas-tung ist nicht verkraftbar. – Ich sage Ihnen: Selbstver-ständlich ist diese Belastung verkraftbar. Sie ist für unserLand, für die Gesellschaft und auch für die Kommunenproblemlos verkraftbar; ich komme auf das Beispielgleich noch einmal zurück. Ich finde das unerträglichund wirklich absurd.
Ich war von 1985 bis 1998 Landrat in Gießen. Kol-lege Grindel weiß das; er hat sich dort schon einmal übermich erkundigt, wie ich neulich gehört habe. Unter ande-rem war ich für die Unterbringung von Flüchtlingen,Spätaussiedlern und Übersiedlern zuständig, wobei dieStadt Gießen als zentrale Aufnahmestelle des LandesHessen und als Notaufnahmelager in besonderer WeiseFluchtpunkt gewesen ist. Ich darf Ihnen sagen: Ich hatteüber all die Jahre hinweg auch konkret mit der Frage derUnterbringung und Versorgung dieser Zuwanderungsbe-wegung in der von mir schon geschilderten Größenord-nung zu tun. Dank vernünftiger Politik und dank der Un-terstützung durch die Zivilgesellschaft und allerBürgermeister, egal welcher Couleur, haben wir das hin-bekommen, übrigens ohne einen einzigen fremdenfeind-lichen Anschlag.Ich will Ihnen eine weitere Erfahrung schildern. Alsich 1985 ins Amt kam, habe ich das Elend in den Ge-meinschaftsunterkünften gesehen und sie sofort schlie-ßen lassen. Wir sind damals dazu übergegangen – rech-nen Sie einmal nach, wie lange das schon her ist; es sind27 Jahre –, die Leute, soweit noch nicht geschehen, inHäusern mit allenfalls 20, 30 Personen nur einer Ethnieoder zwei bis drei Familien unterzubringen. Jetzt kommtder entscheidende Punkt – vielleicht kann ich Sie we-nigstens hier abholen –: Das Land Hessen hat bis Mitteder 90er-Jahre die Kosten für die Unterbringung und Be-treuung von Asylbewerberinnen und -bewerbern voll-ständig erstattet, eins zu eins. Dann ist man zu einer Pau-schalierung der Kosten übergegangen, pro Monat bzw.Tag und Person. Jetzt kommt etwas, das vielleicht auchSie ein bisschen zu beeindrucken vermag: Durch diesePauschalierung hat die Kasse meines Kreises damals ineiner Größenordnung von etwas mehr als 1 MillionD-Mark profitiert. Unsere Verwaltungspraxis war näm-lich nicht nur humaner und einfacher, sondern obendreinbilliger.Ich kann nur an alle appellieren, die es nicht nur mitden betroffenen Menschen gut meinen – mehrheitlich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24647
Rüdiger Veit
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tun wir das hoffentlich, übrigens auch außerhalb der Ko-alition –, sondern auch die finanzielle Situation der Ge-meinden im Blick haben, von der bisherigen Praxis desAsylbewerberleistungsgesetzes Abstand zu nehmen, dieMenschen menschenwürdig unterzubringen und aufdiese Art und Weise sogar Kosten zu sparen und alteZöpfe wie die genannten Gesetze abzuschneiden. Das istnach wie vor mein dringender Appell an Sie.Danke sehr.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Das Recht auf Asyl ist kein sozialpolitisches Beiwerk,sondern ein Grundrecht, dem wir uns alle in diesemHause, wie ich glaube, verpflichtet fühlen. Wir solltenuns dies gegenseitig nicht absprechen.Lieber Kollege Josef Winkler, Sie haben die Regie-rungskoalition eindrücklich kritisiert. Ich habe einmalnachgeschaut: Sie sind bereits seit 2002 Mitglied diesesHauses. Sie müssen sich schon fragen lassen, was von alldem, was Sie jetzt von unserer Regierung fordern undeinklagen, Sie damals bereit und in der Lage waren mitIhrem Koalitionspartner SPD umzusetzen. Sie, HerrStröbele – Sie haben sich an der Debatte ja vor allemdurch Zwischenrufe beteiligt –, waren 2002, wenn ich esrichtig in Erinnerung habe, stellvertretender Fraktions-vorsitzender und für die Rechtspolitik Ihrer Fraktion zu-ständig. Auch Sie müssen sich fragen lassen, was Sie da-mals getan haben.
Diese Regierung hat konkrete Verbesserungen für Mi-granten und im Hinblick auf eine offene Gesellschaft inDeutschland auf den Weg gebracht; das hat der KollegeHartfrid Wolff bereits angesprochen. Auch was die Leis-tungen nach dem Asylbewerberleistungsgesetz angeht,ist diese Regierung nicht untätig gewesen. Bundesminis-terin Ursula von der Leyen hat verschiedene Runde Ti-sche eingerichtet, um zusammen mit den Ländern undim Dialog mit den Ländern eine gemeinsame Linie zufinden.
Ich kann mich nicht erinnern, dass die grün-rote Landes-regierung von Baden-Württemberg oder die rot-grüneLandesregierung eines anderen Bundeslandes hier aufsTempo gedrückt hätten; das ist nicht richtig.
Sie sollten anerkennen, dass dies ein schwieriges Feldist, wir gemeinsam Lösungen finden müssen – insbeson-dere natürlich die Regierungskoalition; es sind allerdingsnoch Gespräche notwendig – und die Dinge ihre Zeitbrauchen.
Das Bundesverfassungsgericht hat sein Urteil gespro-chen. Wir werden das Verfahren entsprechend den Vor-gaben des Bundesverfassungsgerichts beschleunigen. InKürze wird die Bundesregierung zusammen mit den Ko-alitionsfraktionen einen entsprechenden Gesetzentwurfin den Bundestag einbringen, mit dem die Leistungendes Asylbewerberleistungsgesetzes deutlich und spürbarverbessert werden.Für die FDP ist klar: Wir werden mit unserem Koali-tionspartner auch darüber diskutieren, wie die Regelun-gen zur Arbeitserlaubnis für Asylbewerber und Asylsu-chende in unserem Land verbessert werden können. AufEU-Arbeitsebene ist bereits ein Zeitraum von neun Mo-naten vereinbart worden.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang ausdrücklich,dass sich Staatsministerin Böhmer dahin gehend geäu-ßert hat, dass sie sich einen kürzeren Zeitraum vorstellenkönnte. Das ist auch die Auffassung der FDP. Wir wer-den hier gemeinsam eine Lösung finden und sie diesemHause rechtzeitig vorlegen.
Wenn wir über Asylsuchende und Flüchtlinge spre-chen, liebe Kolleginnen und Kollegen, darf man nichtvergessen, dass das eigentliche Ziel ist, dass keinMensch auf dieser Welt sein Heimatland verlassen undwoanders Asyl beantragen muss. Es ist immer nur diezweitbeste Lösung, wenn jemand Asyl suchen muss.Auch in diesem Bereich ist die Bundesregierung mitdeutlichen Verbesserungen vorangegangen: Wir habenmit Dirk Niebel – ich sehe im Plenum auch den Kolle-gen Hartwig Fischer –
Entscheidendes zur Verbesserung der Entwicklungszu-sammenarbeit beigetragen. Beispielsweise – das wirdgerade aktuell diskutiert – haben das Auswärtige Amtund das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusam-menarbeit und Entwicklung eine Verantwortung für dieVerbesserung der Lebenssituation von Sinti und Romaauf dem westlichen Balkan übernommen.
Auch im Nahen Osten – um eine weitere schwierige Re-gion zu nennen – ist das Bundesministerium für wirt-schaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung aktiv ge-
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24648 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Pascal Kober
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worden. Wir fördern die wirtschaftliche Entwicklung inder Region. Mit 52 Millionen Euro werden gezielt kleineund mittlere Unternehmen gefördert. Mit weiteren Mil-lionen fördern wir die Ausbildung junger Menschen. Mitweiteren Millionen fördern wir die Demokratie in diesenLändern. Das alles sind Maßnahmen, die man, wennman über Flucht und Asyl und Migration redet, nichtvergessen darf.Die Bundesrepublik Deutschland nimmt ihre Verant-wortung wahr, hier im Land wie weltweit. Das sollte an-erkannt werden, liebe Kolleginnen und Kollegen.
Das Wort hat die Kollegin Ulla Jelpke für die Fraktion
Die Linke.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! LiebeGäste! Es freut mich ganz besonders, dass es uns gelun-gen ist, dass Flüchtlinge dieser Debatte beiwohnen kön-nen. – Ich begrüße Sie ganz herzlich.
Meine Damen und Herren, als damals der Asylkom-promiss diskutiert wurde, gab es nicht wenige Politiker,die ganz offen gesagt haben: Wir brauchen Gesetze, da-mit Flüchtlinge davon abgeschreckt werden, nachDeutschland zu kommen. – Man muss ganz klar sagen,dass der Asylkompromiss, angefangen in dem Moment,wo Flüchtlinge deutschen Boden betreten, viele Punktebeinhaltet, die reine Schikane sind. Damit muss endlichSchluss sein.
Ein Beispiel ist die Unterbringung in Sammellagern.Die Sammellager sind häufig dort angesiedelt, wo keinMensch hinkommt, wo kein Mensch wohnt. Man kannauch sagen: Sie sind ein leichtes Ziel für rassistische An-griffe und Attacken; so etwas hat ja stattgefunden. Erstvor einer Woche ist in Bayern, in Wörth, ein Asylheiman vier Stellen angezündet worden. Zum Glück ist nie-mandem etwas passiert. Ich meine, wir sollten alles tun,damit solche Dinge wie Anfang der 90er-Jahre – bren-nende Asylheime, Anschläge auf Migranten – nicht wie-der passieren.
Ein weiteres Beispiel ist die Residenzpflicht. HerrGrindel, Sie haben lang ausgeführt, dass die Residenz-pflicht unbedingt nötig ist. Ich frage Sie: Warum istDeutschland das einzige Land in der EU, in dem es eineResidenzpflicht gibt? Es gibt eine Meldepflicht, dieFlüchtlinge sind erreichbar. Eine Residenzpflicht ist völ-lig überflüssig. Dass wir nach Jahrzehnten immer nocheine Residenzpflicht haben, ist reine Schikane. Ich haltedas für einen Skandal.
Bei der Debatte, die ich heute verfolgt habe, konnteich meinen Augen und Ohren nicht trauen. Vielleichtsollte der Innenausschuss hin und wieder öffentlich ta-gen, damit die Öffentlichkeit mitbekommt, was dort dis-kutiert wird. Die Bundesregierung musste per Gerichts-beschluss dazu gebracht werden, Flüchtlingen zumersten Mal seit zwanzig Jahren ein paar Euro mehr zu-kommen zu lassen. Freiwillig haben Sie bisher nichts ge-tan. Sie drücken sich um klare Ansagen, wie es mit demAsylbewerberleistungsgesetz weitergehen soll. DiesesGesetz gehört längst abgeschafft; denn es ist ein einzigesAusgrenzungsgesetz.
Zum Arbeitsverbot haben hier schon viele Kollegin-nen und Kollegen etwas gesagt. Auch das ist ein riesigerSkandal. Es geht hier ja zum einen um Asylsuchende,vor allen Dingen geht es aber auch darum, dass auf dereinen Seite seit Jahren gefordert wird, sie sollen sich in-tegrieren, während ihnen auf der anderen Seite alle mög-lichen Verbote auferlegt werden. Wie soll das eigentlichgehen?Ich will ganz deutlich sagen: Rechtsstaatliche Min-deststandards werden an zahlreichen Stellen durchlö-chert. Einstweiliger Rechtsschutz gegen behördlicheMaßnahmen – übrigens ein wichtiger Schutz vor Behör-denwillkür – gilt für Asylsuchende auf vielen Stufen desVerfahrens nicht. Das muss geändert werden.
Diese Schikanen – das muss hier auch ganz deutlichgesagt werden – zermürben die Menschen. Die Evange-lische Kirche in Deutschland sagt heute zum Beispielganz klar – ich kann das hier nicht lang zitieren, weil ichnicht so viel Zeit habe –: „Das Leben in Sammelunter-künften macht psychisch und physisch krank“, und for-dert ebenfalls die Abschaffung, weil es genügend Wohn-raum gibt, in dem man Flüchtlinge unterbringen könnte.Viele Betroffene empfinden das übrigens wie einenGefängnisaufenthalt, der sie an ihre Herkunftsstaaten er-innert. Einige von ihnen verlieren angesichts dieserLebensumstände ihren Lebensmut. Dass es einen Selbst-mord eines Iraners gegeben hat, Mohammad R., hat üb-rigens die protestierenden Flüchtlinge dazu bewogen,diesen Protestmarsch durchzuführen. Dieser Selbstmordwar der Auslöser für diese Proteste und leider auch dasErgebnis dieser bürokratischen deutschen Asylpolitik.Das muss man hier ganz deutlich feststellen.
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Ulla Jelpke
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Die Umsetzung des sogenannten Asylkompromisseserfolgte damals in einem bemerkenswerten Klima. HerrGrindel, Sprüche wie der von Herrn Stoiber, dass einedurchmischte und durchrasste Gesellschaft zu befürch-ten ist, Sätze wie der von Ihren Kollegen hier im Bun-destag, wie zum Beispiel Norbert Geis: „Die Deutschenhaben ein Recht auf Widerstand gegen die Überfrem-dung“, Ausdrücke auf Plakaten wie auf denen der CDU:„Asylmissbrauch beenden“, usw. waren damals auch dieStichworte für die Brandlegungen von Nazis und vonRassisten in Asylheimen. Das muss man ganz deutlichsagen.
Anlässlich der Erinnerung an die Rostocker Pogromevor 20 Jahren ist gerade jetzt noch einmal daran erinnertworden. Auch von vielen Ihrer Kollegen wurden schöneWorte gefunden. Man hat aber nicht wirklich Konse-quenzen daraus gezogen.Jetzt hören wir im Grunde genommen ähnliche Sprü-che wieder. Vom Bundesinnenministerium hören wir:„Alle wollen in unser Sozialsystem hinein und daranpartizipieren; es wird Asylmissbrauch betrieben“ usw.,anstatt die Verfolgungssituation von Roma und Sinti tat-sächlich zu begreifen und in den Ländern zu helfen, dieSituation dort zu verändern.
Die Flüchtlinge kommen nicht hierher, weil sie unbe-dingt in Deutschland leben wollen, sondern weil siewirklich Probleme haben. Sie sind zwar in der Tat auchArmutsflüchtlinge, haben aber auch einen Anspruch aufein Asylverfahren. So ist es in unserem Land vorge-schrieben. Deswegen fordere ich Sie auf: Hören Sie auf,diese Ängste in der Bevölkerung mit solchen Parolen zuschüren!
Ich war in der letzten Woche in Nordrhein-Westfalenund bin dort durch Asylunterkünfte gegangen.
Kollegin Jelpke, es tut mir leid, aber achten Sie bitte
auf das Signal.
Ich komme gleich zum Schluss. – Dort habe ich fest-
gestellt, dass die Bevölkerung durch solche Parolen ver-
ängstigt wird. Es werden dann Bürgerinitiativen gegen
die Flüchtlinge initiiert.
Das ist der Anfang vom Ende.
Wir sollten auf jeden Fall darauf achten, dass wir
nicht wieder eine neue Stimmung wie in den 90ern krie-
gen, als Asylheime brannten und Migranten angegriffen
wurden. Das wissen Sie auch ganz genau, Herr Grindel.
Ich danke Ihnen.
Für die Unionsfraktion hat der Kollege Michael
Frieser das Wort.
Sehr verehrte Frau Präsidentin! Liebe Kollegen undKolleginnen! Ich bitte dringend darum, dass man auch indieser Debatte rhetorisch etwas abrüstet und nicht somartialisch spricht,
und bin sehr dankbar dafür, dass ich hier an der Tafelnicht das Wort „Sondergesetze“ lesen muss, wie es imursprünglichen Antrag der Linken gelautet hat.Sie beschwören hier ein Bild herauf, das meines Er-achtens genau dieser Panikmache und Angst Vorschubleistet.
Ich glaube, dass es entscheidend ist, dass wir zu den ei-gentlichen Wurzeln zurückkehren. Wir haben an dieserStelle die Pflicht, das Problem realistisch zu betrachten.
Niemand will humanitäres Elend, will humanitäreNotlage herunterreden.
Die entscheidende Frage ist, ob wir hier an der richtigenStelle und mit den richtigen Werkzeugen arbeiten. Es tutmir leid, aber notwendig ist das pädagogische Prinzipder Wiederholung. Ansonsten gerät es zu sehr aus demBlick.Diese Regierung und diese Koalition haben dafür ge-sorgt, dass genau das im Rahmen eines rechtsstaatlichenAsylkompromisses sichergestellt ist. Herr Veit, derRechtsstaat ist kein alter Zopf. Menschen kommen hier-her, weil sie sich auf diesen Rechtsstaat verlassen wollenund weil es im Normalfall in diesem Rechtsstaat besserfunktioniert als an anderer Stelle. 2011 haben wir dafürgesorgt, dass aus Gründen von Beschäftigung, vonSchule, von Ausbildung und Studium tatsächlich auchdie sogenannte und viel geschmähte Residenzpflicht an-gegangen und aufgehoben und an dieser Stelle eine Aus-nahme gemacht werden kann.Deshalb muss ich, gerade was die Residenzpflicht an-betrifft, noch einmal deutlich sagen: Natürlich kann mansich auf der einen Seite, gerade in Deutschland, nicht im-mer darauf berufen, dass es sich um einen föderalen
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Michael Frieser
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Staat handelt, und auf der anderen Seite, wenn es um dieVerteilung der Lasten auf die einzelnen Bundesländergeht, sagen: An dieser Stelle interessiert uns das nicht. –Entweder gilt das eine oder das andere.
Ich will auch die Situation von Asylheimen nicht he-runterreden. Es gibt ernste Situationen, keine Frage. Esgibt absolut auch Nachbesserungsbedarf, keine Frage.Herr Winkler, nichts für ungut. Aber jedes Asylbewer-berheim in Bayern als ein Dreckloch zu bezeichnen, dasgeht nicht nur zu weit, sondern das sollten Sie definitivzurücknehmen. Das ist der Lage nicht angemessen.
Asylbewerberheime sind Unterkünfte und Unterbrin-gungsformen, die nicht auf Dauer angelegt sind. Das istihr Zweck, das ist der Sinn des Ganzen; denn wir müssendavon ausgehen, dass das Asylverfahren ohne Problemedurchgeführt werden kann.Deshalb noch einmal das Entscheidende: Die Resi-denzpflicht hat den Sinn, die Erreichbarkeit der Adressa-ten, die Erreichbarkeit derer, die sich in einem Antrags-verfahren befinden, zu erhöhen.
– Frau Wawzyniak, zu Ihnen komme ich noch.
Im Ergebnis geht es darum: Man kann sich doch nichtüber die Länge eines Verfahrens mokieren und dann den-jenigen, der das Ziel dieses Verfahrens ist, durch das ge-samte Bundesgebiet ziehen lassen. Das widerspricht sichdefinitiv. Denn das Einzige, was wirklich humanitär ist,ist eine Verkürzung des Verfahrens. Das Einzige, waswirklich humanitär ist, ist, Menschen eine Perspektivezu geben, wenn klar ist, dass sie am Ende dieses Verfah-rens nicht in diesem Land werden bleiben können. Dasist humanitärer, das ist menschenrechtlicher Einsatz. Al-les andere geht daneben.
In Anbetracht der Zahlen, die auf uns zukommen,geht es überhaupt nicht um Panikmache, sondern es gehtum Praktikabilität und auch darum, dass sich die wirk-lich stöhnenden Kommunen organisatorisch darauf vor-bereiten müssen. Deshalb kann ich auch an dieser Stellenur sagen: Es geht darum – ich hoffe, dass Sie das wirk-lich nicht so gemeint haben –: Natürlich schauen dieLänder und diese Welt auf uns, um zu sehen, was wir ge-rade beim Thema Asylverfahren machen. Nicht jederEinzelne packt seinen Rucksack wegen 50 Euro. Aberwollen Sie allen Ernstes das Geschäft der Schleuser- undSchlepperbanden betreiben, die genau darauf warten undschauen, was in diesem Land zum Thema Asylverfahrenpassiert?
Sie kennen die gesamten Diskussionen, Sie kennenauch die Zahlen der Zuwanderung aus Serbien und Ma-zedonien, die wir im Augenblick haben. Sie kennen auchdie Zahlen über die Asylbewerberverfahren und wissen,dass 99 Prozent keinerlei Aussicht auf Erfolg haben. Indiesem Zusammenhang den Innenminister als Verfas-sungsfeind zu bezeichnen, halte ich für absolut haltlosund muss ich in aller Deutlichkeit zurückweisen.
Im Ergebnis läuft es darauf hinaus, dass derjenige, derdas Asylrecht in diesem Land wirklich ernst nehmenwill, auch derjenige ist, der Integrationspolitik in diesemLand als Grundlage überhaupt erst möglich macht. Ichwill das nicht herunterreden, aber entscheidend ist doch,dass diejenigen, die sich aus Flucht vor wirtschaftlicherProblemlage auf den Weg machen, deutlich von denjeni-gen unterschieden werden müssen, die Asyl suchen, weilsie tatsächlich eine Bedrohung von Leben und Leib zubefürchten haben. Nur wer diese beiden Gruppen unter-scheidet, ist in der Lage, Integrationspolitik erfolgreichund praktikabel zu organisieren, sodass wir zu einem ge-deihlichen Miteinander kommen. Wer das nicht tut, wirdkeiner der beiden Gruppen in irgendeiner Art und Weisegerecht.
Das Wort hat die Kollegin Angelika Krüger-Leißner
für die SPD-Fraktion.
Vielen Dank. – Sehr geehrte Frau Präsidentin! LiebeKolleginnen und Kollegen! Bilder sagen mehr als Worte.Die derzeitigen Bilder von den Menschen vor dem Bran-denburger Tor sprechen schon Bände. Meine KolleginKolbe hat berichtet, wie dort Asylbewerber seit Tagenausharren, um mit ihrer Aktion gegen die restriktiveAsylpolitik in unserem Land zu protestieren.Vorschläge für eine menschliche Asylpolitik liegenschon seit vielen Jahren auf dem Tisch, ganz konkret dieAnträge der Oppositionsfraktionen aus dem Jahre 2010.Aber die Bundesregierung bewegt sich nicht. Dabei istganz offensichtlich, dass das deutsche Asylrecht mit sei-nen Erschwernissen, seinen Einschränkungen, seinenSanktionen weit hinter der Zeit zurück ist.
Restriktionen wie die eingeschränkte Bewegungsfreiheitlassen jedwede Menschlichkeit vermissen. In einer sofortschrittlichen Demokratie wie unserer, in einem so
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Angelika Krüger-Leißner
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stark ausgeprägten Sozialstaat ist das für mich ein un-haltbarer Zustand.Noch schlimmer ist, dass das Bundesverfassungsge-richt dieser Regierung am 18. Juli dieses Jahres beschei-nigen musste, dass die Höhe der gewährten Leistungenfür Asylbewerber und Flüchtlinge verfassungswidrig ist.Sie wurde aufgefordert, unverzüglich zu handeln. Bisheute ist aber nichts passiert. Von Ihnen kamen nur An-kündigungen, Herr Kober. Ich bin gespannt, wann Siesie einlösen.Dabei hat das Bundesverfassungsgericht schon An-fang 2010 in seiner Entscheidung darauf hingewiesen,dass die Neuregelung der Regelsätze für den BereichSGB II auch Auswirkungen auf die Leistungen der Asyl-bewerber und Flüchtlinge haben wird. Das heißt, Sie aufder Regierungsbank haben mindestens zwei Jahre ge-schlafen.
Ich begrüße in diesem Zusammenhang übrigens die Ini-tiative des Bundesrates, der mit Brandenburg an derSpitze und Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein ein-fach sagt: Weg mit dem Asylbewerberleistungsgesetz!In unserem Antrag „Mehr Bewegungsfreiheit fürAsylsuchende und Geduldete“, den wir hier im letztenJahr eingebracht haben, wird die Bundesregierung aufge-fordert, endlich tätig zu werden. Wir wollen die räumlicheBeschränkung für Asylbewerber, die Residenzpflicht,abschaffen. Wir wollen eine einheitliche gesetzlicheNeuregelung zugunsten der Asylsuchenden und Gedul-deten in unserem Land. Bisher ist die Aufenthaltsgestat-tung bei Asylbewerbern auf den Landkreis bzw. dieStadt bezogen. Das führt bei vielen Betroffenen zu einerstarken Einschränkung der Bewegungsfreiheit und oftauch zu sozialer Isolation. Das kann doch nicht längergewollt sein.Die Bundesländer sind in dieser Beziehung – Gott seiDank, muss man sagen – bereits aktiv geworden. In star-kem Kontrast zu Ihrer Untätigkeit stehen nämlich meh-rere Länderinitiativen zur Lockerung der Residenz-pflicht. Berlin und Brandenburg haben das übrigensschon gemacht. Sie haben über Verordnungen geregelt,dass sich Asylbewerber sowohl in dem einen als auch indem jeweils anderen Land bewegen können. Dennochgibt es in der Praxis aufgrund der oft sehr bürokratischenund komplizierten Einzelregelungen Einschränkungen.Wir wollen Bewegungsfreiheit unabhängig vom Ermes-sen einzelner Behörden. Wir wollen Bewegungsfreiheitohne Gebühren und ohne strafrechtliche Sanktionen.Die Residenzpflicht, über die wir heute debattieren,gibt es innerhalb Europas bemerkenswerterweise nurnoch in Deutschland. Dieses Relikt aus dem Jahre 1982findet sich in keinem anderen europäischen Land. Wirhaben eine ganz strikte Bewegungsbeschränkung, wie essie in keinem anderen Land gibt. Vor diesem Hinter-grund empfinde ich die Haltung des Innenministeriumsals sehr beschämend.
Sie, Herr Dr. Schröder, haben das zum Ausdruck ge-bracht: Sie halten an der Residenzpflicht fest, um damit,wie Sie sagen, eine gleichmäßige Verteilung der mit derAufnahme von Asylbewerbern verbundenen Belastun-gen auf die Länder und Kommunen zu erreichen. Siewollen damit sicherstellen, dass die Asylbewerber stetserreichbar sind.Lieber Herr Kollege Grindel, Sie haben das wieder-holt, und auch der Kollege Frieser hat das gesagt. Umdas, was Sie wollen, sicherzustellen, reicht eine Wohn-ortpflicht völlig aus. Das steht so in unserem Antrag. DerStaat sollte weiterhin den Wohnort festlegen.
Ansonsten wird es zu einer deutlichen Mehrbelastung inden Ballungsräumen und den Metropolen in unseremLand kommen. Das wollen wir nicht.
Abschließend möchte ich auf die Demonstranten amBrandenburger Tor zurückkommen.
Kollegin Krüger-Leißner, tun Sie das bitte mit Ihrem
letzten Satz.
Ja. – Vielleicht geben diese Demonstranten Ihnen den
Anstoß, sich zu bewegen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, nehmen Sie diese
Aktuelle Stunde zum Anlass, um zu handeln! Ihre Igno-
ranz gegenüber notwendigen Änderungen der Asylge-
setze ist unerträglich.
Folgen Sie unseren Vorschlägen! Das wäre ein erster
Schritt hin zu einer humaneren Asylbewerber- und
Flüchtlingspolitik. Wie gesagt, ein erster Schritt.
Das Wort hat der Kollege Dr. Peter Tauber für die
Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen!Meine Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichglaube, dass es wichtig ist, noch einmal deutlich zu ma-chen, dass wir alle hier in diesem Hohen Hause der Mei-nung sind, dass das Grundrecht auf Asyl eines der we-
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24652 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012
Dr. Peter Tauber
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sentlichen Grundrechte des Grundgesetzes ist. Natürlichsollen sich auch in Zukunft Menschen, die aus rassischen,religiösen oder politischen Gründen verfolgt werden, inDeutschland auf das Asylrecht berufen können. MeineDamen und Herren, Sie werden aber nicht umhinkom-men, zuzugeben, dass es immer wieder Menschen gibt,die sich zu Unrecht auf das Recht auf Asyl berufen.Mich stört an der bisherigen Debatte auch, dass man-che Redner der Opposition den Eindruck erwecken, dassdie Situation in Deutschland für Flüchtlinge und Asyl-bewerber fast schlimmer sei als die in ihren Heimat-ländern. Das können wir so nicht stehen lassen. LieberHerr Kollege Winkler, wenn Sie solche Fälle, die Siebeschrieben haben, in den Kommunen kennen, dassFlüchtlinge und Asylbewerber unter unzumutbaren Be-dingungen hausen, dann sollten Sie sie benennen undvor Ort Druck auf Landräte und Bürgermeister ausüben.
Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es viele Bürger-meister und Landräte gibt, die sich dieser Aufgabe vor-bildlich annehmen und sich große Mühe geben, men-schenwürdige Rahmenbedingungen für Flüchtlinge inDeutschland zu schaffen.
Mir gefällt an dieser Debatte nicht, dass Sie erneut einSchwarz-Weiß-Bild malen, das der Wirklichkeit nichtgerecht wird.
Mein Landkreis wird von einem sozialdemokratischenLandrat geführt. Er macht das gut. Ein Nachbarland-kreis, ebenfalls von einem Sozialdemokraten geführt,steht in Hessen in dem Ruf, auf eine Art und Weise zuagieren, die von allen Flüchtlingsorganisationen auf dasHeftigste kritisiert wird. Es kommt also auf die Situationvor Ort an. Sie hat oft nichts mit dem Parteibuch zu tun.Man muss sich die Situation und die Rahmenbedingun-gen vor Ort anschauen. Wenn etwas nicht in Ordnung ist,kann man es benennen. Es geht aber nicht, hier ein Zerr-bild von der Wirklichkeit zu zeichnen und am Ende denEindruck zu erwecken, dass es Flüchtlingen in ihrenHeimatländern vielleicht besser gehen würde als hier inDeutschland. Das kann man so nicht stehen lassen.
Genauso wenig kann man den von Ihnen erwecktenEindruck stehen lassen, dass das Sachleistungsprinzipund die Residenzpflicht menschenrechtswidrig seien.Beides ist vom Verfassungsgericht in seinem Urteil nichtinfrage gestellt worden; das darf man nicht vergessen.
Warum ist das Sachleistungsprinzip damals eingeführtworden? Es wurde eingeführt, weil man festgestellt hat,dass die Auszahlungen in bar bei vielen Familien, dienach Deutschland kamen, nicht ankamen, weil das Geldan die Schlepperbanden ging.
Dieses Prinzip ist also nicht als Repressionsinstrumentgegenüber den Flüchtlingen gedacht, sondern dient dazu,den Schlepperbanden das Handwerk zu legen. DieseSeite der Medaille blenden Sie völlig aus.
Dasselbe gilt für die Residenzpflicht. Natürlich magsie im Einzelfall unangenehm sein. Aber wir verlangenim SGB II auch von deutschen Sozialhilfeempfängern,erreichbar zu sein
und sich jederzeit zum Beispiel bei Behörden zu melden.Auch hier gilt: Lassen Sie uns den Einzelfall betrachten.Dort, wo man die Residenzpflicht lockern oder abschaf-fen kann, kann man das tun; das machen auch einzelneLänder.
Aber dort, wo diese Pflicht – auch aus verwaltungstech-nischen Gründen – sinnvoll ist, sollte man daran festhal-ten.Jetzt habe ich mir, weil ich diesem Hohen Hause erstseit 2009 angehöre, mich aber schon 1991, 1992 und1993 kommunalpolitisch engagiert habe – das war derHöhepunkt der Asyldebatte in Deutschland –, die Mühegemacht, mir anzuschauen, was hier in diesem HohenHause damals diskutiert worden ist. Ich habe drei Zitatemitgebracht – die möchte ich Ihnen gerne vorlesen –, dieich mir – das sage vorab – nicht in jeder Formulierungzu eigen machen möchte, die ich aber bedenkenswertfinde, weil sie ein schönes Schlaglicht auf die Debatteheute werfen.Als Erstes zitiere ich die damalige BundesministerinHannelore Rönsch. Sie hat damals gesagt:Ich habe großes Verständnis dafür, daß Asylbewer-ber in der Bundesrepublik Deutschland einen Aus-weg aus der Armut zu Hause suchen. Sie verspre-chen sich bei uns im Land ein Leben ohne dentäglichen materiellen Überlebenskampf. Wir allemüssen Verständnis dafür haben. … Wir können dieArmutsprobleme dieser Welt nicht allein bei uns inder Bundesrepublik Deutschland lösen. Ich denke,daß es wichtiger ist, daß wir die Anstrengungenverstärken, damit diese Menschen in ihren Heimat-ländern unter guten Bedingungen leben können.Das zweite Zitat ist von dem Kollegen Wiefelspütz,Sozialdemokrat. Er hat damals in der Debatte gesagt –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 203. Sitzung. Berlin, Mittwoch, den 7. November 2012 24653
Dr. Peter Tauber
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dies würde ich auf jeden Fall so nicht formulieren wol-len, weder damals noch heute,
aber es ist ganz spannend, es noch einmal zu hören –:Das Problem ist die ungesteuerte, gegenwärtig zumassive Einwanderung nach Deutschland. Es istnicht nur das Recht der Politik, es ist die Pflicht derPolitik, die Zuwanderung nach Deutschland zureduzieren, sie steuerbar zu machen und dabei die– durchaus beachtliche – Aufnahme- und Integra-tionskraft der deutschen Gesellschaft nicht zu über-schätzen.Das hat ein Kollege aus Ihrer Fraktion gesagt.Den schönsten Satz stelle ich an den Schluss der De-batte. Auch der ist von einem Sozialdemokraten, undden unterschreibe ich voll und ganz. Der KollegeWartenberg hat damals in der Debatte gesagt:Die Asyldiskussion in der Bundesrepublik Deutsch-land ist traditionell schrill. Moralische Grundposi-tionen, pragmatisches Handeln, Übertreibung undDemagogie stehen häufig unvermittelt nebeneinan-der. Die schrillen Auseinandersetzungen sind häu-fig genug nicht nur auf der Ebene der Politik zu fin-den, sondern auch in der veröffentlichten Meinung.Diese Form der Diskussion in der BundesrepublikDeutschland hat häufig genug den Blick für dieRealitäten verstellt.Genau diesen Blick brauchen wir aber, damit wir denAnsprüchen von Asylbewerbern und Flüchtlingen ge-recht werden. Deswegen: Rüsten Sie ein bisschen ab,lassen Sie die Hysterie in der Diskussion, und dann kom-men wir auch zu guten Lösungen.Herzlichen Dank.
Die Aktuelle Stunde ist beendet.
Wir sind damit am Schluss unserer heutigen Tages-
ordnung.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Donnerstag, den 8. November
2012, 9 Uhr, ein.
Die Sitzung ist geschlossen.