Gesamtes Protokol
Die Sitzung ist eröffnet. Nehmen Sie bitte Platz.Guten Morgen, liebe Kolleginnen und Kollegen! Ichbegrüße Sie alle herzlich.Ich habe Ihnen einige Mitteilungen zu machen, bevorwir in unsere heutige Tagesordnung eintreten.In den zurückliegenden Tagen haben eine Reihe vonKollegen ihren Geburtstag gefeiert. Besonders erwäh-nenswert ist, dass der Kollege Wolfgang Zöller seinen70. Geburtstag, die Kollegen Werner Dreibus undDr. Rainer Stinner ihren 65. und die KolleginMarieluise Beck ihren 60. Geburtstag hatten.
Im Namen des ganzen Hauses gratuliere ich Ihnen herz-lich und wünsche alles Gute für das neue Lebensjahr.Die Kollegin Ingrid Nestle hat mit Wirkung vom18. Juni 2012 auf die Mitgliedschaft im Deutschen Bun-destag verzichtet. Für sie ist der Kollege Arfst Wagnernachgerückt.
Der Kollege Michael Groschek hat mit Wirkung vom21. Juni 2012 ebenfalls auf seine Mitgliedschaft imDeutschen Bundestag verzichtet. Für ihn ist der KollegeWolfgang Hellmich nachgerückt.
Auch Sie beide begrüße ich herzlich. Wir freuen uns aufeine gute Zusammenarbeit.Schließlich müssen wir vor Eintritt in unsere Tages-ordnung noch eine Reihe von Wahlen durchführen.Als Mitglied des Stiftungsrats der „Treuhänderi-schen Stiftung zur Unterstützung besonderer Härte-fälle in der Bundeswehr und der ehemaligen NVA“schlägt die Fraktion der CDU/CSU den Kollegen Ernst-Reinhard Beck und die Fraktion der SPD den KollegenUllrich Meßmer vor. Sind Sie damit einverstanden? –Das ist offensichtlich der Fall. Dann sind die KollegenBeck und Meßmer als Mitglieder des Stiftungsrats derHärtefallstiftung gewählt.Die Fraktion der SPD schlägt des Weiteren vor, denKollegen Lothar Binding als Nachfolger für die alsstellvertretendes Mitglied aus dem Gemeinsamen Aus-schuss gemäß Art. 53 a des Grundgesetzes ausge-schiedene Kollegin Nicolette Kressl zu wählen. KönnenSie sich auch damit anfreunden? – Das sieht so aus.Dann ist das so vereinbart. Damit ist der KollegeBinding als stellvertretendes Mitglied des GemeinsamenAusschusses gewählt.Schließlich schlägt die Fraktion der SPD vor, für dieauch aus dem Gremium gemäß § 23 c Abs. 8 des Zoll-fahndungsgesetzes ausgeschiedene Kollegin NicoletteKressl die Kollegin Petra Hinz als Nachfolgerinzu berufen. Dazu darf ich Ihr Einvernehmen feststel-len? – Das ist der Fall. Damit ist Petra Hinz als Mitglieddieses Gremiums gewählt.Der Kollege Dr. Peter Tauber hat sein Schriftführer-amt niedergelegt.
– Ich teile das Bedauern und das erkennbare Unver-ständnis ausdrücklich, nehme die Entscheidung aber alsunabänderlich zur Kenntnis. Immerhin gibt es einenNachfolgevorschlag.
Die CDU/CSU-Fraktion schlägt den KollegenDr. Thomas Feist vor.
– Das sieht mir nach Akklamation aus. – Ich habe denEindruck, dass Sie alle damit einverstanden sind. Damitist der Kollege Dr. Thomas Feist gewählt.Es geht weiter mit den Hiobsnachrichten.
Die FDP-Fraktion hat mitgeteilt, dass die Kollegin PetraMüller ebenfalls ihr Schriftführeramt niedergelegt hat.
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Präsident Dr. Norbert Lammert
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– Das muss ich fast für persönliche Misstrauenserklärun-gen halten. Für sie wird der Kollege ManfredTodtenhausen als neuer Schriftführer benannt.
Sind Sie mit den Vorschlägen einverstanden? – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann sind die beiden Kollegen da-mit als neue Schriftführer gewählt.Interfraktionell ist vereinbart worden, die verbundeneTagesordnung um die in der Zusatzpunktliste aufge-führten Punkte zu erweitern:ZP 1 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzum Europäischen Rat am 28./29. Juni 2012 inBrüssel
ZP 2 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktionender CDU/CSU und FDP:Forderung von SPD und Grünen zu Tempo 30in Städten
ZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 51a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-derung des Urheberrechtsgesetzes– Drucksache 17/10087 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Marieluise Beck (Bremen), TomKoenigs, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinreiseverbot in die EU für die russischen Be-teiligten an dem Fall Magnitskij– Drucksache 17/10111 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittigc) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesBrugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weitererAbgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Beschaffung unbemannter Systeme über-prüfen– Drucksache 17/9414 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungd) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der GeschäftsordnungTechnikfolgenabschätzung
Stand und Perspektiven der militärischen Nut-zung unbemannter Systeme– Drucksache 17/6904 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionZP 4 Weitere abschließende Beratungen ohne Aus-spracheErgänzung zu TOP 52a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union zu demAntrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, LisaPaus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEin starker Haushalt für ein ökologisches undsolidarisches Europa – Der Mehrjährige Fi-nanzrahmen 2014–2020– Drucksachen 17/7952, 17/10081 –Berichterstattung:Abgeordnete Bettina KudlaMichael Roth
Joachim SpatzDr. Diether DehmManuel Sarrazinb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht gegen die Gesetze zu Fiskal-vertrag und Europäischem Stabilitätsmecha-nismus
– Drucksache 17/10149 –c) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 453 zu Petitionen– Drucksache 17/10134 –d) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 454 zu Petitionen– Drucksache 17/10135 –
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e) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 455 zu Petitionen– Drucksache 17/10136 –f) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 456 zu Petitionen– Drucksache 17/10137 –g) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 457 zu Petitionen– Drucksache 17/10138 –h) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 458 zu Petitionen– Drucksache 17/10139 –i) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 459 zu Petitionen– Drucksache 17/10140 –j) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 460 zu Petitionen– Drucksache 17/10141 –k) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 461 zu Petitionen– Drucksache 17/10142 –l) Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 462 zu Petitionen– Drucksache 17/10143 –ZP 5 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
stration und Anwendung von Technologienzur Abscheidung, zum Transport und zur dau-erhaften Speicherung von Kohlendioxid– Drucksachen 17/5750, 17/6264, 17/6507,17/7240, 17/7543, 17/10101 –Berichterstattung:Abgeordneter Stefan Müller
ZP 6 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
rung der Mediation und anderer Verfahrender außergerichtlichen Konfliktbeilegung– Drucksachen 17/5335, 17/5496, 17/8058,17/8680, 17/10102 –Berichterstattung:Abgeordneter Jörg van EssenZP 7 Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
rung des Rechtsrahmens für Strom aus solarerStrahlungsenergie und zu weiteren Änderun-gen im Recht der erneuerbaren Energien– Drucksachen 17/8877, 17/9152, 17/9643,17/10103 –Berichterstattung:Abgeordneter Michael Grosse-BrömerZP 8 Aktuelle Stunde auf Verlangen der Fraktion derSPD:Korruption im Gesundheitswesen bekämp-fen – Konsequenzen aus dem BGH-Urteil zie-henZP 9 Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-steuerung von Sportwetten– Drucksache 17/8494 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksachen 17/10112, 17/10168 –Berichterstattung:Abgeordnete Antje TillmannMartin GersterDr. Barbara HöllLisa PausZP 10 Abgabe einer Regierungserklärung durch dieBundeskanzlerinzur Schaffung einer StabilitätsunionVon der Frist für den Beginn der Beratungen soll, so-weit erforderlich, abgewichen werden.Außerdem werden die Tagesordnungspunkte 22, 42,50 h, 50 i, 51 h und 52 h abgesetzt. Sie wissen sicher,worum es sich handelt. Darüber hinaus kommt es zu denin der Zusatzpunktliste dargestellten weiteren Änderun-gen des Ablaufs. Sind Sie damit einverstanden? – Ichhöre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, auf der Ehrentri-büne hat der Speaker der Knesset, des israelischenParlaments, Reuven Rivlin, mit seiner DelegationPlatz genommen.
Ich begrüße Sie, Mister Speaker, lieber Kollege Rivlin,ganz herzlich hier im Deutschen Bundestag. Ich bin zu-versichtlich, dass Sie aus den zahlreichen Gesprächen,die Sie bei Ihrem Besuch in Berlin bereits geführt habenund weiter führen werden, den Eindruck einer tiefenVerbindung zwischen unseren beiden Ländern mit nach
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Hause nehmen, den Eindruck einer gefestigten Partner-schaft und einer, wenn es sein muss, kritischen Solidari-tät, wie es sich zwischen funktionierenden Demokratiengehört. Herzlich Willkommen in Deutschland und allesGute!
Ich rufe nun den Tagesordnungspunkt 3 a bis d auf:a) Erste Beratung des von den Fraktionen der CDU/CSU und FDP eingebrachten Entwurfs eines Ge-setzes zur Einführung eines Betreuungsgeldes
– Drucksache 17/9917 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Rechtsausschuss Finanzausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der Abgeordneten CarenMarks, Petra Crone, Petra Ernstberger, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDKita-Ausbau statt Betreuungsgeld– Drucksache 17/9572 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Haushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten DianaGolze, Agnes Alpers, Matthias W. Birkwald, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion DIE LINKEBetreuungsgeld nicht einführen – ÖffentlicheKinderbetreuung ausbauen– Drucksache 17/9582 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Innenausschuss Ausschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungd) Beratung des Antrags der Abgeordneten KatjaDörner, Ekin Deligöz, Britta Haßelmann, weite-rer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-NIS 90/DIE GRÜNENWahlfreiheit gewährleisten, Kindertagesbe-treuung ausbauen– Drucksache 17/9929 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
HaushaltsausschussNach einer interfraktionellen Vereinbarung sind fürdie Aussprache 90 Minuten vorgesehen. – Auch dazuhöre ich keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlos-sen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort erhält zunächstdie Kollegin Dorothee Bär für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich freue mich,dass wir heute diesen wichtigen Gesetzentwurf da disku-tieren dürfen, wo er hingehört, nämlich im Plenum desDeutschen Bundestages.Wir müssen uns die Frage stellen: Worin besteht guteFamilienpolitik, und was ist unsere Aufgabe als verant-wortungsvolle und vor allem verantwortliche Familien-politikerinnen und Familienpolitiker? Ist es unsere Auf-gabe, Eltern vorzuschreiben, welches Modell sie zuleben haben, um dann über die Steuergelder unserer Mit-bürgerinnen und Mitbürger einen finanziellen Vorteil zubekommen? Oder ist es richtig, die Super-Nanny spielenzu wollen, die den Eltern sagt: „Brav! Dieses eine ist dasrichtige Modell im Jahr 2012. Ihr lebt ein falsches Mo-dell, und deswegen erhaltet ihr als Umerziehungsmaß-nahme nichts“?Ich würde mich freuen, wenn wir alle uns einmal beiuns, in unserem Land, umschauen würden, wenn wir dieAugen öffnen und sehen würden, welch bunte Mischungan Familien wir haben. Es gibt nicht die Einheitsfamiliein Deutschland. Ich denke, da sind wir uns alle einig.Wenn wir uns alle einig sind, dass es in Deutschlandnicht die Einheitsfamilie gibt, dann frage ich mich, wa-rum man eine Einheitslösung, ein Einheitsmodell in die-sem Lande möchte.
Ich freue mich, dass wir die Gelegenheit haben, heutedarüber zu diskutieren. Ich freue mich auch, dass wir denEltern, die Modelle leben wollen, die Sie, meine Damenund Herren von der Opposition, nicht goutieren, sagenkönnen, dass auch ihr Lebensentwurf von uns eine Wert-schätzung erhält.Wir haben in den letzten Monaten viel Kontroversesüber die Betreuung von Kleinkindern gehört: dass kleineKinder angeblich jetzt bräuchten, was sie die letztenJahrzehnte vielleicht nicht gebraucht haben. Aber mirkommt in der Diskussion eines viel zu kurz: Es mischensich zwar diejenigen ein, die sagen, dass aus Arbeitge-bersicht das und das wichtig ist, aus einer anderen Sichtdas und das wichtig ist, aber es wird wenig geschaut,was eigentlich diese Kinder brauchen. Wenn ich von„Kindern“ spreche, müssen wir uns genau anschauen,über welche Kinder wir sprechen. Es geht um einen ganzfragilen Zeitraum. Es geht, anders als oft suggeriertwird, nicht um Kindergartenkinder. Gestern hat wiederirgendjemand gesagt – ich glaube, es war sogar im Blog-Post von Herrn Özdemir –, es gehe um Kindergartenkin-der.
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Dorothee Bär
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Ich denke, es ist immer noch nicht verstanden worden,dass es nicht um Drei- bis Sechsjährige geht, sondern umdiejenigen, die 12 oder 24 oder maximal 36 Monate altsind.Jedes Kind ist anders, und deswegen gibt es nicht dieeine Betreuungsform, die für jedes Kind gleich geeignetist. Deswegen gibt es auch nicht die eine Antwort. Vielesogenannte Experten veröffentlichen Studien noch undnöcher. Unser ehemaliger Ministerpräsident hat einmalso schön gesagt: Zeig mir deinen Professor, dann zeigeich dir meinen Professor. – Deswegen muss man sichdiese Studien ganz genau anschauen. Aber kaum jemandverlässt sich auf die wirklichen Experten bei diesemThema. Für mich wären das in erster Linie die Kinderselber, so sie in dem Alter denn schon sprechen könnten.Aber die wirklichen Experten, die wissen, was das Bestefür ihr Kind ist, sind selbstverständlich die Eltern.
Eine deutliche Mehrheit – ich sage das aus vollerÜberzeugung – der Eltern in unserem Lande wünschtsich für die unter Dreijährigen immer noch eine Alterna-tive zur Krippenbetreuung. Die Eltern wünschen sich,die Kinder selbst zu betreuen bzw. eine individuelleForm der Betreuung zu wählen, die ihren Bedürfnissenentspricht. Es wird immer so dargestellt, als gäbe es indiesem Land nur zwei Betreuungsmodelle. Die eineForm ist – ich überspitze es einmal –, dass die Eltern dieKinder vom Kreißsaal direkt in die Krippe geben. Dieandere Form ist, dass Eltern sich 18 Jahre lang zu Hauseselbst um die Kinder kümmern. Das Gegenteil ist dochder Fall: Erstens gibt es viele Zwischenmodelle, undzweitens wechseln die Familien auch zwischen diesenModellen, und zwar nicht nur von Kind zu Kind, son-dern auch bei der Betreuung desselben Kindes. Dies istzum Beispiel der Fall, wenn eine Tagesmutter schwan-ger wird und die Betreuung nicht mehr übernehmenkann oder wenn eine Oma, die sich bislang um das Kindgekümmert hat, verstirbt. Dann müssen neue Lösungengefunden werden. Es gibt nicht nur die beiden Modelle,wie Sie das oft suggerieren.Mich stört in der Diskussion am meisten – die Dis-kussion darüber ist von Ihnen angezettelt worden –, dassjunge Eltern plötzlich unter einem Rechtfertigungsdruckstehen, wenn sie sich entschließen, ihr Kind nicht in eineKrippe geben zu wollen. Das ist falsch; denn wir brau-chen jede Form der Betreuung.
Ich will nicht, dass sich jemand rechtfertigen muss,wenn er sein Kind in die Krippe gibt. Ich will aber auchnicht, dass sich eine Familie rechtfertigen muss, wennsie sagt: Wir lösen die Betreuung anders.
Es ist geradezu pervers, wenn Eltern Angst haben, et-was falsch zu machen, nur weil wir ihnen sagen: Es gibtein richtiges und ein falsches Modell.
Wer hat denn dann überhaupt noch Lust, sich für Kinderzu entscheiden, wenn zum Beispiel eine Nachbarfamilieein anderes Modell lebt und dies als Kritik am eigenenModell verstanden wird? Das kann doch nicht sein. Mandarf sich nicht für ein bestimmtes Modell rechtfertigenmüssen.
Selbstverständlich ist Bildung wichtig. Wir müssenaber doch immer überlegen, über welche Lebensmonatewir sprechen. In den ersten Lebensmonaten geht es inerster Linie um Bindung. Die Bindungsforschung hin-sichtlich der Lebenszeit, über die wir sprechen, geht völ-lig unter. Doch gerade in den ersten Lebensmonaten hatBildung sehr viel mit Herzensbildung zu tun. Dabei stehtdas Bedürfnis nach einer verlässlichen Bindung im Vor-dergrund.Deswegen ist eine familiäre bzw. eine familiennaheBetreuung zu unterstützen. Der Staat – Herr Steinmeier,Ihr Kollege Olaf Scholz ist nicht mehr im Bundestag –ist nicht der bessere Erzieher! Wir dürfen nicht zulassen,dass die Lufthoheit über die Kinderbetten wieder errun-gen werden muss.
– Die Wahrheit tut weh.
Wer mit solchen martialischen Begriffen um sichschmeißt, muss damit leben, dass sie einem noch einmalvorgelegt werden. Wir wollen keine Lufthoheit über dieKinderbetten. Wir wollen die Familien darin stärken,dass sie selbst entscheiden dürfen, welches Modell fürsie am besten ist.Interessant ist: Es gab in Dänemark Umfragen beiKindergartenkindern, die zugegebenermaßen schon älterwaren und sich gut ausdrücken konnten. Ein Viertel derJungen sagte, dass sie sich im Kindergarten nicht wohlfühlen, aber sie werden nicht gehört und nicht gefragt.Deswegen sind alternative Betreuungsmodelle wichtig.Wir arbeiten daran, dass es mehr Krippenplätze gibt. Dasist unbenommen. Wir arbeiten auch an der Ausbildungqualifizierter Erzieherinnen und Erzieher, denen ich andieser Stelle ein herzliches Dankeschön sage; denn siesind eine gute Ergänzung zur Familie. Wir arbeiten auchan einem vernünftigen Personalschlüssel. Am vergange-nen Wochenende hat der Bund, obwohl er nicht primärzuständig ist, wie unser Fraktionsvorsitzender VolkerKauder immer sagt,
zusätzlich weitere 580 Millionen Euro für den Ausbauder Krippenplätze und noch weitere 75 Millionen Eurofür die Betriebskosten in die Hand genommen. Deswe-gen ist es wichtig, dass Sie Ihre Scheuklappen absetzenund konstatieren, dass viel gemacht wird.
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Dorothee Bär
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Ich möchte an dieser Stelle einen Blick nach Bayernwerfen.
– Ja, ich muss Ihnen jetzt noch einmal vorhalten, dassSie immer sagen, durch das Betreuungsgeld würdenKrippenplätze wegfallen. Das ist einfach falsch. Wir ge-ben allein in Bayern über 1 Milliarde Euro für den Aus-bau und die Instandhaltung der Kinderbetreuungsplätzeaus. Wenn das alle Bundesländer machen würden undwenn alle Bundesländer ihre Betreuungsplätze nach Be-darf errichten würden, dann hätten wir diese Diskussiongar nicht.
Fakt ist: Wenn in Bayern ein Bürgermeister sagt, erhabe einen Bedarf von 40 Prozent, dann bekommt erdiese Plätze bezahlt. Würde ein Bürgermeister sagen, erhabe einen Bedarf von 100 Prozent, dann bekommt ereben 100 Prozent bezahlt. Deshalb zieht das Argument,dass Plätze wegfallen würden, in keiner Weise.
Die emotionalen Reaktionen vieler Kritiker auf das Be-treuungsgeld kann ich mir nur so erklären, dass es ihnenum viel mehr geht als um die Leistung selbst. Ich kannnämlich wirklich nicht verstehen, warum jemand einProblem damit hat, wenn eine zusätzliche familienpoliti-sche Leistung eingeführt wird.Wir haben ein Dreisäulenmodell. Vor fünf Jahren ha-ben wir drei Versprechen gegeben:Erste Säule. Wir haben versprochen, die Krippenbe-treuung auszubauen. Das haben wir gemacht; Häkchendran.
– Ach, an diesen Teil der Abmachung erinnern Sie sich,an den Teil mit dem Betreuungsgeld nicht! Das ist jaspannend, so ein selektives Gedächtnis aufseiten derSPD.
Zweite Säule. Ich möchte auch an unser zweites Ver-sprechen erinnern, nämlich den Rechtsanspruch. Ab dem1. August 2013 gibt es einen Rechtsanspruch auf einenBetreuungsplatz. Daran wird nicht mehr gerüttelt; daswird eingeführt. In Bayern will nur einer daran rütteln,das ist der Herr Ude. Alle anderen finden es großartig,dass es diesen Rechtsanspruch gibt. Das zweite Verspre-chen ist somit auch erfüllt; Häkchen dran.Dritte Säule. Unser drittes Versprechen war, ist undbleibt das Betreuungsgeld. Mir als Politikerin ist eswichtig, ein Versprechen, das ich vor fünf Jahren gege-ben habe, auch einzuhalten.
Ich finde es schade, dass man nicht akzeptieren kann,wenn sich jemand für ein anderes Modell entscheidet. Esist schade, dass – wie es die thüringische Ministerpräsi-dentin ausgedrückt hat – ein Kulturkampf entsteht, dassFamilien das Gefühl haben, etwas nicht richtig zu ma-chen oder sich rechtfertigen zu müssen, egal wie sie sichentscheiden. Deshalb brauchen wir die Wahlmöglichkeitzwischen verschiedenen Betreuungsformen.Das Gute an dem Ganzen ist doch, dass sich niemandhinsichtlich seiner Erwerbstätigkeit eingeschränkt fühlenmuss. Jeder darf selbstverständlich – das ist für mich einwichtiger Punkt – einer Erwerbstätigkeit nachgehen undhat trotzdem das Recht, das Betreuungsgeld zu erhalten.Ich hoffe – weil ja auch der Rechtsanspruch einer derwichtigen Punkte ist –, dass Sie über Ihren Schattenspringen können, selbst wenn dieses Modell nicht IhrModell ist und Sie es vielleicht anders machen würden.Zwei Drittel der Familien in diesem Land jedoch würdendieses Modell wählen, weil es für sie das richtige ist.Deshalb appelliere ich an Sie, liebe Kolleginnen undKollegen von der Opposition, bei diesem Thema Ihreideologischen Scheuklappen abzunehmen.
Ich wünsche mir ein kleines bisschen mehr Liberali-tas Bavariae, ein bisschen mehr „Leben und leben las-sen“, ein bisschen mehr Vertrauen gegenüber den Fami-lien.
– Die FDP ist unser geliebter Koalitionspartner, der istnicht das Problem für mich. Das Problem sehe ich mehrauf der linken Seite. – Ich wünsche mir auch von IhrerSeite ein bisschen mehr Vertrauen gegenüber den Fami-lien in unserem Land; denn diese haben es verdient. Andieser Stelle möchte ich mich einmal ganz besonders beiden Eltern bedanken, bei den Müttern und Vätern, die7 Tage die Woche, 24 Stunden am Tag, 365 Tage im Jahreine Erziehungsleistung erbringen, die nicht mit Geldaufzuwiegen ist. Sie haben es verdient. Vielen Dank ansie alle.
Ich hoffe, dass Sie vernünftig werden.Danke schön.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Dagmar Ziegler fürdie SPD-Fraktion.
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Herr Präsident! Meine sehr geehrten Kolleginnen und
Kollegen! Wir debattieren heute einen Gesetzentwurf
dieser schwarz-gelben Koalition, der eine besondere
Qualität hat, nämlich gar keine.
Die Koalition, die dieses Land regiert, lässt sich von
einer 4-Prozent-Partei, der CSU, vorschreiben, was aus
ihrem Koalitionsvertrag erfüllt wird und was nicht. Sie
haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag verpflichtet, die
Partnermonate beim Elterngeld zu erhöhen. Umsetzung?
Fehlanzeige!
Sie haben sich in Ihrem Koalitionsvertrag verpflich-
tet, ein Teilelterngeld bis zu 28 Monaten einzuführen.
Umsetzung? Fehlanzeige! Sie haben sich in Ihrem
Koalitionsvertrag verpflichtet, die Altersgrenze für den
Bezug von Unterhaltsvorschuss für Kinder von Alleiner-
ziehenden bis zur Vollendung des 14. Lebensjahrs anzu-
heben. Umsetzung? Fehlanzeige! Das alles sind Vorha-
ben, auf die auch Ihre Wählerinnen und Wähler gewartet
haben. Worauf sie bestimmt nicht gewartet haben, ist die
Einführung eines Betreuungsgelds für Kinder, die keine
öffentlich geförderte Kita besuchen. Ihre eigene Wähler-
schaft hält die Einführung des Betreuungsgelds für
falsch. Das sagen über 64 Prozent Ihrer Anhängerinnen
und Anhänger.
Aber nicht nur die sind so klug. Die Arbeitgeber leh-
nen es ab, ebenso wie die Gewerkschaften.
– Herr Kauder, die Evangelische Kirche, die Wohlfahrts-
verbände, die Landfrauen und auch der Sozialdienst ka-
tholischer Frauen lehnen es ab! Mehr als zwei Drittel der
Gesamtbevölkerung lehnen es ab.
Schon vor zwei Jahren hat der familienpolitische Beirat
von Ministerin Schröder einen ablehnenden Beschluss
gefasst, und auch der Normenkontrollrat, der die Kanzle-
rin berät, hat Bedenken geäußert. Die CDU-Ministerprä-
sidentin Kramp-Karrenbauer und der CDU-Minister
Althusmann lehnen es ebenfalls ab. Frau Ministerin von
der Leyen bezeichnete das Betreuungsgeld in der WAZ
als „bildungspolitische Katastrophe“. Was machen Sie?
Statt Lernprozess – kurzen Prozess.
Sie wollen das Thema so schnell wie möglich loswer-
den und beschließen,
doch nicht einmal in Ihren eigenen Reihen gibt es eine
Mehrheit dafür. Da gibt es eine Sondersitzung der FDP-
Fraktion, um die Vernünftigen zur Unvernunft zu zwin-
gen, da meldet sich die Bundeskanzlerin höchstpersön-
lich bei den vernünftigen CDU-Frauen zum Gespräch
an, um sie zur Unvernunft zu zwingen, da wird die Vor-
sitzende des Familienausschusses, Kollegin Laurischk
von der FDP, genötigt, das übliche parlamentarische Ver-
fahren zu verkürzen, obwohl sie verfassungsrechtliche
Bedenken angemeldet hat, und das alles nach dem Motto
„Augen zu und durch“ zum Wohle von Herrn Seehofer.
Warum lassen Sie sich eigentlich so nötigen? Sie ma-
chen die Politik insgesamt lächerlich. Auf der einen
Seite legen Sie für vier Jahre ein 400-Millionen-Euro-
Programm auf, um die Sprachförderung in den Kitas vo-
ranzutreiben, um vor allem etwas für Kinder von Mi-
granten zu tun, auf der anderen Seite wollen Sie noch
mehr Geld ausschütten, um diese von den Angeboten
wegzulocken.
Auf der einen Seite wollen Sie Fachkräfte gewinnen, auf
der anderen Seite fördern Sie den längeren Ausstieg aus
dem Berufsleben. Auf der einen Seite fördern Sie eine
bessere Qualifizierung von Tagesmüttern und Tagesvä-
tern, um sie aus dem Graubereich herauszuholen, auf der
anderen Seite dürfen deren Leistungen gerade nicht in
Anspruch genommen werden, wenn Eltern das Betreu-
ungsgeld erhalten wollen.
Wo das Betreuungsgeld eingeführt wurde, wird es ge-
rade wieder abgeschafft. Die Erfahrungen liegen doch
vor und müssen nicht noch einmal gesammelt werden.
Seien wir doch so klug und so verantwortungsbewusst,
wie es unsere Aufgabe hier ist.
Wir tragen im Deutschen Bundestag nämlich nicht nur
für Bayern, sondern für ganz Deutschland Verantwor-
tung. Deshalb sollten wir die Beschlussfassung nicht auf
die Ebene des Bundespräsidenten oder gar des Verfas-
sungsgerichts heben. Nehmen wir uns selber ernst. Wir
alle sind bei dieser Entscheidung nur unserem Gewissen
verpflichtet und nicht einem bayerischen Ministerpräsi-
denten.
Vielen Dank.
Miriam Gruß ist die nächste Rednerin für die FDP-Fraktion.
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Meine sehr geehrten Damen und Herren! Herr Präsi-
dent! In der Tat sind in den letzten Wochen, Monaten
und Jahren viele Diskussionen über das Betreuungsgeld
geführt worden. Leider – das muss ich als Fachpolitike-
rin sagen – sind diese Diskussionen nicht immer sachlich
geführt worden. Ich habe mich in den letzten Wochen,
Monaten und Jahren oft gefragt: Wie müssen sich wohl
die Familien in Deutschland gefühlt haben? Wie muss
sich eine alleinerziehende Frau gefühlt haben, die eine
Arbeit sucht, ihr Kind in eine Krippe geben muss und
der immer wieder indirekt oder direkt der Vorwurf, eine
Rabenmutter zu sein, entgegenschallte?
Wie muss sich eine Familie gefühlt haben, die ihr
Kind, sei es ein oder zwei Jahre alt, ganz selbstverständ-
lich, weil sie das ganz normal findet, in eine Krippe ge-
geben hat, wenn ihr immer wieder Vorwürfe gemacht
wurden, weil so viele Studien belegt hätten, wie schlecht
Krippen seien? Wie müssen sich die Erzieherinnen und
Erzieher gefühlt haben, die tagtäglich ihr Bestes gegeben
und den Kleinsten in den Krippen viel Liebe und Zuwen-
dung geschenkt haben? Ich fragte mich aber auch: Wie
müssen sich Hausfrauen und Hausmänner in diesem
Land gefühlt haben, die tagtäglich – das hat die Kollegin
schon gesagt –, 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Wo-
che, 365 Tage im Jahr ihr Bestes für ihre Kinder gegeben
und sich entschieden haben, zu Hause zu bleiben? Wie
müssen sich gerade die Frauen gefühlt haben, die immer
wieder gehört haben, sie seien nur ein Heimchen am
Herd?
Viele dieser Diskussionen haben mir nicht gefallen;
denn eines ist mir und uns als FDP-Fraktion wichtig:
Freiheit.
Es geht um die Freiheit der Familien, selbst zu entschei-
den, wie sie leben wollen. Egal ob klassische Mutter-Va-
ter-Kind-Beziehung, Patchworkfamilie, Regenbogenfa-
milie oder Alleinerziehende, es geht um die Freiheit,
selbst entscheiden zu können.
Der Staat soll dafür Rahmenbedingungen setzen, und
die haben wir gesetzt. Wir geben insgesamt 195 Milliar-
den Euro für familienpolitische Leistungen aus. Das ist
viel, europaweit mit am meisten. 73 Milliarden Euro da-
von geben wir für ehebezogene Leistungen aus und
5 Milliarden Euro für Elterngeld, damit in den ersten
Monaten nach der Geburt des Kindes Zeit und Geld für
die Familie vorhanden ist. Inzwischen geben wir fast
5 Milliarden Euro für den Ausbau der Plätze für unter
Dreijährige aus. Und doch müssen wir feststellen, dass
wir europaweit eine der niedrigsten Geburtenraten ha-
ben. Daher war es uns als FDP-Fraktion immer wichtig,
dass wir eine Gesamtevaluation der familienpolitischen
Leistungen erhalten. Sie wird uns im nächsten Jahr vor-
liegen. Darauf freue ich mich. Ich bin auf die Ergebnisse
gespannt.
Heute liegt uns der Gesetzentwurf zum Betreuungs-
geld vor. Das ist eine neue milliardenschwere sozialpoli-
tische Leistung, eine Leistung – ich sage das bewusst –
auf Pump, die scheinbar keiner so recht will in Deutsch-
land.
Daher lohnt es sich meines Erachtens, sie genau zu
durchleuchten. Wirtschaft, Verbände, Gewerkschaften,
Kirchen und OECD – viele haben Bedenken bezüglich
des Betreuungsgelds. Darum ist es wichtig, dass wir uns
zusammensetzen und miteinander über diesen Gesetz-
entwurf sprechen. Das wollen wir in den nächsten Wo-
chen und Monaten tun.
Dabei gilt es, Maßstäbe anzulegen, die wir vor uns
selbst und der gesamten Gesellschaft in Deutschland
rechtfertigen können. Der oberste Maßstab dabei muss
die Freiheit sein, die Freiheit der Familien, ein Familien-
modell zu wählen, ohne dass ein anderes Modell diffa-
miert wird.
Ein Maßstab muss die Chancengerechtigkeit sein, auch
für die Kleinsten in diesem Land. Ein Maßstab muss die
Geschlechtergerechtigkeit sein; denn nur die Geschlech-
tergerechtigkeit sichert die Zukunft Deutschlands. Es
geht darum, beiden Geschlechtern Chancen zu eröffnen.
Auch die Generationengerechtigkeit muss ein Maßstab
sein; denn auf Schuldenbergen können keine Kinder
spielen und erst recht nicht lernen.
Derzeit gibt es noch viele Fragezeichen bezüglich der
Maßstäbe in diesem Gesetzentwurf. Deshalb freue ich
mich auf die Beratungen und auf konstruktive Diskus-
sionen mit Ihnen hier, in Berlin, im Deutschen Bundes-
tag.
Das sind wir allen Familien schuldig, egal wie unter-
schiedlich sie denken oder leben mögen.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Diana Golze für die
Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Nun liegt er vor, der Gesetzentwurf zum Be-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22311
Diana Golze
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treuungsgeld. Über ihn wird heute hier zum ersten Maldebattiert.
Ich möchte den Fokus auf die Dinge richten, die hierunterschwellig mit im Raum stehen, auf die diversen Ne-benabsprachen, Deals, Erpressungsversuche und auf diesich in den Schubladen befindenden Gesetzentwürfe, diesich auf Dinge beziehen, die mit dem Betreuungsgeld ei-gentlich gar nichts zu tun haben, die aber trotzdem mitdem Betreuungsgeld in Zusammenhang stehen, weilman sich damit die Stimmen der Kritikerinnen und Kriti-ker in den eigenen Reihen kaufen will. Ich glaube, eslohnt, einen Blick auf diese Deals zu werfen. Es ging inden letzten Wochen zu wie auf einem Basar: Gebe ichdir, gibst du mir. Ich will Ihnen ein paar Beispiele nen-nen.Erstes Beispiel. Der sogenannte Pflege-Riester,
ein staatlicher Zuschuss für diejenigen, die sich eine pri-vate Pflegeversicherung leisten können. Hier soll eineprivate Pflegeabsicherung bezuschusst werden. Dazuwerden 100 Millionen Euro jährlich veranschlagt, dieaber nur 4 Prozent der Bevölkerung erreichen. Die Ein-führung dieses Zuschusses war eine große Bitte derFDP; im Rahmen der Verhandlungen im Koalitionsaus-schuss hat sie dies nun erreicht. Meine Fraktion lehntdies ab. Ich glaube, wir sind nicht die einzigen. Ichmöchte Sie fragen: Was hat die private Pflegeabsiche-rung mit der Betreuung von Kindern unter drei Jahren zutun?
Ein weiteres Beispiel. Rentenpunkte für Frauen, dievor 1992 ein Kind zur Welt gebracht haben. Dieser Vor-schlag kam aus den Reihen der Union, speziell aus denReihen der viel zu wenigen Frauen in der Union. Es gehtdarum, dass Frauen, die vor 1992 ein Kind bekommenhaben, mit denen, die später ein Kind bekommen haben,gleichgestellt werden sollen. Experten rechnen bei vollerAnrechnungszeit mit Kosten in Höhe von 3,5 MilliardenEuro. Wir können gerne über diese Leistung sprechen.Aber ich frage: Was hat die Rente von Frauen, die erst ab2030 zum Zuge kommen würde, mit der Betreuung vonKindern unter drei Jahren zu tun?
Noch ein Beispiel, das in den letzten Wochen genanntwurde. Die Verpflichtung zur Wahrnehmung der Vorsor-geuntersuchungen für alle Kinder. Das Saarland hat hierbereits im Jahr 2007 vorgelegt. Man hat dort für 40 000Kinder 600 000 Euro jährlich veranschlagt; wir könnendas gerne einmal hochrechnen. Wir können auch gerneüber diese Forderung sprechen. Auch in meiner Fraktionwird darüber diskutiert, wie man die Vorsorgeuntersu-chungen für alle Kinder – nicht nur für die Kinder unterdrei Jahren – verbindlicher machen kann. Ich frage auchhier: Was haben Vorsorgeuntersuchungen für alle Kinderbis zum 18. Lebensjahr mit der Betreuung von Kindernunter drei Jahren zu tun?
Ich frage Sie: Ist es bei diesem Geschacher, bei die-sem Gezerre, bei diesem unwürdigen Schauspiel ver-wunderlich, dass fast drei Viertel der Bevölkerung,71 Prozent der Befragten, und im Übrigen auch 62 Pro-zent der Unionsanhänger das Betreuungsgeld ablehnen?Ich finde, das sollte Ihnen zu denken geben.
Ich möchte auf ein weiteres Problem aufmerksammachen, auf das ich erst in den letzten Tagen gestoßenworden bin. In vielen Bundesländern – vielleicht auch inIhren Wahlkreisen – gibt es neben Kindertagesstättenund Angeboten der Tagespflege weitere niedrigschwel-lige Angebote für Familien mit kleinen Kindern, dieHilfe und Unterstützung leisten. Sie heißen zum BeispielEltern-Kind-Gruppe oder PEKiP. Diese Projekte werdenmit Personalmitteln und Sachmitteln unterstützt. Siewerden auch in vielen Kitagesetzen der Länder als eineSäule neben Kita und Tagespflege gleichgestellt behan-delt. Ich habe aus dem Familienministerium die Infor-mation bekommen – ich habe dazu eine schriftlicheFrage gestellt; ich bin auf die Antwort gespannt –, dassdiejenigen, die diese niedrigschwelligen Angebote nut-zen, vom Bezug des Betreuungsgeldes ausgeschlossensein sollen.
Das ist ein Unding.
Es bedeutet das Aus für viele Angebote in den Kom-munen. Es bedeutet das Aus für viele Träger. Es bedeutetdas Aus für viele gute Projekte im Kinderschutz, überden wir hier in den letzten Monaten richtigerweiseenorm viel diskutiert haben. Es bedeutet auch das Ausfür die Letzten, die noch an bestimmte Versprechungenund Vorhaben der Bundesregierung geglaubt haben. Icherinnere daran, dass in der letzten LegislaturperiodeBundesministerin von der Leyen im Zusammenhang mitder möglichen Einführung eines Betreuungsgelds gesagthatte: Man könnte dies ja in Form von Gutscheinen aus-geben, mit denen man genau solche Angebote der El-ternbildung und der niedrigschwelligen Förderung vonFamilien mit kleinen Kindern nutzen könnte. So könnteman die Eltern dabei unterstützen, die ersten Lebens-jahre des Kindes gut miteinander zu gestalten. Genausolche Angebote sollen jetzt vernichtet werden; denn dieEltern, die diese Angebote wahrnehmen, werden vomBezug des Betreuungsgeldes ausgeschlossen. Das passtdoch nicht zusammen.
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22312 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Diana Golze
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Das ist ein Unding. Sie lassen dabei genau diejenigen,von denen Sie behaupten, für sie machten Sie dieses Ge-setz, außen vor, nämlich die Familien und vor allem dieKinder. Es geht Ihnen nicht um alle Familien und umalle Kinder.Ich möchte festhalten, dass ich bisher von niemandemaus der Koalition eine Antwort auf folgende Frage be-kommen habe: Worin liegt der Unterschied zwischen derErziehungsleistung der Eltern, die ihr Kind in eine Kitaoder in eine Tagespflege geben, und der Erziehungsleis-tung der Eltern, die ihr Kind von der Oma, von derFreundin, von der Schwester, von der Tante, von wemauch immer betreuen lassen, die dann aber das Betreu-ungsgeld bekommen? Worin liegt der Unterschied?Warum müssen die einen Kitagebühren bezahlen – undnicht zu knapp –, und die anderen bekommen ein Ta-schengeld? Ich habe es noch nicht verstanden. Es stehennoch einige Ihrer Rednerinnen und Redner auf der Liste.Vielleicht können Sie es mir erklären. Ich glaube, ich binnicht die einzige, die es nicht verstanden hat.
Der Parlamentarische Geschäftsführer der Unions-fraktion hat gesagt, er gehe davon aus, es werde noch ei-nige Änderungen an diesem Gesetz geben. Ich stellehiermit den ersten Änderungsantrag: Streichen Sie denGesetzentwurf von der ersten bis zur letzten Zeile.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Renate Künast vom
Bündnis 90/Die Grünen.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Einessehen wir nicht nur in der Debatte hier im Haus, sondernauch bei allen Diskussionen draußen, bei allen Äußerun-gen draußen: Das Betreuungsgeldgesetz hat keine gesell-schaftliche Mehrheit. Es wird mehrheitlich nicht gewollt.
Es hat, ehrlich gesagt, Frau Bär, auch keine ehrliche par-lamentarische Mehrheit.
Hier entsteht Ideologie von vorgestern aufgrund vonDruck: Sonst platzt hier die Koalition. – So äußert esHerr Seehofer.Es ist meines Erachtens nicht nur ein extrem teurerVersuch, die Koalition zu halten, sondern es ist auch einextrem teurer Versuch, sich vom Rechtsanspruch aufeinen Kindergartenplatz ab August nächsten Jahres frei-zukaufen.
Ich zitiere Ihren Gesetzentwurf. Es heißt dort näm-lich:Es– das Betreuungsgeld –schließt die verbliebene Lücke im Angebot staatli-cher Förder- und Betreuungsangebote für Kinderbis zum dritten Lebensjahr.
Das ist auf Neudeutsch Freikaufen von einer Verpflich-tung.
Schauen wir uns doch einmal an, was Familien inDeutschland wollen,
was Eltern in Deutschland wollen. Die Mehrheit der El-tern in Deutschland sagt, dass Familie und Beruf inDeutschland nur sehr schwer zu vereinbaren sind.
Der Familienreport sagt, die meisten Väter wollen weni-ger, die meisten Mütter etwas länger arbeiten. Der Fami-lienreport und anderes weisen uns darauf hin: Wir habeneinen großen Bedarf an Krippenplätzen, in manchenKommunen sogar über 50 Prozent.
Wir müssen in diesem Haus den Rahmen schaffen, damitder Anspruch erfüllt werden kann.
Miriam Gruß redet hier groß über Freiheit. Reden wirdoch einmal über die Freiheit dieser 50 Prozent Kinder,die Bedarf für einen Krippenplatz haben, zum Beispiel,weil die Eltern alleinerziehend sind und einer Berufs-tätigkeit nachgehen müssen. Sie haben einen Bedarf füreinen Krippenplatz. Sie brauchen flexible Betreuungs-zeiten. Man kann nicht auf der einen Seite von wirt-schaftlicher Entwicklung reden, die man befördern will,und auf der anderen Seite den Frauen gar nicht die Mög-lichkeit geben, erwerbstätig zu sein. Aber genau das tunSie.
Es kostet uns mindestens vergeudete 1,2 MilliardenEuro im Jahr, und das, wo viele Eltern verzweifelt nachKitaplätzen suchen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22313
Renate Künast
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An dieser Stelle muss man sagen: Schwarz-Gelb ver-sagt in einer zentralen politischen Frage. Das ist unserNachwuchs, meine Damen und Herren. Das ist derNachwuchs dieses Landes, der das Recht darauf hat,dass wir seine Zukunft organisieren. Die Schwäche IhrerRegierung zeigt sich bei diesem Betreuungsgeld, bei1,2 Milliarden Euro, die nicht gegenfinanziert sind.Meine These ist: Das Betreuungsgeld ist für die CDU/CSU das, was für die FDP die Mövenpick-Steuer ist. Siewerden dieses Thema nicht wieder los. Es wird sichrächen, und zwar zu Recht.
Wir wissen – an dieser Stelle geht es nicht um dieFreiheit der Eltern; die OECD-Studie hat das gerade erstbelegt –,
dass das Betreuungsgeld schlicht und einfach schadet.Die Arbeitsmarktbeteiligung von Frauen – das gilt ge-rade für Frauen aus Zuwandererfamilien – würde durchden Bezug von Betreuungsgeld um circa 15 Prozent sin-ken. Vor allem Kinder aus benachteiligten, bildungsfer-nen Familien bzw. aus Familien mit Problemlagen hättendann keine Bildungschancen vom ersten Lebensjahr an.Die unselige Verquickung zwischen Herkunft und Bil-dungschancen bzw. zwischen Herkunft und der Chance,in Deutschland etwas zu werden, teilzuhaben und demLand etwas zurückzugeben, werden Sie so nicht los.Schwarz-Gelb zementiert sie geradezu.
Gleichstellungspolitisch wäre diese Entwicklung fa-tal, meine Damen und Herren; das sagt selbst die EU-Kommission. Sie wollen das Betreuungsgeld einführen,obwohl das Grundgesetz Sie seit vielen Jahren verpflich-tet, aktiv etwas für die Gleichstellung von Frauen undMännern zu tun. Ich verstehe die steigende Wut vonFrauen und Männern. Sie fühlen sich nämlich nicht ver-treten. Sie wollen in ihrem Beruf vorankommen, sichweiterentwickeln und natürlich auch ein bisschen mehrGeld verdienen; je niedriger ihr Einkommen ist, destoverständlicher ist das. Aber von Ihnen, meine Damen undHerren, bekommen sie ein Betreuungsgeld statt einesKitaplatzes, der es ihnen ermöglichen würde, erwerbstä-tig zu sein. Statt einen Kitaplatz zugesichert zu bekom-men, werden sie mit 100 Euro im Monat abgespeist. DieMenschen kommen sich von Ihnen für dumm verkauftvor.
Ich sage Ihnen: Das Betreuungsgeld ist nicht nur ab-surd, sondern auch sozial ungerecht. Eine Familie, in derbeide Elternteile erwerbstätig sind und die genug Geldhat, ein Au-pair-Mädchen und eine Haushaltshilfe zubezahlen,
soll das Betreuungsgeld bekommen, während armeFamilien leer ausgehen sollen. Ich muss Ihnen wirklichsagen: Das ist irre und schizophren. Ich dachte, Sie wol-len mit dem Betreuungsgeld die Erziehungsleistunghonorieren und Ihren Respekt ausdrücken.
Bekommen sollen es aber diejenigen, die ihre Kinder garnicht selber erziehen.
Wenn beide Elternteile erwerbstätig sind und Au-pair-Mädchen oder andere Personen viele Stunden am Tagdas Kind der Eltern erziehen, bekommen die Familiendafür also Ihren Ausdruck des Respekts im Gegenwertvon 100 oder 150 Euro im Monat.Herr Kauder, Sie haben recht: Es geht mich nichts an,ob die Eltern so oder so leben;
das ist Freiheit.
– Ja. Hören Sie bis zum Ende zu. – Aber dazu gehörtauch, dass wir den Kindern aus benachteiligten Familienbzw. allen Kindern ermöglichen, ihr Leben in Freiheit zuführen und frei zu sein, sich für mehr Bildung zu ent-scheiden. Das entscheidet sich im ersten Lebensjahr.
Freiheit heißt auch, dafür zu sorgen, dass endlich alleFrauen in diesem Land erwerbstätig sein und ihren Le-bensunterhalt selbst bestreiten können, um zu verhin-dern, dass sie in Altersarmut landen. Das ist die Freiheit,über die wir hier zu reden haben.
Das ist das Leitbild einer modernen Familienpolitik.Ich frage mich übrigens, wo Frau von der Leyen ist.Da sie gesagt hat: „Das Betreuungsgeld ist eine bil-dungspolitische Katastrophe“, möchte ich sie auchkämpfen sehen.
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22314 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Renate Künast
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Ich weiß eines: Weder die Landfrauen noch der So-zialdienst katholischer Frauen noch der Deutsche Indust-rie- und Handelskammertag glauben, dass es Freiheit ist,wenn einige wenige Familien ein Betreuungsgeldbekommen.
Echte Wahlfreiheit gibt es nur dann, wenn die mindes-tens 200 000 Kitaplätze geschaffen werden, die in die-sem Land akut gebraucht werden. Wir werden dasBetreuungsgeld in der nächsten Legislaturperiode ab-schaffen und das Geld in die Kinderbetreuung investie-ren.
Eines dürfen wir nicht tun – das ist die Pflicht der Gene-ration, die hier sitzt; das ist auch Ihre Pflicht, Frau Bär –:auf Kosten der Kinder Deals mit der heutigen bayeri-schen Landesregierung machen. Das haben die Kindernicht verdient.
Das Wort erhält nun die Bundesministerin Dr. KristinaSchröder.
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirreden heute nicht das erste Mal, aber formell in ersterLesung über den Gesetzentwurf zur Einführung einesBetreuungsgelds. Bereits im Jahr 2008 hatte die dama-lige Große Koalition von Union und SPD parallel zumKitaausbau auch die Einführung eines Betreuungsgeldsvereinbart und gesetzlich festgeschrieben.
Der Gedanke dahinter war und ist folgender: Alle El-tern sollen dabei unterstützt werden, die Betreuung ihresKleinkinds so zu organisieren, wie sie es für richtig hal-ten.
Für die einen soll eine Sachleistung in Form eines Kita-platzes zur Verfügung gestellt werden,
die anderen, die keinen Kitaplatz wollen oder denen ernicht hilft, sollen eine Geldleistung bekommen, unter an-derem, um die Betreuung privat organisieren zu können.
Dieselben Sozialdemokraten, die das damals be-schlossen haben, laufen heute dagegen Sturm. Ich fragemich schon: Was ist denn das für ein Politikverständnis,etwas in ein Gesetz zu schreiben und sich dann darüberaufzuregen, dass das auch Wirklichkeit wird?
Seit Monaten führt die Opposition eine Kampagnegegen das Betreuungsgeld.
Uns, die Koalition, wollten Sie damit treffen. Tatsächlichhaben Sie Hunderttausende von Eltern beleidigt, vor al-len Dingen auch solche mit Migrationshintergrund.
Sie haben so getan, als würden Eltern ihren einjähri-gen Kindern schaden, wenn sie sie nicht in die Kita ge-ben – Stichwort: Bildungsfernhalteprämie.
Sie haben so getan, als wären Frauen, die sich dafür ent-scheiden, sich selbst um ihr einjähriges Kind zu küm-mern, nichts anderes als dumme Heimchen – Stichwort:Herdprämie. Sie haben bewusst die Büchse der Pandorageöffnet,
mit dem Ergebnis, dass inzwischen jegliche Scham ge-fallen ist, junge Familien zu beleidigen – Stichwort: Ver-dummungsprämie.
Es gibt in der Tat viele gewichtige Argumente in derDebatte um das Betreuungsgeld,
und Sie können sich sicher sein, dass wir darüber in derKoalition auch sehr intensiv diskutieren.
Wenn ich aber Ihren Ton höre und diese Anmaßungspüre, mit der Sie mit vollem Vorsatz den Lebensentwurfvon 50 Prozent der Familien in Deutschland herabwürdi-gen,
dann muss ich feststellen: Wir sind in Deutschland mitVielfalt und Wahlfreiheit und mit Respekt und Toleranz
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22315
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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offensichtlich noch lange nicht so weit, wie wir immerdachten.
Frau Ministerin, lassen Sie eine Zwischenfrage der
Kollegin Ziegler zu?
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:
Gerne.
Vielen Dank. – Herr Präsident! Sehr verehrte Ministe-
rin, Sie unterstellen uns ja immer irgendwelche Aussa-
gen. Ich weiß allerdings nicht, wem, weil es solche von
uns nachweislich nicht gibt.
Ich würde von Ihnen gerne Ihre Stellungnahme zu ei-
ner Aussage von dem Generalsekretär der CSU-Bundes-
tagsfraktion, die ich Ihnen verlese, hören und Sie fragen,
ob Sie die Einschätzung teilen.
Es geht darum, dass sich Frau Gruß ihre Meinungsbil-
dung offengehalten hat. Wenn es eine Veränderung gibt,
dann wird sie dem Betreuungsgeld möglicherweise zu-
stimmen, ansonsten sagt sie klar Nein. Herr Dobrindt
wird in Welt Online vom 22. Juni 2012 wie folgt zitiert:
Frau Gruß sollte überlegen, ob sie zu den staatshö-
rigen Familienbevormundern der versammelten
Linken gehören oder ob sie mit dem Betreuungs-
geld die Entscheidungsfreiheit die Familien stärken
will.
Meinen Sie, dass Arbeitgeber, Gewerkschaften, Ver-
bände katholischer Frauen, Landfrauen etc. zur versam-
melten Linken gehören?
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:
Liebe Frau Kollegin, zunächst einmal gehe ich davon
aus, dass Sie den Generalsekretär der Partei CSU mein-
ten, als Sie eben zitiert haben.
Herr Dobrindt hat in den Mittelpunkt seiner Aussage
genau das gestellt, worum es geht, nämlich um die Frei-
heit, sich selbst zu entscheiden, welche Form der Betreu-
ung man für seine ein- und zweijährigen Kinder
wünscht. Das ist der Kern der Debatte. Bei allen Argu-
menten, die gewichtig sind
und gewichtet werden müssen, ist es der eigentliche
Punkt, ob wir diese Freiheit der Eltern respektieren oder
ob wir immer wieder versteckte Werturteile über be-
stimmte Lebensentwürfe fällen.
Frau Ministerin, darf die Kollegin Rupprecht noch
eine Zwischenfrage stellen?
Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-
lie, Senioren, Frauen und Jugend:
Eine machen wir noch.
Dann machen wir aber auch weiter. Bitte.
Frau Ministerin, ich habe zwei Fragen. Zum einen in-teressiert mich, wie Sie die Ungerechtigkeit ausgleichenwollen, dass eine Frau, die Teilzeit arbeitet und für zweiTage die Woche eine organisierte Betreuung in Anspruchnimmt, kein Betreuungsgeld bekommt, sondern dafürGeld zahlen muss, während jemand anders, der sich fürzwei Tage in der Woche eine selbst beschaffte Betreuungholt, das Geld erhalten wird. Das ist für mich eine Unge-rechtigkeit, verfassungsrechtlich hochbedenklich. Dasmüssen Sie, denke ich, noch abklären. Denn es wird si-cher Eltern geben, die diese Benachteiligung so nichthinnehmen werden.Das Zweite, was mich interessiert, ist: Wir haben amRunden Tisch festgelegt, dass all diejenigen, die imHauptberuf oder im Ehrenamt ein sehr intensives Nähe-verhältnis zu Kindern haben, mit einem Führungszeug-nis nachweisen müssen, dass sie im Umgang mit Kin-dern unbedenklich sind. Wenn wir jetzt 150 Euro zurSelbstbeschaffung von Betreuung geben – das wird jaauch damit gemeint –, dann fällt das weg. Von Tages-müttern, die über das Jugendamt organisiert vermitteltwerden, wird dieses erweiterte Führungszeugnis ver-langt. Von der Nachbarin oder sonst jemandem, der für150 Euro die Betreuung übernimmt, verlangen wir die-sen Nachweis nicht.
– Das ist Betreuungsgeld, Herr Kauder, da können Siebrüllen, wie Sie mögen.
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Marlene Rupprecht
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Das ist für mich ein Widerspruch, der nicht aufgelöstwerden kann. Wir alle sind hier gemeinsam angetretenim Sinne des Kindesschutzes. Meiner Meinung nach rei-ßen wir eine Lücke auf, die wir eigentlich dadurchschließen wollten, dass wir Vermittlungen zur Betreuungganz offiziell nur mit Überprüfung stattfinden lassen.Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Kollegin Rupprecht, ich gebe Ihnen auf Ihre lan-gen Fragen zwei kurze Antworten.Zu Ihrer ersten Frage: Alle Familien, die einen staat-lich finanzierten Kitaplatz in Anspruch nehmen, bekom-men eine erhebliche Unterstützungsleistung des Staates.Jeder Kitaplatz wird nämlich im Durchschnitt mit rund1 000 Euro im Monat staatlich bezuschusst.
Damit bekommen diese Eltern eine erhebliche Sachleis-tung.
Und da ist es nur recht und billig, dem eine Barleistungentgegenzusetzen.Das Prinzip haben Sie zum Beispiel auch in der Pfle-geversicherung. Auch in der Pflegeversicherung gibt eseine Wahlmöglichkeit zwischen einer Sachleistung undeiner Barleistung. Und kein Mensch ist jemals auf dieIdee gekommen, zu sagen, die Barleistung sei eineHeimprämie für Angehörige, die ihre zu pflegenden An-gehörigen betreuen.
Zu Ihrer zweiten Frage, Frau Rupprecht, kann ich nursagen: Das passiert doch schon alles längst. In Deutsch-land, gerade in Westdeutschland sind fast 50 Prozent derTagesmütter privat organisiert. Zum Glück spielen schonheute die Großeltern eine riesige Rolle bei der Betreuungder Enkelkinder.
Wollen Sie da jetzt ernsthaft verbindlich über Führungs-zeugnisse nachdenken? Dieser Generalverdacht gegenEltern, gegen Betreuer ist wirklich absurd.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wie weit die Re-spektlosigkeit gegenüber den Familien in der Öffentlich-keit geht, das illustriert diese Anzeige, die die Grünen imInternet verbreiten lassen.
Schauen Sie sich diese Anzeige einmal genau an. Sie se-hen hier links fröhlich spielende Kinder, die ich auf vierbis fünf Jahre schätze. Auf jeden Fall handelt es sichnicht um ein oder zwei Jahre alte Kinder, um die es beimBetreuungsgeld geht. Hier betreiben die Grünen eine be-wusste Falschinformation der Eltern.
Sie sehen hier rechts ein einsames Kind, das vor demFernseher hockt.
Damit unterstellen die Grünen, dass Familien, die sichzu Hause um ihre Kinder kümmern,
nichts anderes tun, als sie vor dem Fernseher zu parken.Das ist eine Unverschämtheit gegenüber allen Familienin Deutschland.
Vielleicht können wir das Schlachtfeld des ideologi-schen Kulturkampfs für einen kurzen Augenblick verlas-sen. Schauen wir uns doch einmal die Fakten an. Fakt isterstens: Es gibt in Deutschland einen großen Konsens,dass fast alle Familien die Betreuung von Kindern untereinem Jahr zu Hause organisieren möchten. 97 Prozentder Eltern beziehen das Elterngeld.
Fakt ist zweitens: Es gibt in Deutschland auch einen gro-ßen Konsens, dass fast alle Kinder über drei Jahre vomKindergarten erheblich profitieren. Es geht in diesemStreit also nur um die Familien mit ein- und zweijähri-gen Kindern.In diesen Familien sind die Rahmenbedingungen un-terschiedlich. Hier sind die Werthaltungen in den Fami-lien unterschiedlich. Hier sind vor allen Dingen auch dieKinder unterschiedlich. Ist es denn so schwer, zu akzep-tieren, dass die Familien unterschiedliche Wege gehen?Ist es denn so schwer, ihnen zuzugestehen, dass der Staatsie auf ihrem Weg unterschiedlich unterstützt?
Das steht schon im Grundgesetz. Das Bundesverfas-sungsgericht hat dies, wie ich denke, mehrfach sehr ein-drücklich formuliert.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22317
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Es hat festgestellt, dass sich aus der Schutzpflicht desArt. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes die Aufgabe des Staatesergibt – ich zitiere –,die Kinderbetreuung in der jeweils von den Elterngewählten Form in ihren tatsächlichen Vorausset-zungen zu ermöglichen und zu fördern.Genau darum geht es. Da steht nicht: in der von denWirtschaftsverbänden gewählten Form, wonach alleKinder möglichst mit einem Jahr in die Kita gehen sol-len, damit die Mütter dem Arbeitsmarkt wieder in Voll-zeit zur Verfügung stehen. Da steht auch nicht: in der je-weils von den Regierenden gewollten Form. Vielmehrsteht da ganz klar: Unser Auftraggeber sind die Eltern,und maßgebend sind die Entscheidungen, die sie selbstzum Wohle ihrer Kinder treffen.
Unsere Politik orientiert sich an den Bedürfnissen derFamilien. Diese sind nun einmal unterschiedlich. Des-halb gehört zur Wahlfreiheit auch der Rechtsanspruchauf einen Kitaplatz ab August 2013. Ich bin mir sicher,diesen Satz würde auch die Opposition sofort unter-schreiben. Aber wir machen das eben nicht so, wie dasdie SPD à la Olaf Scholz will, nämlich „die Lufthoheitüber den Kinderbetten“ zu erobern. Wir wollen die Fa-milien darin unterstützen, so zu leben, wie sie es wollen.Deshalb brauchen wir beides, den Kitaausbau und dasBetreuungsgeld.Wir strafen all diejenigen Lügen, die behaupten, dasBetreuungsgeld würde beim Kitaausbau fehlen. DerBund zahlt nämlich seinen Anteil. Wie ich angekündigthabe, ist der Bund bereit, für die 30 000 Kitaplätze, diewir mehr brauchen als 2007 gedacht, seinen Anteil zurVerfügung zu stellen. Deshalb werden wir noch über580 Millionen Euro zusätzlich für Investitionen in dieHand nehmen.
Damit zahlt der Bund 4,6 Milliarden Euro an Investi-tionskosten, meine Damen und Herren.
Auch für die Betriebskosten gibt es zusätzliche Bun-desmittel. Der Bund zahlt ab 2014 jährlich 845 Millio-nen Euro. Sie können dann noch die 400 Millionen Eurodrauflegen, die wir in die Qualität und in die Sprach- undIntegrationsförderung in den Kitas investieren.Eines ist klar: Wir unterstützen die Länder und Kom-munen bei dieser Mammutaufgabe, wo wir können.Dann erwarte ich aber auch, dass die Länder nun ordent-lich an Tempo zulegen und ihre Hausaufgaben machen.
Wenn manche die gleiche Kraft, die sie für den Kampfgegen zu Hause erziehende Eltern aufbringen, auch fürden Kitaausbau aufbringen würden, dann wäre schonviel gewonnen.
Auch diese Botschaft gehört in die heutige erste Le-sung des Betreuungsgeldgesetzentwurfs. Denn Kitaaus-bau und Betreuungsgeld gehören zusammen. Nur beideszusammen ergibt Wahlfreiheit.
Wer sein Kind mit einem Jahr in die Kita gibt, der istnicht herzlos, und wer sein Kind auch nach dem erstenGeburtstag noch zu Hause erzieht, der ist nicht hirnlos.Alle Eltern verdienen unseren Respekt und unsere Un-terstützung. Darin sollten wir uns einig sein.
Nächste Rednerin ist die Kollegin Caren Marks für
die SPD-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr geehrten Damen und Herren! FrauMinisterin Schröder, das war wie gewohnt ein inhaltlichschwacher und unverschämter Auftritt.
Frau Schröder, wenn Sie von Respekt und Toleranz re-den, dann ist das schlichtweg unglaubwürdig.
Die Koalition versucht heute einen neuen Anlauf, umden Gesetzentwurf für das Betreuungsgeld einzubringen.Denn am 15. Juni ist der erste Anlauf bekanntlich kläg-lich gescheitert. An jenem Freitag sind sage und schreibe126 Abgeordnete der schwarz-gelben Koalition demPlenarsaal ferngeblieben.
Das war vielleicht auch ein stummer Protest der Kritike-rinnen und Kritiker in den eigenen Reihen. Dafürspricht, dass die Debatte über Sinn und Unsinn des Be-treuungsgelds in der Koalition wieder richtig hochge-kocht ist, meine Damen und Herren von Schwarz-Gelb.
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Caren Marks
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Wenn vor allem die CSU der Opposition vorwirft, dieAblehnung des Betreuungsgelds sei Ausdruck reinerIdeologie, dann können, glaube ich, wir alle darüber nurherzlich lachen. Warum droht denn ein Herr Seehoferzum wiederholten Male im Zusammenhang mit dem Be-treuungsgeld mit Koalitionsbruch? Hat das vielleichtauch mit den nach wie vor vorhandenen kritischen Stim-men in der schwarz-gelben Koalition zu tun?Wie erklären Sie sich, dass nach neuen Umfragenzwei Drittel der Bevölkerung das Betreuungsgeld ableh-nen?
Werfen Sie etwa auch Ihren Kolleginnen und Kollegenin den eigenen Reihen im Bundestag, die noch Zweifelhaben, und vor allem der Mehrheit der Bevölkerung vor,ideologisch zu denken? Setzen Sie sich doch endlich mitden ernsthaften Bedenken, die Fachverbände, Wissen-schaftler, Arbeitgeber, Kirchen und viele andere gegendas Betreuungsgeld vorbringen, auseinander.
All diese Menschen fordern zu Recht eine vernünftigePolitik für Familien und Kinder in unserem Land.
Herr Kauder, waschkörbeweise erreichen uns Stel-lungnahmen und Briefe, in denen bemängelt wird, dassEltern nach wie vor in unserem Land keine echte Wahl-freiheit haben, dass sie nicht zwischen Kita und Betreu-ung zu Hause wählen können, weil Tausende Krippen-plätze in unserem Land fehlen. In diesen Stellungnahmenwird die Bundesregierung aufgefordert, auf das Betreu-ungsgeld zu verzichten und endlich in den qualitativhochwertigen Ausbau von Kitas mit entsprechendemPersonal zu investieren. Ich sage: Dem ist nichts hinzu-zufügen.
Ich möchte jetzt auf den Gesetzentwurf eingehen, umdie Absurdität des Ganzen noch einmal deutlich zu ma-chen. Dreh- und Angelpunkt des Gesetzes ist, die Zah-lung des Betreuungsgelds an die Bedingung zu knüpfen,dass ein Kind keine öffentlich geförderte Kita oder Kin-dertagespflege in Anspruch nimmt. Das Betreuungsgeldsoll aber mit allen anderen Betreuungsformen – alsonicht nur mit der Betreuung zu Hause in der Familie,sondern auch durch ein Au-pair oder ein Kindermädchenoder in einer privaten Einrichtung – vereinbar sein. Qua-litätskriterien, geschweige denn, Frau Ministerin, Krite-rien des Kinderschutzes, die bei öffentlich gefördertenAngeboten eine wichtige Voraussetzung sind, sollenkeine Voraussetzung für die Zahlung eines Betreuungs-gelds sein. Das ist wirklich nicht zu glauben.
Was heißt das? Erstens wird das von der CSU immerwieder vorgebrachte Argument ad absurdum geführt,dass das Betreuungsgeld die Erziehungsleistung der El-tern anerkennen soll, die ihr Kind zu Hause betreuen. Ichdenke in diesem Zusammenhang vor allem an die Redenvon Herrn Geis. Der Gesetzentwurf widerspricht diesemArgument nahezu; denn auch andere Betreuungsformen– egal ob qualifiziert oder nicht – sind nun mit dem Be-treuungsgeld vereinbar.Zweitens läuft diese Regelung den jahrelangen An-strengungen von Bund, Bundesländern und Kommunenzuwider, die staatlich geförderten Angebote der früh-kindlichen Bildung weiter auszubauen, zu qualifizierenund möglichst vielen Kindern in unserem Land bereitzu-stellen. Eine Pressemitteilung vom 14. Juni, die ver-schiedene Fachorganisationen herausgebracht haben,bringt es auf den Punkt:Als Fernhalteprämie von Kindertagesstätten belei-digt das Betreuungsgeld das Betreuungssystem, dasdie Bundesregierung gleichzeitig ausbauen will.
Der aktuelle nationale Bildungsbericht, von der Bun-desregierung und den Ländern in Auftrag gegeben,macht deutlich, dass das Betreuungsgeld insbesonderedie öffentliche Förderung von Kindern mit Sprachdefizi-ten konterkariert. Circa ein Viertel der Drei- bis Sieben-jährigen haben Sprachförderungsbedarf. Ein Viertel,meine Damen und Herren!Die Erziehungswissenschaftlerin Angelika Ehrhardtschrieb in einem Gastkommentar:Anreize zu schaffen, sein Kind möglichst lange zuHause zu betreuen, ist dabei besonders für Familienaus bildungsfernen Milieus kontraproduktiv. …Kinder, die eine Kita besuchen – und zwar je län-ger, desto besser –, verfügen über einen Lernvor-sprung bis zu einem Schuljahr.Ihr Betreuungsgeld entspricht also keiner folgerichtigen,keiner konsistenten Gesetzgebung und zeigt deutlich,dass der Koalition am Ausbau der frühkindlichen Bil-dung nicht wirklich viel liegt.
Es spricht für sich, dass fast durchgehend in IhremGesetzentwurf von Betreuung und Betreuungsplatz dieRede ist. Im Kinder- und Jugendhilfegesetz hingegenwird der Begriff der Förderung immer wieder in denMittelpunkt gestellt. Warum rücken Sie in Ihrem Gesetzdavon ab? Sie konterkarieren damit die Erfolge der ver-gangenen Jahre im Bereich der frühkindlichen Bildung.Wir wissen doch alle, dass Deutschland immer wie-der ermahnt wird – auch innerhalb der EU und von derOECD –, qualitativ und quantitativ mehr in die früh-kindliche Bildung zu investieren. Wir, die SPD, habendieses Ziel seit langem in den Mittelpunkt gerückt. Das
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Caren Marks
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Betreuungsgeld wird das Erreichen dieses wichtigenZiels – dabei geht es um den Ausbau der frühkindlichenBildung bzw. der Krippenplätze, aber auch um Qualitätund den Kinderschutz – konterkarieren. Es ist bildungs-,gleichstellungs- und integrationspolitisch schlichtwegkontraproduktiv.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich hoffe, dass dieKritikerinnen und Kritiker in den Reihen der Union undder FDP, in der Regierungskoalition, hartnäckig bleibenund gemeinsam mit uns und den vielen Menschen drau-ßen, die das Betreuungsgeld ablehnen – zum Beispielbetroffene Eltern, Fachverbände und die Kirchen; ichwill sie alle nicht noch einmal aufzählen –, dieses unsin-nige und absurde Projekt verhindern. Ich denke, die El-tern und die Kinder in diesem Land würden es uns allendanken.Herzlichen Dank.
Florian Toncar ist der nächste Redner für die FDP-
Fraktion.
Danke schön. – Herr Präsident! Meine sehr geehrtenDamen und Herren! Ich glaube, wir sind uns auch in derheutigen Debatte einig, dass der Aufbau einer Familiefür junge Eltern eine zum Glück meist beglückende undbereichernde, aber auch sehr fordernde Erfahrung ist. Esist – egal wie sie ihr Leben organisieren – immer mitVerzicht und auch Opfern verbunden, das Glück zu ha-ben, Kinder erziehen zu dürfen.Wenn Eltern auf Erwerbstätigkeit ganz oder teilweisefür einige Zeit verzichten, ist das mit der Gefahr verbun-den, dass das berufliche Aufstiegschancen kostet. WennEltern sehr früh wieder in den Beruf einsteigen, ist dasmit enormen organisatorischen und praktischen Schwie-rigkeiten verbunden, die mit der Beantwortung folgen-der Fragen anfangen: Wo finde ich einen passendenPlatz in einer guten Betreuungseinrichtung, in die ichmein Kind guten Gewissens und gerne hingebe? Wie or-ganisiere ich ganz alltägliche Dinge, zum Beispiel imZusammenhang mit der Krankheit eines Kindes? Daskann man nie planen, das passiert meistens über Nacht.Dann muss man ganz schnell reagieren.Ich glaube, das Letzte, was Eltern brauchen – egalwie sie sich entscheiden, ihr Leben zu organisieren –, ist,dass ihnen ihr Umfeld, die Gesellschaft und die Politikein schlechtes Gewissen machen. Wir sollten alle sehrzurückhaltend sein, wenn wir darüber sprechen, wie sichFamilien organisieren sollten.
Entscheidend ist doch nicht, in welcher Form Fami-lien zusammenleben, sondern ob ein Kind Zuwendungbekommt, ob sich Eltern um ein Kind kümmern und obsie ihre Verantwortung wahrnehmen. Das kann man inder einen oder anderen Form machen – oder auch nicht;wir kennen für beides Beispiele. Zuwendung für dasKind sollte im Mittelpunkt der Familienpolitik und dergesellschaftlichen Diskussion darüber stehen.
Als erster Mann, der heute in der Debatte zu Wortkommt,
sage ich: Wenn sich heute viele junge Menschen ent-scheiden, ein neues Familienbild zu leben, wenn Müttersagen, dass sie gerne Mutter sind, aber auch gerne er-werbstätig sein sowie ihre Bildung und ihre Qualifika-tion einbringen möchten, und wenn Väter sagen, dass sienatürlich arbeiten möchten, sich aber auch um ihr Kindkümmern möchten, damit sie etwas von ihm haben, dannist das, finde ich, kein Werteverlust, sondern ein Gewinnan Werten. Es bereichert die Gesellschaft. Dies ist eingutes Familienbild, das viele junge Menschen bzw. Fa-milien heute leben.
Natürlich muss man auch sehen: Die Arbeitswelt ver-ändert sich. Dadurch, dass sich Technik und Berufsbilderschnell verändern, ist es heute nicht mehr so leicht, füreinige Jahre aus dem Beruf auszusteigen. Das kann dazuführen, dass man ein ganzes Leben lang nicht wiederrichtig Tritt fasst. Deswegen sind viele Familien ge-zwungen, zumindest zum Teil zu arbeiten bzw. früh wie-der zu arbeiten. Das gilt insbesondere dort, wo es nur ei-nen Elternteil gibt, also für Alleinerziehende. Viele vonihnen müssen zum Teil sehr schnell wieder in den Berufeinsteigen. Das ist gerade dann der Fall, wenn sich dieEltern dafür verantwortlich fühlen, ihren Kindern einegute Sozialisation und eine gute Zukunftsperspektive zubieten.Deswegen ist für uns ganz entscheidend: Ein Betreu-ungsgeld darf auf der einen Seite nicht daran anknüpfen,ob Eltern berufstätig sind. Das tut es auch nicht. Es wirdauch ausbezahlt, wenn Eltern berufstätig bzw. erwerbstä-tig sind. Auf der anderen Seite darf diese Leistung nichtdazu führen, dass sich die Betreuung in Kitas und bei Ta-geseltern verschlechtert, dass das eine auf Kosten desanderen geht.Auch Folgendes ist nicht der Fall – ich spreche esnoch einmal klar aus –: Bei den Betreuungsmöglichkei-ten im Bereich der Kitas und der Tageseltern wird nichtsverschlechtert,
sondern wir bauen diese – ganz im Gegenteil – von derMenge her und auch qualitativ aus.
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22320 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Florian Toncar
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Wir haben mit den Ländern seit 2007 eine Vereinba-rung. Ich finde es gut, dass Sie, Frau Ministerin, denLändern, die nicht im Zeitplan liegen, klar gesagt haben,dass nur noch ein Jahr Zeit bleibt. Ich möchte Sie ermun-tern, klar zu sagen, wenn ein Land zu langsam ist,
und zwar ohne auf das spezielle Land zu schauen, son-dern nur aufgrund der Zahlen, die Sie haben. Denn dieLänder und auch die Kommunen sind in der Pflicht, ih-ren Teil der Abmachung einzuhalten.
Wir haben darüber hinaus von Bundesseite am Wo-chenende zusätzlich über 500 Millionen Euro zur Verfü-gung gestellt, weil wir der Meinung sind, dass wir dieSituation weiter verbessern müssen. Ich kann nur sagen:Ich hätte mir gewünscht, dass sich auch die Länder, diediese Forderung aufgestellt haben, ebenso wie bei denalten Absprachen finanziell an der einen oder anderenMaßnahme beteiligt hätten. Der Bund macht wieder ein-mal freiwillig mehr, als er tun müsste. Eine Gegenleis-tung der Länder kann ich nicht erkennen.
Es wäre vielleicht gut gewesen, liebe Kolleginnenund Kollegen von den Sozialdemokraten, wenn Sie Ih-ren Ländervertretern nicht einfach einen Blankoscheckfür die Gespräche am Sonntag gegeben hätten, sonderngesagt hätten: Wenn der Bund 500 Millionen Euro gibt,dann geben auch die Länder noch einmal 500 MillionenEuro dazu. – Das wäre für die Familien und den Ausbauder Betreuung mit Sicherheit besser gewesen, als einfachzu sagen: Ihr dürft fordern, der Bund bezahlt. – Dannhätten wir nämlich mehr Geld zur Verfügung, um dasGanze hinzubekommen.
Wir haben – auch das darf man einmal in Erinnerungrufen – eine Qualifizierungsoffensive auf den Weg ge-bracht. Fachkräfte, die sich vor allem mit Sprachförde-rung auskennen, sind seit einem Jahr in 4 000 Kitas inDeutschland tätig. Dafür stellt diese Koalition 300 Millio-nen Euro im Haushalt zur Verfügung. Wir kümmern unsalso auch darum, dass in den Kitas eine bessere Betreu-ung stattfindet, dass Kinder, die noch nicht gut genugDeutsch sprechen und andere Schwierigkeiten haben,besser integriert werden. Wir haben das Programm „Of-fensive Frühe Chancen“ auf den Weg gebracht, bei demes darum geht, dass gerade Familien, die Integrations-probleme haben und in einer besonderen Notlage sind,früher geholfen wird.Wir kümmern uns also gewiss auch darum, dass Fa-milien integriert werden und Kinder, die bisher nicht sogute Chancen hatten, bessere Bildungschancen erhalten.Es wäre für mich zu einseitig, die Familienpolitik dieserKoalition nur auf das Betreuungsgeld zu reduzieren. Esist weit mehr getan worden, und das geht in die richtigeRichtung.
Das Wort erhält jetzt der Kollege Ralph Lenkert für
die Fraktion Die Linke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Geehrte Kolleginnenund Kollegen! Als Sprecher des Volksbegehrens für einebessere Familienpolitik bin ich 2005 politisch aktiv ge-worden. Wir setzten uns in Thüringen für sichere undbessere Kitaplätze ein.
Schon damals wollte uns die Union nicht glauben, dassfrühkindliche Bildung die beste Investition in die Zu-kunft ist.
Ich zitiere den Nobelpreisträger für Ökonomie James J.Heckman:Eine geradezu traumhafte Rendite erwirtschaftetlangfristig jeder Euro, der in die frühe Förderungvon Kindern – also noch vor der Schulzeit – inves-tiert wird.Heckman wies nach: weniger Schulabbrecher, wenigerTeenagerschwangerschaften, weniger Kriminalität. Undstattdessen: höhere Bildungsabschlüsse, mehr Produkti-vität und bessere Gesundheit. Das seien laut Heckmandie messbaren Erfolge einer verantwortungsvollen Bil-dungspolitik; denn diese müsse sich darauf konzentrie-ren, Benachteiligungen schon in Krippe und Kindergar-ten auszugleichen. Die herrschende Politik habe diesoffenbar noch nicht begriffen, stellte Heckman am13. März 2008 in Leipzig fest.Eine Studie des Bonner Forschungsinstituts zur Zu-kunft der Arbeit vom März dieses Jahres, in Auftrag ge-geben von der Thüringer SPD, belegt, dass aufgrund derEinführung des Thüringer Landeserziehungsgelds ge-rade Kinder aus benachteiligten Familien wegen des Be-treuungsgelds zu Hause bleiben.Nun ist es an der Zeit, einmal die wahren Gründe fürdie Bockbeinigkeit der Union beim Betreuungsgeld zubetrachten. Ich bin überzeugt, dass die Union und die Fa-milienministerin es nicht schaffen, bis 2013 den Rechts-anspruch auf einen Kitaplatz umzusetzen. Ihre Rech-nung ist: Jede Familie, die sich für das Betreuungsgeldentscheidet, verkleinert die Lücke der fehlenden Plätze.Das ist der erste wahre Grund für das Betreuungsgeld.
Das Betreuungsgeld beträgt 150 Euro im Monat. EinKitaplatz für ein- bis dreijährige Kinder kostet in Thürin-gen etwa 800 Euro. Nehmen wir für die Bundesrepublikdie Zahlen aus Thüringen als Grundlage: Abzüglich derKitagebühren sparen Länder und Kommunen je Monatetwa 500 Euro für jedes Kind, das zu Hause bleibt. Laut
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Ralph Lenkert
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Gesetzentwurf sind für 2014 1,1 Milliarden Euro für dasBetreuungsgeld eingeplant. Damit würden 610 000 Kin-der zu Hause bleiben. Jeden Monat 500 Euro für610 000 Kinder, die keinen Kitaplatz nutzen – das er-spart den öffentlichen Haushalten 3,7 Milliarden EuroKosten im Jahr. Das ist der zweite Grund für das Betreu-ungsgeld.
In Thüringen besuchen dank des erkämpften Rechts-anspruchs auf einen Kitaplatz ab dem ersten Geburtstagmehr als 60 Prozent der Kinder zwischen dem ersten unddritten Lebensjahr eine Kita. Frau Schröder will aber nurfür 35 Prozent dieser Kinder Kitaplätze schaffen.
Ich glaube, die Eltern denken bundesweit wie die inThüringen und wollen mehr Kitaplätze. Davor haben SieAngst, und deshalb glauben Sie, mit den Silberlingen desBetreuungsgelds diese Herausforderung wegzubekom-men. Das ist der dritte Grund für das Betreuungsgeld.
Paradox wird es ab 2014. Sie haben dann 1,1 Milliar-den Euro für das Betreuungsgeld vorgesehen. Damitwürden 50 Prozent der Kinder zwischen ein und dreiJahren zu Hause bleiben. 35 Prozent hätten nach IhremPlan einen Kitaplatz. Was ist mit den anderen Kindern?Wollen Sie Plätze zweimal vergeben, einmal von 8 bis12 und einmal von 14 bis 18 Uhr? Dann gibt es doppeltso viele betreute Kinder, und Sie könnten für einen Kita-platz zweimal Betreuungsgeld weglassen. Das schlägtdem Fass den Boden aus.
Liebe Koalitionäre, verzichten Sie auf das Betreu-ungsgeld. Verbessern Sie dafür, wie die Linke es fordert,die frühkindliche Bildung.Frau Ministerin, Sie kennen sicher viele Zitate. Ichempfehle Ihnen eines von Mark Twain: Wenn der letzteDollar weg ist, ist Bildung das Einzige, was übrigbleibt. – Deshalb: Vergessen Sie das Betreuungsgeld.Stimmen Sie mit uns für die beste frühkindliche Bildung– für alle Kinder – und für Kindertagesstätten.Vielen Dank.
Das Wort erhält nun die Kollegin Katja Dörner, Bünd-
nis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Ich weiß, dass ich heute wieder vielen meiner liebenKolleginnen und Kollegen nicht nur aus den Reihen derOpposition, sondern auch aus den Reihen von CDU,FDP und auch einigen aus der CSU aus der Seele spre-che, wenn ich sage: Das Betreuungsgeld ist eine unsin-nige, eine kontraproduktive Maßnahme.
Ich kann und ich will Ihnen das nicht ersparen. AberSie selbst könnten es sich langsam ersparen, wenn dievielen Kritikerinnen und Kritiker in den Regierungsfrak-tionen, die ihre Meinung geäußert haben, endlich dieReißleine zögen und dem Betreuungsgeld die Rote Kartezeigten.
Das Betreuungsgeld hat in diesem Haus keine Mehrheit.Die Art und Weise, wie Sie sich hier eben selber Mut zu-jubeln mussten, macht das doch doppelt deutlich.
Die vernünftigen Menschen in diesem Haus dürfen esnicht zulassen, dass eine Regionalpartei der komplettenRegierung auf der Nase herumtanzt und der gesamtenRepublik ihr überholtes Frauen- und Familienbild auf-zwingt.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, der Gesetzent-wurf bestätigt leider unsere schlimmsten Befürchtungen.Das Betreuungsgeld kommt als eine reine Antikitaprä-mie daher, und das macht doppelt klar, wes Geistes Kindsie ist. Wir wissen auch, wohin ein solches Betreuungs-geld führt, beispielsweise aus Thüringen: Mit der Ein-führung des Landeserziehungsgelds ging dort nämlichder Anteil der Zweijährigen, die eine Kita besuchen, um15 Prozent zurück, und – was noch dazu kommt – auchder Anteil der älteren Geschwisterkinder ging um30 Prozent zurück. Ich bin sehr froh und der Ministerindankbar, dass sie noch einmal unser Plakat gezeigt hat,das genau das dokumentarisch zum Ausdruck bringt.
Die Erwerbstätigkeit der Mütter von Zweijährigen ist um20 Prozent gesunken. All diese Effekte waren bei ge-ringqualifizierten Eltern, bei Alleinerziehenden und Fa-milien mit geringem Einkommen deutlich stärker zu be-obachten als im Durchschnitt.
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22322 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Katja Dörner
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Mit dem Betreuungsgeld soll die gesamte Republikauf eine solche Reise geschickt werden. Ich finde dasunverantwortlich.
Das Betreuungsgeld soll die Erziehungsleistung derEltern würdigen. Ich finde es zwar richtig, die Erzie-hungsleistung von Eltern zu würdigen.
Aber diese Begründung ist mehr als fragwürdig, wennmit den 100 bzw. 150 Euro auch die Nanny oder das Au-pair-Mädchen finanziert werden kann.Was ist eigentlich mit der Erziehungsleistung der El-tern, deren Kind zwei Tage in der Woche in die Tages-pflege geht oder einen halben Tag in die Kita geht odereinfach an einer Krabbelgruppe teilnimmt? Diese Erzie-hungsleistung wird mit dem Betreuungsgeld nicht ge-würdigt. Das ist einfach absurd.
Was ist mit den Eltern, die ALG II beziehen? Deren Er-ziehungsleistung ist nach Auffassung der Regierungs-fraktionen offensichtlich überhaupt und grundsätzlichnicht zu würdigen. Ich finde, es ist eine Ungeheuerlich-keit, was mit diesem Gesetzentwurf an dieser Stelle zumAusdruck gebracht wird.
Das Betreuungsgeld ist eine bildungs- und gleichstel-lungspolitische Katastrophe; es ist verfassungsrechtlichhöchst fragwürdig. Deshalb, liebe Kolleginnen und Kol-legen von der CDU und von der FDP: Machen Sie die-sem Spuk endlich ein Ende. An die Adresse der CSUsage ich: Es heißt so schön: Wenn du merkst, dass du eintotes Pferd reitest, steig ab! – Ich finde, der Zeitpunkt,das zu tun, ist jetzt langsam einmal gekommen.Vielen Dank.
Der Kollege Markus Grübel hat nun das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Drei Dinge hatten wir 2007 den Menschen inDeutschland versprochen:Erstens: Wir bauen massiv die Betreuungsplätze aus,und der Bund unterstützt diesen Ausbau, was sowohl dieInvestitionen als auch die Betriebskosten angeht.Zweitens: den Rechtsanspruch auf einen Betreuungs-platz ab 1. August 2013.Drittens: die Einführung eines Betreuungsgeldes imJahr 2013.Diese drei Dinge – der Ausbau der Betreuungsplätze,die Schaffung des Rechtsanspruchs und die Einführungdes Betreuungsgeldes – gehören zusammen. Sie sindzwei Seiten ein und derselben Medaille und stehen füreine zeitgemäße Familienpolitik, die den Eltern einWahlrecht ermöglicht.
Die Kollegin Gruß hat es als „Freiheit“ umschrieben;man könnte auch „Wahlfreiheit“ sagen.Den engen Zusammenhang beider Leistungen hat dieKoalition 2008 im Kinderförderungsgesetz festgeschrie-ben. Viele, die jetzt hier so kritisch über das Betreuungs-geld reden, haben damals zugestimmt. Der Bund hat sichnämlich damals in Absprache mit den Ländern undGemeinden entschieden, auch die Unterstützung von El-tern bei der Betreuung von Ein- und Zweijährigen zu sei-ner Aufgabe zu machen. Man hat sich entschieden, esauf zwei Wegen zu machen: entweder mit einerSachleistung – 1 000 Euro im Monat für einen subven-tionierten Betreuungsplatz – oder eben mit einer Geld-leistung von jetzt 100 bzw. 150 Euro im Monat, mit derEltern entweder eine Betreuung organisieren könnenoder sie selbst durchführen können. Das haben wir in§ 16 Abs. 5 SGB VIII – Kinder- und Jugendhilfe – fest-geschrieben. Da steht es, Frau Ziegler. Sie waren damalsnicht dabei; Sie waren noch nicht im Bundestag. Aberdie Kollegen rechts und links von Ihnen – das kann ichIhnen versichern – haben dem damals beide zugestimmt.
– Auch Sie, Frau Rupprecht.
Die Regelung ist mit der Regelung in der sozialenPflegeversicherung vergleichbar: Auch da haben wir mitder stationären Pflege eine Sachleistung und mit der am-bulanten Pflege eine Geldleistung. Hier kommt keinerauf die Idee, zu sagen, dass diese Geldleistung eine Fern-halteprämie sei oder dass die Pflege zu Hause durch Fa-milienangehörige schlecht sei und verhindert werdenmüsse. Die Familien sind dankbar, dass sie unterstützt
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22323
Markus Grübel
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werden, genauso, wie sie für die Wahlfreiheit dankbarsein können, wenn das Betreuungsgeld eingeführt ist.
Familien müssen sich eben nicht einem staatlich vorge-gebenen Leitbild anpassen, um finanzielle Unterstützungzu erhalten. Der Staat akzeptiert, dass Familien in eige-ner Verantwortung entscheiden, wie sie ihr Leben lebenwollen.
Wenn man sich diese vergiftete, ideologische Diskus-sion ums Betreuungsgeld anhört,
dann könnte man geradezu meinen, wir wollten mit demGeld eine terroristische Gemeinschaft unterstützen.
Nein, wir unterstützen Familien mit sehr kleinen Kin-dern.
Sehr geehrte Damen und Herren, jedes Kind, jede Fa-milie ist anders. Die Frage nach der optimalen Betreu-ung kann daher nicht einheitlich beantwortet werden. Daist es wichtig und richtig, wenn der Staat alle Formen derKleinkindbetreuung unterstützt, egal ob sie von Eltern,von Großeltern, in der Krippe oder von Tagespflegeper-sonen übernommen wird.Statt sich mit der Idee, die hinter dem Betreuungsgeldsteht, inhaltlich auseinanderzusetzen, wird in einer ober-flächlichen Diskussion immer wieder behauptet: Frauenwerden ferngehalten, erwerbstätig zu sein, oder den Kin-dern – das haben die Linken gesagt – werden Bildungs-chancen vorenthalten. Beides ist schlicht falsch.
Das Betreuungsgeld ist nicht an den Verzicht von Er-werbstätigkeit geknüpft.
Was die frühkindliche Bildung betrifft: Es ärgert michzunehmend, mir immer wieder anhören zu müssen, dassEltern ihren Kindern Bildungschancen vorenthalten,wenn sie nicht in eine Krippe kommen. Noch vor fünfoder zehn Jahren waren Krippenplätze – zumindest imWesten Deutschlands – selten, aber auch aus diesen Kin-dern konnte etwas werden.Wir haben den Ausbau der Krippenplätze gefördertund unterstützt. Aber man kann schlichtweg nicht sagen,dass es bei einem einjährigen Kind für die weitere Ent-wicklung entscheidend ist, ob es vom Vater oder derMutter oder in einer Krippe erzogen wird. Dies ist nach-weislich falsch; denn bei kleinen Kindern geht es umBindung; Bindung steht bei ein- bis zweijährigen Kin-dern im Vordergrund. Die erste Bindung eines Kindes istin der Regel die an die Eltern oder an eine feste Bezugs-person, ob es Oma oder Opa ist.
Diese familiennahe oder familiäre Betreuung ist der in-stitutionellen Betreuung zumindest gleichwertig.
Wenn Eltern Zuwendung, Erziehung und Betreuung ver-nachlässigen, dann ist keine Frage, dass das eine andereSituation ist. Aber wir müssen doch sehen, was Aus-nahme und was Regel ist.Es wurde immer wieder auf die OECD-Studie zu Ar-beitsplätzen für Migranten hingewiesen. Für die Einfüh-rung des Betreuungsgeldes in Deutschland hat diese Stu-die überhaupt keine Aussagekraft. Die Studie plädiert inBezug auf Norwegen dafür, dass für dreijährige Kinderkein Betreuungsgeld mehr gezahlt werden soll. Wir aberwollen in Deutschland das Betreuungsgeld für ein- undzweijährige Kinder einführen, erfüllen also die Forde-rungen der Studie. Dies ist auf Seite 196 nachzulesen.Man sollte also nicht nur die Überschriften lesen.Gleich wichtig wie die familiennahe oder familiäreBetreuung ist der Ausbau der Kitaplätze. Wir haben dasim Jahr 2007 gemeinsam beschlossen, und es ist immernoch richtig und wichtig. Noch nie wurden so viele Kin-derbetreuungsplätze geschaffen wie seit 2007 unter denMinisterinnen von der Leyen und Schröder. Das wirdvom Bund mit Geld massiv gefördert; wir werden jetztnoch mehr Geld zur Verfügung stellen. Diesmal kommtdas Geld – die Investitionskosten für einen Kitaplatz be-tragen 12 000 Euro – aber auch bei den Kommunen an.Ich denke hier an das rot-grüne Tagesbetreuungsausbau-gesetz. Auf das Geld warten die Kommunen noch heute.Ich habe bis heute noch keinen Bürgermeister getroffen,der gesagt hat, er hätte dieses Geld bekommen.
Sehr geehrte Damen und Herren, eine Umfrage desMagazins Stern im April hat ergeben, dass in der Alters-gruppe der 18- bis 29-Jährigen eine Mehrheit für das Be-treuungsgeld ist. Bei den anderen Altersstufen sieht esanders aus. Diese Altersstufe ist aber vielleicht die wich-tigste, wenn es um die Entscheidung für Kinder geht.Lassen wir doch die jungen Eltern selbst entscheiden,welche Betreuungsform sie für ihre Kinder wählen! Las-sen Sie uns jede Entscheidung der Eltern akzeptierenund finanziell unterstützen!Herzlichen Dank.
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22324 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
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Für eine Kurzintervention erhält die Kollegin
Hagedorn jetzt das Wort.
Vielen Dank, Herr Präsident, dass ich das Wort habe. –
Ich habe mich schon bei der Ministerin, Herrn Toncar,
aber auch jetzt bei Herrn Grübel gemeldet. Ich will zu-
nächst einmal mit einer Richtigstellung beginnen: Ja, wir
haben gemeinsam den Ausbau der Kitaplätze, verbunden
mit dem Rechtsanspruch ab dem Jahr 2013, gemacht.
Allerdings haben wir offensichtlich gemeinsam, als wir
von einer Ausbaukapazität von 35 Prozent ausgegangen
sind, nicht damit gerechnet – Sie jedenfalls nicht, wir
schon; aber wir waren in einer Koalition –, dass es sehr
viel mehr Eltern geben würde, die dieses Recht in An-
spruch nehmen. Darum müssen wir schlicht feststellen:
Wenn wir den Eltern, den Kindern und auch den Kom-
munen gerecht werden wollen, dann darf bei einer Aus-
baukapazität von 35 Prozent nicht Schluss sein. Darum
müssen wir nachbessern und brauchen das Geld dort und
nicht für das Betreuungsgeld.
Warum ich mich aber vorhin gemeldet habe: Frau
Ministerin, gestern Abend waren wir gemeinsam im
Haushaltsausschuss. Ich habe Sie gefragt, wie Ihre Ge-
genfinanzierung ab 2014 für die 2 Milliarden Euro aus-
sehen wird. Sie haben gestern Abend im Haushaltsaus-
schuss geantwortet: Die Gegenfinanzierung besteht in
einer globalen Minderausgabe. – Diese Aussage hat,
glaube ich, auch Ihre eigenen Haushälter durchaus ge-
schockt. Aber was Sie nicht deutlich dargestellt haben
– das sollten Sie jetzt öffentlich nachholen –, ist die Ant-
wort auf folgende Frage: Wie stellen Sie sich diese glo-
bale Minderausgabe eigentlich vor – als globale Minder-
ausgabe für den Gesamthaushalt oder als globale
Minderausgabe für Ihren Etat?
Was ich an dieser Stelle – weil ich die Zeit noch habe –
ebenfalls klarstellen möchte, weil viele Redner das aus
unserer Sicht falsch dargestellt haben, ist: Es geht nicht
nur um den Aspekt der Freiheit. Wir alle in diesem
Hause sind dafür, dass Eltern zu nichts gezwungen wer-
den, dass ihnen nicht vorgeschrieben wird, wie sie ihr
Kind zu betreuen haben. Vielmehr geht es darum, dass es
diese Freiheit aktuell gar nicht gibt. Für diejenigen, die
ihr Kind betreut wissen wollen, gibt es deutschlandweit
noch nicht die qualitativ hochwertigen Angebote, die wir
dringend benötigen.
Was auch gestern Abend im Haushaltsausschuss zur
Sprache gekommen ist, ist die Frage der Gerechtigkeit.
Es ist nämlich sehr wohl so – auch dazu sollten Sie Stel-
lung beziehen –, dass die gutverdienende Familie, die
eine Nanny oder ein Au-pair-Mädchen beschäftigen
kann, nach Ihren Vorstellungen die 150 Euro erhalten
soll, dass aber die Krankenschwester, die von ihrem Ar-
beitgeber dringend gebraucht und nach der Babypause
an ihren Arbeitsplatz zurückgerufen wird – und sei es
nur in Teilzeit –, das Betreuungsgeld nicht in Anspruch
nehmen kann, wenn sie auch nur einen oder zwei Tage
pro Woche eine öffentliche Betreuung in Anspruch neh-
men muss, um den Wiedereinstieg in den Beruf zu schaf-
fen.
Was noch hinzukommt, ist, dass bei den Langzeitar-
beitslosen – 40 Prozent von ihnen sind Alleinerziehende –,
die im ländlichen Raum wohnen und die wegen man-
gelnder Mobilität oder mangelnder finanzieller Mittel ihr
Kind nicht in einer Krippe oder einer Kita unterbekom-
men, das Betreuungsgeld voll verrechnet wird. Finden
Sie das gerecht?
Frau Kollegin, bei großzügiger Zeitbemessung ist diefür eine Kurzintervention vorgesehene Zeit ausge-schöpft.
Für eine kurze Beantwortung bitte ich die Ministerin.Sie war ja direkt angesprochen.Dr. Kristina Schröder, Bundesministerin für Fami-lie, Senioren, Frauen und Jugend:Frau Kollegin, ich bedanke mich für Ihre ausführli-chen Ausführungen. Ich gehe jetzt einmal auf die Punkteein, über die wir noch nicht gesprochen haben.
Erstens. Sie haben die Frage des Bedarfs an Kitaplät-zen angesprochen.
Sie sind hierbei von veralteten Zahlen ausgegangen; Siehaben die 35 Prozent aus dem Jahr 2007 wiedergegeben.Schon seit Monaten ist vollkommen klar – ich habe dasin meiner Pressekonferenz gesagt; ich habe das auchgestern Abend im Haushaltsausschuss gesagt –: Wirwerden einen Bedarf von 39 Prozent haben.In Zahlen bedeutet das: Im Jahr 2007 gingen wir voneinem Bedarf von 750 000 Plätzen aus; in Wahrheit wer-den wir einen Bedarf von 780 000 Plätzen haben. Es gibtalso ein Delta von 30 000 Plätzen. Diese 30 000 Plätzewerden und können wir exakt mit den 580 MillionenEuro für die Investitionskosten und 75 Millionen Eurofür die Betriebskosten finanzieren, die wir am Sonntagbeschlossen haben. Insofern ist vollkommen klar: DerBund hält sich an seine Zusagen und steht zu dem, waser 2007 vereinbart hat. Das sollten auch die Länder tun;dann werden wir den Kitaausbau packen.
Zweitens. Die Finanzierung des Betreuungsgeldes istein Projekt der gesamten Koalition; entsprechend wirdauch die gesamte Koalition diese Finanzierung sicher-stellen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22325
Bundesministerin Dr. Kristina Schröder
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Mit Sicherheit wird es nicht möglich sein – das werdeich auch nicht zulassen –, dass eine Finanzierung ausmeinem Etat erfolgt.Drittens. Ich konnte Ihnen nicht hundertprozentig fol-gen, aber Sie sprachen von einer „Verrechnung mit demElterngeld“, und dabei gäbe es eine Ungerechtigkeit,weil einige Mütter das gar nicht in Anspruch nehmenkönnten.Ich möchte noch einmal die Grundlogik darlegen:Alle Eltern mit ein- oder zweijährigen Kindern haben ei-nen Anspruch auf staatliche Unterstützung bei der Be-treuung der Kinder. Das ist etwas Neues. Das gab es inDeutschland so bisher noch nicht. Bis vor wenigen Jah-ren gab es das Erziehungsgeld für diejenigen, die einenbesonderen Unterstützungsbedarf hatten. Bisher hat derStaat gesagt, für die anderen Familien mit unter dreijäh-rigen Kindern sieht er keine Aufgabe. Das hat der Staatgeändert. Der Staat sagt jetzt, er hält es für seine Pflicht,diese Familien zu unterstützen.
Er möchte aber den Familien die Wahl lassen zwischeneiner Sach- und einer Barleistung. Diese Wahl kann jedeFamilie treffen. Das ist die Vollendung des Gedankens,dass Wahlfreiheit für die Familien bestehen soll undeben nicht irgendwelche Vorschriften gemacht oder et-was auch nur nahegelegt würde.Sie selbst haben gestern Abend im Haushaltsaus-schuss gesagt, Sie wünschen sich, dass möglichst alleKinder in die Kita gehen.
Ich sage Ihnen: Ich habe kein solches Leitbild für die Fa-milie, sondern ich möchte, dass die Familien selbst da-rüber entscheiden können.
Das Wort hat nun der Kollege Sönke Rix für die SPD-
Fraktion.
Vielen Dank, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnenund Kollegen! Zunächst einmal zu dem Letzten, das Sie,Frau Ministerin, eben angesprochen haben, der Frage derGerechtigkeit und der Wahlfreiheit. Die Frage der Ge-rechtigkeit stellt sich ja schon dann, wenn es darum geht:Wer soll das Betreuungsgeld bekommen? Sie sagen im-mer: Es soll eine Zahlung für diejenigen sein, die sichdafür entscheiden, ihre Kinder zu Hause zu erziehen. Esist also eine Anerkennung der Erziehungsleistung; dasist von den Rednern der Koalition zumindest so gesagtworden.
Wenn das so ist, dann frage ich mich, warum Eltern imHartz-IV-Bezug das Betreuungsgeld nicht bekommensollen.
Das ist und bleibt eine große Ungerechtigkeit.
Das Zweite: Sie sprechen immer davon, das Betreu-ungsgeld soll ein Bonus für diejenigen sein – Sie redenvon Wahlfreiheit –, die sich dagegen entscheiden, ihreEltern, ihre Kinder – die Eltern kann man manchmalauch besser zur Krippe bringen –
zur Krippe bzw. in die Kindertagesstätte zu bringen.Gleichzeitig sagen Sie, dass auch jene Eltern das Betreu-ungsgeld erhalten sollen, die ihre Kinder zu Hause vonDritten oder Vierten betreuen lassen, also nicht nur in-nerhalb der Familie, von der Großmutter, von älterenGeschwistern oder von wem auch immer – da sage ich:Okay, das würde in Ihr System, das ich nicht teile, pas-sen –, sondern auch dann, wenn sie die Kinder durchKindermädchen, Au-pair-Mädchen, Nachbarn oder inSelbsthilfeprojekten betreuen lassen. Das passt nicht zuIhrem Argument, dass das Betreuungsgeld der Wahlfrei-heit und der Gleichstellung der Familienbilder dient. Dasist einfach nicht so; Sie schaffen damit keine einheitlicheArgumentationslinie, Frau Ministerin.
Vielleicht diskutieren wir das Thema Betreuungsgelddeshalb so intensiv, mit vielen Zwischenrufen und mehrZwischenfragen, als sie sonst zugelassen werden, weil esuns alle betrifft; denn wir alle kommen aus Familien, wiralle haben unsere Wertvorstellungen dazu, wie wir dieFamilie sehen. Frau Ministerin, ich gebe Ihnen ja recht,wenn Sie sagen: Jeder soll selbst entscheiden, wie erseine Familie zu Hause organisiert. – Aber unsere Auf-gabe ist es, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dassjede Familie es auch so entscheiden kann, dass es funk-tioniert. Das tun wir aber nicht genügend, weil wir alsStaat nicht genügend Krippenplätze zur Verfügung stel-len. Es kann daher nicht jede Familie das so organisie-ren, wie sie das will. Deshalb passt das nicht zu IhremArgument, dass das Betreuungsgeld gerade das aufhebenwürde.
Mit der Einführung des Betreuungsgeldes begehenSie einen Systembruch; Sie begehen ihn. Während derGroßen Koalition gab es hier im Hause einen breiten
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Sönke Rix
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Konsens darüber, dass Krippenplätze ausgebaut werdensollen. An diesem Konsens zweifelt angeblich ja auchniemand. Aber Sie schaffen jetzt ein neues Instrumentund verlassen damit den breiten gesellschaftlichen Kon-sens; denn Sie belohnen nun diejenigen, die eine staatli-che Leistung, die wir alle gemeinsam gut finden, nicht inAnspruch nehmen. Das ist ein Systembruch. Das gibt esin keinem anderen Bereich. Das passt einfach nicht insübrige System.
Vorhin wurde ja ausgeführt: Die Zurverfügungstel-lung von Kitaplätzen ist eine staatliche Leistung; wir för-dern damit die Familien. – Richtig! Aber wir förderndurch den Straßenausbau auch die Autofahrerinnen undAutofahrer. Was zahlen wir eigentlich denjenigen, diekein Auto fahren? Was zahlen wir denjenigen, die keineBibliothek in Anspruch nehmen?
– Ja, natürlich, so ist es! Das wollen Sie nur nicht wahr-haben. Sie belohnen diejenigen, die eine staatliche Leis-tung nicht in Anspruch nehmen. Nennen Sie mir einenFall, bei dem wir das auch tun!
– Mit Steuergeldern! Und das mit einer nicht gegenfi-nanzierten Lösung, bei 1,2 Milliarden Euro, die bis heutenoch nicht gedeckt sind, die vielleicht Sie, HerrRamsauer, aus den Mitteln Ihres Haushalts mit bezahlenmüssen. Diese 1,2 Milliarden Euro könnten wir viel bes-ser, wenn wir das Geld im Haushalt zusammenbekämen,in den Ausbau von Krippenplätzen stecken. Da wäre dasGeld sinnvoll verwendet.
Sie kritisieren, dass wir das Betreuungsgeld als Fern-halteprämie bezeichnen. Sie sagen, das sei keine Fern-halteprämie und wir würden damit diejenigen disqualifi-zieren, die ihre Kinder in den ersten Jahren zu Hauseerziehen und bilden wollen. Alle Studien sagen: Natür-lich passiert das auch zu Hause. – Ich würde niemals dieErziehungsleistung in einer Kindertagesstätte und dieErziehungsleistung von Familien gegenüberstellen.
Wenn, dann ergänzen sie sich immer. Die Studien, diedas kritisieren, beziehen sich nicht auf alle Familien,sondern auf bildungsschwache Familien, und hier ist inder Tat zu fragen, ob das Betreuungsgeld bei diesen Fa-milien nicht doch eine Fernhalteprämie ist. Dieses Argu-ment haben Sie immer noch nicht aus dem Weg geräumt.Gerade diese Familien haben Unterstützung nötig. Hiergibt es den Bedarf dafür, die frühkindliche Bildung sofrüh wie möglich in Anspruch zu nehmen. Darauf gehenSie nicht ein.
Es wurde schon gesagt: Sie sollten endlich vom totenPferd absteigen. All das, was die Koalition an dieAdresse der Opposition gerichtet hat, die angeblich nurideologische Argumente hat, zielte im Grunde auch indie eigenen Reihen. Diese Argumente wurden nämlichauch von der Frauen-Union, von Frau von der Leyen,Frau Laurischk, Frau Gruß und vielen anderen vorge-bracht. Sie reden immer davon, wir diffamierten dieje-nigen, die das Betreuungsgeld unterstützen – Sie diffa-mieren ja Ihre eigenen Leute; denn die Argumente„Fernhalteprämie“ und „bildungspolitische Katastrophe“werden ja auch von Ihren eigenen Leuten vorgebracht.Also überlegen Sie es sich gut, wenn Sie von einem„vernünftigen Politikstil“ sprechen. Machen Sie eine an-ständige Politik, und steigen Sie vom toten Gaul ab!
Für die FDP-Fraktion erhält nun die Kollegin
Laurischk das Wort.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Ich freuemich, dass wir heute eine geordnete Debatte über einzweifellos kontroverses Thema führen. Das sah in derletzten Sitzungswoche noch durchaus anders aus: Dablieb die Opposition draußen vor der Tür.
Wir hatten schon die Sorge, dass Sie das Thema garnicht diskutieren wollen. Aber wie wir heute sehen: Esist eine durchaus engagierte und, wie ich finde, auchniveauvolle Diskussion, die den Menschen im Landzeigt, dass wir die Themen, die wir uns setzen, auchernst nehmen.Wir müssen eines sehen: Aufgrund eines Beschlussesder Großen Koalition, von Schwarz-Rot, ist das Betreu-ungsgeld in die Welt gekommen. Das war nicht dasThema der FDP. Mir zeigt das, dass große Koalitioneneher nicht zu guten Ergebnissen kommen.
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Die schwarz-gelbe Koalition sucht jetzt eine gute Lö-sung. Deswegen führen wir diese Diskussion.
Wir haben einfach Fragen zu klären, und dazu dientdie parlamentarische Debatte. Ich habe darauf hingewie-sen, dass ich Zweifel an der Verfassungsgemäßheit habe,nämlich ob der Bund überhaupt zuständig ist, ob dasProblem der konkurrierenden Gesetzgebung richtig be-dacht worden ist.
Das sind Fragen, die wir in der weiteren Debatte klärenmüssen. Dazu werden wir auch eine Anhörung durch-führen.Es gibt noch weitere Fragen, die offen sind. Wir ha-ben beispielsweise gesagt – dieser Vorschlag steht imKoalitionsvertrag –, dass das Betreuungsgeld über einGutscheinmodell zielgenauer verteilt werden könnte.Auch hier gibt es sicherlich noch Klärungsmöglichkei-ten. Ich persönlich bin der Auffassung, dass wir, wennwir Geld in Familien mit ganz kleinen Kindern gebenwollen, sehr stark darauf achten müssen, dass die Kindersprachfähig werden, dass sie die deutsche Sprache gutund sicher lernen.
Viele Schulen haben das Problem, dass viele Kinder indieser Hinsicht eine viel zu schmale Grundlage mitbrin-gen. Das ist ein sachlicher, ein fachlicher Grund. Auchsolche Fragen werden wir klären.
Wir haben aber auch ein gesellschaftspolitisches Pro-blem, das in dieser Debatte meiner Ansicht nach bisherüberhaupt nicht zum Tragen gekommen ist: Wir haben inDeutschland zu wenig Kinder. Zu wenige entschließensich, Kinder zu haben, eine Familie zu gründen. Das hateinen Grund: Immer weniger Frauen entschließen sichfür eine Familie, für ein Kind, weil sie dann eine Kar-rierechance verpassen. Es ist ganz klar, dass sich Frauendiese Frage stellen. Mittlerweile sind Frauen in Deutsch-land gut ausgebildet und wollen beides: Wir wollen zumeinen Familie und Kinder, und wir wollen zum andereneinen Beruf.
Entsprechend brauchen wir in dieser Hinsicht Unterstüt-zung und den Ausbau einer guten Kinderbetreuung; dasist gar keine Frage.
Das Betreuungsgeld ist, in diesem Kontext betrachtet,nach meinem Dafürhalten ein wenig überzeugendes Ta-schengeld, das an dieser grundsätzlichen gesellschafts-politischen Fragestellung nichts ändern wird. In unsererVerfassung steht der Auftrag, die Gleichstellung vonMann und Frau zu fördern. Das Betreuungsgeld wirdvorzugsweise die Situation fördern, dass Frauen zuHause bleiben. Vielleicht sollten wir gerade auch in An-betracht des eher konservativen Denkens, das hinter demBetreuungsgeld steht, nach dem eher die Frauen zuHause bleiben, einmal Folgendes überlegen: Ist es füreine moderne Gesellschaft nicht auch sinnvoll, dassVäter zu Hause bleiben?
Können wir die Gleichstellung vielleicht sogar mit demBetreuungsgeld fördern, indem ganz gezielt Väter längerals nur zwei Elternmonate während des Bezugs von El-terngeld zu Hause bleiben?
Ich glaube, dann würde sich die Frage, ob wir das Be-treuungsgeld wirklich wollen, auf eine ganz neue Artund Weise stellen.Ich danke Ihnen.
Letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt ist der
Kollege Dr. Peter Tauber.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen! MeineHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir redenwieder über das Betreuungsgeld. Ich finde es – das mussich ganz ehrlich sagen – gut, dass die Opposition das Be-treuungsgeld so klar und deutlich ablehnt, und zwar auseinem Grund: Damit ist die Frage, was diese Seite desHohen Hauses für die Familien tut, die ihre Kinder imAlter von 16 oder 21 Monaten zu Hause oder in der Fa-milie erziehen, leicht zu beantworten: Sie tun für diesejungen Familien nichts.
Es ist sogar noch schlimmer. Wenn es bei der bloßenAblehnung bleiben würde, könnte man noch sagen: Gut,das ist ein ganz normaler politischer Streit um den richti-gen Weg, und da haben wir halt unterschiedliche Auffas-sungen. – Aber die Art und Weise, wie Sie das Betreu-ungsgeld ablehnen, ist eine Stigmatisierung und vorallem eine Diffamierung junger Familien, die man sonicht stehen lassen kann.
Wir tun genau das Gegenteil. Wir diskutieren – durch-aus auch kontrovers – darüber, wie ein Betreuungsgeld
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22328 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Peter Tauber
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ausgestaltet sein kann, damit es ankommt und funktio-niert. Man muss die Frage beantworten: Was ist bei Teil-zeitbeschäftigung? Man muss die Frage beantworten:Was machen wir mit jungen Familien, wenn die Elternnoch in der Ausbildung oder im Studium sind? Habenauch diese Familien einen Anspruch auf das Betreuungs-geld? Über diese Fragen diskutieren wir. Das ist zugege-benermaßen komplizierter, als sich einfach hinzustellen,Nein zu sagen und diejenigen zu beschimpfen, die einFamilienmodell leben, das nicht Ihrem Idealbild ent-spricht. Das muss man an dieser Stelle sehr deutlichsagen.
– Doch, Sie haben ein Idealbild. – Sie verraten sich jaselbst. Ihr Antrag mit dem Titel „Kita-Ausbau statt Be-treuungsgeld“, über den wir hier auch diskutieren, gibteine klare Präferenz vor; er zeigt, was junge Familien indiesem Land Ihrer Meinung nach zu tun haben.
Wir machen genau das Gegenteil. Wir sagen: Krip-penausbau und Betreuungsgeld. Diesen Weg will dieKoalition gehen.
Wir wollen beides, und deswegen machen wir beides– die Ministerin hat es erklärt –: Wir geben mehr Geldfür den Ausbau der Krippenplätze,
und wir überlegen, wie wir die Eltern unterstützen kön-nen, die einen anderen Weg wählen und ihre Kinder inden ersten drei Lebensjahren selbst begleiten. An dieserStelle von einer bildungspolitischen Katastrophe zusprechen
– Sie wiederholen das hier immer –, ist nicht in Ord-nung.
Auch an anderer Stelle stecken Sie Eltern pauschal ineine Kategorie, in eine Schublade; das ist der völlig fal-sche Weg. Sie entlarven sich damit selbst.
– Frau Marks, Sie haben in der letzten Debatte 41-maldazwischengerufen; ich habe im Protokoll nachgezählt.Eigentlich hätte man das Ihrer Fraktion von der Redezeitabziehen müssen.
Heute einmal. – Sie haben eine Steigerung, die atem-beraubend ist. Deswegen bin ich auch etwas sprachlos.
Das ändert aber nichts an der Tatsache, Frau Kollegin,dass der zentrale Unterschied zwischen Ihnen und unsist: Wir trauen sowohl Eltern etwas zu
als auch Erzieherinnen und Erziehern. Wir spielen indieser Debatte nicht beide gegeneinander aus.
Wir unterliegen auch nicht dem Trugschluss, dem Sieimmer wieder das Wort reden, dass ein Kind, vielleichtaus schwierigen sozialen Verhältnissen, nur in eineKrippe zu kommen braucht, und alles wird gut.
So funktioniert das nicht. Ein Kind braucht immer bei-des: Es braucht auf der einen Seite die Herzenswärmeund Liebe der Eltern – die kann auch eine noch so guteBetreuung nie ersetzen –, und es braucht auf der anderenSeite spätestens ab dem dritten Lebensjahr ein gutesKindergartenangebot, damit es Startchancen hat, damitauf dem Weg in die Schule bildungsmäßig an der Stelleetwas getan werden kann, an der Defizite gibt. Aber dashat nichts mit den ersten drei Lebensjahren zu tun, überdie wir hier reden.Uns zu unterstellen, wir seien dagegen, dass Kinder inden Kindergarten gehen, ist genau das, was in dieser De-batte für eine Schärfe sorgt, die nicht guttut.Moderne Familienpolitik hat für uns drei Säulen: ers-tens das Elterngeld, damit sich Väter und Mütter in denersten Lebensmonaten dafür entscheiden können, zuHause zu bleiben, zweitens der Ausbau der Krippen-plätze, für den wir noch mehr Geld zur Verfügung stel-len, und drittens das Betreuungsgeld.Der grüne Oberbürgermeister von Darmstadt hat vorkurzem auf einem Landesparteitag der CDU, auf dem ergesprochen hat, weil er in Darmstadt stattgefunden hat,erklärt, er sei kein großer Fan des Betreuungsgelds, aberdas Wort „Herdprämie“ komme ihm nie über die Lippen,
weil es eine Diffamierung der jungen Eltern sei, die sichdafür entschieden hätten, ihre Kinder selbst zu erziehen.Daran sollten Sie vielleicht einmal denken.
Zum Abschluss würde ich Ihnen gern ein kurzes Zitateiner Mutter vorlesen, die mir geschrieben hat. Ich lesedas nicht aus dem Grund vor, weil diese Mutter für dasBetreuungsgeld ist. Das wäre zu leicht; ich könnte auch
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Dr. Peter Tauber
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zehn Briefe von Müttern vorlesen, die gegen das Betreu-ungsgeld sind; die habe ich auch. Ich will Ihnen das Zitataus einem anderen Grund nicht vorenthalten. Sie hat mirgeschrieben:Ich bin der Meinung, dass Kinderbetreuung in einerKita für ganz kleine Kinder gerade für Frauen, diearbeiten müssen oder alleinerziehend sind, sehrwichtig ist. Sehr schade ist aber, dass das Familien-leben und die Familienarbeit bei uns so wenigWertschätzung hat. Der Begriff „Herdprämie“ istfür jeden, der sich die Zeit für die Kindererziehungnimmt, ein Schlag ins Gesicht. Frauen wie ich sindmittlerweile ganz still geworden. In unserem Landfehlt Respekt und Toleranz, ein bisschen leben undleben lassen.
Herr Kollege.
Wenn Ihre Art, diese Debatte zu führen, dazu führt,
dass Mütter und Väter, die die Betreuung selbst überneh-
men, so denken und so empfinden, dann ist allein das ein
Grund, für das Betreuungsgeld zu stimmen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlagen auf
den Drucksachen 17/9917, 17/9572, 17/9582 und 17/9929
an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse
vorgeschlagen. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist
der Fall. Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 4 a und b auf:
a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana Golze,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIE
LINKE
Statistische Ermittlung des Einsatzes von
Werkverträgen und Leiharbeit in Unterneh-
men
– Drucksache 17/9980 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
b) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten Jutta
Krellmann, Sabine Zimmermann, Diana
Golze, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion DIE LINKE
Missbrauch von Werkverträgen verhin-
dern – Lohndumping eindämmen
– zu dem Antrag der Abgeordneten Beate
Müller-Gemmeke, Dr. Wolfgang Strengmann-
Kuhn, Markus Kurth, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-
NEN
Leiharbeit und Werkverträge abgrenzen –
Kontrollen verstärken
– Drucksachen 17/7220 , 17/7482, 17/9473 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Kramme
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung sind auch
für diese Aussprache 90 Minuten vorgesehen. Nur nach-
richtlich teile ich mit: Für die gerade stattgefundene De-
batte haben wir mehr als die vereinbarte Zeit tatsächlich
in Anspruch genommen. – Ich höre keinen Widerspruch,
sodass wir damit auch diese Zeitvereinbarung so be-
schlossen haben.
Ich eröffne die Aussprache und erteile zunächst der
Kollegin Jutta Krellmann für die Fraktion Die Linke das
Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Was haben die Firmen Rossmann, BMW,Kaufland, Ikea und der Paketdienst GLS gemeinsam?Ich kann es Ihnen sagen: Sie alle haben neben ihren festangestellten Beschäftigten Werkvertragsbeschäftigte alsbillige Alternative. Wir reden hier nicht von Einzelfäl-len. Aber wie viele Werkvertragsbeschäftigte es gibt,kann uns selbst Frau von der Leyen nicht mitteilen.Würde sie sich des Problems annehmen, könnten wirendlich über nachprüfbare Zahlen reden.Meine Damen und Herren, schauen wir doch einmalzurück: Es ist jetzt zwei Jahre her, dass wir in diesemHaus über das Ende des Lohndumpings in der Leiharbeitgestritten haben. Im Mittelpunkt stand die Forderung:Gleicher Lohn für gleiche Arbeit. Herausgekommen isteine halbherzige Verbesserung. Gleichen Lohn für glei-che Arbeit gibt es für die circa 1 Million Leiharbeitsbe-schäftigten noch immer nicht. Bei Werkverträgen geht esum nichts anderes. Hier läuft das gleiche miese Spiel,nur mit anderem Namen und teilweise noch eine Num-mer schärfer als bei der Leiharbeit.Werkvertragsbeschäftigte zählen wie Leiharbeitsbe-schäftigte zur Randbelegschaft im Betrieb. Sie verdienensowieso weniger als ihre Kolleginnen und Kollegen imStammbetrieb und oftmals noch weniger als Leiharbeits-beschäftigte. Nachdem Leiharbeit zu Recht den schlech-ten Ruf einer Lohndumpingbranche bekommen hat, ge-hen nun immer mehr Unternehmen dazu über, gleich denganzen Tätigkeitsbereich an eine Werkvertragsfirmaauszugliedern. Verbreitung findet das Modell Werkver-
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22330 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Jutta Krellmann
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träge in der ganzen Republik. Es ist nicht nur in wenigerqualifizierten Bereichen zu finden; auch Ingenieure, diein der Forschung bei großen Automobilkonzernen arbei-ten, betrifft die Ausgliederung in Werkvertragsfirmen –auch hier natürlich zu weniger Lohn und ohne Sonder-leistungen.Wie das System funktioniert, will ich Ihnen am Bei-spiel der Firma Rossmann, eines Drogeriediscounters,den Sie alle sicherlich kennen, deutlich machen. LautHandelsblatt vom 15. Mai 2012 werden Werkverträgeund Leiharbeit bei Rossmann genutzt, um Kassentätig-keit, Regaleinräumung und Inventur zu erledigen. BeimRegaleinräumen sinkt der Verdienst von 9,86 Euro lautVerdi-Tarifvertrag des Einzelhandels in Niedersachsenauf 6,63 Euro laut Tarifvertrag des Deutschen Handels-gehilfen-Verbandes West. Das ist ein Minus von sageund schreibe 33 Prozent. An der Kasse wird ebenfallsnicht mehr nach Verdi-Tarifvertrag bezahlt, sondernnach dem grottenschlechten Leiharbeitstarif. Bei der In-ventur wird auf der Grundlage eines polnischen Tarifver-trages entlohnt, da die beauftragte Werkvertragsfirmaeine polnische Firma ist. In diesem Betrieb gibt es alsodrei Formen der Ausnutzung der aktuellen Gesetze, unddas gegen die Interessen der Beschäftigten.Das System Rossmann hört hier aber noch nicht auf.Rossmann verdient doppelt: sowohl am gesparten Ent-gelt als auch an den Gewinnen der Werkvertrags- undLeiharbeitsfirmen. Die Regaleinräumerfirma instore so-lutions services gehört Rossmann zu 49 Prozent. Die in-store solutions personnel GmbH, die Leiharbeitsfirmafür die Kasse, gehört Rossmann zu 22,5 Prozent. Diepolnische Inventurfirma Invent gehört der genanntenRossmanntochter instore solutions services zu 49 Pro-zent.Meine Damen und Herren, an diesem Beispiel kannman erkennen, wie Leiharbeit und Werkverträge Hand inHand gehen, und zwar gegen die Interessen der Beschäf-tigten. Gute Arbeit und Entlohnungsbedingungen wer-den zum Auslaufmodell. Die Bundesregierung bzw. Frauvon der Leyen weigern sich, diese Realität anzuerken-nen. Vor fast genau einem Jahr haben wir die Bundesre-gierung und Frau von der Leyen zu Werkverträgen be-fragt. Die Antwort war ernüchternd. Sie sieht keinenHandlungsbedarf, sie weiß nicht, wie viele Menschenüber Werkverträge beschäftigt werden und zu welchenBedingungen sie beschäftigt werden, und sie will esauch nicht herausfinden. Ich sage Ihnen: Es ist an derZeit, das Schlupfloch Werkverträge zu schließen.
Die Linke hat dafür gute Vorschläge vorgelegt. Ers-tens wollen wir das Prinzip „Gleicher Lohn für gleicheArbeit“ zur Regel machen, wenn es sich um eine Aus-gliederung auf Werkvertragsbasis handelt. Eine Aus-nahme von dieser Regel ist die gelegentliche Vergabevon Aufträgen, zum Beispiel an Handwerksfirmen, diefür Reparaturarbeiten in einen Betrieb gerufen werdenmüssen.Zweitens muss als Werkvertrag getarnte Leiharbeitschärfer reguliert werden. Bei Scheinwerkverträgenmüssen das auftraggebende und das auftragnehmendeUnternehmen bei Verdacht nachweisen, dass ein Werk-vertrag gegeben ist. Gelingt das nicht, hat das eine Fest-einstellung der betroffenen Beschäftigten beim Auf-tragsunternehmen zur Folge.Drittens fordert die Linke eine stärkere Mitbestim-mung der Betriebsräte bei der Vergabe von Werkverträ-gen.Mit unseren Vorschlägen wäre dem Missbrauch derWerkverträge als neue Form des Lohndumpings einEnde gesetzt.
Deswegen bitte ich Sie um Zustimmung zu unseren An-trägen.Vielen Dank.
Das Wort hat jetzt der Kollege Ulrich Lange von der
CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Statt über das reine Thema Zeitarbeit sprechen wir heuteüber die Abgrenzung von Werkverträgen und Zeitarbeit.Kollegin Krellmann, lassen Sie mich, bevor wir dasGanze hier emotional debattieren oder emotionalisieren,zunächst in einem kleinen juristischen Exkurs erklären,was Werkverträge sind
und worum es sich bei der Zeitarbeit handelt.
– Bei der Zeitarbeit, liebe Kollegin Krellmann.Bei einem Werkvertrag verpflichtet sich der Werkun-ternehmer, ein bestimmtes Werk zu erbringen.
Es geht also um eine Werkleistung. Im Gegensatz zurArbeitnehmerüberlassung besteht kein Schuldverhältniszwischen dem Arbeitnehmer, also dem Entliehenen, unddem Werkbesteller, sondern nur hinsichtlich der Herstel-lung oder Veränderung des Werkes bzw. der Sache. DasDirektionsrecht bleibt beim Werkunternehmer und gehtnicht an den Betrieb über.
Der Arbeitnehmer wird also nicht vom Auftraggeber ge-steuert. – Ich bitte Sie also, zunächst einmal zu akzeptie-ren, wie das juristische Konstrukt aussieht, das demGanzen zugrunde liegt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22331
Ulrich Lange
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Unstrittig ist – hier stimmen wir mit den Grünen über-ein, aus deren Antrag ich sogar wörtlich zitieren möchte –:Werkverträge sind unter fairen Bedingungen ein re-gulärer Weg, um beispielsweise die Herstellung ei-nes Produktes oder einer Dienstleistung an externeUnternehmen zu vergeben und so Beschäftigung zuschaffen.Diese Einsicht, liebe Kolleginnen und Kollegen der Grü-nen, zeigt zumindest einen gewissen wirtschaftlichenDurchblick und einen Durchblick für Zusammenhänge.Die Schlussfolgerungen sind in unseren Augen aller-dings Denkfehler.Eines kann mit Sicherheit nicht sein – denken Sie anmeine juristischen Vorformulierungen von vorhin –,nämlich dass Mitwirkungsrechte des Betriebsrates in dasWerkunternehmen hinein zugelassen werden, wie Siedas wollen. Das ist systemwidrig; das gibt das Systemschlicht und ergreifend nicht her.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, Siebegründen Ihren Antrag damit, dass es eine hohe Zu-nahme des Missbrauchs gibt.
Dann verifizieren und beweisen Sie das. Es gilt hiernämlich keine Beweislastumkehr; wenn ich einen An-trag stelle, dann muss ich ihn begründen und die Anga-ben darin beweisen.
Sie können hier nicht irgendwelche Beispiele bringen,die Sie vom Hörensagen kennen. Es gibt keine Verifizie-rung Ihrer Aussagen. Das alles sind Vermutungen.Dass Missbrauch nicht ausgeschlossen ist, ist eineTatsache, die es im Rechtsleben überall gibt; denn im-mer, wenn es ein Gesetz gibt, kann man natürlich aucheine Missbrauchsregelung finden.
Gegen diesen Missbrauch sind die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer aber nicht schutzlos. Wir haben Ge-richte, die sehr sensibel mit diesem Thema umgehen. Esgibt Rechtsprechungen, die sehr wohl zwischen Zeitar-beit und Werkverträgen unterscheiden mit den wesentli-chen Kriterien „Eingliederung in den Beschäftigungsbe-trieb“ und „Weisungsrecht“. Dabei – so sieht es dasBundesarbeitsgericht – ist eine umfassende Würdigungder Begleitumstände vorzunehmen: Aufsicht über dieFremdfirmenarbeiter, Gestaltung von Werkzeugen undMaterial. Wie ist die materielle Ausstattung? Welchenanderen Geschäftszweck kann ich hier noch erkennen? –Das BAG unterscheidet zwischen den vertraglichenWeisungen, die gegenständlich begrenzt sind, und denarbeitsvertraglichen Weisungen. Wenn ich diese Abgren-zungskriterien nehme und den Arbeitseinsatz daruntersubsumiere, dann kommt es auf den konkreten Einzelfallan, ob ich Zeitarbeit, illegale Zeitarbeit oder einen Werk-vertrag habe. Dafür haben wir heute ausreichende Rege-lungen.
Diese Abgrenzungskriterien sind auch praxistauglich,wie sich in den letzten Jahren gezeigt hat. Ohne zusätzli-che Bürokratie für die Arbeitgeber schaffen zu müssen,gelingt es uns, Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer zuschützen.Die Rechtsprechung akzeptiert nicht die rechtsmiss-bräuchliche Anwendung von Werkverträgen, liebe Kol-legin Krellmann. Was Sie uns glauben machen möchten,ist, dass hier grundsätzlich ein Rechtsmissbrauch vor-liegt. Das ist ausweislich nicht der Fall.
Deswegen sehen wir wie die Mehrheit der Sachverstän-digen derzeit keinen Bedarf, hier gesetzlich tätig zu wer-den.
Ich habe bereits in meiner letzten Rede gesagt: Es gibthier geradezu ein reflexartiges Rufen nach immer mehrGesetzen, nach immer mehr Verordnungen und damitam Ende nach immer mehr Bürokratie,
aus der Vermutung heraus, der böse Arbeitgeber handelegegen den Arbeitnehmer. Hier gibt es aber ein Miteinan-der, das in diesem Lande sehr gut funktioniert. Sie for-dern nun in Ihrem Antrag, die Beweislast dem Arbeit-geber aufzuerlegen. Das ist nicht korrekt, liebeKolleginnen und Kollegen.
Was die Linken angeht, möchte ich auf die weiterenPunkte nicht eingehen. Sie zeigen einmal mehr, dass sieletztlich ein Abrücken von unserer sozialen Marktwirt-schaft wollen,
dass sie nicht bereit sind, unternehmerische Freiheit zuakzeptieren. Die unternehmerische Freiheit ist Grund-lage unseres Wirtschaftssystems; sie hat dieses Landgroß und stark gemacht.
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Ulrich Lange
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Ich möchte jetzt nicht auf einzelne schwarze Schafeeingehen,
weil wir hier keine Einzelfalldebatte führen. Wir als Ge-setzgeber führen eine Debatte über grundsätzliche ge-setzliche Regelungen.
Herr Kollege Lange, sind Sie bereit, eine Zwischen-
frage der Kollegin Zimmermann zuzulassen?
Nein. Ich rede heute ohne Unterbrechung.
Worum geht es? Es geht darum, dass wir die Möglich-
keiten unserer arbeitsteiligen Wirtschaft aufrechterhal-
ten. Es gibt Dinge, die spezialisierte Betriebe auch in der
Automobilindustrie zuliefern.
Es gibt Ingenieure, die auch sehr gut bezahlt sind, die ein
einzelner Betrieb nicht vorhalten muss.
– Dann aber ist unsere gesetzliche Regelung ausrei-
chend, lieber Kollege Heil. Dann brauchen wir nichts
neu zu regeln. – Eines stimmt auch nicht, nämlich dass
der, der zuliefert, grundsätzlich schlechter zahlt als der
Betrieb, in dem das hergestellte Werk weiterverarbeitet
und eingesetzt wird.
Sollte eine Arbeitnehmerin bzw. ein Arbeitnehmer schon
heute Bedenken haben, ob das Vertragsverhältnis korrekt
ist, dann brauchen sie kein Aufblähen der Schwarz-
arbeitskontrolle, sondern dann können sie sich an die
Deutsche Rentenversicherung wenden und eine Status-
überprüfung machen lassen,
so wie wir, die in diesem Feld tätig sind, das zigfach je-
des Jahr machen, mit all den rechtlichen Konsequenzen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir halten an einem
bewährten System mit von der Rechtsprechung sauber
entwickelten Abgrenzungskriterien fest, die sich in der
Praxis bewährt haben, die wir juristisch mit Leben gefüllt
haben. Ich vertraue weiterhin auf unsere Gerichte und auf
das, was wir jetzt als gesetzliche Grundlage haben.
Herzlichen Dank.
Als nächstem Redner erteile ich dem Kollegen
Hubertus Heil von der SPD-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Sehr geehrter Herr Kollege Lange, niemand bestrei-tet, dass unternehmerische Freiheit ein konstitutivesMoment einer sozialen Marktwirtschaft ist. Aber Sieverwechseln Freiheit mit der Freiheit, Menschen auszu-beuten. Das unterscheidet uns möglicherweise.
Unternehmerische Freiheit in diesem Land ist wich-tig, Herr Lange, aber soziale Bürgerrechte und Arbeit-nehmerrechte sind genauso wichtig.
Es geht um den Einklang von sozialen Bürgerrechten derArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und unternehme-rischer Freiheit. Es ist nicht die Freiheit der Ausbeutungund Lohndrückerei, die unsere soziale Marktwirtschaftverheißt. Vielmehr sind wir in diesem Land gut damitgefahren, mit einer anderen Tradition zu arbeiten.Der Missbrauch – ich rede von Missbrauch – vonZeit- und Leiharbeit wird mittlerweile öffentlich disku-tiert. Wir kommen hoffentlich irgendwann über denMindestlohn in der Zeit- und Leiharbeit hinaus, den wirIhnen abringen mussten, zu wirksameren Regeln, Stich-wort: gleicher Lohn für gleiche Arbeit zwischen Stamm-belegschaft und Leiharbeitern.
Wir dürfen hier nicht stehen bleiben. Aber wir müssenauch aufpassen, dass die notwendigen Regulierungen indem einen Bereich nicht zu Ausweichreaktionen in an-deren Bereichen führen. Das ist ein bisschen wie beiWasser, das sich immer seinen Weg sucht. Sie verfahrenhier, vor allen Dingen die Ministerin von der Leyen, dieich vorhin kurz gesehen habe, nach dem alten Bild derberühmten drei Affen: nichts sehen, nichts hören, nichtssagen –
ich möchte hinzufügen: vor allen Dingen nichts tun.Sie haben von Beweisen und Beweislast gesprochen.Wir befinden uns hier zwar nicht in einem Strafgerichts-verfahren; aber ich möchte Ihnen juristisch antworten:Nehmen Sie zumindest bestimmte harte Indizien wahr!Wenn auf einer Tagung eines arbeitgeberfinanzierten In-stituts zum Thema Werkverträge von findigen Arbeits-rechtlern Hinweise gegeben werden – ich zitiere –, wie„dem Damoklesschwert des Branchenmindestlohns zuentkommen“ ist und dabei vor allen Dingen auf dieMöglichkeit der Werkverträge verwiesen wird, dann ist
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22333
Hubertus Heil
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das ein hartes Indiz dafür, dass wir in diesem BereichMissbrauch haben. Wenn Sie uns nicht glauben, glaubenSie den Fahndern im Bereich der Kontrolle vonSchwarzarbeit. Es gibt massive Hinweise auf diese Formvon Missbrauch.Ich gebe eines zu: Dieser Bereich – da haben Sie voll-kommen recht – ist nicht öffentlich ausgeleuchtet. Wirkönnten uns aber darauf verständigen, das zu machen.Wer kann das machen? Ich finde, es ist Aufgabe einerBundesministerin für Arbeit und Sozialordnung, Licht indiese dunkle Grauzone zu bringen.
Das ist Ihre Aufgabe. Sie verweigern sich aber an dieserStelle.
Lassen Sie uns zumindest dafür kämpfen, dass esTransparenz gibt. Vielleicht können wir uns darauf eini-gen. Bevor Sie sagen, das sei überhaupt kein Problem,und die Linkspartei dies für das größte Problem der Welthält, sollten wir eine Analyse der Lage vornehmen. Dazumuss die Bundesregierung erst einmal bereit sein, dieDatengrundlage zu schaffen, was sie verweigert. Dannkönnen wir darüber diskutieren, welche Möglichkeitenes gibt, dem Missbrauch – ich betone: Missbrauch – vonWerkverträgen entgegenzuwirken. Sie haben vollkom-men recht: Viele Werkvertragsbeziehungen in unseremWirtschaftsleben sind vollkommen in Ordnung und er-möglichen ein auskömmliches Einkommen. Aber es gibteben auch sehr starke Hinweise auf Missbrauch.Was kann man tun? Wir sollten beispielsweise übereinen gesetzlichen Mindestlohn bei Subunternehmen,die es immer geben wird, reden. Das wäre zumindesteine Möglichkeit, Lohndrückerei bei Ausgliederungenentgegenzuwirken. Auch müssen wir über die Situationvon Soloselbstständigen in diesem Land reden, die nichtsozialversicherungsrechtlich abgesichert sind und des-halb oftmals Opfer von Werkverträgen und von Lohn-drückerei werden. Das sind zwei handfeste Vorschlägedafür, was wir tun können.Unsere Aufforderung an Sie ist, nicht die Augen zuverschließen. Lohndrückerei ist nicht nur eine Katastro-phe für die betroffenen Beschäftigten; das ist sie ohne-hin. Wie entwürdigend ist es denn, wenn man hart arbei-tet, aber am Ende des Tages keinen gerechten Lohnbekommt und dann auch noch erlebt, dass man durchsolche Konstruktionen in der Entlohnung heruntergestuftwird? Wir reden über Menschen, die ohnehin nicht vielverdienen. Deshalb sage ich Ihnen: Wenn Sie über zuviel Leidenschaft in diesem Land klagen, dann fehlen Ih-nen vielleicht das Herz und die Empathie für die betrof-fenen Menschen. Vielleicht ist das Ihr Problem.
Ich finde, Leidenschaft und Verstand müssen sich nichtausschließen; sie gehören zusammen. Es geht auch da-rum, zu erfahren, was Menschen in diesem Bereich erle-ben. Sie können nicht verkennen, dass die Lohndrücke-rei über den Missbrauch von Leih- und Zeitarbeit, aberauch über den Missbrauch von Werkverträgen nicht nurfür die betroffenen Arbeitnehmerinnen und Arbeitneh-mer bitter ist, sondern ökonomisch fatale Folgen in die-sem Land hat.
Wenn wir über wirtschaftlichen Erfolg in Deutschlandreden, müssen wir auch wettbewerbsfähig und export-stark sein. Das ist gar keine Frage. Aber wir müssenauch für Investitionen und vor allem für Kaufkraft amBinnenmarkt sorgen. Lohndrückerei führt dazu, dass wirzwar starke Auswärtsspiele, aber keine starken Heim-spiele haben.Dass wir in diesem Land faire Löhne brauchen, isteine Frage des Anstands gegenüber den betroffenenMenschen. Aber es ist auch volkswirtschaftlich vernünf-tig, für eine ausreichende Kaufkraft in diesem Land zusorgen. Mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen amArbeitsmarkt werden wir dies noch stärker brauchen.Das ist der Grund, warum die SPD-Bundestagsfraktionnicht nur an dieser Stelle, sondern insgesamt eine neueund faire Ordnung am Arbeitsmarkt fordert. Wir müssendas Verhältnis von Flexibilität und Sicherheit am Ar-beitsmarkt neu beleuchten und austarieren. Jede Zeitbraucht ihre Antworten. Das gilt auch beim Missbrauchvon Werkverträgen.Machen Sie die Augen auf! Machen Sie Ihren Job,und verweigern Sie nicht den Blick auf die Realität derMenschen in diesem Land!Herzlichen Dank.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dr. Heinrich Kolb das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirsind praktisch am Ende des ersten Halbjahres 2012 ange-kommen. Die aktuellen Arbeitsmarktdaten zeigen, dasswir uns als Bundesrepublik Deutschland allen Kassan-drarufen zum Trotz in einem schwieriger werdendenkonjunkturellen Umfeld hervorragend behaupten. Daswill ich zunächst einmal feststellen.
Lieber Hubertus Heil, vielen Menschen in unseremLand ist mit einem Arbeitsplatz viel besser geholfen als
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22334 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Heinrich L. Kolb
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mit Reden, wie sie heute Morgen von der Opposition ge-halten werden.
Es ist dieser schwarz-gelben Koalition Gott sei Dankgelungen, die Beschäftigungszahlen auf einen neuenRekordstand hochzufahren.
Hinter diesen Zahlen verbergen sich knapp 1 MillionZeitarbeitnehmer, aber eine ungleich größere Zahl vonArbeitnehmern, die entlang von Zulieferketten in un-serer arbeitsteiligen Wirtschaft beschäftigt sind. DieseZulieferketten wollen Sie, Linke und Grüne, mit IhrenAnträgen heute unter Generalverdacht stellen. Das hal-ten wir für falsch, um das sehr deutlich zu sagen.
Ihre Äußerung, Frau Kollegin Krellmann, Sie hättennichts dagegen, wenn Handwerker gelegentlich ein paarReparaturarbeiten ausführen, zeigt mir, dass Sie von derRealität in unserer Volkswirtschaft keine Ahnung haben.Sie haben die Zulieferhandwerke, die eine wesentlicheSäule des deutschen Handwerks sind, völlig ausgeblen-det. Diese Zulieferhandwerke sind in der Regel nicht nurgelegentlich, sondern in festen Beziehungen für ihreAuftragnehmer tätig. Es wird jedes Mal, wenn ein Auf-trag kommt, neu über den Preis und die Bedingungenverhandelt, aber dann werden diese Aufträge angenom-men. Solche Beziehungen sind über Jahre hinweg stabil.Aber dafür haben Sie offensichtlich kein Ohr. Ich haltedas für fatal, weil es die stärksten Betriebe in Deutsch-land sind, an die Sie die Axt legen wollen.Werkverträge sind nicht nur in der Automobilindus-trie wichtig – in diesem Bereich sind sie vielleicht ambekanntesten; dort gibt es auch die größten Zuliefer-unternehmen –, sondern in jeder Branche. Sie müssendoch sehen, dass Arbeitsteilung auch in komplexen Ar-beitsfolgen da stattfindet, wo es sinnvoll ist, und dasssich jemand spezialisiert,
spezielle Maschinen und spezielles Werkzeug kauft undseine Arbeitnehmer in spezieller Weise ausbildet, um sieeffizient einsetzen zu können.
Es ist völlig richtig, was Kollege Lange gesagt hat: Insolchen Zulieferbetrieben können auch die Werkunter-nehmer ihre Arbeitnehmer in der Regel sehr gut bezah-len, weil sie sich die entsprechenden Wirtschaftlichkeits-potenziale erschließen, was Sie offensichtlich völligausblenden. Aber ich weiß auch, woher das kommt. IhrDenken ist Planwirtschaft pur.
In der DDR gab es keine Werkunternehmer. Dort gab esVEB, die von A bis Z, vom Anfang bis zum Ende, ineiner unglaublichen Fertigungstiefe alles ausgeführthaben. Aber wo das endet oder – besser gesagt – wohinSie damit gekommen sind, haben Sie doch sehr deutlichgesehen.
Das wollen wir nicht. Wir wollen auch künftig eine ar-beitsteilige Volkswirtschaft, in der mithilfe von Werkver-trägen wie in einem Getriebe große und kleine Zahnräderineinandergreifen. So werden Aufträge bestmöglich ab-gewickelt und wird die Wettbewerbsfähigkeit unsererWirtschaft auf internationaler Ebene gewährleistet.
Dort, wo es im Einzelfall möglicherweise zu Miss-brauch kommt,
gibt es bereits heutzutage eine ganze Reihe von Krite-rien, die man heranziehen kann. Aber so wie Sie es inIhren Anträgen formulieren, wird es nicht funktionieren.Es muss unter Berücksichtigung bestimmter Kriterienimmer eine Einzelfallprüfung bzw. Einzelfallentschei-dung erfolgen. Aber nun die FKS loszuschicken und dieWirtschaft sozusagen flächendeckend zu scannen, halteich für falsch. So wie wir es bisher gehandhabt haben,sind wir gut gefahren. Im Einzelfall wird im Rahmeneines Antragsverfahrens der Status eines Arbeitnehmersgeprüft und festgestellt. Daran sollten wir auch inZukunft festhalten.Alles in allem bitte ich Sie sehr herzlich: Lassen Siedie Kirche im Dorf! Wir brauchen die ganze Bandbreitevon Beschäftigungsmöglichkeiten in Deutschland. Ichweiß, lieber Hubertus Heil, dass Ihr Herz an der unbe-fristeten und unendlich mitbestimmten Vollzeitstellehängt; das ist Ihr Ideal. Aber die Realität sieht andersaus. Neben den von Ihnen favorisierten Arbeitsverhält-nissen, die nach wie vor die Mehrzahl der Beschäfti-gungsmöglichkeiten in Deutschland darstellen, tragenTeilzeitarbeit, befristete Beschäftigungsverhältnisse,Zeitarbeit sowie Mini- und Midijobs dazu bei, dass wirso erfolgreich auf dem Arbeitsmarkt sind, wie es dieaktuellen Zahlen widerspiegeln.
Lassen Sie also die Kirche im Dorf! Marschieren Sienicht einfach los, um flächendeckend einen ganzen Wirt-schaftszweig unter Generalverdacht zu stellen! Sie soll-ten mit Augenmaß vorgehen. Wir werden versuchen,Ihnen das in den Beratungen noch etwas näherzubrin-gen.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22335
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Das Wort hat jetzt die Kollegin Beate Müller-Gemmeke von Bündnis 90/Die Grünen.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte FrauMinisterin! Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen! Zuviele Unternehmen nutzen gezielt das Instrument Werk-vertrag, um ihre Lohnkosten zu senken. Das unterstelleich nicht leichtfertig, sondern das ist schlichtweg Reali-tät in Deutschland. Offensichtlich wurde das auch beieinem Kongress zweier bekannter Arbeitsrechtler. Beideerklärten im vergangenen Jahr einer Reihe illustrer Un-ternehmen, wie Leiharbeitstarife durch Werkverträgeumgangen werden können. Schon bei der Begrüßung der130 hochrangigen Teilnehmer aus der deutschen Indu-strie erklärten sie, es gebe eine Chance, den strengenarbeitsrechtlichen Regelungen der Leiharbeit zu entflie-hen. Anschließend wurde gezeigt, wie dies rechtlichwasserdicht möglich ist. So etwas bezeichne ich als kri-senhafte Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt. Es fehlenklare Regelungen und effektive Kontrollen. Die Bundes-regierung aber ignoriert auch dieses Thema ganz nachder altbekannten Devise „Augen zu und durch“.
Rund um die Werkverträge werden also Vorschriftenmissachtet. Arbeitgeber bewegen sich in der Grauzonegeltender Gesetze. Mithilfe von juristischen Beraternwerden vermeintlich legale rechtliche Konstruktionenentwickelt. Mit diesen nutzen sie Werkverträge, um ta-rifliche Standards zu umgehen. Die Folge sindLohndumping und in vielen Fällen schlechtere Arbeits-bedingungen. Das geht zulasten der Sozialversicherungund der Steuereinnahmen und insbesondere zulasten derBeschäftigten. Hier dreht sich das Lohndumpingkarus-sell weiter: vom Missbrauch der Leiharbeit hin zumMissbrauch von Werkverträgen. Die Bundesregierungsollte das endlich zur Kenntnis nehmen.
Die Zahl der Scheinwerkverträge lässt sich nicht ge-nau beziffern. Im Einzelhandel wird geschätzt, dass mitt-lerweile mehr als 100 Fremdfirmen mit 350 000 Be-schäftigten Regale einräumen. In der Fleischindustrie istes inzwischen üblich, dass 80 bis 90 Prozent der Be-schäftigten aus Subunternehmen kommen. Das IAW Tü-bingen schätzt, dass in der Automobilindustrie nur noch23 Prozent des Wertes eines Pkw von den Beschäftigtendes Herstellers und 77 Prozent über Subunternehmen er-zeugt werden. Gleichzeitig rechnen Wissenschaftler miteiner wesentlich höheren Dunkelziffer. Da frage ichmich wirklich: In welcher Welt leben wir eigentlich?Mit Werkverträgen werden der Kündigungsschutz,die betriebliche Mitbestimmung, die tarifliche Bezah-lung und somit der soziale Schutz der Beschäftigten un-terlaufen. Das ist die eine Sache. Ich mache mir aberauch Sorgen, was dies insgesamt für unsere Arbeitsweltbedeutet. Wenn immer mehr Beschäftigte auf der Grund-lage von Werkverträgen auf demselben Betriebsgeländeam selben Produkt arbeiten, dann zersplittern die Beleg-schaften. Kollegialität und innerbetriebliche Solidaritätwerden zerstört. Konkurrenz, Unsicherheit und Miss-trauen entstehen. Das ist schädlich für das Betriebsklimasowie auch für die Motivation und die Identifikation derBeschäftigten mit dem Betrieb.Die gewerkschaftlichen Errungenschaften, die überlange Zeit hart erkämpft wurden, stehen nur noch aufdem Papier. Das schwächt nicht nur die Beschäftigten,sondern auch die Gewerkschaften und die Betriebsräte.Vor allem aber wird mit dem Geschäftsmodell „Werk-verträge“ der jahrzehntealte gesellschaftliche Konsensder Sozialpartnerschaft aufgekündigt. Das können Sie,die Regierungsfraktionen, doch wohl nicht unterstützen.Gesellschaftliche Verantwortung sieht anders aus.
Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, wir Grünenlehnen Werkverträge nicht grundsätzlich ab. WennWerkverträge für fachfremde Aufgaben mit gelegentli-chem Charakter, für Vorprodukte oder spezialisierte Tä-tigkeiten vergeben werden, ist das unbedenklich.
Das sehen wir auch so. Es entspricht einer modernen Ar-beitswelt.Problematisch wird es aber, wenn Stammbelegschaf-ten durch Werkvertragsbeschäftigte ersetzt werden, diedie gleichen Tätigkeiten verrichten, wodurch eine Kon-kurrenzsituation bei Löhnen und Arbeitsbedingungenentsteht. Dann geht es eben nicht mehr um ein „Werk“und schon gar nicht, wenn in tariffreie Zonen und billi-gere Tarifverträge verlagert wird. Für mich ist dasschlichtweg Tarifflucht und Lohndumping. Und für michgilt dann auch nicht der Verweis auf die Vertragsfreiheit.Hier geht es um Scheinwerkverträge, und beimLohndumping hört die unternehmerische Freiheit auf.
Genau deswegen haben wir uns mit der Abgrenzungzwischen Leiharbeit und Werkverträgen beschäftigt. Inunserem Antrag schlagen wir Kriterien vor, wie Schein-werkverträge identifiziert werden können. Das bringtmehr Rechtssicherheit, und die Kriterien sind dann auchdie Grundlage für Kontrollen. Zukünftig sollen auch dieBetriebe – und eben nicht die Beschäftigten – den Nach-weis erbringen, dass ein Werkvertrag und keine ver-deckte Arbeitnehmerüberlassung vorliegt. Vor allemaber soll die Finanzkontrolle Schwarzarbeit auch ohneHinweis prüfen können. Sie muss auch personell aufge-stockt werden. Das Geschäftsmodell „Scheinwerkver-trag“ darf nicht weiter lukrativ sein. Auch hier brauchenwir soziale Leitplanken zum Schutz der Beschäftigten.
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Beate Müller-Gemmeke
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Sehr geehrte Regierungsfraktionen, nehmen Sie sichendlich des Themas an, auch wenn Sie heute unserenAntrag wieder ablehnen. Die Arbeitswelt wird immerunmenschlicher, denn mit Scheinwerkverträgen kannman Menschen gewinnbringend als Sachausgaben ver-buchen. Schließen Sie endlich das gesetzliche Schlupf-loch; denn jegliche Arbeit hat ihren Wert und verdientWertschätzung.Vielen Dank.
Für die CDU/CSU-Fraktion spricht jetzt der Kollege
Peter Weiß.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!
Es ist, finde ich, ganz okay, wenn die Opposition auf
Probleme hinweisen will. Herr Kollege Heil hat aber, an
die Adresse der Regierungsfraktionen gerichtet, vorge-
tragen, dass wir angeblich das Thema „Ausbeutung von
Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern“ nicht im Blick
hätten, dass es an der notwendigen Empathie für die be-
troffenen Menschen fehle
und dass wir Lohndrückerei akzeptieren würden. Meine
sehr geehrten Damen und Herren, das Gedächtnis der
Sozialdemokraten scheint sehr kurz zu sein. Es war die
rot-grüne Koalition unter Schröder, die mit ihrem Gesetz
zur Leiharbeit dem Missbrauch der Leiharbeit Tür und
Tor – das waren riesengroße Scheunentore – geöffnet
hat. Das sind die Fakten.
Es ist diese Koalition aus CDU/CSU und FDP, die mit
dem Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – da geht es um
Leiharbeit – die notwendige Ordnung, die wir in diesem
Land brauchen, wieder hergestellt
und das, was Rot-Grün angerichtet hat, endlich korrigiert
hat.
Herr Kollege Weiß, erlauben Sie eine Zwischenfrage
des Kollegen Heil?
Bitte sehr, Herr Kollege Heil.
Bitte, Herr Heil.
Lieber Herr Weiß, Entschuldigung, dass ich Ihren za-
ckigen Vortrag unterbreche. Ich wollte nur eine Frage
stellen, unabhängig davon, wer was früher gemacht hat
und dass Sie in diesem Bereich noch mehr wollten. Las-
sen Sie uns die Vergangenheit einen kurzen Moment
ausklammern und überlegen, was wir heute und jetzt tun.
Ich habe nur eine Frage: Wann setzen Sie endlich den
Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ in der
Zeit- und Leiharbeit durch? Sind Sie dazu in der Lage?
Ich frage Sie, weil ich weiß, dass Sie persönlich Sym-
pathien dafür haben. Aber wenn ich Teilen Ihrer Koali-
tion, nicht Ihnen persönlich, Empathie an diesem Punkt
abspreche, liegt das einfach daran, dass ich in die Bibel
geschaut habe. Da steht der schöne Satz: An den Früch-
ten sollt ihr sie erkennen. – Ich erlebe, dass Sie für die
Ordnung am Arbeitsmarkt rein gar nichts tun. Wann
kommt Ihr Gesetzentwurf für gleichen Lohn für gleiche
Arbeit in dieses Parlament? Unserer liegt vor. Nennen
Sie mir einfach ein Datum.
Herr Kollege Heil, um Ihrem Gedächtnis auf dieSprünge zu helfen: Wir haben den Missbrauch der Leih-arbeit – Drehtüreffekt à la Schlecker – per Gesetz unter-bunden.
Wir haben das Gesetz aus Ihrer Regierungszeit korri-giert. Wir haben, um Lohndrückerei durch Leiharbeit zuvermeiden, eine Regelung in das Gesetz aufgenommen,
die besagt, dass eine untere Lohngrenze für die Leihar-beit geschaffen werden kann. Seit dem 1. Januar diesesJahres gilt die untere Lohngrenze für die Leiharbeit bun-desweit, im Unterschied zu dem, was Sie ins Gesetz ge-schrieben hatten.
Im Zusammenhang mit der damaligen Diskussion hatdie Bundesministerin für Arbeit und Soziales, Ursulavon der Leyen, angekündigt, dass wir zuerst den Tarif-partnern die Gelegenheit geben wollen, durch Tarifver-träge
für die Leiharbeiter die schrittweise Angleichung derLöhne nach dem Grundsatz „Gleiche Bezahlung wie dieFestangestellten“ zu realisieren,
bevor wir gesetzgeberisch handeln.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22337
Peter Weiß
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– Nein. – Das heißt nicht, dass wir nicht gesetzgeberischhandeln würden, sondern wir freuen uns,
dass die IG Metall
Branchenzuschläge für die Leiharbeit tarifvertraglichvereinbart hat.
Wir freuen uns, dass die IG BCE ebenfalls branchenbe-zogene Zuschläge, bei denen man je nach Monat gestaf-felt mehr verdient, für Leiharbeiter vereinbart hat.
Wir freuen uns, dass der Vorstand von Verdi und derVorstand der NGG beschlossen haben, ebenfalls über Ta-rifverträge für branchenbezogene Zuschläge zu verhan-deln. Das heißt, aufgrund unserer konkreten Aufforde-rung schließen die Tarifpartner Vereinbarungen ab.
– Natürlich. Wir haben gesagt: Wenn ihr nichts macht,dann handeln wir. – Jetzt handeln die Tarifpartner. Es istdoch ein großartiger Erfolg, dass es die Tarifpartner sel-ber schaffen, branchenbezogene Zuschläge für die Leih-arbeit zu realisieren.
Herr Kollege Heil, deswegen muss man fair gegen-über den Tarifpartnern sein.
– Langsam. – Man muss als Parlament und als Regie-rung so fair gegenüber den Tarifpartnern sein, ihnen zu-nächst die Gelegenheit zu geben, das, was notwendig ist,durch eigene Vereinbarungen zu regeln.Ich halte noch einmal fest: Rot-Grün hat dem Miss-brauch der Leiharbeit Tür und Tor – das waren Scheu-nentore – weit geöffnet.
Wir, die christlich-liberale Koalition, sorgen wieder neufür Ordnung auf dem deutschen Arbeitsmarkt. Das sinddie Fakten.
Natürlich missfällt das der Opposition; denn sie musszur Kenntnis nehmen, dass wir am Arbeitsmarkt einepositive Entwicklung haben, die ihresgleichen sucht.
Wir haben den höchsten Stand an Beschäftigung, denwir in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg hatten.Es handelt sich um sozialversicherungspflichtige Be-schäftigung, nicht um prekäre Beschäftigung. Die sozial-versicherungspflichtige Beschäftigung in Deutschlandwächst. Darüber sollten wir uns eigentlich freuen, unddiese Entwicklung sollten wir nicht schlechtreden.
Herr Kollege Weiß, der Kollege Meßmer würde gern
ebenfalls eine Zwischenfrage stellen.
Bitte schön.
Das ist aber jetzt die letzte Zwischenfrage, die ich bei
dieser Rede zulasse.
Schönen Dank, Herr Kollege, für die Möglichkeit. –
Ich fand es sehr stark, wie Sie eben die Gewerkschaften
gelobt haben.
Ja.
Sie haben aber auch zur Kenntnis genommen, dass
alle Gewerkschaften, die Sie gelobt haben, von der Poli-
tik gefordert haben, dass man endlich eine gesetzliche
Regelung für „Gleichen Lohn für gleiche Arbeit“ und
vor allen Dingen eine gesetzliche Regulierung von
Werkverträgen schafft. Diese Information haben Sie
doch auch. Ich gehe davon aus, dass Sie angesichts des
Lobs der Gewerkschaften diese Forderung zumindest
persönlich unterstützen werden.
Herr Kollege, um es Ihnen präzise zu beantworten:
Ich schließe nicht aus, dass wir zum Grundsatz „GleicheBezahlung für gleiche Arbeit im Bereich Leiharbeit“auch gesetzgeberisch etwas regeln müssen. Ich habe vor-hin ausgeführt: Die Aussage der Bundesministerin fürArbeit und Soziales war und ist: Wir wollen zunächstden Tarifpartnern, Gewerkschaften und Arbeitgebern,die Gelegenheit geben, mit Zuschlägen dieses Prinzip imTarifvertrag zu regeln.
So war die klare Aussage. Deswegen ist es nur fair undrichtig, den Tarifpartnern diese Gelegenheit zu geben.
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22338 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Peter Weiß
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Das Positive ist doch: Die Tarifpartner nutzen die Gele-genheit, indem sie solche Vereinbarungen treffen. Jetztwarten wir einmal darauf, was Verdi und NGG bei ihrenVerhandlungen zustande bringen, und dann schauen wirweiter.
Meine sehr geehrten Damen und Herren, ein Weite-res, was wir ebenfalls feststellen sollten, ist: Die erfreuli-che Entwicklung auf dem Arbeitsmarkt führt dazu, dassLohnerhöhungen wieder möglich werden. Die Arbeit-nehmerinnen und Arbeitnehmer haben in der Krise auchdurch Lohnverzicht in einem großartigen Zusammenwir-ken der Sozialpartner mit dafür gesorgt, dass Deutsch-land schneller als alle anderen Industrienationen aus derKrise herausgekommen ist.
Deswegen sind Lohnerhöhungen, die dieses Wort ver-dienen, heute wieder möglich. Außerdem sollten wirfeststellen: Die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer inDeutschland profitieren in dieser Zeit zu Recht vomwirtschaftlichen Fortschritt in unserem Land. Auch dasist eine positive Nachricht für die Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer.
Die Opposition führt diese Diskussion aus einemGrund – das wollte ich klarstellen –: Sie will dieses Er-gebnis schlechtreden. Klar, „Werkverträge“ ist einThema. Aber gerade 1,7 Prozent der Erwerbstätigen sindin Werkverträgen.
– Das sagt uns das IAB. – 1,7 Prozent! Das zeigt: Das istkein Massenproblem, sondern es ist ein relativ beschei-denes Problem.Ich will klar und deutlich sagen: Man kann die Me-thode fortführen, die die Opposition anwendet. Mit derAufbietung von vielen kleinen Problemen, die es gibt– ich will sie nicht wegreden –, versucht man, die her-vorragende Entwicklung am Arbeitsmarkt kaputtzure-den. Sie müssen nur eins verstehen, verehrte Kollegin-nen und Kollegen von der Opposition: Wir alsRegierungskoalition werden den Weg, der weiter zuwirtschaftlichem Erfolg, zu mehr Beschäftigung undauch zu einem höheren Einkommen der Arbeitnehmerin-nen und Arbeitnehmer führt, konsequent weitergehenund uns nicht durch Ihre Miesmacherei schlechtredenlassen. Das ist der entscheidende Punkt; das will ich indieser Debatte festhalten.
Das Nächste ist: Wir haben es natürlich mit der Situa-tion zu tun, dass offensichtlich – weil es in der Leihar-beit bestimmte Regelungen gibt – versucht wird, auf dasThema Werkverträge auszuweichen. Das ist das, was Sieals Problem dargestellt haben. Deswegen werden wirdieses Problem sehr aufmerksam verfolgen und be-obachten.
Das ist richtig; das ist unsere Aufgabe. Dass Sie das unsund der Ministerin absprechen, wundert mich etwas.Aber der entscheidende Punkt ist doch – das hat der Kol-lege Uli Lange in seiner Rede zu Beginn der Debatteklar, deutlich und präzise vorgetragen –: Wir haben klaregesetzliche Regelungen, was Werkvertrag ist und wasnicht. Wir haben Rechtsprechung dazu, was Werkvertragist und was nicht. Wir haben die Möglichkeit, zu kon-trollieren, ob ein Werkvertrag vorliegt oder nicht, undder Arbeitnehmer hat die Möglichkeit, seinen Status beider Deutschen Rentenversicherung feststellen zu lassen,nämlich ob er Selbstständiger ist oder ob er abhängigBeschäftigter ist. Das alles haben wir. Da ist doch dasAllererste, was man sagen muss: Wenn der Verdacht vor-liegt, es würde Missbrauch betrieben, dann müssen wirdas, was wir an klaren rechtlichen Regelungen haben,nutzen. Die Antwort kann nur sein: Wenn Verdacht aufMissbrauch vorliegt, dann bitte kontrollieren und eineFeststellung des Status bei der Deutschen Rentenversi-cherung vornehmen lassen. Unser Punkt ist, zunächsteinmal das, was wir an rechtlichen Regelungen haben,zu nutzen, bevor der Ruf nach neuen Gesetzen laut wird.
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, kannich den Vorwurf nicht akzeptieren, die Koalition würdeLohndumping tolerieren oder stillschweigend hinneh-men.
– Entschuldigung!
Zu einer sozialen Marktwirtschaft gehört guter Lohn fürgute Arbeit konstitutiv dazu.
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Peter Weiß
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Deswegen gelten heute übrigens in zehn Branchen inDeutschland Mindestlohnregelungen. Das ist ein Vielfa-ches von dem, was zu Regierungszeiten von Rot-Grüngegolten hat. Herr Heil, Sie wollten uns doch an denTaten messen. Die Taten sind: Auch mit der FDP sowieder CDU und CSU an der Regierung gibt es heute inDeutschland in zehn Branchen, in denen die Situationbesonders sensibel ist und bei denen man den Verdachthaben musste, dass Lohndrückerei stattfindet, Mindest-lohnregelungen. Die gab es zu Zeiten von Rot-Grünnicht. Das ist doch ein Fakt.
Ich denke, das werden die Arbeitnehmerinnen und Ar-beitnehmer in unserem Land zur Kenntnis nehmen.
– Herr Kollege Heil, Sie wissen ganz genau, woran dasliegt:
weil es die Weiterbildungsbranche besonders schwer hat
– nein! –, den notwendigen Prozentsatz der Tarifbindungtatsächlich nachzuweisen. Daran arbeitet die Branchefleißig,
und wir, Herr Heil, sollten sie dabei unterstützen. Ent-schuldigung! Der Punkt ist doch: Sie haben in diesemBereich überhaupt keine Ordnung geschaffen.
Wir schaffen die Ordnung, und dann beklagen Sie, dassbinnen eines halben Jahres nicht alles in Ordnung ge-bracht ist, was Sie angerichtet haben.
In der Anhörung, die der Ausschuss für Arbeit undSoziales zu diesem Thema durchgeführt hat, war es auf-fallend, dass sich die allermeisten Experten äußerst zu-rückhaltend zu der Frage geäußert haben, ob man mitneuen, anderen gesetzlichen Regelungen die Zahl derWerkverträge stärker eingrenzen könnte. Das zeigt: Ja,es ist Wachsamkeit geboten, notfalls muss man vielleichtauch gesetzlich regeln. Aber es sollte auch gelten: Wir,das Parlament, sollten die von uns gemachten Gesetze– sie sind von uns Parlamentariern beschlossen worden –zur Anwendung bringen;
wir sollten die Kontrollmöglichkeiten, die wir als Ge-setzgeber geschaffen haben, nutzen und zur Anwendungbringen,
bevor wir den Ruf erheben, neue Gesetze zu schaffen,die dann vielleicht erst recht nicht praktikabel sind.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich denke, wirsollten angesichts des Aufschwungs am deutschen Ar-beitsmarkt froh und stolz sein. Wir sollten die Probleme,die es gibt, selbstverständlich offen benennen, aber nichtdie Erfolge am Arbeitsmarkt kaputtreden. Wir sollten diegesetzlichen Instrumentarien, die für die Kontrolle zurVerfügung stehen, offensiv nutzen. Dann kann auf demdeutschen Arbeitsmarkt in der Tat die notwendige Ord-nung hergestellt werden, die die Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer zu Recht erwarten.Vielen Dank.
Für die SPD-Fraktion spricht jetzt der Kollege Ottmar
Schreiner.
Nein, Herr Kollege Kolb, ich erkläre Ihnen nicht dieWelt, obwohl Sie es eigentlich nötig hätten; aber das istein anderes Thema.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst einmal zuden letzten Bemerkungen vom Kollegen Weiß: Das, wasSie hier im Plenum verkünden, klingt alles ein bisschenwie eine militärische Befehlsausgabe.
Die letzte Losung der militärischen Befehlsausgabe lau-tete: Die jetzige Regierung reguliert und repariert dieSchäden, die Rot-Grün auf dem Arbeitsmarkt angerich-tet hat.
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Ottmar Schreiner
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Jetzt sagen alle: So ist es, ja, ja!, und nicken zustim-mend. Nennen Sie mir ein einziges Beispiel, bei dem dieUnion oder gar die FDP dagegen gewesen wäre. Sie ha-ben alles bejubelt, was hier vorgetragen worden ist. Siesind die allerletzten, die Anlass haben, das zu kritisieren.
– Jemand, der allem zugestimmt hat, sollte gefälligst dieSchnauze halten – um im militärischen Jargon zu bleiben –,sollte gefälligst den Mund halten – um es parlamenta-risch auszudrücken.
Der Kollege Kolb hat den Kollegen Heil ein bisschenangemistet nach dem Motto: Er hängt den altmodischenVollzeitarbeitsverhältnissen nach, die sozialversiche-rungsrechtlich geschützt sind. Er sagt es so, als ob daseine Geschichte von vorgestern sei. Ich sage Ihnen, HerrKollege Kolb: Die vielen Arbeitnehmerinnen undArbeitnehmer, die eine Familie gründen und ernährenwollen, sind auf ein festes, auf Dauer angelegtes sozialgeschütztes Arbeitsverhältnis angewiesen. Das ist auchein elementares Stück Familienpolitik.
Diejenigen, die in zeitlich befristeten Arbeitsverhältnis-sen, in Leiharbeitsverhältnissen und in miserabel bezahl-ten Arbeitsverhältnissen arbeiten, können ihre Familiendamit nicht ernähren. Deshalb ist das normale Arbeits-verhältnis historisch eine Errungenschaft, die wir unterkeinen Umständen preisgeben dürfen. Zum ersten Malwird Arbeit so gestaltet, dass der Ertrag der Arbeit auchvor Risikofällen und vor Unsicherheiten schützt, in de-nen nicht gearbeitet werden kann: bei Krankheit, im Al-ter, bei Arbeitslosigkeit. Das werden wir unter keinenUmständen preisgeben, lieber Kollege Kolb. Das ist einErbe, das wir mit allen Kräften verteidigen werden.
Es wird gesagt: Es handelt sich um einzelne schwarzeSchafe. Es handelt sich nicht um einzelne schwarzeSchafe
– Ja, es ist eine schwarze Herde. Der Begriff „schwarzeSchafe“ lockt ein bisschen, darauf einzugehen, aber ichlasse es bleiben. Es handelt sich nicht um einzelneschwarze Schafe. Ich nenne Ihnen ein Beispiel des Kol-legen Rebmann. Er vertritt den Wahlkreis Mannheim. Erhat mir vorhin einen Zettel zugeschoben. In Mannheimgibt es die Firma MetoKote. Es ist ein amerikanischesUnternehmen. Es ist Zulieferer für John Deere bei derLackherstellung. Diese Firma hat 50 Beschäftigte. Vondiesen 50 Beschäftigten sind 24 Leiharbeiter, 25 habeneine befristete Stelle, und einer ist fest angestellt. Jetzterzählen Sie mir etwas von einzelnen schwarzen Scha-fen. Es ist unglaublich, dass eine solche Konstruktionvon Arbeitsbeziehungen in einer Firma in Deutschlandlegal sein kann. Das sind Beschäftigungsverhältnisse,von denen anständigerweise eine Familie nicht ernährtwerden kann. Es sind in weiten Teilen Tagelöhnerver-hältnisse für ein oder zwei Jahre. Danach beginnen dieSorgen von vorn.Also: Sie sollten die Situation nicht verniedlichen.Ungefähr 6 Millionen Leute haben zeitlich befristeteArbeitsverträge. Wir haben knapp 1 Million Leiharbeit-nehmerinnen und -arbeitnehmer. Wir haben 7 Millionensogenannte Minijobverhältnisse. Wir haben einen Miss-brauch bei den Werksarbeitsverträgen. Wir haben Miss-brauch im Bereich der Praktikanten. Fast ein Drittel derdeutschen Arbeitsverhältnisse befindet sich im prekärenBereich.
– Die Welt ist überhaupt nicht schlecht, aber Sie machennichts, um die Welt zu verbessern. Das ist das Problem.
Der Kollege Weiß greift uns an, was wir in unsererRegierungszeit beim Thema Leiharbeit gemacht hättenund was wir alles versäumt hätten. Herr Kollege Weiß,Sie haben vergessen, die Machenschaften der sogenann-ten christlichen Gewerkschaften darzustellen. Erst durchdie Tarifverträge – 4 Euro, 5 Euro, 5,50 Euro Bruttolohnin der Stunde –, die die sogenannten christlichenGewerkschaften – was daran christlich ist, weiß der Teu-fel – abgeschlossen haben, ist das Ganze in den Sumpfgeglitten. Erst durch diese Entwicklung vor einigen Jah-ren, ist es zu dieser Situation gekommen.
Sie müssen doch etwas zu ihren Betbrüdern sagen,meine Damen und Herren von der Union. Das wird na-türlich alles verschwiegen. Sie verschweigen auch, dassSie dem allen zugestimmt haben. – Wie dem auch immersei.Es geht also nicht um einzelne schwarze Schafe, son-dern um eine sehr systematische Arbeit. Der KollegeWeiß sagt, seitdem es die Lohnuntergrenze bei der Leih-arbeit gibt, gibt es immer mehr Missbrauch bei denWerkverträgen. Ich zitiere Professor Düwell vom19. April 2012. Düwell war über zehn Jahre Vorsitzen-der Richter am Bundesarbeitsgericht. Er kennt also dieMaterie. Düwell schreibt in seiner Stellungnahme zu denin Rede stehenden Anträgen:Nachdem die Lohnuntergrenze zur Regulierung derLeiharbeit Anfang 2012 in Kraft getreten ist, wurdeauf einer großen Schulungsveranstaltung für Ge-schäftsführer und Arbeitsrechtler von prominentenMünchner Arbeitsrechtsprofessoren empfohlen, ge-zielt betriebliche Funktionen auf Werkvertrags-nehmer zu verlagern, um Tariflöhne und die fürLeiharbeitnehmer geltenden Mindestentgeltsätze zuunterlaufen.
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Ottmar Schreiner
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Ich frage einmal ganz nebenbei: Was ist das für einEthos, wenn hochverdienende Arbeitsrechtsprofessorenihre gesamte Fantasie darauf verschwenden, wie sie Ar-beitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Dumpinglöhnehineinbringen können?
Das ist wirklich unglaublich!
Dieser Methodenwechsel – heraus aus der inzwischenleicht anregulierten Leiharbeit, denn mehr ist das nicht,hinein in den massiven Missbrauch der sogenanntenunechten Werkverträge, wobei die Leute noch wenigerverdienen als bei der Leiharbeit – wird in Deutschlandsystematisch betrieben. Da kann die Koalition nicht sotun, als gebe es das nicht.
– Wie bitte?
– Es fehlt überhaupt kein Beweis. Es gibt ja auch andereProfessoren.
– Herr Kollege Wadephul, ich zitiere hier ProfessorDüwell, der in seiner schriftlichen Stellungnahme aus-drücklich darauf hingewiesen hat. Es gibt übrigens auchnoch andere Arbeitsrechtsprofessoren, an anderer Stelleund institutionalisiert, die sich in ähnlicher Weise betäti-gen.Ich sage Ihnen nochmals: Mir will nicht in den Kopf,dass zu Recht gutverdienende deutsche Professoren ihreFantasie und ihr Hirnschmalz darauf verwenden, mitdafür zu sorgen, dass Menschen möglichst wenig verdie-nen. Das ist unglaublich!
Der Kollege Kolb hat in einem weiteren lichtvollenMoment gesagt, die Opposition würde die sogenanntenZulieferketten unter Generalverdacht stellen. Herr Kol-lege Kolb, das ist wie üblich grober Unfug. Hier stelltniemand die Zulieferketten unter Generalverdacht. DieOpposition – und das ist unsere verdammte Pflicht undSchuldigkeit – schaut lediglich einmal genauer hin, obund inwieweit insbesondere im Bereich der Zulieferket-ten Lohndumping betrieben wird. Das ist doch unser gu-tes Recht! Es wäre im Übrigen auch Ihr gutes Recht.Ich will Ihnen zu diesem Punkt ein Zitat nicht erspa-ren, weil es die gesamte Problematik sehr anschaulichschildert. Es stammt aus den Nürnberger Nachrichtenvom 25. April 2012. Das Zitat stammt aus einer Veran-staltung, die gemeinsam von der Bundesagentur für Ar-beit, der Stadt Nürnberg und dem IAB in Nürnbergdurchgeführt worden ist. In den Nürnberger Nachrichtenheißt es dazu:Eberhard Sasse, Chef und Inhaber einer Gebäude-reinigungsfirma mit 5 000 Mitarbeitern … schil-dert, wie Mercedes mit ihm um die Reinigung derFertigungshallen feilschen wollte. Der Premium-autohersteller ließ durchblicken, ein Wettbewerberhabe ein günstigeres Putzangebot vorgelegt, er zahltden Mitarbeitern weniger.Sasse: „Ein so niedriger Lohn reicht in Stuttgartnicht zum Leben.“Mercedes: „Dann müssten die Mitarbeiter eben auf-stocken, die Kommune zahlt zum Existenzmini-mum drauf.“Sasse: „Die S-Klasse aus Ihrem Haus kostet100 000 Euro? Und dann wollen Sie unsere Diensteunter Wert einkaufen. Und Sie wollen, dass dieAldi-Kassiererin über ihre Steuern Ihre Putz-kolonne mitbezahlt?“Nein, das wollte der Einkaufsmanager des Autoher-stellers so dann doch nicht. Sasse schließt seinenExkurs: „Wir haben den Auftrag bekommen.“Die Nürnberger Nachrichten schlussfolgern:Oft läuft es anders, jeder –– ich füge hinzu: außer Ihnen, Herr Kolb.– weiß das. Der Billigheimer macht das Rennen.Und dann? Die Billiglohnfirma verdrängt die an-ständig bezahlende Konkurrenz und bleibt selbstam Markt.Das heißt, der anständige Löhne zahlende Unterneh-mer ist der Dumme. Das ist geltendes Recht hier inDeutschland, lieber Herr Kollege Kolb. Das darf so nichtbleiben.
Es gibt eine ganze Reihe von Antworten.Da sich meine Redezeit dem Ende zuneigt, will ichIhnen, lieber Kollege Kolb, noch ein letztes Zitat mit aufden Weg geben. Wir haben eine Fülle von Vorschlägengemacht, nicht nur in Sachen „unechte Werkverträge“.Wir haben Vorschläge gemacht zum Mindestlohn, insbe-sondere zur erleichterten Allgemeinverbindlichkeit vonTarifverträgen, um in den unteren Lohnbereichen ver-nünftige Regulierungsmechanismen zu erwirken. Siewehren sich bis zur Stunde entschieden unter anderemgegen den Mindestlohn.Das Zitat lautet:… [es gibt] doch einen bestimmten Satz, unter dender gebräuchliche Lohn selbst der geringsten Artvon Arbeit nicht auf längere Zeit heruntergebrachtwerden zu können scheint. Es muss ein Mensch
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Ottmar Schreiner
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durchaus von seiner Arbeit zu leben haben, und derArbeitslohn muss wenigstens hinreichend sein, umihm den Unterhalt zu verschaffen. Ja, er muss inden meisten Fällen noch mehr als hinreichend sein,sonst wäre der Arbeiter nicht imstande, eine Fami-lie zu gründen.Das ist die klassische Forderung, das klassische Verlan-gen nach einem existenzsichernden Mindestlohn, mitdem man auch eine Familie ernähren kann. Wissen Sie,von wem diese Forderung ist? Diese Forderung ist vondem Urvater der politischen Ökonomie.
Herr Kollege Schreiner.
Nicht von Karl Marx, sondern von Adam Smith. Die
Forderung stammt aus dem Buch Der Reichtum der Na-
tionen von 1786.
– Lieber Herr Kollege Kolb, Sie sind weit hinter 1786
zurückgeblieben. Sie sollten einiges dafür tun, um sich
diesem Datum allmählich zu nähern.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat der Kollege Pascal Kober für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Lieber Kollege Schreiner, wenn ich Sie reden höre,
bin ich mir nicht immer so ganz sicher, ob Sie die Wirk-lichkeit tatsächlich so wahrnehmen, wie Sie sie hierschildern, oder ob Sie sie ganz bewusst dramatisieren.
Da Sie von der Opposition sind, vermute ich, dass Siesie ganz bewusst dramatisieren.
Manchmal bin ich da aber unschlüssig, wenn ich sehe,mit welchem Engagement und welchem Pathos Sie hierauftreten, wenn Sie die Situation auf dem deutschen Ar-beitsmarkt schildern.Ich biete Ihnen an, dass wir die Sommerpause nutzen,um uns vor Ort gemeinsam über die Situation auf demArbeitsmarkt in Mannheim zu informieren. Wir könntendas Unternehmen, über das Sie eben gesprochen haben,aber auch die Situation Beschäftigter anderer Unterneh-men auf dem Arbeitsmarkt am Beispiel Mannheim an-schauen. Dazu bin ich gerne bereit. Ich glaube, da wirdsich ein Bild ergeben, das weit weniger düster ist als je-nes, das Sie hier skizzieren.
Sicherlich gibt es an der einen oder anderen Stelle aufdem deutschen Arbeitsmarkt den Missbrauch von Werk-verträgen, aber es gibt heute bereits Gesetze, durch dieder Missbrauch bekämpft werden kann. Die Finanzkon-trolle Schwarzarbeit der Zollverwaltung kann im Rah-men einer Prüfung gemäß § 2 des Schwarzarbeitsbe-kämpfungsgesetzes auch Werkverträge prüfen, und sietut es. Die Rentenversicherungsträger können Werkver-träge prüfen, und sie tun es.
Zu den tatsächlichen Zahlen – das muss man sich wirklichauf der Zunge zergehen lassen –: Im Jahr 2010 gab es imZuge dieser Kontrollen 64 abgeschlossene Strafverfahrenund 1 267 abgeschlossene Ordnungswidrigkeitsverfah-ren, übrigens mit rückläufiger Tendenz im Vergleich zuden Vorjahren. Stellen Sie sich das einmal vor: 64 abge-schlossene Strafverfahren gegenüber 28 Millionen so-zialversicherungspflichtiger Beschäftigter und 4 Mil-lionen Selbstständigen in Deutschland – das ist eineverschwindend geringe Zahl. Die derzeitige Gesetzeslagereicht aus, um Missbrauch zu bekämpfen. Ich sehe keinenHandlungsbedarf für den Gesetzgeber, weitere Regulie-rungen und Kontrollen einzuführen.
Nun kann es ja Ihr subjektives Empfinden sein, dassauf dem Arbeitsmarkt alles ganz schlimm ist.
Die christlich-liberale Koalition orientiert sich aber nichtam subjektiven Empfinden, sondern an Fakten, und dieFakten sprechen eine andere Sprache als das, was Siehier zeichnen.Dass die Finanzkontrolle Schwarzarbeit mit den be-stehenden Gesetzen handlungsfähig ist, zeigen insbeson-dere die jüngsten Ermittlungen gegen zwei große deut-sche Einzelhandelsunternehmen. So reichte der bloßeVerdacht auf illegale Arbeitnehmerüberlassung aus, umbundesweite Ermittlungen gegen diese beiden Unterneh-men einzuleiten. Auch das ist ein Beispiel dafür, dass diebestehende Gesetzeslage ausreicht und dass gegen Miss-brauch in Deutschland bereits vorgegangen wird.Werkverträge gibt es wahrscheinlich schon länger alsAdam Smith, Herr Schreiner. In Deutschland sind sie
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Pascal Kober
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seit über 100 Jahren Bestandteil des Bürgerlichen Ge-setzbuches. Sie haben sich – das haben der Kollege Kolbund auch andere Redner der Koalition schon eindrück-lich dargelegt – in der Praxis bewährt. Letzten Endessind sie das Fundament des Wirtschaftssystems, in demwir leben.
Das durch Gesetze kaputtzumachen oder – was eigent-lich noch schlimmer ist – kaputtzureden, wie Sie das aufdramatische Weise tun, ist der Sache in keinster Weiseangemessen. Sie machen den Menschen Angst, statt ih-nen die Augen für die tatsächliche Lage in Deutschlandzu öffnen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Opposition,ich bitte Sie, die Situation am deutschen Arbeitsmarkt inZukunft etwas realistischer darzustellen. Ich glaubenicht, dass es hilft, wenn wir den Menschen draußenAngst vor der Zukunft machen.
Uns stehen extrem schwierige Zeiten bevor. Die Debatteüber den Euro zeigt deutlich, welche wirtschaftliche Ent-wicklung die Lage auf den Weltmärkten erwarten lässt.Ich glaube, dass wir eher sachlich diskutieren müssen,damit die Bürgerinnen und Bürger von der Politik nichtenttäuscht werden.Vielen Dank.
Für die Fraktion Die Linke hat jetzt die Kollegin
Sabine Zimmermann das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Lieber Kollege Kolb – Sie merken, Sie stehenheute im Mittelpunkt –,
wenn eine Erzieherin, die bei einer Leiharbeitsfirma an-gestellt ist, mit 1 000 Euro netto im Monat nach Hausegeht, obwohl sie gemäß Tarifvertrag eigentlich rund2 200 Euro verdienen müsste, würden Sie das dann nichtals Lohndrückerei bezeichnen? Ich kann Ihnen vieleweitere Beispiele nennen. Das sind keine Einzelfälle.Das ist Standard in dieser Republik.
Das Phänomen der Werkverträge, über das wir heutehier diskutieren, also die bewusste Ausgliederung vonUnternehmensteilen, um Lohndumping zu betreiben, istnur eines der Instrumente, deren sich die Arbeitgeberhier bedienen. Dabei geht es nur darum, dass Unterneh-men Scheinwerkverträge abschließen, um illegal Leihar-beiter zu beschäftigen.An dieser Stelle möchte ich auf die Razzien verwei-sen, die der Zoll Anfang des Jahres bei den Einzelhan-delsketten Kaufland und Netto durchgeführt hat. Dortsollen rechtswidrige Werkverträge mit Lagerarbeiternund Staplerfahrern abgeschlossen worden sein. Selbst ineinigen Handelsketten werden Kassiererinnen über einenWerkvertrag beschäftigt. Das muss man sich einmal vor-stellen. So etwas ist in Deutschland möglich. Das istnicht nur ein Betrug an den Beschäftigten, die 30 Pro-zent weniger Lohn erhalten, sondern auch ein Betrug ander Gemeinschaft;
denn diese Unternehmen haben Sozialabgaben hinterzo-gen. Hier muss doch die Politik handeln, aber Bereit-schaft dazu kann ich bei Ihnen überhaupt nicht erkennen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht ja nicht nurum Scheinwerkverträge. Es geht auch um die ganz lega-len Werkverträge, mit denen Unternehmen ganze Abtei-lungen völlig gesetzestreu ausgliedern und an Billigan-bieter weitergeben. Hier fordert die Linke: GleicherLohn für gleiche Arbeit! – Diese Forderung muss end-lich umgesetzt werden.
Für mich ist es unfassbar, mit welcher Gleichgültig-keit die Bundesregierung diesem Treiben der Arbeitge-ber zuschaut, ohne zu handeln. Aber sie praktiziert es jaauch selbst bei ihren Ministerien und den ihr unterstell-ten Behörden. So wurden im Verantwortungsbereich desBundes im letzten Jahr nicht nur über 1 000 Leiharbeitereingesetzt, von denen lediglich 29 übernommen wordensind, sondern es werden auch immer mehr Dienstleistun-gen nach außen vergeben. Der größte Bereich ist dabeider Wach- und Sicherheitsdienst. Wir wissen doch alleunter diesem Dach, dass diese Kolleginnen und Kolle-gen in diesem Haus zu niedrigen Löhnen beschäftigtwerden. Das können wir doch nicht zulassen!
Werkverträge sind nur ein Teil der Fehlentwicklungauf dem Arbeitsmarkt. Das wurde heute schon mehrfachgesagt. Ich will nur einige Stichworte nennen: Leihar-beit, Minijobs, befristete Beschäftigung, Teilzeit. Das istdas Jobwunder von Frau Merkel. Herr Weiß, ich mussIhnen wirklich widersprechen,
wenn Sie von einem guten Arbeitsmarkt sprechen. Siemüssen berücksichtigen, dass prekäre BeschäftigungVorrang hat. Das ist für die Kolleginnen und Kollegennicht zumutbar.
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22344 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Sabine Zimmermann
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– Doch, damit habe ich recht.
Ich nenne Ihnen gleich ein paar Zahlen, Kollege Weiß.Arbeitgeber greifen immer häufiger auf atypische Be-schäftigungsformen zurück.
Sie können dies tun, weil die Politik dafür Unterstützunggibt und die Fehlentscheidungen, die hier in den letztenJahren getroffen worden sind, einfach nicht korrigierenwill.Erst jüngst hat die Bundesagentur für Arbeit Zahlenveröffentlicht, die diese dramatische Fehlentwicklungverdeutlichen. Obwohl sich die Zahl der Erwerbstätigen,wie Sie, Herr Weiß, so schön sagen, in den zurückliegen-den 20 Jahren erhöht hat, haben wir heute 5 Millionenunbefristete Vollzeitjobs weniger als 1991. Das müssenSie endlich einmal zur Kenntnis nehmen. Dramatischzugenommen hat dagegen die sogenannte atypische Be-schäftigung. Die Zahl der Leiharbeiter, der befristet Be-schäftigten, der Soloselbstständigen usw. ist dramatischangestiegen, und zwar auf 14,2 Millionen.
Das entspricht einer Verdoppelung in den letzten Jahren.Daran will die Linke sich nicht beteiligen. Deshalb ha-ben wir heute diesen Antrag vorgelegt.
Nur noch die Hälfte aller Erwerbstätigen arbeitetheute in einem unbefristeten Vollzeitjob. Vor 20 Jahrenwaren es noch mehr als zwei Drittel. Diese Entwicklungdarf die Politik doch nicht einfach so hinnehmen. Des-halb haben wir heute unseren Antrag „Missbrauch vonWerkverträgen verhindern – Lohndumping eindämmen“vorgelegt. Aber wir wissen: Sie werden dem natürlichnicht zustimmen, weil Sie die besseren Argumente ein-fach nicht hören wollen.Es gibt jedoch viele, die sich gegen prekäre Beschäfti-gung wehren. Vor drei Tagen protestierten in Koblenz100 Paketauslieferer gegen die Praxis des PaketdienstesDPD, der Aufträge an Subunternehmen ausgelagert hat,die Hungerlöhne zahlen. Das ist gängige Praxis in derRepublik. Dagegen müssen sich die Kolleginnen undKollegen wehren. Aber: Wo kein Kläger, da kein Rich-ter.Jeder in diesem Haus muss sich fragen, ob er diesesLohndumping mit einer falschen Gesetzgebung weiter-hin unterstützen will. Die Linke will dem ein Ende ma-chen. Deshalb: Hören Sie auf die besseren Argumente!Danke.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt das Wort dieKollegin Beate Walter-Rosenheimer.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damen undHerren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Werkverträgesind gut und richtig, solange sie in ihrem angedachten ge-setzlichen Rahmen bleiben. Für viele Unternehmen sindWerkverträge – das wissen wir alle – schlicht und einfachunverzichtbar, um zum Beispiel personelle Engpässeoder Produktionsspitzen abfedern zu können oder umKompetenzen zu kaufen, die im Unternehmen nicht vor-handen sind. So weit sind wir uns einig.
Doch jetzt haben sich die Vorzeichen geändert. Werk-verträge werden dazu eingesetzt, um die verschärften ge-setzlichen Regelungen der Leiharbeit zu umgehen. LiebeKolleginnen und Kollegen, worum geht es eigentlich?Die Mindestlohngrenze soll unterlaufen werden, undzwar mit allen juristischen Tricks. Großunternehmentreffen sich zu Großveranstaltungen, um sich juristischbriefen zu lassen, wie sie – ich zitiere die Zeit – „ihre oh-nehin schon billigen Leiharbeiter durch noch billigereBeschäftigte ersetzen können.“ Das Ganze heißt danneben nicht mehr Leiharbeit, sondern Werkvertrag. Wiralle wissen: Never judge a book by its cover. Wo Werk-vertrag draufsteht, ist längst nicht mehr unbedingt einWerkvertrag drin.
Oder auf gut Deutsch: Es handelt sich um eine Mogelpa-ckung. Das ist ganz klar. Hier findet Lohndumping statt.Das ist dafür genau das richtige Wort. Da hört für unsGrüne die unternehmerische Freiheit auf.
Arbeit – und da zitiere ich sehr gern die Gewerkschaf-ten – darf nicht zur „Ramschware“ verkommen. Gut4 Millionen Beschäftigte verdienen hier in Deutschlandmittlerweile weniger als 7 Euro brutto die Stunde. Siewissen alle, wie schlecht man davon leben kann. Schein-werkverträge drücken das Lohnniveau um bis zu 30 Pro-zent. Für viele diese Arbeitnehmer und Arbeitnehmerin-nen heißt das ganz klar: Unsicherheit, Ungleichheit,Niedriglöhne und damit auch ein hohes Armutsrisiko.
Aber es geht ja nicht nur den Arbeitnehmern und Ar-beitnehmerinnen schlecht, es gibt ja auch Auswirkungenauf die Wirtschaft, auch wenn es ein kleiner Sektor ist.Was bedeutet das alles denn aus wettbewerbsrechtlicherSicht? Unternehmen, die beim Lohndumping nicht mit-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22345
Beate Walter-Rosenheimer
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machen, die fair bezahlen wollen, geraten in einen deut-lichen Wettbewerbsnachteil. Wenn Betriebe fair zahlenwollen, wenn es ihnen wichtig ist, eine geschlossene Be-legschaft in ihrem Betrieb mit einer hohen Arbeitszufrie-denheit zu haben, dann werden sie an die Wand ge-drängt. Sie ziehen den Kürzeren. Wenn es sich um kleineUnternehmen handelt, können sie sogar vom Markt ge-drängt werden. Das wollen wir Grüne auf gar keinen Fallmitmachen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungs-koalition, nicht nur Arbeit muss sich wieder lohnen, wieeiner Ihrer Minister so gerne betont, auch Fairness musssich auszahlen.
Wir wollen keine Wettbewerbsnachteile für faire Unter-nehmen. Wettbewerb muss für uns durch Innovationenund durch gute und nachhaltige Geschäftsideen stattfin-den. Nur dann kommen wir zu einer nachhaltigen Wirt-schaftsentwicklung.
Das nächste Stichwort ist der Markt. Konjunkturbele-bend wirken sich Niedriglöhne nun wirklich nicht geradeaus. Wir wollen die Kaufkraft dann lieber doch durch or-dentliche Löhne ankurbeln. Außerdem entgeht dem Staatschlicht und einfach auch Geld, und zwar durch Einnah-meausfälle bei den Sozialkassen und durch geringereSteuereinnahmen.
Sehr geehrte Regierungskoalition, die rechtliche Re-gelung hier ist zu lasch und lässt zu viele Schlupflöcher.Wir fordern eine eindeutige Abgrenzung von Leiharbeitzu Werkverträgen. Natürlich können nur die Betriebenachweisen, dass es sich wirklich um Werkverträge han-delt. Wir brauchen daher – das haben wir schon gehört –eine Stärkung der Finanzkontrolle Schwarzarbeit zumBeispiel durch eine bessere personelle und finanzielleAusstattung.
Die Probleme sind uns durchaus bekannt. Das habeich heute auch schon gehört. Es ist einfach an der Zeit,zu handeln und die Schlupflöcher zu schließen. Schonim Januar hat Frau Ministerin von der Leyen – die leidernicht mehr hier ist – in einem Spiegel-Interview gesagt,sie möchte sich der Sache annehmen und die Situationim Auge behalten. Wenn dem dann Taten folgen, haltenwir das für eine sehr gute Idee. Wir wissen ja alle, dassnichts mächtiger ist als eine Idee, deren Zeit gekommenist.Herzlichen Dank.
Frau Kollegin Walter-Rosenheimer, ich gratuliere Ih-
nen im Namen des Hauses zu Ihrer ersten Rede im Deut-
schen Bundestag.
Für die CDU/CSU-Fraktion hat jetzt der Kollege
Dieter Jasper das Wort.
Sehr geehrter Herr Präsident! Sehr geehrte Damenund Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wir be-schäftigen uns heute mit einem Antrag der Linken,
die in altbewährter Manier den Unternehmern inDeutschland immer nur das Schlechteste zutraut. DiesesMal geht es um Werkverträge, Scheinwerkverträge undLeiharbeit. Nach Ansicht der Antragsteller versuchendie deutschen Unternehmen vermehrt, auf den Einsatzvon Fremdfirmen auszuweichen. Es wird ein klarerTrend ausgemacht, den es zu stoppen gilt. Dieser Einsatzvon Fremdfirmen wird gleich unter dem Begriff Schein-werkvertrag diffamiert, und es wird per se ein gesetz-widriges Verhalten unterstellt.Ein Werkvertrag ist jedoch für viele deutsche Unter-nehmen ein legitimes und oft notwendiges Mittel, Effi-zienz- und Produktivitätssteigerungen zu erzielen unddie eigene Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. DieLinke sieht diese Werkverträge im Zeichen des Klassen-kampfs aber ausschließlich als Mittel, um Löhne zu drü-cken und Mitarbeiter auszubeuten. Neben sogenannterLohndrückerei dienen Werkverträge dann höchstensnoch dazu, die angeblich noch schlechter beleumundeteZeitarbeit zu ersetzen und so das Image des einsetzendenUnternehmers zu verbessern. Werkverträge sind dannvon zwei verwerflichen Alternativen nur noch die weni-ger schlimme. So weit die Logik der Linken!Das Ganze wird subsumiert unter die Forderung nacheinem Gesetz zur Verhinderung des Missbrauchs vonWerkverträgen, das eine Fülle von Einzelfallentschei-dungen enthalten soll.
Dieses Gesetz soll dann jeden Einzelfall abschließendund gerecht regeln. Diese Forderung nach einer neuenund gesetzlichen Regelung ist in meinen Augen nicht be-gründet und hat überhaupt keine Basis.
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Dieter Jasper
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Zeitarbeit und Werkverträge spielen trotz aller Diffa-mierung von Ihrer Seite in der deutschen Wirtschaft, obin der Industrie, im Handel oder auch im Handwerk, einegroße Rolle. Gerade Werkverträge sind elementareGrundlage einer arbeitsteiligen Wirtschaft. Sie könnenzur Senkung der Kosten eines Unternehmens beitragen,zielen aber in erster Linie auf die Steigerung der eigenenProduktivität und der Effizienz der Unternehmen ab.
Dies ist gerade für Unternehmen, die sich im internatio-nalen Wettbewerb befinden, von essenzieller Bedeutung.Wie viele Produkte „Made in Germany“ wären dennnoch zu verkaufen, wenn diese ausschließlich und kom-plett in einem deutschen Unternehmen hergestellt wür-den? Allein diese Vorstellung ist völlig abwegig.Die Stärke der deutschen Wirtschaft beruht auch da-rauf, dass sich Unternehmen auf ihre Kernkompetenzenbesinnen und nur das fertigen und entwickeln, was siebesser können als andere.
Alles andere wird zugekauft, sodass am Ende ein Pro-dukt entsteht, das im Idealfall die Stärken der einzelnenbeteiligten Unternehmen in sich vereinigt und am Marktzu platzieren ist.
Die von Ihrer Seite geübte pauschale Kritik ist somitweder angemessen noch begründet. Sie verrät vielmehreinen Mangel an ökonomischem Verständnis über unserearbeitsteilige Wirtschaftsform.
– Ja, genau.Natürlich gibt es auch Fehlentwicklungen, die es zubekämpfen gilt.
Werkverträge sind dann, aber auch nur dann problema-tisch, wenn es sich hierbei um eine verdeckte Arbeitneh-merüberlassung oder um eine Scheinselbstständigkeithandelt. Eine Umgehung der gesetzlichen Schutzvor-schriften ist selbstverständlich nicht hinnehmbar. Aberbereits heute sind ausreichend Sanktionsmöglichkeitenzur Bekämpfung eines möglichen Missbrauchs vorhan-den.Die von den Linken behauptete rasante Zunahme vonScheinwerkverträgen ist ebenso wenig nachweisbar wieeine angebliche Verdrängung der Stammbelegschaft. Inder Anhörung vom 23. April 2012 – vielleicht waren Siezugegen – war die Stellungnahme der Bundesagentur fürArbeit in diesem Punkt vollkommen eindeutig. ZweiAussagen dazu:Erste Aussage. Hinweise auf einen deutlichen Anstiegder Zahl individueller Werkverträge aufgrund geänderterArbeits- und Rahmenbedingungen in der Zeitarbeit sindnicht zu erkennen.
Zweite Aussage. Verdrängungsprozesse zwischenfreien Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern mit Werkver-trägen und alternativen Beschäftigungsformen sind nichtnachweisbar.Somit bauen Sie da einen Riesenpopanz auf.
An dieser Stelle ein kurzes Zwischenfazit:Erstens. Leiharbeit und Werkverträge sind legitimeund notwendige Instrumente einer arbeitsteiligen Wirt-schaftsform.Zweitens. Die Beobachtung eines angeblich zuneh-menden Missbrauchs lässt sich anhand objektiv über-prüfbarer Zahlen nicht belegen.Drittens. Eine gegebenenfalls missbräuchliche An-wendung kann schon heute wirksam unterbunden wer-den,
ohne dass gleichzeitig deren rechtmäßige Nutzung ein-geschränkt wird.
Es stellen sich nun die spannenden Fragen: Wie beur-teilen die betroffenen Unternehmen die Situation? Wiesehen Handel und Handwerk die Forderungen der Lin-ken? Werkverträge spielen gerade im Handwerk einegroße Rolle. Ebenso wie in der Industrie gibt es auchhier keine belegbaren Hinweise auf die Existenz oder so-gar die Zunahme der Zahl von Scheinwerkverträgen, wiesie behauptet wird. Die Vergabe von Aufträgen anFremdfirmen über Werkverträge stellt natürlich auchhier ein unverzichtbares Element dar, um die eigeneWettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern.Dies gilt gerade für den großen Spezialbereich desBaugewerbes. In dieser Branche gilt das Verbot der Ar-beitnehmerüberlassung. Betriebe im Bauhauptgewerbesind im Besonderen darauf angewiesen, Werkverträgemit Subunternehmen zu schließen. Baufremde Gewerkekönnten sonst überhaupt nicht erstellt werden. Das deut-sche Baugewerbe wäre ohne den Einsatz von Werkver-trägen gar nicht denkbar.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22347
Dieter Jasper
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Der Handel sieht ebenfalls keinen gesetzgeberischenHandlungsbedarf.
Gesetzliche Eingriffe in die unternehmerische Entschei-dungsfreiheit werden auch hier entschieden abgelehnt.Es obliegt den Firmen, ob sie im Rahmen ihrer gesetz-lich geschützten Entscheidungsfreiheit bestimmte Tätig-keiten durch hochspezialisierte Fremdfirmen ausführenlassen.Es ist unbestritten, dass in großen Teilen der Privat-wirtschaft, aber auch bei öffentlichen Arbeitgebern einezunehmende Tendenz zum Auslagern von Tätigkeiten anDienstleistungs- und Werkvertragsunternehmen vorhan-den ist. Dies ist in einer arbeitsteiligen Wirtschaft aberzunächst ein ganz normaler Vorgang, der wegen der Spe-zialisierung zu Effizienzgewinnen führt.
Die Unternehmen können sich somit auf ihre Kernkom-petenzen konzentrieren und am Markt bestehen.Angesichts der offensichtlichen Bedeutung vonWerkverträgen für die deutsche Volkswirtschaft stelltsich die Frage, ob die bisherigen gesetzlichen Abgren-zungen zur Arbeitnehmerüberlassung ausreichend sind.Auch da beziehe ich mich auf die Anhörung: Die über-wiegende Mehrheit der Sachverständigen hat dies in derAnhörung bejaht und betont, dass erstens für dieAbgrenzung von Werkvertrag und Arbeitnehmerüber-lassung ausreichende gesetzliche und durch höchstrich-terliche Rechtsprechung konkretisierte Abgrenzungskri-terien vorhanden sind,
es zweitens keiner weiteren Vermutungsregelung zu-gunsten der einen oder anderen Vertragsform bedarf unddrittens weitere gesetzliche Klarstellungen nicht erfor-derlich sind – so die Mehrheit der Sachverständigen.Es gilt also, ganz im Gegenteil: Weitere gesetzgeberi-sche Maßnahmen sind überflüssig, unverhältnismäßigund zum Teil gefährlich für die Wettbewerbsfähigkeitder deutschen Wirtschaft.Ich fasse kurz zusammen:Erstens. Die von Ihnen unterstellte rasante Zunahmeeiner missbräuchlichen Nutzung von Werkverträgen istweder belegbar noch nachweisbar.
Zweitens. Die von Ihnen behauptete Verdrängung derStammbelegschaft durch Werkverträge oder Schein-werkverträge ist ebenfalls nicht zu beobachten.
Drittens. Die überwiegende Mehrzahl der Sachver-ständigen sieht keinen gesetzgeberischen Handlungsbe-darf.
Viertens. Das hohe Gut der unternehmerischen Frei-heit muss erhalten und geschützt werden.
– Vielleicht nicht genug.Fünftens. Die problematisierte Abgrenzungsfragezwischen Arbeitnehmerüberlassung und Werkvertrag istnicht neu.
Aber es existiert bereits ein Katalog hinreichender undsachgerechter Kriterien. Auch bei einer möglichen Ge-setzesänderung, wie sie von Ihnen angestrebt wird, istimmer eine Einzelfallbewertung notwendig. Ich möchteauch darauf hinweisen, dass schon heute allein bei Ver-dacht des Vorliegens eines Scheinwerkvertrags eineÜberprüfung des betreffenden Unternehmens möglichist und auch durch das Zollamt durchführt wird.
Somit sind nicht einmal die Voraussetzungen für die-sen Antrag richtig und nachvollziehbar; die Prämissensind einfach falsch. Die Notwendigkeit eines gesetzge-berischen Handelns wird nicht erkennbar. Ein neues Ge-setz ist schlicht nicht erforderlich. In der Konsequenz istIhr Antrag irreführend und überflüssig, sodass wir ihnzurückweisen und ablehnen.Herzlichen Dank.
Nächster Redner ist der Kollege Josip Juratovic von
der SPD.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen der Koalition! Wirtschaftlicher Erfolg ist nochlange nicht beschäftigungspolitischer Erfolg, insbeson-dere dann nicht, wenn zunehmend ausgebeutet wird undvolkswirtschaftliche Schäden entstehen. Prekäre Be-schäftigung nimmt in unserer Gesellschaft immer neueFormen an. Neben Leiharbeit, Befristungen, Schein-
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22348 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Josip Juratovic
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selbstständigkeit und Niedriglöhnen gehört auch derMissbrauch von Werkverträgen dazu.Ich habe großen Respekt vor Arbeitgebern, die Risi-ken und Verantwortung übernehmen, wenn sie ein Un-ternehmen führen. Mit den prekären Beschäftigungsfor-men wälzen die Arbeitgeber ihre Risiken aberausschließlich auf die Arbeitnehmer ab, die von einemTag auf den anderen ohne jegliches Recht auf Wider-spruch auf die Straße gesetzt werden können. Liebe Kol-leginnen und Kollegen, diesem Zustand, dass die Arbeit-nehmer für alles haften sollen, müssen wir rechtlichentgegenwirken.
Die Zahl der Werkverträge hat seit der völlig unzurei-chenden Regulierung der Leiharbeit durch Union undFDP zugenommen. Es gibt einen systematischen Miss-brauch und Scheinwerkverträge, die nur dazu genutztwerden, Mitbestimmungsrechte und Kündigungsfristenzu umgehen und Dumpinglöhne zu bezahlen. Die gesell-schaftlichen Auswirkungen des Missbrauchs von Werk-verträgen und anderen Formen sind gravierend: Vielejunge Menschen wissen nicht, ob und wie lange sie nocheine Beschäftigung haben, und sehen sich deshalb nichtin der Lage, eine Familie zu gründen.Im Betrieb gibt es eine Spaltung der Belegschaft. DieRandbelegschaften nehmen immer mehr zu, die Stamm-belegschaft wird immer kleiner. Dadurch findet eineEntsolidarisierung im Betrieb statt, die unseren gesell-schaftlichen Zusammenhalt gefährdet. Durch die Teilungin Stamm- und Randbelegschaften wird auch die Mitbe-stimmung ausgehöhlt; denn die Betriebsräte haben beikleinen Stammbelegschaften weniger Mitglieder, aberimmer mehr Arbeit mit der Kontrolle von Werkverträgenund Leiharbeit.Werkvertragsarbeitnehmer werden zudem nicht überdie Personalabteilung von Unternehmen eingestellt, son-dern sie werden über die Einkaufsabteilung, wie sonstSchrauben oder auch Toilettenpapier, abgerechnet. Ichkomme aus der betrieblichen Praxis. Sie glauben nicht,wie weit die Perversion der Einkäufer geht, wenn Kos-tensenkung mit persönlichem Erfolg verknüpft wird. Ichfinde Wettbewerb wichtig und gut, aber Wettbewerbbraucht auch klare Regeln.Auch in der gesamten Gesellschaft erfahren prekärBeschäftigte eine Stigmatisierung. So erhalten sie zumBeispiel kaum einen Kredit.Aber nicht nur für Arbeitnehmer, auch für Arbeitge-ber bergen Werkverträge langfristige Nachteile: So fließtüber Werkverträge das Know-how der Arbeitnehmer ausdem Betrieb ab, da Werkvertragsarbeitnehmer ihr spe-zielles Fachwissen nach dem Ende des Werkvertragsmitnehmen. Die Stammbelegschaft verliert Motivationund Vertrauen, wenn sie merkt, dass der Arbeitgeber aufprekäre Beschäftigung statt auf gute Arbeit setzt. Zudemwerden die ehrlichen und anständigen Unternehmer, diefaire Löhne und Arbeitsbedingungen bieten, unter einenunmöglichen Konkurrenzdruck gesetzt, wenn andereUnternehmer mit prekärer Beschäftigung arbeiten.
Kolleginnen und Kollegen, mir geht es nicht darum,sinnvolle und gut bezahlte Werkverträge zu verbieten,aber wir müssen handeln, damit der Missbrauch vonWerkverträgen eingedämmt wird, wenn es den Arbeitge-bern nur darum geht, reguläre Beschäftigungsverhält-nisse zu umgehen. Dazu habe ich konkrete Vorschläge:Zunächst einmal müssen wir die Mitbestimmungsvor-schriften bei Werkverträgen gesetzlich ändern. WennBetriebsräte noch nicht einmal wissen können, wo in ih-ren Unternehmen Werkverträge eingesetzt werden, dannkönnen sie auch nicht gegen Missbrauch vorgehen. Wirmüssen daher das Betriebsverfassungsgesetz so ändern,dass Betriebsräte informiert und beim Einsatz von Werk-verträgen beteiligt werden müssen.Mehr Mitbestimmung allein reicht aber nicht aus, umden Missbrauch effektiv einzudämmen. Besonders inUnternehmen ohne starke Betriebsräte müssen wir des-halb eine Kontrolle von Werkverträgen durch die Fi-nanzkontrolle Schwarzarbeit sichern.Daneben müssen wir gesetzlich Werkverträge von So-loselbstständigkeit abgrenzen. Auch die Abgrenzungvon Leiharbeit und Werkverträgen müssen wir klarstel-len, damit eine sinnvolle Kontrolle möglich ist. Wirbrauchen eine klare Definition von abhängiger undselbstständiger Beschäftigung im SGB IV.Liebe Kolleginnen und Kollegen, neben den verstärk-ten Kontrollen muss die Generalunternehmerhaftungausgeweitet werden. Oft werden Werkverträge an zahl-reiche Subunternehmer vergeben. Diese Subunterneh-merketten sind für Arbeitnehmer nicht durchschaubar,und im Zweifel geht der Subunternehmer pleite odertaucht ab. Der Arbeitnehmer geht in der Regel leer aus.Der Arbeitnehmer muss daher das Recht haben, auchbeim Generalunternehmer Lohn und faire Arbeitsbedin-gungen einzuklagen.
Vor Gericht brauchen wir zudem eine Umkehr derBeweislast. Nicht der Arbeitnehmer muss nachweisen,warum er glaubt, dass Missbrauch vorliegt, sondern derArbeitgeber muss nachweisen, warum kein Missbrauchvorliegt.Es ist immer wieder zu beobachten, dass besondersausländische Arbeitnehmer von prekärer Arbeit betrof-fen sind, weil sie oft sprachliche Probleme haben undnicht ausreichend über ihre Rechte informiert sind. Des-wegen fordere ich, dass die DGB-Büros für die Beratungvon entsandten Beschäftigten ausgebaut und langfristigvom Bund finanziell gesichert werden.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22349
Josip Juratovic
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, wir müssen dasThema Werkverträge sachlich und präzise angehen. Ichhabe hier einige Vorschläge gemacht, was wir gesetzlichändern müssen, um Missbrauch von Werkverträgen zuverhindern und den Arbeitnehmern ein Recht auf faireLöhne und gute Arbeitsbedingungen zu geben. DieAnträge von Grünen und Linken gehen uns trotz dergemeinsamen Zielrichtung nicht weit genug. Denn inallen Anträgen fehlt beispielsweise die wichtige Forde-rung nach einer Ausweitung der Generalunternehmer-haftung.Wir werden im Herbst einen eigenen Vorschlag vorle-gen, der klar und deutlich die Probleme und Lösungenaufzeigt. Denn wir müssen verhindern, dass sich immerwieder ein neues Tor zum Missbrauch öffnet, wenn wirein Einfallstor schließen, wie es bei der teilweisen Regu-lierung der Leiharbeit und dem Missbrauch von Werk-verträgen der Fall ist.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Für die FDP-Fraktion hat jetzt der Kollege Johannes
Vogel das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Als
vorletzter Redner in dieser Debatte, die ja – nicht nur
vom Kollegen Schreiner – über die allgemeine Lage am
deutschen Arbeitsmarkt und damit nicht allein über die
Anträge der Opposition geführt wurde, will ich festhal-
ten, wie angesichts der Daten, die wir von der Bundes-
agentur für Arbeit und den seriösen Forschungsinstituten
bekommen haben, die Lage am deutschen Arbeitsmarkt
ist.
Die Arbeitslosigkeit ist so niedrig wie seit 20 Jahren
nicht mehr. Die sozialversicherungspflichtige Beschäfti-
gung ist so hoch wie seit 1992 nicht mehr. Wir haben
trotz schwerer Krise in Europa die niedrigste Jugendar-
beitslosigkeit in ganz Europa. Sehr viele Menschen
schaffen den Einstieg in den Arbeitsmarkt, was ihnen
vorher nicht möglich war.
Das finden wir gut, und das ist etwas, worauf wir stolz
sein können.
Entgegen dem, was behauptet wurde, widmet sich
diese Koalition auch der Aufgabe, erstens dafür zu sor-
gen, dass die Menschen, die den Einstieg in den Arbeits-
markt schaffen, jetzt beispielsweise durch mehr Qualifi-
kation auch den Aufstieg auf dem Arbeitsmarkt schaffen
können, und zweitens dafür zu sorgen, dass der Miss-
brauch von flexiblen Beschäftigungsformen da, wo es
ihn gibt, erfolgreich verhindert und eingedämmt werden
kann. Dies mache ich Ihnen an den Themen, die in Ihren
Anträgen behandelt werden, deutlich.
Es geht zunächst um das Thema Zeitarbeit. Zeitarbeit
in Deutschland ist ganz normale sozialversicherungs-
pflichtige Beschäftigung,
mit allen Arbeitnehmerrechten wie in den anderen Bran-
chen auch. Zeitarbeit in Deutschland gibt sehr vielen
Menschen Einstiegschancen auf dem Arbeitsmarkt.
Zwei Drittel der Zeitarbeiter kommen aus der Beschäfti-
gungslosigkeit.
40 Prozent haben gar keine berufliche Qualifikation.
Zeitarbeit ist also etwas, was wir nicht sozusagen weg-
werfen sollten.
Sie sagen ja immer: Im Bereich der Zeitarbeit gibt es
einen großen Missbrauch. – Da kann ich nur wiederho-
len, was bereits vorhin gesagt wurde: Diese Koalition
hat Drehtüreffekte bei der Zeitarbeit gesetzlich ausge-
schlossen, einen branchenbezogenen tariflichen Min-
destlohn in der Zeitarbeit eingeführt und mit den Tarif-
partnern jetzt dafür gesorgt, dass es schrittweise
Angleichung und Equal Pay nach klug bemessener Frist
gibt. Ich kann nur sagen: Wie dann noch ein Missbrauch
der Zeitarbeit möglich sein soll, kann ich nicht erkennen.
Das ist gut so.
Herr Kollege Vogel, erlauben Sie eine Zwischenfrage
der Kollegin Zimmermann?
Von der Kollegin Zimmermann immer gerne.
Danke schön, Herr Präsident. – Danke schön, HerrVogel, dass Sie meine Frage zulassen. Ich weiß ja, dasswir immer ein gutes Verhältnis haben.
– Ja, das muss man hier einmal fürs Protokoll sagen. –Herr Vogel, da Sie davon sprechen, wie gut die Leihar-beit ist, möchte ich Sie fragen: Wissen Sie, dass die Bun-desagentur für Arbeit festgestellt hat, dass dort bis zu50 Prozent weniger Lohn gezahlt wird? Finden Sie esrichtig, dass viele Menschen teilweise über sieben Jahrein der Leiharbeit sind, aber so wenig Lohn bekommen,dass es sie fast arm macht?
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22350 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
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Liebe Frau Kollegin Zimmermann, in der Tat freueich mich über unser persönlich gutes Verhältnis. Aberdas kann natürlich nicht darüber hinwegtäuschen – mitIhrer Frage belegen Sie das erneut –, dass wir politischdoch einen ganz unterschiedlichen Blick auf die Realitäthaben.Ich stelle beim Thema Zeitarbeit fest:Erstens. Bei der Zeitarbeit gibt es einen branchenbe-zogenen tariflich vereinbarten Mindestlohn. Das heißt,Dumpinglöhne kann es dort nicht mehr geben.Zweitens. Zeitarbeit ist in Deutschland eine ganz nor-male Branche. Das heißt, die Menschen, die in der Zeit-arbeit arbeiten, verdienen genauso viel wie ihre Kolle-gen, die bei demselben Zeitarbeitsunternehmen arbeiten.Drittens. Wenn sich die Menschen in einem sehr lan-gen Verleiheinsatz befinden, wenn sie also ein Jahr oderlänger in einem Entleihunternehmen sind, dann ist esnatürlich irgendwann unfair, dass sie weniger verdienenals die Kollegen dieses Unternehmens. Genau deshalbist es gut, dass die Branche jetzt eine schrittweise An-gleichung an Equal Pay vornimmt, aber nach einer klugbemessenen Frist. Sie ist dabei, diese Lücke – das ist einGebot der Fairness – zu schließen. Gleichzeitig schafftsie es, die Balance zu halten: Der Missbrauch wird ver-hindert, aber die Vorteile des deutschen Zeitarbeitsmo-dells für die Menschen gehen nicht verloren.Das beschreibe ich als gute Politik für die Menschen,für die Unternehmen, für die gesamte Volkswirtschaftund den Arbeitsmarkt in unserem Land. Frau Kollegin,deshalb glaube ich, dass es gut ist, dass wir diesen Wegverfolgt haben, dass wir im Gegensatz zu Ihnen die Zeit-arbeit nicht kaputtmachen wollten und das deutscheZeitarbeitsmodell mit seinen Vorteilen für die Menschennicht zerstört haben. Das wäre nämlich der AusflussIhrer Politik, die Sie uns heute wieder darlegen, liebeKollegin Zimmermann. Das wollen wir nicht.
Dass Sie oft diese Balance nicht halten, zeigt sich inmeinen Augen auch bei Ihrem zweiten Thema, über daswir heute reden, nämlich bei den Werkverträgen. WennSie sich Sorgen machen, dass Menschen durch Werkver-träge verstärkt ausgenutzt werden könnten, dann kannich nur sagen: Der schlimmste Weg, hier den Missbrauchzu fördern, wäre, das zu machen, was Sie vorschlagen,liebe Kolleginnen und Kollegen von der Linken, näm-lich die Zeitarbeit nach dem deutschen Modell kaputtzu-machen und gesetzliche Mindestlöhne einzuführen, mitdenen dafür gesorgt wird, dass Menschen mit geringerQualifikation keine Beschäftigung mehr finden.
Dann würde in großem Umfang auf die Werkverträgeausgewichen werden. Dann gäbe es einen Missbrauchvon Werkverträgen. Deshalb ist gut, dass wir dabei nichtmitmachen.
Kommen wir nun zu Ihrer Behauptung, dass es schonheute Missbrauch bei den Werkverträgen gibt. Ich willhier nur auf die Anhörung im Ausschuss zu diesemThema verweisen. Das IAB, das Forschungsinstitut derBundesagentur für Arbeit, stellt ganz klar fest: Ein stei-gender Missbrauch von Werkverträgen in Deutschlandist auf Grundlage der vorhandenen seriösen Daten der-zeit nicht feststellbar. – Das ist der erste Punkt.Der zweite Punkt ist: Sie selber haben eben auf dieRazzien bei den Unternehmen Kaufland und Netto ver-wiesen. Wenn Razzien stattfinden, dann kann ich nurfeststellen: Das zeigt doch, dass wir ein effektives In-strumentarium haben, um Missbrauch da, wo es ihn gibt,zu verhindern.
Wie Sie daraus einen gesetzgeberischen Nachsteue-rungsbedarf ableiten wollen, kann ich nicht erkennen.Etwas anderes – das ist mein letzter Punkt – kann ichin Ihrem Antrag sehr wohl erkennen, liebe KolleginZimmermann, liebe Kolleginnen und Kollegen von denLinken – der Kollege Kolb hat es vorhin schon richtiggesagt –: In Ihrem Antrag spürt man schon – das fließtquasi aus jedem Satz heraus; das ist der Subtext in IhremAntrag –, dass Sie in Wahrheit den Grundgedanken vonWerkverträgen, nämlich dass ein Unternehmen bestimmteAufgaben an ein anderes Unternehmen abgibt, weil es da-rauf spezialisiert ist und diese Aufgaben besser erledigenkann, ablehnen und er Ihnen zutiefst zuwider ist.
– Dafür bekomme ich sogar Applaus. Das heißt, meineWahrnehmung wird bestätigt.Liebe Kolleginnen und Kollegen von den Linken, ichwill Sie bitten, darüber wirklich nachzudenken. Arbeits-teiliges Wirtschaften, die Idee, dass man Aufgaben, dieandere, die darauf spezialisiert sind, besser erledigenkönnen, abgibt, ist eine wesentliche Triebfeder desmenschlichen Fortschritts überhaupt. Spezialisierung istdas entscheidende Instrument, mit dem die deutscheWirtschaft in der globalen Wirtschaft des 21. Jahrhun-derts wettbewerbsfähig geworden ist.
Ich bitte Sie dringend, darüber nachzudenken, ob Sie daswirklich wegwerfen wollen, und Ihre Haltung zu über-denken. Wir jedenfalls werden aus diesen Gründen IhreAnträge heute ablehnen.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22351
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Als letzter Redner zu diesem Tagesordnungspunkt hat
jetzt der Kollege Dr. Johann Wadephul von der CDU/
CSU-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Herr Kollege Schreiner, ich will gerne etwaszum Fußball sagen. Wir sind jetzt in dieser Debatte indie Verlängerung gegangen. Ich bin der festen Überzeu-gung, dass Deutschland heute Abend ohne Verlängerung2:1 gegen Italien gewinnen wird.
Das wäre eine gute Grundlage für die nächsten Tage.Ausgangslage ist in der Tat – der Kollege Vogel hatdarauf hingewiesen – eine Situation in der deutschenWirtschaft und auf dem deutschen Arbeitsmarkt, die Siefast vergessen wollen. Wenn man Ihre Debattenbeiträgeverfolgt, dann könnte man glauben, dass wir in einemLand des Elends und der Not leben und in einer außeror-dentlich prekären Situation sind.Wirklichkeit ist, dass wegen erfolgreicher und sichpositiv auswirkender Entscheidungen, die Rot-Grün vorgut zehn Jahren getroffen hat – das Tragische dabei ist,dass Sie sich heute dieser Entscheidungen schämen –,und einer erfolgreichen Wirtschafts- und Arbeitsmarkt-politik der christlich-liberalen Koalition der Arbeits-markt in Deutschland boomt. Europa und die Welt be-wundern uns aufgrund unseres Jobwunders.
Das ist Anlass, auf unsere Politik stolz zu sein, statt siejeden Tag infrage zu stellen.Der Regelfall ist im Übrigen auch das sozialversiche-rungspflichtige Beschäftigungsverhältnis. Ich weiß nicht,was Sie an die Wand malen. Wir haben nahezu 29 Mil-lionen sozialversicherungspflichtig Beschäftigte inDeutschland. Sie führen wie die Arbeitgeber Sozialver-sicherungsbeiträge ab und zahlen Steuern, sie leben aufeiner sicheren Grundlage und tragen zum Wohlstand inDeutschland bei. Arbeitsmarktpolitik in Deutschland istin dieser Koalition von CDU, CSU und FDP ein Erfolgs-modell. Das lassen wir uns von Ihnen nicht zerreden,meine sehr verehrten Damen und Herren.
In der Tat – darin sind wir vollkommen einer Mei-nung – ist ein solches Beschäftigungsverhältnis dieGrundlage dafür, dass Menschen sich nicht nur persön-lich in Sicherheit wiegen und fühlen, sondern dass sie– damit haben Sie völlig recht, Herr Schreiner – aucheine ausreichende soziale und wirtschaftliche Grundlagefür die Zukunft sehen. Das ist besonders für junge Men-schen wichtig, die sich entscheiden, eine Familie zugründen. Deswegen ist die gute Sozial- und Beschäfti-gungspolitik, die wir betreiben, auch eine gute Familien-politik und wahrscheinlich noch wichtiger als viele fami-lienpolitische Leistungen, die wir hier diskutiert haben.
Das ist eine wichtige Grundlage, und das wird auch vonuns in keiner Weise infrage gestellt.Es stellt auch niemand in diesem Hause infrage, dassprekäre Beschäftigungsverhältnisse nicht zulässig sind.Auch dass die sogenannten Dumpinglöhne, mit denenArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer ausgebeutet wer-den, nicht zulässig sind, ist völlig unstreitig.
Das hat schon jetzt nach deutschem Recht zur Folge,dass diese Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer einenAnspruch auf höheren Lohn haben.Zu der Frage, ob und in welcher Form wir darüberhinaus eine allgemeine Lohnuntergrenze in Deutschlandgesetzlich regeln sollten, gibt es in diesem Hause unter-schiedliche Vorstellungen und Auffassungen, sogar in-nerhalb unserer Koalition, was öffentlich mindestens sobekannt ist wie das freundschaftliche Verhältnis vonFrau Zimmermann und Herrn Vogel. Ich bin allerdingsoptimistisch, dass wir, was die allgemeine Lohnunter-grenze angeht, eher zueinanderfinden, als dass FrauZimmermann und Herr Vogel – in politischer Hinsichtnatürlich – noch weiter zueinanderfinden. Lieber Kol-lege Vogel, ich glaube, dass wir politisch näher beieinan-der sind, dass wir gemeinsam zu einem guten Ergebniskommen und dass wir verhindern, dass Menschen durchArbeitgeber ausgenutzt werden können. Jeder, der inVollzeit arbeitet, hat einen Anspruch darauf, dass er undseine Familie davon leben können. Das ist auch eineGrundlage unserer christlich begründeten politischenAuffassung.
Ich warne allerdings davor, von vornherein prekäreBeschäftigungsverhältnisse, die es bedauerlicherweise inDeutschland gibt, pauschal in einen Topf zu werfen, wieSie das tun, und zu sagen: Jeder, der im Rahmen der Ar-beitnehmerüberlassung bzw. auf Grundlage eines Werk-vertrages befristet beschäftigt ist, befindet sich automa-tisch in einer prekären Beschäftigungssituation. – Das isteine Simplifizierung, die nicht zulässig ist.
Jeder wünscht sich natürlich ein unbefristetes Arbeits-verhältnis. Aber es gibt oft gute Gründe, ein Beschäfti-gungsverhältnis zu befristen. Eine familienpolitischeAnmerkung dazu: Die meisten Befristungen dienen imÜbrigen der Überbrückung von Schwangerschafts- undMutterschaftsfehlzeiten. Das sind gute Befristungen. Einbefristetes Arbeitsverhältnis ist erst einmal ein Arbeits-verhältnis. Sozial ist, was Arbeit schafft.
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22352 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Johann Wadephul
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Deswegen sind auch befristete Arbeitsverhältnisse ersteinmal gute Arbeitsverhältnisse. Wir sollten sie dahernicht von vornherein diskreditieren.
– Herr Präsident, ich möchte in meinen Ausführungengerne fortfahren, weil die Kollegen den Wunsch geäu-ßert haben, schnell zu einem Ende zu kommen.
Also keine Zwischenfrage?
Nein.
Danke.
Zur Arbeitnehmerüberlassung hat der Kollege Vogel
bereits das Notwendige gesagt. Nur so viel: Auch bei der
Arbeitnehmerüberlassung handelt es sich zuallererst um
sozialversicherungspflichtige Beschäftigung. Sie sorgt
für die von unserer Wirtschaft dringend benötigte Flexi-
bilität. Frau Müller-Gemmeke, Sie beklagen, dass die
Wertschöpfung in der deutschen Automobilindustrie,
zum Beispiel bei Daimler, zu einem großen Teil – wahr-
scheinlich zu über 50 Prozent – nicht mehr in Deutsch-
land stattfindet, weil vieles ausgelagert wurde. Wenn
aber auf diese Art und Weise deutsche Arbeitnehmerin-
nen und Arbeitnehmer – seien sie nun bei Daimler oder
anderswo beschäftigt – Arbeit haben und Geld verdienen
und wenn dadurch in Deutschland Steuern generiert wer-
den, wenn das die Grundlage dafür ist, dass Mercedes-
Benz viele Kraftfahrzeuge überall auf der Welt verkauft,
dann finde ich persönlich das gut und freue mich da-
rüber.
Das ist die Grundlage dafür, dass wir Beschäftigung und
Wohlstand in Deutschland haben. Ich habe die große
Hoffnung, dass wir das erhalten. Wir sollten das nicht
andauernd infrage stellen.
Ich rate auch in dieser Debatte dringend davon ab, die
Möglichkeiten, die die Sozialpartnerschaft in Deutsch-
land hat, infrage zu stellen. Sie ergehen sich jeden Tag
darin und sagen: Die Gewerkschaften haben keine
Macht mehr; sie können keine Mindestlöhne gewährleis-
ten. Nun seien schon die Betriebsräte nicht mehr in der
Lage, das in den Betrieben zu überwachen. – Das ist
falsch. Betriebsräte haben nicht nur bei der Beschäfti-
gung von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern, son-
dern auch beim Abschluss von Werkverträgen nach § 80
des Betriebsverfassungsgesetzes den Anspruch, vom
Unternehmer Auskünfte zu erhalten. Ich verweise Sie
auf einen Beschluss des Bundesarbeitsgerichts vom
31. Januar 1989 – ich darf kurz zitieren –:
Der Betriebsrat kann auch verlangen, dass ihm die
Listen zur Verfügung gestellt werden, aus denen
sich die Einsatztage und Einsatzzeiten der einzel-
nen Arbeitnehmer der Fremdfirmen ergeben.
Der Betriebsrat darf also sehr viel mehr, als Sie be-
haupten. Reden Sie die Betriebsräte und die Gewerk-
schaften nicht schwach! Die Sozialpartnerschaft, die in
den Betrieben und im Rahmen der Tarifautonomie gelebt
wird, bildet die Grundlage dafür, dass Deutschland Kri-
senzeiten übersteht, dass wir jederzeit wettbewerbsfähig
sind und dass es eine soziale Arbeitswelt gibt, die dafür
sorgt, dass die Schwachen nicht unterdrückt, sondern
einbezogen werden. Unsere Arbeitsmarktpolitik ist fun-
diert, gut und erfolgreich. Wir sollten sie fortsetzen.
Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9980 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-empfehlung des Ausschusses für Arbeit und Soziales aufDrucksache 17/9473. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung die Ablehnungdes Antrags der Fraktion Die Linke auf Drucksache17/7220 mit dem Titel „Missbrauch von Werkver-trägen verhindern – Lohndumping eindämmen“. Werstimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer stimmtdagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegendie Stimmen der Fraktion Die Linke bei Enthaltung vonSPD und Grünen angenommen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen auf Drucksache 17/7482 mit dem Titel „Leiharbeitund Werkverträge abgrenzen – Kontrollen verstärken“.Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Gegen-stimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlungist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen bei Gegen-stimmen der Grünen und Enthaltung der SPD und derLinken angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 51 a bis g und i so-wie den Zusatzpunkt 3 a bis d auf:51 a) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-rung des Mikrozensusgesetzes 2005– Drucksache 17/10041 –Überweisungsvorschlag:Innenausschuss
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22353
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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b) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Siebten Gesetzes zurÄnderung des Weingesetzes– Drucksachen 17/10042, 17/10124 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzc) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 3. Juli 2009 zwischen der Regie-rung der Bundesrepublik Deutschland undder Regierung von Bermuda über den Aus-kunftsaustausch in Steuersachen– Drucksache 17/10043 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschussd) Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zu dem Ab-kommen vom 28. Oktober 2011 zwischen derRegierung der Bundesrepublik Deutschlandund der Regierung von Montserrat über dieUnterstützung in Steuer- und Steuerstrafsa-chen durch Informationsaustausch– Drucksache 17/10044 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Rechtsausschusse) Beratung des Antrags der Abgeordneten MarianneSchieder , Ulla Burchardt, Dr. ErnstDieter Rossmann, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPD sowie der AbgeordnetenDr. Petra Sitte, Agnes Alpers, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKE sowie der Abgeordneten KristaSager, Kai Gehring, Ekin Deligöz, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENFrauen in Wissenschaft und Forschung –Mehr Verbindlichkeit für Geschlechtergerech-tigkeit– Drucksache 17/9978 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Arbeit und Soziales Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugendf) Beratung des Antrags der Abgeordneten BeateWalter-Rosenheimer, Volker Beck ,Dr. Gerhard Schick, weiterer Abgeordneter undder Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKonsequente Umsetzung des Public CorporateGovernance Kodex– Drucksache 17/9984 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Rechtsausschuss Finanzausschussg) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Christian Ruck, Josef Göppel, Marie-LuiseDött, weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten MichaelKauch, Horst Meierhofer, Angelika Brunkhorst,weiterer Abgeordneter und der Fraktion der FDPNeue Impulse für einen wirksamen und um-fassenden Schutz der Afrikanischen Elefanten– Drucksache 17/10110 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklung Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Haushaltsausschussi) Beratung des Antrags der AbgeordnetenAngelika Krüger-Leißner, Siegmund Ehrmann,Petra Ernstberger, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDEin nationales Digitalisierungsprogramm fürunser Filmerbe– Drucksache 17/10098 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Kultur und Medien
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union HaushaltsausschussZP 3 Weitere Überweisungen im vereinfachten Ver-fahrenErgänzung zu TOP 51a) Erste Beratung des von der Fraktion der SPD ein-gebrachten Entwurfs eines … Gesetzes zur Än-derung des Urheberrechtsgesetzes– Drucksache 17/10087 –Überweisungsvorschlag:Rechtsausschuss
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für Kultur und Medienb) Beratung des Antrags der Abgeordneten VolkerBeck , Marieluise Beck (Bremen), TomKoenigs, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENEinreiseverbot in die EU für die russischen Be-teiligten an dem Fall Magnitskij– Drucksache 17/10111 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
Innenausschuss Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union Federführung strittigc) Beratung des Antrags der Abgeordneten AgnesBrugger, Omid Nouripour, Katja Keul, weiterer
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22354 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Abgeordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDie Beschaffung unbemannter Systeme über-prüfen– Drucksache 17/9414 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger Ausschuss Innenausschuss Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungd) Bericht des Ausschusses für Bildung, Forschungund Technikfolgenabschätzung
gemäß § 56 a der GeschäftsordnungTechnikfolgenabschätzung
Stand und Perspektiven der militärischen Nut-zung unbemannter Systeme– Drucksache 17/6904 –Überweisungsvorschlag:Verteidigungsausschuss
Auswärtiger Ausschuss Ausschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungAusschuss für die Angelegenheiten der Europäischen UnionEs handelt sich um Überweisungen im vereinfach-ten Verfahren ohne Debatte.Wir kommen zunächst zu einer Überweisung – das istder Zusatzpunkt 3 b –, bei der die Federführung strittig ist.Interfraktionell wird die Überweisung des Antrags derFraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/10111mit dem Titel „Einreiseverbot in die EU für die russi-schen Beteiligten an dem Fall Magnitskij“ an die in derTagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen.Die Fraktion der CDU/CSU wünscht, dass die Federfüh-rung beim Auswärtigen Ausschuss liegt. Die FraktionBündnis 90/Die Grünen wünscht, dass der Ausschuss fürMenschenrechte und Humanitäre Hilfe die Federführunghat.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen – Federführung beimAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe –abstimmen. Wer ist für diesen Überweisungsvor-schlag? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? – Der Über-weisungsvorschlag ist bei Zustimmung der Oppositions-fraktionen und Ablehnung der Koalitionsfraktionenabgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und der FDP – Federführungbeim Auswärtigen Ausschuss – abstimmen. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Gegenstimmen? –Der Überweisungsvorschlag ist mit umgekehrtem Ab-stimmungsverhältnis angenommen.Wir kommen nun zu den unstrittigen Überweisungenbetreffend den Tagesordnungspunkt 51 a bis g und i so-wie den Zusatzpunkt 3 a, c und d. Interfraktionell wirdvorgeschlagen, die Vorlagen an die in der Tagesordnungaufgeführten Ausschüsse zu überweisen. Sind Sie damiteinverstanden? – Das ist der Fall. Dann sind die Über-weisungen so beschlossen.Wir kommen nun zu dem Tagesordnungspunkt 52 abis g und i bis q sowie dem Zusatzpunkt 4 a bis l. Eshandelt sich um Beschlussfassungen zu Vorlagen, zudenen keine Aussprache vorgesehen ist.Tagesordnungspunkt 52 a:– Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zu dem Abkommenvom 7. Oktober 2011 zwischen der Bundes-republik Deutschland und der RepublikMauritius zur Vermeidung der Doppelbe-steuerung und der Steuerverkürzung aufdem Gebiet der Steuern vom Einkommen– Drucksache 17/9689 –– Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesGesetzes zum Abkommen vom 19. und28. Dezember 2011 zwischen dem Deut-schen Institut in Taipeh und der Taipeh Ver-tretung in der Bundesrepublik Deutschlandzur Vermeidung der Doppelbesteuerung undzur Verhinderung der Steuerverkürzunghinsichtlich der Steuern vom Einkommenund vom Vermögen– Drucksache 17/9690 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/10036 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred KolbeLothar Binding
Zuerst komme ich zur Abstimmung über den von derBundesregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzeszu dem Abkommen mit der Republik Mauritius zur Ver-meidung der Doppelbesteuerung und der Steuerverkür-zung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen. DerFinanzausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/10036, den Ge-setzentwurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9689anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derSPD bei Enthaltung der Linken und der Grünen ange-nommen.Ich komme zur Abstimmung über den von der Bundes-regierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zum Ab-kommen zwischen dem Deutschen Institut in Taipeh undder Taipeh-Vertretung in der Bundesrepublik Deutsch-land zur Vermeidung der Doppelbesteuerung und zur Ver-hinderung der Steuerverkürzung hinsichtlich der Steuernvom Einkommen und vom Vermögen. Der Finanzaus-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22355
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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schuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/10036, den Gesetzentwurf derBundesregierung auf Drucksache 17/9690 anzunehmen.Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zustimmenwollen, um das Handzeichen. – Gegenstimmen? – Ent-haltungen? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Be-ratung mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen und derSPD bei Gegenstimmen der Grünen und Enthaltung derLinken angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist mit gleichem Stimmenverhältnis angenommen.Tagesordnungspunkt 52 b:Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Übereinkommen vom9. Dezember 2011 über den InternationalenSuchdienst– Drucksache 17/9693 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
– Drucksache 17/10047 –Berichterstattung:Abgeordnete Erika SteinbachChristoph SträsserSerkan TörenKatrin WernerVolker Beck
Der Ausschuss für Menschenrechte und HumanitäreHilfe empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/10047, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/9693 anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist einstimmig ange-nommen.Tagesordnungspunkt 52 c:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszu dem Abkommen vom 7. Dezember 2011zwischen der Bundesrepublik Deutschlandund dem Vereinigten Königreich Großbritan-nien und Nordirland zur Vermeidung derDoppelbelastung bei der Bankenabgabe– Drucksache 17/9688 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksache 17/10154 –Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausManfred ZöllmerBjörn SängerDer Finanzausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung auf Drucksache 17/10154, den Gesetzent-wurf der Bundesregierung auf Drucksache 17/9688 an-zunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurfzustimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist in zwei-ter Beratung angenommen mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen derLinken und Enthaltung der Grünen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis angenommen.Tagesordnungspunkt 52 d:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines DrittenGesetzes zur Änderung wohnungsrechtlicherVorschriften– Drucksache 17/9851 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
– Drucksache 17/10167 –Berichterstattung:Abgeordneter Michael GroßDer Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwick-lung empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/10167, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/9851 in der Ausschussfas-sung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetz-entwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umihr Handzeichen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist in zweiter Beratung mit den Stim-men der Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen derLinken und Enthaltung von SPD und Grünen angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-stimmen wollen, sich zu erheben. – Gegenstimmen? –Enthaltungen? – Der Gesetzentwurf ist mit gleichemStimmenverhältnis angenommen.Tagesordnungspunkt 52 e:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Änderung des Geodatenzugangsgesetzes– Drucksache 17/9686 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicher-heit
– Drucksache 17/10080 –
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Thomas GebhartDr. Matthias MierschJudith SkudelnyRalph LenkertDorothea SteinerDer Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktor-sicherheit empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/10080, den Gesetzentwurf der Bundesre-gierung auf Drucksache 17/9686 anzunehmen. Ich bittediejenigen, die zustimmen wollen, um ihr Handzeichen. –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Der Gesetzentwurfist in zweiter Beratung mit den Stimmen der Koalitions-fraktionen bei Gegenstimmen der Linken und Enthal-tung von SPD und Grünen angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, den bitteich, sich zu erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist mit gleichem Stimmenverhältnisangenommen.Tagesordnungspunkt 52 f:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Arbeit und Soziales
– zu dem Antrag der Abgeordneten OttmarSchreiner, Anette Kramme, Petra Ernstberger,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derSPDDemokratische Teilhabe von Belegschaftenund ihren Vertretern an unternehmerischenEntscheidungen stärken– zu dem Antrag der Abgeordneten JuttaKrellmann, Sahra Wagenknecht, Klaus Ernst,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEUnternehmensmitbestimmung lückenlos ga-rantieren– Drucksachen 17/2122, 17/1413, 17/7696 –Berichterstattung:Abgeordnete Jutta KrellmannDer Ausschuss für Arbeit und Soziales empfiehlt un-ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/7696 die Ablehnung des Antrags der Fraktionder SPD auf Drucksache 17/2122 mit dem Titel „Demo-kratische Teilhabe von Belegschaften und ihren Vertre-tern an unternehmerischen Entscheidungen stärken“.Wer stimmt für die Beschlussempfehlung? – Gegenstim-men? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfehlung istangenommen mit den Stimmen der Koalitionsfraktionengegen die Stimmen von SPD und Linken bei Enthaltungder Grünen.Unter Buchstabe b empfiehlt der Ausschuss die Ab-lehnung des Antrags der Fraktion Die Linke auf Druck-sache 17/1413 mit dem Titel „Unternehmensmitbestim-mung lückenlos garantieren“. Wer stimmt für dieseBeschlussempfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen bei Gegenstimmen der Linkenund Grünen und Enthaltung der SPD-Fraktion angenom-men.Tagesordnungspunkt 52 g:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
von Cramon-Taubadel, Volker Beck ,Marieluise Beck , weiterer Abgeordne-ter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENFür eine engere Kooperation mit Georgien– Drucksachen 17/8778, 17/9622 –Berichterstattung:Abgeordnete Manfred GrundFranz ThönnesBirgit HomburgerWolfgang GehrckeKerstin Müller
Der Auswärtige Ausschuss empfiehlt in seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/9622, den Antragder Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf Drucksache17/8778 mit dem Titel „Für eine engere Kooperation mitGeorgien“ abzulehnen. Wer stimmt für diese Beschluss-empfehlung? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – DieBeschlussempfehlung ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen bei Gegenstimmen der Grünen und Ent-haltung von SPD und Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 52 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Rechts-ausschusses
Übersicht 7über die dem Deutschen Bundestag zugeleite-ten Streitsachen vor dem Bundesverfassungs-gericht– Drucksache 17/10148 –Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Ge-genstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussempfeh-lung ist einstimmig angenommen.Wir kommen zu den Beschlussempfehlungen des Pe-titionsausschusses.Tagesordnungspunkt 52 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 445 zu Petitionen– Drucksache 17/9964 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Sammelübersicht 445 ist einstimmig angenom-men.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22357
Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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Tagesordnungspunkt 52 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 446 zu Petitionen– Drucksache 17/9965 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmender Linken und Enthaltung der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 52 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 447 zu Petitionen– Drucksache 17/9966 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig angenom-men.Tagesordnungspunkt 52 m:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 448 zu Petitionen– Drucksache 17/9967 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmender Linken und der Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 52 n:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 449 zu Petitionen– Drucksache 17/9968 –Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Linken bei Gegenstim-men von SPD und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 52 o:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 450 zu Petitionen– Drucksache 17/9969 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der Grünen bei Gegenstimmenvon SPD und Linken angenommen.Tagesordnungspunkt 52 p:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 451 zu Petitionen– Drucksache 17/9970 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen bei Enthaltung der SPD und Ge-genstimmen von Linken und Grünen angenommen.Tagesordnungspunkt 52 q:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 452 zu Petitionen– Drucksache 17/9971 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen.Jetzt kommen wir zum Zusatzpunkt 4 a:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für die Angelegenheitender Europäischen Union zu demAntrag der Abgeordneten Manuel Sarrazin, LisaPaus, Viola von Cramon-Taubadel, weiterer Ab-geordneter und der Fraktion BÜNDNIS 90/DIEGRÜNENEin starker Haushalt für ein ökologisches undsolidarisches Europa – Der Mehrjährige Fi-nanzrahmen 2014–2020– Drucksachen 17/7952, 17/10081 –Berichterstattung:Abgeordnete Bettina KudlaMichael Roth
Joachim SpatzDr. Diether DehmManuel SarrazinDer Ausschuss empfiehlt in seiner Beschlussempfeh-lung auf Drucksache 17/10081, den Antrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/7952 abzu-lehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenund der Fraktion Die Linke bei Gegenstimmen der Grü-nen und Enthaltung der SPD angenommen.Zusatzpunkt 4 b:Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses
zu dem Streitverfahren vor dem Bundesver-fassungsgericht gegen die Gesetze zu Fiskal-vertrag und Europäischem Stabilitätsmecha-nismus
– Drucksache 17/10149 –Der Rechtsausschuss empfiehlt in seiner Beschluss-empfehlung, im Streitverfahren Stellung zu nehmen undden Präsidenten zu bitten, mehrere Prozessbevollmäch-tigte zu bestellen. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dage-
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gen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfehlung istmit den Stimmen aller Fraktionen bei Enthaltung derFraktion Die Linke angenommen.Wir kommen zu weiteren Beschlussempfehlungendes Petitionsausschusses.Zusatzpunkt 4 c:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 453 zu Petitionen– Drucksache 17/10134 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist einstimmig angenom-men.Zusatzpunkt 4 d:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 454 zu Petitionen– Drucksache 17/10135 –Wer ist dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht ist ebenfalls einstimmig angenom-men.Zusatzpunkt 4 e:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 455 zu Petitionen– Drucksache 17/10136 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmender Linken und Enthaltung der Grünen angenommen.Zusatzpunkt 4 f:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 456 zu Petitionen– Drucksache 17/10137 –Wer ist dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht ist einstimmig angenommen.Zusatzpunkt 4 g:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 457 zu Petitionen– Drucksache 17/10138 –Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen aller Fraktio-nen bei Enthaltung der Linken angenommen.Zusatzpunkt 4 h:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 458 zu Petitionen– Drucksache 17/10139 –Wer ist dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen aller Fraktio-nen bei Gegenstimmen der Grünen angenommen.Zusatzpunkt 4 i:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 459 zu Petitionen– Drucksache 17/10140 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen allerFraktionen bei Gegenstimmen der Linken angenommen.Zusatzpunkt 4 j:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 460 zu Petitionen– Drucksache 17/10141 –Wer ist dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der SPD bei Gegenstimmen der Lin-ken und der Grünen angenommen.Zusatzpunkt 4 k:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 461 zu Petitionen– Drucksache 17/10142 –Wer stimmt dafür? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Darf ich das wiederholen, weil der Herr von derSPD anscheinend an der falschen Stelle die Hand geho-ben hat? –
Ich wiederhole: Sammelübersicht 461 auf Drucksa-che 17/10142. Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Werenthält sich? –
Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koali-tionsfraktionen und der Fraktion Die Linke bei Gegen-stimmen von SPD und Grünen angenommen.Zusatzpunkt 4 l:Beratung der Beschlussempfehlung des Petitions-ausschusses
Sammelübersicht 462 zu Petitionen– Drucksache 17/10143 –Wer ist dafür? – Wer ist dagegen? – Wer enthält sich? –Die Sammelübersicht ist mit den Stimmen der Koali-
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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tionsfraktionen gegen die Stimmen der Oppositionsfrak-tionen angenommen.Wir kommen zu Beschlussempfehlungen des Vermitt-lungsausschusses, Zusatzpunkte 5 bis 7.Ich rufe zunächst Zusatzpunkt 5 auf:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
tration und Anwendung von Technologien zurAbscheidung, zum Transport und zur dauer-haften Speicherung von Kohlendioxid– Drucksachen 17/5750, 17/6264, 17/6507,17/7240, 17/7543, 17/10101 –Berichterstattung:Abgeordneter Stefan Müller
Wird das Wort zur Berichterstattung gewünscht? –Das ist nicht der Fall.Wir kommen zur Abstimmung. Der Vermittlungsaus-schuss hat gemäß § 10 Abs. 3 Satz 1 seiner Geschäfts-ordnung beschlossen, dass im Deutschen Bundestagüber die Änderungen gemeinsam abzustimmen ist. Diesgilt auch für die noch folgenden Beschlussempfehlungendes Vermittlungsausschusses zu den Zusatzpunkten 6und 7. Wer stimmt für die Beschlussempfehlung des Ver-mittlungsausschusses? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist mit den Stimmender Koalitionsfraktionen und der Fraktion Die Linke –Habe ich das jetzt richtig aufgenommen?
– Gegen die Stimmen der Linken bei Enthaltung vonSPD und Grünen – –
– Gut, dann wiederhole ich die Abstimmung. Entschul-digen Sie. – Drucksache 17/10101. Wer stimmt für dieBeschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses? –Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Die Beschlussemp-fehlung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionenbei Gegenstimmen von Linken und Grünen und Enthal-tung der SPD-Fraktion angenommen.Zusatzpunkt 6:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
rung der Mediation und anderer Verfahrender außergerichtlichen Konfliktbeilegung– Drucksachen 17/5335, 17/5496, 17/8058,17/8680, 17/10102 –Berichterstattung:Abgeordneter Jörg van EssenDas Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für dieBeschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses aufDrucksache 17/10102? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist einstimmig ange-nommen.Zusatzpunkt 7:Beratung der Beschlussempfehlung des Aus-
rung des Rechtsrahmens für Strom aus solarerStrahlungsenergie und zu weiteren Änderun-gen im Recht der erneuerbaren Energien– Drucksachen 17/8877, 17/9152, 17/9643,17/10103 –Berichterstattung:Abgeordneter Michael Grosse-BrömerDas Wort zur Berichterstattung wird nicht gewünscht.Wir kommen zur Abstimmung. Wer stimmt für dieBeschlussempfehlung des Vermittlungsausschusses aufDrucksache 17/10103? – Gegenstimmen? – Enthaltun-gen? – Die Beschlussempfehlung ist bei Enthaltung derFraktion Die Linke ansonsten einstimmig angenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 5 auf:Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENWahl der vom Deutschen Bundestag zu benen-nenden Mitglieder des Wissenschaftlichen Be-ratungsgremiums gemäß § 39 a des Stasi-Un-terlagen-Gesetzes– Drucksache 17/10089 –Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlagauf Drucksache 17/10089? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Wahlvorschlag ist einstimmig angenom-men.Ich rufe Tagesordnungspunkt 6 auf:Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,FDP, DIE LINKE und BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NENWahl der Mitglieder des Kuratoriums der Stif-tung „Erinnerung, Verantwortung und Zu-kunft“– Drucksache 17/10090 –Wer stimmt für den interfraktionellen Wahlvorschlagauf Drucksache 17/10090? – Gegenstimmen? – Enthal-tungen? – Der Wahlvorschlag ist ebenfalls einstimmigangenommen.Ich rufe Tagesordnungspunkt 7 auf:Wahlvorschläge der Fraktionen CDU/CSU, SPD,FDP und DIE LINKEWahl der Mitglieder des Stiftungsrates derBundesstiftung Baukultur gemäß § 7 des Ge-
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Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms
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setzes zur Errichtung einer „BundesstiftungBaukultur“– Drucksache 17/10091 –Wer stimmt für den Wahlvorschlag der FraktionenCDU/CSU, SPD, FDP und Die Linke auf Drucksa-che 17/10091? – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Dies ist eine strittige Entscheidung: Alle Fraktionen ha-ben zugestimmt mit Ausnahme der Grünen, die dagegengestimmt haben.Ich rufe Zusatzpunkt 8 auf:Aktuelle Stundeauf Verlangen der Fraktion der SPDKorruption im Gesundheitswesen bekämpfen –Konsequenzen aus dem BGH-Urteil ziehenIch eröffne die Aussprache und erteile als erstem Red-ner dem Kollegen Edgar Franke von der SPD-Fraktiondas Wort.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Der Bundesgerichtshof, konkret: der Große Se-nat für Strafsachen, hat in der letzten Woche eine ge-richtliche Entscheidung getroffen, die von weitreichen-der Bedeutung für das Gesundheitswesen ist.Pharmavertreter, die freiberuflich tätige Ärzte schmierenwollen, aber auch Ärzte, die sich schmieren lassen, kön-nen wegen Bestechlichkeit und Bestechung nicht be-straft werden.Um was ging es in diesem Verfahren konkret? EinHersteller von Generika hatte Ärzten, die seine Produkteverschrieben haben, als Belohnung 5 Prozent vom Her-stellerpreis überwiesen. Dass das nicht sein darf, hatauch der BGH so gesehen. Er hat nämlich über ein Jahrlang nach einem Straftatbestand gesucht, der einschlägigist. Es sei jedoch Aufgabe des Gesetzgebers, so derBGH, zu entscheiden – ich zitiere –:ob die Korruption im Gesundheitswesen strafwür-dig ist und durch Schaffung entsprechenderStraftatbestände eine effektive strafrechtliche Ahn-dung ermöglicht werden soll.Nichts anderes hat die SPD schon in ihrem Antrag imJahr 2010 gefordert.
Wir brauchen ergänzende Normen, um diese Rege-lungslücke zu schließen; denn es ist niemandem zu er-klären, dass ein angestellter Arzt, wenn er geschmiertwird, bestraft werden kann, ein niedergelassener Arztaber nicht. Das versteht keiner.
Der Grund ist ein rechtlicher: Er ist kein Beauftragter derKrankenkasse. Das heißt also: Ein freiberuflich tätigerArzt kann selbst dann nicht bestraft werden, wenn er bei-spielsweise im Bereich der Onkologie, also im Bereichder Krebsbehandlung, wo es um Leben und Tod geht,Schmiergeld nimmt. Er kann selbst dann nicht bestraftwerden, wenn er aufgrund von SchmiergeldzahlungenMedikamente verschreibt, die vielleicht sogar schlechterwirken und im Vergleich zu den Produkten anderer Her-steller teurer sind. Das kann nicht sein. Ich glaube, daskann man niemandem erklären. Vor allen Dingen kannman die volkswirtschaftlichen Schäden und die Schädenbei den Krankenkassen nicht erklären. Darauf muss maneinmal hinweisen.Wir alle wissen: Ein Kassenarzt löst durch sein Tätig-werden – angefangen beim Ausstellen des Rezepts bishin zu den Krankenhauseinweisungen – Kosten aus, dielocker fünf- bis siebenmal so hoch sind wie sein Hono-rar. Die Liste der Abhängigen ist lang; auch das wissenwir. Das geht vom orthopädischen Schuhmachermeister– einer aus meinem Wahlkreis ist heute anwesend – überden Augenoptiker, das Sanitätshaus bis hin zum Hörge-räteakustiker. Alle Beteiligten können Geschichten er-zählen von Fangprämien oder von Geldzahlungen. Dasist die Realität in Deutschland. Auch darauf muss manhinweisen.
Hier fließt nicht nur Geld, sondern – das ist vielleichtnoch entscheidender – hier ist auch kein Unrechtsbe-wusstsein vorhanden. Es wird zwar verschiedentlich an-gemerkt, es gebe standesrechtliche Berufsordnungen derÄrzte und letztlich sei auch im SGB V geregelt, dassman solche Prämien nicht annehmen dürfe; aber wederdas SGB V noch das Standesrecht sieht wirksame Sank-tionen vor. Das wissen wir aus der Praxis.Die Patientinnen und Patienten müssen sicher sein,dass bei den Entscheidungen des Arztes für eine Thera-pie oder für eine Operation allein medizinische Gründemaßgebend sind und nicht monetäre Verlockungen, vonwem auch immer.
Die Politik muss handeln. Damit hier kein falscherZungenschlag aufkommt: Wir haben in Deutschland einhervorragendes Gesundheitswesen.
– Sehr geehrter Herr Spahn, wir haben auch hervorra-gende niedergelassene Ärzte. Aber, Herr Spahn, geradewenn man das System aufrechterhalten will, brauchtman eine Abschreckung für diejenigen, die das Systembewusst ausnutzen. Herr Spahn, ein Arzt, der betrügt,schädigt auch immer seine richtig abrechnenden Kolle-gen, weil es ja ein Gesamtbudget gibt. Das muss manauch ganz klar sagen.
Das ist nämlich kein Kavaliersdelikt.Herr Spahn, wenn man unser gutes Gesundheitswesenaufrechterhalten will, ist nach unserer Meinung ein spe-zieller Korruptionstatbestand notwendig. Wenn man
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Dr. Edgar Franke
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jetzt nicht handelt, bedeutet das nicht einen Etappensiegder Freiberuflichkeit, wie das einige Ärzteverbände mei-nen, sondern vielmehr eine Legitimierung der Korrup-tion in unserem Gesundheitswesen. Das ist die Wahrheit.
Deshalb fordern wir die Bundesregierung und dieKoalitionsfraktionen eindringlich auf, endlich zu han-deln. Die Vorschläge, die wir in unserem SPD-Antragvon 2010 gemacht haben, würden hierfür einen gutenWeg weisen.
Danke schön.
Das Wort hat nun Bundesminister Daniel Bahr.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Korruption im Gesundheitswesen schadet dem Ver-trauen, der Solidarität und der Finanzierbarkeit im Ge-sundheitswesen. Deswegen ist es richtig, dass alle For-men der Korruption im Gesundheitswesen entsprechendgeahndet werden. Versicherte und Patienten müssen sichin Deutschland darauf verlassen können, dass sie die je-weils notwendige Behandlung bekommen – unabhängigvon finanziellen Interessen des Arztes, aber auch unab-hängig von den Interessen der Krankenversicherung.Insofern ist die Darstellung, der Bundesgerichtshoferlaube nunmehr, dass Ärzte Geschenke – beispielsweisevon Pharmaunternehmen – annehmen dürften, falsch.Der Bundesgerichtshof hat sich ausschließlich mit derFrage beschäftigt, ob Ärzte als Angestellte und Beauf-tragte einer gesetzlichen Krankenversicherung gelten.Aus guten Gründen hat der Bundesgerichtshof dieseFrage verneint. Ärzte sind nicht Angestellte und Beauf-tragte einer Krankenkasse, sondern sie sind in Deutsch-land aus guten Gründen und seit vielen Jahren Freiberuf-ler. Daran will diese Koalition auch weiterhin festhalten.
Mediziner sollen nach medizinischen Gründen ent-scheiden – weder nach den finanziellen Interessen derKrankenkassen noch nach den finanziellen Interessenanderer Beteiligter am Gesundheitswesen. Ärzte sindeben keine Angestellten oder Beauftragten einer gesetz-lichen Krankenkasse.Ein Arzt darf in seinem Verhalten weder von den Inte-ressen eines Pharmaunternehmens noch allein von denInteressen einer Krankenkasse geprägt sein.
Wir müssen – und das macht die Gesundheitspolitikaus – dabei beide Seiten berücksichtigen: die berechtig-ten Interessen der Patienten, die bestmögliche Behand-lung zu bekommen, und die berechtigten Interessen derBeitragszahler, dass mit begrenzten Ressourcen immerkostenbewusst und verantwortungsvoll umgegangenwird.
Genau in diesem Spannungsverhältnis befindet sichder Arzt. Aus guten Gründen setzen wir in Deutschland,anders als in anderen Ländern, weiterhin auf die freibe-rufliche Tätigkeit gerade des niedergelassenen Arztes.Herr Kollege, Ihre Darstellung, dass es keine Rege-lungen gebe, die Korruption im Gesundheitswesen ahn-den oder untersagen, ist nicht korrekt.
Es gibt bereits heute mehrere Regelungen, die Korrup-tion verbieten oder sogar ahnden.Lassen Sie mich kursorisch einige Beispiele nennen:§ 32 Berufsordnung für Ärzte, § 5 Bundesärzteordnung,§ 73 Sozialgesetzbuch V, § 128 Sozialgesetzbuch V,§ 67 Arzneimittelgesetz, § 7 Heilmittelwerbegesetz oderauch § 4 Gesetz gegen unlauteren Wettbewerb. Das je-weilige Strafmaß zeigt, dass falsches Verhalten konse-quent geahndet wird. Immerhin kann einem tätigen Arztdie Approbation entzogen werden.
All das zeigt, dass uns schon heute Sanktionen zur Ver-fügung stehen, ein solches Verhalten zu ahnden.Im Übrigen hat die Koalition aus Union und FDP indieser Legislaturperiode einige Regelungen, zum Bei-spiel in § 128 Sozialgesetzbuch V, erst geschaffen, umFehlverhalten zu ahnden und Konsequenzen daraus zuziehen.
Als zuständiger Bundesgesundheitsminister sage ichklar und deutlich: Wir werden das Urteil des Bundesge-richtshofs gründlich auswerten. Wir werden prüfen, obund welche Konsequenzen aus diesem Urteil zu ziehensind. Es ist zu prüfen, ob bestimmte Verbote strafbe-wehrt sein sollten. Ebenso ist zu prüfen, wie weitere An-regungen des Bundesgerichtshofs umgesetzt werdenkönnen.Beim Thema Freiberuflichkeit werden die Unter-schiede, die es in diesem Parlament zwischen den gesell-schaftlichen Konzepten und der Herangehensweise derpolitisch linken Seite und der bürgerlich liberalen Mittegibt, die derzeit die Bundesregierung stellt, besondersdeutlich. Für uns ist die Freiberuflichkeit des niederge-lassenen Arztes ein hohes Gut. Sie trägt maßgeblich
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Bundesminister Daniel Bahr
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dazu bei, dass wir eine so gute Versorgung, wie wir siederzeit haben, weiterhin gewährleisten können. Das istim Interesse der Patienten und Versicherten in Deutsch-land.Die Gesundheitssysteme in Ländern, in denen Freibe-ruflichkeit nicht möglich ist, sind geprägt von einerZweiklassenmedizin, das heißt, Mangelversorgung, sehrlange Wartezeiten und krasse Unterschiede bei der Be-handlung. Das wollen wir in Deutschland nicht, und des-wegen halten wir an der Freiberuflichkeit im Gesund-heitswesen in Deutschland weiterhin fest.
Herr Kollege, es ist schon bemerkenswert: WährendIhrer Rede habe ich auf die Uhr geschaut und festge-stellt, dass Sie nahezu 90 Prozent Ihrer Redezeit dafürgebraucht haben, um das deutsche Gesundheitssystemunter Generalverdacht zu stellen.
Das wird der Tätigkeit derer, die tagtäglich im Gesund-heitswesen ihrer Arbeit mit viel Freude, Engagementund Leistungsbereitschaft nachgehen, nicht gerecht, unddas wird auch dem Vertrauen, das die Patienten in dasdeutsche Gesundheitswesen haben, nicht gerecht.
Sie haben zwar in einem Satz zugegeben, dass wir aufunser leistungsfähiges deutsches Gesundheitssystemstolz sein können. Trotzdem stand der Generalverdachtder Korruption im Mittelpunkt Ihrer Rede.
Lassen Sie mich ein weiteres Beispiel nennen, dasden Unterschied zwischen unseren Positionen verdeut-licht. Eine SPD-Gesundheitsministerin hat den Satzgeprägt, dass mit der Ideologie der FreiberuflichkeitSchluss sein muss. Das zeigt die unterschiedliche Heran-gehensweise.
Ja, wir brauchen Regelungen, wir haben bereits Rege-lungen, und wenn es erforderlich ist, werden wir weitereRegelungen im Gesetz verankern, durch die Korruptionund Fehlverhalten im Gesundheitswesen geahndet wer-den.Das Gesundheitswesen ist ein großer Markt, hier gehtes um viel Geld. Wir haben eine ethische, eine soziale,eine rechtliche und eine wirtschaftliche Verantwortungfür unser Gesundheitswesen. Deswegen müssen wir füreinen Interessenausgleich sorgen und gesetzliche Rege-lungen in verantwortbarem Rahmen auf den Weg brin-gen.Für uns ist völlig klar: Wir wollen die freie Arztwahlund die Therapiefreiheit erhalten, weil wir wissen, dassder Patient davon profitiert. Ein Patient will, dass sichder Arzt im Rahmen seiner Therapiefreiheit für die not-wendige und bestmögliche Behandlung für den Patien-ten entscheidet.
Nur wenn der Arzt diese Freiheit hat und er nicht alleinals Beauftragter oder Angestellter in der Funktionsträ-gereigenschaft einer Krankenversicherung handelt, kannsich der Patient weiterhin darauf verlassen, dass der Arztdem Wohle des Patienten und den Interessen der Versi-cherten gleichermaßen verpflichtet ist. Dieser Aufgabefühlen wir uns weiterhin verpflichtet.
Wir sehen die Selbstverwaltung bestehend aus gesetz-licher Krankenversicherung, Kassenärztlichen Vereini-gungen und Ärztekammern als Erstes in der Pflicht,Ärzte über die Regelungen im Gesetz zu informieren,Konsequenzen zu ziehen und bei entsprechendem Fehl-verhalten ein Verfahren einzuleiten und die Fälle vonKorruption zu ahnden. Es gibt Stellen, an die man sichwenden kann, wenn man den Verdacht hat, dass einFehlverhalten vorliegt. Schon heute sind im GesetzSanktionsmöglichkeiten vorgesehen. Die müssen ge-nutzt werden.
Wir werten das Urteil des Bundesgerichtshofs als Be-stätigung unserer Position, dass der Beruf des freiberuf-lich tätigen Arztes in Deutschland erhalten bleiben soll.Wir sehen das Urteil des Bundesgerichtshofs natürlichmit Interesse. Wir werden es gründlich auswerten unddann entscheiden, ob daraus Konsequenzen zu ziehensind und Gesetze geändert werden müssen. Die Konse-quenzen können aber nicht schon ein paar Tage nachdem Urteil gezogen werden, sondern erst nach gründ-licher Auswertung, erst recht, wenn es um Grundfragenunseres Gesundheits- und Rechtssystems geht. Erst nacheiner gründlichen Auswertung können Konsequenzengezogen werden.Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Harald Weinberg für die Fraktion
Die Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! LiebeKolleginnen und Kollegen! Damit es gleich am Anfanggesagt ist: Das deutsche Gesundheitswesen ist gut, es istleistungsfähig. Ich sage das, damit mir nach meiner Redenicht wieder vorgeworfen wird, das nicht gesagt zu ha-ben.Man kann aber nicht drum herumreden. Ich weiß janicht, wie es Ihnen, liebe Kolleginnen und Kollegen vonCDU/CSU und FDP, geht, aber wenn ich zum Arzt gehe,
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Harald Weinberg
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dann will ich, dass der Arzt die Behandlung und die Me-dikamentenverschreibung allein aus medizinischen Er-wägungen heraus vornimmt.
Vielleicht geht es Ihnen ja auch so. Ich will nicht, dassder Arzt dem eigenen Geldbeutel zuliebe eine andereEntscheidung trifft als die, die medizinisch angezeigt ist.Zum Glück ist der überwiegende Teil der Ärztinnen undÄrzte nicht bestechlich, sondern versucht, die bestmögli-che Medizin zu liefern. Davon gehe ich aus. Aber wennsich im Einzelfall herausstellt, dass eine Ärztin die Handdafür aufgehalten hat, dass sie die Medikamente einesbestimmten Anbieters verschreibt, dann will ich, dassdie Staatsanwaltschaft und die Gerichte die gesetzlichenMittel haben, um dagegen strafrechtlich vorzugehen.
Dieses Mittel – das hat der Bundesgerichtshof in sei-nem Urteil aufgezeigt – gibt es aber nicht. Es gibt keinGesetz, das den niedergelassenen Ärztinnen und Ärztenunter Androhung von Strafe verbietet, bestechlich zusein. Das hat der Bundesgerichtshof vor wenigen Tagenklargestellt. Der Bundesgerichtshof hat der Politik mit-geteilt, dass sie ein entsprechendes Gesetz gegen die Be-stechung der Ärzteschaft, falls gewünscht, gerne be-schließen kann. Es hat dem Gesetzgeber sozusagen denAuftrag gegeben, darüber nachzudenken und entspre-chende Schritte zu unternehmen.
Was war die Antwort unseres Gesundheitsministers?Er sagte: Dafür bin ich nicht zuständig; das sollen dieÄrzte unter sich oder mit den Kassen regeln. Was sagtder gesundheitspolitische Sprecher der Union? Zitat:Die Freiheit der Ärzte ist eine der Stärken unseresGesundheitssystems.
Das muss man sich einmal auf der Zunge zergehen las-sen. Da stellt ein Gericht fest, dass aufgrund der Freibe-ruflichkeit der Ärzte eine strafrechtliche Ahndung vonKorruption nicht möglich ist, und Herr Spahn sagt dazu,das sei eine Stärke unseres Gesundheitswesens. Es gehtimmerhin um Milliardensummen aus den Versicherungs-beiträgen und um die Gesundheit der Patientinnen undPatienten. Dieses Gut muss man abwägen gegen dieRaffgier einiger Ärzte und Ärztinnen. „Was ist da stärkerzu gewichten?“, frage ich Sie. Für Herrn Singhammervon der CSU scheint das klar zu sein. Er schoss denVogel ab und diktierte interessierten Medien in denSchreibblock – Zitat –:Handlungsbedarf hätte es nur gegeben, wenn derBGH … entschieden hätte, dass Ärzte Amtsträgeroder Beauftragte der Kassen sind. Dann hätte derGesetzgeber die Freiberuflichkeit der niedergelas-senen Ärzte wieder herstellen müssen.Wenn das Gericht also festgestellt hätte, dass nachgeltendem Recht Korruption bei Ärzten strafbar ist, dannhätte man schleunigst handeln und die korrupten Ärzteunter den Schutz der Freiberuflichkeit stellen müssen.Meinen Sie das ernsthaft?
„Wie weit reicht der Arm der korrumpierenden Pharma-konzerne denn schon?“, muss man sich da ernsthaft fra-gen.
Nennen Sie mir einen plausiblen Grund, warum nie-dergelassene Ärztinnen und Ärzte, wenn sie sich beste-chen lassen und sich zum Nachteil der Patientinnen undPatienten und zum finanziellen Schaden der Kranken-versicherung die Taschen vollmachen, nicht genauso be-straft werden sollen wie angestellte Ärzte.
Warum sollen sie nicht genauso bestraft werden wiesonstige Angestellte, Beamte oder wir Abgeordnete?Auch bei uns steht, völlig zu Recht, wenn auch nichthinreichend, Bestechung unter Strafe.Denken Sie bitte auch an die große Mehrheit der ehr-lichen Ärztinnen und Ärzte. Die wünschen sich, dassdiese strafrechtliche Lücke endlich geschlossen wird.Das sagte zum Beispiel der Vorsitzende der Kassenärzt-lichen Vereinigung Westfalen-Lippe. Auch der VereinDemokratischer Ärztinnen und Ärzte sagte ganz klar– Zitat –:Wenn die Freiheit des Arztberufes die Freiheit zuBestechung und Vorteilsnahme einschließt, so kön-nen wir auf diese Freiheit ohne weiteres verzichten,denn sie bedeutet gleichzeitig die Freiheit von Mo-ral und Ethik.Zitat Ende.
Dem kann man sich meines Erachtens voll und ganzanschließen. Das ist der Auftrag, den der Bundesge-richtshof dem Deutschen Bundestag mitgegeben hat.Kriminelles Handeln muss auch bei freiberuflichen Ärz-ten strafbar sein. Es gibt hier eine Gesetzeslücke. Ich for-dere Sie auf: Kommen Sie zu sich. Hören Sie auf, sichschützend vor kriminelle schwarze Schafe zu stellen.Lassen Sie uns das gemeinsam anpacken.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Jens Spahn für die CDU/CSU-Frak-tion.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! DasProblem – das hat man ja an den Reden von Ihnen, HerrWeinberg und Herr Franke, gemerkt – ist: Sie sind ein-fach nicht in der Lage oder zumindest nicht willens, beidiesem Thema auch nur ansatzweise zu einer differen-zierten Betrachtung zu kommen
und sich die Diskussionslage genau anzuschauen. Umeines vorneweg zu sagen, weil Sie das hier so latent un-terstellt haben – ich finde die Unterstellung an sichschon eine Unverschämtheit –: Niemand hier in diesemParlament will Korruption oder findet Korruption rich-tig. Niemand findet, dass Korruption im Gesundheitswe-sen nicht bestraft, nicht geahndet werden soll, insbeson-dere wenn es um die Versorgung von Patienten und umdie Frage, was das Richtige für die Patienten ist, geht.Niemand will das. Im Gegenteil: Gerade im Interesse derPatienten und vor allem der vielen Ärzte, die richtig undinteger handeln, muss das natürlich geahndet werden.Das sagen wir, das sagt die Koalition, und das sagen na-türlich auch die Ärzte.
Aber – da ist der Unterschied in unserer Betrach-tungsweise – man sollte sich Zitate genau anschauen. Ichbleibe dabei: Es ist genauso im Interesse der Patientin-nen und Patienten, dass Ärzte nicht Beauftragte oderAmtsträger von Krankenkassen sind. Wir in der Koali-tion jedenfalls wollen nicht, dass die niedergelassenenÄrzte in Deutschland quasi Staatsangestellte sind, wie esin anderen Gesundheitssystemen in Europa der Fall ist.Eines der größten Qualitätsmerkmale des deutschen Ge-sundheitssystems ist die Freiberuflichkeit, die Selbst-ständigkeit der niedergelassenen Ärzte. Diese machennicht um 17 Uhr Feierabend, sondern sind um 21 Uhrnoch im Einsatz. Sie setzen sich ein und engagieren sich.Wir wollen sie nicht unter Generalverdacht stellen. Wirhalten es für einen Mehrwert, dass wir diese Freiberuf-lichkeit in Deutschland haben.
Wir halten es vor allem für einen Mehrwert für diePatientinnen und Patienten. Ich glaube, wenn Sie einmaldie Menschen im Land fragen würden, ob sie wollen,dass ihr Arzt quasi ein Angestellter der Krankenkasseist,
dann würden die meisten sagen, dass sie damit ein Pro-blem hätten; das hätten sie zu Recht. Deshalb war esrichtig, dass der Bundesgerichtshof klargestellt hat:Selbstständig tätige Ärzte sind nicht quasi Angestellteder Krankenkassen.
Das Problem an der Debatte, wie Sie sie vor allem inden Medien geführt haben – ich denke an Zitate des Kol-legen Lauterbach und anderer –, ist, dass Sie einen Ge-neralverdacht gegen die Ärzteschaft aussprechen. Wennman Ihren Antrag zu diesem Thema liest, über den hierja noch in zweiter und dritter Lesung debattiert werdenwird, und die Wortwahl betrachtet, zum Beispiel „Abzo-cke“, man müsse den Patienten schützen, dann siehtman, dass Sie Ärzte, Apotheker und Patienten gegenei-nander ausspielen wollen. Ich glaube, das führt nicht zueiner guten Behandlung. Die Menschen wollen ein Ver-trauensverhältnis zu ihrem Arzt haben können, und Siemachen es durch Generalverdacht kaputt. Das ist das ei-gentliche Problem in dieser Debatte.
Ich habe kein Problem damit, wenn es bei diesem ThemaUnterschiede hier im Hause gibt.Jetzt zur Frage der Korruption. Natürlich müssen wirdagegen vorgehen. Wir haben sozialrechtlich in der Gro-ßen Koalition schon viel geregelt.
– Geregelt! – Ich kann mich gut erinnern: Die SPD warder Bremser, als es um § 128 SGB V, Zuweisung gegenEntgelt, ging. Es ging um die Frage, ob der Arzt einenVorteil davon haben darf, wenn er die Patienten zu einerbestimmten Physiotherapiepraxis, zu einer bestimmtenApotheke oder zu einem bestimmten Krankenhausschickt. Er darf natürlich keinen Vorteil dadurch haben.Das Patientenwohl muss im Mittelpunkt stehen undnicht das finanzielle Interesse des Arztes. Deswegen ha-ben wir in dieser Koalition die Regelungen im Sozial-gesetzbuch V noch einmal verschärft und gesagt, dassman als Strafe sogar seine Zulassung verlieren kann,wenn man so handelt. Sie sollten uns also nicht vorwer-fen, dass wir nicht entsprechend aktiv werden.Nun zum Berufsrecht der Ärzte. Die Approbationkönnte entzogen werden,
aber das müssen in den allermeisten Bundesländern dieLandesregierungen machen. Das können die Ärztekam-mern nicht allein. Ich bin gespannt, ob die grüne Ge-sundheitsministerin in NRW endlich einmal anfängt, zudieser Strafe zu greifen. Es passiert sehr selten, dass eineLandesregierung einem Arzt die Approbation entzieht.
Berufsrechtlich möglich wäre es schon heute. Die Instru-mente müssen nur genutzt werden, auch und gerade inden Ländern.
Wir haben gesagt – der Bundesminister hat geradenoch einmal darauf hingewiesen –: Wir begrüßen es,
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Jens Spahn
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dass niedergelassene Ärzte nicht Amtsträger der Kran-kenkassen sind und dass das Gericht das klargestellt hat.Das haben wir übrigens auch nie anders gesagt. Manmuss Gesagtes nur einmal differenziert aufnehmen undauch hören wollen; das wäre ganz wichtig. Wir habenaber genauso gesagt, dass wir nach dem Urteil natürlichnoch einmal schauen wollen, was man regeln sollte undkann, wenn es um Korruption, um Vorteilsnahme insbe-sondere bei Anwendungsbeobachtung geht, wo die Phar-maindustrie an manche Ärzte – es beteiligen sich ja beiweitem nicht alle Ärzte; Sie äußern ja immer einen Ge-neralverdacht – Geld zahlt, wenn sie bestimmte Medika-mente verschreiben. Da muss man mehr Transparenzreinbringen. Da muss es am besten eine entsprechendeEinwilligung der Patienten geben, damit sie wissen, dasssie an einer solchen Anwendungsbeobachtung teilneh-men.
Wir sind bereit, das zu regeln, und werden das in dennächsten Tagen und Wochen in der nötigen Ruhe disku-tieren.Aber ein Unterschied bleibt. Ich bin eigentlich ganzdankbar, dass er bleibt; denn er ist Ausdruck der unter-schiedlichen Gedankenschulen. Wir halten es für einengroßen Wert in Deutschland, dass wir freiberuflich tä-tige, niedergelassene Ärzte haben, die vor allem demWohl des Patienten verpflichtet sind und nicht Handlan-ger von Krankenkassen sind. Genau in dieser differen-zierten grundsätzlichen Betrachtungsweise werden wirdie Probleme, die vorhanden sind, angehen – ohne Gene-ralverdacht und zum Wohle des Patienten.
Das Wort hat nun Maria Klein-Schmeink für die Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen.
Meine lieben Kolleginnen und Kollegen! Wir erlebenhier wieder einmal eine Aktuelle Stunde, in der versuchtwird, Flagge zu zeigen. Sie von den Mehrheitsfraktionenwollen Flagge zeigen in Richtung Freiberuflichkeit.
Sie vonseiten der SPD versuchen, Flagge in RichtungKrankenkassen, in Richtung Versicherte, ein bisschen inRichtung Patienten – die kamen nicht so deutlich vor –zu zeigen.Was wird gegeneinander ausgespielt? Freiberuflich-keit auf der einen Seite und auf der anderen Seite Kor-ruptionsfreiheit, lauteres Verhalten. Diese beiden Dingegegeneinander auszuspielen, ist nicht der richtige Weg.Von beiden Seiten ist das tendenziös und wird der ei-gentlichen Aufgabe, die wir hier haben, in keinsterWeise gerecht. Das finde ich in dieser ganzen Debatteverlogen.
Erstens können wir uns alle miteinander hier keineDebatte leisten, nach der es in den Schlagzeilen heißt:Ärzte dürfen Geschenke annehmen. Das ist eine Debatteund eine Schlagzeile, die sich keiner hier im Raum er-lauben kann. Das ist nämlich ein Angriff auf das allge-meine Rechtsempfinden in der Bevölkerung. Es mussklar sein, dass Korruption nicht geht, dass Bestechlich-keit nicht geht, dass Vorteilsnahme nicht geht. Gleichzei-tig muss aber auch klar werden, dass ein Arzt keine Son-derstellung gegenüber anderen Berufen hat. Wo kommenwir denn dann hin? Es gibt sehr viele Berufe, in denendas Ethos der Freiberuflichkeit gelten muss.
Nehmen wir die Rechtsanwälte, nehmen wir andere freieBerufe. Das muss überall gelten. Von daher ist die heu-tige Diskussion für alle Anlass, aufzustehen und zu sa-gen: Nein, das gibt es nicht, das ist nicht in Ordnung,und wir werden dafür Sorge tragen, dass Korruption,wenn sie doch vorkommt, sanktioniert werden kann.
Das ist die erste Aufgabe und Aussage, die deutlich imRaum stehen muss.Sie haben genau das Gegenteil gemacht. Sowohl derMinister als auch die Redner von der Koalition habeninsbesondere auf die Freiberuflichkeit abgehoben. Dashaben Sie bewusst gemacht, weil Sie ein Signal an IhreKlientel, an Ihre Wählergruppen, senden wollten. Darumging es an dieser Stelle. Da brauchen Sie der Oppositionnicht scheinheilig etwas anderes zu unterstellen. Das isteinfach nicht lauter.Zweitens dürfen wir hier nicht so tun – das ist hierpassiert –, als gäbe es genug Regelungen, sodass wirnichts mehr zu tun bräuchten. Wir alle wissen, dass dasnicht stimmt. Wir alle wissen, dass wir zwar sozialrecht-liche Regelungen, juristische Regelungen und berufs-rechtliche Regelungen haben, gleichzeitig wissen wir,dass Korruption im Einzelfall vorkommt. Wir wissenauch, dass sie in einzelnen Branchen nicht nur in Einzel-fällen vorkommt.
Sie alle werden genau wie ich Zuschriften erhalten, indenen – im Übrigen häufig von Ärzten – mit großer Em-pörung berichtet wird, dass es diese Einflussnahmever-suche beispielsweise von Pharmafirmen gibt. Ich jeden-falls erhalte diese Anschreiben. Ich denke, sie werden ingleicher Weise auch an alle anderen gegangen sein.Das heißt, wir haben weiterhin eine Aufgabe. ImUrteil wurde dargelegt, dass es einen strafrechtsfreienRaum gibt. Die Rechtsprechung hat vorher versucht, ihnmit einem kleinen Trick zu füllen. Sie hat nämlich, in-
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Maria Klein-Schmeink
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dem sie die Ärzte in Amtsträger oder verlängerte Ange-stellte
eines geschäftlichen Betriebes umfunktionierte, künst-lich einen Straftatbestand geschaffen. Das ist jetzt ge-stoppt worden. Es ist gesagt worden: Nein, das ist keineordentliche Grundlage. Lieber Gesetzgeber, überprüfe,ob es hier eine Strafbarkeitslücke gibt! Wenn ja, sorgedafür, dass eine neue Regelung getroffen wird. – Damitmüssen wir uns jetzt sorgfältig beschäftigen. Das istschlichtweg die Aufgabe, die wir alle miteinander haben.
Wenn ich das ganze Gerede, wir würden schon so vielmachen, höre, dann kann ich nur daran erinnern: ImAusschuss ging es um die Berichte über die Stellen zurBekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen.Was steht da drin? Darin heißt es: Wir wissen von nichts.Wir haben Daten, die nicht miteinander kompatibel sind. –2004 sind diese Stellen eingerichtet worden. 2011 gibt esnoch nicht einmal eine Übereinkunft darüber, welcheDaten wir gemeinsam erfassen. Das ist doch Wahnsinn!Das ist doch kein Signal an die schwarzen Schafe, dasswir ernsthaft gegen sie vorgehen! Was heißt das eigent-lich?
Das sind die Aufgaben, die wir angehen müssen, unddas werden unsere nächsten Schritte sein. Ich finde, esist, gelinde gesagt, eine Frechheit, wenn wir auf eineKleine Anfrage vom Ministerium die Antwort bekom-men: Daten liegen uns nicht vor. Wir können sie leiderauch nicht beschaffen. – Zu all den Verfahren, in denenes darum ging, zu erfahren, ob es berufsrechtliche Ver-fahren gibt und ob es zur Weitergabe von Verfahren andie Staatsanwaltschaft kommt, hieß es: Uns liegen keineErkenntnisse vor. Uns liegen keine Daten vor.Welche Konsequenz wird daraus gezogen? Wird etwagesagt: Wir schaffen jetzt Transparenz? Nein. Ich denke,im Hinblick auf das Verfahren ist das ein Riesenfehler,ein Riesentort. Es muss doch als Erstes darum gehen,Transparenz zu schaffen. Denn sie ist die Voraussetzungdafür, dass wir die schwarzen Schafe zunächst stringenterfassen und im nächsten Schritt eine vernünftige gesetz-liche Regelung zur Strafbarkeit treffen.
Das wird die Aufgabe sein, die wir in Zukunft zu bewäl-tigen haben. Ich bin gespannt, was nach den Ferien aufuns zukommt.
Das Wort hat nun Heinz Lanfermann für die FDP-
Fraktion.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Vor zweiWochen hat die SPD durch Arbeitsverweigerung verhin-dert, dass der Antrag, auf den Sie sich bezogen haben,Herr Franke, hier behandelt werden konnte.
Jetzt versuchen Sie, das nachzuholen. Ich glaube, dassSie das Urteil des BGH viel gründlicher hätten lesen sol-len. Dieses Urteil ist nicht nur in juristischer Hinsichtsehr interessant – meiner Ansicht nach ist es auch voll-kommen richtig –, sondern auch seine Begründungensind sehr interessant. Am Ende, wenn der Bundesge-richtshof erklärt, wie die Dinge zusammenhängen,taucht nämlich das Stichwort der Freiberuflichkeit auf.
– Frau Bender, nun krähen Sie doch nicht dazwischen.
Es ist so: Wenn Ärzte keine Amtsträger, keine Beauf-tragten, keine Angestellten und keine Funktionsträgersind, dann sind sie Freiberufler. Dann gelten für sie, wasdie Strafbarkeit angeht, dieselben Regelungen wie füralle anderen Freiberufler. Frau Klein-Schmeink kann unsja nachher einmal erklären, wie man in bestimmten Kon-stellationen einen Rechtsanwalt bestechen kann. Dannführen wir eine rechtspolitische Debatte; auch darauffreuen wir uns.
Im Übrigen hat der BGH festgestellt, dass ein Arzt imkonkreten Fall nicht deshalb tätig wird, weil er sich in ei-ner hierarchischen Struktur bzw. in einer Dienststellungbefindet, sondern aufgrund der individuellen, freienAuswahl der versicherten Person. Hier sind wir beimArzt-Patienten-Verhältnis, beim Vertrauensverhältnis;das ist eine wichtige Grundentscheidung, die man ersteinmal treffen muss. Wir haben dieses Thema also nichterfunden, sondern Sie haben es vor dem Hintergrund desBGH-Urteils auf die Tagesordnung setzen lassen. Ichdanke insbesondere Bundesgesundheitsminister DanielBahr, dass er dies klar herausgestellt hat. Im Übrigenwar es sehr hilfsreich, dass er alle Paragrafen, die in die-sem Zusammenhang von Bedeutung sind, einmal ge-
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Heinz Lanfermann
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nannt hat; im Redebeitrag von Herrn Franke wurden sienämlich nicht erwähnt.
Sie werden übrigens auch in Ihrem Antrag, auf den Sieso stolz sind, nicht erwähnt.Man fragt sich: Was ist eigentlich in den sieben Jah-ren, in denen es rot-grüne Regierungen gab, an dieserStelle passiert? Hat es Sie nicht jede Nacht umgetrieben,dass es hier keinen Straftatbestand gibt? Oder waren Sieetwa mit den Regelungen, die es schon damals gab– 2011 sind sie ja nur etwas modernisiert worden –, zu-frieden? Die Regelung, dass für Ärzte das Standesrechtgilt, hätte Ihnen doch eigentlich schon damals nicht rei-chen dürfen.Tatsächlich beklagen Sie – hier stimme ich Ihnen jazu –, dass es an der einen oder anderen Stelle Vollzugs-defizite gibt. Diese gibt es übrigens auch sonst, bei jederForm von Recht und Verwaltung. Lassen Sie uns daranarbeiten! Machen Sie doch einmal Vorschläge, wie das,was schon Recht ist, auch entsprechend umgesetzt wer-den kann! Der Vollzug muss funktionieren, dann wirdauch etwas erreicht. Immer Neues zu fordern, hilft nicht.Wenn der SPD keine neue Steuer einfällt, dann fällt ihrhalt ein neuer Straftatbestand ein.
Sie sind mit Ihrer Denkweise kassenorientiert. Dasmerkt man auch genau, wenn man liest, wie der Straftat-bestand aussehen soll, den Sie fordern. Der BGH hat inder Tat indirekt gesagt, dass man prüfen soll. Das wer-den wir auch äußerst gründlich tun. Sie kommen sichaber klüger vor und fordern zum Beispiel – das mussman sich auf der Zunge zergehen lassen –:Es wird ein besonderer, auf sozialversicherungs-rechtliche Sachverhalte abzielender Straftatbestandgeschaffen, der neben dem Vermögen die besondereStellung der gesetzlichen Krankenversicherung undder Patientinnen und Patienten schützt.
Dass die besondere Stellung geschützt werden soll, ken-nen wir sonst nur bei Staats- oder Verfassungsorganen.Man fragt sich, was das bedeuten soll. In der Begrün-dung bejammern Sie:Das gesundheitliche Risiko für den Patienten unddie generelle Frage der Behandlungsqualität spielenfür die strafrechtliche Qualifizierung als Betrugkeine Rolle.Na so was, das ist ja wirklich etwas ganz Tolles.Sie beklagen hinsichtlich des Betruges weiter:Dieser schützt als reines Vermögensdelikt– das ist er in der Tat; aus gutem Grund –… nur tatsächliche, objektiv messbare Eingriffe indas Vermögen.– Das ist richtig. –Für den optimalen Schutz sozialversicherungstypi-scher Rechtsgüter ist daher die Schaffung eines spe-ziellen Straftatbestandes dringend erforderlich.Hier empfehle ich, neben dem SGB und auch einmaldas Strafgesetzbuch zu lesen und zu verstehen. Dannmerken Sie nämlich, dass Sie hier etwas Unmöglichesfordern.Auf die auch von Ihnen, Frau Reimann, heute in ei-nem Interview angekündigte Initiative hinsichtlich einesStraftatbestandes bin ich sehr gespannt. Aus dem, wasSie sagen, kann ich nicht erkennen, dass hier irgendet-was „gebacken“ wird, mit dem man etwas anfangenkann.Wir werden prüfen, und wir werden zu guten Ergeb-nissen kommen. Ich denke, es ist gut, wenn man sich inder Diskussion dann auch einmal wieder auf die Faktenbezieht, wenn die Rechtslage einmal wirklich sorgfältiggeprüft wird und wenn eine solch sensible Diskussionnicht mit dieser Fülle von Verdächtigungen und Unter-stellungen geführt wird, mit denen Sie heute hier aufge-wartet sind.Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Max Straubinger für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Wir führen heute eine Aktuelle Stunde durch, die keineAktuelle Stunde mehr sein kann, weil sie schon für den15. Juni 2012 beantragt worden war. Durch ihre Arbeits-verweigerungshaltung
hat die SPD die Durchführung dieser sogenannten Ak-tuellen Stunde zu dem Zeitpunkt, als sie noch aktuell ge-wesen wäre, verhindert, nämlich im Vorfeld der Ent-scheidung des Bundesgerichtshofs über Korruption imGesundheitswesen. Mittlerweile hat sie an Aktualitätverloren. Das liegt an der SPD und an den linken Frak-tionen hier in diesem Hause, die an diesem Tag Arbeits-verweigerung betrieben haben.
Auch unter diesem Gesichtspunkt ist eine solche Debattehier natürlich zu verstehen.
Wir stellen fest – der Kollege Jens Spahn und auchder Bundesminister haben dies schon getan –, dass dieBekämpfung von Korruption natürlich in unser aller
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Max Straubinger
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Sinne ist. Niemand will Korruption. Das gilt nicht nurfür das Gesundheitswesen, sondern für das gesamteWirtschaftswesen in unserem Lande.
Deshalb ist die Bekämpfung von Korruption natürlicheine große Aufgabe, die wir hier zu bewältigen haben.Der Kollege Franke hat sich auf den Sachverhaltberufen, um den es bei der Entscheidung des Bundes-gerichtshofs ging. Dieser ist natürlich verurteilenswert;das ist überhaupt keine Frage. Hier haben wir auch kei-nen Dissens. Bei seiner Darstellung hat er aber einenFehler gemacht; denn er hat die Grundlage vergessen. Esgeht nämlich um das Jahr 1997, und 1997 sah dieRechtssituation noch völlig anders aus als mittlerweile.Zum damaligen Zeitpunkt war es noch möglich, durchden Einsatz von besonderer Praxissoftware entspre-chende verurteilenswerte Regelungen mit Ärzten zu tref-fen.Ich erinnere daran, dass wir 2006 in der Großen Ko-alition beschlossen haben, dass Praxissoftware nur nochin dem Sinne eingesetzt werden darf, dass kein Hinweismehr auf irgendwelche Hersteller von Arzneimitteln ge-geben ist. Somit wurde in diesem Bereich eine Praxisausgeschlossen, die in früheren Jahren und Jahrzehntendurchaus möglich war.Auch das zeigt sehr deutlich, dass Sie etwas hinter-herhinken. In diesem Sinne haben Sie auch Ihren Antragaufgebaut, der noch Gegenstand einer Debatte im Deut-schen Bundestag sein wird. Ich hoffe nur, dass dieGrundlage Ihres Antrages besser ist als manche Grund-lage, die heutzutage im Zusammenhang mit Korruptionund Fehlverhalten geboten wird. Ich führe uns nur zuGemüte, dass eine Grundlage für die Behauptung, dassmassenhaft Fangprämien in unserem Gesundheitswesengezahlt werden, die Aussagen von 63 Ärzten von insge-samt 155 000 angestellten Ärzten sein sollen. Ich finde,das sind dürftige Grundlagen. Ich hoffe, dass in IhremAntrag die Grundlage etwas kräftiger ist.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, ich möchte kurzauf den Antrag eingehen, den bereits der KollegeLanfermann erwähnt hat. Bereits in der Einleitung ste-hen falsche Feststellungen. Es ist die Rede von nun an-stehenden Beitragssatzsteigerungen und der in Zukunftdrohenden Kopfpauschale und dergleichen mehr. LiebeKolleginnen und Kollegen von der SPD, Sie sollten ein-mal die Tatsachen zur Kenntnis nehmen. Im Gegensatzzu Ihren Regierungen haben wir im Krankenversiche-rungssystem nicht Schulden, sondern Überschüsse ange-häuft, und zwar dank einer guten Wirtschaftspolitik, abervor allem dank einer guten Gesundheitspolitik, betriebendurch unseren Bundesminister Daniel Bahr und die dieRegierung tragenden Fraktionen.
Bemerkenswert ist, dass die Landesminister der SPDoffensichtlich mehr auf der Höhe der Zeit sind. Jetzt warja die Landesministerkonferenz. Und was fällt den SPD-Kollegen ein? Die Forderung, die Praxisgebühr abzu-schaffen.
Offensichtlich haben wir viel zu viel Geld. Ich weißnicht, wie dies in Einklang zu bringen ist mit dem, wasSie seinerzeit in den Antrag geschrieben haben.
Dies zeigt sehr deutlich: Sie wollen mit dieser Diskus-sion einen ganzen Berufsstand diffamieren.
Es sind also nur Lippenbekenntnisse, die Sie getätigthaben. Der Kollege Spahn hat es ja bereits klar und deut-lich gesagt: 90 Prozent über Korruption zu reden unddann zu schließen, dass wir ein gutes Gesundheitssystemhaben, wird meines Erachtens einer differenzierten Be-trachtungsweise in keinster Weise gerecht. Deshalb wer-den wir zukünftig Ihre Anträge ablehnen.
Die heutige Aktuelle Stunde zeigt sehr deutlich: IhreArgumente sind in keinster Weise überzeugend.
Das Wort hat nun Karl Lauterbach für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Im Spiegel dieser Woche wurde Herr Spahn mitden Worten zitiert:Falls die Bundesrichter den Korruptionsparagrafen… anwenden …, werden wir das rechtlich so klar-stellen, dass ein solches Urteil künftig anders ausse-hen müsste.Da wird mit markigen Worten das Bundessozialgerichtin die Schranken verwiesen. Wenn hier Korruption fürden niedergelassenen Arzt eingeschränkt wird, dannwerden wir auf jeden Fall sicherstellen, dass die Korrup-tion weiter stattfinden kann. Das ist ja das, was Sie sa-gen. Ich muss ehrlich sagen: Für eine solche Aussagesollten Sie sich als gesundheitspolitischer Sprecher IhrerPartei schämen.
Sie sollten sich nicht wundern, dass aufgrunddieser Aussage und der Einlassungen von Ihnen, HerrSinghammer, bei den meisten Journalisten der Eindruckentsteht, dass für die CDU nicht die Korruption das ei-gentliche Problem zu sein scheint, sondern die Bekämp-fung der Korruption. Damit entsteht in der Öffentlichkeitder verheerende Eindruck, dass Sie die Korruptionschützen wollen. Es ist richtig, was Herr Spahn sagt,dass niemand hier Korruption will; das ist nicht der
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Dr. Karl Lauterbach
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springende Punkt. Die Frage ist: Wer hier im Haus willKorruption schützen, und wer will sie bekämpfen?
Das hat auch nichts mit der Frage zu tun, was 1997möglich war. Zum jetzigen Zeitpunkt laufen mehrereGerichtsverfahren, in denen es darum geht, dass Patien-ten Medikamente im Rahmen einer Chemotherapie be-kommen haben, die sie nicht brauchten, was die Ärztewussten. Diese haben Geld dafür bekommen, dass sieden Patienten diese Wirkstoffe gegeben haben.
Stellen Sie sich einmal vor, das würde Ihnen oder Ih-ren Verwandten, Ihrer Mutter passieren. Sie würden er-fahren: Hier ist eine Chemotherapie durchgeführt wor-den, diese hat aufgrund falscher Medikamente nichtgewirkt, und die Mutter muss sterben. Das sind realeFälle. Jetzt kommt die CDU/CSU und sagt: Wir müssendafür sorgen, dass das weiterhin möglich ist. – Was ge-ben Sie hier für ein beschämendes Bild ab!
Der Minister trägt vor, dass seiner Meinung nach dieEntscheidungen der Ärzte nach medizinischen Kriterienund nicht nach finanziellen Kriterien getroffen werden.Gleichzeitig trägt er zehn Minuten lang vor, dass er allestun wird, damit das Gegenteil weiter möglich bleibt.
Dabei darf man sich nicht fragen, weshalb die FDP inder Gesundheitspolitik die geringste Glaubwürdigkeithat. Stetig kommt von Ihnen die Ankündigung des Ge-genteils von dem, was Sie in Wirklichkeit wollen.
Das will der Wähler nicht mehr hören. Entweder sindSie dafür, dass wir etwas gegen Korruption tun, oder Siehaben wenigstens den Mut, zu sagen: Ich möchte, auswelchen Gründen auch immer, nichts gegen Korruptiontun. Ich möchte keinen Streit mit den Ärzten. Angesichtsder 5-Prozent-Hürde kann ich mir einen solchen Streitderzeit nicht leisten. Ich brauche diese Stimmen.
– Nein, das ist die Wahrheit.
Sie kämpfen doch um die Zustimmung der Ärzteschaft.Mehr ist es doch nicht. Seien Sie doch ehrlich!Sie haben hier eben vorgetragen, es ginge uns um dieFreiberuflichkeit der Ärzte.
So dumm ist doch selbst bei Ihnen niemand. Sie wissenganz genau: Die Amtsträgerschaft ist eine strafrechtlicheKategorie. Das hat nichts mit Freiberuflichkeit undnichts mit Dienstverhältnissen zu tun. Das ist nichts an-deres als eine billige Hetze. Sie wollen hier nur täuschen.Ein Chefarzt im Krankenhaus, der wegen Korruption be-langt werden kann, ist kein Angestellter der Kassen.
Das wissen selbst Sie, Herr Lanfermann! Herr Lanfermann,Sie würden doch nicht sagen, dass der Krankenhausapo-theker oder der Krankenhausarzt ein Angestellter derKassen ist.
Das weiß doch auch Herr Bahr. Sie schämen sich dochim Prinzip für Ihre eigene Position. Seien wir doch hierim Haus eine Sekunde lang ehrlich!
Die Wahrheit ist: Sie wollen die Korruption bei nie-dergelassenen Ärzten zulassen, derweil sie zu Recht imKrankenhaussektor verboten ist. Das ist eine Ungleich-behandlung. Das schützt die Unehrlichen.
Das ist eine nicht hinnehmbare Ungleichbehandlung.Das ist gegen die Patienten, gegen die Versicherten, ge-gen ehrliche Ärzte und schützt die wenigen korruptenÄrzte, vor die Sie sich stellen, weil Sie glauben, dass Ih-nen das ein paar Stimmen bringen wird.
Da werden Sie sich aber geschnitten haben.Zum Schluss. Durch das angesprochene Urteil wirddieses Problem massiv an Bedeutung gewinnen. Das istsogar für Sie, Herr Kauder, von Bedeutung.
Das Urteil wird dazu führen, dass diese Art der Korrup-tion zunimmt. Dieses Urteil ist dafür im Prinzip ein Frei-brief. Dann müssen Sie Ihre Position durchhalten und sa-gen: Der Krankenhausarzt, der Krankenhausapothekerund der Chefarzt werden strafrechtlich verfolgt, wennsie Geld annehmen, aber der niedergelassene Arzt nicht.Ich sage Ihnen voraus: Das werden Sie weder rechtlichnoch politisch schaffen. Zum Schluss werden Sie ge-zwungen sein, mit uns gemeinsam etwas zu unterneh-men, damit diese unehrenhafte und unwürdige Form derKorruption in unserem Gesundheitssystem unterbundenwird. Davon bin ich fest überzeugt.
– Wollen Sie eine Zwischenfrage stellen? Dann erhebenSie sich bitte. Ich lasse eine Zwischenfrage zu.
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Dr. Karl Lauterbach
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Herr Kollege, in Aktuellen Stunden gibt es keine Zwi-
schenfragen. Das wäre also falsche Großzügigkeit.
Dann nehme ich diese Großzügigkeit zurück.
– Ich komme ja zum Schluss.
– Herr Kauder, es mag Ihnen als Nichtfachpolitiker ent-
gangen sein: Wir haben einen Gesetzentwurf in Vorbe-
reitung und schon einen Antrag vorgelegt, mit denen wir
die Bekämpfung der Korruption vorantreiben wollen,
die Sie schützen.
Wir haben einen Antrag zur Bekämpfung der Korruption
bei niedergelassenen Ärzten vorgelegt und werden Sie
nach der Sommerpause mit einem entsprechenden Ge-
setzentwurf unterstützen.
Sie werden zum Schluss die Kurve bekommen und
uns in dieser Sache bestätigen, weil Sie die unpopuläre
und auch falsche Position in der Öffentlichkeit nicht
durchhalten können.
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit.
Das Wort hat nun Erwin Lotter für die FDP-Fraktion.
Herr Präsident! Werte Kolleginnen und Kollegen!Herr Kollege Lauterbach, was Sie eben vorgebracht ha-ben, ist billigste Polemik.
Zum Beispiel der Chemotherapie ist zu sagen: Das istwissentlich eine falsche Behandlung. Das ist sowohlstrafrechtlich als auch zivilrechtlich zu ahnden.
Ich bin kein Jurist, aber das habe sogar ich verstanden.Liebe Kollegin Klein-Schmeink, wenn Sie in Bezugauf das ärztliche Berufsethos Zweifel haben, dann gebeich Ihnen den dringenden Rat, nächstes Mal meinen ärzt-lichen Kollegen in Ihrer Fraktion zu befragen und sichzu informieren, statt hier unqualifizierte und diffamie-rende Äußerungen von sich zu geben.
Im Übrigen versucht die Opposition, ein totes Pferdzuschanden zu reiten. Denn bereits vor einem Jahr hatdie SPD einen Antrag in den Deutschen Bundestag ein-gebracht, der die ganze Ärzteschaft unter Generalver-dacht stellte und an allen Ecken und Enden Korruptionwitterte.
Für die Sozialdemokraten war das Strafrecht das Mit-tel der Wahl, um angeblich unkontrolliertes Fehlverhal-ten der Ärzte mit dem Holzhammer zu sanktionieren.Dankenswerterweise hat der Große Senat für Strafsa-chen des Bundesgerichtshofs die juristische Seite dieserunsäglichen Debatte letzte Woche beendet.
Denn das Gericht hat unmissverständlich klargestellt:Niedergelassene Ärzte sind weder Amtsträger noch Be-auftragte einer öffentlichen Körperschaft. Sie sind somitkeine Adressaten der Strafvorschriften wegen Bestech-lichkeit. Entsprechendes gilt für Vertreter der Pharmaun-ternehmen, die auch nicht wegen Bestechung verurteiltwerden können.Das ist ein glasklares Verdikt. Was aber macht dieOpposition? Sie inszeniert einen Sturm der Entrüstungund ruft lauthals nach einem neuen Paragrafen im Straf-recht.
Der Tatbestand soll auf niedergelassene Ärzte ausgewei-tet werden. Auch hier zeigen sich wieder das gleichekrude Verständnis vom Wesen der Ärzteschaft und diegleiche Missachtung eines ganzen Berufsstands.
Den Ärzten wird prinzipiell Misstrauen entgegenge-bracht. Sie sollen potenziell kriminalisiert und an denPranger gestellt werden. Dies, meine Damen und Her-ren, machen wir Liberalen und die Regierungskoalitionnicht mit.Die von der Koalition bewiesene Besonnenheit in die-ser Frage hat sich als richtig erwiesen. Schon vor einemJahr habe ich darauf hingewiesen, dass es nicht die Auf-gabe des Gesetzgebers ist, bei unterschiedlichen Rechts-auffassungen den Schiedsrichter zu spielen. Die Koali-
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Dr. Erwin Lotter
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tion hat sich entschlossen, die Klarheit einer höchstrich-terlichen Entscheidung als Maßstab zu wählen. Auf kei-nen Fall werden wir dem populistischen Mantra der Op-position folgen, das zur Verunglimpfung eines ganzenBerufsstands führt.
Zu Recht hat die Bundesärztekammer in ihrer Stel-lungnahme zu dem Urteil darauf hingewiesen, dass die-ses die Freiberuflichkeit des niedergelassenen Arztesund seinen daraus resultierenden Status betont. Das Ver-hältnis zwischen Ärzten und Patienten ist geprägt durchpersönliches Vertrauen und durch eine Gestaltungsfrei-heit, die den Kontrollfanatikern der Opposition offen-sichtlich fremd ist.Was würde denn passieren, wenn die Opposition ih-ren völlig unangemessenen Vorschlag einer Strafbeweh-rung durchsetzen könnte? Entscheidungen über die Ver-schreibung von Medikamenten würden nicht mehr nachtherapeutischen und qualitativen Kriterien erfolgen.Das Wichtigste wäre die Frage: Hat der Vertreter ei-nes Unternehmens schon einmal ein Päckchen diesesoder jenes Präparats in meiner Praxis gelassen? So et-was, meine Damen und Herren, kann nun wirklich nichtim Sinne einer bestmöglichen medizinischen Versorgungsein. Im Gegenteil: Wie der BGH ausführt, ist die Ver-ordnung eines Arzneimittels untrennbar Bestandteil deroriginär ärztlichen Behandlung, und sie vollzieht sich in-nerhalb des „personalgeprägten Vertrauensverhältnisses“zwischen Arzt und Patient. Genau so ist es, und so solles auch bleiben.
Übrigens ist es nach wie vor unbestreitbar, dass dieärztliche Berufsordnung ein korruptives Verhalten vonMedizinern als Verstoß ansieht. In § 31 der bundesweitgültigen Berufsordnung ist klar geregelt:Ärztinnen und Ärzten ist es nicht gestattet, … fürdie Verordnung oder den Bezug von Arzneimitteln… ein Entgelt oder andere Vorteile zu fordern, sichoder Dritten … gewähren zu lassen …Die Ärzteschaft selbst ist und bleibt daran interessiert,verehrter Herr Kollege von der Linken, schwarze Schafein ihren Reihen zu identifizieren und zur Rechenschaftzu ziehen. Die von den Krankenkassen sowie den Kör-perschaften der Ärzte und Zahnärzte eingerichteten or-ganisatorischen Einheiten zur Bekämpfung korruptiverVerhaltensweisen arbeiten seit Jahren erfolgreich. Aufdiesem Weg werden wir fortschreiten.Das Bundesgesundheitsministerium hat deutlich ge-macht, dass es an der Freiberuflichkeit der Vertragsärztenicht rütteln wird und keinen Handlungsbedarf des Ge-setzgebers sieht.
Ohne die Freiheit der Ärzte wird unser Gesundheitssys-tem entscheidend geschwächt. Als Liberale stehen wirvoll und ganz hinter diesem Berufsbild, das von Ver-trauen in den Einzelnen und seine Urteilsfähigkeit ge-prägt ist. Das sensible Verhältnis zwischen Arzt und Pa-tient darf nicht infrage gestellt werden. Dafür stehen wirweiterhin ein.
Das Wort hat nun Carola Reimann für die SPD-Frak-
tion.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Korruption ist durchaus ein Problem im Gesund-heitswesen. Bis zu 18 Milliarden Euro im Jahr – soschätzen Experten – gehen den Versicherten durch Kor-ruption, Abrechnungsbetrug und Falschabrechnungenverloren. Das allein ist schon schlimm genug. Doch zumfinanziellen Schaden kommen ernsthafte gesundheitli-che Gefahren für Patientinnen und Patienten hinzu,wenn die ärztliche Behandlung von dubiosen Zahlungender Pharmaindustrie beeinflusst wird. Spätestens an die-ser Stelle muss jedem einleuchten, dass es sich hier nichtum Kavaliersdelikte handelt.
Korruption schadet unserer Solidargemeinschaft und ge-fährdet die Gesundheit von Patientinnen und Patienten.Das Urteil des BGH besagt klar: Dies ist effektiv undwirksam zu unterbinden. Das ist Aufgabe des Gesetzge-bers.Es wird höchste Zeit, dass die Bundesregierung han-delt. Um es noch einmal für diejenigen in diesem Hause,die es noch immer nicht verstanden haben, ganz deutlichzu sagen: Hier geht es nicht um einen Generalverdachtgegen die gesamte Ärzteschaft.
Es geht auch nicht darum, einen ganzen Berufsstand inZweifel zu ziehen. Hier geht es um die Bekämpfung vonKorruption. Es geht um einzelne Ärzte, um schwarzeSchafe, die mit ihrem Verhalten die große Mehrheit derÄrzte, die tagein, tagaus gute Arbeit leisten, in Misskre-dit bringen und das Vertrauen in deren Arbeit untergra-ben. Vor allem geht es um den Schutz von Patientinnenund Patienten, die den Anspruch haben, dass allein me-dizinische Gründe – das wird von allen hier betont – füreine gewählte Behandlung den Ausschlag geben undnicht die Höhe der Zuwendung des Pharmareferenten.Der Einsatz von Union und FDP bei der Bekämpfungvon Fehlverhalten im Gesundheitswesen lässt sich bes-tenfalls mit dem Begriff „Arbeitsverweigerung“ be-schreiben. Das haben wir bei CDU und CSU schon inder Großen Koalition feststellen müssen. Das setzt sichnun bei Schwarz-Gelb nahtlos fort, trotz der zahlreichenSkandale der vergangenen Jahre. Es ist schon erstaunlichund sogar beängstigend, wie unbeeindruckt hier Mitglie-
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Dr. Carola Reimann
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der der Koalitionsfraktionen und der Minister selbstnach dem Urteil des Bundesgerichtshofs an ihrer Untä-tigkeit festhalten.
Der BGH selbst spricht von korruptivem Verhaltenund davon, dass es Aufgabe des Gesetzgebers ist – ichzitiere –, „darüber zu befinden, ob die Korruption im Ge-sundheitswesen strafwürdig ist und durch Schaffung ent-sprechender Straftatbestände eine effektive strafrechtli-che Ahndung ermöglicht werden soll“. Wer die über-deutlichen Rechtslücken nicht schon während diesesRechtsstreits erkannt hat, der müsste spätestens nachdiesem Urteil und dieser Aussage verstanden haben,dass hier kein Prüfbedarf, Herr Minister, sondern Hand-lungsbedarf besteht.
Ich hätte mir gewünscht, dass hier ein klares Bekennt-nis des Ministers kommt. Stattdessen präsentieren Sieuns windelweiche Prüfankündigungen. Offensichtlich istdiese Regierung nicht an einer effektiven strafrechtli-chen Ahndung dieser Missstände interessiert. Offenbarkönnen Sie ganz gut damit leben, dass man sich als Arztin Deutschland nicht strafbar macht, wenn man sich vonder Pharmaindustrie schmieren lässt. Das empfinde ichals Skandal.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Ihr Verweis auf dasBerufsrecht und die Regelungen im SGB V ist ja richtig.Sie ändern aber nichts daran, dass diese Regelungen– das wissen Sie ganz genau – nicht scharf genug sind.Es fehlt die strafrechtliche Sanktionsmöglichkeit. OhneStraftatbestand werden Sie diese Probleme auch nicht inden Griff bekommen.Was für angestellte Ärzte gilt, muss auch für nieder-gelassene Ärzte gelten. Tun Sie doch nicht so, als sei dieFreiberuflichkeit oder die Freiheit in Gefahr, wenn mankorruptives Verhalten konsequent verfolgt. KorruptivesVerhalten ist strafwürdiges Unrecht.
Deshalb: Sorgen Sie für eine effektive strafrechtlicheAhndung. Wir brauchen eine wirksame Bekämpfungvon Korruption im Gesundheitswesen, damit sich diePatientinnen und Patienten darauf verlassen können,dass sie wirklich das verschrieben bekommen, was me-dizinisch begründet ist, und nicht das, woran der Arztmitverdient. Das trägt auch dazu bei, dass das Vertrau-ensverhältnis zwischen Arzt und Patient keinen Schadennimmt.Danke.
Das Wort hat nun Dietrich Monstadt für die CDU/
CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Meine Damen und Herren! Wir diskutieren heuteden Beschluss des BGH, dass Ärzte weder als Amtsträ-ger noch als Beauftragte der Krankenkassen einzustufensind. Auf die Erforderlichkeit dieser Aktuellen Stunde,die nur der Arbeitsverweigerung der Opposition ge-schuldet ist, hat der Kollege Straubinger, wie ich finde,schon nachdrücklich hingewiesen.
– Wir waren da.Wir sind uns einig, dass der Arzt die Medikamente zuverordnen und die Behandlung durchzuführen hat, dieunter medizinischen Gesichtspunkten für seinen Patien-ten die geeignetsten sind. Das Vertrauen des Patientenberuht darauf, dass keine sachfremden Aspekte – insbe-sondere keine persönlichen und finanziellen Interessendes Arztes – diese Entscheidung beeinflussen. Das hoheGut Vertrauen ist die Grundlage der Beziehung zwischenArzt und Patient. Nicht nur die Patienten, sondern geradeauch die Ärzteschaft ist darauf angewiesen, dass die Ba-sis dieses Vertrauens nicht zerstört wird.Gerade vor diesem Hintergrund gehe ich – anders alserkennbar viele Redner der Opposition vor mir – davonaus, dass die überwiegende Mehrheit der Ärzteschaftsich dessen bewusst ist und sich im Sinne der Patientenkorrekt verhält. Diese Ärzte wollen von Ihnen, meineDamen und Herren von der Opposition, nicht kriminali-siert werden.
Was bedeutet nun der BGH-Beschluss? WelcheSchlussfolgerungen sind aus dieser Entscheidung desBGH zu ziehen? Zunächst betrifft der Beschluss aus-schließlich den strafrechtlichen Bereich. Er betrifft nichtden berufsrechtlichen, wettbewerbsrechtlichen und so-zialrechtlichen Bereich, aber auch nicht den des Heilmit-telwerbegesetzes. Wie bisher ist das Verhalten eines Arz-tes, das zu einem Gesundheitsschaden des Patientenführt, als Körperverletzung strafbar. Wie bisher ist dasVerhalten eines Arztes, das zu einem Vermögensschaden– etwa der Krankenkasse – führt, zum Beispiel als Un-treue nach § 266 StGB strafbar. Daran hat der BGH-Be-schluss nichts geändert.Bedeutung entfaltet der BGH-Beschluss nur dort, woweder ein Gesundheitsschaden noch ein Vermögens-schaden eintritt. Dennoch bedeutet der BGH-Beschlussauch in diesem Bereich nicht, dass ein Pharmaherstellerdem Kassenarzt im rechtsfreien Raum Vorteile für dieVerschreibung seiner Produkte gewähren kann. Es bleibteine Vielzahl von Verboten und Regeln auch und geradefür diesen Bereich.
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Dietrich Monstadt
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Ich darf zunächst zur ärztlichen Berufsordnung kom-men. § 31 Abs. 1 bestimmt,
dass es Ärztinnen und Ärzten nicht gestattet ist,… für die Zuweisung von Patientinnen und Patien-ten oder Untersuchungsmaterial oder für die Ver-ordnung oder den Bezug von Arznei- oder Hilfsmit-teln oder Medizinprodukten ein Entgelt oder andereVorteile zu fordern, sich oder Dritten versprechenoder gewähren zu lassen oder selbst zu versprechenoder zu gewähren.Das ist eine klare, eindeutige Bestimmung. Sie kann undmuss von den Ärztekammern gelebt werden.
Meine Damen und Herren, sozialrechtlich sind dieKassenärztlichen Vereinigungen durch § 81 a SGB Vverpflichtet, Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhaltenim Gesundheitswesen einzurichten. Sie haben dabei mitden Krankenkassen und ihren Verbänden zusammenzu-arbeiten. Diese Stellen informieren die Staatsanwalt-schaft, wenn es einen Anfangsverdacht auf strafbareHandlungen gibt.Im Zusammenhang mit den viel zitierten Anwen-dungsbeobachtungen kann die Wirtschaftlichkeitsprü-fung nach § 106 SGB V eine entscheidende Rolle spie-len. Das Arzneimittelgesetz schreibt in § 67 Abs. 6 dieAnzeige jeder Anwendungsbeobachtung durch den phar-mazeutischen Unternehmer – unter anderem bei derKBV – vor. Nach dieser Vorschrift müssen die beteilig-ten Ärzte namentlich benannt werden. Entschädigungendürfen nicht so bemessen sein, dass ein Anreiz für einebevorzugte Verschreibung oder Empfehlung bestimmterArzneimittel entsteht. Vertragswerke und erhaltene Ent-schädigungen sind gegenüber den KVen offenzulegen.Damit können die KVen an zahlreiche Informationen ge-langen, die bei einer Wirtschaftlichkeitsprüfung sehr re-levant wären. Hier müssen wir ansetzen und gegebenen-falls ergänzende Regelungen schaffen.Schließlich gibt es die sozialrechtlichen Sanktionendes § 128 SGB V: Abs. 6 erstreckt in Verbindung mitden §§ 31 und 116 b Abs. 7 SGB V die „unzulässige Zu-sammenarbeit“ und die dafür vorgesehenen Sanktionenausdrücklich auch auf die Pharmaindustrie. Die Sanktio-nen nach § 128 Abs. 3 können gravierend sein: Für denFall schwerwiegender und wiederholter Verstöße sehendie Regelungen vor, dass Leistungserbringer für dieDauer von bis zu zwei Jahren von der Versorgung derVersicherten ausgeschlossen werden können
und damit letztlich ihre Existenz verlieren können. Wirhaben also berufs- und sozialrechtliche Regelungen.Ärztekammern, Kassenärztliche Vereinigungen undKassen sind aufgerufen, dieses Instrumentarium in derPraxis konsequent anzuwenden.Zusammenfassend kann man festhalten: Der BGH-Beschluss hat eine lange debattierte Rechtsfrage, wie ichfinde, richtig geklärt. Er lässt Kassenärzte und pharma-zeutische Unternehmen aber nicht im rechtsfreien Raum.Aus diesem Grunde müssen wir uns gut überlegen, ob eserforderlich ist, einen Sonderstraftatbestand für Kassen-ärzte zu schaffen und sie in dieser Form, wie ich finde,herausgehoben unter Generalverdacht zu stellen.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Mechthild Rawert für die SPD-
Fraktion.
Guten Tag, Herr Präsident! Guten Tag, meine Damenund Herren!
Ich möchte am Anfang auf zwei Codewörter der Frak-tion zu diesem Tagesordnungspunkt eingehen, ohne zuwissen, wer sie als Steuerungsinstrumente eingebrachthat.Zum einen auf das Codewort Arbeitsverweigerung.Wir haben zwischendurch nachgelesen. Es gibt gute,übergeordnete Gesichtspunkte, die dies erlauben. Ichweiß zwar nicht, ob das Gleiche bei Ihnen galt, als inder letzten Sitzungswoche 126 Abgeordnete fehlten.Aber das müssen Sie schließlich selbst beurteilen. Wirkönnen nachweisen – ich würde Ihnen meine Websiteempfehlen –, dass „ungehaltene Reden“ veröffentlichtworden sind. Es ging damals um die gleiche Thematikwie heute. Also, Codewort Arbeitsverweigerung abge-arbeitet, Schwachsinn Ihrerseits.Zweites Codewort Generalverdacht. Keiner von uns– das nehme ich jetzt einmal insbesondere für unser La-ger in Anspruch –, niemand ist so undifferenziert, dasswir von Generalverdacht reden. Wir haben gute Ärzteund Ärztinnen. Wir haben aber auch solche, die sich be-stechen lassen, sich der Bestechlichkeit anheimstellen.Um die Ärzte vor diesen Kollegen und Kolleginnen zuschützen, diskutieren wir heute diesen Antrag, der ja in-haltlich schon sehr gut begründet worden ist.
Sie fordern hier stetig, es müsse etwas getan werden.Ich bin bereit, mit Herrn Lanfermann oder mit HerrnSpahn eine Wette um einen Gutschein für einen Einkaufim Reformhaus einzugehen, dass in dieser Legislatur-periode Ihrerseits nichts zur Beseitigung des in Rede ste-henden Tatbestands gemacht wird.
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Mechthild Rawert
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Wir können uns hinterher unterhalten, ob Sie die Wetteannehmen oder nicht.
Faktum ist, dass insbesondere Herr Dietrich Monstadtschon im Mai 2011 befand – ich zitiere –: Es gibt Fehl-verhalten. – Also auch im Gesundheitswesen. Ich dankeihm ausdrücklich dafür, dass er in seiner Rede geradeviele Gründe zum Ausdruck gebracht hat, wieso es not-wendig ist, Korruption zum Straftatbestand zu machen,damit die Ärzteschaft vor ihren der Bestechlichkeit an-heimfallenden Kollegen und Kolleginnen geschütztwird.Ich möchte noch auf etwas eingehen, was zu kurz ge-kommen ist: auf das Vertrauensverhältnis gegenüberArzt und Ärztin. Ja, wir alle sind vielleicht noch so erzo-gen worden, dass wir glauben: Wenn ich krank und hilfs-bedürftig zu meinem Arzt oder meiner Ärztin gehe, dannist er oder sie diesbezüglich an meinem Wohl interes-siert. Er oder sie will mir Heilung angedeihen lassen undnicht seinem oder ihrem eigenen Portemonnaie. AuchHerr Köhler, immerhin Vorsitzender der Kassenärztli-chen Bundesvereinigung, hat öffentlich eingeräumt, dasses mehrere Möglichkeiten des illegalen Verhaltens gebe,und benannte unter anderem Bestechung in Form von –ich zitiere – „Motivationsprämien, Fangprämien, Kopf-pauschalen“, auch Zuweisungen durch Niedergelassenean Krankenhäuser gegen Entgelt. Das Ganze ist alsonicht „dürftig“, Herr Straubinger, sondern wird aus deneigenen Fachkreisen heraus kritisiert, und es wird be-klagt. Daher ist unser Anliegen so notwendig. Wichtigist, dass da endlich etwas getan wird, dass Ihrerseitsnicht nur über Gesetzeslücken schwadroniert wird, son-dern dass Ihren Worten endlich auch Taten folgen.Die ärztliche Berufsordnung besagt – auch das istschon gesagt worden –: Es gibt ein Verbot der Zuwei-sung von Patientinnen und Patienten an die Krankenhäu-ser gegen Entgelt oder andere Vorteile. Ärzte sollen kei-nerlei Geschenke annehmen und andere Vorteile für sichin Anspruch nehmen.
Dies reicht nicht. Das ist auch seitens der Ärzteschaftselber schon festgestellt worden. Ich blicke voller Span-nung auf das, was Herr Henke im Hinblick auf die Mus-terberufsordnung der Bundesärztekammer auszuführenhat. Es werden nämlich selbst aus den eigenen Reihenlängst Forderungen gestellt, dass die ärztliche Berufs-ordnung hier bei weitem nicht ausreicht und dass nach-zubessern ist.
Mit anderen Worten: Wir sind gegen Fangprämien.Wir gehen gegen Zuweisungen gegen Entgelt vor. Vorallen Dingen, liebe Kollegen und liebe Kolleginnen,liebe Regierung: Tun Sie etwas! Nehmen Sie meineWette an! Vielleicht kommt es ja zum Schließen einerGesetzeslücke.
Letzter Redner in der Aktuellen Stunde ist Rudolf
Henke für die CDU/CSU-Fraktion.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Meine Damen und Herren! Der Ausgangspunkt dieserDebatte kann nicht von jedem, der zuhört und zuschaut,erkannt werden, weil nicht jeder zum Zeitpunkt dieserAktuellen Stunde
nachvollziehen und wissen kann, in welchen Bereichendie Koalition schon lange gehandelt hat.Es war eben von Arbeitsverweigerung die Rede.Diese Umschreibung stimmt ja nicht. Sie suggerierenunter dem Eindruck des BGH-Urteils und unter demEindruck bestimmter öffentlicher Schlagzeilen, dass hiereine Situation festgeschrieben wird, in der es keineSanktionen, keine Gegenmaßnahmen, kein staatlichesHandeln dagegen gibt, dass sich jemand in seiner Arzt-praxis schmieren lässt. Ich will nur darauf aufmerksammachen, dass wir mit dem GKV-Versorgungsstrukturge-setz sehr konkrete Maßnahmen bezüglich der Fehlver-haltensbekämpfung beschlossen haben – alles Maßnah-men, denen Sie durch Ihre Ablehnung dieses Gesetzeswidersprochen haben. Es gibt dort ein ausdrücklichesVerbot für Vertragsärzte, sich für die Zuweisung vonVersicherten ein Entgelt oder sonstige wirtschaftlicheVorteile versprechen oder gewähren zu lassen oder selbstzu versprechen oder zu gewähren. Das heißt, die Rege-lung in der Berufsordnung der Ärzte, die mehrfach rich-tig zitiert worden ist, ist von dieser Koalition in dasstaatliche Recht übertragen worden und ist Teil der Re-gelungen im Sozialgesetzbuch. Wir haben beschlossen,dass Vertragsärzte das Zuwendungsverbot nicht durchBeteiligung an Unternehmen von Leistungserbringernim Hilfsmittelbereich in Verbindung mit einem entspre-chenden Verordnungs- und Zuweisungsverhalten umge-hen können. Das ist Teil des GKV-Versorgungsstruktur-gesetzes.Wir haben im GKV-Versorgungsstrukturgesetz klar-gestellt, dass die Forderung oder Annahme unzulässigerZuwendungen durch Vertragsärzte einen Verstoß gegendie vertragsärztlichen Pflichten darstellt. Wir haben dieRegelungen zu unzulässigen Praktiken der Zusammenar-beit zwischen Vertragsärzten und anderen Leistungser-bringern auch auf den Heilmittelbereich ausgedehnt. Wirhaben klargestellt, dass Sozialdaten auch zum Zweck derFehlverhaltensbekämpfung erhoben, verarbeitet undübermittelt werden dürfen.
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Rudolf Henke
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Es sind die Krankenkassen, die zu dieser Leistung,zur Arbeit der Koalition, in einem Faktenblatt zumThema Rechtsrahmen sagen:Hilfreich wird hierbei auch die ebenfalls durch dasGKV-Versorgungsstrukturgesetz erfolgte Klarstel-lung der datenschutzrechtlichen Übermittlungsbe-fugnisse in den Paragraphen 81 a und 197 a Abs. 3 aSGB V sein.Die Krankenkassen begrüßen das.
Insofern halte ich die Tatsache, dass Sie all das alsUntätigkeit darstellen, für genauso infam wie die Tatsa-che, dass Sie bestimmte Zuweisungen an die Kranken-häuser beklagen, aber in den Bundesländern nichts dage-gen tun. Ja, dann handeln Sie doch! In der Zeit, als ichnoch im Landtag Nordrhein-Westfalen war, haben wirdort eine Regelung vorbereitet und anschließend mit denStimmen von CDU und FDP beschlossen, nach derKrankenhäuser aus dem Krankenhausplan ausgeschlos-sen werden können, wenn sie es sich leisten, Zuweisun-gen gegen Entgelt vorzunehmen, dass sie wegen diesesVerhaltens nicht nur öffentlich an den Pranger kommen,sondern auch die Stellung einbüßen können, in denKrankenhausplan aufgenommen zu sein. Es gibt ein ein-ziges Bundesland, das es ähnlich wie Nordrhein-Westfa-len macht. Wenn das woanders alles so schrecklich ist,dann handeln Sie dort doch in gleicher Weise.Sie sagen, dass das Standesrecht, das Berufsrecht derÄrzte zahnlos sei. Den Approbationsentzug kann natür-lich nicht die Ärztekammer vornehmen, auch nicht dasBerufsgericht. In allen Bundesländern ist es – mit einereinzigen Ausnahme, glaube ich – so geregelt, dass dieZuständigkeit für den Approbationsentzug bei den Be-zirksregierungen liegt. Die Bezirksregierungen handelnim Auftrag der Landesregierungen. Wenn Sie das allesbeklagen und so schrecklich finden und sagen, hier gebees Untätigkeit und eine Regelungslücke, dann frage ichmich: Warum handeln Sie denn nicht in den Bezirksre-gierungen, auf die Sie Einfluss haben, da, wo Sozialde-mokraten oder auch Grüne den Gesundheitsminister stel-len? Ich fordere Sie dazu auf.Ich bin offen für eine Debatte darüber, ob wir das In-strumentarium der Ärztekammern stärken sollen, umsich besser durchzusetzen. Da bin ich für jede Diskus-sion offen. Aber ich bin nicht bereit, hinzunehmen, dassSie den ganzen Berufsstand unter Generalverdacht stel-len,
obwohl Sie wissen, dass in der Berufsordnung steht:Ärztinnen und Ärzte sind verpflichtet, in allen ver-traglichen und sonstigen beruflichen Beziehungenzu Dritten ihre ärztliche Unabhängigkeit für die Be-handlung der Patientinnen und Patienten zu wah-ren.Jeder Fall, in dem jemand geschmiert wird, ist einerzu viel. Das BGH-Urteil ist ein guter Beschluss, weil esklarstellt, dass der Arzt den Patienten verpflichtet ist; erist nicht der Vermögenswahrung der Krankenkassen ver-pflichtet. Das hat der BGH eindeutig klargestellt. Des-wegen verdient dieses Urteil zunächst einmal Applausund keine schlechte Darstellung.
Wer dazu beiträgt, einen ganzen Berufsstand unter Gene-ralverdacht zu stellen, der handelt unanständig.
Wer verschweigt, dass das Sanktionsmaß –
Herr Kollege, Sie müssen bitte zum Schluss kommen.
– das tue ich – bis zum Approbationsentzug und bis
zum Zulassungsentzug reicht, der handelt auch unan-
ständig. Wir sollten keine Spezialgesetzgebung für eine
einzige Berufsgruppe schaffen.
Herr Kollege.
Ich komme mit diesem Satz zum Schluss: Wer neue
Gesetze fordert, der muss die Frage der Notwendigkeit,
der Verhältnismäßigkeit, der Tauglichkeit und der
Zweckmäßigkeit prüfen; genau das muss geschehen und
nicht das populistische Schreien nach einem Gesetz,
weil einem das zu ein paar Schlagzeilen verhilft.
Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
Das war ein langer letzter Satz.Die aktuelle Stunde ist beendet.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 8 auf:– Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deut-scher Streitkräfte an der United NationsInterim Force in Lebanon aufGrundlage der Resolution 1701 vom11. August 2006 und folgender Resolutionen,zuletzt 2004 vom 30. August 2011 desSicherheitsrates der Vereinten Nationen– Drucksachen 17/9873, 17/10162 –Berichterstattung:Abgeordnete Philipp MißfelderDr. Rolf MützenichBirgit Homburger
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Vizepräsident Dr. h. c. Wolfgang Thierse
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Wolfgang GehrckeKerstin Müller
– Bericht des Haushaltsausschusses
gemäß § 96 der Geschäftsordnung– Drucksache 17/10163 –Berichterstattung:Abgeordnete Herbert FrankenhauserKlaus BrandnerDr. h. c. Jürgen KoppelinMichael LeutertSven-Christian KindlerÜber die Beschlussempfehlung werden wir später na-mentlich abstimmen.Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache und erteile BirgitHomburger für die FDP-Fraktion das Wort.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Wirhaben mit großer Spannung im letzten Jahr die Umbrü-che im Nahen und Mittleren Osten beobachtet, die einengroßen Einfluss auf die Situation und die Stabilität in derRegion haben, vieles davon mit offenem Ausgang. Auf-grund der Kürze meiner Redezeit kann ich nur einigeStichworte nennen: arabischer Frühling in Nordafrika,die Lage in Ägypten, die wir gerade in diesen Tagen beiden Präsidentschaftswahlen und der Annullierung derParlamentswahl wieder in den Blick nehmen, die RolleIrans, das iranische Nuklearprogramm, die Situationzwischen Israel und den Palästinensern bzw. den palästi-nensischen Gebieten und dort die Diskussion zwischenFatah und Hamas über Wahlen in den palästinensischenGebieten. Das alles birgt Unsicherheiten für die Situa-tion in der Region.Alles haben wir im Blick, ganz besonders in diesenTagen auch die Entwicklung in Syrien, wo ein Diktatormit großer Grausamkeit gegen das eigene Volk vorgehtund das Land in einen Bürgerkrieg stürzt. Wir verurtei-len dieses Vorgehen und werden in der internationalenGemeinschaft alles dafür tun, den Menschen in SyrienHilfe zu geben
Die Unterbrechung der Beobachtermission zeigt, wiesehr sich die Lage zugespitzt hat. Es ist ein negatives Si-gnal. Dennoch begrüßen wir alle Anstrengungen der in-ternationalen Gemeinschaft, zu einer friedlichen Lösungzu kommen. Wir begrüßen, dass am 30. Juni in Genf einTreffen der Syrien-Aktionsgruppe stattfindet, zu demauch Russland sein Kommen zugesagt hat. Dies gibteine gewisse Hoffnung, dass sich vielleicht auch in derrussischen Position eine gewisse Veränderung abzeich-net und die Bereitschaft vorhanden ist, mit der interna-tionalen Gemeinschaft gemeinsam zu handeln. Russlandkommt in dieser Frage definitiv eine Schlüsselrolle zu.Deshalb ist es wichtig, das Gespräch mit Russland fort-zusetzen und dafür zu sorgen, dass wir zu einer Lösungin Syrien kommen.
Für uns gilt vor allen Dingen, dass die EU zu Rechteine ganze Reihe von Sanktionen gegen Syrien undAssad eingeleitet hat. Die Sanktionen wurden gerade indieser Woche nochmals verschärft. Aber es wäre sehrviel wirksamer, wenn diese Sanktionen von der gesam-ten Staatengemeinschaft im UN-Sicherheitsrat mitgetra-gen würden. Das wollen wir erreichen.Die Lage in Syrien ist dramatisch; die Zahl derFlüchtlinge ist sehr hoch. Vor kurzem habe ich bei einerReise in die Region zwei syrische Flüchtlingslager inJordanien besuchen können. Die Menschen haben dortnicht nur Angst um Leib und Leben, sondern auch umihre Familien, die noch vor Ort sind; denn auch die Fa-milien der Flüchtlinge werden von dem Regime bedroht.Das ist alles höchst dramatisch. Die Vielzahl der Flücht-linge stellt die Nachbarländer Türkei, Jordanien und Li-banon vor große Herausforderungen. Deshalb ist eswichtig, an dieser Stelle zu helfen. Die Bundesregierunghat das getan. Der Bundesaußenminister hat Gelder zurVerfügung gestellt, um die Länder bei diesen Aufgabenzu unterstützen.Trotz dieser Situation haben die Gesprächspartner imNahen Osten vor einer militärischen Intervention inSyrien gewarnt, weil sie unabsehbare Folgen für dieRegion sehen. Viele haben gewarnt, dass eine solche In-tervention die ganze Region in Flammen setzen könnte.Es ist unbefriedigend, dass wir den Menschen in Syrienim Moment nicht effektiver helfen können. Trotzdembleibt überlegtes Handeln gefragt.Deutschland und Europa haben ein hohes strategi-sches Interesse an der Stabilität im Nahen Osten; das istgerade in den letzten Tagen noch einmal deutlich gewor-den. Beim Abschuss des türkischen Kampfflugzeugsdurch Syrien ist jedem erneut die Nähe dieser Regionklar geworden und dass die NATO mit der Türkei alsPartner an dieser Stelle involviert ist.Es stellt sich die Frage, was wir über die politischenund diplomatischen Initiativen hinaus tun können. Hierist vor allem ein Instrument zu nennen: das UNIFIL-Mandat, über das wir heute diskutieren und über das wirabstimmen werden. Alle Gesprächspartner haben über-einstimmend deutlich gemacht, dass das UNIFIL-Mandat maßgeblich zur Stabilität in der Region beiträgt.Gerade die israelische Seite hat noch einmal ausdrück-lich darum gebeten, dass auch die BundesrepublikDeutschland ihr Engagement im Rahmen des UNIFIL-Mandats fortsetzt. Ich glaube, dass wir mit diesem Ein-satz einen Beitrag zur Stabilität in der Region leistenkönnen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22377
Birgit Homburger
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Das wird umso deutlicher, wenn man weiß, dass dieUNIFIL im Süden des Libanon stationiert ist. Dort istdie Lage inzwischen relativ stabil. Der Norden des Liba-non rückt jetzt in den Vordergrund. In den letztenWochen hat die Krise in Syrien dort ihre Fortsetzung ge-funden. Es kam zu Demonstrationen von Assad-Anhän-gern und -Gegnern. Im Mai kam es in Tripoli zu Aus-einandersetzungen mit tödlichem Ausgang zwischenSunniten und Alawiten. Auch in Beirut wurde deutlich,wie real die Gefahr eines Übergreifens der Situation vonSyrien in den Libanon ist.Deshalb halte ich es für wichtig, dass wir dasUNIFIL-Mandat fortsetzen. Unser Beitrag liegt in dermaritimen Komponente. Zu Beginn der Legislaturpe-riode haben wir den Schwerpunkt unseres UNIFIL-Man-dats geändert, weg von einer reinen Militärpräsenz hinzu einer verstärkten Ausbildung der libanesischen Ma-rine. Unser Ziel ist es, den Libanon in die Lage zu ver-setzen, selbst für die Sicherheit seiner Seegrenze zu sor-gen und dort Waffenschmuggel zu unterbinden.
Dabei machen wir gute Fortschritte, wir sind aber nochnicht am Ziel.Auch wenn UNIFIL eher ein kleines Mandat ist, istdieses Mandat aus meiner Sicht dennoch elementarwichtig für eine der fragilsten Regionen der Welt.Deshalb möchte ich heute die Gelegenheit nutzen, denSoldatinnen und Soldaten, die bisher im Rahmen desUNIFIL-Mandats Dienst getan haben – aus allen Natio-nen, aber insbesondere aus Deutschland –, ein herzlichesDankeschön für ihre Bereitschaft und für ihren Einsatzzu sagen. Sie haben einen wesentlichen Beitrag zur Sta-bilität der Region geleistet.Wir bitten Sie heute um Zustimmung zur Fortsetzungdieses Mandats, um damit einen aktiven Beitrag zur Sta-bilität in der Region zu leisten.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Günter Gloser für die SPD-Frak-
tion.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Vor wenigen Tagen, am 24. Juni, hat Syrien einen türki-schen Kampfjet über dem Mittelmeer abgeschossen.Dieses Ereignis, das – wenn man so will – fast in Sicht-weite des UNIFIL-Mandatsgebiets stattgefunden hat,zeigt uns dramatisch, dass der Syrien-Konflikt ein gro-ßes Potenzial für eine regionale Eskalation besitzt.Ich begrüße daher ausdrücklich, dass die Türkei nichtmilitärisch reagiert hat. Unser NATO-Partner Türkei ver-dient dafür Anerkennung, zugleich aber auch Dank undRespekt für sein humanitäres Engagement für Flücht-linge aus Syrien.
Auch die Bundesregierung – das will ich ausdrücklichsagen – arbeitet von Beginn an daran mit, dass es nichtzu einer weiteren Militarisierung, Internationalisierungund unkontrollierbaren Eskalation des Syrien-Konfliktskommt. Insbesondere die Vertretung bei den VereintenNationen unter Leitung des Ständigen Vertreters Bot-schafter Wittig und seine Mitarbeiter arbeiten seit Mona-ten unermüdlich für eine Beendigung des Blutvergießensin Syrien. Das will ich hier im Parlament ausdrücklichwürdigen.
Das beharrliche Festhalten am Sechs-Punkte-Friedensplan von Kofi Annan war bei aller Kritikdennoch richtig. Nun müssen bei der internationalen Sy-rien-Konferenz am Samstag in Genf weitere Schritte zuseiner Umsetzung vereinbart werden. Es bleibt zu hof-fen, dass es sich dieses Mal wirklich um einen erstenSchritt in Richtung Frieden handelt.Die Ereignisse der letzten zwei Wochen seit der Ein-bringung des Antrags haben uns drastisch vor Augen ge-führt, dass die heutige Debatte über eine erneute Verlän-gerung des UNIFIL-Mandats keineswegs eine bloßeFormsache ist. Auch wenn sich der Deutsche Bundestagin den vergangenen Jahren regelmäßig mit dieser Mis-sion beschäftigt hat, auch wenn die vielen guten Argu-mente für eine Zustimmung des Bundestages die glei-chen geblieben sind und auch wenn diese Mission selbstkeine großen Schlagzeilen produziert, müssen wir unsvor Augen halten: Die Bundeswehr ist und bleibt eineParlamentsarmee, und wir müssen in jedem einzelnenFall den Einsatz von Soldatinnen und Soldaten gut ab-wägen.Im Fall von UNIFIL ist die Sache klar. Die Missionder Vereinten Nationen ist ein Erfolg, weil sie Vertrauenschafft, weil erstens der Waffenschmuggel von der See-seite her wirksam bekämpft wird, weil zweitens derLibanon dabei unterstützt wird, eine eigene Marine auf-zubauen, um in Zukunft selbst vor seinen Küsten fürSicherheit zu sorgen, und weil drittens UNIFIL einen in-ternational abgesicherten Kommunikationsweg zwi-schen Israel und dem Libanon schafft, zwischen zweiStaaten, die sich noch immer im Kriegszustand befinden.Denn außer den militärischen Beratungen von UNIFILmit beiden Parteien gibt es nach wie vor keinerlei direkteKontakte.In diesem Zusammenhang danke ich ausdrücklich– das darf nicht zum Ritual werden, aber es muss unter-strichen werden – unseren Soldatinnen und Soldaten fürihre Leistung. Das gilt auch für ihre Familien. Sie ver-dienen unseren Respekt und unsere Anerkennung.
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22378 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Günter Gloser
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Alle genannten Punkte sind Grund genug, um überdieses Mandat zu sprechen, und zwar zu einem früherenZeitpunkt als bei der Einbringung des Mandats, die erstam späten Abend stattfand.Nun haben wir aber den Bürgerkrieg in Syrien, der imGegensatz zu UNIFIL viele Schlagzeilen produziert, dieMenschen rund um die Welt erschüttert und bislangdurch keine diplomatische Mission gestoppt werdenkonnte. Wir müssen alles dafür tun, damit dieser gewalt-tätige Konflikt nicht auf den Libanon übergreift; dennwir wissen, dass der Libanon zerrissen ist zwischen denAnhängern Assads bzw. den Helfern des Iran auf dereinen Seite und jenen Gruppen auf der anderen Seite, diesich mehr Distanz zur ehemaligen Besatzungsmacht Sy-rien wünschen.Premier Mikati verfolgt daher unter schwierigen Be-dingungen eine Politik der Nichteinmischung. Er tut al-les, um ein Übergreifen des syrischen Konflikts zu ver-meiden. Gerade in dieser Situation braucht der Libanonunsere Unterstützung. Wir sollten Verständnis für dieschwierige Lage dieses Landes und der brüchigen Regie-rungskoalition haben. Gerade in dieser Krise dürfen wirunser Engagement in der Region nicht reduzieren. ImGegenteil: Wir müssen den Menschen im Libanon zei-gen, dass wir ihre Sorgen teilen. Wir müssen das Unseretun, um eine weitere Eskalation der Gewalt zu verhin-dern.
Dazu tragen auch die bis zu 300 deutschen Soldatinnenund Soldaten bei, die im Rahmen der UNIFIL-Missiontätig sind. Sie stärken die libanesische Armee, insbeson-dere ihre Fähigkeit, die Küste des Landes zu kontrollie-ren. Sie stärken damit aber auch die Legitimation derRegierung des Landes, die von verschiedenen Milizenimmer wieder infrage gestellt wird. Zudem ist durch dasMandat sichergestellt, dass kein deutscher Soldat mitdem israelischen Militär in Konflikt geraten kann.Ich möchte auf die Debatte zurückkommen, die wirim Rahmen der Einbringung des Antrags geführt haben.Unverständlich ist mir vor dem von mir geschildertenHintergrund wieder einmal die Haltung der Linken, dieeine deutsche Beteiligung an UNIFIL immer abgelehnthat.
Als ich vor zwei Wochen bei der Einbringung des vorlie-genden Antrags Herrn Kollegen Gehrcke zuhörte, da fla-ckerte in mir kurz die Hoffnung auf, die Linke könntezur Einsicht gekommen sein. Sehr verehrter KollegeGehrcke, Sie haben nämlich gesagt: UNIFIL ist einerichtige und eine wichtige Mission. – Sie haben das lei-der aber nur gesagt, um zu schlussfolgern, dass sichDeutsche daran auf keinen Fall beteiligen dürfen. DieseLogik erschließt sich mir nicht, und sie wird auch vonden Menschen im Libanon und in Israel nicht verstan-den.
Auf der einen Seite militärische Einsätze – ja, aber nurmit Soldaten anderer Länder. Ich gestehe Ihnen zu, dasman sich erst einmal mit diesem Thema auseinanderset-zen musste. Das ist das legitime Recht; das machen an-dere Fraktionen im Bundestag auch. Die anderen Frak-tionen des Hauses haben ebenfalls erst einmal darübernachdenken müssen, ob das richtig ist. Aber ich denke,liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Ihre Hal-tung ist nicht von Verantwortungsbewusstsein geprägt.Die SPD hat das Mandat für diese Mission der Ver-einten Nationen immer mitgetragen. Darin zeigt sichihre außenpolitische Verlässlichkeit, aber auch ihr Be-wusstsein für die internationale Verantwortung. Wir ha-ben in diesem Mandat immer einen solidarischen Beitragfür die Völkergemeinschaft gesehen. In der UNIFIL-Mission engagieren sich auch viele kleinere und weiterentfernt liegende Staaten wie Osttimor oder El Salvador,um in dieser Region für Stabilität zu sorgen. Deutsch-land kann und soll sich deshalb nicht unsolidarisch undignorant zeigen, wenn es um den Frieden in der Nach-barschaft Europas geht.Unser Ziel bleibt die Krisenprävention; denn sieschafft den politischen Spielraum für die Sicherung desFriedens, auch für neue Entwicklungschancen, auch fürdie Achtung der fundamentalen Rechte eines jeden Men-schen. Deshalb erwarten wir – das ist in der ersten Le-sung von meinem Kollegen Hans-Peter Bartels erwähntworden – weitere Initiativen der Bundesregierung imHinblick auf den Frieden im Nahen und Mittleren Osten.Aus den von mir genannten Gründen stimmt die SPDdem friedensfördernden UNIFIL-Einsatz und der Ver-längerung des Mandats wie in den vergangenen Jahrenzu.Vielen Dank.
Das Wort hat nun Ingo Gädechens für die Fraktion der
CDU/CSU.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! In meiner letz-ten Rede vor fast einem Jahr zur Fortsetzung der Beteili-gung bewaffneter deutscher Streitkräfte an der UnitedNations Interim Force in Lebanon habe ich besondersbetont, dass nach dem libanesisch-israelischen Kriegviel versprochen wurde. Deutschland hat seine Zusagennicht nur eingehalten, sondern nachhaltig Hilfe zurSelbsthilfe geleistet.Der UNIFIL-Einsatz auf See hat ein doppeltes Man-dat. Dieses sieht neben der Sicherung der seeseitigenGrenzen auch die Unterstützung der libanesischen Streit-
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Ingo Gädechens
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kräfte beim Aufbau von Fähigkeiten vor, die Küste unddie Territorialgewässer des Landes selbstständig zu ver-teidigen. Zuletzt wurde das Mandat vom Sicherheitsratder Vereinten Nationen bis zum 31. August dieses Jahresverlängert. Mit einer weiteren Verlängerung ist zu rech-nen. Natürlich rechnen die Vereinten Nationen mit uns,mit der Bundesrepublik Deutschland.Die Beteiligung bewaffneter deutscher Streitkräfte amFlottenverband dient unverändert der Stabilisierung derBeziehungen zwischen Israel und dem Libanon und da-mit der Stabilität der Region als Ganzes. Die Einschät-zung, dass die Mission ein Stabilitätsanker und eine Ver-sicherung gegen eine regionale Destabilisierung ist, wiesie auch von meinen Vorrednern bereits skizziert wurde,wird von allen Seiten geteilt. Dies gilt insbesondere an-gesichts der aktuellen Entwicklung in der Region.Seit der letzten Verlängerung des Bundestagsmandatsfür den UNIFIL-Einsatz im Juni 2011 gibt die Sicher-heitslage im Libanon zunehmend Anlass zur Beunruhi-gung, insbesondere – auch das wurde bereits erwähnt –mit Blick auf das benachbarte Syrien. Die zurzeit unkal-kulierbaren innenpolitischen Spannungen haben das Po-tenzial, zu einer Destabilisierung beizutragen, welchesich auf die gesamte Region auswirken könnte.Diese Situation führt dazu, dass der erhoffte langsameAusklang dieser Mission leider noch nicht in Sicht ist.Die Erfolge bei der technischen Ausstattung, Ausrüstungund Ausbildung sind erkennbar. Mit einer hochmoder-nen Küstenradarorganisation kann nicht nur das Küsten-vorfeld überwacht, sondern können auch Schiffsbewe-gungen beobachtet und dokumentiert werden. Ebensopositiv ist der derzeitige Ausbildungsstand der libane-sischen Marinesoldaten, die von deutschen Offizierenund Unteroffizieren intensiv in Seemannschaft und Na-vigation ausgebildet wurden.Leider bestehen immer noch Lücken bei der Fähigkeitzur durchgreifenden Kontrolle von Seefahrzeugen inner-halb der eigenen Hoheitsgewässer, die es zu schließengilt. Um die libanesischen Kapazitätslücken bei Bootenund Schiffen zu schließen, bedarf es weiterer Anstren-gungen, nicht nur Deutschlands, sondern der gesamteninternationalen Gemeinschaft.Einen weiteren Schritt zur Schließung dieser von mirbeschriebenen Fähigkeitslücke verspricht sich die liba-nesische Marine von der noch in diesem Jahr geplantenÜbergabe eines 40-Meter-Bootes durch die USA. Even-tuell führt unser Engagement ja auch dazu, dass derdeutsche Marineschiffbau, unsere Werften von einemAuftrag für fünf seetüchtige Boote profitieren werden.Ich freue mich, dass nach monatelangem Einsatz amkommenden Freitag, also morgen, die beiden Minensu-cher „Ensdorf“ und „Auerbach/Oberpfalz“ mit ihren Be-satzungen wohlbehalten im Heimathafen Kiel einlaufenwerden.
Dabei freue ich mich nicht nur für die Besatzungen, son-dern auch ganz besonders für die Familien, Freunde undAngehörigen, die diesen Tag sicherlich ungeduldig her-beigesehnt haben.Israel und der Libanon begrüßen ausdrücklich dasdeutsche Engagement. Nicht nur die libanesischen Sol-daten, sondern weite Teile der Bevölkerung stehen demdeutschen Engagement mit Respekt und Dankbarkeit ge-genüber. Ich denke, auch wir in diesem Haus zollen un-seren Bundeswehrsoldatinnen und -soldaten nicht nurRespekt, sondern sind auch dankbar für den ausgespro-chen professionellen Einsatz weitab von der Heimat.
Das Bundestagsmandat für die deutsche Beteiligungam UNIFIL-Flottenverband soll heute um weitere zwölfMonate, bis zum 30. Juni 2013, verlängert werden.Diese Verlängerung macht nicht nur Sinn, sondern istauch aufgrund der von mir beschriebenen Situation inder Region zwingend geboten. Ich bitte Sie daher alle– alle – um Ihre Zustimmung.Herzlichen Dank.
Das Wort hat nun Inge Höger für die Fraktion Die
Linke.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Um direktauf Herrn Gädechens zu antworten: Die Linke wird auchin diesem Jahr dem Mandat nicht zustimmen.
Zielsetzung des UNIFIL-Mandates ist die Überwa-chung des Waffenstillstandes zwischen Israel und Liba-non. Inzwischen geht die Debatte aber nicht nur um dieLage im Libanon, sondern auch um Syrien. Viele hier imHaus sind sich wohl einig, dass die Eskalationsgefahrbeachtlich ist – regional und weit darüber hinaus.Vor diesem Hintergrund waren meine Fraktion undich erleichtert, dass bei der letzten UNIFIL-Debatte zurVorsicht gemahnt wurde, zumindest in Bezug auf einemilitärische Intervention in Syrien. Staatsminister Linkmachte darauf aufmerksam, dass Interventionsforderun-gen den politischen Prozess untergraben. Das ist absolutrichtig. Es geht in Syrien im Kern um einen politischenKonflikt. Eine tragfähige Lösung kann nur auf politi-schem Wege erreicht werden.
Das gilt auch für den Konflikt zwischen Israel und Li-banon, der durch UNIFIL befriedet werden soll. Durchden Versuch einer oberflächlichen Stabilisierung durchMilitär gerät der politische Prozess ins Hintertreffen.Altbekannte Probleme wie der Grenzverlauf zwischen
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22380 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Inge Höger
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Israel und Libanon sind nach wie vor ungelöst. Neuepolitische Konflikte sind hinzugekommen, insbesondereum die Nutzung von Gasvorkommen vor der libanesi-schen und israelischen Küste und die Abgrenzung derWirtschaftszonen beider Länder. Anstatt konsequent aufeinen internationalen Vermittlungsprozess zu setzen, an-statt auf tragfähige Verhandlungslösungen zu drängen,stimmt hier im Bundestag Jahr für Jahr eine Mehrheit fürdie Verlängerung des Bundeswehreinsatzes. Das ist völ-lig widersinnig.
Es gibt in Bezug auf Syrien nicht nur vorsichtige Si-gnale. Minister de Maizière hat bereits öffentlich übermögliche Aufgaben der UNIFIL-Soldaten in Bezug aufSyrien spekuliert. Bei seinem Truppenbesuch in Zypernsprach er davon, dass deutsche Marineangehörige im Sy-rien-Konflikt zum Einsatz kommen könnten. Gleichzei-tig sind deutsche Flottendienstboote außerhalb desUNIFIL-Mandates seit Ende letzten Jahres wiederholtvor der syrischen Küste präsent. Faktisch handelt es sichhier um Spionageschiffe. Sie werden in eine hochexplo-sive Region geschickt. Ohne das Parlament zu fragenoder auch nur ausreichend zu informieren, werden Datengesammelt. Sie könnten die Grundlage für eine militäri-sche Intervention in Syrien liefern. Selbst wenn diesnicht die Absicht sein sollte – allein die Gegenwart einesAufklärungsschiffes reicht, um die Spannungen in derRegion zu verschärfen. So befand sich die Besatzung desFlottendienstbootes „Alster“ mindestens einmal im Vi-sier eines syrischen Kriegsschiffes.Das Mandat UNIFIL setzt auf Kontrolle des Waffen-handels. Ein Erfolg darf bezweifelt werden. Ein ersterSchritt zur Unterbindung des illegalen Waffenhandelswäre schlicht und einfach der Stopp des legalen Waffen-handels in die Region.
Das findet jedoch nach wie vor nicht statt. Nicht nurIsrael, sondern auch zahlreiche arabische Staaten erhal-ten deutsche Waffen. Das muss endlich aufhören.Auch das Wissen über die Wege des illegalen Waffen-handels scheint sehr selektiv zu sein. So konnte mir dieBundesregierung auf meine Frage nach Waffenschmug-gel durch den Libanon an syrische Milizen keinerleiAuskünfte geben. Vieles deutet darauf hin, dass hiervonseiten der NATO-Verbündeten, aber auch vonseitender Bundesregierung nicht mit offenen Karten gespieltwird. Die Linke spricht sich klar dagegen aus, weiterhinSoldatinnen und Soldaten vor die Küste des Libanon zuentsenden. Stattdessen fordern wir einen glaubwürdigenpolitischen Prozess.
Eine Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeitim Nahen Osten nach dem Vorbild der KSZE könnte einvielversprechender Ansatz sein. Wichtig ist es, von derLogik des Militärischen wegzukommen.
Das Wort hat nun Kerstin Müller für die FraktionBündnis 90/Die Grünen.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Liebe Frau Kollegin Höger, ich kann die Ablehnung derLinken und Ihre Argumentation wirklich nicht nachvoll-ziehen.
Ich will noch einmal sehr deutlich sagen, worum es beiUNIFIL geht. Es geht doch bei den UNIFIL-Soldatennicht um einen Kriegseinsatz, wie Sie immer behaupten.
Durch UNIFIL wurde vielmehr 2006 ein Krieg zwischenLibanon und Israel beendet. Die Vorstellung, das wäremit einer Art THW-Team oder einer Polizeimission ge-nauso möglich gewesen, ist einfach abwegig.
Dieser Einsatz ist nicht anstelle eines politischen Prozes-ses erfolgt, sondern hat erst den Raum für den politi-schen Prozess geschaffen. Diese Mission ist zuallererst –das war sie von Anfang an – von hoher Bedeutung fürdie Stabilität in der Region – gerade angesichts der Ge-walteskalation in Syrien. Die ganze Region dort droht zueinem Pulverfass zu werden.Die Gräueltaten des Assad-Regimes gegenüber Zivi-listen nehmen dramatische Ausmaße an. Das wurde ges-tern in einem Bericht des UN-Menschenrechtsrates deut-lich, der sehr intensiv diskutiert wird: Folter, Mord,Vergewaltigungen, selbst an unschuldigen Kindern,durch das Regime und seine Milizen sind inzwischen ander Tagesordnung. Syrien gleitet immer mehr in einenblutigen Bürgerkrieg ab, in dem auch Racheakte der an-deren Seite zunehmen. Auch das wird in dem Berichtdeutlich. Es gibt mehr als 15 000 Tote, 200 000 Binnen-vertriebene und 80 000 Flüchtlinge, die in die Nachbar-staaten geflohen sind.Es ist eine menschliche Katastrophe. Ich will hier sehrdeutlich sagen: Dass der Sicherheitsrat der Vereinten Na-tionen angesichts einer solchen Katastrophe diese Ver-brechen noch immer nicht klar verurteilt, ist geradezuunerträglich. Wir müssen alles versuchen, damit das ge-schieht.
Denn die Menschen in Syrien brauchen jetzt ein starkespolitisches Signal, und zwar von allen in der internatio-nalen Gemeinschaft, dass wir nicht länger bereit sind,diese Massaker hinzunehmen. Ich fordere von dieserStelle vor allen Dingen Russland und China auf, eineklare Entschließung des Sicherheitsrates nicht weiter zublockieren. Wir brauchen eine politische Isolierung des
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22381
Kerstin Müller
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Regimes. Wenn das nicht passiert, führt das nur dazu,dass die Kämpfe umso blutiger weitergehen. Das mussgestoppt werden.
Am Samstag kommt in Genf die neugegründete Ak-tionsgruppe zusammen, wie Kofi Annan sie nennt. Essoll ein neuer Plan von Kofi Annan zur Bildung einerÜbergangsregierung beschlossen werden. Dabei ist klar– das kommt in den Formulierungen zum Ausdruck –,auch wenn Teile des Regimes natürlich in eine Lösungeingebunden werden müssen: Mit Assad wird es keinenFrieden geben. Denn die Liste der Menschenrechtsver-letzungen, der schwersten Menschenrechtsverbrechen istinzwischen viel zu lang. Das sollte auch Russland einse-hen, und zwar bevor der ganze Konflikt tatsächlich zueinem Flächenbrand eskaliert.
Der Abschuss des türkischen Kampfjets durch die sy-rische Luftabwehr zeigt, dass der Konflikt eine neueEskalationsstufe erreicht hat. Es war richtig, dass derNATO-Rat diesen Vorfall zunächst einmal politisch klarverurteilt hat. Aber es zeigt auch: Es könnte zu einem re-gionalen Flächenbrand kommen. Erdogan hat angekün-digt, künftig militärisch zu reagieren, wenn sich in derNähe der Grenze zur Türkei syrische Truppenbewegun-gen zeigen.Das erste Land, das davon betroffen wäre, ist der Li-banon; der Libanon war schon einmal Schauplatz einesjahrzehntelangen Bürgerkriegs, eines Stellvertreter-kriegs. Das haben die gewalttätigen, tödlichen Auseinan-dersetzungen zwischen Alawiten und Sunniten in Tripoliund Beirut im letzten Monat gezeigt. Auch der Flücht-lingsstrom aus Syrien hat das Potenzial, das Land zu de-stabilisieren.Was die syrisch-libanesische Grenze angeht, mussman sagen: Es werden vermutlich mehr Waffen denn jeüber die Grenze geschmuggelt. Eine Schwäche des Man-dats ist, dass es hier nichts bewirken kann, und zwar inkeine der beiden Richtungen. Auf der einen Seite wirddie Hisbollah aufgerüstet – das empfindet Israel ver-ständlicherweise als Bedrohung –, auf der anderen Seitewird die syrische Opposition mit Waffen beliefert. Auchdeshalb ist es richtig, dass wir den Libanesen weiter da-bei helfen, ein Grenzüberwachungsregime aufzubauen.Aus all diesen Gründen ist klar: Gerade angesichtsdieser fragilen Situation ist es besonders wichtig, dassdie UNIFIL-Mission als Stabilitätsanker in der Regionfortgesetzt wird. Was wäre es angesichts der prekärenund eskalierenden Situation in Syrien für ein Signal,wenn wir hier und heute beschließen würden, UNIFILzu beenden? Das wäre das absolut falsche Signal in dieRegion. Deshalb wird meine Fraktion diesem Mandatmit großer Mehrheit zustimmen.
Jetzt hat Florian Hahn für die CDU/CSU-Fraktion das
Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnenund Kollegen! Deutschland hat ein Interesse an einemstabilen Libanon. Hierzu leistet UNIFIL einen wertvol-len, sowohl vom Libanon als auch von Israel hochge-schätzten Beitrag. Daher werden wir für eine Verlänge-rung des UNIFIL-Mandats stimmen.Sehr geehrte Frau Kollegin Müller, herzlichen Dank!Treffender als Sie es getan haben, kann man die Haltungder Linken bzw. den Unsinn, den die Linken zu diesemThema verbreiten, nicht kommentieren. Deswegenmöchte ich das nicht weiter tun.Wenn wir in diesen Zeiten des Aufruhrs in der arabi-schen Welt und der anhaltenden Gewalt in Syrien zurVertrauensbildung und zur Stabilisierung der Sicher-heitslage in dieser Region beitragen können, dann habenwir die Pflicht, dies zu tun; das hat AußenministerWesterwelle bei seinem Besuch in Beirut dankenswer-terweise erst kürzlich bekräftigt. Längst hat die Gewaltin Syrien eine Dimension erreicht, die das Potenzial hat,die gesamte Region zu destabilisieren. Dies hätte auchunmittelbare Auswirkungen auf die Sicherheit Israels.Außerdem gibt die Sicherheitslage im Libanon aufgrundinnenpolitischer Spannungen seit der letzten Verlänge-rung des UNIFIL-Mandats zunehmend Anlass zur Beun-ruhigung.Wie Staatsminister Michael Link bereits vor zweiWochen an dieser Stelle ausführte, beobachtet das Aus-wärtige Amt die Sicherheitslage seit den jüngsten tödli-chen Auseinandersetzungen in Tripoli und Beirut mitwachsender Sorge. Die entlang konfessioneller Linienverlaufenden Konflikte zwischen den einzelnen Bevöl-kerungsgruppen im Libanon werden durch die Gewalt inSyrien zusätzlich angefacht. Vor diesem Hintergrund istdie Verlängerung des UNIFIL-Mandats dringender ge-boten denn je; denn UNIFIL ist ein Symbol für Vertrau-ensbildung und Völkerverständigung. Sowohl der Liba-non als auch Israel nehmen UNIFIL als Stabilitätsankerund Versicherung gegen eine regionale Destabilisierungwahr. UNIFIL bietet einen von beiden Seiten anerkann-ten Rahmen für direkte Kontakte zur Klärung und zurDeeskalation.
Das allein ist vor dem Hintergrund der gegenwärtigenEntwicklungen schon ein nicht zu gering zu schätzenderErfolg. Beide Seiten schätzen dabei gleichermaßen dendeutschen Beitrag und wünschen eine aktive RolleDeutschlands im Rahmen von UNIFIL. Mich freut dieseWertschätzung des deutschen Beitrags, vor allem in An-betracht der anfänglichen Bedenken gegenüber einerdeutschen Beteiligung an den Einsätzen in dieser Re-gion. Mit einer Verlängerung des deutschen Beitragssenden wir daher auch das Signal an die Region, dass
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Florian Hahn
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wir bereit sind, langfristig in diesem Krisenherd enga-giert zu sein und Verantwortung für diese Region zu tra-gen, wenn dies von allen Seiten gewünscht wird.Derzeit besteht unser deutscher Beitrag aus rund230 Soldatinnen und Soldaten und zwei Patrouillenboo-ten. Ergänzend zu dieser Beteiligung am UNIFIL-Flot-tenverband engagiert sich Deutschland auch auf bilatera-ler Basis an der Ausstattung und am Aufbau derlibanesischen Marine. Darüber hinaus sind wir, wie Siedem Antrag der Bundesregierung entnehmen können, imRahmen des vernetzten Ansatzes dabei, die deutsche Be-teiligung an UNIFIL in ein umfassendes Engagement fürden Libanon und die Region einzubetten, was auch poli-tische, wirtschaftliche und sozioökonomische Maßnah-men umfasst.
All den deutschen Soldatinnen und Soldaten, die beiUNIFIL ihren Dienst leisten und in den vergangenenJahren geleistet haben, gebührt unser Dank.
Ich wünsche allen unseren Soldaten an dieser Stelle Got-tes Segen bei ihren Einsätzen.
Ihnen und ihren Kameraden haben wir es zu verdanken,dass UNIFIL seit 2006 einen signifikanten Beitrag zurFestigung der Waffenruhe zwischen Libanon und Israelgeleistet hat. Der größte Erfolg besteht wohl darin, dasses seit 2006 geglückt ist, eine erneute militärische Eska-lation der kontinuierlich weiterschwelenden Spannungenzwischen Libanon und Israel zu verhindern.Die Überwachung der libanesischen Grenze zur See,die die libanesische Regierung 2006 von den VereintenNationen erbeten hatte, hat sich als Erfolg erwiesen. DiePräsenz des UNIFIL-Flottenverbands hat erheblich zurSicherung der seeseitigen Grenze des Libanons beigetra-gen. Ziel ist und bleibt es, Waffenschmuggel radikalisla-mischer Terrorgruppen zu verhindern. Weitere Erfolgesind im Bereich des Aufbaus maritimer Kapazitäten zuverzeichnen. Noch in diesem Jahr wird die achte voninsgesamt neun Stationen der landesweiten Küstenradar-organisation in Betrieb gehen; die letzte folgt nächstesJahr. Somit wird die libanesische Marine ab 2013 überein komplettes System zur Erfassung des Schiffverkehrsverfügen. Ebenso ist es UNIFIL gelungen, den Ausbil-dungsstandard der libanesischen Marine deutlich zu ver-bessern. Dank dieser Fortschritte wird UNIFIL hoffent-lich bald die Verantwortung für die Überwachung derlibanesischen Seegrenze schrittweise an die libanesischeMarine übergeben können. Insofern wohnt demUNIFIL-Mandat eine Exitoption inne.Nach erfolgreich abgeschlossenem Aufbau der mari-timen Fähigkeiten kann die Beendigung des Einsatzeserfolgen. Bis es so weit ist, braucht UNIFIL unsere Un-terstützung.Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Auswärtigen Ausschusses auf Drucksa-
che 17/10162 zu dem Antrag der Bundesregierung zur
Fortsetzung der Beteiligung bewaffneter deutscher
Streitkräfte an der United Nations Interim Force in Leba-
non. Der Ausschuss empfiehlt, den Antrag auf Drucksa-
che 17/9873 anzunehmen. Wir stimmen über die Be-
schlussempfehlung namentlich ab.
Bevor ich die Abstimmung eröffne, will ich darauf
hinweisen, dass wir unter dem noch folgenden Tagesord-
nungspunkt 11 zwei weitere namentliche Abstimmungen
durchführen werden.
Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, die
vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Sind alle Urnen be-
setzt? – Das ist der Fall. Dann eröffne ich die Abstim-
mung.
Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seine
Stimmkarte noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht
der Fall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte
die Schriftführerinnen und Schriftführer, mit der Aus-
zählung zu beginnen. Das Ergebnis der namentlichen
Abstimmung geben wir Ihnen später bekannt.
Jetzt rufe ich den Tagesordnungspunkt 9 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten
Marianne Schieder , Swen Schulz
, Dr. Ernst Dieter Rossmann, weiterer
Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Einführung eines generellen Schüler-BAföG –
Ein Instrument für mehr Chancengleichheit
im deutschen Schulsystem
– Drucksache 17/9576 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Haushaltsausschuss
Ich bitte darum, dass die Besprechungen beendet wer-
den, damit wir in der Tagesordnung fortfahren können.
Es ist vereinbart, zu diesem Tagesordnungspunkt eine
Dreiviertelstunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen
Widerspruch. Dann ist das beschlossen.
Ich gebe der Kollegin Marianne Schieder für die
SPD-Fraktion das Wort.
Liebe Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Wir, die SPD-Fraktion, legen heute einen Antrag
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22383
Marianne Schieder
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zur Wiedereinführung eines allgemeinen Schüler-BAföG vor, das viele von uns noch kennen werden; dennbis 1983 gab es bereits ein umfassendes BAföG fürSchülerinnen und Schüler an weiterführenden Schulen.Durch die erste Regierung Kohl wurde dieses Instrumentmassiv eingeschränkt und gekürzt, weil man glaubte, esnicht mehr zu benötigen. Seitdem aber ist der Anteil derKinder aus Elternhäusern mit niedrigerem Einkommenund aus prekären Familienverhältnissen, die den Sprungan die Universitäten schaffen, stetig zurückgegangen.Nach den Gründen befragt, geben sowohl Eltern als auchjunge Menschen sehr oft finanzielle Gründe an. Mantraut sich nicht zu, die Kosten, die mit dem Besuch einerweiterführenden Schule oder einem Studium verbundensind, zu schultern.Daraus folgt für uns: Wir brauchen Förderinstru-mente, die bereits vor dem Abitur ansetzen und die Ent-scheidung für eine weiterführende Schule erleichtern.
Daher heute unser Appell: Lassen Sie uns gemeinsamwieder ein allgemeines Schüler-BAföG auf den Wegbringen, um für mehr Bildungsgerechtigkeit zu sorgen!Den Zugang zu Bildung für alle Bürgerinnen undBürger zu öffnen, insbesondere Kindern und jungenMenschen eine möglichst individuelle und möglichst in-tensive Förderung zukommen zu lassen, damit niemandverloren geht und alle ihre Potenziale entfalten und ent-wickeln können, das ist Aufgabe guter Bildungspolitik.
Leider ist es hierzulande aber immer noch so, dass derZugang zu Bildung sehr stark von der sozialen Herkunftder Kinder und jungen Menschen abhängig ist, also imGrunde der Geldbeutel der Eltern ausschlaggebend dafürist, für welchen Schulweg sich ein Kind entscheidet undwelchen Schulabschluss es erreicht.Die jüngste Studie des Instituts für Schulentwick-lungsforschung der Technischen Universität Dortmundund der Bertelsmann-Stiftung vom März 2012 zur Chan-cengerechtigkeit und Leistungsfähigkeit im deutschenSchulsystem belegt dies erneut schwarz auf weiß. So ge-lingt es Kindern einkommensschwacher Eltern viel sel-tener, ein Gymnasium zu besuchen, als dem Nachwuchsvon Akademikern. Insbesondere in Bayern und in Nie-dersachsen ist der Zusammenhang zwischen sozialerHerkunft und schulischem Werdegang sehr stark ausge-prägt.
Die Erkenntnis ist sehr alt. Bereits vor rund zehn Jah-ren wurden diese Zusammenhänge in einer PISA-Unter-suchung festgestellt. Geändert hat sich seitdem nichtviel. Wir meinen, dass wir endlich etwas tun müssen, umdieser sozialen Schieflage entgegenzuwirken. Wir brau-chen ein neues Schüler-BAföG. Anspruchsberechtigtsollen alle Schülerinnen und Schüler einer weiterführen-den Schule ab der zehnten Jahrgangsstufe sein. DasSchüler-BAföG soll als Vollzuschuss gewährt werden,dem Grunde und der Höhe nach abhängig von der wirt-schaftlichen Leistungsfähigkeit der Eltern. Schüler-BAföG gibt es bereits, allerdings nur für Kinder undjunge Menschen, die zum Besuch einer weiterführendenSchule nicht bei ihren Eltern wohnen können. Die we-sentlichen Grundlagen sind also bereits vorhanden. Esbedarf lediglich einer Ausweitung der bestehenden Re-gelungen. Wenn Kinder wegen der Schule das Eltern-haus verlassen müssen, so müsste es zukünftig zusätz-lich einen Wohnzuschuss geben.Von einer solchen Ausweitung könnten nach aktuel-len Zahlen, basierend auf Vorausberechnungen der Kul-tusministerkonferenz, rund 183 000 Schülerinnen undSchüler profitieren. Sie könnten eine maximale monat-liche Förderung von bis zu 216 Euro erhalten. Für denBundeshaushalt würde dies Ausgaben von rund 300 Mil-lionen Euro bedeuten. Dieses Geld wäre in jedem Fallmehr als sinnvoll angelegt. Das wäre auch angesichtsdes sich anbahnenden Fachkräftemangels dringend not-wendig.
Vor allem aber würden vielen Kindern und jungenMenschen erheblich bessere Zukunftsperspektiven eröff-net. Ich kann Ihnen versichern, liebe Kolleginnen undKollegen der CDU/CSU- und FDP-Fraktion: Viele El-tern wären froh, wenn sie der Staat dabei unterstützenwürde, ihren Kindern eine gute Ausbildung bzw. die Er-langung der Hochschulreife zu ermöglichen.Wir dürfen nicht länger Zeit verlieren. Wir fordern dieBundesregierung auf, umgehend mit den Bundesländernin die erforderlichen Verhandlungen einzusteigen, umbaldmöglichst zu einer neuen BAföG-Reform zu kom-men, die ein generelles Schüler-BAföG enthält. Ziel fürdie Einführung sollte der Beginn des Schuljahres 2013/14sein.Jeder junge Mensch, der geeignet und willens ist,muss die Möglichkeit erhalten, zu studieren, unabhängigvon der finanziellen Situation des Elternhauses und vonder Frage, ob die Eltern selber eine akademische Vorbil-dung haben. Das war die Vision für die Einführung desBAföG 1971. Diesem Ziel näherzukommen, bleibt füruns alle ein ständiger Auftrag. Bildung ist ein hohes Gut.Sie ist Garant für eine stabile Demokratie, Garant für dasWohlergehen unseres Landes und Basis für eine gelin-gende zukünftige Entwicklung. Jeder Cent, der jetzt inBildung investiert wird, sichert die Zukunft unseres Lan-des und unserer Gesellschaft.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Stefan Kaufmann fürdie CDU/CSU-Fraktion.
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22384 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
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Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Meine Damen und Herren! 100 Millionen Euro für
Schüler, die zu Hause wohnen – das ist die heutige For-
derung der SPD. Worum geht es? Schülerinnen und
Schüler sollen in Zukunft das BAföG ab Klasse 10 auch
dann bekommen, wenn sie noch bei ihren Eltern woh-
nen, und das Ganze als Vollzuschuss. Die erste Frage,
die sich mir dazu stellt, Frau Schieder: Warum haben Sie
dieses Schüler-BAföG für alle als Vollzuschuss nicht in
Ihrer Regierungszeit eingeführt? Das hätten Sie gleich
1998 machen können.
Stattdessen ist die rot-grüne BAföG-Bilanz ziemlich
mau. Abgesehen von einer einzigen BAföG-Erhöhung
2001, der die CDU/CSU-Fraktion damals im Übrigen
zugestimmt hat, ist nicht viel passiert, und zwar nicht zu-
letzt deshalb, weil jede BAföG-Erhöhung am Veto des
Bundeskanzlers Schröder gescheitert ist. Dem Ruf der
rot-grünen Anti-BAföG-Koalition haben Sie schon da-
mals alle Ehre gemacht.
Mit Bundeskanzlerin Merkel haben wir jetzt zum
Glück eine Regierungschefin, die die absolute Priorität
der Bildung unterstützt.
Deshalb ist es auch erst mit einem CDU-geführten Bil-
dungsministerium gelungen, große Fortschritte für die
Studierenden zu erreichen. 2008 kam es zu einer kräfti-
gen und 2010 zu einer weiteren BAföG-Erhöhung mit
vielen Verbesserungen für die Studierenden im Detail.
Ich könnte es mir jetzt leicht machen und weiter auf
die Diskrepanz zwischen den schönen Worten der Oppo-
sitions-SPD und der tatsächlichen SPD-Regierungspoli-
tik herumreiten. Stattdessen werde ich mich aber sach-
lich mit Ihrem Antrag auseinandersetzen und ihn Schritt
für Schritt durchgehen.
Herr Kollege, möchten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Rossmann zulassen?
Ich mache erst einmal weiter, Herr Rossmann. Sie ha-ben ja noch Gelegenheit, zu sprechen.
Als Begründung für Ihren Vorstoß weisen Sie gleicham Anfang Ihres Antrags auf die angebliche Chancenun-gleichheit an deutschen Schulen hin und ziehen eine Stu-die heran. Zunächst einmal darf ich sagen, dass auch ichfür absolute Chancengleichheit bin. Diese verwechsleich aber im Gegensatz zu Ihnen nicht mit Ergebnis-gleichheit.
Die Studie, die Sie anführen, der „Chancenspiegel“ 2012der TU Dortmund und der Bertelsmann-Stiftung, machtaber genau diesen Fehler. Deshalb ist diese Studie – dassage ich sehr deutlich – nicht ernst zu nehmen. Der Ver-band Deutscher Realschullehrer wirft zu Recht ein, dassin der Studie einseitig die Schulform Gymnasium be-trachtet wird. Entscheidend ist aber der erfolgreicheÜbergang der Jugendlichen ins Berufsleben. Was brin-gen denn Abiturquoten von bis zu 80 Prozent wie inFrankreich, wenn gleichzeitig über 30 Prozent aller Ju-gendlichen arbeitslos sind? Ist das gerechter? Der Studiezufolge schon, aber meines Erachtens nicht.
Auf den Punkt bringt es meiner Meinung nach derPhilologenverband, der zu Recht darauf hinweist, dassder von Ihnen zitierte „Chancenspiegel“ lediglich einRecycling alter PISA-Daten liefert; dabei wurde aber be-kanntermaßen nur die Gruppe der 15-Jährigen unter-sucht. Was die Schüler danach erreichen, bleibt unbe-rücksichtigt, etwa ob sie später auf ein Gymnasiumwechseln oder eine Fachschule oder Berufsschule besu-chen. Mittlerweile führen mehrere Wege zur Hochschul-zugangsberechtigung.
Das wissen Sie doch, Frau Schieder: Inzwischen erwirbtsogar mehr als die Hälfte eines Jahrgangs eine Hoch-schulzugangsberechtigung. Das alles wird in der Studie,die Sie vollmundig zitieren, völlig ignoriert.Stattdessen werden die Zusammenhänge unzulässigverkürzt. Es wird der Eindruck erweckt, dass Kinder fi-nanziell schwächer gestellter Eltern beim Besuch weiter-führender Schulen vor allem an vorenthaltenen Finanz-grundlagen scheitern würden. Meiner Meinung nach gibtes keine strukturelle Benachteiligung, wie die Studiesuggeriert. Die Unterschiede sind vielmehr das Ergebnisvon Erziehung, Begabung, Leistungen und dem Lernum-feld, also außerschulischer Faktoren.
Das wird in der Bildungsstudie vergessen. Auf dieserStudie bauen Sie Ihre gesamte Argumentation und Be-gründung auf, Frau Kollegin Schieder. Das ist ein sehrbrüchiges Fundament.Dann führen Sie auch noch Bremen und Brandenburgals Beispiele für eine geringere Chancenungleichheit an.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22385
Dr. Stefan Kaufmann
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Dass dieselben Länder in derselben Studie als diejenigenidentifiziert werden, die Kinder aus bildungsfernen Fa-milien am stärksten benachteiligen, und dass diese bil-dungsfernen Schüler über zwei Lernjahre hinter Kindernaus bildungsnahen Elternhäusern zurückbleiben, ver-schweigen Sie geflissentlich. So geht es nicht, liebe Kol-leginnen und Kollegen.
Damit aber nicht genug. Beim Lesen Ihres Antrags er-geben sich weitere Ungenauigkeiten. Zwar trifft es zu,dass seit dem Haushaltsbegleitgesetz von 1983 nur nochSchüler BAföG erhalten, die nicht mehr bei ihren Elternwohnen. Allerdings – das verschweigen Sie ebenfalls –hat es bereits zuvor, nämlich unter Ihrer SPD-Regierung,scharfe Sparmaßnahmen gegeben. Mit dem 7. BAföG-Änderungsgesetz im Herbst 1981 haben Sie bereits Leis-tungen in erheblichem Umfang eingespart. Die jetzt vonIhnen geforderte Förderung für Schüler der 10. Klassean Berufsschulen haben Sie damals gestrichen. Das wa-ren nicht wir, sondern die SPD-Regierung. Das musseinmal klargestellt werden.
Jetzt zu Ihren Forderungen bzw. Ihrer Wunschliste.Sie fordern für alle anspruchsberechtigten Schüler abKlasse 10, also auch für diejenigen, die bei ihren Elternwohnen, die Einführung eines BAföG als Vollzuschuss.Außerdem soll es einen Wohnkostenzuschuss geben. Da-für fordern Sie in einem ersten Schritt 100 MillionenEuro vom Bund. Nun wissen wir alle, dass die Länderein Drittel der BAföG-Kosten tragen müssen. Das be-deutet 50 Millionen Euro obendrauf. Wie wollen Sie dasdenn schaffen? Selbst eine minimale BAföG-Erhöhungbekommen wir derzeit nicht hin, weil vor allem dieSPD-geführten Länder blockieren: Dafür sei kein Geldda; soll der Bund das doch alleine zahlen.
Sie fordern viel von anderen. Aber es gelingt Ihnennicht, selbst etwas zu schaffen. Hier verhält es sich dochgenauso wie beim Kooperationsverbot. Im Bund wirdvollmundig die Einbeziehung der Schulpolitik gefordert.Gleichzeitig sagen Ihre Parteikollegen im Land, dass ih-nen eine Einbeziehung der Hochschulen zu weit geht.Das ist keine konstruktive Opposition, sondern Aus-druck einer „Wünsch dir was“-Mentalität, verbundenmit medialer Schaumschlägerei. Das können wir wirk-lich nicht gebrauchen.
Ich bin überzeugt, dass wir uns den wirklich wichti-gen Herausforderungen der Modernisierung des BAföGstellen sollten. Dazu gehört erstens die Vereinfachungdes Antragsverfahrens. Derzeit arbeiten Bund und Län-der gemeinsam an der Aktualisierung der rund 650 Ver-waltungsvorschriften zum BAföG.Dazu gehört zweitens eine einheitliche oder zumin-dest kompatible BAföG-Bearbeitungssoftware in denLändern. Derzeit nutzen die Länder drei unterschiedli-che Softwaresysteme zur Bearbeitung der Anträge.Dazu gehört drittens, die Verständlichkeit der An-tragsformulare zu verbessern. Durch verständlichere An-träge kann die Zahl unvollständiger Anträge bzw. vonRückfragen gesenkt und können die Bearbeitungsdauerund der Aufwand für die Studentenwerke erheblich re-duziert werden.Viertens wäre derzeit der wichtigste Fortschritt für dieStudierenden die flächendeckende Einführung eines On-lineantrags. Bisher ist dies nur in Bayern und Hessen ge-lungen. Bayern war hier wieder einmal ganz vorne da-bei, lieber Kollege Albert Rupprecht, und hat 2010 alserstes Bundesland ein Onlineantragsverfahren einge-führt. Das ist beispielhaft, wie ich finde.
Dass im Jahre 2012 in 14 von 16 Bundesländern dieBAföG-Anträge noch immer handschriftlich ausgefülltwerden müssen, ist eigentlich ein Unding. Daran solltenwir gemeinsam arbeiten. Bisher benötigt ein Studie-render durchschnittlich 335 Minuten, das heißt überfünfeinhalb Stunden, um einen BAföG-Antrag auszufül-len. Diese Zeit könnte mit einem Onlineantrag erheblichverkürzt werden. Unsere Aufgabe besteht nun darin, diepositiven Entwicklungen zu unterstützen, zum Beispieldurch das E-Government-Gesetz. Dann können die An-träge auch mit elektronischer Unterschrift abgegebenwerden.Zusammenfassend: Vereinfachung, Modernisierungund Onlineantrag, das sind für mich die großen Heraus-forderungen, die wir jetzt angehen müssen. Wenn wirdas tun, können wir BAföG-Empfänger wirklich unter-stützen. Die von Ihnen vorgeschlagene Einführung einesgenerellen Schüler-BAföG als Vollzuschuss ist aus mei-ner Sicht nicht zielführend. Ich hoffe, dass sich die SPDwieder konstruktiver mit dem Thema BAföG auseinan-dersetzt.
Wir sind in der Großen Koalition zusammen ein gutesStück vorangekommen. Unter Schwarz-Gelb wurden dieAnstrengungen beim BAföG deutlich intensiviert. Die-sen Weg wird die Union konsequent weitergehen.Herzlichen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Ich gebe Ihnen jetzt das von den Schriftführerinnenund Schriftführern ermittelte Ergebnis der namentli-chen Abstimmung über das UNIFIL-Mandat bekannt:Es wurden 585 Stimmen abgegeben. Mit Ja haben ge-stimmt 507, mit Nein 74. Vier Kolleginnen und Kollegenhaben sich enthalten. Damit ist die Beschlussempfeh-lung angenommen.
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22386 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 585;davonja: 507nein: 74enthalten: 4JaCDU/CSUPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Peter GauweilerDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderDr. Stefan KaufmannRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinJürgen KlimkeAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanKarl SchiewerlingTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Kristina SchröderDr. Ole SchröderBernhard Schulte-Drüggelte
Detlef SeifJohannes SelleReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlDr. Matthias ZimmerWolfgang ZöllerWilli ZylajewSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo Egloff
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22387
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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Siegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroßWolfgang GunkelHans-Joachim HackerBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichDr. Barbara HendricksGustav HerzogFrank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerFritz Rudolf KörperAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulUta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilRainer BrüderleAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampMichael KauchDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorJan MückePetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Guido WesterwelleDr. Claudia WintersteinHartfrid Wolff
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Bärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Dr. Tobias LindnerNicole MaischJerzy MontagKerstin Müller
Dr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip Winkler
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22388 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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NeinSPDKlaus BarthelWilli BraseGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Rüdiger VeitDIE LINKEJan van AkenAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensKarin BinderMatthias W. BirkwaldChristine BuchholzEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinInge HögerDr. Barbara HöllAndrej HunkoUlla JelpkeDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertSabine LeidigRalph LenkertUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerNiema MovassatWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichJohanna VoßSahra WagenknechtHalina WawzyniakHarald WeinbergJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENMonika LazarHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeEnthaltenBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENDr. Anton HofreiterBeate Müller-GemmekeLisa PausDr. Wolfgang Strengmann-KuhnDie nächste Rednerin ist die Kollegin Nicole Gohlkefür die Linke.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! Seit Ja-nuar warten wir darauf, dass Ministerin Schavan den imKabinett längst verabschiedeten BAföG-Bericht endlichdem Parlament vorstellt. Vor der Sommerpause herrschteaber bislang Fehlanzeige. Es muss erst ein Antrag ausder Opposition kommen, damit wir das Thema BAföGim Bundestag überhaupt noch einmal behandeln.Im vergangenen Jahr wurde das 40-jährige BAföG-Jubiläum gefeiert. Anlässlich dieses Jubiläums und derdamit verbundenen Festivitäten haben sich auf einmalalle Fraktionen – auch die Koalitionsfraktionen – alsganz überzeugte Fans des BAföG präsentiert. Alle habenfür sich in Anspruch nehmen wollen, damit die Hoch-schulen in sozialer Hinsicht geöffnet zu haben.Nach diesen Lobesreden auf die eigene Politik istdann allerdings wenig passiert. Es gab nämlich wedereine Erhöhung des BAföG noch eine Ausweitung desBerechtigtenkreises – und zwar weder an Schulen nochan Hochschulen –, obwohl diese zwei Maßnahmen drin-gend notwendig wären und wirklich überfällig sind.
Der gerade erschienene Bildungsbericht „Bildung inDeutschland 2012“ macht ganz deutlich, wie sehr die so-ziale Herkunft den Bildungsweg in der Bundesrepublikbestimmt. Von 100 Kindern aus Elternhäuser mit akade-mischem Hintergrund nehmen 77 ein Studium auf. BeiKindern, deren Eltern einen Hauptschulabschluss haben,sind es gerade einmal 13. Das ist im Jahr 2012 der Zu-stand in einer Gesellschaft, die sich selbst als Bildungs-republik bezeichnet und eine Bildungsrepublik sein will.Ich finde, diese Zahlen zeigen keine Bildungsrepublik,sondern eigentlich eine bildungspolitische Katastrophe.
Weil man um all diese bildungspolitischen Peinlich-keiten weiß, sagt die Bundesregierung in ihrem BAföG-Bericht auch gar nicht ganz genau, wie hoch der Anteilder Schülerinnen und Schüler ist, die heute noch BAföGbekommen. Sie sagt nur, dass die Zahl der Gefördertenum 3,6 Prozent gestiegen ist. Die Frage ist aber, auf wel-chem Niveau diese Zahl gestiegen ist.An den allgemeinbildenden Oberstufen erhielten imJahre 2010 gerade einmal 9 300 Schülerinnen und Schü-ler das BAföG. 9 300 im gesamten Bundesgebiet! Um-rechnet sind das genau – diese Zahl findet man nichtmehr in dem Bericht – 0,8 Prozent. Das ist sozusagen dieBAföG-Förderungsquote bei Schülerinnen und Schülernan allgemeinbildenden Oberstufen.Was plant die Regierung in dieser Situation weiter?Sie will im Jahr 2013 eine Viertelmilliarde beim BAföGeinsparen. Das sind Ihre Pläne für den Haushaltsentwurf2013. Wahrscheinlich ist das auch schon die vorausei-lende Umsetzung der Kürzungsorgie, die uns ins Haussteht, wenn der Fiskalpakt ratifiziert ist. Sagen Sie denMenschen wenigstens die Wahrheit, anstatt die Mär vonder Bildungsrepublik zu bemühen.
Das BAföG für Schülerinnen und Schüler ist über dieJahre so zusammengestrichen und deformiert worden,dass davon eigentlich nichts mehr übrig geblieben ist.Dabei ist das Schüler-BAföG eine entscheidende Vo-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22389
Nicole Gohlke
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raussetzung dafür, dass sich junge Menschen unabhän-gig von ihrer sozialen Herkunft für einen ihren Interes-sen entsprechenden Beruf entscheiden und dass mehrSchülerinnen und Schüler eine Hochschulzugangsbe-rechtigung, nämlich das Abitur, erwerben.Wir Linke wollen deswegen eine deutliche Auswei-tung des Schüler- und Schülerinnen-BAföG. Wir möch-ten, dass endlich wieder alle Schülerinnen und Schüleran weiterführenden allgemeinbildenden Schulen dasRecht auf BAföG erhalten. Das haben wir bereits imletzten Jahr in unserem Antrag für eine nötige BAföG-Reform gefordert. Ich freue mich über die jetzige Initia-tive der SPD, die Richtiges benennt. In dem Antrag derSPD ist die Entwicklung der Förderhöhe leider nicht er-wähnt.Der BAföG-Bericht macht deutlich, dass es wegender gestiegenen Preise nötig ist, das BAföG um mindes-tens 5 Prozent zu erhöhen, damit das aktuelle Förder-niveau gehalten werden kann. Die wirklich lausige Erhö-hung der Bundesregierung von 2010 – sie betrug 2 Pro-zent – hat noch nicht einmal die Inflation ausgeglichen.Die dauernde Nichterhöhung des BAföG ist de factoeine BAföG-Kürzung.
Deswegen fordert die Linke die sofortige Anhebung desBAföG um 10 Prozent. Weiter brauchen wir jährlich ei-nen automatischen Ausgleich der gestiegenen Lebens-haltungs- und Ausbildungskosten.
Das BAföG hat den Auftrag, Bildungschancen zustärken und soziale Ungleichheiten aktiv auszugleichen.Dazu muss es aber Lebenshaltungskosten real abdecken.Hier ist ein aktives politisches Handeln gefordert undnicht schwarz-gelbes Nichtstun.Wenn die Politik handelt, könnte das BAföG wieder– so war es ursprünglich auch gedacht – zum bestenSchutz vor Bildungsausgrenzung werden.Vielen Dank.
Der Kollege Patrick Meinhardt hat jetzt das Wort für
die FDP-Fraktion.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen undKollegen! Jede Debatte um mehr Bildungsgerechtigkeitin Deutschland bringt uns voran. Dies gilt aber nicht fürjeden Antrag. Ich bin ein Freund davon, immer zuerst ei-nen Blick auf die Realität in Deutschland zu werfen.Wenn wir das wirklich ernsthaft machen, finden wir einebeachtliche Zahl: 200 000. 200 000 Schülerinnen undSchüler erhalten nicht in Zukunft, sondern schon heuteein Schüler-BAföG. 200 000 junge Menschen erhalteneine zusätzliche finanzielle Unterstützung, damit sieentsprechend ihrer Begabung und nicht nach dem Geld-beutel ihrer Eltern gefördert werden. Das ist gelebte Bil-dungsgerechtigkeit im 21. Jahrhundert.
Das gesellschaftspolitische Ziel von BAföG war undist immer, Bildungsperspektiven, Bildungsaufstieg fürdiejenigen zu ermöglichen, deren Familien nicht dasGeld haben, sie optimal zu fördern, oder – um in derFormulierung Ihres Antrags zu bleiben – die aus prekä-ren Familienverhältnissen kommen.
Genau deswegen setzt die Förderung mit Schüler-BAföG insbesondere bei den Schülerinnen und Schülernan, die schon einen beachtlichen Bildungsweg hintersich haben, bis sie in einer beruflichen Schule angekom-men sind. Das heißt, über 70 Prozent – über 70 Prozent! –der Schülerinnen und Schüler sind meist über die Haupt-schule oder über die Realschule in eine beruflicheSchule gekommen. Wir setzen mit der bereits existieren-den Regelung des Schüler-BAföG also exakt dort an, wodie soziale Gerechtigkeit in Deutschland noch mehr zumTragen kommen muss. Das bestehende Schüler-BAföGist ein Aufstiegsgarant. Darauf kann der gesamte Deut-sche Bundestag stolz sein.
Kritisch wird es, und zwar äußerst kritisch, wenn wirden Blick in die Bundesländer werfen und dabei feststel-len müssen, was die Länder selbst im Bereich des Schü-ler-BAföG tun bzw. nicht tun.
In Sachsen verzeichnen wir eine Steigerung um 18 Pro-zent,
in Hessen um 18 Prozent, in Nordrhein-Westfalen um21 Prozent in der Zeit 2008 bis 2010 bei Schüler-BAföG-Zuwendungen. Wenn aber von 2008 auf 2010die Anzahl der geförderten Schülerinnen und Schüler inMecklenburg-Vorpommern um 21,2 Prozent herunter-geht,
gleichzeitig sich aber die Anzahl der Schulabbrecherdramatisch erhöht, läuft etwas bildungspolitisch grana-tenmäßig falsch.
Dies macht deutlich, dass zunächst endlich einmal auchdie Länder ihre Hausaufgaben zu machen haben, bevorschon wieder neue Forderungen nach mehr Bundesaus-gaben kommen.Wenn wir schon bei den Ländern sind, dann sage icheines ganz klipp und klar: Wir machen bei keinem neuenBAföG-Basar mehr mit. Ich erwarte von Ihnen eineklare Aussage, ob Ihre SPD-Ministerpräsidenten bereitsind, sich an den Kosten zu beteiligen. Wir beteiligen
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22390 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Patrick Meinhardt
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uns nicht an dem unwürdigen Spiel, das da heißt, dieSPD-Fraktion beantragt ein Schüler-BAföG, die SPD-Länder schwadronieren über soziale Gerechtigkeit undschlagen sich dann in die Büsche, wenn es darum geht,ihr Drittel zu finanzieren. So nicht!
Deswegen, verehrte Kolleginnen und Kollegen, ist esumso wichtiger, dass wir all diejenigen Länder fördernund stärken, die selbst bereit sind, ein Schüler-BAföG indie Wege zu leiten. Exemplarisch greife ich dort die rot-rote Landesregierung von Brandenburg heraus. Ganz un-kompliziert – ganz unkompliziert! – konnte dort die ein-zige vernünftige Regelung verabredet werden, dass fürdie 500 Jugendlichen aus Hartz-IV-Familien sicherge-stellt ist, dass eine Anrechnung auf die Leistungen ausdem Sozialgesetzbuch ausgeschlossen ist. Ganz unkom-pliziert auf der direkten persönlichen Verhandlungs-ebene – genau so und nicht anders sieht ein intelligentes,sinnvolles Miteinander zwischen Bund und Ländern aus.Verehrte Kolleginnen und Kollegen, Sie erlauben mir,dass ich grundsätzlich noch einmal die Ausweitung einesSchüler-BAföG für Schülerinnen und Schüler für weiter-führende allgemeinbildende Schulen ab Klasse 10 an Ih-rem eigenen Anspruch messe, den Anteil der Kinder ge-rade aus Arbeiterfamilien zu erhöhen, der den Weg in dieHochschule findet. Dass wir aber auch grundsätzlich dieZielrichtung eines Schüler-BAföG hinterfragen müssen,gehört ebenfalls zur Diskussion eines solchen Antrags.Jetzt wird es spannend; denn genau die gleiche Debatteist bei der Anhörung im Landtag von Brandenburg auchgeführt worden. Ich zitiere aus einer Stellungnahmedort:Es existieren keine belastbaren Daten darüber, dassSchüler aus der gymnasialen Oberstufe gehen,wenn sie kein Schüler-BAföG erhalten. In der wis-senschaftlichen Forschung findet man keinerleiBelege dafür, dass die Einführung eines Schüler-BAföG strukturelle Veränderungen in der Grund-schule auslöst, was die eigentlichen Richtungsent-scheidungen von Schülern betrifft.
Dies hat der Vertreter der GEW in Brandenburg zum Ge-setzentwurf der rot-roten Landesregierung formuliert.Recht hat er.
Man kann noch eins draufsetzen. Noch deutlicherwird der Landesschülerrat – was er sagt, gilt auch füreine bundesweite Stellungnahme –:Unbestritten ist, dass in Deutschland die Bildungs-chancen von der sozialökonomischen Herkunft ei-nes Kindes abhängen.Sollte dann aber nicht Ziel der rot-roten Regierungsein, genau dieser Tatsache entgegenzuwirken? Das Pro-blem bestehen zu lassen und die Auswirkungen durchdas Schüler-BAföG zu kaschieren, erscheint als keinegeeignete Lösung dieses Problems.
Herr Kollege, Herr Rossmann würde Ihnen gerne eine
Zwischenfrage stellen.
Nein, vielen Dank.
Nach vielen Diskussionen stellten wir fest, dass es
sich mehr oder weniger um ein kleines Imageprojekt
handelt, das nicht den Bedürfnissen der Schüler entge-
genkommt. Schlussformulierung des Landesschüler-
rates:
Den Zweck des Schüler-BAföG auf dem Papier
festzuhalten heißt jedoch nicht, dass es in der Reali-
tät diesem Zweck auch zugutekommt.
Dem ist bildungspolitisch überhaupt nichts mehr hinzu-
zufügen.
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen, Sie alle wissen,
dass wir ein erhebliches Problem damit haben, dass die
Querverbindungen zur Sozialgesetzgebung in Ihrem An-
trag überhaupt nicht erwähnt worden sind und dass ein
höherer Verwaltungsaufwand in erheblichem Maße pro-
voziert werden würde, wenn es zu Auszahlungsverzöge-
rungen käme, da nach Ihrem Antrag die Förderung nach
dem SGB II erst nach der Antragsberatung durch die
BAföG-Ämter anlaufen könnte. Es ist ein erhebliches
Problem, solch einen wichtigen Punkt wie die Querver-
bindung der Sozialpolitik hier überhaupt nicht berück-
sichtigt zu haben. Der von Ihnen vorgelegte Antrag ist
nichts anderes als der Einstieg in ein neues Bürokratie-
monster im Sozialbereich.
Ich glaube deswegen, man sollte bei diesem Antrag
das tun, was wir Ihnen vonseiten der Regierungsfraktio-
nen vorschlagen. Meine sehr geehrten Damen und Her-
ren, ich attestiere den Sozialdemokraten gern, dass ihr
Antrag gut gemeint ist. Aber er löst zentrale Fragen
nicht. Er entlässt die Länder an Stellen aus der Verant-
wortung, wo sie sie definitiv wahrnehmen müssten, und
er lässt die sozialpolitischen Querverbindungen vollstän-
dig außer Acht. Schade! Deswegen ist dieser Antrag ein-
mal mehr der Beweis dafür, dass das Gegenteil von
„gut“ nicht „schlecht“, sondern „gut gemeint“ ist.
Vielen herzlichen Dank.
Für Bündnis 90/Die Grünen hat jetzt Kai Gehring das
Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Bildung darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22391
Kai Gehring
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Dies gilt auch beim Zugang zum Abitur. Wir wollenstrukturelle Benachteiligung abbauen, für mehr Durch-lässigkeit sorgen und damit der sozialen Spaltung vonBildungsbiografien entgegenwirken.Die weitgehende Aushöhlung des Schüler-BAföG inden 1980er-Jahren hat vielen jungen Menschen aus ein-kommensarmen Elternhäusern den Weg zum Abitur zu-nächst erschwert. Nur noch Schülerinnen und Schüler,die nicht bei ihren Eltern wohnen, können unter sehr en-gen Voraussetzungen gefördert werden. Der SPD-Antragist aber allenfalls gut gemeint. Wir müssen intensiv prü-fen und diskutieren, mit welchen Mitteln das eigentlicheZiel, nämlich mehr bildungsfernen Jugendlichen dasAbitur zu ermöglichen, am besten zu erreichen ist.
Gerade in der Schulbildung gilt für uns Grüne klar derGrundsatz der Institutionenstärkung. Diese ist meist vielwirkungsvoller als Transfers, wie das völlig verun-glückte und überbürokratisierte Bildungs- und Teilhabe-paket zeigt.
Starke Institutionen wie gute Ganztagsschulen bieten al-len, aber gerade bildungsfernen Kindern und Jugendli-chen bessere Voraussetzungen für eine erfolgreicheSchullaufbahn. Lehrerinnen und Lehrer müssen zudemin ihrer Ausbildung besser auf heterogene Lerngruppenvorbereitet werden.Klar ist auch: Der Lebensunterhalt ist ein Kosten-punkt, der einkommensschwache Eltern davon abhaltenkann, ihrem Kind den Zugang zum Abitur zu ermögli-chen. Auch deshalb ist es inakzeptabel, dass die Bundes-regierung bei Bedarfsgemeinschaften weiterhin einenachvollziehbare Regelsatzberechnung verweigert. Wirsagen: Für mehr Bildungsaufstieg ist eine kluge Kombi-nation aus Transfers und starken Bildungsinstitutionennotwendig.
Viele Studien, zuletzt der nationale Bildungsbericht,haben nachgewiesen, dass der Weg zum Abitur für bil-dungsferne Jugendliche in Deutschland besondersschwierig ist – aber nicht vorrangig aus finanziellenGründen in der Oberstufenphase, wie der SPD-Antragmeint. Die negative Auswahlentscheidung wird meistensviel früher getroffen. So liegt die unterproportionaleAbiquote von Nichtakademikerkindern vor allem andem Aussieben beim Übergang aus der Grundschule indie weiterführende Schule.
Für diese Kinder und Jugendlichen kommt erschwerendhinzu, dass ihre Leistungen häufig ungerecht beurteiltwerden. So hat die Vodafone-Stiftung ermittelt, dass einKind aus einer bildungsfernen Familie bei gleicher Leis-tung oft schlechter benotet wird. Nur zur Hälfte sei dieBenotung mit der erbrachten Leistung zu erklären. Beider Empfehlung zu weiterführenden Schulen betrage diesoziale Verzerrung bei gleicher Leistung während derGrundschulzeit mindestens 25 Prozent. Der aktuelleChancenspiegel von Bertelsmann-Stiftung und TU Dort-mund beklagt letztlich die fehlende Integrationskraft undDurchlässigkeit unseres Schulsystems. Aber die Studiebelegt auch, dass Fairness, Gerechtigkeit und Leistungs-fähigkeit und echte individuelle Förderung in den Schu-len, wenn sie verbunden werden, ganz klar ein gutesMittel sein können, um bildungsferne Kinder und Ju-gendliche zu fördern.Um Bildungshürden in Deutschland abzuräumen,muss Bildung endlich so organisiert und finanziert wer-den, dass individuelle Förderung für alle möglich ist.Bund und Länder müssen dabei gemeinsam und in ge-samtstaatlicher Verantwortung handeln. Genau deshalbwollen wir das Kooperationsverbot aufheben, um nochmehr gute Ganztagsschulen in Deutschland haben zukönnen.
Für die Einführung eines echten Schüler-BAföGmüssten zunächst die Länder gewonnen werden. Deswe-gen muss sich die SPD schon die Frage gefallen lassen,warum es, von Brandenburg abgesehen, bisher keine re-levanten SPD-Initiativen aus den Ländern zum Schüler-BAföG gegeben hat. Eine massive Ausweitung desSchüler-BAföG wäre daher ein ehrgeiziges und ambitio-niertes Unterfangen. Die von der SPD im Antrag vorge-schlagene Anschubfinanzierung von 100 Millionen Euroreicht dafür sicher gar nicht aus. Sinnvoller könnte esvielmehr sein, zunächst eine schrittweise Ausweitungdes Berechtigtenkreises ins Auge zu fassen, zum Bei-spiel auf Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Program-men, bei denen Schulabschlüsse nachgeholt werden,
sowie auf Berufskollegs. Auch sollten die Richtlinien,die es jetzt gibt, weniger restriktiv ausgelegt werden,etwa in Fällen, in denen jungen Menschen das Zusam-menleben mit ihren Eltern nicht zugemutet werden kann.Für einen Bildungsaufbruch müssen strukturelle Hür-den beseitigt und die Finanzausstattung der Schulen wei-ter verbessert werden. Für uns Grüne sind diejenigenMaßnahmen prioritär, die sich unmittelbar auf denSchulerfolg bildungsferner Jugendlicher auswirken undsoziale Öffnung bringen. Nur so werden wir dem einzel-nen jungen Menschen gerecht und bekämpfen nachhaltigsoziale Ausgrenzung und Fachkräftemangel. Ich habeein paar Beispiele dafür genannt, wie man es besser ma-chen könnte. Wir sind zu solch einer Prioritätensetzungbereit und freuen uns darauf, ambitionierte und zugleichumsetzbare Instrumente auf den Weg zu bringen. DerSPD-Antrag trägt in seiner jetzigen Form noch nichtdazu bei.
Florian Hahn hat das Wort für die CDU/CSU-Frak-tion.
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Sehr geehrte Frau Präsidentin! Geschätzte Kollegin-nen und Kollegen! Bildung ist ein hohes Gut in unsererGesellschaft. Ich denke, wir sind uns über alle Partei-grenzen hinweg einig, dass wir Deutschland als Bil-dungsrepublik weiterhin stärken müssen, damit wir imglobalen Wettbewerb nicht auf der Strecke bleiben. Au-ßerdem sind wir es den jungen Menschen in unseremLand schuldig, sie entsprechend ihrer Talente und Fähig-keiten ausreichend zu fordern und zu fördern. Berufli-cher Erfolg darf nicht nur über Generationen vererbtwerden, sondern muss durch Talent und Einsatzbereit-schaft erreichbar sein. Auch Kinder aus sozial schwa-chen Familien müssen eine faire Chance auf einen höhe-ren Bildungsabschluss bekommen.Diese Herausforderung nimmt die Bundesregierungernst. Wir investieren in große Programme, wie zumBeispiel in den Ausbau der Ganztagsschulen, um für je-den Schüler eine angemessene Förderung zu gewährleis-ten. Auch das Projekt „Lesestart“ setzt sehr früh an undversucht, die Potenziale von Kindern aus sogenanntenbildungsfernen Familien auszuschöpfen.Die Wiedereinführung des Schüler-BAföG, meineDamen und Herren, gehört leider nicht zu den Lösungen,die für mehr Bildungsgerechtigkeit in unserem Land sor-gen. Es macht weder inhaltlich Sinn, noch ist es finan-ziell zu stemmen. Schließlich tun sich die Länder jetztschon schwer, die benötigten Finanzmittel für das beste-hende BAföG bereitzustellen.
Zu glauben, ein kleiner Geldbeitrag im Monat könntederart komplexe Probleme wie soziale Ungleichheit undmangelnde soziale Mobilität lösen, halte ich für reichlichnaiv. Finanzielle Mittel allein sind in diesem Fall völligunzureichend, wenn nicht gar vollends sinnlos.
Interessant ist auch, dass sich die SPD in ihrem An-trag plötzlich für direkte monetäre Leistungen für Fami-lien starkmacht, während sie das Betreuungsgeld ab-lehnt.
Dort wäre das Geld viel sinnvoller angelegt. Viele Initia-tiven, wie zum Beispiel ArbeiterKind.de, haben mittler-weile ausreichend belegt, dass es nicht unbedingt diefinanziellen Sorgen sind, die Kinder aus bildungsschwa-chen Haushalten vor einem gymnasialen Abschluss odereiner späteren akademischen Laufbahn abschrecken,sondern dass Erziehungsfragen, der Wertekanon, der inder Familie vorherrscht, und die persönliche Unterstüt-zung dabei eine Rolle spielen. Hier müssen wir ansetzen.Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass nie mehr für Bil-dung getan wurde als unter der heutigen Regierung.Der 4. Bildungsbericht, der letzten Freitag vorgelegtwurde, belegt die positive Gesamtentwicklung des deut-schen Bildungssystems eindeutig. Damit zahlt sich dieklare Schwerpunktsetzung der Koalition für die Bildungaus: Weniger Risikoschüler, weniger Schulabbrecher,dafür mehr Geld im System, mehr Durchlässigkeit undhöhere Abschlüsse denn je. Fast jeder zweite Schülerverlässt die Schule inzwischen mit der Hochschulreife.Nie waren Bildungschancen für junge Menschen inDeutschland besser als heute.
Das zeigt sich auch am schon bestehenden BAföG. Dashaben wir sogar noch ausgebaut. Im Bereich der Begab-tenförderung und der Bildungsdarlehen haben wir wei-tere Instrumente der Ausbildungsfinanzierung flankiert.So wurde das Deutschlandstipendium ins Leben gerufenund das Bildungskreditprogramm erweitert. Damit hatunsere Ministerin Schritte in eine offenere Bildungspoli-tik eingeleitet, die der unterschiedlichen Lebenssituatio-nen der Menschen Rechnung trägt. Ich möchte noch dieÖffnung des Hochschulzugangs für beruflich Qualifi-zierte hervorheben. Dies ist in Bayern eine ungeheure Er-folgsgeschichte. Das heißt, der Abschluss als Meisterzieht in puncto Hochschulzugang mit dem Abitur gleichund hält somit Handwerkern alle Bildungschancen offen.
Dies macht deutlich, dass die Bildungsbeteiligung nichtauf den Besuch eines Gymnasiums reduziert werden darf.Schon heute werden 42 Prozent der Hochschulzugangs-berechtigungen nicht mehr am Gymnasium erworben,sondern über andere Wege, wie zum Beispiel die berufli-che Bildung. Gerade in Bayern, meiner Heimat, sindjunge Menschen aus sogenannten bildungsfernen Schich-ten und nichtdeutscher Herkunft überdurchschnittlich amErwerb entsprechender Zertifikate beteiligt. Ich erzähleihnen nichts Neues, wenn ich sage, dass die Schüler inBayern von jeher in Ländervergleichen am besten ab-schneiden. Gleichaltrige Schüler in anderen Bundeslän-dern hinken oft bis zu einem Jahr hinterher. Der Berufs-einstieg für Schulabgänger in Bayern, ob diese von derMittelschule, der Realschule, oder von einem Gymna-sium kommen, ist so leicht wie in keinem anderen Bun-desland.
Bayern weiß, wo es Defizite hat, und arbeitet mit Hoch-druck daran. Die von mir genannten großartigen Erfolgelasse ich mir trotzdem von der SPD nicht madig reden.
Vor diesem Hintergrund und den zahlreichen Errun-genschaften in der Bildung dank unserer Regierung ist esdoch höchst verwunderlich, dass die SPD mit der altenForderung nach einem Schüler-BAföG kommt. DasSchüler-BAföG gilt seit 1983/84 nur noch für Jugendli-che, die nicht bei den Eltern wohnen. Einkommens-schwache Familien erhalten für zu Hause wohnendeSchüler natürlich Unterstützung. Diese werden beim Ge-samtbedarf von SGB-II-Empfänger-Haushalten berück-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22393
Florian Hahn
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sichtigt. Würden sie jedoch künftig BAföG-berechtigt,blieben sie zu einem großen Teil zusätzlich nach SGB IIförderungsberechtigt. Das würde in zahlreichen Fällenzu einer Überschneidung der Finanzierungshilfeinstru-mente nach dem SGB II einerseits und dem BAföG an-dererseits kommen.Ich muss nicht weiter ausführen, welch erheblichenVerwaltungsaufwand mit sich bringen würde und mitwelchen Auszahlungsverzögerungen zu rechnen wäre.Hier hört die Absurdität des Antrags noch nicht auf.Derzeit wird das BAföG mit 65 Prozent vom Bund und35 Prozent von den Ländern gestemmt. Vor allem dieLänder haben jetzt schon Probleme, das bestehendeBAföG anzugleichen. Nun will die SPD auch noch dasSchüler-BAföG einführen. Ich wünsche Ihnen viel Spaßmit ihren Genossen in den A-Ländern.
Herr Schulz und der SPD-Haushälter, HerrHagemann, haben behauptet, die Regierung kürze imHaushalt 2013 beim BAföG. Das ist nicht nur falsch,sondern bewusst irreführend. Jeder BAföG-Empfängerhat im kommenden Jahr einen bis auf den letzten Centunveränderten BAföG-Anspruch. Das wissen Sie. Es istklar, dass die Rückzahlungsausfälle bei guter Konjunk-tur sinken, ebenso, dass dieses Geld für zusätzliche Stu-dienplätze eingesetzt wird. Kehren Sie an dieser Stellezu einer ernsthaften Argumentation zurück. Sie haben jagleich Gelegenheit, das Ganze entsprechend richtigzu-stellen.
Mir drängt sich dabei auch der Verdacht auf, dass dieSPD angesichts des bevorstehenden Wahlkampfs ledig-lich versucht, das alte Thema Schüler-BAföG populis-tisch wiederaufleben zu lassen. Dies würde auch densonderbaren Umstand erklären, dass die SPD weder inder rot-grünen noch in der Großen Koalition jemals aufdie Idee kam, das Schüler-BAföG wieder einzuführen.Den Antrag gilt es daher abzulehnen.Herzlichen Dank.
Swen Schulz hat das Wort für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Wenn ich mirdiese Debatte so anhöre, dann bin ich schon ein Stückweit enttäuscht davon, wie die Vertreterinnen und Ver-treter insbesondere von CDU/CSU und FDP hier argu-mentieren.
Die SPD hat einen Antrag zur Verbesserung desSchüler-BAföG vorgelegt, und Sie haben spontan aufAbwehr geschaltet. Anstatt sich mit der Argumentationeinmal ernsthaft auseinanderzusetzen und von unsererSeite etwas dazu zu hören, bauen Sie Barrikaden undBlockaden auf.
Ich bitte Sie herzlich, sich in der weiteren parlamentari-schen Beratung hier ein Stück weit zu öffnen.Der kürzlich erst veröffentlichte nationale Bildungs-bericht bestätigt: Bildung hängt weiterhin sehr stark vonder sozialen Herkunft ab. Im Bildungsbericht findet sich– auf Seite 293, wenn ich mich recht entsinne – einekleine, aber sehr ausdrucksstarke Grafik. Diese machtdeutlich, dass 77 Prozent der Akademikerkinder denWeg zu den Hochschulen finden, aber nur 13 Prozent derKinder von Eltern mit Hauptschulabschluss studieren.Dieses Ungleichgewicht rührt doch nicht daher, dass dieKinder von Hauptschülern etwa dümmer wären, sondernsie bekommen weniger Unterstützung und weniger För-derung. Da müssen wir ansetzen.
Es gibt im Wesentlichen zwei Möglichkeiten, mitdem nationalen Bildungsbericht umzugehen. Die ersteMöglichkeit: Man nimmt ihn ernst und versucht, politi-sche Antworten auf das zu finden, was die Wissenschaft-lerinnen und Wissenschaftler darin formuliert haben. Diezweite Variante: Man kann ihn ignorieren.Die CSU und die Bayerische Staatsregierung habeneine dritte Variante erfunden: Sie haben die Autoren desBildungsberichts beschimpft und wollen ihnen denMund verbieten. Das ist eine Form der Wissenschafts-feindlichkeit, die wir weder akzeptieren noch mitma-chen.
Wir befinden uns ja schließlich nicht beim Papst im17. Jahrhundert, auch wenn der Herr Seehofer das viel-leicht gerne hätte.
Uns macht das Sorgen, was im Bildungsbericht steht.Wir nehmen Ungerechtigkeit und Chancenungleichheitim Bildungswesen nicht hin, sondern wir wollen Ant-worten darauf finden. Deswegen wollen wir dazu beitra-gen, dass der Zugang zum Abitur nicht am Geldbeutelscheitert.Wir schlagen daher vor, dass das Schüler-BAföG ver-bessert wird und auch an diejenigen gezahlt wird, dienoch zu Hause leben. Herr Meinhardt, Ihnen und den an-deren sei gesagt: Das löst natürlich nicht jedes Problem –selbstverständlich nicht, welche einzelne Maßnahmekönnte das schon von sich behaupten? Herr KollegeGehring, natürlich wollen wir die Schule als Institutionstärken. Die Verbesserung des Schüler-BAföG wäre je-doch ein wichtiger Baustein zur Unterstützung derjeni-gen, denen es finanziell nicht gut geht,
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Swen Schulz
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oder derjenigen, die sich vielleicht zu Hause dafür recht-fertigen müssen, dass sie weiter zur Schule gehen wol-len, anstatt Geld nach Hause zu bringen, eine Ausbil-dung zu machen oder zu arbeiten.Wir wollen eine bedarfsabhängige Förderung, undzwar bis zu 216 Euro monatlich als Vollzuschuss. NachSchätzungen der KMK könnten davon etwa 183 000 Schü-lerinnen und Schüler profitieren. Das würde in der Spitzeinsgesamt Ausgaben von jährlich 300 Millionen Eurobedeuten. Natürlich ist das viel Geld. Aber es ist gut inBildung investiert, ganz im Gegensatz zu dem geplantenBetreuungsgeld, Herr Hahn. Das ist genau der Unter-schied. Im Gegensatz zu Ihnen unterstützen wir die Bil-dung.
Herr Hahn, dass Sie hier ernsthaft das Finanzargu-ment gegen das Schüler-BAföG ins Feld geführt haben,finde ich einigermaßen dreist. Das hat mich fast vomStuhl gehauen. Lassen Sie es mich einmal so formulie-ren: Solange Sie in der Koalition auch nur darüber nach-denken, das Betreuungsgeld einzuführen, das bis zu2 Milliarden Euro kosten würde,
haben Sie jedes Recht verwirkt, das Finanzargument ge-gen Bildungsförderung ins Feld zu führen.
Das BAföG ist das zentrale Instrument der Bildungs-förderung. Es muss weiterentwickelt werden. Dafür set-zen wir uns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemo-kraten engagiert ein. Das haben wir auch unter Rot-Grüngetan. Nachdem das BAföG in der Kohl-Ära in Schuttund Asche gelegt wurde, haben wir es wieder aufgebaut.Auch in der Großen Koalition, mussten wir Frau Schavanordentlich schieben und treiben, damit überhaupt etwaspassiert.
Sie wollte das BAföG eigentlich abschaffen.Heute beraten wir unseren Antrag in erster Lesung.Wir setzen darauf, dass es uns in der weiteren Beratungim Ausschuss, auch unter Einbeziehung von Sachver-ständigen, gelingt, dass Sie sich öffnen und sich von un-seren guten Argumenten überzeugen lassen.
Herzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9576 an die Ausschüsse vorgeschlagen,die Sie in der Tagesordnung finden. – Das möchten Sieauch so. Dann ist die Überweisung so beschlossen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 10 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Verbesserung der Bekämpfung des Rechts-extremismus– Drucksachen 17/8672, 17/8990 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-schusses
– Drucksache 17/10155 –Berichterstattung:Abgeordnete Clemens BinningerMichael Hartmann
Gisela PiltzUlla JelpkeWolfgang WielandHierzu liegt ein Entschließungsantrag der FraktionenCDU/CSU und FDP vor. Verabredet ist es, eine halbeStunde zu debattieren. – Dazu höre ich keinen Wider-spruch. Das ist also so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort für die Bundes-regierung hat Dr. Hans-Peter Friedrich.
Dr. Hans-Peter Friedrich, Bundesminister des In-nern:Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren Kollegen! Die Aufarbeitung der Mordserie des„Nationalsozialistischen Untergrunds“, NSU, wie sie sichselbst genannt haben, geht weiter. Hunderte von Beam-ten werten die Asservate aus. Leider ist diese schwierigeund mühsame Arbeit immer wieder mit neuen, unerfreu-lichen Meldungen verbunden. Sie haben es heute viel-leicht den Agenturen entnommen. In den Medien wirddarüber berichtet, dass vom Bundesamt für Verfassungs-schutz Akten vernichtet worden sind, und zwar nachdem Aufdecken des NSU.
Diese Vorgänge sind dem Bundesinnenministeriumgestern bekannt geworden. Nachdem ich gestern Mittagdavon erfahren habe, habe ich den zuständigen Staatsse-kretär gebeten, die Abgeordneten des Deutschen Bun-destages, die für diese Kontrollfragen zuständig sind,also das Parlamentarische Kontrollgremium, entspre-chend zu unterrichten. Das ist erfolgt. Ich habe gesternAbend den Präsidenten des Bundesamts für Verfassungs-schutz zu mir gebeten und ihn beauftragt, eine lücken-lose Aufklärung vorzunehmen und einen Bericht vorzu-legen. Sobald dieser Bericht vorliegt, werde ich ihn demBundestag bzw. den zuständigen Gremien des Deut-schen Bundestages zur Kenntnis bringen.
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Bundesminister Dr. Hans-Peter Friedrich
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Meine sehr verehrten Damen und Herren, bei derAufklärungsarbeit und der Auswertung der Asservategeht es zum einen darum, zu klären, welche strafrechtli-chen Konsequenzen sich für die handelnden Personenbzw. die Mitwisser und Mithelfer ergeben. Es geht zumanderen aber auch um politische Gesichtspunkte, näm-lich um die Frage: Müssen wir eventuell strukturelleVeränderungen bei den Sicherheitsbehörden herbeifüh-ren, weil sich Lücken und Mängel erkennen lassen? Wasist notwendig, um diese Mängel zu beseitigen? Es wurdeeine Bund-Länder-Regierungskommission zur Aufarbei-tung des Rechtsterrorismus eingesetzt. Sie erhielt denwichtigen Arbeitsauftrag, dafür zu sorgen, dass alle sichjetzt ergebenden Erkenntnisse zusammengetragen wer-den, um zu klären, ob Strukturveränderung notwendigsind oder nicht.Ich will meine Ausführungen nicht mit der Behaup-tung verbinden, dass, wenn wir die eine oder andere Än-derung schon zu einem früheren Zeitpunkt vorgenom-men hätten, dieses oder jenes hätte verhindert werdenkönnen. Aber eines ist klar: Wenn es uns gelingt, und indem Maße, wie es uns gelingt, Lücken zu schließen undauch Mängel zu beseitigen, wachsen die Chancen, dasssolche Untergrundbewegungen früher ausfindig gemachtwerden können. Ich denke, dass das unsere Aufgabe ist.Noch bevor man endgültige Entscheidungen trifft, istes wichtig, dass man sich Klarheit verschafft über einigefeststehende Grundtatsachen, die von den Einzelerkennt-nissen unabhängig sind:Erstens. Ich glaube, wir sind uns in allen Fraktioneneinig, dass wir auch in der Zukunft eine Trennung zwi-schen Polizei, Kriminalpolizei und Nachrichtendienstenhaben wollen.
Ich glaube, da gibt es einen Konsens in allen Fraktionen.Der zweite wichtige Punkt ist, zu erkennen, dass wirsowohl beim Verfassungsschutz wie auch bei der Polizeineben Zentralstellen, die in Berlin, Köln oder wo auchimmer sind, immer auch regionale Einheiten brauchen,die sich vor Ort mit extremistischen Bewegungen be-schäftigen und vor Ort klären, was da eigentlich passiert.Diese Dualität von einer Zentrale, die eine Koordinie-rungsfunktion hat, und regionalen Einheiten muss auf-rechterhalten werden. Ich glaube, dass es auch daran kei-nen ernsthaften Zweifel gibt.Entscheidend ist also nicht die Frage, wer wo zustän-dig ist – der Bundesinnenminister oder die Innenministerder Länder –, sondern entscheidend ist die Frage, wiewir die Arbeit an den Schnittstellen zwischen regionalenEinheiten und Zentralen so eng verknüpfen können, dassdie Zusammenarbeit gewährleistet ist. Deswegen habeich in dieser Frage keine Föderalismusdiskussion ge-führt, sondern mich von Anfang an auf die Aufgabe kon-zentriert, diese Schnittstellen entsprechend zu bearbei-ten.Das Ergebnis ist ein Gemeinsames Abwehrzentrumgegen Rechtsextremismus, das seine Arbeit im Dezem-ber aufgenommen hat. In diesem Gemeinsamen Ab-wehrzentrum sitzen Beamte aus Behörden von Bund undLändern täglich zusammen, um über das Phänomen desRechtsextremismus zu reden. Sie berichten von einzel-nen Sachverhalten aus ihren Ländern, um damit den an-deren Kenntnis davon zu geben. Auch wenn diese viel-leicht zunächst keinen Zusammenhang mit Sachver-halten in ihrem eigenen Land sehen, erkennen sie imLaufe der weiteren Erörterung über Wochen und Monatewomöglich Zusammenhänge über Bundesländer hin-weg.Diese Zusammenarbeit führt nicht nur zu einer Effi-zienzerhöhung, sondern fördert auch das Vertrauen derBehörden untereinander. Ich glaube, es ist wichtig, dassman eine menschliche Ebene für die Zusammenarbeitfindet.Ein wichtiges Hilfsmittel für diese gemeinsame Ar-beit aller Behörden von Ländern und Bund ist die Ver-bunddatei, um die es heute geht. Die Informationen, diein den Ländern vorhanden sind, sollen systematisch undpflichtgemäß in diese Datei eingebracht werden, ohneErmessen. Diese Datei steht allen beteiligten Sicher-heitsbehörden zur Verfügung, und es soll – das ist wich-tig – eine Analysemöglichkeit geschaffen werden. Be-stimmte Personen sollen mit bestimmten Personen-gruppen, bestimmten Phänomenen und Einzelprojektenverbunden werden können. Diese Analysefähigkeit bie-tet die Möglichkeit, regional zugeordnet bestimmte Phä-nomene zu untersuchen.Diese Verbunddatei, die Ermessensspielräume undsubjektive Entscheidungen von Behörden ausschaltetund eine systematische Aufarbeitung durch das Zusam-menschließen von Informationen ermöglicht, ist einemoderne Antwort auf Basis moderner Technologie aufdas, was die Polizei, was die Sicherheitsbehörden, wasder Verfassungsschutz braucht. Deswegen bin ich sehrdankbar dafür, dass wir heute das Gesetz, das zur Errich-tung dieser Datei notwendig ist, auf den Weg bringen.Ich darf mich ganz herzlich bei den Kollegen von derKoalition, aber auch bei den Kollegen von SPD undGrünen für die konstruktive Zusammenarbeit in all die-sen Fragen bedanken. Ich glaube, dass wir mit diesenMöglichkeiten, die mit diesem Gesetz und dieser Ver-bunddatei geschaffen werden, einen Meilenstein imKampf gegen den Rechtsextremismus setzen. Insofernbitte ich um Zustimmung.Vielen Dank.
Michael Hartmann hat jetzt das Wort für die SPD-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Kolleginnen und Kollegen! HerrMinister, es war richtig, dass Sie zu Beginn Ihrer Aus-
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Michael Hartmann
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führungen auf das abgehoben haben, was wir heute undzum Teil auch bereits gestern zur Kenntnis nehmenmussten. Die Debatte über diese Verbunddatei wird nunplötzlich – vielleicht nicht einmal unerwartet – von einerAktenlöschung durch das Bundesamt für Verfassungs-schutz überschattet. Als Mainzer Abgeordneter möchteich sagen: „Ausgerechnet am 11. November“, aber fürWitze ist hier kein Anlass. Diese Aktenlöschung durchdas Bundesamt für Verfassungsschutz ist unmöglich unduntragbar. Es kann nicht sein, dass in diesem Komplexrelevante Vorgänge und Akten – und würden sie auchnur am Rande das Thema berühren – einfach von Behör-den vernichtet werden. So viel Datensparsamkeit würdeich mir oft in anderen Fällen wünschen.
Über das, was da geschehen ist, darf man nicht nur inunseren Zusammenhängen diskutieren. Es ist ein Schlagins Gesicht aller, die wirklich aufklären wollen, einSchlag ins Gesicht unseres Untersuchungsausschussesund ein Schlag ins Gesicht der Opfer und ihrer Angehö-rigen. Deshalb gibt es nur eine Möglichkeit: Alles mussganz schnell auf den Tisch gelegt werden. Was ist vonwem warum gemacht worden? Bitte bis zur Sitzung desUntersuchungsausschusses in der nächsten Woche allesvorlegen und alles aufklären! Nur so kann der entstan-dene Schaden minimiert werden.
Dieser Schaden betrifft nicht nur die Aufklärung oderdie Opfer, es ist auch ein weiterer Schaden für das Anse-hen unserer Sicherheitsbehörden. Dabei hätten sie es ge-rade im Zusammenhang mit der Aufklärung der NSU-Morde so nötig, dass sie mal wieder gelobt werden. Lei-der kann das auch heute nicht geschehen.Dieser Vorgang, den ich gerade angesprochen habe,steht durchaus im Zusammenhang mit dem Thema, umdas es in dieser Debatte gerade geht, nämlich die Eta-blierung einer Verbunddatei. Denn, meine sehr geehrtenDamen und Herren, was nützen uns die besten Rahmen-konstrukte für Dateien, wenn diese weder mit der richti-gen Haltung noch mit der richtigen Ausbildung noch mitder richtigen Datengrundlage bedient werden? In allendrei Feldern besteht weiterhin hoher Handlungsbedarf.Wenn dort nichts geschieht, nutzt uns diese Verbunddateigar nichts.
Die Notwendigkeit einer solchen Datei – da wird mirkein Fachkundiger widersprechen können – verweist na-türlich darauf, dass die Zusammenarbeit zwischen denSicherheitsbehörden nicht funktioniert, weder auf derEbene des Bundes untereinander noch zwischen Bundund Ländern. Sonst müsste man gar nicht darüber nach-denken, dass man den Austausch von Informationen, denAustausch über wichtige Sachverhalte eigens in einemdafür geschaffenen Gesetz festhalten muss. Aber es istso, und es soll auch geschehen, auch mit unserer Zustim-mung; denn es ist nirgendwo vorgesehen – das sage ichan alle, die vielleicht verkürzt kritisch diskutieren –,neue Daten zu erheben, wohl aber, vorhandene Datenzusammenzuführen, und zwar in einer Indexdatei undkeiner Volltextdatei. Das alles ist gut und solide an dasangelehnt, was wir bei der Antiterrordatei bereits auf denWeg gebracht haben.Wir haben, als der Gesetzentwurf eingebracht wurde– manche werden sich erinnern –, bereits angekündigt,dass wir als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokratendiesen Gesetzentwurf wie jedes andere Sicherheitsgesetzbegleiten werden und dass wir auch in dem Fall sehr ge-nau darauf achten werden, ob Standards der Bürger-rechte und des Datenschutzes eingehalten werden. Esdarf und kann nicht sein, dass im Kampf gegen Rechtsjedes Maß verloren geht und wir plötzlich Schleusen öff-nen, die wir bei anderen Themen zu Recht geschlossenhalten.So sind wir in die Anhörung gegangen, die in der Tatertragreich war
und dazu führte, dass mit der Koalition noch einmal Ge-spräche aufgenommen wurden. Dafür bedanke ich michausdrücklich, Herr Kollege Binninger, Frau KolleginPiltz. Es ist nicht selbstverständlich, dass man die Anre-gungen und Änderungswünsche einer Oppositionsfrak-tion aufnimmt. Es ist aber ein gutes Zeichen für denKonsens der Demokraten im Kampf gegen Rechts, dassSie es getan haben. Dem darf man auch einmal Respektzollen.
Es ist durch diese Verhandlungen im Lichte der An-hörung tatsächlich gelungen, Verbesserungen zu errei-chen. Beim Freitextfeld, bei der Eilfallbefugnis und beiden Kontaktpersonen haben wir dafür gesorgt,
dass nicht möglicherweise Menschen, die unschuldigsind, die nichts mit rechten Umtrieben zu tun haben, indiese Datei hineingeraten. Insofern sollte sich das ganzeHaus zugutehalten, dass wir Bürgerrechtsstandards undDatenschutzstandards auch hier eingehalten und sogarnach oben geschraubt haben.Ich sage allerdings, Herr Minister: Wir gehen mit die-ser Datei einen Schritt. Es ist wahrhaftig kein Meilen-stein. Das wäre zu kurz gesprungen. Ich finde es auchsehr selbstbewusst, davon zu reden, dass wir ein Gesetzzur Bekämpfung des Rechtsextremismus auflegen. Nein,wir bilden eine Verbunddatei, die ein notwendiger undwichtiger Mosaikstein ist,
aber nicht der allein entscheidende, um den Rechtsextre-mismus besser und entschiedener durch mehr Koopera-tion bekämpfen zu können – nicht mehr und nicht weni-ger. Vieles andere gehört dazu, vor allem die noch immer
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22397
Michael Hartmann
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nicht ausreichende Unterstützung der Präventionsarbeit,die Aufstellung von neuen und besseren Statistiken beider Kriminalpolizei und anderen Behörden und eine bes-sere und entschlossenere Zusammenarbeit mit der Zivil-gesellschaft,
die von dieser Bundesregierung im Kampf gegen Rechtsallenfalls instrumentalisiert, aber an keiner Stelle ernstgenommen wird.
Ich kann dies an vielen Stellen belegen. Es gibt dietolle Idee – Herr Minister, was ist das eigentlich? –, einbundesweites Informations- und Kompetenzzentrum zuerrichten. Wir haben uns erlaubt, mit einer Kleinen An-frage herauszufinden, was denn da Geniales angedachtwurde, zumal sich alle, die aus der Zivilgesellschaft alsPartner eingeladen waren, hinterher – gelinde gesagt –veralbert und instrumentalisiert gefühlt haben. Auf un-sere Frage, wie die Arbeitsweise des BIK, also des bun-desweiten Informations- und Kompetenzzentrums – da-runter geht es ja nicht – aussehen wird, wurde unsgeantwortet – ich lese nur einen Satz vor, um nicht ermü-dend zu sein –:Die grundsätzliche Gestaltungsvoraussetzung fürdas bundesweite Informations- und Kompetenzzen-trum ist, dass nicht nur Kompetenzen gebündeltund Bildungsmaßnahmen initiiert,
sondern insbesondere die positiven Aspekte derpädagogischen Bildungsarbeit in diesem Themen-feld deutlicher formuliert werden.Respekt, meine Damen und Herren! Großartig, was Sieda voranbringen! Soziologische Wortungetüme, aberkein Schritt im Kampf gegen Rechts!
Wer ernsthaft Präventionsarbeit betreiben will, werernsthaft gegen Rechte kämpfen will, der muss vor allemeines machen: Er muss die Partner aus der Zivilgesell-schaft so ernst nehmen, wie sie es verdient haben, unddarf sie finanziell nicht ausbluten lassen. Das ist dererste Punkt.Der zweite Punkt ist: Die Kommunen brauchen eineanständige Finanzausstattung. Ich wiederhole, was ichan anderer Stelle schon gesagt habe: Wer Jugendhäuserschließt, macht die Tür auf für Rechtsextreme, die dadurchgehen, meine sehr geehrten Damen und Herren!
Deshalb müssen wir immer an die Kommunen denken,wenn wir an den Kampf gegen Rechts denken.Es gehört übrigens auch dazu, dass wir selbst nichtleichtfertig oder billigen Applaus heischend durch dieLande ziehen, um beispielsweise islamophobe Parolennachzuplappern. Auch in Wahlkämpfen ist das nichterlaubt. Es ist eine Aufgabe gerade von Berufspolitike-rinnen und Berufspolitikern, überall dem Geist der Into-leranz, dem Geist der geistigen Enge, dem Geist, der un-demokratisch ist, der rassistisch ist, zu widerstehen undauch da deutlich zu widersprechen, wo es unangenehmwird. Da ist Zivilcourage auch von uns als Abgeordnetenverlangt, meine Damen und Herren!
Wenn wir heute diesem Gesetz zustimmen, sagen wirzugleich ganz deutlich: Wir sind beim Kampf gegenRechts noch nicht am Ende. Wir haben gerade erst ange-fangen. Es muss noch viel mehr geschehen. Wir werdenes nicht akzeptieren, dass in unserem Land weiterhin un-gestraft Schurken herumlaufen, die sich für eine angeb-lich höhere nationale Gesinnung erlauben, auf Plakate zuschreiben: „Gas geben“, die sich erlauben, in ihrem Par-teiprogramm zu sagen, Integration ist Völkermord, oderdie wenige Wochen nach Bekanntwerden dieser Untatendie Melodie von Paulchen Panther bei einer Demonstra-tion in München spielen.Wir stehen für ein Deutschland, in dem alle ohneAngst verschieden sein können und sich sicher füh-len. Ein Land, in dem Freiheit und Respekt, Vielfaltund Weltoffenheit lebendig sind.
Herr Kollege!
Das war Text unseres gemeinsamen Entschließungs-
antrags. Vergessen wir ihn nicht!
Vielen Dank.
Gisela Piltz hat jetzt für die FDP-Fraktion das Wort.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Wieder einmal steht man hier vorne im Plenum desDeutschen Bundestages und ist fassungslos, was sichwieder im Rahmen der Aufklärung der verbrecherischenMorde um das NSU-Trio ereignet hat. Ich weiß nicht,wie es Ihnen geht. Aber ich finde es schon erstaunlich,dass es eines Untersuchungsausschusses des DeutschenBundestages braucht – und übrigens auch einer FDP,ohne die die Aussage von Herrn Fromm heute nichtmöglich gewesen wäre –,
dass Herr Fromm heute überhaupt ausgesagt hat.
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Gisela Piltz
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Interessant ist auch, wenn ich das so sagen darf, dassHerr Ziercke gestern bei uns im Innenausschuss war undich heute lesen kann, dass er sagt: Wir haben versagt.
Ich weiß nicht, liebe Kolleginnen und Kollegen aus demInnenausschuss, wie es Ihnen dabei geht. Aber ich habeden Eindruck, er nimmt den Innenausschuss nicht ernst;denn davon war gestern nicht die Rede.
Ich glaube, dass wir so weder den zehn Toten noch dergroßen Aufgabe, die die weitere Bekämpfung desRechtsextremismus für uns darstellt, gerecht werden.
Frau Kollegin?
Das hätten wir uns früher gewünscht. Herr Minister,
wenn Herr Fromm das, was geschehen ist, nicht ausrei-
chend aufklären kann, dann erwarte ich von Ihnen, dass
Sie entsprechende Konsequenzen ziehen.
Der Kollege Ströbele würde Ihnen gerne eine Zwi-
schenfrage stellen. Lassen Sie sie zu?
Ja, bitte. Man kann ja nicht einmal 30 Sekunden re-
den, ohne dass er die Hand hebt; aber wenn er Spaß da-
ran hat.
– Ja. Das begleitet mich von meiner ersten Rede im
Deutschen Bundestag bis heute. Mir würde sonst etwas
fehlen, Herr Kollege.
Frau Kollegin, ich habe mich gemeldet, weil Sie nicht
die Wahrheit gesagt haben.
Sie waren heute ja nicht im Untersuchungsausschuss und
können deshalb gar nicht wissen, wer dort als Zeuge ver-
nommen worden ist. Herr Fromm war nicht anwesend.
Nach dem, was ich gehört habe, soll Herr Fromm an an-
derer Stelle eine Presseerklärung abgegeben haben.
Herr Fromm ist aber nicht der Urheber dieser Ge-
schichte. Vielmehr hat er gestern oder vorgestern den
Vorsitzenden des Untersuchungsausschusses darüber in-
formiert, dass Akten geschreddert worden sein sollen,
und zwar Akten, die – das ist ganz wichtig – den „Thü-
ringer Heimatschutz“ und dort eingesetzte V-Leute be-
treffen. Sieben Tage nachdem das Trio durch den Selbst-
mord aufgeflogen ist, sollen diese Akten geschreddert
worden sein. Das ist der entscheidende Zusammenhang,
der aufgeklärt werden muss. Denn es besteht der Ver-
dacht, dass Akten vernichtet worden sind, in denen zu-
verlässige Informationen über die Tätigkeit von V-Leu-
ten beim „Thüringer Heimatschutz“ und damit auch über
das NSU-Trio enthalten waren. Geben Sie mir da recht,
und korrigieren Sie insoweit den Anfang Ihrer Rede?
Herr Ströbele, was mich wundert, ist: Sie sind zwarkein Lehrer,
meinen aber, wegen einer ansatzweisen Unklarheit dieGelegenheit zu haben, zu reden. Ich gebe Ihnen recht:Herr Fromm war heute nicht im Untersuchungsaus-schuss.
Aber dass er in den Ausschuss kommt, hat die FDPdurchgesetzt.Ich möchte Ihnen im Zeitalter moderner Medien nureines mit auf den Weg geben: Niemand von uns mussimmer vor Ort sein, um zu wissen, was passiert. Dashabe ich von Ihnen gelernt. Sie machen uns das schließ-lich jeden Tag vor. Von daher kann auch ich davon Ge-brauch machen.
Ich komme jetzt einfach einmal auf den aktuellen Ta-gesordnungspunkt zu sprechen: In der ersten Lesung die-ses Gesetzentwurfes habe ich Ihnen im Namen der FDP-Fraktion versprochen, dass am Ende des anstehendenparlamentarischen Verfahrens vielleicht ein noch besse-res Gesetz, aber auf keinen Fall ein Gesetz, das rechts-staatliche Grundsätze nicht beachtet, stehen wird, dassdas Gesetz also verbessert wird. Heute beraten wir dasErgebnis des parlamentarischen Verfahrens. Ich finde,wir haben unser Versprechen gehalten. Denn das Gesetzist an einigen Stellen verbessert worden, mithilfe derUnion und auch mithilfe der SPD. Herzlichen Dank!
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Gisela Piltz
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Die Arbeit des Untersuchungsausschusses hat erge-ben – nicht erst durch das, was heute passiert ist; das giltvermutlich auch für das, was dort nächste Woche ge-schehen wird, Herr Ströbele –, dass massive Fehler ge-macht worden sind, Informationen nicht ausgetauschtworden sind, Behörden nicht miteinander kommunizierthaben. Ich glaube – da, Herr Kollege Hartmann, habenSie recht –, dies ist ein Baustein, allerdings ein wichtigerBaustein, auf dem Weg zur Verbesserung der institutio-nalisierten Grundlage für den Informationsaustausch.Ein wichtiger Punkt ist – ihn gilt es hier noch einmalzu betonen –, dass in die Datei vorhandene Daten einge-pflegt werden.
Ein weiterer wichtiger Punkt ist, dass sich der Zugriffauf die vollständigen Datensätze nach wie vor nach denfür die Datenübermittlung zwischen den beteiligten Si-cherheitsbehörden geltenden Vorschriften richtet.
Deshalb sind wir der Auffassung, dass das Trennungsge-bot so gut wie vollständig gewährleistet ist. Es gibt nureine Ausnahme – auch das muss man als Liberale sagendürfen –: die sogenannte Eilfallregelung. Hier haben wirnoch Veränderungen vorgenommen und die Hürden er-höht. Es bedarf einer Vorabprüfung durch die abfragendeBehörde, ob eventuell Gründe gegen die Datenermitt-lung sprechen.Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht. Ich persönlich kannnoch immer nicht verstehen, dass es bei der Bekämpfungvon Extremismus gleich welcher Art eine Ruhezeit fürdeutsche Behörden geben kann.
Ich würde mir wünschen, dass es anders ist. Wir musstenaber lernen, dass es nicht so ist.
Meine dringende Aufforderung an alle Behörden lautet:Sie können bei der Bekämpfung von Links- oder Rechts-extremismus oder Islamismus nicht um 12 Uhr freitag-mittags die Türen zumachen.
Ein weiterer zentraler Punkt für unseren Rechtsstaatist, dass Personen, die selbst nicht als Verdächtige gel-ten, sondern vielmehr als Kontaktperson eine Rolle spie-len könnten, besonderen Schutz verdienen; denn einEintrag in eine solche Datei ist keine Lappalie. Wem soetwas schon einmal passiert ist, der weiß, wovon ichspreche. Deshalb mussten auch hier die Hürden beson-ders hoch sein.Deswegen ist es für den Rechtsstaat gut, dass derKreis der in der Datei zu speichernden Kontaktpersonenauf solche Personen begrenzt wurde, bei denen tatsächli-che Anhaltspunkte für einen mehr als nur zufälligen oderflüchtigen Kontakt in die rechte Szene bestehen. HerrHartmann, Herr Kollege Binninger, wir haben lange da-rüber gesprochen. Klar ist: Eine Zufallsbekanntschaftreicht definitiv nicht aus. Ich glaube, das war auch in un-ser aller Sinne.
– Herr Kollege Wieland, natürlich ist etwas geändertworden.
Schließlich wurde für den Zugriff auf Daten im Eilfallsowie auf gesperrte Daten deutlich gemacht, dass solchegravierenden Ausnahmen von den sonst rechtsstaatlichaufgestellten Restriktionen nur dann rechtens sein kön-nen, wenn auf der anderen Seite eine ebenso gravierendeGefahr für hochrangige Rechtsgüter besteht. Auch hierhaben wir nachgearbeitet. Die Auflistung der genanntenRechtsgüter stellt das deutlich klar.Der Umgang mit dem Freitextfeld ist hinsichtlich derBürgerrechte immer etwas schwierig; denn hier kann,wie der Begriff schon sagt, eine Vielzahl eher unbe-stimmter Daten enthalten sein. Dem haben wir jetzt rich-tigerweise einen Riegel vorgeschoben. Alle Daten, dieim Freitextfeld landen können, müssen auf Tatsachenbasieren.
Ich glaube, das zeigt, dass hier keine vagen Vermutun-gen eingetragen werden dürfen.Diese Änderungen haben wir unter anderem aus derAnhörung im Innenausschuss mitgenommen. Deshalbgilt hier auch einmal den Sachverständigen mein herzli-cher Dank, die uns weitergeholfen haben.Wir haben Ihnen heute auch noch einen Entschlie-ßungsantrag vorgelegt, weil es einen Wunsch des Bun-desdatenschutzbeauftragten hinsichtlich der Kontrolleder Daten, die dort auflaufen, gegeben hat. Wir leben al-lerdings in einem föderalen Staat. Das heißt, der Bundes-datenschutzbeauftragte kann die Daten der Länder nichtkontrollieren. Da wir das hier im Deutschen Bundestagnicht regeln können, aber der Auffassung sind, dass dieDatenschutzbeauftragten hierfür eine Lösung findensollten, haben wir Ihnen zu diesem Thema einen Ent-schließungsantrag vorgelegt und somit entsprechendeKonsequenzen aus der Anhörung gezogen.Meine Damen und Herren, wenn die Datei zu einemBaustein im Kampf gegen den Rechtsextremismus wird,dann haben alle Menschen, die in einer freien, tolerantenund menschlichen Gesellschaft leben wollen, gewonnen.Das wäre ein guter Beitrag dieses Bausteins.Vielen Dank.
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Ulla Jelpke hat das Wort für die Fraktion Die Linke.
Danke, Frau Präsidentin. – Meine Damen und Her-
ren! Der heute zur Abstimmung vorliegende Gesetzent-
wurf soll laut Titel tatsächlich dazu dienen, die Bekämp-
fung des Rechtsextremismus zu verbessern. Der Kollege
Hartmann hat es schon gesagt: Wir halten das für Hoch-
stapelei, weil dieser Gesetzentwurf nicht ansatzweise
dem gerecht wird, was eigentlich notwendig wäre. Wenn
durch diesen Gesetzentwurf nämlich tatsächlich der
Rechtsextremismus bekämpft würde, dann könnten Sie
sich sicher sein, dass die Linke diesen unterstützen
würde.
Doch dieser Gesetzentwurf – da wundere ich mich
doch sehr, Herr Innenminister – hat nur eine einzige
Maßnahme zum Inhalt, nämlich die Einrichtung einer
gemeinsamen Datei von Polizei und Geheimdiensten.
Der Nutzen dieser Datei erschließt sich uns bisher über-
haupt nicht. Ganz im Gegenteil: Wir haben die Befürch-
tung, dass das hehre Ziel, Rechtsextremisten zu bekämp-
fen, als Begründung für den weiteren Abbau von
Bürgerrechten herhalten und mit dieser Datei Miss-
brauch betrieben werden soll.
Es gibt diverse Gremien, zum Beispiel den Parlamen-
tarischen Untersuchungsausschuss und die Bund-Län-
der-Arbeitsgruppe. Wir sind der Meinung, dass erst ein-
mal untersucht werden muss, worin das klägliche
Versagen der hiesigen Sicherheitsbehörden bei der Auf-
klärung der Mordserie des sogenannten NSU bestand.
Erst danach können Konsequenzen gezogen werden.
Man darf ja nicht vergessen, dass diese Datei schon we-
nige Tage nach dem Bekanntwerden der Mordserie sozu-
sagen aus der Schublade geholt wurde.
Wir gehen von einer großen Ignoranz aus. Das haben
wir gestern im Innenausschuss erlebt. Ich bin zwar nicht
Mitglied des Untersuchungsausschusses und kann daher
nicht allzu viel über die heutigen Vernehmungen sagen.
Fakt ist aber: Die Bundesregierung will mit dieser Datei
diejenigen stärken, die eigentlich auf dem Prüfstand ste-
hen, nämlich die Sicherheitsbehörden. Schon die bisheri-
gen Erkenntnisse zur Rolle des Verfassungsschutzes im
Zusammenhang mit dem Naziterrorismus belegen: De-
mokratisch nicht kontrollierbare Geheimdienste sind sel-
ber Teil des Problems.
Auch das ist schon eben hier gesagt worden. Wenn Ak-
ten geschreddert werden, dann muss das aufgeklärt wer-
den. Es kann nicht sein, dass man diesen Behörden mehr
Rechte und mehr Kompetenzen gibt, weiterhin Daten zu
sammeln. Zunächst einmal muss aufgeklärt werden, was
passiert ist.
Jeder hat mitbekommen, dass sich aus der Mitte des
Heimatschutzes eine Terrorzelle gegründet hat, aber of-
fensichtlich nicht der Verfassungsschutz. Wer diese Ge-
heimdienste nun auch noch mit einer Verbunddatei
belohnen will, der hat wirklich überhaupt nichts verstan-
den.
Vorbild der neuen Datei ist die Antiterrordatei. Ich
will hier noch einmal ganz deutlich sagen: In einer An-
hörung des Innenausschusses hat die Mehrheit der Sach-
verständigen eingefordert, dass erst einmal die gesetz-
lich vorgeschriebene Evaluierung dieser Datei vorgelegt
wird, bevor eine weitere Datei geschaffen wird. Auch
wir fordern, dass zunächst diese Antiterrordatei evaluiert
wird. Der Datenschutzbeauftragte des Bundes, Peter
Schaar, hat sehr deutlich gemacht, dass zum Beispiel
seine Kontrollrechte eingeschränkt sind und dass er nicht
die notwendigen Informationen bekommt. Alle diese
Fragen sind noch offen. Daher darf dieser Gesetzentwurf
heute eigentlich nicht verabschiedet werden.
Herr Minister, ein weiterer Punkt, der uns sehr wich-
tig ist, ist folgender: Es geht hier – das haben Sie vor ei-
nigen Wochen gesagt und auch heute wieder – gar nicht
eindeutig um Rechtsextremismus, sondern Sie sprechen
immer nur von extremistischen Bereichen, von extremis-
tischen Gruppen. Die Neonazi-Datei soll also den Weg
zu einer umfassenden Verbunddatei ebnen, die dann ne-
ben Naziterroristen auch Antifaschisten oder Kapitalis-
muskritiker umfasst. Das machen wir auf gar keinen Fall
mit.
Die Linke bleibt dabei: Der Kampf gegen Rechts-
extremismus muss ein Kampf für und nicht gegen
Grundrechte sein.
Mit Antifaschismus hat der vorliegende Gesetzentwurf
nichts zu tun, mit einer weiteren Aufweichung der Ver-
fassung umso mehr. Daher werden wir diesem Gesetz-
entwurf heute nicht zustimmen.
Danke.
Wolfgang Wieland hat jetzt das Wort für Bündnis 90/
Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! HerrMinister Friedrich, ich habe es hier schon einmal gesagt,und es ist mir fast peinlich, es zu wiederholen:
– Hören Sie doch mal zu! – Ihr Umgang mit dieser NSU-Mordserie gefällt uns. Es gefällt uns, dass Sie sich nicht,wie das sehr oft Minister machen, schützend vor irgend-jemanden stellen, sondern dass Sie unzumutbare Dingebeim Namen nennen. Zu der Aktenschredderung habenSie hier gesagt: Das muss aufgeklärt werden; das ist sonicht akzeptabel. – Daher haben Sie uns hier ausdrück-
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Wolfgang Wieland
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lich auf Ihrer Seite, auch was das Gemeinsame Abwehr-zentrum Rechts angeht. So weit zur Vorrede.
– Wartet doch mal ab!Die Kollegin Piltz war nun nicht in dem Untersu-chungsausschuss.
– Aber sie hat an einer Stelle gesagt, dass Herr Frommheute ausgesagt hat und dass die FDP um Herrn Frommals Zeugen gekämpft hat.
Nun vergesst das doch mal bitte. Alle wollten, dass HerrFromm als Zeuge kommt. Das war nur eine Frage desZeitpunkts. Er wird kommen, und er wird dazu Stellungnehmen müssen.Aber das, was Herr Ziercke heute zu seiner Verant-wortung gesagt hat, liebe Frau Piltz, das war leider weni-ger als wenig. Nach dem abstrakten Satz „Wir habenversagt“ folgte der Satz „Aber ich nicht!“. Dann kam dievöllig neue Behauptung, die gute Arbeit des BKA amKatzentisch dieser BAO habe dazu geführt, dass dieMordserie aufgehört habe, der Erfolg habe ihm recht ge-geben.
Das war beschämend für Deutschlands obersten Krimi-nalisten.
Aber ich billige Ihnen die Gnade der Abwesenheit zu,liebe Kollegin Piltz.Nun zu dieser Datei. Wir als Grüne haben immer ge-sagt – das war bei der Antiterrordatei so, und das ist auchhier so –: Man kann das im Prinzip machen. – Dann kamdas große Aber: Es muss eine Fundstellendatei sein. So-wohl Verfassungsschutz als auch Polizei müssen Herrenihrer Daten bleiben. Es darf keinen Onlinezugriff undkeine Vermischung geben. Das gibt es aber im Eilfallnach wie vor. Dafür sehen wir keinen Grund.Nun sagen Sie: Der Eilfall ist nur einmal eingetreten.Auch auf Nachfragen in den Berichterstattergesprächenwar das Bundesministerium nicht in der Lage, diesenFall zu schildern. Der BND soll diesen Fall durch einenWochenendschlaf ausgelöst haben. Der BND ist bei die-ser Datei aber nicht mit dabei. Das heißt, ein Behörden-versagen und ein Nichterreichbarsein nach Feierabendoder am Wochenende dürfen nicht dazu führen, dass diegrundsätzliche Trennung von Polizei und Nachrichten-diensten aufgehoben wird. Dieser Eilfall ist ein Sünden-fall. Wir machen das nicht mit.
Wenn Sie jetzt behaupten, lieber Kollege Hartmann,in den Berichterstattergesprächen sei diese Regelungnun so verbessert worden, dass Sie zustimmen können,dann kann ich dazu nur sagen: kleine kosmetische Ver-besserungen. Die vielen Monita von Professor Poscherund von anderen, die hier vorgetragen wurden und diezum Teil sehr konkret und sehr gut ausformuliert waren,wurden nicht aufgegriffen. Die Daten der Kontaktperso-nen sind nicht so sicher, wie Sie es hier dargestellt ha-ben. Die Gefahr, als Kontaktperson in diese Datei zukommen, ist nach wie vor viel zu hoch.Deswegen haben wir gesagt: Man braucht die Evalu-ierung der Antiterrordatei. 15 Monate nehmen Sie sichdafür Zeit. Sie lesen das Gesetz so, dass es nach fünfJahren zu evaluieren ist, dass man also erst nach fünfJahren mit der Evaluierung beginnt. Dann wird das ausKostengründen zeitlich gestreckt, sodass wir jetzt denMissstand haben, eine neue Datei nach dem Vorbild ei-ner alten Datei zu stricken, deren Evaluierung uns ir-gendwann im Herbst vorliegen wird. Das ist doch nichtsinnvoll. Das ist dann doch keine ernstzunehmende Eva-luierung.
Schließlich und endlich steht eine Entscheidung desBundesverfassungsgerichts zu der Frage der grundsätzli-chen Zulässigkeit der Wege aus, die man hier gehenkann. Daten von Verfassungsschutz und Polizei zusam-menzubringen, ist nicht banal. Das ist nicht vergleichbarmit irgendwelchen anderen Datensammlungen, und dashaben auch alle Sachverständigen so gesagt. Nichts inRichtung Mitteilungspflicht und in Richtung Kontrollbe-fugnis des Datenschutzbeauftragten ist in diesem Ge-setzentwurf verbessert worden. Deswegen sagen wirdazu Nein.Vielen Dank.
Der Kollege Clemens Binninger hat das Wort für die
CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kollegen!Es war eine Verbrechensserie, die uns tief erschüttert hat,die uns immer noch beschäftigt und die uns immer nochfassungslos macht: 10 Morde, 2 Sprengstoffanschläge,14 Banküberfälle sowie Sicherheitsbehörden, denen esnicht gelingt, diese Fälle aufzuklären.Infolgedessen hatten wir schon einige Male die Gele-genheit, hier über das Problem zu sprechen, das uns zubeschäftigen hat, nämlich über den gewaltbereitenRechtsextremismus. Wir sind alle in der Pflicht, weil wiralle es nicht erkannt haben: die Politik, die Gesellschaft,
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Clemens Binninger
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die Medien und die Sicherheitsbehörden. Wenn von sol-chen Debatten wie der heutigen ein Signal ausgehensollte – ich hoffe, dass es parteiübergreifend akzeptiertwird –, dann dieses: Für Extremismus ist in unseremLand kein Platz, egal ob von rechts, von links oder reli-giös motiviert. Das muss das Zeichen sein, das wir vonsolchen Debatten aussenden.
Sie haben völlig recht, Herr Kollege Hartmann: DerGesetzentwurf, den wir heute verabschieden, ist ein Bau-stein. Ein Baustein ist etwas mehr als ein Mosaikstein,aber es ist nur ein kleiner Teil dessen, was getan werdenmuss. Ursachenforschung, Prävention und Stärkung derZivilgesellschaft: Das alles gehört mit dazu.Aber der Teil, um den es heute geht, ist das, was wirals Parlament unmittelbar machen können, nämlich einGesetz zu beschließen, mit dem wir die Arbeit der Si-cherheitsbehörden im Kampf gegen den Rechtsextremis-mus verbessern. Denn das Vertrauen in die Sicherheits-behörden hat natürlich angesichts des Umstands, dass esnicht gelungen ist, diese vielen Verbrechen aufzuklären,gelitten.Ich will auch dem Bundesinnenminister etwas sagen.Natürlich trägt das Schreddern von Akten durch dasBundesamt für Verfassungsschutz, sieben Tage nachdemdas Trio aufgeflogen ist, nicht dazu bei, das Vertrauen zustärken. Im Gegenteil: Dabei besteht immer die Gefahr,dass alle möglichen Verschwörungstheorien auf einmalwieder breiten Raum bekommen.
Aber so, wie Sie heute Position bezogen haben, habe ichgroßes Vertrauen in Sie, dass Sie diesen Fall sicherlichrückhaltlos aufklären und wir relativ schnell über allesBescheid wissen, damit gar nicht erst der Eindruck ent-stehen kann, dass etwas unterdrückt wurde. Wenn dasdoch der Fall war, dann muss das sicherlich gewisseKonsequenzen haben.
Eine Konsequenz aus der Mordserie des NSU ist, dasswir heute ein Gesetz beschließen, mit dem Polizei undNachrichtendienste im Bund und in den Ländern ihrWissen zusammenführen können. Wo liegt das Problem?Das Problem in der Vergangenheit war, dass das Wissenüber gewaltbereite Rechtsextremisten auf 36 verschie-dene Behörden von Bund und Ländern verteilt war unddass Anfragen über Rechtsextremismus – das haben wirim Untersuchungsausschuss gehört –, die die Polizei anden Verfassungsschutz in Bayern gerichtet hat, teilweiseacht Monate Bearbeitungszeit in Anspruch genommenhaben. Das ist alles nicht hinnehmbar; es ist nicht akzep-tabel.Wir brauchen einen schnellen Informationsaustausch,verbunden mit der Pflicht, dass die Behörden ihre Infor-mationen entsprechend weitergeben. Genau das errei-chen wir mit dieser Datei. Schnell und präzise einen Ge-samtüberblick zu bekommen, das leistet diese Datei. Siesetzt, glaube ich, auch an der richtigen Stelle an, wennman berücksichtigt, welche Personen in die Datei aufge-nommen werden.An die Adresse der Grünen muss ich bei aller Wert-schätzung sagen, Kollege Wieland: Sie sind heute weitunter Ihren Möglichkeiten geblieben bei dem Versuch,krampfhaft einen Grund zu finden, warum die Grünen,die sonst bei der Bekämpfung des Rechtsextremismusimmer an erster Stelle sein wollen, hier kneifen. Bei ei-ner entscheidenden Maßnahme für die Sicherheitsbehör-den verweigern Sie sich, obwohl wir Gespräche angebo-ten und den Gesetzentwurf geändert haben. Sie habensich vom Acker gemacht und suchen heute banaleGründe, um zu erklären, warum Sie dem Gesetzentwurfnicht zustimmen. Das ist blamabel, und es ist ein fal-sches Signal, das die Grünen setzen. Das sage ich in allerDeutlichkeit.
Möchten Sie die Zwischenfrage des Kollegen
Wieland zulassen, Herr Kollege?
Gerne und immer.
Bitte schön.
Herr Kollege Binninger, Sie sagten, wir hätten uns
vom Acker gemacht. Ich habe so lange an den Bericht-
erstattergesprächen teilgenommen, bis ich zum Hammel-
sprung in diesen Saal gerufen wurde, noch nicht ahnend,
dass ich gar nicht hineingehen sollte.
Sie blieben sitzen, weil Sie meinten: Das ist nicht nötig;
da machen wir ein Pairing.
Werfen Sie mir also bitte nicht vor, dass ich ein
pflichtschuldiger Abgeordneter bin.
– Ich wusste doch nicht, worum es bei der Abstimmung
ging. Ich hörte das Klingelzeichen und verließ die Be-
richterstatterrunde. Wollen Sie mir das vorwerfen?
Nein.
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Clemens Binninger
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Wenn ich an die Wortbeiträge der Grünen nach dem4. November zurückdenke, stelle ich fest, dass sie da-mals nicht zu Scherzen aufgelegt waren. Ich glaube, dasThema ist auch zu ernst, um darüber scherzhaft hinweg-zugehen.Im Gegensatz zur SPD, die dem vorliegenden Gesetz-entwurf zustimmt – die SPD hatte Änderungswünsche,die sie aufgrund unseres Entgegenkommens durchsetzenkonnte –, verweigern Sie sich heute. Diese Botschaftbleibt.
Die Grünen fordern zwar gerne vollmundig bestimmteSachen ein. Wenn es aber konkret wird, suchen siekrampfhaft nach Ausreden.Sie können doch nicht ernsthaft behaupten, die Krite-rien für die Speicherung der Daten von Kontaktpersonenseien noch immer zu weit gefasst, weil wir nichts We-sentliches geändert hätten. Ich empfehle Ihnen, sich denGesetzentwurf noch einmal genau anzuschauen. EineKontaktperson muss – und das ist anhand von Tatsachenzu überprüfen – Mitglied der Neonazi-Szene sein. Siedarf nicht nur zufällig in engem Kontakt zu einem ge-waltbereiten Neonazi stehen. Außerdem muss das Wis-sen der Kontaktperson geeignet sein, Verbrechen oderStraftaten aufzuklären. Das sind die drei Voraussetzun-gen. Wenn Sie trotzdem behaupten, das sei zu weit ge-fasst, dann kann ich nur sagen: Da haben Sie Ihr Herz fürdie völlig falschen Leute entdeckt. Diesen Vorwurf kannich Ihnen nicht ersparen.
Wir haben ein Gesetz vorgelegt, das die entscheiden-den Mängel beseitigt. Diese haben darin bestanden, dassdas Wissen auf 36 Stellen verteilt war und dass es Mo-nate gedauert hat, bevor man auf das Wissen zugreifenkonnte. Wir haben den richtigen Personenkreis definiertund die Regelungen für den Eilfall noch einmal ver-schärft, um deutlich zu machen, dass das die absoluteAusnahme ist, von der nur selten Gebrauch gemachtwerden sollte.Der Gesetzentwurf, den wir heute beschließen, ist einwichtiger Baustein. Mit dem Gemeinsamen Abwehrzen-trum Rechts und der Einführung der neuen Datei sind dieersten Schritte gemacht. Wir werden im Untersuchungs-ausschuss weitere Zeugenvernehmungen durchführenund darauf achten, was noch zu ändern ist. Hier herrschtein großer parteiübergreifender Konsens.Es ist schade, dass sich die Grünen heute diesem par-teiübergreifenden Konsens verweigern. Von der Linkenhabe ich nichts anderes erwartet. Aber Sie, meine Da-men und Herren von den Grünen, enttäuschen mich andieser Stelle maßlos. Drei Fraktionen in diesem Hausewissen, was zu tun ist, und stimmen heute zu. Dafürherzlichen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Wir kommen zur Abstimmung über den von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurf eines Gesetzes zurVerbesserung der Bekämpfung des Rechtsextremismus.Der Innenausschuss empfiehlt in seiner Beschlussemp-fehlung auf Drucksache 17/10155, den Gesetzentwurfauf Drucksachen 17/8672 und 17/8990 in der Aus-schussfassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, diedem Gesetzentwurf zustimmen wollen, um das Handzei-chen. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? – Damit ist derGesetzentwurf in zweiter Beratung bei Zustimmungdurch Koalition und SPD angenommen. Bündnis 90/DieGrünen und die Linke waren dagegen. Enthaltungen gabes keine.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Wer zustimmen will, mögesich bitte erheben. – Gegenstimmen? – Enthaltungen? –Der Gesetzentwurf ist damit in dritter Beratung mit demgleichen Stimmenverhältnis wie zuvor angenommen.Jetzt kommen wir zur Abstimmung über den Ent-schließungsantrag der Fraktionen der CDU/CSU undFDP auf Drucksache 17/10161. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Enthaltungen? – Der Entschlie-ßungsantrag ist bei Zustimmung durch die einbringen-den Fraktionen angenommen. Die SPD hat sich enthal-ten. Dagegen waren die Linke und Bündnis 90/DieGrünen.Ich rufe jetzt den Tagesordnungspunkt 11 a, b und cauf:a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenVolker Beck , Renate Künast, KerstinAndreae, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENVerfassungsmäßigkeit der bestehenden Un-gleichbehandlung eingetragener Lebenspart-nerschaften gegenüber Ehen– Drucksachen 17/4112, 17/8248 –b) Zweite und dritte Beratung des von den Abgeord-neten Volker Beck , Ekin Deligöz, KatjaDörner, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN eingebrachten Ent-wurfs eines Gesetzes zur Einführung desRechts auf Eheschließung für Personen glei-chen Geschlechts– Drucksache 17/6343 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/9611 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid Hönlinger
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22404 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Vizepräsidentin Katrin Göring-Eckardt
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c) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Rechtsausschusses zudem Antrag der Fraktion der SPDRecht auf Eheschließung auch gleichge-schlechtlichen Paaren ermöglichen– Drucksachen 17/8155, 17/9611 –Berichterstattung:Abgeordnete Ute GranoldSonja SteffenStephan ThomaeJörn WunderlichIngrid HönlingerDie Fraktion Bündnis 90/Die Grünen hat zu ihrerGroßen Anfrage einen Entschließungsantrag sowie zuihrem Gesetzentwurf einen Änderungsantrag einge-bracht. Über den Entschließungsantrag und über den Ge-setzentwurf werden wir später namentlich abstimmen.Vorgesehen ist, eine halbe Stunde zu debattieren. –Dazu sehe ich keinen Widerspruch. Dann ist das so be-schlossen.Ich eröffne die Aussprache und gebe das Wort demKollegen Volker Beck für Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine Damen und Herren! Obamahat sich dafür ausgesprochen, Hollande will es, und auchder Konservative Cameron kämpft in Großbritannien fürdie Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.Heute ist der Tag, da sollten sich auch die Kanzlerin unddie schwarz-gelbe Koalition endlich ein Herz nehmenund bekennen: Auch in Deutschland ist die Zeit reif fürschwule und lesbische Hochzeiten. Dafür geben wir Ih-nen heute die Gelegenheit.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Union, ichkann Sie vielleicht nicht mit meinen Worten überzeugen,aber vielleicht mit den Worten von Herrn Cameron, dieer auf dem Parteitag der Tories 2011 gesprochen hatte:Konservative glauben an die Bindungen, die uns unter-stützen. Die Gesellschaft ist stärker, wenn wir uns ge-genseitig verpflichten und uns unterstützen. Ich unter-stütze die Öffnung der Ehe nicht, obwohl ich einKonservativer bin, sondern weil ich ein Konservativerbin. – Wenn Sie heute etwas für konservative Werte undfür den Fortschritt in der Gesellschaft tun wollen, dannstimmen Sie unseren Vorlagen zu.
Meine Kolleginnen und Kollegen von der FDP, derBundesaußenminister sagte zu dem Ausspruch vonObama „It‘s okay to marry gay“ über die Öffnung derEhe: Das entspricht auch unserer deutschen Politik, diewir als Regierung und mit großer Mehrheit auch im Bun-destag verfolgen. – Davon habe ich nicht viel gemerkt.
Aber heute gibt es die Chance, die Worte des Bundes-außenministers wahr zu machen.Es gibt eine Mehrheit von 60 Prozent in der Bevölke-rung für die Öffnung der Ehe. Es gibt eine Mehrheit fürdiese Forderung im Deutschen Bundestag. Vier Fraktio-nen können auf Beschlüsse von Parteitagen ihrer jeweili-gen Partei verweisen, in denen die Öffnung der Ehe ge-fordert wird. Deshalb wäre es eine Schande für dasHaus, wenn es heute dafür keine Mehrheit bei der Ab-stimmung geben würde.
15 Staaten auf dieser Welt ermöglichen das Eingehenvon gleichgeschlechtlichen Ehen. 16 Staaten – einermehr, nämlich Israel – erkennen gleichgeschlechtlicheEhen an. Ich meine, diese internationale Rechtsentwick-lung ist auch einer der Gründe, warum wir heute sagenkönnen, dass die grundgesetzliche Auslegung durch dasBundesverfassungsgericht so lauten wird: Es hat einenBedeutungswandel der Strukturprinzipien der Ehe – auf-grund der internationalen Rechtsentwicklung, aber auchaufgrund der Haltung in der Bevölkerung, in der es eineMehrheit für diese Forderung gibt – gegeben. In der All-tagssprache der Bevölkerung wird, wenn Lebenspartneraufs Standesamt gehen, schon längst davon gesprochen,dass geheiratet wird. Es ist selbstverständlich nicht dieRede davon, dass – dies ist deutsches Amtschinesisch –eine Partnerschaft eingetragen wird. Die Menschen sindda nahe an der Realität und wissen, dass gleiche Liebegleichen Respekt und deshalb auch gleiche Rechte ver-dient.
Das Bundesverfassungsgericht selbst hat in seinerTranssexuellen-Entscheidung dem Strukturprinzip derGeschlechtsverschiedenheit der Ehe keine Bedeutungmehr beigemessen, indem es den ersten gleichge-schlechtlichen Ehen den Weg bereitet hat. Es sagte näm-lich: Man muss sich vor einer Geschlechtsumwandlungnicht scheiden lassen. Eine Ehe muss nicht in eine Le-benspartnerschaft umgewandelt werden. Man bleibt ver-heiratet. Etwas anderes wäre im Hinblick auf den Schutzvon Ehe und Familie zerstörerisch.Recht hat das Bundesverfassungsgericht. Wir habendas im Transsexuellengesetz auch nachvollzogen. Des-halb haben Gesetzgeber und Verfassungsgericht die ers-ten gleichgeschlechtlichen Ehen – auch wenn es sich nurum eine kleine Gruppe handelt – geschaffen. Die Ge-schlechtsverschiedenheit kann deshalb hier keine heiligeKuh sein. Kommen Sie nicht mit der Monstranz der Ver-fassung. Die Verfassung verwirklicht sich in Gleichbe-rechtigung und gleichem Respekt vor allen Bürgerinnenund Bürgern.
Lassen Sie uns – wie wir es seit dem Ende der Re-gierungszeit von Rot-Grün hier eigentlich nur noch
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Volker Beck
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machen – nicht immer darauf warten, bis uns das Bun-desverfassungsgericht zu den nächsten Gleichstellungs-schritten verurteilt. Der Deutsche Bundestag ist nicht nurNotar der Urteile des Bundesverfassungsgerichts. Wirsind Gesetzgeber und haben den Auftrag, die Zukunftdes Landes aktiv zu gestalten.
Herr Kollege.
Zum Schluss, meine Kolleginnen und Kollegen: Wir
wollen die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare öffnen;
aber Sie haben heute eine Alternative. Sie können ent-
weder unserem Gesetz zur Öffnung der Ehe zustimmen
– dann sind alle anderen Fragen in diesem Bereich ge-
setzgeberisch erledigt –, oder Sie stimmen unserem An-
trag zu und beauftragen die Bundesregierung, bis zur
nächsten Sitzungswoche im September einen Gesetzent-
wurf vorzulegen,
Herr Kollege!
der alle Benachteiligungen der Lebenspartnerschaften
beseitigt. Wer zweimal mit Nein stimmt, der will den ho-
mosexuellen Bürgerinnen und Bürgern –
Kollege Beck!
– den Respekt versagen.
Herr Kollege Thomas Silberhorn hat jetzt das Wort
für die CDU/CSU-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Wir achten alle Lebensentwürfe des respektvollen Zu-sammenlebens. CDU und CSU erkennen an, wenn Men-schen in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften fürei-nander einstehen und verlässlich Verantwortung undSorge füreinander übernehmen.Kern unserer heutigen Debatte ist allerdings etwasganz anderes, nämlich der Vorstoß von SPD und Grünen,das Institut der eingetragenen Lebenspartnerschaft mitder Ehe vollständig gleichzustellen. Das ist mit uns nichtzu machen.
Die Grünen stellen mit ihrer Großen Anfrage die Ver-fassungsmäßigkeit einer Reihe von spezifischen bundes-rechtlichen Regelungen infrage, die zwischen einge-tragener Lebenspartnerschaft einerseits und Eheandererseits differenzieren. Fakt ist zunächst einmal,dass Lebenspartner in vielen Fragen bereits heute nichtanders als Ehegatten behandelt werden.
Wir haben uns schon im Koalitionsvertrag verpflichtet,gleichheitswidrige Benachteiligungen abzubauen. Ent-sprechende Änderungen sind bereits in Kraft getreten beider Erbschaftsteuer, bei der Schenkungsteuer, bei derGrunderwerbsteuer und im öffentlichen Dienstrecht.Dort, wo es geboten ist, sind wir auch weiterhin be-reit, gesetzgeberisch tätig zu werden. Wir haben insbe-sondere auch die Grundsatzentscheidungen des Bundes-verfassungsgerichts stets zügig umgesetzt.
Aber es gibt keinen Grund, bewährte Einrichtungen fürEheleute, wie zum Beispiel das Ehegattensplitting, um-zukrempeln. Hier gilt es, die Entscheidung des Bundes-verfassungsgerichts, das ja in dieser Sache angerufenworden ist, abzuwarten.
Meine Damen und Herren, nach Vorstellung von SPDund Grünen soll das Verständnis der Ehe als einer aufDauer angelegten Verbindung von Mann und Frau auf-gehoben werden, und gleichgeschlechtliche Paare sollenin jeder Hinsicht mit Ehegatten gleichgestellt werden.Das würde bedeuten, dass das Institut der eingetragenenLebenspartnerschaft, das wir für gleichgeschlechtlichePaare geschaffen haben, obsolet würde.
Ihre Begründung teilen wir nicht. Sie führen an, dasses einen grundlegenden Wandel des traditionellen Ehe-verständnisses in unserer Gesellschaft geben würde.Dazu hätten das Institut der eingetragenen Lebenspart-nerschaft, die Änderung des Transsexuellengesetzes von2009, die geänderten Anschauungen in der Bevölkerungganz allgemein und die Rechtsordnungen – man höreund staune – anderer Länder beigetragen.
Meine Damen und Herren, den Vergleich mit anderenLändern müssen Sie gar nicht erst bemühen; denn wenn
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Thomas Silberhorn
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man sich einmal genauer anschaut, wie es in der Weltum die Rechte von gleichgeschlechtlichen Paaren be-stellt ist, dann zeigt sich, dass Deutschland hier beiGleichbehandlung und Toleranz mit an der Spitze steht.
Es unterliegt in Deutschland allerdings keinem Zwei-fel, dass die Väter und Mütter des Grundgesetzes bei derFormulierung von Art. 6 des Grundgesetzes den Begriffder Ehe als dauerhafte Verbindung von Mann und Frauverstanden haben. Sie haben das für so selbstverständ-lich gehalten, dass sie es nicht ausdrücklich in dasGrundgesetz hineingeschrieben haben.Nun haben Sie über Jahre versucht, eine Uminterpre-tation zu erreichen, und in der Tat kann sich das Verfas-sungsrecht im Laufe der Zeit weiterentwickeln. Es stehtInterpretationen grundsätzlich offen. Der Kernbereichaber bleibt davon unberührt, und die Ehe gehört zu die-sem Kernbereich. Sie kann nur mit einem Partner des je-weils anderen Geschlechts geschlossen werden;
denn ihr Wesensmerkmal ist gerade die Verschiedenge-schlechtlichkeit der Partner.Das hat das Bundesverfassungsgericht – ich bitte, dieszur Kenntnis zu nehmen – in ständiger Rechtsprechungimmer wieder bekräftigt.
Es hat in seinem Grundsatzurteil zu eingetragenen Le-benspartnerschaften vom 17. Juli 2002 herausgestellt,dass die eingetragene Lebenspartnerschaft eben keineEhe mit falschem Etikett ist, sondern ein Aliud zur Ehe,also etwas anderes ist.Auch in seiner Entscheidung zum Transsexuellenge-setz vom 6. Dezember 2005 hat das Bundesverfassungs-gericht festgestellt, dass – ich zitiere – „zum Gehalt derEhe gehört, dass sie die Vereinigung eines Mannes miteiner Frau zu einer auf Dauer angelegten Lebensgemein-schaft ist“. Diese Interpretation hat das Bundesverfas-sungsgericht in Kenntnis der gesetzgeberischen Ent-scheidung zum Lebenspartnerschaftsgesetz bekräftigt,das am 1. August 2001 in Kraft getreten ist. Die Ehe istalso von Verfassungs wegen der Beziehung von Mannund Frau vorbehalten, und deswegen scheidet eine Öff-nung für gleichgeschlechtliche Partner für uns aus.
An dieser Einschätzung ändert auch die jüngste Ent-scheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Trans-sexuellenrecht vom 11. Januar 2011 nichts, auf die SPDund Grüne in ihren Papieren Bezug nehmen. Das Bun-desverfassungsgericht trifft dort keine abweichendenAussagen.Meine Damen und Herren, die Motivation für IhreInitiativen liegt klar auf der Hand: Ihre Bemühungen wa-ren seit langem, im Wege des Verfassungswandels zu er-reichen, dass das Bundesverfassungsgericht den Begriffder Ehe uminterpretiert. Damit sind Sie gescheitert.
Jetzt versuchen Sie, das, was verfassungsrechtlich nichthaltbar ist, auf dem Wege eines einfachen Gesetzes zubeschließen. Die Gleichstellung gleichgeschlechtlicherLebenspartnerschaften mit der Ehe ist insofern ein un-tauglicher und auch ein etwas hilfloser Versuch, das Ver-fassungsinstitut der Ehe auszuhöhlen, und deswegen ma-chen wir hier nicht mit.
Meine sehr verehrten Damen und Herren, für CDUund CSU steht fest: Die Ehe bleibt die Verbindung vonMann und Frau. Sie ist die Keimzelle der Familie. Siebedarf ungeachtet von gesellschaftlichem Wandel einesbesonderen Schutzes und der Förderung durch den Staatund die Rechtsordnung,
so wie es – trotz aller Ihrer Zwischenrufe – sehr unzwei-deutig in Art. 6 des Grundgesetzes steht und vom Bun-desverfassungsgericht in vielen Jahren interpretiert wor-den ist.
Das bedeutet allerdings nicht, dass wir andere Formendes menschlichen Zusammenlebens geringschätzen. Wirsehen gleichgeschlechtliche Lebenspartnerschaften ebennur als etwas anderes an als die Ehe. Meines Erachtenssprechen auch keine überzeugenden Argumente gegendie Parallelität von Ehe auf der einen und gleichge-schlechtlichen Lebenspartnerschaften auf der anderenSeite.
Dort, wo es Handlungsbedarf gibt, dort, wo gleichheits-widrige Benachteiligungen von Lebenspartnern abge-baut werden müssen, sind wir aufgeschlossen und dis-kussionsbereit.
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Aber eine Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtlichePartnerschaften oder eine vollständige Gleichstellungmit der Ehe lehnen wir ab.
Meine Damen und Herren, ich hätte jetzt noch vier-einhalb Minuten Redezeit. Aber ich finde, dass meinePosition in dieser Frage dermaßen klar ist,
dass ich darauf gern verzichte.Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.
Lieber Kollege, die Fußballfreunde werden für jede
Minute danken, die hier eingespart wird.
Als Nächste hat unsere Kollegin Frau Sonja Steffen
für die Fraktion der Sozialdemokraten das Wort. Bitte
schön, Frau Kollegin.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Seit 2001 istdas sogenannte Lebenspartnerschaftsgesetz in Kraft. DasRechtsinstitut der Lebenspartnerschaft hat die Rechtevon Schwulen und Lesben erheblich gestärkt. Es hatdazu beigetragen, dass diese Paare gesellschaftlich in-zwischen viel besser akzeptiert werden. Wir haben mitdiesem Gesetz den Lebenspartnerschaften die gleiche fi-nanzielle Verantwortung wie den Ehepaaren auferlegt.Was bedeutet das in der Praxis? Wenn Tom und Petereine Lebenspartnerschaft eingehen, dann verpflichten siesich zum gegenseitigen Unterhalt. Sie gründen eine Zu-gewinngemeinschaft. Im Falle des Todes eines Le-benspartners erbt der andere wie ein Ehegatte. Trenntsich Tom von Peter, so schuldet der Partner mit dem hö-heren Einkommen dem anderen Trennungsunterhalt undgegebenenfalls auch sogenannten nachpartnerschaftli-chen Unterhalt.
Auch Rentenanwartschaften werden nach der Aufhe-bung der Partnerschaft im Wege des Versorgungsaus-gleichs verteilt. Bis hierhin ist also alles gleich zwischenEheleuten und Lebenspartnern.
Schauen wir jetzt noch einmal genauer in die Le-benspartnerschaft von Tom und Peter, dann stellen wirfest, dass die finanziellen Entlastungen, die die Ehe bie-tet, den Lebenspartnern nicht gewährt werden. Bei ei-nem gemeinsam zu versteuernden Einkommen von60 000 Euro im Jahr beträgt der sogenannte Splittingvor-teil für Ehepartner jährlich durchschnittlich 1 600 Euro.Tom und Peter, unser schwules Paar, erhalten diesenVorteil nicht. Nun mag man über Sinn und Unsinn desEhegattensplittings streiten; das wird richtigerweise ananderer Stelle getan. Wir stellen jedoch fest, dass diederzeitige Ungleichbehandlung keine verfassungsrecht-liche Grundlage hat.
Finanzminister Schäuble hat diese unterschiedlicheBehandlung 2010 in einem Interview wie folgt begrün-det:Ein solcher Differenzierungsgrund ist beim Ehegat-tensplitting die Förderung der Ehe, insbesondere imHinblick auf ihre bleibende Bedeutung als typischeGrundlage der Familie mit Kindern.
Aber, Herr Minister Schäuble, vor allem meine Kolle-ginnen und Kollegen der Koalition, eine abstrakte Ver-mutung, dass Ehen typischerweise zur Gründung einerFamilie führen, reicht nicht aus, um auch kinderlosenEhepaaren diese Vergünstigung zukommen zu lassen,die Lebenspartnern – da ist es egal, ob mit Kindern oderohne – nicht gewährt wird.
Damit bin ich bei einer weiteren Ungleichbehand-lung, die das Adoptionsrecht betrifft. Nehmen wir ein-mal an, Petra und Paula gründen eine Lebenspartner-schaft und sie beschließen, ein Kind zu adoptieren. Hierzeigt der Gesetzgeber eine seltsame Schizophrenie: Petraund Paula werden vom Jugendamt als Paar geprüft, dasheißt, sie müssen sich gemeinsam beim Jugendamt vor-stellen; aber das Kind kann nur von einem Teil des Paa-res adoptiert werden, allerdings auch wieder nur, wennder andere Partner seine Zustimmung zur Adoption er-teilt.
Das adoptierte Kind ist also weder im Steuerrecht nochim Erbrecht noch im Unterhaltsrecht das Kind beider El-tern. Hinzu kommen etliche Alltagsprobleme, und dieFamilie lebt mit einem gewissen Risiko. Wenn die Ad-optivmutter sterben sollte, müssen die Behörden dieschwierige Aufgabe lösen, die Zugehörigkeit des Kindesfestzustellen. Eine vernünftige und einleuchtende Be-gründung für diese Ungleichbehandlung der Adoptivkin-
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Sonja Steffen
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der von Lebenspartnern gibt es nicht. Das Wohl des Kin-des wird jedenfalls nicht dadurch gefährdet, dass eseinen weiteren Vater oder eine weitere Mutter hat; dasbehauptet mittlerweile eigentlich niemand mehr, bis aufdie Kollegen der CDU/CSU.
Meine Damen und Herren, in den elf Jahren seit Be-stehen des Lebenspartnerschaftsgesetzes hat es zahlrei-che rechtliche Angleichungen zwischen den Rechtsinsti-tuten der Lebenspartnerschaft und der Ehe gegeben; wirhaben schon davon gehört. Zum großen Teil mussten wiruns allerdings die Angleichungen vom Bundesverfas-sungsgericht nach erfolgreichen Klagen von Lebenspart-nern Schritt für Schritt sozusagen ins Gesetz schreibenlassen.Die Diskriminierungen im Einkommensteuerrechtund im Adoptionsrecht sind die letzten Unterschiedezwischen Lebenspartnerschaft und Ehe. Sie ergebenpraktisch keinen Sinn und sind auch rechtlich, mögli-cherweise sogar verfassungsrechtlich, nicht länger halt-bar. Ein Minimum wäre die Gleichstellung von Ehe undLebenspartnerschaft, über die Sie heute entscheidenkönnen. Der wirklich logische Schritt ist aber die Öff-nung der Ehe für gleichgeschlechtliche Paare.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Sonja Steffen. – Nächster
Redner ist für die Fraktion der FDP unser Kollege
Stephan Thomae. Bitte schön, Kollege Stephan Thomae.
Herr Präsident! Verehrte Kolleginnen! Verehrte Kol-legen! Freiheit und Verantwortung – das ist die Maximeder Freien Demokraten.
Für Liberale ist jede Lebensform allen Respektes wert,in der Menschen Verantwortung füreinander überneh-men.
Wo gleiche Pflichten übernommen werden, da sollenauch gleiche Rechte gelten.Was die Gleichstellung gleichgeschlechtlicher Le-benspartnerschaften anbelangt, so haben wir im deut-schen Recht den Weg der schrittweisen Annäherung undAngleichung beschritten
und sind auf diesem Weg auch schon vergleichsweiseweit fortgeschritten. Es gibt durchaus noch offenePunkte – das sei eingeräumt –, derer man sich nach undnach annehmen muss.Wenn man sich einmal ansieht, welche Punkte in die-ser Legislaturperiode von uns erledigt worden sind, istdas eine ganz beachtliche Liste: Mit dem Jahressteuerge-setz 2010 sind Nachteile bei der Grunderwerbsteuer fürgleichgeschlechtliche Paare abgeschafft worden. Mitdem Jahressteuergesetz 2012 und dem Erbschaftsteuer-reformgesetz wurden Nachteile bei Erbschaft- undSchenkungsteuer beseitigt. Mit Wirkung zum 1. Januar2009 wurden Nachteile für Beamte, Richter und Solda-ten beim öffentlichen Dienstrecht beseitigt. Auch beimBAföG wurden Nachteile beseitigt.
– Herr Kollege Beck, es gibt aber durchaus noch offenePunkte. Das räume ich ein. Beim Einkommensteuerge-setz werden wir darauf hinarbeiten, dass die Verspre-chen, die gemacht wurden, auch eingelöst werden.
Beim Adoptionsrecht sehe ich ebenfalls keine Beden-ken. Es müssen aber noch internationalrechtliche Dingegeklärt werden. Deutschland hat ein europäisches Ab-kommen über die Adoption von Kindern unterzeichnet.Das ist ein Abkommen aus dem Jahr 1967. Das Abkom-men wird überarbeitet. Diese Dinge müssen gemachtwerden.
Es gibt Dutzende Einzelvorschriften, die ebenfalls an-gegangen werden müssen. Das BMJ hat ein Rechtsberei-nigungsgesetz vorgelegt, in dem diese Punkte abgearbei-tet werden.Ich muss aber darauf hinweisen, dass verfassungs-rechtliche Bedenken nicht nur eine Kleinigkeit sind.
– Es geht nicht darum, das wie eine Monstranz vor sichherzutragen, Herr Kollege Beck. Wir nehmen das Ver-fassungsrecht ernst. Wir wollen durchaus darüber disku-tieren, ob verfassungsändernde Vorschriften notwendigsind, um eine Öffnung der Ehe vorzunehmen. Die Grü-nen haben bereits im Jahr 1995 einen Antrag zur Öff-nung der Ehe vorgelegt, der in großen Teilen wegen Ver-stoßes gegen das Grundgesetz auf Vorbehalte gestoßenist.
Deswegen wollen wir diese Diskussion zunächst führen,um zu prüfen, ob das Verfassungsrecht Anpassungen be-nötigt, bevor wir – quasi aus der Hüfte geschossen – ein-fachgesetzliche Änderungen vornehmen.
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Stephan Thomae
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Das ist unser Weg.
Wir wollen Respekt vor dem Grundgesetz zeigen undwo nötig das Grundgesetz ändern. So weit ist die Dis-kussion bislang noch nicht. Es muss zunächst diese Dis-kussion geführt werden, bevor wir aus der Hüfte herauseine Änderung im BGB vornehmen.
Das ist der Grund, weshalb wir Ihrem Vorschlag heutenicht zustimmen können.Vielen Dank.
Nächste Rednerin in unserer Aussprache ist für die
Fraktion Die Linke unsere Kollegin Dr. Barbara Höll.
Bitte schön, Frau Kollegin Dr. Barbara Höll.
Danke, Herr Präsident! Ich hoffe, dass die Qualität
der Reden Ihr Lächeln nicht richtig verbannt, sondern es
wiederkommt. – Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr
Silberhorn, ich hoffe für Sie, dass die Zeit und das Bun-
desverfassungsgericht Sie nicht völlig überholen und Sie
sich irgendwann wieder einkriegen. Die dänische Minis-
Rede von: Unbekanntinfo_outline
Jetzt erlauben wir homosexuellen Paaren die Ehe zuden gleichen Bedingungen wie allen anderen. Ichfreue mich, dass die überwiegende Mehrheit imParlament diesen historischen Beschluss mitträgt.
Jetzt kann auch die kirchliche Trauung, die in Dänemarkeine Bedeutung entsprechend unserer standesamtlichenTrauung hat, vollzogen werden.Wir sitzen hier im Bundestag und sind damit demGrundgesetz verpflichtet. Wir sind auch dazu verpflich-tet, das umzusetzen, was das Bundesverfassungsgerichturteilt. Wir sind aber nicht verpflichtet, das umzusetzen,was zum Beispiel der Papst sagt, der unter Ehe das Zu-sammenleben von Mann, Frau und Kind versteht. Wirmüssen der Lebensrealität Rechnung tragen.
Darüber bin ich froh. Die Initiative „Keine halben Sa-chen“ wurde auch von der FDP unterstützt und den Les-ben und Schwulen in der CDU. Also: Sie sind doch inTeilen schon so weit. Trauen Sie sich endlich, dem heutezuzustimmen!
Wenn Sie sich nicht trauen, der Öffnung der Ehe zuzu-stimmen, dann stimmen Sie dem zweiten Antrag zu.Worüber reden wir? Wir reden darüber, wie das Bun-desverfassungsgericht festgestellt hat, dass die Privile-gierung eines Rechtsinstituts nicht die Diskriminierungeines anderen Rechtsinstituts rechtfertigt. Wir habenneue Urteile aus den Jahren 2009, 2010 und 2011. Daskann man alles nachlesen. Diese Urteile geben sehr wohldie klare Auskunft, dass eine Gleichbehandlung notwen-dig ist.Wir haben zwei Möglichkeiten. Entweder sagen wirganz schnell und elegant: Wir öffnen die Ehe für alleMenschen. Im Übrigen finde ich, dass wir uns nicht auflesbische und schwule Paare beschränken sollten. Esgibt nämlich immer noch das Problem von intersexuel-len Menschen in einer festen Beziehung, die sich viel-leicht auch rechtlich binden möchten.
Auf diese Weise könnten wir in einem Schritt vorgehen,dann bräuchten wir nicht sämtliche Einzelgesetze zu än-dern.Oder aber wir verfolgen weiterhin die Tippeltappel-tour. Auf der Tippeltappeltour sind wir mit viel Kamp-feswillen und durch etliche Gerichtsurteile schon relativweit gekommen. Wesentliche Punkte bleiben dabei je-doch offen, zum Beispiel das Recht auf künstliche Be-fruchtung für lesbische Paare oder – ganz wesentlich –das Adoptionsrecht. Hierzu wurde schon einiges ausge-führt.Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Frage des Ehe-gattensplittings. Hierzu sei klipp und klar gesagt: DasEhegattensplitting kostet uns als Gesellschaft pro Jahrfast 20 Milliarden Euro. Davon geht ein Großteil an Ehe-paare ohne Kinder bzw. Ehepaare, in deren Haushaltkeine Kinder mehr leben, weil sie inzwischen zu Hauseausgezogen sind. 9 Prozent der veranlagten Ehepaaresind kinderlos.Von den in Deutschland lebenden 13 Millionen Kin-dern wachsen 17 Prozent bei Alleinerziehenden auf.Diese Kinder gehören gefördert und nicht das Ehegatten-splitting nach dem Gießkannenprinzip.
Die ursprüngliche Zielstellung ist völlig aus dem Blickgeraten und wird überhaupt nicht mehr verfolgt.
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22410 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Barbara Höll
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Wenn wir jetzt den Weg „Gleiches Steuerrecht füralle“ – also für die eingetragene Lebenspartnerschaft ge-nauso wie für die Ehe – gehen wollen, kostet uns dassage und schreibe 30 Millionen Euro gegenüber 20 Mil-lionen Euro,
auf die wir jedes Jahr verzichten, unter anderem auchdurch den Unterhalt für Geschiedene – das betrifft danndie gescheiterten Ehen –, weil der auch noch steuerlichgeltend gemacht werden kann. Das muss einmal gesagtwerden.
Wir werden beiden Anträgen zustimmen. Sie habenheute die zweite Chance, der Eheöffnung zuzustimmen;denn wir hatten vor einem Jahr bereits einen entspre-chenden Antrag eingebracht. Nicht alle Mitglieder mei-ner Fraktion werden den Anträgen zustimmen, weil sieberechtigterweise befürchten, dass die Öffnung der Ehemöglicherweise dazu führen kann, dass Menschen wieSie, Herr Silberhorn, das Ganze als Zementierung inter-pretieren und meinen, dass darüber hinaus nichts weitergeändert werden müsste.Wir müssen aber etwas ändern. Wir als Linke sind derMeinung, dass die Gleichheit vor dem Gesetz gilt. Sosteht es auch in Art. 3 Grundgesetz. Deshalb fordern wirjetzt die unmittelbare Gleichstellung oder Öffnung derEhe. Danach müssen wir jedoch zielgerichtet darange-hen, die Bereiche Leben mit Kindern und Pflege zu för-dern. Deshalb werden wir auch weiterhin dafür streiten,dass das Ehegattensplitting abgeschafft wird und wirendlich ein modernes Steuer- und Sozialrecht bekom-men, das auf das Individuum abzielt und nicht auf eineInstitution.Danke.
Nächster Redner in unserer Aussprache ist für die
Fraktion der FDP unser Kollege Michael Kauch. Bitte
schön, Kollege Michael Kauch.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die FDP
tritt für die Öffnung der Ehe für gleichgeschlechtliche
Paare ein.
Viele unserer Abgeordneten haben deshalb auf die Frage
von ColognePride, ob wir für die Öffnung der Ehe sind,
mit Ja geantwortet.
Ich sage aber auch sehr deutlich: Wir sind nicht ge-
fragt worden, ob wir diesem vorliegenden Gesetzent-
wurf zustimmen. Der ist leider, das muss man sehr deut-
lich sagen, schlampig formuliert worden.
Ein Hinweis, wie schlampig er formuliert worden ist,
zeigt sich darin, dass die Fraktion von Bündnis 90/Die
Grünen heute mit einem nachgereichten Änderungsan-
trag versucht, den größten Klopper in ihrem Gesetzent-
wurf zu heilen, nämlich die Inkrafttretensregelung.
In jedes Gesetz schreibt man normalerweise: Es tritt
in Kraft mit der Veröffentlichung im Bundesgesetzblatt.
Was hat Bündnis 90/Die Grünen gemacht? Man hat fixe
Daten hineingeschrieben, die längst abgelaufen waren.
Herr Kollege, gestatten Sie eine Zwischenfrage des
Kollegen Volker Beck?
Nein.
Nein, er gestattet es nicht, Kollege Volker Beck.
Meine Damen und Herren, Sie haben hier nicht or-dentlich gearbeitet. Mit Ihrem Gesetzentwurf hätten Siebestehende Lebenspartnerschaften gefährdet. Im Übri-gen haben Sie die Verfassungsprüfung nicht ordentlichdurchgeführt.Ich werde abweichend von meiner Fraktion stimmen;aber ich werde nicht diesem Gesetzentwurf zustimmen,weil er eben verfassungsrechtlich nicht ordentlich abge-prüft ist. Ich werde dem Entschließungsantrag zustim-men, damit die Bundesregierung einen ordentlichen Ge-setzentwurf hierzu vorlegt; die Grünen sind dazuoffenkundig nicht in der Lage.
Es ist verfassungsrechtlich geboten, gleichgeschlecht-liche Paare den Ehegatten vollständig gleichzustellen.Wer die gleichen Unterhalts- und Einstandspflichten wieEhegatten hat, der muss endlich auch im Steuerrecht, wogenau diese Dinge reflektiert werden, die gleichenRechte bekommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22411
Michael Kauch
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Das steht übrigens auch im Koalitionsvertrag. MeineDamen und Herren von der Union, es wird Zeit, dasssich nicht nur die FDP an den Koalitionsvertrag hält,zum Beispiel beim Betreuungsgeld, sondern dass auchdie Union an den Punkten, die ihr nicht gefallen, denKoalitionsvertrag eins zu eins umsetzt.
Die Schaufensterpolitik, die Bündnis 90/Die Grünenheute mit ihren Anträgen machen, geht an der Realitätdes Parlaments vorbei. Man kann als Koalitionspartnernicht einfach so mit wechselnden Mehrheiten stimmen.
Die Grünen haben 2005 gegen das Adoptionsrecht fürSchwule und Lesben gestimmt, weil die SPD es nichtwollte. Beim Afghanistan-Einsatz hat man bei den Grü-nen sogar ausgelost, wer noch mit Nein stimmen kann,ohne die Regierung zu gefährden.
Deshalb brauchen wir von den Grünen keine Nachhilfein Sachen aufrechter Politik.
Wir Liberale haben in dieser Wahlperiode gezeigt, dasswir die Rechte von Lesben und Schwulen auch in einerKoalition mit der Union deutlicher voranbringen, als esdie SPD in der letzten Wahlperiode geschafft hat. Das istunsere Leistung. Auf diesem Weg werden wir weiterge-hen.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Wort zu einer
Kurzintervention hat unser Kollege Volker Beck. Bitte
schön, Kollege Volker Beck.
Ich nehme die Redezeit von Herrn Silberhorn.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Herr Kauch, Sie
sind in keiner beneidenswerten Situation. Sagen Sie
doch einfach trotzdem klipp und klar: Mit Schwarz-Gelb
wird es keine Gleichstellung der homosexuellen Partner-
schaften geben. Wenn das so ist, dann muss Schwarz-
Gelb halt weg.
Sie beziehen sich auf die angeblichen handwerklichen
Mängel des Gesetzentwurfs, dabei hat er gar keinen
Mangel, er lag einfach nur länger im Ausschuss. Dort
konnten wir ihn aber nicht ändern, weil uns dazu die
Mehrheit fehlt. Das wäre Ihre Aufgabe gewesen. Des-
halb können wir heute hier – wo wir es können, wenn
wir durch Ihre Stimmen die Mehrheit bekommen – Fol-
gendes regeln: In dem Gesetzentwurf, den wir in der ers-
ten Hälfte des Jahres 2011 eingebracht haben, wird das
Datum für das Inkrafttreten geändert werden. Es soll nun
der 1. Januar 2013 gelten. Die Regelung für das Ab-
schließen von Lebenspartnerschaften endet an dem Tag,
an dem das Gesetz in Kraft tritt. Das ist logisch und
zwingend. Ersparen Sie sich solche Nickeligkeiten. Las-
sen Sie uns über die Sache streiten, damit wir diesen
Haufen aus der Blockadeposition bekommen.
Es geht um eine gesellschaftspolitische Frage. Wir müs-
sen uns doch nicht hier im Klein-Klein verlieren. Eins ist
klar – das hat Herr Silberhorn frank und frei bekannt –:
Solange CDU/CSU an der Regierung sind, wird es keine
Gleichstellung geben. Deshalb müssen wir dafür sorgen,
dass Schwarz-Gelb nicht länger eine Mehrheit in diesem
Hause hat.
Lieber Kollege Volker Beck, wir sind in diesem
Hause sicherlich gemeinsam der Meinung, dass eine
Fraktion oder Mitglieder einer Fraktion kein „Haufen“
sind, sondern die Mitglieder einer demokratisch gewähl-
ten Fraktion.
Kollege Michael Kauch, Sie haben die Möglichkeit
zur Antwort.
Lieber Kollege Beck, der Präsident hat es mir vor-weggenommen: Auch in einer solch emotionalen De-batte muss man nicht nur die Form wahren, sondern manist dem Andersdenkenden auch Respekt schuldig. Ichglaube, das ist in diesem Haus ganz wichtig.
Ich frage mich schon, warum Ihnen heute anderthalbStunden vor der Debatte eingefallen ist, dass man IhrenGesetzentwurf abändern muss. Im Rechtsausschuss ha-
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22412 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Michael Kauch
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ben Sie, wie mir gerade versichert wurde, keinen ent-sprechenden Antrag gestellt. Das mag daran liegen, dassder rechtspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grü-nen diesem Gesetzentwurf im Rechtsausschuss nicht zu-gestimmt hat, weil er die verfassungsrechtliche Prüfungdieses Gesetzentwurfs offenkundig für unzureichendhält. Das ist möglicherweise der wahre Grund für dieBehandlung im Rechtsausschuss durch Bündnis 90/DieGrünen.
Inhaltlich bin ich ja ganz bei Ihnen. Auch meine Frak-tion ist inhaltlich bei Ihnen. Wir wollen die Öffnung derEhe. Wir müssen aber seriös prüfen, ob das einfachge-setzlich geht, wie Sie das hier vorschlagen. Das ist nichtoffenkundig verfassungswidrig, aber die Rechtspre-chung des Verfassungsgerichts gibt Hinweise darauf,dass man möglicherweise eine Verfassungsänderungbraucht.
Wir sind eine Verfassungspartei. Uns ist das Grundge-setz nicht egal. Deswegen finde ich, dass wir in dieserFrage weiteren juristischen Sachverstand einholen müs-sen. Wir sind bereit, das in der nächsten Zeit zu tun.Entscheidend ist, dass die Menschen in dieser Wahl-periode das erhalten, was sie jetzt wirklich verlangenmüssen, nämlich gleiche Rechte und gleiche Pflichtenhinsichtlich der Einkommensteuer. Das ist geboten, unddas ist vereinbart.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich darf Sie für den
letzten Redner unserer Aussprache, für unseren Kolle-
gen Johannes Kahrs, um Aufmerksamkeit bitten. – Bitte
schön, Kollege Johannes Kahrs.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Wir haben hier heute eine Debatte erlebt, inder man nachdenklich werden konnte. Ich glaube, einGroßteil dieses Hauses ist der Meinung, dass man denAnträgen von SPD und Grünen zustimmen kann. Ichglaube, dass diese Anträge richtig sind.Auch wir haben in der Vergangenheit mal gesagt, dassman schauen muss, wie das Bundesverfassungsgerichtdazu steht, zum Beispiel in der Zeit von Rot-Grün, alswir das Lebenspartnerschaftsgesetz beschlossen haben.An dieser Stelle möchte ich mich besonders herzlich beiMargot von Renesse bedanken, die das damals mit sehrviel Elan und Leidenschaft vorangetrieben hat. Daskann, das muss man an dieser Stelle einmal sagen.
Damals haben wir gesagt: „Wir trennen Rechte undPflichten und machen das in zwei Teilen“, weil wir sehrviel Respekt vor dem Bundesverfassungsgericht hatten.Wir haben uns aber geirrt. Wir haben festgestellt, dassdas Bundesverfassungsgericht weiter war als der Deut-sche Bundestag. Es war weiter, als wir uns das vorstellenkonnten. Das Problem in diesem Zusammenhang ist,dass gleiche Pflichten nicht gleiche Rechte hervorrufen.Ich glaube, dass wir die gesellschaftliche Realität in un-serem Land nicht nachvollziehen, und das ist das Pro-blem von CDU/CSU und von niemand anderem in die-sem Haus.
Der Kollege Silberhorn von der CDU/CSU-Fraktionhat hier erklärt, dass mit Ihnen eine Öffnung der Ehe, dasheißt eine Gleichstellung, nicht zu machen ist.
Nach ihm besteht die Leistung darin, das, was das Bun-desverfassungsgericht gerade erlaubt hat, umzusetzen.Ehrlich gesagt: Das ist peinlich. Wir sind Gesetzgeberund nicht Nachvollzieher.
Das ist etwas, was die CDU/CSU endlich einmal kapie-ren muss.Als wir damals hier über die Gesetzentwürfe von Rot-Grün zur gleichgeschlechtlichen Ehe diskutiert haben,gab es aufseiten der CDU/CSU jede Menge Bedenken.Seitdem ist zwar vieles passiert, aber von dem, was dieCDU/CSU befürchtet hat, ist nichts eingetreten.
Wir alle haben gemerkt, dass es in diesem Land positiveReaktionen gegeben hat. Wenn ich an die Reden desKollegen Geis denke,
an all das, was er uns hier zugemutet hat, muss ich fest-stellen: Die Menschen in diesem Land sind deutlich wei-ter als CDU und CSU.
Dass der Kollege Silberhorn seine Redezeit nicht ein-mal zur Hälfte ausgeschöpft hat, ist verständlich. Er hathalt keine Argumente gehabt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22413
Johannes Kahrs
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Ich kann mir lebhaft vorstellen, wie die Diskussion inder CDU/CSU-Fraktion verlaufen ist, als man zu diesemTagesordnungspunkt einen Redner finden musste.
Sehr viele werden sich zurückgelehnt haben. Keinerwollte reden. Dann wird man nach jemandem gesuchtund sich gedacht haben: Mit einem sicheren Wahlkreisin Bayern kommt man mit so etwas noch um die Kurve.Ich glaube aber, bezogen auf ganz Deutschland gilt dasnicht mehr. Man muss sogar in der CDU/CSU-Fraktionsehr lange suchen, um einen Redner zu finden, der indiesem Hohen Hause so einen Unsinn vorträgt.
Das CSD-Komitee Köln hat eine Umfrage gemacht,die zeigt, dass es selbst CDU/CSU-Kollegen gibt, diediesem Gesetzentwurf zustimmen wollen; sie stehendazu. Auch wenn man es aus tiefstem innerstem Herzennicht will, Herr Kauder, wäre es trotzdem schön, wennman sich einen Ruck gäbe und über seine ideologischeBarriere springen würde.
Es geht dabei um Menschen wie mich – ich lebe seit18 Jahren mit meinem Freund zusammen –, die sichsolch eine Eheschließung vorstellen können.
– Ja, aber dann muss man auch gleiche Rechte haben.
Herr Kauder: „Machen Sie es doch!“, ist schön ge-sagt, aber dann sollten wir hier auch gleiche Pflichtenund gleiche Rechte fordern. Ich dachte immer, geradebei den Konservativen würde darauf Wert gelegt, dassman zueinander hält und dass man Dinge gemeinsammacht. Ich persönlich bin sehr enttäuscht. Ich glaube,dass Sie sich in den nächsten Jahren entwickeln müssen.Keine Großstadtpartei wird sich so eine Einstellunglange leisten können; dies geht vielleicht in Bayern, viel-leicht in einem ländlichen Wahlkreis. Deswegen solltenSie zweimal mit Ja, zweimal für gleiche Rechte und glei-che Pflichten, stimmen.Vielen Dank.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache.
Mir liegen eine Reihe von Erklärungen nach § 31 un-serer Geschäftsordnung vor.1)Wir kommen zur Abstimmung über den Entschlie-ßungsantrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen aufDrucksache 17/10133 zu ihrer Großen Anfrage. Wirstimmen nun über den Entschließungsantrag auf Verlan-gen der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen namentlich ab.Ich möchte darauf hinweisen, dass wir gleich im An-schluss noch eine weitere namentliche Abstimmungdurchführen werden.Nun bitte ich die Schriftführerinnen und Schriftfüh-rer, die vorgesehenen Plätze einzunehmen. – Darf ichnachfragen, ob an irgendeiner Urne noch die entspre-chenden Schriftführer fehlen? – Das ist nicht der Fall. Essind also alle Urnen besetzt.Ich eröffne die erste namentliche Abstimmung.Ist noch ein Mitglied des Hauses anwesend, das in derersten namentlichen Abstimmung seine Stimme nichtabgegeben hat? – Das ist nicht der Fall. Ich schließe dieAbstimmung und bitte die Schriftführerinnen undSchriftführer, mit der Auszählung zu beginnen.2)Liebe Kolleginnen und Kollegen, bevor ich zurnächsten Abstimmung komme, weise ich darauf hin,dass wir unmittelbar nach dieser namentlichen Abstim-mung weitere Abstimmungen zu diesem Tagesordnungs-punkt haben.Wir kommen nun zur Abstimmung über den Entwurfeines Gesetzes der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen zurEinführung des Rechts auf Eheschließung für Personengleichen Geschlechts. Der Rechtsausschuss empfiehltunter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung aufDrucksache 17/9611, den Gesetzentwurf der FraktionBündnis 90/Die Grünen auf Drucksache 17/6343 abzu-lehnen. Hierzu liegt ein Änderungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen vor, über den wir zuerst abstim-men.Darf ich Sicht zu den einzelnen Geschäftsführern ha-ben, damit ich weiß, wie sich die Fraktionen positionie-ren? – Wer stimmt für den Änderungsantrag auf Druck-sache 17/10185? – Das sind die Fraktionen desBündnisses 90/Die Grünen, der Sozialdemokraten undder Linken. Wer stimmt dagegen? – Das sind die Koali-tionsfraktionen. Ich frage nach den Enthaltungen! – EineStimmenthaltung. Der Änderungsantrag ist abgelehnt.Wir stimmen nun über den Gesetzentwurf namentlichab. Ich bitte die Schriftführerinnen und Schriftführer, dievorgesehenen Plätze einzunehmen. – Alle stehen bereit,alle Urnen sind besetzt. Somit eröffne ich die zweite na-mentliche Abstimmung.Ist ein Mitglied des Hauses anwesend, das seineStimme noch nicht abgegeben hat? – Das ist nicht derFall. Dann schließe ich die Abstimmung. Ich bitte dieSchriftführerinnen und Schriftführer, mit der Auszäh-1) Anlagen 2 bis 102) Ergebnis Seite 22416 C
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lung zu beginnen. Die Ergebnisse der namentlichen Ab-stimmung werden Ihnen später bekannt gegeben1).Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich bitte um Auf-merksamkeit.Tagesordnungspunkt 11 c. Beschlussempfehlung desRechtsausschusses zu dem Antrag der Fraktion der So-zialdemokraten mit dem Titel „Recht auf Eheschließungauch gleichgeschlechtlichen Paaren ermöglichen“. DerAusschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/9611, den Antragder Fraktion der SPD auf Drucksache 17/8155 abzuleh-nen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Dassind die Koalitionsfraktionen. Gegenprobe! – Das sinddie Sozialdemokraten, die Fraktion Bündnis 90/Die Grü-nen und die Linksfraktion sowie zwei Gegenstimmenvon der FDP. Enthaltungen? – Keine. Die Beschluss-empfehlung ist angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-ordnungspunkt 12 a und b auf:a) Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines ZweitenGesetzes zur Änderung arzneimittelrechtli-cher und anderer Vorschriften– Drucksache 17/9341 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Gesundheit
– Drucksache 17/10156 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Marlies Volkmerb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
Dr. Martina Bunge, Diana Golze, Matthias W.Birkwald, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion DIE LINKEFür gute Arzneimittelversorgung Versandhan-del auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen– Drucksachen 17/9556, 17/10156 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Marlies VolkmerNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine Dreiviertelstunde vorgesehen. – Sie allesind damit einverstanden. Dann haben wir das gemein-sam so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für dieBundesregierung die Parlamentarische StaatssekretärinFrau Kollegin Ulrike Flach. Bitte schön, Frau KolleginUlrike Flach.
U
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine Damen und Her-ren! Der Entwurf eines Zweiten Gesetzes zur Änderungarzneimittelrechtlicher und anderer Vorschriften enthältim Wesentlichen Änderungen im Arzneimittelgesetz,veranlasst durch ein neues EU-Recht, und darüber hi-naus weitere wichtige Änderungen in anderen Gesetzen,insbesondere im Fünften Buch Sozialgesetzbuch.Hauptanliegen der Regelungen im Arzneimittelgesetzsind die Stärkung der Arzneimittelsicherheit und derSchutz vor gefälschten Arzneimitteln. Zur Stärkung derArzneimittelsicherheit wurden die Überprüfungsmög-lichkeiten für Zulassungsbehörden erweitert, das Melde-verfahren bei Nebenwirkungen gestrafft und mehrTransparenz im Hinblick auf zugelassene Arzneimittelgeschaffen. Gefälschte Arzneimittel stellen auch in Eu-ropa ein wachsendes Problem dar. Mit den im Gesetzent-wurf vorgesehenen Regelungen gehen wir die Bekämp-fung dieses Problems aktiv an.Von den Änderungen in den anderen Gesetzen möchteich die folgenden besonders hervorheben:Im SGB V befassen wir uns vor allem mit der Verbes-serung der Betäubungsmittelversorgung ambulanter Pal-liativpatienten und greifen damit zentrale Forderungenvon Hospiz- und Palliativverbänden auf.
Um eine absehbare palliativmedizinische Krisensitua-tion zu überbrücken, kann der Arzt Schwerstkrankenkünftig ein Betäubungsmittel ausnahmsweise überlas-sen, wenn die Besorgung des Medikaments aus der Apo-theke nicht rechtzeitig möglich ist. Damit verbessern wirübrigens in einem weiteren Schritt die Situationschwerstkranker Patienten in Deutschland.Mit dem AMNOG wurde die frühe Nutzenbewertungals lernendes System eingeführt. Mit diesem Gesetz wer-den nun aufgrund der ersten Erfahrungen einige Anpas-sungen vorgenommen.So können pharmazeutische Unternehmer für eineÜbergangszeit unvollständige Nutzendossiers nachbes-sern und jederzeit eine neue Nutzenbewertung beim G-BAbeantragen. Außerdem soll der G-BA bei Beratungendes pharmazeutischen Unternehmens zur Planung vonStudien die Zulassungsbehörden beteiligen. Darüber hi-naus wird durch eine Vorschrift zur Ländergewichtungdie bestehende Regelung über die Berücksichtigung derArzneimittelpreise in anderen europäischen Ländernkonkretisiert.Meine Damen und Herren, ich will an dieser Stelleganz ausdrücklich sagen: Wir haben uns natürlich auchmit dem Thema Vertraulichkeit befasst. Ein Erfolg unse-rer Bemühungen ist: Die Erstattungspreise für neue Arz-neimittel, die ausgehandelt wurden, bleiben weiter öf-fentlich. Wir sehen bisher ein ausgewogenes Handeln,behalten die Entwicklung aber gerade auch im Hinblickauf die zurzeit laufenden Verhandlungen sehr genau imAuge.In Zukunft können Apotheken und Krankenkassengemeinsam den Austausch bestimmter Arzneimittel inder Apotheke verbieten, und ebenso können sie sich inZukunft darauf verlassen, dass kein Arzt wegen verord-neter Arzneimittel in Regress genommen werden kann, 1) Ergebnis Seite 22418 D
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Parl. Staatssekretärin Ulrike Flach
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wenn er nicht zuvor beraten worden ist. Weil es immerwieder Fragen danach gibt, will ich das an dieser Stelleausdrücklich sagen: Das gilt auch für Prüfverfahren, dieEnde 2011 noch nicht abgeschlossen waren.
Wir halten damit am Kurs des AMNOG fest. Dasheißt, die Erreichung des Ziels der Sicherung des Inno-vationsstandorts Deutschland bei gleichzeitig bester Ver-sorgung der Patienten zu bezahlbaren Preisen bleibt ge-wahrt, und darauf sind wir stolz.Ich will an dieser Stelle kurz noch Folgendes zu denLinken sagen – die Zeit ist knapp –: Das Verbot des Ver-sandhandels mit verschreibungspflichtigen Arzneimit-teln stößt auf erhebliche verfassungsrechtliche Beden-ken. Wir wollen eben keinen ungerechtfertigten Eingriffin die grundrechtlich geschützte Berufsausübungsfrei-heit. Wir haben aber etwas getan, was es vorher inDeutschland nicht gegeben hat: Zur Herstellung gleicherWettbewerbsbedingungen für Versandapotheken ist imvorliegenden Gesetzentwurf die Klarstellung vorgese-hen, dass die deutsche Arzneimittelpreisverordnungauch für den Versandhandel aus dem Ausland nachDeutschland gilt. Das heißt, gleiches Recht für alle! Dasist uns so viel wert, dass wir das extra mit in diesen Ge-setzentwurf hineingeschrieben haben.
Meine Damen und Herren, ich glaube, wir haben aufdiese Art und Weise im Arzneimittelbereich vieles nochbesser gestalten können, als es in diesem Lande sowiesoschon ist. Ich bitte sehr um Ihre Unterstützung und freuemich auf eine angeregte Diskussion.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Staatssekretärin. – Nächste Redne-
rin in unserer Aussprache ist für die Fraktion der Sozial-
demokraten unsere Kollegin Frau Marlies Volkmer. Bitte
schön, Frau Kollegin Volkmer.
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Sehr geehrte Damen und Herren! Liebe Frau Flach, dieBundesregierung kann froh darüber sein, dass die Koali-tion noch so viele Änderungsanträge eingebracht hat,unter anderem die zur Änderung des Betäubungsmittel-gesetzes; denn diese Änderungen sind vernünftig, unddiesen Änderungen haben wir als SPD im Gesundheits-ausschuss auch zugestimmt.Kern dieser Änderungen ist, dass sich schwerstkrankePatientinnen und Patienten mit starken Schmerzen, diezu Hause versorgt werden, darauf verlassen können müs-sen, dass sie bedarfsgerecht mit Schmerzmitteln versorgtwerden. Das ist vernünftig. Das halten wir für richtig.
Erfolgreich hat sich unsere SPD-Fraktion gegen diePläne der Pharmaindustrie und der Union gestellt, künf-tig die Preise von neuen Arzneimitteln zu verheimlichen.Die Koalition hat richtigerweise auf einen solchen An-trag verzichtet, obwohl die Union die Erwartung beiLobbyisten durchaus geweckt hatte. Es ist gut, dass einsolcher Antrag nicht gekommen ist, denn es ist notwen-dig, dass die Öffentlichkeit weiterhin erfährt, auf wel-chen Preis sich die Krankenkassen mit den Pharmaunter-nehmen geeinigt haben. Wir brauchen im Gesundheits-wesen nicht weniger, sondern mehr Transparenz.
Das war das Positive, aber es gibt auch Negatives.
Dieser Gesetzentwurf hat nach wie vor viele Mängel.Herr Zöller, Sie wissen schon, was jetzt kommt. Bei derUmsetzung der EU-Richtlinie in deutsches Recht sindRegelungen hineingekommen, die nicht im Interesse vonVerbraucherinnen und Verbrauchern, Patientinnen undPatienten sind. Sie haben zum Beispiel nicht dafür ge-sorgt, dass alle Arzneimittel nach den Maßgaben der gel-tenden UN-Behindertenrechtskonvention gekennzeich-net werden müssen. Es ist zum Beispiel nach wie vornicht Pflicht, Augentropfen und Sicherheitsmerkmaleauf Medikamentenpackungen für blinde und sehbehin-derte Menschen ertastbar zu machen.Sie haben in diesem Gesetzentwurf Regelungen ge-troffen, die wir rundheraus ablehnen. Das sind an ersterStelle Lockerungen im Heilmittelwerbegesetz. Ich sageIhnen dies auch als Ärztin: Wir brauchen nicht mehr ver-kaufsfördernde Angebote für Arzneimittel, sondernmehr objektive und verständliche Informationen für Pa-tientinnen und Patienten.
Sie wollen jedoch erlauben, dass mit Gutachten ge-worben werden kann. Sie tun allerdings nichts, um dieVerbraucherinnen und Verbraucher vor manipulativenAussagen zu schützen. Es ist doch vorherzusehen: Eswird mit positiven Gutachten geworben, und die negati-ven Gutachten werden in der Schublade verschwinden.Dieser Art Rosinenpickerei wird durch diesen Gesetz-entwurf Tür und Tor geöffnet.Durch die jetzt mögliche Nutzung von einseitigenGutachten, Krankengeschichten und Berichten von Pa-tientenschicksalen zu Werbezwecken wird bei Patientin-nen und Patienten ein völlig verzerrtes Bild vom Nutzenvon Medikamenten erzeugt. Das kann nicht nur zu Fehl-entscheidungen führen, sondern auch das Vertrauensver-hältnis zwischen Arzt und Patient gefährden, nämlichdann, wenn die Aussagen des behandelnden Arztes imkrassen Gegensatz zu dem stehen, was sich der Patient inden zum Teil sehr suggestiven Darstellungen der Wer-bung angelesen hat. Bei den Kranken kann dann die Ver-
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Dr. Marlies Volkmer
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mutung aufkommen, der Mediziner würde ihnen diebeste Therapie vorenthalten.Gegen die Interessen von Patientinnen und Patientenist auch eine Ausnahme von der Versicherungspflicht beiklinischen Prüfungen von Arzneimitteln mit geringemRisiko. Dadurch wird das Schutzniveau von Teilneh-mern solcher Studien in unzumutbarer Weise gesenkt.Ich möchte noch ein weiteres Beispiel nennen: Diebedarfsgerechte Bereitstellung lebenswichtiger Arznei-mittel und Impfstoffe muss kontinuierlich gewährleistetsein. Es ist ein Armutszeugnis für die Bundesregierung,dass sie keine Regelung gefunden hat, Bundesländerngeeignete Maßnahmen zu ermöglichen, wenn erheblicheVersorgungsengpässe drohen, zum Beispiel bei Impf-stoffbereitstellungen.Meine Damen und Herren, hinter dem sperrigen Titeldieses Gesetzes „Zweites Gesetz zur Änderung arznei-mittelrechtlicher und anderer Vorschriften“ verbergensich nicht nur technische Umsetzungsdetails, sondern esbetrifft auch viele Maßnahmen, von denen die Patientin-nen und Patienten ganz unmittelbar betroffen sind. Da-runter sind eben auch leider viele negative Maßnahmen.Aus diesem Grund lehnen wir diesen Gesetzentwurf ab.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Marlies Volkmer.Bevor ich dem nächsten Redner das Wort gebe, darfich Ihnen die von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern ermittelten Ergebnisse der zwei namentlichen Ab-stimmungen bekannt geben. Zunächst das von denSchriftführerinnen und Schriftführern ermittelte Ergeb-nis der namentlichen Abstimmung über den Gesetzent-wurf der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen: „Entwurf ei-nes Gesetzes zur Einführung des Rechts auf Ehe-schließung für Personen gleichen Geschlechts“. Abgege-bene Stimmen 581. Mit Ja haben gestimmt 260, mit Neinhaben gestimmt 309, Enthaltungen 12. Der Gesetzent-wurf ist damit abgelehnt.Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 583;davonja: 265nein: 309enthalten: 9JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroßWolfgang GunkelBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerFritz Rudolf KörperAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesFDPMichael KauchDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberJan Mücke
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Vizepräsident Eduard Oswald
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DIE LINKEAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertSabine LeidigRalph LenkertUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichJohanna VoßHalina WawzyniakHarald WeinbergJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerJerzy MontagKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-KuhnHans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas Mattfeldt
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22418 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Stephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteDr. Michael PaulRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-Drüggelte
Detlef SeifReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Karl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter GeisenDr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorPetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinHartfrid Wolff
EnthaltenCDU/CSUDr. Stefan KaufmannJürgen KlimkeIngo WellenreutherDr. Matthias ZimmerDIE LINKEKarin BinderInge HögerAndrej HunkoUlla JelpkeNiema MovassatNun das von den Schriftführerinnen und Schriftfüh-rern ermittelte Ergebnis der zweiten namentlichen Ab-stimmung über den Entschließungsantrag der FraktionBündnis 90/Die Grünen: „Verfassungsmäßigkeit der be-stehenden Ungleichbehandlung eingetragener Le-benspartnerschaften gegenüber Ehen“. AbgegebeneStimmen 584. Mit Ja haben gestimmt 266, mit Nein ha-ben gestimmt 309, Enthaltungen 9. Der Entschließungs-antrag ist abgelehnt.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22419
Vizepräsident Eduard Oswald
(C)
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Endgültiges ErgebnisAbgegebene Stimmen: 581;davonja: 260nein: 309enthalten: 12JaSPDIngrid Arndt-BrauerRainer ArnoldHeinz-Joachim BarchmannDoris BarnettDr. Hans-Peter BartelsKlaus BarthelSören BartolBärbel BasDirk BeckerUwe BeckmeyerLothar Binding
Gerd BollmannKlaus BrandnerWilli BraseBernhard Brinkmann
Edelgard BulmahnMarco BülowUlla BurchardtMartin BurkertPetra CroneDr. Peter DanckertMartin DörmannElvira Drobinski-WeißSebastian EdathyIngo EgloffSiegmund EhrmannDr. h. c. Gernot ErlerPetra ErnstbergerKarin Evers-MeyerElke FernerGabriele FograscherDr. Edgar FrankeDagmar FreitagMichael GerdesMartin GersterIris GleickeGünter GloserUlrike GottschalckAngelika Graf
Kerstin GrieseMichael GroßWolfgang GunkelBettina HagedornKlaus HagemannMichael Hartmann
Hubertus Heil
Wolfgang HellmichDr. Barbara HendricksGustav HerzogGabriele Hiller-OhmPetra Hinz
Frank Hofmann
Dr. Eva HöglChristel HummeJosip JuratovicOliver KaczmarekJohannes KahrsDr. h. c. Susanne KastnerUlrich KelberLars KlingbeilDr. Bärbel KoflerFritz Rudolf KörperAngelika Krüger-LeißnerUte KumpfChristine LambrechtChristian Lange
Dr. Karl LauterbachSteffen-Claudio LemmeBurkhard LischkaGabriele Lösekrug-MöllerKirsten LühmannCaren MarksKatja MastHilde MattheisPetra Merkel
Ullrich MeßmerDr. Matthias MierschFranz MünteferingDr. Rolf MützenichAndrea NahlesDietmar NietanManfred NinkThomas OppermannHolger OrtelAydan ÖzoğuzHeinz PaulaJohannes PflugJoachim PoßDr. Wilhelm PriesmeierFlorian PronoldDr. Sascha RaabeMechthild RawertStefan RebmannGerold ReichenbachDr. Carola ReimannSönke RixDr. Ernst Dieter RossmannKarin Roth
Michael Roth
Marlene Rupprecht
Annette SawadeAnton SchaafAxel Schäfer
Bernd ScheelenMarianne Schieder
Werner Schieder
Ulla Schmidt
Carsten Schneider
Ottmar SchreinerSwen Schulz
Ewald SchurerFrank SchwabeDr. Martin SchwanholzRolf SchwanitzStefan SchwartzeRita Schwarzelühr-SutterDr. Carsten SielingSonja SteffenPeer SteinbrückDr. Frank-Walter SteinmeierChristoph SträsserKerstin TackDr. h. c. Wolfgang ThierseFranz ThönnesWolfgang TiefenseeRüdiger VeitUte VogtDr. Marlies VolkmerAndrea WickleinHeidemarie Wieczorek-ZeulDr. Dieter WiefelspützWaltraud Wolff
Uta ZapfDagmar ZieglerManfred ZöllmerBrigitte ZypriesDIE LINKEAgnes AlpersDr. Dietmar BartschHerbert BehrensMatthias W. BirkwaldEva Bulling-SchröterDr. Martina BungeRoland ClausDr. Diether DehmHeidrun DittrichWerner DreibusDr. Dagmar EnkelmannKlaus ErnstWolfgang GehrckeNicole GohlkeDiana GolzeDr. Gregor GysiHeike HänselDr. Rosemarie HeinDr. Barbara HöllDr. Lukrezia JochimsenKatja KippingHarald KochJan KorteJutta KrellmannKatrin KunertSabine LeidigRalph LenkertUlla LötzerDr. Gesine LötzschThomas LutzeUlrich MaurerDorothée MenznerCornelia MöhringKornelia MöllerWolfgang NeškovićThomas NordPetra PauJens PetermannRichard PitterleYvonne PloetzIngrid RemmersPaul Schäfer
Michael SchlechtDr. Ilja SeifertKathrin Senger-SchäferRaju SharmaDr. Petra SitteKersten SteinkeSabine StüberAlexander SüßmairDr. Kirsten TackmannFrank TempelDr. Axel TroostAlexander UlrichJohanna VoßHalina WawzyniakHarald WeinbergJörn WunderlichSabine ZimmermannBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENKerstin AndreaeMarieluise Beck
Volker Beck
Cornelia BehmBirgitt BenderAgnes BruggerEkin DeligözKatja DörnerHarald EbnerHans-Josef FellDr. Thomas GambkeKai GehringKatrin Göring-EckardtBritta HaßelmannBettina HerlitziusPriska Hinz
Dr. Anton HofreiterBärbel HöhnIngrid HönlingerThilo HoppeUwe KekeritzKatja KeulMemet KilicSven-Christian KindlerMaria Klein-SchmeinkUte KoczyTom KoenigsSylvia Kotting-UhlOliver KrischerAgnes KrumwiedeFritz KuhnStephan KühnRenate KünastMarkus KurthUndine Kurth
Monika LazarDr. Tobias LindnerKerstin Müller
Beate Müller-GemmekeDr. Konstantin von NotzOmid NouripourFriedrich OstendorffDr. Hermann E. OttLisa PausBrigitte PothmerTabea RößnerClaudia Roth
Krista SagerManuel SarrazinElisabeth ScharfenbergDr. Gerhard SchickDr. Frithjof SchmidtUlrich SchneiderDorothea SteinerDr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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22420 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Vizepräsident Eduard Oswald
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Hans-Christian StröbeleDr. Harald TerpeMarkus TresselJürgen TrittinDaniela WagnerBeate Walter-RosenheimerArfst Wagner
Wolfgang WielandDr. Valerie WilmsJosef Philip WinklerNeinCDU/CSUIlse AignerPeter AltmaierPeter AumerDorothee BärThomas BareißNorbert BarthleGünter BaumannErnst-Reinhard Beck
Manfred Behrens
Veronika BellmannDr. Christoph BergnerPeter BeyerSteffen BilgerClemens BinningerPeter BleserDr. Maria BöhmerWolfgang Börnsen
Wolfgang BosbachNorbert BrackmannKlaus BrähmigMichael BrandDr. Reinhard BrandlHelmut BrandtDr. Ralf BrauksiepeDr. Helge BraunHeike BrehmerRalph BrinkhausCajus CaesarGitta ConnemannAlexander DobrindtThomas DörflingerMarie-Luise DöttDr. Thomas FeistEnak FerlemannIngrid FischbachHartwig Fischer
Dirk Fischer
Dr. Maria FlachsbarthKlaus-Peter FlosbachHerbert FrankenhauserDr. Hans-Peter Friedrich
Michael FrieserErich G. FritzDr. Michael FuchsHans-Joachim FuchtelAlexander FunkIngo GädechensDr. Thomas GebhartNorbert GeisAlois GerigEberhard GiengerMichael GlosJosef GöppelPeter GötzDr. Wolfgang GötzerReinhard GrindelHermann GröheMichael Grosse-BrömerMarkus GrübelManfred GrundMonika GrüttersOlav GuttingFlorian HahnDr. Stephan HarbarthJürgen HardtGerda HasselfeldtDr. Matthias HeiderHelmut HeiderichMechthild HeilUrsula Heinen-EsserFrank HeinrichRudolf HenkeMichael HennrichJürgen HerrmannAnsgar HevelingErnst HinskenChristian HirteRobert HochbaumKarl HolmeierFranz-Josef HolzenkampJoachim HörsterAnette HübingerThomas JarzombekDieter JasperDr. Franz Josef JungAndreas Jung
Dr. Egon JüttnerBartholomäus KalbHans-Werner KammerSteffen KampeterAlois KarlBernhard Kaster
Volker KauderRoderich KiesewetterEckart von KlaedenEwa KlamtVolkmar KleinAxel KnoerigJens KoeppenManfred KolbeDr. Rolf KoschorrekHartmut KoschykThomas KossendeyMichael KretschmerGunther KrichbaumDr. Günter KringsRüdiger KruseBettina KudlaDr. Hermann KuesGünter LachDr. Karl A. Lamers
Andreas G. LämmelDr. Norbert LammertKatharina LandgrafUlrich LangeDr. Max LehmerPaul LehriederDr. Ursula von der LeyenIngbert LiebingMatthias LietzDr. Carsten LinnemannPatricia LipsDr. Jan-Marco LuczakDaniela LudwigDr. Michael LutherKarin MaagDr. Thomas de MaizièreHans-Georg von der MarwitzAndreas MattfeldtStephan Mayer
Dr. Michael MeisterMaria MichalkDr. h. c. Hans MichelbachDr. Mathias MiddelbergPhilipp MißfelderDietrich MonstadtMarlene MortlerDr. Gerd MüllerStefan Müller
Dr. Philipp MurmannMichaela NollDr. Georg NüßleinFranz ObermeierEduard OswaldHenning OtteRita PawelskiUlrich PetzoldDr. Joachim PfeifferSibylle PfeifferBeatrix PhilippRonald PofallaChristoph PolandRuprecht PolenzEckhard PolsThomas RachelDr. Peter RamsauerEckhardt RehbergKatherina Reiche
Lothar RiebsamenJosef RiefKlaus RiegertDr. Heinz RiesenhuberJohannes RöringDr. Norbert RöttgenDr. Christian RuckErwin RüddelAlbert Rupprecht
Anita Schäfer
Dr. Wolfgang SchäubleDr. Annette SchavanKarl SchiewerlingNorbert SchindlerTankred SchipanskiGeorg SchirmbeckChristian Schmidt
Patrick SchniederDr. Andreas SchockenhoffNadine Schön
Dr. Ole SchröderBernhard Schulte-Drüggelte
Detlef SeifReinhold SendkerDr. Patrick SensburgBernd SiebertThomas SilberhornJohannes SinghammerJens SpahnCarola StaucheDr. Frank SteffelErika SteinbachChristian Freiherr von StettenDieter StierGero StorjohannStephan StrackeMax StraubingerKarin StrenzThomas Strobl
Lena StrothmannMichael StübgenDr. Peter TauberAntje TillmannDr. Hans-Peter UhlArnold VaatzVolkmar Vogel
Stefanie VogelsangAndrea Astrid VoßhoffDr. Johann WadephulMarco WanderwitzKai WegnerMarcus Weinberg
Peter Weiß
Sabine Weiss
Ingo WellenreutherKarl-Georg WellmannPeter WichtelAnnette Widmann-MauzKlaus-Peter WillschElisabeth Winkelmeier-BeckerDagmar G. WöhrlWolfgang ZöllerWilli ZylajewFDPJens AckermannChristian AhrendtChristine Aschenberg-DugnusDaniel Bahr
Florian BernschneiderSebastian BlumenthalClaudia BögelNicole Bracht-BendtKlaus BreilAngelika BrunkhorstErnst BurgbacherMarco BuschmannSylvia CanelHelga DaubReiner DeutschmannBijan Djir-SaraiPatrick DöringMechthild DyckmansRainer ErdelJörg van EssenUlrike FlachOtto FrickeDr. Edmund Peter Geisen
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Vizepräsident Eduard Oswald
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Dr. Wolfgang GerhardtHans-Michael GoldmannHeinz GolombeckMiriam GrußJoachim Günther
Dr. Christel Happach-KasanHeinz-Peter HausteinManuel HöferlinElke HoffBirgit HomburgerHeiner KampDr. Lutz KnopekPascal KoberDr. Heinrich L. KolbGudrun KoppHolger KrestelPatrick Kurth
Heinz LanfermannSibylle LaurischkHarald LeibrechtSabine Leutheusser-SchnarrenbergerLars LindemannChristian LindnerDr. Martin Lindner
Michael Link
Dr. Erwin LotterHorst MeierhoferPatrick MeinhardtGabriele MolitorPetra Müller
Burkhardt Müller-SönksenDr. Martin Neumann
Dirk NiebelHans-Joachim Otto
Cornelia PieperGisela PiltzDr. Christiane Ratjen-DamerauJörg von PolheimDr. Birgit ReinemundDr. Peter RöhlingerDr. Stefan RuppertBjörn SängerFrank SchäfflerChristoph SchnurrJimmy SchulzMarina SchusterDr. Erik SchweickertWerner SimmlingJudith SkudelnyDr. Hermann Otto SolmsJoachim SpatzDr. Max StadlerTorsten StaffeldtDr. Rainer StinnerStephan ThomaeManfred TodtenhausenFlorian ToncarSerkan TörenJohannes Vogel
Dr. Daniel VolkDr. Claudia WintersteinHartfrid Wolff
EnthaltenCDU/CSUDr. Stefan KaufmannJürgen KlimkeDr. Matthias ZimmerFDPMichael KauchDr. h. c. Jürgen KoppelinSebastian KörberJan MückeDIE LINKEKarin BinderInge HögerAndrej HunkoUlla JelpkeNiema MovassatLiebe Kolleginnen und Kollegen, wir fahren in unse-rer Aussprache fort. Ich gebe das Wort für die Fraktionder CDU/CSU unserem Kollegen Johannes Singhammer.Bitte schön, Kollege Johannes Singhammer.
Herr Präsident! Meine sehr geehrten Damen und Her-ren! Frau Kollegin Dr. Volkmer, Sie haben Teile des Ent-wurfs eines Zweiten Arzneimittelmarktneuordnungsge-setzes gelobt. Sie hätten sich mit Ihrem Lob nicht aufTeile zu beschränken brauchen; denn dieser Gesetzent-wurf ist gut. Er steht natürlich im Zusammenhang mitdem ersten Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz, daswir vor zwei Jahren beschlossen haben und das einePunktlandung auf der Zielmarke der Sparsamkeit hinge-legt hat.Wir haben uns damals vorgenommen, im Arzneimit-telmarkt erstmals deutlich nachprüfbar zu sparen, undhaben alle Zielmarken eingehalten. Wir können jetzt er-freut zur Kenntnis nehmen, dass im ersten Quartal diesesJahres bei der gesetzlichen Krankenversicherung einÜberschuss von 1,5 Milliarden Euro zu verzeichnen istund dass insgesamt eine Rücklage im Fonds und bei ein-zelnen Kassen von annähernd 20 Milliarden Euro mitsteigender Tendenz zu verzeichnen ist. Das ist der Erfolgdieses Arzneimittelmarktneuordnungsgesetzes – dieBundesregierung hat hier die richtigen Rahmenbedin-gungen gesetzt –, mit dem neue Arbeitsplätze geschaffenworden sind und damit neue Beitragszahler gewonnenwerden konnten und durch das letztendlich auch wiederdie Einnahmen in der gesetzlichen Krankenkasse gestie-gen sind.Mit den Änderungen des Arzneimittelrechts setzenwir zugleich aber auch die europäischen Richtlinien zurVerbesserung der Pharmakovigilanz und zur Verhinde-rung des Eindringens gefälschter Arzneimittel in die le-gale Lieferkette in deutsches Recht um. Lassen Sie micheines ganz klar sagen: Niemand denkt bei uns daran, die-sen Erfolgskurs der Einsparungen zu verlassen und beiden Preisen für Arzneimittel kleine oder große Schleusenzu öffnen. Keine einzige Sparmaßnahme wird zurückge-nommen,
eingeschränkt oder aufgegeben.
Aber was wir machen wollen, ist, dieses lernendeSystem mit einer revolutionären Neuerung, nämlich demZusatznutzen und weiteren, bisher nicht vorhandenenneuen Verfahrensmaßstäben, so zu verbessern, dass diePartner in diesem System gut damit umgehen können. Inder Vergangenheit – ich darf darauf eingehen, Sie hattenes angesprochen – gab es Diskussionen um die Vertrau-lichkeit der verhandelten Beträge. Sie finden im Gesetz-entwurf nichts davon.
Es geht aber nicht darum, Frau Bender, Geheimnis-krämerei zu fördern und das Ausmauscheln in Hinter-zimmern gesetzlich abzusichern; es geht ausschließlichum die Frage, ob und wie der deutsche Gesetzgeber alsLeitmarkt in Deutschland auf Preisverhandlungen in an-deren Ländern, zum Beispiel Frankreich oder Griechen-land, Einfluss nehmen soll. An dieser Stelle sage ich: Esist nicht die Aufgabe des deutschen Gesetzgebers,
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Johannes Singhammer
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Preisverhandlungen in anderen Ländern zu beeinflussen,weder in die eine noch in die andere Richtung. Das warder Hintergrund dieser Diskussion.Jetzt haben wir eine klare, ausbalancierte Lösung indiesem lernenden System gefunden, die es erlaubt, dassdie Partner ein kluges Verfahren zur Preisgestaltung fin-den werden. Wir haben insbesondere eine Änderung indem komplexen Schiedsgerichtsverfahren vorgesehen.Beispielsweise soll die Schiedsstelle die Höhe des tat-sächlichen Abgabepreises in anderen europäischen Län-dern gewichtet nach tatsächlicher Kaufkraft im Verhält-nis zu Deutschland berücksichtigen.
So soll die Zulassungsbehörde bereits vor Beginn vonZulassungsstudien eine Beratung der beteiligten Unter-nehmen unter Beteiligung des Bundesinstituts für Arz-neimittel und Medizinprodukte oder des Paul-Ehrlich-Instituts durchführen. Das dient der Rechtssicherheit, derVerfahrensbeschleunigung und auch der Fairness.Wir beseitigen Wettbewerbsverzerrungen. Für deut-sche Apotheken und ausländische Versandapothekengelten künftig die gleichen Vorschriften.Lassen Sie mich an dieser Stelle noch eines erwäh-nen: Gesundheitspolitik ist gerade im Zusammenhangmit dem Bereich der Arzneimittel immer auch Industrie-politik. Wer Industriepolitik für notwendig erachtet, derdarf die Arzneimittelindustrie nicht davon ausnehmen.Die Wertschöpfung in Deutschland bei den Arzneimit-teln ist hoch. Mit etwa 104 000 hochqualifizierten Ar-beitnehmern, pharmazeutischen Erzeugnissen im Wertvon 27 Milliarden Euro und Exporten im Wert von51 Milliarden Euro trägt die Arzneimittelindustrie we-sentlich zur Wertschöpfung bei.Früher war Deutschland die Apotheke der Welt. Ichdenke, es macht Sinn und ist ein richtiger Anspruch, zu-mindest wieder in die Nähe dieses früher erreichten Ni-veaus zu kommen.Deutschland ist aufgrund seines industriellen Kernsverhältnismäßig gut durch die Finanz- und Wirt-schaftskrise gekommen. Kein anderes Land in Eu-ropa verfügt über eine so breite industrielle Wert-schöpfungskette wie Deutschland. Die besondereStärke des Wirtschaftsstandorts gründet auf demZusammenspiel der Industrieunternehmen – vor al-lem einem starken Mittelstand – und den damit ver-flochtenen Dienstleistungen.Zitatende. Ich erwarte jetzt insbesondere von der Sozial-demokratie lebhaften Beifall; denn dies sind die erstenSätze Ihres Antrags zur Industriepolitik, den Sie im Fe-bruar dieses Jahres in diesem Hohen Hause eingebrachthaben.An dieser Stelle sage ich: Industriepolitik ist keineKlientelpolitik, sondern sie nutzt den Arbeitnehmernund auch dem Finanzminister, weil er Steuern einnimmt.Sie nutzt aber vor allem letztendlich den Patientinnenund Patienten in Deutschland. Denn nur dann, wenn diemodernsten und besten Arzneimittel auch bei uns ange-boten werden und für die Menschen, die sie brauchen,verfügbar sind, können sie am medizinischen Fortschrittteilhaben.Wir wollen, dass die Patientinnen und Patienten inDeutschland weiter von den Sparmaßnahmen unsererRegierung und den eingeleiteten Maßnahmen profitie-ren. Wir wollen auch, dass sie die modernsten und wirk-samsten Arzneimittel sofort erhalten, ohne zeitliche Ver-zögerung bzw. ohne sie gar auf unsicheren Wegen imAusland erwerben zu müssen. Deshalb verbessern wirjetzt das Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz nachzwei Jahren. Ich bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Vielen Dank, Kollege Johannes Singhammer. –
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Dr. Martina Bunge. Bitte schön, Frau Kollegin
Dr. Martina Bunge.
Danke, Herr Präsident. – Liebe Kolleginnen und Kol-legen! Arzneimittel sind keine normalen Konsumgüter,und Patientinnen und Patienten sind keine Kundinnenund Kunden; darin müssten wir uns alle wohl einig sein.
Daher ist Arzneimittelwerbung immer ein heiklesThema. Wir begrüßen ausdrücklich, dass der Versuchder Europäischen Kommission, das Verbot der Werbungfür rezeptpflichtige Arzneimittel de facto abzuschaffen,gescheitert ist und auch der unselige Kompromissvor-schlag vermutlich gestoppt wird. Daran hat die Bundes-regierung ihren Anteil – sicherlich haben wir im Aus-schuss ebenfalls darauf hingewirkt –, und das darf aucheinmal gesagt werden, Frau Staatssekretärin.
Umso unverständlicher ist aber, dass Sie nichts unter-nommen haben und auch weiterhin nichts unternehmen,um die so wichtigen Werbebeschränkungen bei rezept-freien Arzneimitteln in Deutschland zu erhalten. Dasdeutsche Heilmittelwerbegesetz ist eindeutig besser alsdie europäische Richtlinie. Nach dem Urteil des Euro-päischen Gerichtshofs 2007 war klar, dass die Bundesre-gierung hätte handeln müssen. Aber sie hat fünf Jahreverstreichen lassen und gar nichts getan. Die EU-Richtli-nie war sowieso in Überarbeitung. Warum haben Siekeine Initiative im Rat gestartet mit dem Ziel, dieseRichtlinie zumindest an die deutsche Regelung anzupas-sen? Nun, nach so langer Zeit, nach fünf Jahren, mitUmsetzungsdruck zu argumentieren, nehmen wir Ihnennicht ab.
Dieses Gesetz offenbart ganz genau, wohin Sie wol-len. Sie öffnen der Desinformation der Menschen Türund Tor, vor allen Dingen der Menschen, die auf Hilfedurch Arzneimittel hoffen. Wenn mit Studien geworben
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Dr. Martina Bunge
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wird, die niemand nachprüfen muss, wenn mit Expertengeworben wird, deren Sachkenntnis niemand belegenmuss, und wenn mit wichtigtuenden Menschen in wei-ßen Kitteln geworben werden kann, dann dient das unse-res Erachtens nicht der Information, sondern ausschließ-lich der Umsatzmaximierung. Das werden wir aufkeinen Fall mittragen.
Wenn Sie aber für gute und objektive Information derBevölkerung stehen würden und gegen eine Ausweitungirreführender Werbung wären und dafür erkennbar inEuropa eintreten würden, dann würden wir gerne mit Ih-nen gemeinsam kämpfen. Sie wissen: Uns geht es umdie Sache. Auch beim vorliegenden Gesetz haben wirden Änderungen betreffend die Palliativmedizin zurÜberlassung von starken Schmerzmitteln, die dem Be-täubungsmittelgesetz unterliegen, zugestimmt. Sie sehenalso, dass für uns die Fachfragen Vorrang haben.Einen Schwerpunkt des Gesetzes bildet die Einfüh-rung von Regeln, die dazu dienen, Fälschungen in derdeutschen Handelskette zu verhindern. Dieses Ziel teilenwir doch sicherlich alle. Doch mit welchen Mitteln wol-len Sie das erreichen? Jede einzelne Packung soll beimHersteller eine Nummer bekommen. Diese Nummernwerden zentral gespeichert. Die Apotheke trägt dieseNummern bei der Abgabe wieder aus. Das klingt ersteinmal trivial. Aber in Wirklichkeit handelt es sich wie-der einmal um ein technologisches Großprojekt, das dieEU – so ist es veranschlagt – bis zu 9 Milliarden Eurokostet. Wie viele Fälschungen gibt es denn überhaupt imlegalen Handel? Die Statistik sagt: fast keine. So gut wiealle Fälschungen kommen aus dem illegalen Onlinehan-del. Aber dagegen richten Sie mit den 9 Milliarden Euroüberhaupt nichts aus.Wir als Linke haben Ihnen wegen dieser Ausgangs-lage in Übereinstimmung mit dem Beschluss des Bun-desrates den Antrag vorgelegt, den Versandhandel soweit wie möglich zu beschränken. Wir wollen, dass klarist: Arzneimittelsicherheit und Internethandel kann mannicht zusammenbringen. Es gibt keinen Weg, legale Ver-sandapotheken von illegalen für die Menschen deutlichunterscheidbar zu machen. Es gibt keinen Weg, eine guteBetreuung online zu gewährleisten. Es gibt keinen Weg,die vollkommen unangemessenen Abholstellen zu ver-bieten. Ihr Weg, ausländische Versandapotheken an dasdeutsche Recht zu binden und damit für faire Wettbe-werbsbedingungen zu sorgen, wird von uns als nichtausreichend wirksam eingeschätzt. Diese Einschätzunggibt es nicht nur bei uns, Frau Staatssekretärin.Ich fordere Sie auf, mit uns für eine transparente undschlanke Handelskette, die einer effektiven Bekämpfungvon Fälschungen dient, einzutreten, statt Milliarden zuverpulvern, die letztlich wieder nur die Beitragszahlerin-nen und Beitragszahler bezahlen müssen. Die von unsgeforderte Beschränkung des Versandhandels ist derrichtige Weg. Haben Sie den Mut, zuzustimmen. IhreKolleginnen und Kollegen in den Ländern hatten ihnauch.Danke.
Vielen Dank, Frau Kollegin Dr. Bunge. – Nächste
Rednerin in unserer Aussprache ist für die Fraktion
Bündnis 90/Die Grünen unsere Kollegin Birgitt Bender.
Bitte schön, Frau Kollegin Birgitt Bender.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Wie schondeutlich wurde, widmet sich die Novelle in erster Linieder Umsetzung der neuen EU-Richtlinien zur Pharmako-vigilanz und zur Verhinderung des Eindringens gefälsch-ter Arzneimittel in die legale Lieferkette. Die Debatte istjedoch eher von anderen Themen beherrscht worden.Um mit dem Positiven anzufangen: Auch wir begrü-ßen es, dass Ärztinnen und Ärzte in der ambulanten Pal-liativversorgung jetzt unter bestimmten VoraussetzungenBetäubungsmittel abgeben dürfen. Das ist eine dringendnotwendige, patientenfreundliche Regelung, der wir des-wegen auch zugestimmt haben.
Ein bisschen anders sieht es da aus, wo Werbung fürrezeptfreie Arzneimittel in stärkerem Maße ermöglichtwird. Das ist in der EU-Richtlinie angelegt. Man hätte esaber nicht so weit öffnen müssen, wie es jetzt hier imGesetz geschieht. Wir befürchten, dass das, da man dieSpielräume, bestimmte Beschränkungen beizubehalten,nicht ausgeschöpft hat, keine Regelung im Sinne derVerbraucherinnen und Verbraucher ist.Gut ist wiederum, dass Sie in der Anhörung etwas ge-lernt haben und dass bei der Überprüfung der Qualifika-tion der Ärztinnen und Ärzte, die klinische Studiendurchführen, nachgebessert wurde. Dennoch verschlech-tert sich – das ist festzuhalten – die Position der Men-schen, die als Probandinnen und Probanden an solchenStudien teilnehmen, weil dort nämlich Ausnahmen vonder Versicherungspflicht vorgesehen sind. Diese Kritikhaben Sie leider nicht aufgegriffen.Wir begrüßen wiederum die verlängerten Übergangs-fristen zur formalen Anpassung der Packungsbeilagenvon registrierten Arzneimitteln der Komplementärmedi-zin. Damit wird eine Überforderung der Firmen verhin-dert, die sehr viele, aber umsatzschwache Medikamentevertreiben. Deswegen ist das auch richtig so.Die Koalition hat sich allerdings – auch das gehörtzur Wahrheit – davor gedrückt, das von mir in der erstenLesung angesprochene strukturelle Problem der Gleich-behandlung von komplementär- und schulmedizinischenArzneimitteln bei der OTC-Ausnahmeliste anzugehen.Das bedauern wir sehr.
Nun zum AMNOG. Herr Singhammer, Sie habenschon die sogenannte Vertraulichkeit angesprochen. Ichrede da eher von Geheimhaltung. Das ist nun glückli-cherweise vom Tisch. Ich bin mir nur nicht so sicher, obman Sie dafür in großen Tönen loben soll; denn ich
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Birgitt Bender
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fürchte, dass dies nicht besserer Einsicht geschuldet ist,sondern eher dem Problem, das Sie in der Koalition alsCDU und vor allem als FDP hatten: Sie befanden sichim Widerstreit sich entgegenstehender Klientelinteres-sen.
Hätten Sie nämlich den Forderungen der Pharmaindus-trie nachgegeben, wären Sie der PKV auf die Füße getre-ten; denn die hätte dann Nachteile für ihre Versichertenbefürchtet. Da der PKV das Wasser eh schon bis zumHalse steht – wegen der Debatten über ständig steigendePrämienerhöhungen, über Vermittlerprovisionen undoftmals geringere Leistungsstandards im Vergleich zuGKV-Versicherten, schließlich auch wegen der schlech-ten Zinssituation –, wollten Sie ihr nicht noch einen wei-teren Nachteil zufügen. Das Ergebnis stimmt, die Über-legungen dahinter aber wohl weniger.
Meine Damen und Herren, in einem Punkt sind sichPharmaverbände und Kassen einig, wenn auch mit un-terschiedlichen Argumenten. Für sie ist nämlich bei derBerücksichtigung der internationalen Preise im Rahmender Erstattungsverhandlungen eine Umsatzgewichtungnicht sinnvoll. Diesen Unsinn behält die Koalition je-doch bei. Das verstehe, wer wolle.Auch bei einem weiteren Punkt, der Ausweitung derArzneimittelpreisverordnung auf ausländische Versand-apotheken, weigerte sich die Koalition, die Argumenteaus der Anhörung wahrzunehmen und aufzugreifen. Wirhaben dort deutlich von den Patientenverbänden gehört,dass gerade chronisch Kranke diese Angebote nutzen. InInternetforen ist nachzulesen, dass einige Patienten be-fürchten, dass sie sich zukünftig die Zuzahlungen zu ih-ren Medikamenten nicht mehr leisten können.Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dasshier die Koalition vor allem den hiesigen Apothekerin-nen und Apothekern einen Gefallen tun wollte. DieFrage ist: Haben Sie bedacht, welche Nachteile das zumeinen für chronisch Kranke bringt und dass zum anderendie europäischen Versandhändler wahrscheinlich mit ei-niger Aussicht auf Erfolg klagen werden? Sie wissendoch: Man sieht sich immer zweimal im Leben. Eskönnte sein, dass Sie das noch bedauern werden.
Letzter Punkt. Mehr Transparenz bei Anwendungsbe-obachtungen und Unbedenklichkeitsstudien, bei denendie Gefahr des Missbrauchs als Marketinginstrument na-heliegt, ist überfällig. Untragbar ist etwa, dass eine Teil-nahme ohne Information und Zustimmung der Patientin-nen und Patienten erfolgt.In der Gesamtschau, meine Damen und Herren, sehenwir in diesem Gesetz Licht und Schatten. Deswegenwerden wir Grünen uns enthalten.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bender. – Nächster Red-
ner ist für die Fraktion der CDU/CSU unser Kollege
Michael Hennrich. Bitte schön, Kollege Hennrich.
Sehr geehrter Herr Präsident! Meine sehr verehrtenDamen und Herren! Wir beraten heute in zweiter unddritter Lesung die AMG-Novelle. Anlass für dieses Ge-setz ist zum Ersten die Umsetzung von zwei Richtliniender Europäischen Kommission. Zum Zweiten geht es umRegelungen beim Thema Betäubungsmittelrecht – dieVerbesserung der Situation von Schwerstkranken undSterbenden wurde zu Recht angesprochen – und um An-passungen im Bereich des Heilmittelwerberechts.In diesem Zusammenhang möchte ich mich bei Ihnen,Frau Dr. Bunge, für Ihre differenzierte Darstellungs-weise bedanken. Es ist nämlich nicht nur so, dass es umRichtlinien ging, sondern es gab auch eine entspre-chende Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs.Diese mussten wir eins zu eins umsetzen. Sie haben völ-lig zu Recht darauf hingewiesen, dass die Situation seit2007 bekannt ist. Wir hatten da für zwei Jahre eineMinisterin der SPD, die die Chance hätte ergreifen kön-nen, aber darauf verzichtet hat. Deswegen herzlichenDank für Ihre Darstellungsweise.
Zum Dritten geht es um Regelungen im Bereich desApothekenwesens. Ich sage nach wie vor, dass ich es fürrichtig halte, dass die Arzneimittelpreisverordnung fürVersandapotheken und Präsenzapotheken gleichermaßengilt. Frau Bender, während Sie sagen, es gehe dabei umchronisch Kranke, geht es mir bei diesem Thema um dieländliche Apotheke.
Es kann nicht sein, dass wir Rosinenpickerei betreiben,was dann dazu führt, dass zum Beispiel im ländlichenRaum Apotheken zumachen müssen.
Sie sind ein wichtiger Beitrag zum Erhalt entsprechenderVersorgungsstrukturen.Natürlich ging es auch noch einmal um das ThemaAMNOG. Ich möchte hier zwei Bereiche besonders her-vorheben: zum Ersten das Thema Umsetzung von euro-päischen Richtlinien. Zum Zweiten möchte ich auf dasAMNOG eingehen.Ich glaube, dass heute ein ganz guter Anlass ist, nocheinmal über das Thema Arzneimittelsicherheit zu disku-tieren; denn wir haben in der Tat die Verpflichtung, unsnicht nur um Ausgabenbegrenzung zu kümmern, son-dern auch um Arzneimittelsicherheit.
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Michael Hennrich
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Ich möchte vorab eine Bemerkung machen: Arznei-mittelsicherheit bedeutet Bürokratie. Das kostet Geld,und zwar zulasten der Pharmaindustrie. Deswegen ist esauch wichtig, dass die Industrie auskömmliche Preise er-zielt.Wir haben die Richtlinien zur Pharmakovigilanz undzur Arzneimittelsicherheit, also zum Schutz vor Fäl-schungen, eins zu eins umgesetzt. Wir haben keine zu-sätzlichen Verschärfungen vorgenommen, weil dieRichtlinien unseren Anforderungen gerecht wurden. Wirhaben eine Umsetzung der Richtlinien mit Augenmaßbetrieben – Frau Bender, Sie haben es angesprochen –,zum Beispiel bei den Übergangsvorschriften im Rahmender Umstellung der Packungsbeilagen für Arzneimittelder besonderen Therapierichtung, wo die Möglichkeitbestand, diesen Zeitraum auf fünf Jahre zu verlängern. Wir haben außerdem sinnvolle Ausnahmen bei derHerstellungserlaubnis nach § 13 Arzneimittelgesetz fürden Fall ermöglicht, dass Apotheker bestimmte Produkteherstellen. Auch Kollegin Reimann hat ein Interesse da-ran gehabt, dass wir beim Thema Testallergene einenvernünftigen Vorschlag machen. Dies haben wir aufge-griffen.Darüber hinaus haben wir uns der in den Anhörungengeäußerten Kritik gestellt. Im Hinblick auf stellvertre-tende Prüfer wurde in Form von Änderungsanträgen eineRegelung vorgeschlagen, wonach die Ethikkommissionund die Aufsichtsbehörden die Eignung der stellvertre-tenden Prüfer bewerten und kontrollieren können.Das Wesentliche ist: Wir haben deutliche Verbesse-rungen bei der Arzneimittelüberwachung und demSchutz vor Arzneimittelfälschungen erreicht.
Zur Pharmakovigilanz. Wir werden Nebenwirkungenin Zukunft besser erfassen können. Gleichzeitig wurdeder Begriff der Nebenwirkung präzisiert. Wir gestaltenMeldewege effizienter. Wir erreichen eine bessere Ver-zahnung der Akteure. Die Informationsmöglichkeitenfür Ärzte und Patienten werden ebenfalls deutlich ver-bessert.Beim Thema Arzneimittelfälschung geht es uns umeine Stärkung der legalen Vertriebswege. Ich denke, dassmit den zusätzlichen Sicherheitsmerkmalen auf den Pa-ckungen ein echter Fortschritt erreicht wird. Das bedeu-tet natürlich auch Prüfpflichten für die Industrie, für denGroßhandel und für die Apotheken. Ich glaube, dassdiese Maßnahmen gleichzeitig dazu dienen können, diebeteiligten Akteure in ihrer Rolle zu stärken.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich willjetzt auf das Thema AMNOG eingehen. Ich kann michnoch gut an die hitzige Debatte hier im Parlament voranderthalb Jahren erinnern. Damals war eine namentli-che Abstimmung beantragt. Es gab ein riesengroßes To-huwabohu mit Kritik von allen Seiten. Ich glaube, heutekönnen wir rückblickend sagen, dass uns mit demAMNOG ein wirklich gutes Gesetz gelungen ist. Sie ha-ben in den letzten Wochen und Monaten keinen einzigenVorschlag unterbreitet, was wir im Bereich der Arznei-mittelversorgung besser gestalten könnten.
Ich habe Verständnis für die Verunsicherung der In-dustrie. Wir haben versucht, Probleme aufzugreifen. Ichmöchte in diesem Zusammenhang deutlich hervorheben,dass es klug war, dass sich die Union im Februar/Märzzum AMNOG positioniert hat. Wir, die Union, haben inunserem Positionspapier nämlich einige Bedenken auf-gegriffen. Es wurden dann ein paar Probleme vernünftiggelöst, ohne dass wir dafür ein Gesetz auf den Weg brin-gen mussten.Vier Themenbereiche sind für uns von besonderer Be-deutung: Beratung durch den G-BA, Vergleichstherapie/Subgruppenbildung, die Grundlage für Preisvergleicheund Preisfindung sowie Vertraulichkeit.Bei den Beratungsgesprächen hat sich einiges verbes-sert, sodass eine Nachbesserung nur in einem Punkt er-forderlich war: In Zukunft werden die Zulassungsbehör-den in die Beratungsgespräche besser eingebundenwerden müssen.Bei der Vergleichstherapie eröffnen wir den Unter-nehmen, die jetzt aus formalen Gründen keinen Zusatz-nutzen hatten, die Möglichkeit, in ein neues Verfahreneinzutreten.Bei der Preisfindung haben wir an zwei Punkten Än-derungen vorgenommen: bei der Kaufkraftparität undbeim Umsatz. Ich sage Ihnen: Es war richtig, den AspektUmsatz zu berücksichtigen. Länder wie die Schweizoder Luxemburg haben nämlich hohe Arzneimittel-preise, aber geringe Umsätze. Angesichts dessen istdiese Regelung ausgewogen.Ich möchte zum Schluss auf das Thema Vertraulich-keit zu sprechen kommen. Wenn Sie beobachtet haben,welche Wünsche und Anforderungen die Industrie hat,dann haben Sie festgestellt: Wir konnten im Vorfeld eini-ges abräumen. Die einzige zentrale Forderung war dieWahrung der Vertraulichkeit. Dies hätte uns kein Geldgekostet. Auch der Bürokratieaufwand war überschau-bar. Der GKV-Spitzenverband Bund selber hat diesenAufwand mit rund 32 Millionen Euro beziffert. Ich sageIhnen: Es wäre mir wert gewesen, das Signal an die In-dustrie auszusenden, dass wir nicht nur Verschärfungenvornehmen, sondern dass uns auch die Pharmaindustrieam Standort Deutschland wichtig ist.
Insofern hoffe ich, dass wir zu einem anderen Zeitpunktvielleicht noch einmal darüber nachdenken. Wir wartenjetzt ab, wie die weiteren Preisverhandlungen ausgehen.Ich hoffe, dass sich die Bundesregierung unter Umstän-den dem Thema öffnet, wenn noch Nachbesserungsbe-darf besteht.Meine sehr verehrten Damen und Herren, ich werbeum Zustimmung zum vorliegenden Gesetzentwurf. Ichnehme mit Wohlwollen zur Kenntnis, dass die Grünenaus den Erfahrungen mit dem AMNOG lernen und sich
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Michael Hennrich
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heute der Stimme enthalten; aber Zustimmung wärenoch besser gewesen.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Vielen Dank, Kollege Michael Hennrich. – Nächster
Redner für die Fraktion der Sozialdemokraten ist unser
Kollege Steffen-Claudio Lemme. Bitte schön, Kollege
Steffen-Claudio Lemme.
Sehr geehrter Herr Präsident! Frau StaatssekretärinFlach! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Meine ge-schätzte Kollegin Marlies Volkmer hat bereits ausführ-lich die wesentlichen Punkte der Kritik der SPD-Bun-destagsfraktion an dieser Novelle des Arzneimittel-gesetzes dargestellt. Kurz: Die Bundesregierung liefertmit diesem Gesetz ein Beispiel für Über-, Unter- undFehlregelungen.Meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolle-ginnen und Kollegen der Regierungskoalition, die Not-wendigkeit der Harmonisierung der Arzneimittelsicher-heit in Europa steht auch für meine Fraktion außerFrage. Der Unterschied zwischen Ihnen und uns ist je-doch, dass wir Arzneimittelsicherheit konsequent ausder Sicht der Patientinnen und Patienten betrachten. Siejedoch blähen diese Novelle zum Omnibusgesetz auf,um einmal mehr den Forderungen der pharmazeutischenIndustrie zu entsprechen. Aber das ist ja mittlerweilegute Tradition bei Ihnen. So werden Sie jedenfalls in die-ser Legislaturperiode den Geruch der Klientelpolitiknicht mehr los.
Die Bedürfnisse, die Sicherheit und die Versorgungder Patientinnen und Patienten stehen für die SPD-Bun-destagsfraktion bei all ihren Entscheidungen und Vor-schlägen stets im Vordergrund; das haben wir in der Ver-gangenheit immer wieder deutlich gemacht. Ich erinnerehier nur kurz an unsere Empfehlungen zur Schaffungvon mehr Versorgungssicherheit im Rahmen des GKV-Versorgungsstrukturgesetzes und an unsere Vorschlägezur Stärkung der Patientensouveränität bei IGeL-Leis-tungen oder auch in der aktuellen Debatte um die Sicher-heit von Medizinprodukten. Bei uns stehen immer dieBetroffenen im Fokus.
Nur eine konsequente Betroffenenperspektive kanneine differenzierte Bewertung dieses Gesetzentwurfs zu-lassen. Ich will dies kurz mit zwei Beispielen belegen:Die Notwendigkeit einer verbesserten ambulanten Ver-sorgung von Palliativpatienten hat uns beispielsweisedazu bewogen, den Änderungen zum Betäubungsmittel-gesetz zuzustimmen. Ungenügend sind hingegen die Re-gelungen zu Austauschverboten, die wir abgelehnt ha-ben.Ich selbst hatte als Mitglied des Petitionsausschussesin einer öffentlichen Beratung die Gelegenheit, mit Ver-tretern von Betroffenenverbänden von Schmerzpatientenzu sprechen. Eindrucksvoll hatte dort eine Vertreterinder Deutschen Schmerzliga die Bedürfnisse vonSchmerz- und Palliativpatienten geschildert. Dieser Per-sonenkreis ist mitunter auf ganz bestimmte Medika-mente angewiesen, die unter das Betäubungsmittelgesetzfallen. Nur diese speziellen Medikamente, die mituntersehr starke Opiate enthalten, versprechen ihnen echteLinderung. Zu Recht wurde von den Betroffenen die Re-gelung einer automatischen Austauschpflicht für diesebesonderen Betäubungsmittel nach § 129 SGB V kriti-siert. Dieser Sicht der Dinge hatten sich im Übrigen dieVertreter aller Fraktionen im Petitionsausschluss ange-schlossen. So plädierten auch Frau Kollegin Vogelsangvon der CDU/CSU und Herr Dr. Röhlinger von der FDP,der leider nicht anwesend ist, für eine Änderung. AmEnde hat es dann aber bei den Koalitionären nur zu einerhalbherzigen Neuregelung gereicht,
die von den Betroffenen zu Recht als unzureichend be-zeichnet wird und von uns abgelehnt wurde. Mit der vor-gesehenen Kann-Bestimmung laden Sie die vielfach dis-kutierte Problematik wieder auf die Schultern derSelbstverwaltung. Damit rückt eine rasche Lösung desProblems zugunsten der betroffenen Patientinnen undPatienten erneut in weite Ferne.Hingegen haben wir der Neuregelung zur Überlas-sung von Betäubungsmitteln durch den ambulant tätigenArzt an seine Patienten zugestimmt. Das ausschließlicheAbgabemonopol von Apotheken gegenüber Patientinnenund Patienten wird der Notwendigkeit einer Stärkungder ambulanten Versorgung nicht mehr gerecht. DieAbgabe durch den Arzt in Krisen- und Ausnahmesitua-tionen muss möglich sein. Das gebietet mitunter dieSituation des Patienten. Gerade in ländlichen Regionen,wo die nächste Apotheke kilometerweit entfernt ist,muss der Arzt dem Patienten auch ein Medikament über-lassen dürfen, ohne Angst vor rechtlichen Konsequen-zen.
Menschen, die akute Schmerzen haben oder die die letz-ten Stunden ihres Lebens im Kreise ihrer Angehörigendaheim verbringen wollen, muss größtmögliche Versor-gungssicherheit gewährt werden.Ich will an dieser Stelle noch ein paar Worte zum An-trag der Fraktion Die Linke verlieren. Wir teilen dieHaltung in Sachen Pick-up-Handel und zum Verweisauf die Notwendigkeit einer umfangreichen Beratungund Sicherheit von Medikamentenbeziehern. Auch füruns bleibt die Beratung durch den Präsenzapotheker un-verzichtbar. Wir können aber einer Verdammung desVersandhandels nicht beipflichten. Im Gegenteil: DerVersandhandel hat sich in großen Teilen bewährt. Wir
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Steffen-Claudio Lemme
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werden zu gegebener Zeit auch hierzu gern Stellung neh-men.Vielen Dank.
Vielen Dank, Kollege Lemme. – Nächster und letzter
Redner in unserer Aussprache zu diesem Thema ist un-
ser Kollege Heinz Lanfermann. Bitte schön, für die
Fraktion der FDP Kollege Heinz Lanfermann.
Danke schön. – Sehr geehrter Herr Präsident! Meine
sehr geehrten Damen und Herren! Es bleiben nur noch
wenige Minuten bis zum Schluss dieser Runde. Ich darf
mich zunächst einmal für die einhellige Zustimmung zu
unserer neuen Regelung zur ambulanten Palliativversor-
gung bedanken. Das Gesetz ist mit all seinen guten
Facetten sehr ausführlich beschrieben worden. Deswe-
gen brauche ich das nicht zu wiederholen. Die Redner
der Opposition haben stark angefangen, indem sie das
Gesetz gelobt haben. Es wurde danach ja doch ein wenig
brüchig. Bei Frau Bender wurde es dann mehr eine Nör-
gelliste, mit der sie zeigen wollte, dass es doch nicht so
gut sei. Immerhin enthalten Sie sich wenigstens; das will
ich dann auch loben.
Sie müssen sich allerdings nicht bemühen, irgendwel-
che Kerlekes hinter den Gebüschen zu sehen, wenn es
um einen angeblichen Lobbyeinfluss oder Ähnliches
geht. Die PKV hat keine Rolle gespielt bei der Frage der
Vertraulichkeit – das sage ich Ihnen aus dem Nähkäst-
chen –, weil sie schon zu einem sehr frühen Zeitpunkt
gesagt haben: Na gut, das lieben wir nicht gerade, aber
wenn die Politik es für richtig hält, dann tragen wir das
klaglos mit. – Damit war der Fall erledigt. So einfach
kann Politik auf der Regierungsseite sein. Machen Sie
sich also nicht zu viele Gedanken um Dinge, die Sie
nicht kennen!
Bei solchen Gesetzgebungsverfahren ist es interes-
sant, wie viele Leute sich darum kümmern, herauszufin-
den, was alles nicht passiert oder welche Erwartungen
erfüllt oder nicht erfüllt werden. Dann darf ich in dieser
Schlussrunde auch noch mit einem typischen Missver-
ständnis der letzten Wochen aufräumen. Manche haben
sich gefragt: Warum, außer in den angesprochenen
Regelungen, steht nichts über die wirtschaftliche Situa-
tion der Apotheken im Gesetz? Ich kann alle beruhigen.
Das gehört überhaupt nicht in das Gesetz; denn alle
wesentlichen wirtschaftlichen Fragen, die Apotheken
angehen, werden in Verhandlungen mit der Regierung
geklärt. Das wird auf dem Verordnungswege geregelt.
Alles, was nach diesen Verhandlungen geändert werden
kann, wird zur gegebenen Zeit auf dem Verordnungs-
wege neu geregelt. Das ist also keine Frage des Gesetz-
gebers; dies geht den Wirtschaftsminister und den
Gesundheitsminister an.
Was im Übrigen die Apothekenabgabe angeht, so
haben die Vertreter der Koalition eindeutig erklärt, dass
die vom Gesetzgeber festgesetzten Preise für 2011 und
2012 auslaufen und nicht verlängert werden. Sie stellen
auch keinen Maßstab bei den Verhandlungen dar, die
zwischen den Partnern stattfinden müssen. Das macht
nicht die Politik, sondern das wird zwischen den Part-
nern ausgehandelt. So einfach kann Politik auch sein,
Frau Bender.
Zum Schluss darf ich noch sagen: Ich freue mich sehr,
dass wir am Ende zu einem solch umfangreichen Gesetz-
entwurf gelangt sind. Manche behaupten ja, in der
Gesundheitspolitik herrsche eine gewisse Unsitte, näm-
lich dass häufig sogenannte Omnibusgesetze entstehen,
mit denen noch diese oder jene Gesetzesänderung durch-
geführt werden kann.
Wir haben viel zu tun. Dieser Ausschuss – und damit
auch dieses Ministerium – gehört mit zum Fleißigsten,
was der Bundestag bzw. die Bundesregierung vorzuwei-
sen haben; denn wir haben in der Tat eine ganze Menge
geregelt.
Das AMNOG ist überdies ein gutes Beispiel dafür,
dass man nicht nur ein gutes Gesetz machen,
sondern auch ein bestehendes Gesetz gut fortsetzen
kann. Wir haben eine Zwischenbilanz gezogen, die sich
sehen lassen kann. In einigen Punkten haben wir ein
wenig nachgesteuert; Kollege Hennrich hat das vorhin
sehr genau beschrieben. Die weiteren Verfahren und
Verhandlungen werden wir uns in der Tat sehr genau
anschauen. Denn wir wollen, dass nach fairen Verhand-
lungen auch faire Preise ausgehandelt werden können.
„Faire Preise“ heißt, dass die berechtigten Interessen
jeder Seite so weit wie möglich berücksichtigt werden
und dass man sich auf einem vernünftigen Weg bei
einem vernünftigen Ergebnis trifft.
Genau das wollten wir mit dem AMNOG erreichen,
und das werden wir auch schaffen. Ich danke Ihnen mit
diesem positiven Schlusswort für Ihre Aufmerksamkeit.
Danke schön.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich schließe dieAussprache.Wir kommen zur Abstimmung, aber nicht über dieFrage, welcher Ausschuss in diesem Hause der fleißigsteist, sondern ganz einfach über den von der Bundesregie-rung eingebrachten Gesetzentwurf eines Zweiten Geset-zes zur Änderung arzneimittelrechtlicher und andererVorschriften.Der Ausschuss für Gesundheit empfiehlt unterBuchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/10156, den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung auf Drucksache 17/9341 in der Ausschussfassunganzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-
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Vizepräsident Eduard Oswald
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wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Das sind die Koalitionsfraktionen.Wer stimmt dagegen? – Das sind die Fraktionen derSozialdemokraten und der Linken. Enthaltungen? –Fraktion Bündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf istdamit in zweiter Beratung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Das sind die Koalitionsfraktionen. Wer stimmt dage-gen? – Das sind die Fraktion der Sozialdemokraten unddie Linksfraktion. Enthaltungen? – Das ist die FraktionBündnis 90/Die Grünen. Der Gesetzentwurf ist ange-nommen.Wir kommen nun zur Beschlussempfehlung des Aus-schusses für Gesundheit zu dem Antrag der Fraktion DieLinke mit dem Titel „Für gute ArzneimittelversorgungVersandhandel auf rezeptfreie Arzneimittel begrenzen“.Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe b seiner Be-schlussempfehlung auf Drucksache 17/10156, den An-trag der Fraktion Die Linke auf Drucksache 17/9556 ab-zulehnen. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? –Das sind die Koalitionsfraktionen, Sozialdemokratenund Bündnis 90/Die Grünen. Gegenprobe! – Linksfrak-tion. Enthaltungen? – Keine. Die Beschlussempfehlungist angenommen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich rufe den Tages-ordnungspunkt 13 a bis d auf:a) Beratung der Großen Anfrage der AbgeordnetenAndrea Wicklein, Rita Schwarzelühr-Sutter,Doris Barnett, weiterer Abgeordneter und derFraktion der SPDSituation des Mittelstands– Drucksache 17/9655 –b) Beratung des Antrags der Abgeordneten PeterFriedrich, Dr. Carsten Sieling, Garrelt Duin, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDFinanzierungsbedingungen des Mittelstandsverbessern– Drucksache 17/5229 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
FinanzausschussAusschuss für Arbeit und SozialesAusschuss für TourismusHaushaltsausschussc) Beratung des Antrags der Abgeordneten JohannaVoß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEHandwerkskammern demokratisieren undtransparent gestalten– Drucksache 17/9220 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologied) Beratung des Antrags der Abgeordneten JohannaVoß, Dr. Barbara Höll, Eva Bulling-Schröter,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEHandwerksnovelle evaluieren, hohes Qualifi-kationsniveau sicherstellen– Drucksache 17/9221 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungNach einer Vereinbarung aller Fraktionen ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. Sie sind alledamit einverstanden? – Dann haben wir das hiermit sobeschlossen.Jetzt nehmen wir den notwendigen Wechsel hier imPlenum vor und konzentrieren uns dann auf diese Aus-sprache.Ich eröffne die Aussprache. Erste Rednerin ist für dieFraktion der Sozialdemokraten unsere Kollegin FrauAndrea Wicklein. Bitte schön, Frau Kollegin AndreaWicklein.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Die Nachrichten über die deutsche Wirtschaftsind positiv. Aber es gibt auch deutliche Signale, dassbei den mittelständischen Unternehmen eine zuneh-mende Verunsicherung einkehrt. Sowohl die globalen alsauch die nationalen Herausforderungen sind gewaltig.Die Euro-Krise wird sich auch auf den deutschen Mittel-stand auswirken.Neben der Euro-Krise gibt es im Wesentlichen dreibedeutende Themenfelder, die die weitere Entwicklungdes deutschen Mittelstands bestimmen werden. Das isterstens die Unternehmensfinanzierung, zweitens derFachkräftemangel und drittens die Entwicklung derEnergie- und Rohstoffpreise. Das sind die Themen, dieden Mittelstand landauf, landab bewegen und die Unter-nehmen unruhig in die Zukunft blicken lassen. Deshalbist es die vordringliche Aufgabe der Politik, die Aufgabeder Bundesregierung, gerade jetzt alles dafür zu tun, dassdie Rahmenbedingungen für den Mittelstand in Deutsch-land Stabilität und Sicherheit bieten.
In unserer Großen Anfrage „Situation des Mittel-stands“ fordern wir die Bundesregierung auf, Antwortenauf diese drängenden Fragen zu geben. Doch obwohlkeine Zeit zu verschenken ist, beabsichtigt sie, das erstim Januar 2013 zu tun. Man könnte meinen, dass dieBundesregierung auf Zeit spielt, Zeit, die der deutscheMittelstand nicht hat. Das ist für mich ein klares Zeichendafür, dass Sie die notwendigen Antworten nicht gebenkönnen.Um noch einmal deutlich zu machen, worum es geht.Beispiel Unternehmensfinanzierung: Basel III wird Aus-
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Andrea Wicklein
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wirkungen auf die Mittelstandsfinanzierung insbeson-dere junger und innovativer Unternehmen haben. Des-halb müssen wir dringend die Rahmenbedingungen füralternative Finanzierungsmöglichkeiten in Deutschlandverbessern. Im internationalen Vergleich hinken wir hierdeutlich hinterher. Wir haben bereits im März letztenJahres einen Antrag zur Verbesserung der Finanzie-rungsbedingungen des Mittelstands eingebracht, derheute auch zur Beratung vorliegt. Die Zahlen zum Grün-dungsgeschehen zeigen, dass dringender Handlungsbe-darf besteht. Die Zahl der Firmengründungen ist 2011gegenüber 2010 um 11 Prozent zurückgegangen.Beispiel Fachkräftemangel. In einer aktuellen Um-frage des DIHK gaben 35 Prozent der insgesamt25 000 befragten Unternehmen an, dass der Mangel anFachkräften schon heute ein großes Problem darstellt.Da ist es schön und gut, dass die Bundesregierung – ichzitiere – „politische Priorität auf die Fachkräftesiche-rung“ legt. Aber was tun Sie konkret? Dem vielbeschworenen Fachkräftekonzept von 2011 wird nuneine Informations- und Mobilisierungskampagne zurSeite gestellt, und so etwas nennt die Bundesregierungdann eine „Fachkräfteoffensive“. Fakt ist: Der deutscheMittelstand braucht Fachkräfte; nur darüber zu reden,das reicht nicht mehr.
Meine Damen und Herren von der Bundesregierung,Investitionen in Bildung, bessere Vereinbarkeit vonFamilie und Beruf, mehr Weiterbildung und mehr Be-schäftigungsmöglichkeiten für ältere Arbeitnehmerinnenund Arbeitnehmer, das alles sind notwendige Maßnah-men, die die SPD immer wieder vorgeschlagen hat. Undwas tun Sie? Sie verschleudern Milliarden für ein unsin-niges Betreuungsgeld. Sie wollen ernsthaft Geld dafürausgeben, Frauen vom Beruf fernzuhalten, und beklagengleichzeitig einen zunehmenden Mangel an Fachkräften.Niemand kann es sich leisten, auf die Kompetenz undLeistungsfähigkeit von Frauen zu verzichten, auch Sienicht.
Der Mittelstand ist das Rückgrat der deutschen Wirt-schaft. Damit es auch zukünftig so bleibt: Zeigen Sie,dass es Ihnen ernst ist mit dem Mittelstand! BeantwortenSie unsere Fragen zur Zukunft des Mittelstands, und dasnicht erst 2013.Ganz herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Andrea Wicklein. –
Nächste Rednerin für die Fraktion der CDU/CSU ist un-
sere Kollegin Frau Lena Strothmann. Bitte schön, Frau
Kollegin Strothmann.
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Der Mit-telstand ist Deutschlands Stärke. Er ist das Herz der so-zialen Marktwirtschaft und der Motor für Wachstum undBeschäftigung. Der Jahresmittelstandsbericht 2011 hatRekordzahlen gemeldet: Im vergangenen Jahr wurden490 000 neue Arbeitsplätze geschaffen, die Wachs-tumsquote beträgt 3,4 Prozent.
Der Mittelstand ist also nach wie vor eine krisenfesteWachstumslokomotive.
Das ist der Beweis dafür, dass wir mit unserer Politik fürden Mittelstand auf dem richtigen Weg sind.
Wir werden daher den Bürokratieabbau weiter vorantrei-ben, uns kontinuierlich um eine solide Unternehmens-finanzierung kümmern und in Forschung und Entwick-lung investieren, um Arbeitsplätze zu erhalten undweitere zu schaffen.Aber unsere wichtigste Aufgabe wird es sein, unsweiterhin um die Ausbildung guter Fachkräfte zu küm-mern; denn leider melden unsere Betriebe schon heute,dass sie keine Kräfte finden. Der demografische Wandelwird dieses Problem in den nächsten Jahren noch ver-stärken. Wenn wir aber unseren Vorsprung als Hightech-land halten wollen und wenn wir die Herausforderungender Zukunft, zum Beispiel die Energiewende, meisternwollen, dann brauchen wir mehr gut ausgebildete Fach-kräfte in unserem Land.
Ich bin zuversichtlich, dass uns das gelingt; dennDeutschland hat das duale Ausbildungssystem, um dasuns viele Nachbarländer in Europa beneiden. Der Be-rufsbildungsbericht 2012 hat dies gerade bestätigt. Demdualen Ausbildungssystem wird erneut eine hohe inter-nationale Wettbewerbsfähigkeit bescheinigt. Erfolgsin-dikator hierfür ist die niedrige Jugendarbeitslosigkeit inunserem Land; wir haben derzeit eine Quote von7,9 Prozent. Das sind natürlich immer noch zu viele ar-beitslose junge Menschen, aber das ist die niedrigsteQuote in Europa. Im EU-Durchschnitt liegt die Jugend-arbeitslosenquote bei 22,6 Prozent, und, wie wir wissen,in Spanien sogar bei über 50 Prozent. Wir treten den Be-weis an: Unser duales System schützt vor Jugendarbeits-losigkeit.
Zu diesem Ergebnis kommt im Übrigen auch die Euro-päische Kommission. Auch die Übergangsquote dualausgebildeter Jugendlicher in den Arbeitsmarkt ist beiuns sehr hoch.Die Gründe für den Erfolg unserer dualen Ausbildungmöchte ich noch einmal hervorheben: Die Ausbildungim Betrieb, der Schulunterricht und die überbetrieblicheUnterweisung sind gut aufeinander abgestimmt. Andereeuropäische Länder setzen ausschließlich auf eine schu-lische Ausbildung. In diesen Ländern ist der Übergangin die Betriebe sehr schwierig für die jungen Menschen,weil ihnen der Praxisbezug fehlt. Sie können auch nicht
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Lena Strothmann
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wie viele Lehrlinge bei uns vom „Klebeeffekt“ profitie-ren und nach der Ausbildung direkt in den Betrieb über-nommen werden.Unsere duale Ausbildung ist auch deshalb so erfolg-reich, weil wir Voraussetzungen geschaffen haben, diedie Qualität der Ausbildung sichern. Der Grundsatz lau-tet: Wer ausbildet, muss selbst ein ausgebildeter Fach-mann sein. Das sind nach wie vor unsere Meister. Sie ge-ben ihr Wissen und ihre Erfahrung an die jungenMenschen weiter. Nur in wenigen europäischen Länderngibt es die Meisterprüfung als Befähigung zur Ausbil-dung.Nun gibt es leider Tendenzen in Europa, die Zahl derreglementierten Berufe zu reduzieren. Dazu gehört auchder deutsche Meister. Das muss man wissen. Wer die re-glementierten Berufe abschaffen will, der schafft damitauch den deutschen Meister ab. Dieser ist aber ein wich-tiger Baustein im dualen Ausbildungssystem.
Ohne die Meisterprüfung als Befähigung zur Ausbildungwürde es nicht mehr so erfolgreich funktionieren, undjahrelang erarbeitete Strukturen würden zerstört. Daswerden wir nicht zulassen.
Zu diesem bewährten System gehören im Übrigenauch die Handwerkskammern. Die Kammern erfüllenhoheitliche Aufgaben. Das heißt, die Aufgaben werdenvom Staat zur Erfüllung übertragen und von den Kam-mern wirtschaftlich und effektiv erbracht. Ich will Ihnendas am Beispiel der Ausbildung deutlich machen: Diewichtigsten hoheitlichen Aufgaben sind hier die Führungder Lehrlingsrolle, das Erlassen von Prüfungsvorschrif-ten, die Einrichtung von Prüfungsausschüssen und dieorganisatorische Durchführung von Prüfungen. ImRahmen der Dienstleistungsfreiheit gehört auch dieEntscheidung über anzuerkennende Abschlüsse dazu.Zusammengefasst ist festzuhalten: Die Kammern si-chern die Qualität der Ausbildung. Sie sind Garanten derdualen Ausbildung.Allein im Handwerk – das muss man wissen – enga-gieren sich 65 000 ehrenamtlich tätige Personen in denGremien der Selbstverwaltung und den Prüfungsaus-schüssen. Sie leisten pro Jahr freiwillig 7,7 MillionenStunden.
Im Übrigen, meine Damen und Herren von den Lin-ken: Die Rechtsaufsicht über die Handwerkskammernobliegt den Wirtschaftsministerien der Länder. Damit istdie Anwendung der geltenden Rechtslage durch dieKammern sichergestellt. Es gibt auch keine gesetzlichenMissstände in der Handwerksordnung. Die Drittelparitätunserer Arbeitnehmer trägt den besonderen Gegebenhei-ten im Handwerk Rechnung; das sind nämlich Unterneh-mer, Kleinstunternehmer und Mitarbeiter. Im Übrigen istauch die Friedenswahl höchstrichterlich bestätigt.Die Veröffentlichung der Bilanzen erfolgt im Rahmender Feststellung des Haushaltsplans und der Abnahmeder Jahresrechnung durch die oberste Landesbehörde.Transparente und demokratische Beschlussfassungensind durch die Satzungen der Handwerkammern gewähr-leistet. Eine Befassung der Kammergremien ist damitsichergestellt. Aber die Hauptaufgabe der Handwerks-kammern bleiben Aus-, Fort- und Weiterbildung. DiesesSystem sollten wir weiter stärken; denn die Herausforde-rungen der Zukunft werden wir nur mit gut ausgebilde-ten Kräften meistern.
Wir tun also gut daran, in Zukunft noch mehr für dieduale Ausbildung zu werben. Wir sollten die Säulen, aufdenen sie steht, nicht kaputtmachen.Danke schön.
Vielen Dank, Frau Kollegin Lena Strothmann. –
Nächste Rednerin ist für die Fraktion Die Linke unsere
Kollegin Frau Johanna Voß. Bitte schön, Frau Kollegin
Voß.
Herr Präsident! Sehr geehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Heute sprechen wir über den Mittelstand. Geradehaben wir schon etwas zum Handwerk gehört. An die-sem Punkt will ich weitermachen. Ihre Große Anfrage,liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, geht sogut wie gar nicht auf das Handwerk ein. Das Handwerkstellt aber mit 1 Million Betrieben – darunter Klein- undKleinstunternehmen – den Großteil des Mittelstands.Damit ist es ein bedeutender Teil der deutschen Wirt-schaft. Es gibt bei diesem Thema genug, über das es sichlohnt zu reden.Erstens. 2004 wurde die Handwerksordnung novel-liert. 53 Gewerke sind seitdem meisterfrei. Das heißt,wer sich als Estrichleger selbstständig macht, brauchtdafür keinerlei Mindestqualifikation mehr. Bei 52 weite-ren Berufen ist es genauso. War das gut? Wem bringt dasVorteile? Es fehlt eine Untersuchung, was diese Novelleder Handwerksordnung gebracht hat und was sie nichtgebracht hat. Solch eine Untersuchung haben die CDU/CSU-Fraktion bzw. die Großen Koalition insgesamtselbst schon gefordert. Umgesetzt haben Sie Ihre eigeneForderung indes nicht. Wofür fürchten Sie sich? Habensich dadurch prekäre Beschäftigungsverhältnisse oderScheinselbstständigkeit ergeben? Das würden wir gerneherausfinden.Zweitens. Es gibt seit fast 60 Jahren in allen 53 Hand-werkskammern alle fünf Jahre Vollversammlungswah-len. Das sind mehr als 500 Wahlen. Aber nur dreimalwurde tatsächlich gewählt. Das heißt, nur dreimal fandein Wahlakt statt, weil nur in drei Fällen konkurrierendeListen vorlagen. Ansonsten galt die vorher ausgekun-gelte Liste als gewählt. Das war die Aussage der Bun-desregierung auf unsere Anfrage.
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Frau Kollegin Voß, der Kollege Ernst Hinsken beab-
sichtigt, eine Zwischenfrage an Sie zu richten. – Sie
lassen sie zu. Bitte schön, Kollege Ernst Hinsken.
Ich fasse mich ganz kurz. – Liebe Frau Kollegin Voß,
ich war dabei, als die Neufassung der Handwerksord-
nung ausgearbeitet und beschlossen wurde. Speziell als
es um die Reduzierung der Zahl der Gewerke ging, in
denen ein Meisterbrief für die selbstständige Tätigkeit
nötig ist, haben wir stark dagegen gehalten. Ich möchte
Sie fragen, ob Ihnen bewusst ist, wie sich damals Ihre
Fraktion verhalten hat, was damals Ihre Meinung war,
ob Sie das damals für richtig befunden haben. Ich weiß
nicht, inwieweit Sie überhaupt mitreden konnten; denn
Sie vertreten ja eine Fraktion, die damals wahrscheinlich
noch gar nicht im Bundestag war.
Herr Hinsken, ich danke für die Frage. Daran sehe
ich, dass wir an dieser Stelle konstruktiv zusammen-
arbeiten könnten. Ich war damals tatsächlich nicht dabei.
Ich gehöre dem Haus seit knapp zwei Jahren an.
Über die alten Entscheidungen weiß ich nichts. Ich weiß
nur, dass die Handwerksordnung geändert wurde. Die
Frage ist: Wollen wir dies evaluieren oder nicht? Es
scheint doch dafür einen Bedarf zu geben. Darauf könn-
ten wir uns einigen. Im Rahmen einer Evaluierung könn-
ten wir schauen, was die Novellierung bewirkt hat, zu-
mal wir eben gehört haben, dass der Meister durch
weitere „Neoliberalisierungen“ infrage gestellt werden
soll. Es wäre doch der richtige Weg, folgende Fragen da-
gegenzuhalten: Was ist gut daran, dass wir diese Rege-
lungen haben, dass wir das duale System haben und dass
wir die Meisterausbildung haben? Warum sollte man
mehr Berufe freistellen, dort diese Ausbildung abschaf-
fen?
Fahren Sie fort, Frau Kollegin.
Gut. – Es gibt also eine Große Anfrage der SPD, die
die Überschrift „Kammern, Innungen und Kreishand-
werkerschaften“ enthält. Augenscheinlich ist der SPD
aber zu den Handwerkskammern gar nichts eingefallen.
Zu denen fragt sie nämlich darin gar nichts. Das Gleiche
gilt für die Große Anfrage der Koalition zum Handwerk
vom Oktober 2010. Auch hier fehlt jede Frage zu den
Handwerkskammern. Möglicherweise haben Sie durch
unsere Nachfragen bereits mehr Antworten erhalten, als
Ihnen lieb ist.
Wir meinen: Die Politik muss dem Handwerk mehr
Aufmerksamkeit widmen.
Viele Handwerkerinnen und Handwerker sind unzufrie-
den. Sie sind mit ihrer Pflichtmitgliedschaft in den
Handwerkskammern nicht einverstanden. Das muss
ernst genommen werden. Die Unzufriedenheit ist be-
gründet. Es fehlt den Kammern an demokratischer Legi-
timation.
Das betrifft sehr wohl auch die Wahlen, und das betrifft
politische Äußerungen und Beschlussfassungen ohne
Legitimation. Es fehlt den Kammern an Transparenz.
Das betrifft vielfach Vorstandsgehälter, Pensionsansprü-
che und Rücklagen. Viele Pflichtmitglieder fühlen sich
abgezockt. Es gibt hohe Gebühren, aber kaum Gegen-
leistungen. Auch die enormen Unterschiede zwischen
den Beitragssätzen der verschiedenen Handwerkskam-
mern sind unerträglich. Die Beiträge für die Betriebe
müssen fair und transparent ausgestaltet werden. Klein-
und Kleinstbetriebe gehören entlastet.
Dadurch würde die Selbstverwaltung im Handwerk mit
ihrem Praxisbezug und ihrer Sach- und Fachkompetenz
wieder besser legitimiert und akzeptiert werden.
Außerdem: Die Situation vieler Handwerkerinnen
und Handwerker ist nicht nur wegen der aufgezählten
Defizite schwierig, sondern auch, weil sich die Leute
vieles, was das Handwerk anbietet, nicht leisten können.
Damit Handwerk goldenen Boden hat, braucht es des-
halb den flächendeckenden Mindestlohn von 10 Euro.
Das fordert die Linke schon lange.
Einen schwierigen Stand hat insgesamt die Mittel-
stands- und Wirtschaftsvereinigung der CDU. Sie emp-
fiehlt den Abgeordneten, bei den Abstimmungen über
den Rettungsschirm mit Nein zu stimmen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Linke nimmt
die Belange des Handwerks ernst. Stimmen Sie unseren
Anträgen zu!
Evaluieren Sie die Handwerksnovelle! Demokratisieren
Sie die Handwerkskammern! Machen Sie sie transpa-
rent! Kämpfen Sie für den Mindestlohn, und stimmen
Sie morgen mit Nein bei den Gesetzespaketen zu dem
Fiskalpakt und dem sogenannten Rettungsschirm!
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich darf darauf hin-weisen, dass ich angesichts der fortschreitenden Zeit unddes anstehenden Fußballspiels nicht mehr beabsichtige,irgendwelche Zwischenfragen zuzulassen.
Nächster Redner ist für die Bundesregierung der Par-lamentarische Staatssekretär Ernst Burgbacher.
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Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und liebe Kolle-
gen! Ja, der Mittelstand ist Stabilitätsanker und gleich-
zeitig Wachstumsmotor für die deutsche Wirtschaft.
Frau Kollegin Strothmann hat das alles zutreffend ge-
schildert. Der Mittelstand umfasst eine breite Palette
vom Handwerk bis zum industriellen Mittelstand. Er ist
stark durch Familienbetriebe geprägt. Das Ausland be-
neidet uns um diese Struktur.
Der Begriff „German Mittelstand“ ist zu einem stehen-
den Begriff geworden. Wir wollen diesen Begriff welt-
weit verbreiten.
Ich möchte Ihnen die Mittelstandspolitik der Bundes-
regierung – ich habe nur drei Minuten – in drei Sätzen
deutlich machen. Erstens. Wir stärken die Grundlagen
des Erfolgsmodells „German Mittelstand“. Zweitens.
Wir unterstützen die unternehmerische Dynamik im
Mittelstand.
Drittens. Wir begleiten den Mittelstand in die Zukunft.
Zum ersten Punkt: Wir stärken die Grundlagen des
Erfolgsmodells „German Mittelstand“. Da ist zuallererst
das Bankensystem zu erwähnen. Unser Bankensystem
ist maßgeblich dafür verantwortlich, dass wir diesen
Mittelstand haben. Deshalb lassen wir daran nicht
rütteln.
Wir haben uns im Zusammenhang mit Basel III erheb-
lich engagiert. Wir sind einen gewaltigen Schritt weiter.
Ich behaupte heute: Basel III wird mittelstandsfreund-
lich gestaltet sein. Auch das ist ein entscheidender
Schritt. Wir lassen auch an der dualen Ausbildung nicht
rütteln, im Gegenteil: Wir werden die duale Ausbildung
noch viel stärker ausbauen und im Ausland dafür wer-
ben, weil die duale Ausbildung ein Glücksfall für unsere
Wirtschaft ist.
Zum zweiten Punkt: Wir unterstützen die unterneh-
merische Dynamik. Wir haben steuerliche Entlastungen
zu Beginn der Legislaturperiode – Unternehmensteuer,
Erbschaftsteuer – durchgesetzt. Wir wollen jetzt die
kalte Progression angehen. Meine Damen und Herren
von der Opposition, wenn Sie das im Bundesrat behin-
dern, dann ist das geradezu ein Anschlag auf den Mittel-
stand; denn das hat gewaltige Auswirkungen auf die Un-
ternehmer und die im Mittelstand Beschäftigten. Das
nimmt ihnen die Motivation. Deshalb: Machen Sie end-
lich mit!
Wir unterstützen die unternehmerische Dynamik, in-
dem wir die Bürokratie abbauen. Bei der sogenannten
Gelangensbestätigung haben wir Änderungen durchge-
setzt; wir haben ihr eigentlich alle Giftzähne gezogen.
Die Aufbewahrungsfristen haben wir auf acht Jahre ge-
senkt, und wir werden sie auf sieben Jahre reduzieren –
für den Mittelstand einer der größten Erfolge überhaupt.
Außerdem haben wir die elektronische Bilanz so verän-
dert, dass sie für den Mittelstand nicht zu Bürokratieauf-
wuchs, sondern zu einem deutlichen Bürokratieabbau
führt. Das ist konkrete Politik für den Mittelstand.
Zum dritten Punkt: Den Mittelstand in die Zukunft zu
begleiten, bedeutet Innovation. Unser Flaggschiff ist das
Zentrale Innovationsprogramm Mittelstand. Wir haben
die Mittel auf 500 Millionen Euro erhöht. Außerdem för-
dern wir Gründungen, und zwar im Rahmen unserer Ini-
tiative „Gründerland Deutschland“. Darüber hinaus ha-
ben wir neue Wege geschaffen, an Wagniskapital zu
kommen, sowohl mit dem High-Tech Gründerfonds als
auch durch die steuerliche Unterstützung von Business
Angels. Auch bei der Bekämpfung des Fachkräfteman-
gels sind wir aktiv. Ferner begleiten wir den Mittelstand
auf dem Weg ins Ausland; dieser Schritt ist für uns ganz
wesentlich.
Meine Damen und Herren, ich freue mich, dass ich in
allen Gesprächen, die ich mit Vertretern des Mittelstands
führe, und bei all meinen sonstigen Kontakten immer
wieder spüre: Der deutsche Mittelstand ist stolz darauf
und glücklich darüber, eine Mittelstandsregierung an sei-
ner Seite zu haben. Das wird so bleiben.
Vielen Dank, Herr Staatssekretär. – Nächster Rednerist für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen unserKollege Dr. Thomas Gambke. Bitte schön, KollegeDr. Gambke.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Meine sehr verehrten Damen und Herren!Beim Thema Mittelstand ist eines, glaube ich, in diesemHause unstrittig: seine große Bedeutung für die deutscheVolkswirtschaft, gerade in der jetzigen Situation. Da wirüber den Mittelstand reden, möchte ich gerne zwei The-men ansprechen, die mir sehr wichtig erscheinen.Das erste Thema lautet Innovation. Beim StichwortInnovation fällt mir als Erstes ein – vor allem, weil ichgerade Herrn Hinsken sehe –, was man nicht tun darf.Man darf keine Branchenförderung, die nicht der Inno-vation dient, betreiben. Ich meine, dass auch die Kolle-gen von der SPD noch einmal in sich gehen und überle-gen sollten, ob die Kfz-Zulieferindustrie oder dieSchiffbaubranche tatsächlich einer besonderen Förde-rung bedürfen. Aber eines ist sicher: Wenn diese Berei-che gefördert werden, dann muss es sich, bitte schön, um
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Dr. Thomas Gambke
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eine Förderung handeln, die der Innovation dient; esmuss dabei also um die Entwicklung neuer Technologienund neuer Produkte gehen. Man darf aber nicht 1 Mil-liarde Euro für die Hotellerie zur Verfügung stellen.
– Ich weiß, dass Sie das nicht gerne hören.Herr Riesenhuber hat gleich die Gelegenheit, ausWorten Taten zu machen. Schließlich geht es um diesteuerliche Forschungsförderung. Die steuerliche For-schungsförderung für kleine und mittlere Unternehmenkostet 1 Milliarde Euro pro Jahr – hat aber Rendite. Washaben Sie gemacht? Sie reden seit 20 Jahren über diesesThema, haben aber nichts getan. Ich weiß, dass diesesVorhaben insgesamt bis zu 4 Milliarden Euro kostenwürde und wir dieses Geld nicht haben. HerrRiesenhuber, ich bin gespannt: nicht nur auf Ihre Worte,sondern auch auf Taten. Aber Taten lassen Sie, was diesteuerliche Forschungsförderung anbelangt, leider ver-missen.
Das zweite Thema, das ich im Zusammenhang mitdem Mittelstand ansprechen möchte, ist das Bohren di-cker Bretter. Man braucht einen langen Atem, bis Unter-nehmen zu dem geworden sind, was wir als HiddenChampions, als heimliche Sieger, bezeichnen. Gemeintsind damit Unternehmen, die mit innovativen Produktenam Markt sind und im globalen Wettbewerb wichtigePositionen erobern. Diese Unternehmen brauchen, wiegesagt, einen langen Atem. Was benötigen sie dafür? Siebenötigen schlicht und einfach Geld: Geld, um die Ent-wicklung ihrer Produkte voranzutreiben, und Geld, umes sich erlauben zu können, auch einmal ein Tal zudurchschreiten. Das bedeutet, dass wir ihre Eigenkapital-basis stärken müssen.An dieser Stelle muss ich sagen, meine Damen undHerren von der Koalition: Ich bin fast erschrocken, dassSie dieses Thema in den fast drei Jahren Ihrer Regie-rungszeit noch nicht aufgegriffen haben. Mit der Abgel-tungsteuer haben wir ein System geschaffen. Es hattegute Gründe, warum man sich damals so entschiedenhat. Aber dieses System hat auch Schwächen. Wie istheute die Situation? Bei einer Entnahme von Gewinnenfindet auf Ebene des Unternehmens eine Eigenkapitalbe-steuerung statt, und zwar in Höhe von fast 50 Prozent.Kapitalrenditen hingegen werden mit 25 Prozent besteu-ert. Das ist keine nachhaltige Situation. Ich möchte Siedoch sehr bitten, diesen Punkt anzugehen. Das gilt auchhinsichtlich der Thesaurierung bei Personengesellschaf-ten. Hier gibt es ein weites Feld. Ich muss Ihnen ehrlichsagen: Dazu habe ich nichts von Ihnen gehört. Das istbeschämend für zwei Fraktionen, die sich hier hinstellenund sagen: Wir wissen, was Mittelstand ist.
Lassen Sie mich zum Abschluss eines sagen: DerMittelstand braucht Kontinuität; er braucht jemanden,der nachhaltig und berechenbar agiert. Das Bild, das Siebei der EEG-Förderung durch kurzfristige rückwirkendeÄnderungen abgegeben haben, war beschämend. HerrHinsken, Sie haben doch auch die Briefe und Stellung-nahmen aus dem Bayerischen Wald bekommen. Sie sindhier von Ihren eigenen Ministerpräsidenten zurückge-pfiffen worden. Ich würde mich an Ihrer Stelle schämen,hier über den Mittelstand zu reden, wenn Sie das, wasSie sich hier als Regierungsfraktion geleistet haben,nicht endlich in Ordnung bringen.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Kollege Dr. Gambke. – Nächster Red-
ner ist unser Kollege Professor Dr. Heinz Riesenhuber
für die Fraktion der CDU/CSU. Bitte schön, Kollege
Heinz Riesenhuber.
Herr Präsident! Meine lieben Kolleginnen und Kolle-gen! Frau Wicklein, es ist schon eindrucksvoll, dass Sieuns hier 186 Fragen gestellt haben. Einige davon sindschon andiskutiert worden, nämlich die Fragen zumHandwerk, zur Finanzierung und zu einer Reihe von an-deren Punkten. Herr Gambke, ich freue mich, dass Sieden innovativen Mittelstand mit so fröhlichem Unter-nehmungsgeist ins Gespräch gebracht haben.
Der Herr Staatssekretär hat das hier auch beiläufig an-gesprochen; er hatte ja nur bescheidene drei Minuten.
Zur Sache. Wenn wir uns anschauen, wie sich derforschende Mittelstand in den vergangenen Jahren ent-wickelt hat, dann sehen wir, dass das eine Erfolgsge-schichte war. Die Bundesregierung hat die Aufwendun-gen für Forschung seit 2005 um über 50 Prozent erhöht.Die kleineren Unternehmen des Mittelstands haben ihreAufwendungen für Forschung um 54 Prozent, die größe-ren um 42 Prozent erhöht. Die Wirtschaft insgesamt hatsie dagegen nur um 30 Prozent erhöht. Der Mittelstandist mit Schwung im Bereich der Forschung tätig gewe-sen.Gut, wir haben mit einigen Programmen geholfen,zum Beispiel mit dem Zentralen InnovationsprogrammMittelstand, für das rund 500 Millionen Euro jährlich zurVerfügung stehen, und mit der Industriellen Gemein-schaftsforschung, für die wir die Mittel auf 135 Millio-nen Euro erhöht haben. Diese Gelder fließen auch undstehen nicht nur im Haushaltsplan, wie das in früheren
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Zeiten – ganz alte Leute erinnern sich noch an Bundes-kanzler Schröder – geschehen ist.
Die Förderung erfolgt auf solide und gesunde Weise undgeht von der Initiative KMU-innovativ des Forschungs-ministers bis hin zu den neuen Initiativen des Wirt-schaftsministers im Rahmen seines Innovationskonzeptsauch für Gründungen. Wir haben hier einiges getan.Der Witz ist aber, dass der Mittelstand gar keine Sub-ventionen will. Der Mittelstand hält es schon für einegroßartige Leistung des Staates, wenn er die Leute nichtmehr als nötig bei der Arbeit stört.
Deshalb haben wir für Bürokratieabbau gesorgt. FrauWicklein, eine Ihrer Fragen war – ich habe die Fragensorgfältig und mit Interesse gelesen; die Beamten, dieihre Sommerpause jetzt anders gestalten müssen, werdensie genauso neugierig lesen –, was für den Bürokratieab-bau geschehen ist. Bis zum Jahresende werden wir dieBürokratiekosten um 25 Prozent abgebaut haben. Dasentspricht ungefähr 12 Milliarden Euro. Das ist ein ge-waltiger Betrag. Vor allem haben die Leute jetzt denKopf frei für die Arbeit.
Herr Gambke hat hier zu Recht einige Punkte ange-mahnt, zum Beispiel die steuerliche Forschungsförde-rung. Ich gebe schon zu: Auch in der Großen Koalitionhaben wir das nicht geschafft, obwohl wir in herzlicherEintracht darauf hingearbeitet haben. Wir haben gesagt:Sobald das mit dem Haushalt geht, werden wir das ma-chen. So haben wir das auch beschlossen. Garrelt Duin,den wir hier verloren haben, ist inzwischen in einer an-deren Funktion tätig. Wir hoffen sehr, dass er mit seinerganzen Leidenschaft für die steuerliche Forschungsför-derung auch im Bundesrat kämpfen wird, sodass wir denBundesrat bei einer Steuerentlastung auf unserer Seitehaben. Das wäre eine glanzvolle Leistung.
Das heißt, das Projekt ist ausdiskutiert, und zwar vollerHarmonie. Wir müssen jetzt nur noch ein bisschen Geldbeibringen; Sie haben die Größenordnung genannt.Es gibt noch andere Punkte, bei denen wir uns genauüberlegen müssen, was wir mehr machen müssen. FrauWicklein sprach von Unternehmensgründungen undWagniskapital. Wir haben, was die staatsnahen Fondsangeht, eine großartige Landschaft. Es gibt kein anderesLand, das so viele Fonds hat: ERP/EIF-Dachfonds, denHigh-Tech Gründerfonds II, der mit der Industrie zusam-men aufgelegt worden ist, das Programm EXIST. Wirhaben den ERP-Startfonds der KfW. Wir haben eineganz vielfältige großartige Landschaft. Aber was unsnoch fehlt und woran wir arbeiten, ist die steuerlicheFörderung von innovativen Unternehmensgründungen.Hierzu haben wir in der Großen Koalition, die es ja ein-mal gab – ich hoffe, Sie erinnern sich mit Wonne andiese beglückende Zeit –,
ein Gesetz beschlossen – MoRaKG hieß es; ich erläuterejetzt nicht, was es war –, das in Europa majestätisch andie Wand gefahren worden ist. Böse Zungen sagen, dassder Finanzminister es genauso gestrickt hat.Was wir jetzt machen müssen, ist, genau hier anzuset-zen. Die Bundeskanzlerin hat einen großartigen Innova-tionsdialog mit Wissenschaft und Wirtschaft angelegtund empfohlen, dass genau diese Punkte in einem Be-richt vorgelegt werden müssen, der übrigens, HerrStaatssekretär, fällig ist. Wir warten voller Neugier da-rauf. Darin geht es um steuerliche Transparenz für Wag-niskapitalfonds, darum, wie man Managementleistungenin diesem Fonds besteuert, und um die Frage, wie mandie Verlustvorträge behandelt, wenn der Mehrheitseignerin innovativen Unternehmen wechselt. Das heißt, es gibtkonkrete Punkte. Lieber Herr Staatssekretär, ich nehmegerne die Gelegenheit wahr, Ihnen den dringendenWunsch des Parlaments zu Füßen zu legen, dass wir vonder Bundesregierung entsprechend dem Innovationsdia-log unserer Bundeskanzlerin konkrete, saubere, zu-kunftsführende Beschlüsse bekommen, die zu Dynamikführen und das flankieren, was man durch direkte Staats-fonds nicht erreicht.Ich sehe einem weiteren Punkt mit Neugierde entge-gen. Es wird ja mit wachsender Leidenschaft die Fragenach innovationsfördernder öffentlicher Nachfrage ge-stellt. Wir haben nach großer Mühe ins Gesetz gegenWettbewerbsbeschränkungen geschrieben, dass nicht nursoziale und umweltfreundliche, sondern auch innovativeAspekte berücksichtigt werden sollen, wenn öffentlicheAufträge vergeben werden. Das scheint mir eine tolleSache zu sein. Wenn beim Wirtschaftsministerium dazuPilotprojekte laufen und die Europäische Union ihreMitgliedsländer auffordert, dies zu verstärken, wenn vonverschiedenen Seiten darauf gedrängt wird, die öffentli-che Nachfrage zu nutzen, dann haben wir bei einem Vo-lumen von 300 Milliarden im Jahr, selbst wenn nur1 Prozent davon innovationsrelevant ist, etwas, waszieht. In den klassischen Bereichen der Förderung desinnovativen Mittelstands sind wir sehr gut. Aber die Be-reiche der steuerlichen Förderung von Unternehmens-gründungen – –
Herr Kollege Riesenhuber, wenn Sie immer vom Pult
weggehen, dann sehen Sie ja nicht, dass die Anzeige
leuchtet. Darauf möchte ich dringend hinweisen.
Ich lege am besten einen Zettel darauf; dann stört das
nicht weiter. Aber ich bedanke mich für die Mahnung,
Herr Präsident.
Es sollte auch ein Hinweis auf Ihre Redezeit sein.
Ich dachte, es ginge nur um das Optische.
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Dr. Heinz Riesenhuber
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Wir haben also eine Reihe von Punkten, wo wir un-sere Möglichkeiten noch nicht uneingeschränkt ausge-schöpft haben. Wir streiten uns in anderen Punkten herz-lich; aber im Bereich „Forschung und Mittelstand“ gibtes schon einige Übereinstimmungen. Wenn hier die der-zeitige Opposition, die im Bundesrat immerhin ein ge-wisses Gewicht hat, mit der gleichen Leidenschaft dafürkämpft, dann bekommen wir eine Landschaft, in der dieLeute glücklich sind, weil sie tun können, was sie wirk-lich tun wollen, ohne dass man sie behindert, weil sie et-was Neues aufbauen können, weil sie Schwung in unsereArbeitswelt bringen.
Herr Professor, Vorlesungen kann man überziehen,
Debatten im Bundestag weniger.
Gut. Ich nehme die Mahnung in Demut entgegen.
Ich wünsche uns einen fröhlichen und entschlossenen
Aufbruch mit einer Gemeinsamkeit für die Zukunft un-
seres tüchtigen innovativen Mittelstands.
Vielen Dank, Kollege Professor Dr. Heinz
Riesenhuber. – Als Nächste spricht unsere Kollegin Rita
Schwarzelühr-Sutter für die Fraktion der Sozialdemo-
kraten. Bitte schön, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter.
Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Sehr geehrte Damen und Herren! Nach die-sem Vortrag über Herrn Riesenhubers schöne neue Weltfällt es einem schwer, wieder zur harten Realität zurück-zukommen.
Man kann sich zwar auf den Lorbeeren ausruhen, aberman muss doch die Realität sehen.Frau Voß, gehört für Sie das Handwerk nicht zumMittelstand? Wenn man Sie so hört, könnte man meinen,dass der Mittelstand ohne das Handwerk auskommt. Wowar da die Kritik? Wir in Baden-Württemberg gehenunter Grün-Rot beispielhaft voran.
Wir haben für das Handwerk das Tariftreuegesetz aufden Weg gebracht und gesagt: Ehrliche Handwerker, dieeinen ordentlichen Lohn bezahlen – ich weiß, dasmachen meine Handwerker in Baden-Württemberg –,profitieren davon.
Ja, die Lage ist gut. Wir haben gute Bedingungen,gute Beschäftigungszahlen und gute Umsätze. Wirhaben auch eine gute Finanzierungslage. Allerdings lässtdie Nachfrage bei Krediten aufgrund der Euro-Krisenach. Wir haben die Herausforderungen beschrieben: derFachkräftebedarf und vor allem die Energiewende, dielängst überfällig ist.Auch wenn die Stimmung sehr gut ist, muss man sichansehen, wie sich die Kosten für Energie entwickeln;denn diese wollen wir im Griff haben. Deutsche Unter-nehmen brauchen Planungssicherheit, um weiterhinwettbewerbsfähig zu sein. Das gilt insbesondere für dasLogistikgewerbe und das Verkehrsgewerbe. Da spielendie Energiekosten eine gewaltige Rolle.Die Bundesregierung hat sich gezwungenermaßen imvergangenen Jahr zur Energiewende entschlossen.Schade, dass Sie noch unentschieden sind, ob Sie nunbackbord oder steuerbord segeln. Aber entscheiden Siesich endlich, mit der Energiewende zu beginnen, undsetzen Sie dafür die Segel.
Die Bewältigung der Energiewende ist eine der zen-tralen Herausforderungen für den WirtschaftsstandortDeutschland. Den Umbau der Energieversorgung schaf-fen wir nur mit dem Mittelstand als Produzent undDienstleister. Der Mittelstand braucht gezielte Unterstüt-zung innerhalb der Wachstumsfelder erneuerbare Ener-gien, Energieeffizienz und nachhaltige Mobilität, um dieneuen Entwicklungen aufzugreifen und die entsprechen-den Marktchancen tatsächlich nutzen zu können. Aberdie Bundesregierung hat weder einen Masterplan nochhat sie sich als Vorbild bei der Umsetzung der Energie-effizienzrichtlinie erwiesen. Ihr EU-Kommissar hat da-rauf hingewiesen, dass es besser gewesen wäre, wenndiese Bundesregierung, was die Energieeffizienzricht-linie angeht, gar nicht erst nach Brüssel gekommenwäre.Jetzt haben die Minister Rösler und Altmaier ange-kündigt, Mittelstand und Handwerk bei den Stromkostenzu entlasten. Das haben wir gehört; wir wollen aber auchTaten sehen.Die Energiewende ist eine gesamtgesellschaftlicheAufgabe. Wir brauchen ein Monitoring, das die Preisent-wicklung für Verbraucherinnen und Verbraucher und dieWirtschaft im Auge behalten wird. Die Preisentwicklungmuss transparent und nachvollziehbar sein.
Bei der Diskussion über die Kosten darf man allerdingsnicht aus dem Blick verlieren, dass die Energiewende fürUnternehmen erhebliche Chancen darstellt. Wir benötigenin Deutschland eine Qualifikations- und Qualitätsoffen-sive. Nehmen Sie zum Beispiel den Bau- und Gebäude-technikbereich. Sowohl bei der Verarbeitung als auch beidem Einbau komplexer Energieeffizienzsysteme brauchen
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Rita Schwarzelühr-Sutter
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wir qualifizierte Handwerkerinnen und Handwerker. Des-wegen müssen die Anforderungen frühzeitig in Aus- undWeiterbildung der entsprechenden Berufe einbezogenwerden; dabei diskutieren wir nicht unbedingt über dieHandwerksrolle. Das muss vorangebracht werden; sonstkönnen wir das gar nicht bewältigen.
In Zusammenarbeit mit Sozialpartnern sind entspre-chende Verordnungen zu überarbeiten. Wir brauchenauch Weiterbildungstarifverträge und Sozialpartnerver-einbarungen.Es gibt noch andere Bereiche beim Thema Energie,wo der Mittelstand profitieren kann. Aber ich sehe, dassdas Licht blinkt, Herr Präsident.Setzen Sie endlich die Segel, damit wir beim Mittel-stand vorankommen. Der Wirtschaftsstandort Deutsch-land braucht dringend eine zukunftssichere und wettbe-werbsgerechte Versorgung mit erneuerbarer Energie.Wenn Sie das auf den Weg bringen, dann sind wir mit Ih-nen im Boot.Herzlichen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Schwarzelühr-Sutter. –
Nächste und letzte Rednerin in unserer Aussprache ist
für die FDP-Fraktion unsere Kollegin Claudia Bögel.
Bitte schön, Kollegin Claudia Bögel.
Sehr verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen undKollegen! Mittelständische Unternehmen haben im We-sentlichen dazu beigetragen, Deutschland nach dieserWirtschaftskrise wieder auf Wachstumskurs zu bringen.Es gilt nun, diesen Erfolgskurs des Mittelstandes weiterzu festigen und die kleinen und mittleren Unternehmenin ihrer Leistungs- und Risikobereitschaft bestmöglichzu unterstützen. Die Regierung tut dies. Die Politik musshierfür die richtigen Rahmenbedingungen setzen unddiese auch kontinuierlich verbessern. So kann die mittel-ständische Wirtschaft ihr Entwicklungspotenzial, ihrInnovationspotenzial und ihre nationale und internatio-nale Wettbewerbsfähigkeit entfalten.Zu drei wichtigen Themen möchte ich kurz Stellungnehmen – ich habe leider nicht sehr viel Redezeit –:Finanzierung, Fachkräftemangel und Innovationspoten-zial.Ein zentrales Thema ist die Stabilisierung des Euro-Raums. Mehrheitlich gehen die Exporte der mittelständi-schen Unternehmen in den europäischen Raum. Dasmuss beachtet werden. Denn so gut die Ideen und somotiviert die mittelständischen Unternehmer und ihreMitarbeiter auch sind: Es gilt der Grundsatz „OhneMoos nix los“.Die Unternehmensfinanzierung des Mittelstandesmuss eine stabile und verlässliche Basis haben.
So sollte unsere Arbeit gezielt die neuen Regulierungenvon Basel III berücksichtigen. Hier müssen wir daraufachten, dass diese für die Finanzierung des Mittelstandesnicht zur Gefahr werden. Die Neuregelung zur Eigenka-pitalanforderung der Banken darf nicht zu einem Kolla-teralschaden bei der Kreditvergabe an mittelständischeUnternehmen führen.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Unterzeichnerder Großen Anfrage sehen eine Gefahr im demografi-schen Wandel und in dem damit einhergehenden Fach-kräftemangel. Sehr richtig. Weil wir aber da sind, woman uns braucht, wissen wir auch, dass die Unterneh-men nicht unvorbereitet sind. Da kann ich nur aus demMärchen von dem Hasen und dem Igel zitieren: „Ich binschon da“. Noch wichtiger ist: Wir haben bereits re-agiert. Nach dem bewährten Schema „Kräfte bündeln,um mehr Schlagkraft zu erhalten“ haben Wirtschafts-minister Dr. Rösler und Ministerin von der Leyen ge-meinsam mit der Agentur für Arbeit die Fachkräfteof-fensive, ein wirklich wunderbares Programm, gestartet.Die Priorität liegt bei der Information und Mobilisierungder Wirtschaft, der Arbeitskräfte und der Öffentlichkeit.
Der Mittelstand ist innovativ. Das ZIM, das ZentraleInnovationsprogramm Mittelstand, ist ein wachstums-orientiertes Programm, das sich auch in Krisenzeitensehr bewährt hat. Der Mittelstand setzt darauf. So setzenwir uns zum Ziel, dieses bewährte Programm auch über2013 hinaus fortzusetzen.In Ihrer Anfrage fordern Sie – wie sollte es auchanders sein? –, dass der Staat in die Unternehmens-geschicke eingreift, um mehr Frauen in mittelständischeUnternehmen zu bekommen. Da haben wir es schonwieder: das Thema Frauenquote. Als mittelstandspoliti-sche Sprecherin meiner Fraktion kann ich dazu nur sa-gen: Die Wirtschaft sollte die Entscheidung treffen, wensie einstellt, und zwar nach Qualifikation.
Ohne weibliche Nachwuchs- und Führungskräfte geht esin Zukunft sowieso nicht mehr. Das hat der Mittelstandschon längst erkannt.Liebe Kolleginnen und Kollegen, stellen Sie gerneIhre Fragen. Unsere gute Regierung wird sie beantwor-ten.
Ich freue mich, dass es unserer Wirtschaft so gut geht;denn nichts ist sozialer als ein Arbeitsplatz, und diemeisten Arbeitsplätze bietet der Mittelstand.
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Claudia Bögel
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Daher setzen wir alles daran, ebendiesen Mittelstand zuunterstützen.Vielen Dank.
Vielen Dank, Frau Kollegin Bögel.
Wir sind nun am Ende der Aussprache zu diesem Ta-
gesordnungspunkt. Infolgedessen kann ich die Ausspra-
che schließen.
Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen auf
den Drucksachen 17/5229, 17/9220 und 17/9221 an die
in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse zu über-
weisen. Sind alle damit einverstanden? – Das ist der Fall.
Dann sind die Überweisungen so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 14 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. Günter
der CDU/CSU sowie der Abgeordneten Gisela
Piltz, Hartfrid Wolff , Manuel
Höferlin, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der FDP
Stiftung Datenschutz – Ein wichtiger Baustein
für modernen Datenschutz in Deutschland
– Drucksache 17/10092 –
Gemeinsam wurde vereinbart, eine halbe Stunde für
die Aussprache vorzusehen. Sind damit alle einverstan-
den? – Das ist der Fall. Dann haben wir das auch
gemeinsam beschlossen.
Erster Redner in dieser Aussprache ist für die Bun-
desregierung der Parlamentarische Staatssekretär Dr. Ole
Schröder. Bitte schön, Herr Parlamentarischer Staats-
sekretär Dr. Schröder.
D
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Wir leben in einer Welt, in der die elektronischeDatenverarbeitung immer wichtiger wird. Grundle-gende Funktionen unserer Gesellschaft, zum Beispiel dieWertschöpfung, Infrastrukturen und Kommunikation,sind mittlerweile von der Digitalisierung erfasst. Wirprofitieren von Innovationen in allen Lebensbereichen,die zum Teil erst durch die zunehmende Vernetzung unddie Verfügbarkeit größerer Datenmengen ermöglichtwerden. Die Digitalisierung bietet große Chancen und istMotor für Innovationen. Ich denke dabei an den Energie-sektor – CO2-Einsparungen werden durch Smart Gridsermöglicht –, den Gesundheitsbereich – dort sind großeInnovationen für jeden Einzelnen möglich, aber auchEinsparungen – oder an den Bereich E-Government.Darüber hinaus hat die digitale Vernetzung großen Ein-fluss auf unsere Kommunikation. Ich denke in diesemZusammenhang natürlich an die sozialen Netzwerke.Wir können über die Chancen der Digitalisierungnatürlich nicht reden, ohne gleichzeitig die Risiken zubedenken. Diese liegen auf der Hand, gerade im Bereichdes Datenschutzes. Da es möglich ist, Daten für unge-wollte Profilbildungen nutzbar zu machen, brauchen wirgute rechtliche Vorgaben, um die Menschen vor Daten-missbrauch zu schützen. Gerade die neue Datenschutz-verordnung, über die auf europäischer Ebene verhandeltwird, eröffnet große Möglichkeiten. Wir, die Bundesre-gierung, unterstützen das. Wir brauchen ein einheitlicheseuropäisches Datenschutzrecht. Wir wollen die Markt-macht von 500 Millionen Verbrauchern nutzen, um un-sere hohen datenschutzrechtlichen Standards auch ge-genüber Unternehmungen zur Anwendung zu bringen,die ihren Sitz nicht in Europa haben.Neben den rechtlichen Vorgaben kommt es im Be-reich des Datenschutzes aber maßgeblich auf das Verhal-ten jedes Einzelnen an. Der Verbraucher selbst nimmtEinfluss auf den Umgang mit seinen Daten. Entschei-dend ist, dass der Verbraucher um den Wert seiner Datenweiß und mit ihnen sensibel umgeht. Er sollte zum Bei-spiel bei der Auswahl einer Dienstleistung berücksichti-gen, ob der Anbieter dieser Dienstleistung datenschutz-freundlich ist oder nicht. Gerade bei sozialenNetzwerken spielt es eine große Rolle, ob die Grundein-stellungen datenschutzfreundlich sind oder nicht. Umdas selbst beurteilen zu können, brauchen die Verbrau-cher die erforderliche Aufklärung und das notwendigeFachwissen.Hier kommt die Stiftung Datenschutz ins Spiel. Diesevon der Bundesregierung neu zu gründende Stiftung willden Verbraucher dabei unterstützen, seine Rechte, aberauch seine Verantwortung im Umgang mit eigenen wiemit fremden Daten besser wahrzunehmen. Die Stiftungkann durch Aufklärungskampagnen auf Gefahren hin-weisen und praktische Tipps geben. Die Stiftung wirdauch einzelne Produkte und Dienstleistungen auf ihreDatenschutzfreundlichkeit hin überprüfen. Sie wirdDatenschutzauditverfahren entwickeln. Gegenstand ei-nes derartigen Verfahrens sind beispielsweise die An-wendung datenschutzrechtlicher Regelungen in Unter-nehmen und ihre Weiterentwicklung in Best-Practice-Verfahren. Diese Datenschutzaudits können dann vonanderen angewendet werden. So entsteht Innovation imBereich des Datenschutzes.Um die Stiftung möglichst praxisnah und an den ak-tuellen Problemen im Bereich des Datenschutzes auszu-richten, ist über den Beirat der Stiftung eine enge Zu-sammenarbeit mit der betroffenen Wirtschaft, mitstaatlichen Stellen des Bundes und der Länder, aber auchmit sonstigen Stellen – wie zum Beispiel mit der StiftungWarentest und dem Verbraucherschutz – vorgesehen.Meine Damen und Herren, die Stiftung Datenschutzsteht momentan am Anfang. Der Bundestag hat imHaushalt 10 Millionen Euro Stiftungskapital zur Verfü-gung gestellt. Wir haben die Satzung intensiv – auch mitder Koalition – beraten. Die Stiftung soll in Leipzig ein-gerichtet werden. Ich glaube, dass die vorgesehenen Au-
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Parl. Staatssekretär Dr. Ole Schröder
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ditierungsverfahren und die Prüfung von Produkten undDienstleistungen auf ihre Datenschutzfreundlichkeit hininsgesamt positive Effekte haben werden.Datenschutz wird immer mehr zu einem Qualitäts-merkmal von Unternehmen werden. Er wird sich auchimmer stärker zu einem Wettbewerbsvorteil entwickeln.Die Verbraucher werden das hoffentlich immer stärkerbei der Auswahl ihrer Produkte und ihrer Dienstleistun-gen berücksichtigen. Damit entsteht im Markt ein Wett-bewerb für den besseren Datenschutz. Genau das solldiese Stiftung befördern.Wir setzen daher mit dieser Stiftung ein wichtigesSignal für eigenverantwortliches Handeln im Bereichdes Datenschutzes. Ich bitte Sie alle, diese Stiftung beiihrer wichtigen Arbeit zu unterstützen.
Vielen Dank, Herr Parlamentarischer Staatssekretär
Dr. Ole Schröder. – Nächster Redner für die Fraktion der
Sozialdemokraten ist unser Kollege Gerold Reichenbach.
Bitte schön, Kollege Gerold Reichenbach.
Herzlichen Dank, Herr Präsident! Sehr verehrte Kol-leginnen und Kollegen! Liebe Zuhörer und Zuschauer!Ihre Worte waren sehr hehr, Herr Staatssekretär. Alleindie Praxis bei dieser Regierungskoalition sieht doch et-was anders aus.
Die heutige Debatte trägt den Titel „Stiftung Daten-schutz“. Eigentlich müsste ein ehrlicher Titel heißen: Beidieser schwarz-gelben Koalition geht Datenschutz stif-ten.
Sie haben mit großem Brimborium angekündigt: Da-tenschutz wird einer unserer Schwerpunkte. Die FDP hatsich sogar verstiegen, sich zu der Datenschutz- und Bür-gerschutzpartei Deutschlands auszurufen. Was ist dasErgebnis? Außer Spesen nichts gewesen.
Dabei sind die Probleme im Bereich des Datenschutzesdoch drängender denn je. Wir haben hier im Hauseschon mehrmals darüber diskutiert. Es gab Datenschutz-skandale bei Telekom und Bahn. Bei den sozialen Netz-werken Facebook und Google gab es Selbstherrlichkeitbeim Einsammeln und Verwenden von Daten der Bür-ger. Der letzte Skandal war, dass die Schufa in den sozia-len Netzwerken – sozusagen in den Fotokästchen derBürger – nach unsolidem Lebenswandel forschen wollte,um herauszubekommen, ob sie denn weiter kreditwürdigsind. In diesem Zusammenhang könnte die StiftungDatenschutz, richtig umgesetzt, durchaus ihren Beitragleisten. Das könnte – Sie haben es gesagt – durch Auf-klärung geschehen, aber auch durch Zertifizierung.Liebe Kolleginnen und Kollegen, jeder kennt das Ber-mudadreieck, in dem Schiffe und Flieger verschwinden.Das Datenschutz-Bermudadreieck der BundesrepublikDeutschland heißt Schwarz-Gelb.
Ich erinnere nur an die Nichtumsetzung der E-Privacy-Richtlinie und an die Novellierung des Telekommunika-tionsgesetzes, das schlicht und einfach nur an Wirt-schaftsinteressen ausgerichtet war. Weiter erinnere ichan das Dauerthema Beschäftigtendatenschutz und an dasgroß angekündigte Rote-Linie-Gesetz, von dem mannichts mehr hört. Alles ist in den Strudeln des Koali-tionsstreites und den Tiefen Ihrer Lobbyhörigkeit ver-sunken.
– Frau Piltz, in diese Reihe fügt sich auch die endloseStory um Ihre Stiftung Datenschutz ein.Sie sollte eigentlich schon 2011 starten. Das Geld lag2011 bereit. Man hat es in eine Treuhandstiftung über-führt, damit es nicht verfällt. Dann hieß es: Die Stiftungist spätestens bis spätestens Ende März 2012 betriebs-bereit. Der März ist längst vorbei, wir haben nichts gese-hen. Jetzt kommt der Antrag, und es heißt, dass es imOktober passieren wird. Schauen wir uns einmal an, wasdie Koalitionsfraktionen nach all diesem Gerangel über-haupt vorgelegt haben. Offensichtlich hat es dazu ge-führt, dass Sie das Konstrukt, das Sie hier jetzt vorlegen,noch nicht mal mehr in der Öffentlichkeit diskutierenwollen. Das ist das erste Mal, dass hier ein Antrag zu soeiner wichtigen Geschichte nur im Plenum diskutiertwerden soll und nicht in die Ausschussberatung über-wiesen werden soll, um dann dort auch einmal inhaltlichüber das Konstrukt der Stiftung, über die Ausgestaltungreden zu können.
Es geht sogar noch ein Stückchen weiter. Sie sagen, Siehaben eine Satzung. – Dem Hause liegt die Satzungnicht vor. Was uns aber vorliegt, Frau Kollegin Piltz, istdie Ankündigung, dass Sie am Montag der Presse erläu-tern sollen, wie es mit dem Konstrukt, mit der Satzungund der Stiftung weitergeht.Okay, da könnte ich ja noch sagen, die FDP bereitetsich offensichtlich auf die Situation vor, dass sie indiesem Hause nicht mehr präsent ist und nichts mehr zusagen hat.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22439
Gerold Reichenbach
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Aber momentan sind Sie noch Abgeordnete im Deut-schen Bundestag, und dann erwarten wir, dass Sie hierdas diskutieren, was Sie in diesem Land politisch voran-bringen wollen, und nicht am Montag gegenüber irgend-einem Pressegremium.
Wenn wir uns dann einmal die Struktur anschauen,dann sehen wir, dass Sie im Haushalt 10 Millionen Euroeingestellt haben. Das ist gemessen an dem, was auchder Staatssekretär eben an Auftrag vorgetragen hat, einTropfen auf den heißen Stein. Wie wollen Sie denn dieAufklärung der Verbraucher, die Förderung des Daten-schutzbewusstseins, die Zusammenarbeit mit den Lan-desdatenschutzbeauftragten überhaupt finanzieren?Die Lösung ist klar: Das wird nur funktionieren, wenndie Wirtschaft, und zwar die betroffene Wirtschaft, einengroßen Teil der Finanzierung übernimmt. Das trägt dochbereits den Keim des Scheiterns in sich.
Glauben Sie denn wirklich, dass die Wirtschaft ein In-strument der Aufklärung, ein Instrument der Zertifizie-rung finanzieren wird, das nicht ihren Bedürfnissen ge-nügt? Wir haben doch genug Erfahrung mit all denPlaketten und Zertifizierungen, die in der Vergangenheitunter der Ägide der betroffenen Wirtschaft aufgelegtworden sind. Mal ehrlich, wer guckt beim Einkauf nachdem DLG-Siegel, wer guckt denn nach dem deutschenWeinsiegel? Der Grund ist, dass diese Siegel alle so ab-geschliffen wurden, dass sie am Ende gar keine Aussa-gekraft mehr haben. Im Gegenteil! Beim deutschenWeinsiegel gab es ja einmal den Spruch – Sie erinnernsich an den ehemaligen CDU-Politiker Pieroth –: Wo einWeinsiegel drauf ist, ist Glykol drin.
Ich prophezeie Ihnen, dass Sie mit diesem Konstrukt,auch mit der Stiftung Datenschutz, genau dahin geraten.
Gucken wir uns das Konstrukt an! Die Stiftung selber istmit ihrem Verwaltungsrat eine reine Regierungsveran-staltung. Darin sitzen die Ministerien, nicht mal – wieursprünglich geplant; wie von Ihnen, Frau KolleginPiltz, groß vorgetragen – unabhängige Sachverständige,die die Garantie dafür geben, dass sie auch gegenüberder Öffentlichkeit als unabhängig gelten. Nein, reinMinisteriumsvertreter.Und wie sieht es in dem Beirat aus mit 25 Mitglie-dern? Da kann man sich die Frage stellen: Ist der über-haupt arbeitsfähig? Allein 14 Wirtschaftsvertreter, nocheinmal aufgestockt um 2. Die Zahl der BITKOM-Vertre-ter dort – das ist eindeutig ein Lobbyverband – hat sichverdoppelt.
– Ja, natürlich. – Die schreiben Ihnen jetzt sogar noch,dass das alles Murks ist, was Sie vorlegen. Die Verbrau-cherberatung, von der Sie sagen, Sie wollen sie miteinbeziehen, sagt: Das ist alles Murks. Die mittelständi-sche Wirtschaft für die Datenverarbeitung, die BerlinerDatenschutzrunde sagen: Das ist alles Murks.Das Ergebnis ist am Ende: Sie können noch nicht malmehr sagen, wie das Ganze denn eigentlich mit in dieArbeit der Landesdatenschutzbeauftragten eingeordnetwird. Soll das dann ein Siegel sein, das da irgendwo denDatenschutzbeauftragten signalisiert: Ihr braucht bei unsnicht mehr nachzugucken? So nach dem Motto, im Mit-telalter hat man Krähen an die Tür genagelt, damit dieGeister vom Hof fernbleiben. Sie nutzen dann Ihr Zerti-fizierungssiegel, um die Datenschutzbeauftragtenfernzuhalten? Das wird nicht funktionieren, wenn dieStandards nicht auch so gesetzt sind, dass die Daten-schutzbeauftragten sagen können: Das ist ein gewisserQualitätshinweis. – Das werden Sie mit dieser Konstruk-tion des Beirats, in dem die Wirtschaft vorherrscht, nichthinbekommen.Deswegen sage ich am Ende: Setzen Sie sich endlichfür einen ernsthaften Daten- und Verbraucherschutz ein,und legen Sie ein abgestimmtes Konzept vor, bei demdie zügige Errichtung einer unabhängigen Stiftung, einerwirklich unabhängigen Stiftung, integraler Bestandteilist! Den Antrag, den Sie hier in dieser Fassung vorgelegthaben, werden wir nicht nur deswegen ablehnen, weilSie sogar die Debatte in den Ausschüssen scheuen, son-dern wir werden ihn ablehnen, weil dieser Antragschlicht und einfach nichts mit Daten- und Verbraucher-schutz zu tun hat. Das, was Sie hier vorlegen, ist schlichtund einfach Murks.
Das Wort hat die Kollegin Gisela Piltz für die FDP-
Fraktion.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Für Liberale ist der zentrale Grundsatz des Daten-schutzes, dass mündige Bürgerinnen und Bürger selbstdarüber entscheiden, welche persönlichen Daten über siebekannt werden. Als mündige Bürgerin mache ich heutevon mir selbst öffentlich in Wort und Bild bekannt: Ichbin Fortuna-Düsseldorf-Fan. Ich freue mich, wenn ichdas hier sagen darf, dass meine Mannschaft in die ersteLiga aufgestiegen ist. Um im Bild zu bleiben: In dieerste Liga steigt jetzt auch der Datenschutz auf;
denn die Stiftung Datenschutz wird bis Oktober diesesJahres errichtet sein.
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22440 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Gisela Piltz
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Wir setzen mit der Errichtung dieser Stiftung denKoalitionsvertrag um, und das ist – das bekennen wir –ein Herzensanliegen der Liberalen gewesen. Es ist so,dass Datenschutz ein gesellschaftlich wirklich wichtigesThema geworden ist. Das war nicht immer so; aber dashat sich Gott sei Dank geändert. Deshalb ist es folgerich-tig, dass dies von der Bundesregierung mit einem neuenInstrumentarium begleitet wird.Herr Kollege Reichenbach, wenn ich Reaktionen wiedie von Ihnen höre, dann habe ich den Eindruck: Sie sindeigentlich bloß neidisch, weil Sie es nicht geschafft ha-ben.
Ganz ehrlich: Wie Sie sich hier als jemand verhalten, deraus der Partei Otto Schilys kommt! Er hat Daten überDaten gesammelt, mit jedem ausgetauscht, ohne Kon-trolle. Angesichts dessen wäre ich hier einmal ein biss-chen demütiger. Wenn Sie hier eine Geschichtsvorlesungdurchführen wollen, dann fühle ich mich herausgefor-dert, mit Ihnen einmal über die Beteiligung der Wirt-schaft an der Finanzierung der „Plattform Ernährung undBewegung“ zur Vorbeugung von Übergewicht bei Kin-dern und Jugendlichen für dicke Kinder zu reden; diesePlattform haben Sie, Rot und Grün, eingeführt. Auchdiesbezüglich können wir uns überlegen, ob das sinnvollist.
Wenn Sie Bundestrainer wären – um in meinem Bildzu bleiben –, dann würden Sie die Taktik so zerreden,dass am Ende auch die beste Mannschaft verliert.
So sieht es bei Ihnen mit dem Datenschutz aus. Da ist Ih-nen nicht zu helfen. Die Geschichte ist so: In Ihrer Re-gierungszeit ist der Datenschutz Stück für Stück in uner-gründlichen Tiefen verschwunden. Ja, ich bekenne: Eshat lange gedauert und für meine Fraktion manchmalauch zu lange. Aber der Unterschied ist: Wir schaffendas jetzt. Sie hätten es nie geschafft.
Auch der Kollege von Notz hat sich schon öffentlichbeklagt, diese Stiftung sei nur ein zahnloser Tiger.
Ich darf nur daran erinnern, wie die Grünen 1998 und2002 beim Datenschutz den Menschen weismachenwollten, sie starteten als Tiger. – Und sie sind doch nurals Bettvorleger gelandet.
Sie wollten doch tatsächlich 2002 in Ihrer Koalition– das muss ich vorlesen, weil es so wunderbar ist – prü-fen, wie durch die von Ihnen verlangte Stärkung „selbst-regulativer Modelle“ beim Datenschutz mittels moder-ner Kommunikation eine „institutionalisierte Plattformzur Koordination“ geschaffen werden könne. Dennochwerfen Sie uns jetzt vor, eine Stiftung Datenschutz grün-den zu wollen. Das müssen Sie einmal irgendjemandemerklären.
Wir stärken mit der Stiftung Datenschutz den Ansatz inder Informationsgesellschaft, der Dreh- und Angelpunktdes Datenschutzes ist: Eigenverantwortung des Einzel-nen, also Selbstdatenschutz, und Verantwortung derWirtschaft für den Umgang mit den Daten, die ihr anver-traut wurden.Wir setzen damit einen Kontrapunkt zu denen – auchdas ist ein Zeichen –, die meinen, Bevormundung sei derbeste Weg, die den Datenschutz als Schutz des Men-schen vor sich selbst verstehen. Diese Stiftung hat dieAufgabe, den Selbstdatenschutz zu verbessern und Auf-klärung zu leisten. Datenschutz ist heute nicht nur dieSumme aller Hoheitsakte, sondern aktive Gestaltung derUmgangsformen in der Informationsgesellschaft.Datenschutz ist aber auch ein Qualitätsmerkmal fürdie Wirtschaft. Das, was Sie hier so heruntergeredethaben, Herr Kollege, ist ein wichtiger Aspekt dieser Stif-tung. Die Firmen, die in den letzten Jahren durch Skan-dale aufgefallen sind, haben das leidvoll erfahren: Ihnensind Kunden von der Fahne gegangen, und ihr Image hatgelitten, als man mit den Kundendaten nicht ordentlichumgegangen ist. Ich glaube, dass die Entwicklung einesDatenschutzgütesiegels ein wichtiger Schritt auf demWeg des Datenschutzes ist. Wenn andere Siegel nichtfunktionieren, dann mag das so sein. Aber etwas nur des-wegen kaputtzureden, weil es nicht von Ihnen kommt, istwirklich der falsche Weg.
Es soll nicht so sein, dass diese Stiftung das Siegelselber vergibt; vielmehr sollen dadurch die Standardsfestgelegt werden. Natürlich werden wir den TÜV unddie Datenschutzbeauftragten einbeziehen. Aber, HerrKollege, nennen Sie mir einen Datenschutzstandard, einDatenschutzsiegel, das es heute schon gibt und mit demVerbraucher etwas anfangen können. Das gibt es nicht.Das ist ein Versäumnis, und das werden wir jetzt been-den. Für das Vertrauen in die Stiftung ist ihre Unabhän-gigkeit von entscheidender Bedeutung. Die nun vorlie-gende Satzung bietet der Stiftung den Rahmen dafür.Herr Kollege Reichenbach, für Sie ein bisschen Nach-hilfe in Sachen Geschäftsordnung. Ich verstehe, dass Sienach dem, was Sie hier geboten haben, jetzt keinen Bockmehr haben, mir zuzuhören und mich anzugucken. Abereines muss ich Ihnen noch sagen: Wenn Sie glauben, dashier sei keine öffentliche Debatte, dann drehen Sie sich
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22441
Gisela Piltz
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einmal um und schauen Sie nach oben, auf die Besucher-tribüne. Das hier ist eine öffentliche Debatte; in einemAusschuss wird nichtöffentlich debattiert. Die Damenund Herren da oben, die unserer Debatte heute freundli-cherweise folgen können, können das im Ausschussnicht. Wenn Sie das nicht wissen, gebe ich Ihnen gerneeinmal privat Nachhilfe.
Offensichtlich haben Sie es nötig, wenn Sie nicht wis-sen, was öffentlich und nichtöffentlich ist.
Wir glauben, dass dies für den Datenschutz ein guterAnfang ist. Der Beirat bindet viele Akteure ein, viel-leicht manchmal auch zu viele; aber am Ende des Tageswird sich auch das regeln. Wenn ich zum Schluss in mei-nem heutigen Bild bleiben darf:
Wie eine Fußballmannschaft braucht auch die StiftungDatenschutz Rückenwind und Begeisterung von denen,die Fans des Datenschutzes sind.
– Herr Korte, wenn Sie nicht so nette Reden halten kön-nen, kann ich Ihnen nicht helfen. – Der Fanblock
ist heute rechts von mir. Bei den Fans bedanke ich michganz herzlich. Eine La Ola nehme ich gerne entgegen.Ich hoffe, dass sich vielleicht der Fanblock links von mirirgendwann einmal einen Datenschutz-Fanschal umle-gen kann, um gemeinsam daran zu arbeiten, dass dieStiftung ein Erfolg wird und dass Datenschutz inDeutschland ein besseres Image erhält als bisher.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Jan Korte für die Fraktion
Die Linke.
Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe KolleginPiltz, damit wir uns nicht missverstehen: Die leidvollenGeräusche, die ich eben machte, hatten etwas mit deneben von Ihnen vorgetragenen Logiksaltos zu tun, diewirklich auch körperlich kaum zu ertragen sind;
das hatte nichts mit Begeisterung zu tun.Ich will trotz des dahingekritzelten Antrags versu-chen, ein wenig Seriosität in die Debatte zu bringen.
– Hören Sie doch einmal zu. – Sie hatten vor langer Zeitbei diesem Thema überraschenderweise eine mittelguteIdee: die Errichtung der Stiftung Datenschutz. Das isterst einmal sachlich festzustellen. Es hätte Potenzial ge-habt, daraus etwas Sinnvolles zu machen. Hätten Sie dieOpposition, die Ausschüsse und diejenigen, die davonAhnung haben, einmal eingebunden,
dann hätten Sie heute nicht so einen Wisch vorlegenmüssen. Jetzt liegt hier dieses dahingekritzelte Ding, dasSie hier unbedingt noch heute, vor der Sommerpause,durchbringen müssen, damit Sie in diesem Bereich über-haupt auch nur einen Punkt durchbringen. Ansonsten ha-ben Sie ja nichts durchgebracht; Sie haben voll versagt.Deswegen wird das jetzt hier eben einmal auf den Tischgeknallt.Ich will Ihnen aber sagen, inwiefern von Ihnen aus ei-ner guten Idee eine bemerkenswert schlechte Sache ge-macht wird. Das ist bei der FDP zwar nicht überra-schend; aber man hätte uns ja einmal überraschenkönnen.
– Der Kalaueranführer ist Ihr Fraktionsvorsitzender. Dakann keiner mithalten; den haben Sie.
Erstens. Die Stiftung ist massiv unterfinanziert. Sokann man überhaupt keine seriöse Zertifizierung und an-deres vornehmen.
Zweitens. Ein aktiver und aufklärerischer Daten-schutz – das ist die Grundregel – muss unabhängig sein.Das, was Sie machen, ist alles, nur nicht unabhängig. EinGutes hat der Antrag: Damit die Leute, die es sich antun,den Antrag zu lesen, es sofort begreifen, heißt es in Ih-rem Antrag zum Thema Unabhängigkeit, dass man sich„gemeinsam mit der Wirtschaft für eine ausreichende fi-nanzielle Basis der Stiftung einsetzen“ will. Das schrei-ben Sie da sogar hinein. Das hat doch nichts mit Unab-hängigkeit zu tun; das ist eine Gefälligkeitsstiftung derKonzerne. Das machen Sie, und nichts anderes.
Es ist wirklich nur absurd, was Sie hier vorlegen.
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Jan Korte
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Drittens. Sie besetzen alle möglichen Gremien, unddie Mitglieder werden vom BMI ausgesucht. Wir wissendoch: Wenn der Datenschutz beim BMI – bei Friedrich,bei Schily oder wie sie alle heißen – angesiedelt ist, istdas schlecht für den Datenschutz. Das hat die Geschichtedoch bewiesen.
Es ist einfach nur grotesk, was Sie hier vorlegen.Viertens. Mit der Stiftung Datenschutz – das ist nichtmal im Ansatz mehr witzig – lenken Sie von einer prekä-ren Unterfinanzierung der Landes- und Bundesdaten-schutzbehörden ab, die ihren Aufgaben nicht nachkom-men können, weil sie dafür kein Personal haben. Damitlenken Sie ab.Fünftens. Die Stiftung Datenschutz ist das einzigeProjekt, das die FDP in diesem Bereich überhaupt durch-gesetzt hat. Mich interessiert eines – der Kollege Mayerkann das für die Koalitionsfraktionen sagen –: In der ers-ten Fassung für die heutige Tagesordnung stand der Ta-gesordnungspunkt Arbeitnehmerdatenschutz. Wir habenuns gefreut, diesen Tagesordnungspunkt in der Debatteargumentativ zu versenken. Dann ist es ganz interessantgewesen: Man reist aus dem Wahlkreis an, und der Ta-gesordnungspunkt ist von der Tagesordnung verschwun-den. Vielleicht können Sie, Kollege Mayer, uns einmalüber den Grund aufklären; denn statt so eine komischeStiftung zu installieren, wäre es für den Datenschutz, vorallem für die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, dasWichtigste gewesen, dies hier durchzusetzen. Von Ihnenkommt gar nichts; denn Sie sind den Unternehmerinte-ressen verpflichtet und nicht dem Datenschutz der Be-schäftigten. So sieht es aus.
Deswegen fasse ich zusammen: Wir werden mit vol-ler Begeisterung diesen Antrag ablehnen.
Wir finden das ganze Verfahren reichlich bizarr. Sie ha-ben nicht einmal den Mumm, über dieses Thema mit denFachleuten im Ausschuss und in einer Anhörung zu dis-kutieren. Ich finde, das ist eine schwache Performance,die Sie liefern.
Deswegen steht die Linke, im Gegensatz zu Ihnen, füreinen unabhängigen und kritischen Datenschutz, der zu-erst und in besonderer Weise den Schwächeren in dieserGesellschaft ein demokratisches Instrument gegen dieWirtschaft, gegen die Mächtigen und auch gegen Sie indie Hand geben sollte. Deswegen lehnen wir diesen An-trag ab.Schönen Dank.
Der Kollege Dr. Konstantin von Notz hat für dieFraktion Bündnis 90/Die Grünen nun das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Meine sehr verehrten Damen und Herren! Als man vornunmehr drei Jahren im Koalitionsvertrag das Kapitelüber den Datenschutz erstmalig las, konnte man für denDatenschutz vorsichtig optimistisch sein. Wir habendiese Absichtserklärungen damals durchaus anerkanntund unsere konstruktive Unterstützung zugesagt. In derlangen, langen Zeit des Wartens auf Konkretes haben wirimmer wieder gesagt: Eine Stiftung könnte zweifellosein wichtiges Projekt für einen besseren Datenschutzsein. Aber das, was Sie hier heute unter dem Label derStiftung vorlegen, ist einfach zu wenig.
Man hat sich ja damit abgefunden, dass Sie die not-wendige Reform des BDSG sträflich liegen gelassen ha-ben. Frustriert sahen wir uns gezwungen, Ihre Arbeit zuerledigen, und ein eigenes, tragfähiges Beschäftigtenda-tenschutzgesetz vorzulegen. Wir beobachten derzeit,Herr Staatssekretär Schröder, wie das Innenministeriumden Prozess der Schaffung eines effektiven europäischenDatenschutzrahmens eher zu hintertreiben scheint. Dasist etwas ganz anderes, als Sie es eben gesagt haben.
Die Stiftung war Ihr letztes Feigenblatt. Nach derVorlage Ihres heutigen Entwurfs stehen Sie nun endgül-tig datenschutzrechtlich nackt im Wind, sehr geehrteKolleginnen und Kollegen.Der Reformbedarf ist unbestritten hoch. Ähnlich wiebeim Urheberrecht ist der Datenschutz durch Digitalisie-rung und Internet zu einem zentralen gesellschaftspoliti-schen Thema geworden, das die Bürgerinnen und Bürgerpraktisch täglich betrifft.Das in Deutschland bestehende unabhängige Daten-schutzsystem und das zugrunde liegende Ordnungsrechthaben sich grundsätzlich bewährt. Aber angesichts einertechnologisch höchst dynamischen Entwicklung mussauch der Datenschutz dynamisch weiterentwickelt wer-den. Im Hinblick auf das wichtige Ziel der Vergabe vonGütesiegeln hätte eine starke, eine unabhängige StiftungDatenschutz eine wertvolle Ergänzung der bestehendenStrukturen sein können, Frau Kollegin Piltz. Wir brau-chen neue Instrumente der Steuerung und einen Mehr-ebenenansatz, auch um zusätzliche Anreize für ein höhe-res Datenschutzniveau zu schaffen. Was Sie uns aberhier als unabhängige Stiftung verkaufen wollen, istnichts anderes als eine winzige Außenstelle des BMI,des Innenministeriums, das in letzter Zeit in diesem Be-reich nur dadurch auf sich aufmerksam gemacht hat,dass es den Datenschutz ganz neu denken möchte.Ich sage Ihnen: Die zwei Angestellten – von diesenGeldern können Sie nämlich nur zwei Angestellte finan-zieren – werden im Wesentlichen damit beschäftigt sein,die Sitzungen des halbjährlich stattfindenden Wirt-schaftsrats zu organisieren. Das ist keine effektive Da-tenschutzpolitik, Frau Kollegin Piltz; das ist auch nichtder kleinste gemeinsame Nenner zwischen den Wirt-
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Dr. Konstantin von Notz
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schafts- und Bürgerrechtsflügeln dieser schwarz-gelbenKoalition, sondern das ist das Zeugnis Ihres kläglichenVersagens im Bereich Datenschutz in dieser Legislatur-periode.
Die Währung des Datenschutzes ist Vertrauen. Dasgilt für die Bürgerinnen und Bürger, aber auch für dieWirtschaft, die endlich einen verbindlichen Rahmen fürInnovations- und Investitionssicherheit braucht. Dochnur unabhängige Institutionen verdienen Vertrauen. IhreStiftung aber wird einseitig von der Exekutiven be-herrscht. Das BMI allein dominiert Vorstand und Ver-waltungsrat nach Belieben, Frau Piltz.
Das kann doch nicht allen Ernstes Ihr Ansatz sein!Der Beirat ist so wirtschaftslastig, dass von einer pari-tätischen Besetzung kaum gesprochen werden kann. IhrVersuch, das BMI als Türöffner zu nutzen, um die Wirt-schaft auf Augenhöhe mit den Aufsichtsbehörden an ei-nen Tisch zu setzen, verdient kein Vertrauen, ganz imGegenteil. Ihr Vorgehen nährt den Verdacht, dass Sie einU-Boot in das bestehende Aufsichtssystem integrierenwollen. Das ist mit uns nicht zu machen.
Zu guter Letzt: Mit dem, was Sie hier heute vorgelegthaben, beschädigen Sie die grundsätzlich gute Idee einerStiftung Datenschutz. Das ist auch der Grund, warumsich nicht nur die bösen Grünen und der Rest der bösenOpposition diesem Vorhaben entgegenstellen, sondernauch die Datenschutzbeauftragten des Bundes und derLänder, die Verbraucherzentralen und die Berliner Da-tenschutzrunde.Sie alle fordern: Keine Zustimmung des Bundestageszu dieser Vorlage. Denn das, was Sie hier vorhaben, hatein sehr viel höheres Schadenspotenzial, als dass esnützt.Ganz herzlichen Dank.
Für die Unionsfraktion hat nun der Kollege Stephan
Mayer das Wort.
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr verehrte Kolle-ginnen! Sehr geehrte Kollegen! Vor Beginn dieser De-batte dachte ich eigentlich, dass sie relativ ruhig, unauf-geregt und sachlich verlaufen würde. Denn an sich teilenwir doch ein Ziel: Wir wollen den Datenschutz inDeutschland verbessern,
wir wollen den Datenschutz hier im Hause voranbringenund insgesamt mehr für den Datenschutz tun.Dass diese Debatte dann doch so aufgeregt und kei-fend verlief,
insbesondere seitens der Beiträge der Oppositionsvertre-ter, erweckt bei mir schon den Eindruck, dass Sie ein-fach nur sauer und bekümmert sind, dass Sie es nicht ge-schafft haben.
Wir sind jetzt so weit: Wir gründen die Stiftung Daten-schutz. Diese Stiftung wird einen wichtigen Baustein fürein modernes Datenschutzrecht in Deutschland darstel-len.
Als ich vor knapp zehn Jahren zum ersten Mal in denDeutschen Bundestag gewählt wurde, fristete der Daten-schutz noch ein stiefmütterliches Dasein – hier im Bun-destag, aber auch insgesamt in Deutschland. Man musssagen: In den letzten zehn Jahren hat sich viel getan.
Der Datenschutz ist mittlerweile ein Querschnittsthema,das alle Politikbereiche betrifft. Es gibt fast keinen Poli-tikbereich mehr, in dem der Datenschutz keine Rollespielt. Das ist an sich gut so.Die Erfahrungen haben gezeigt, dass es erheblichenVerbesserungsbedarf gibt. Das gilt teilweise für den Be-reich Recht; das ist richtig. Das Bundesdatenschutzge-setz ist zu alt; es ist in die Jahre gekommen und bedarfeiner Novellierung. Die Erfahrungen der letzten Jahrehaben aber auch gezeigt: Es gab immer wieder – teil-weise sehr unschöne – Ereignisse, die die Notwendigkeitoffenbart haben, in Deutschland mehr für die Aufklä-rung und die Bildung unserer Bevölkerung – vor allenDingen der jungen Bevölkerung – in Sachen Daten-schutz zu tun.Ich möchte offen sagen: Der beste Datenschutz ist derSelbstdatenschutz; das heißt, dass die Bürgerinnen undBürger selbstverantwortlich und sensibel mit ihren per-sonenbezogenen Daten umgehen.
Konkret in diesem Zusammenhang verspreche ich mirviel von der neuen Stiftung Datenschutz.
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22444 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Stephan Mayer
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Diese Stiftung wird in Zusammenarbeit mit den Länderndie Bildung und die Aufklärung verbessern. Die Länderals diejenigen mit der Kompetenz im Bereich der Bil-dungspolitik sind hier natürlich an erster Stelle gefor-dert.Der große Charme und der große Mehrwert dieserStiftung Datenschutz liegen aus meiner Sicht darin be-gründet, dass sie die erste konzertierte Stelle in ganzDeutschland ist, die die notwendige Bildungs- und Auf-klärungsarbeit zusammenführen kann. Ich persönlichverspreche mir davon, dass die Stiftung Datenschutz inwenigen Jahren eine ähnlich hohe Reputation genießtwie beispielsweise die Stiftung Warentest.Ein weiterer wichtiger Zweck wird die Schaffung undEntwicklung eines bundesweit anerkannten Datenschutz-audits durch die Stiftung sein, darüber hinaus ein Verfah-ren zur Vergabe von Datenschutzgütesiegeln sowie dieEntwicklung eines Gütesiegels.
Dabei wird es ganz entscheidend darauf ankommen, mitkompetenten Partnern von dritter Seite entsprechend zu-sammenzuarbeiten. Meines Erachtens steckt in diesemGütesiegel eine große und nicht zu unterschätzendeChance für Unternehmen. Ich bin der festen Überzeu-gung, dass es in wenigen Jahren für Unternehmen einentscheidender Wettbewerbsvorteil sein wird, wenn siedamit werben können, dass sie nicht nur das schon gel-tende Datenschutzrecht einhalten, sondern dass sie da-rüber hinaus überobligatorisch hohe Datenschutzstan-dards erfüllen, eben offenkundig vermittelt durch dasDatenschutzsiegel.
Es gilt, die Datenschutzsicherheit zu erhöhen. Ich binder festen Überzeugung, dass das nicht nur ein Themafür Onlinedienstleistungen ist. Datenschutz ist mittler-weile ein so allumfassendes Thema, dass es sich ausmeiner Sicht kein Unternehmen – und sei es auch nochso klein und egal in welcher Branche angesiedelt – leis-ten kann, sich dem Thema Datenschutz nicht anzuneh-men.Wir in Deutschland müssen darauf achten, dass dieStiftung Datenschutz nicht zu einer 18. Datenschutzbe-hörde verkommt. Vor diesem Hintergrund muss uns klarsein: Die Satzung bildet einen Rahmen, den wir in dennächsten Monaten entsprechend ausfüllen müssen. Ausmeiner Sicht kommt es entscheidend darauf an, dass wirbei der Besetzung des Vorstandspostens die richtige Per-son finden.
Dieser Entscheidung muss sehr große Aufmerksamkeitbeigemessen werden, damit wir die richtige Persönlich-keit finden. Ich bin aber auch der Überzeugung, dassdem Beirat eine wichtige Funktion bei der Arbeit zu-kommen wird.Herr Kollege Korte, ich teile Ihre Meinung nicht, dasses sich nur um eine Gefälligkeitsstiftung handelt.
Ich glaube, der große Mehrwert der Stiftung liegt darin,dass durch einen sehr breit aufgestellten Beirat – dazugehört nun einmal auch die Wirtschaft, weil sie in die-sem Bereich unser erster Ansprechpartner ist –
alle möglichen gesellschaftlich relevanten Gruppierun-gen umfasst werden: der Verbraucherschutz,
die Verwaltung, aber auch die Wirtschaft.Eben ist die in einer Pressemitteilung der Verbrau-cherzentrale Bundesverband geäußerte Kritik angespro-chen worden. In dieser Pressemitteilung offenbart sichein eklatanter Widerspruch. Einerseits wird bemängelt,dass die Finanzierung der Stiftung nicht ausreicht, umdie große Aufgabenfülle zu bewältigen, andererseitswird im nächsten Satz kritisiert, dass die Aufgabenbe-schreibung, der Zweck der Stiftung viel zu vage formu-liert seien. Beide Aspekte passen aber nicht zusammen.
Wir als Bundesgesetzgeber und auch als Haushaltsge-setzgeber können stolz darauf sein, dass wir 10 Millio-nen Euro zur Verfügung stellen, um die Stiftung ins Le-ben zu rufen. Natürlich muss uns auch klar sein: Die10 Millionen Euro werden nicht reichen. Die Stiftungwird Drittmittel benötigen, um effektiv arbeiten zu kön-nen.
Ich sage Ihnen ganz offen: Ich erwarte von der Wirt-schaft einen konstruktiven Beitrag.Die Stiftung Datenschutz kann viel bewirken. Sie isteine gute Sache. Die Wortmeldungen seitens der Opposi-tion haben mich ehrlich gesagt in meiner Auffassung be-stärkt, dass die Stiftung der richtige Schritt hin zu einemmodernen und effektiven Datenschutz in der Zukunft ist.Sie sind einfach nur beleidigt, dass Ihnen das nicht ein-gefallen ist, dass Sie das in Ihrer Amtszeit nicht ge-schafft haben.
In diesem Sinne hoffe ich auf eine möglichst breite Zu-stimmung in diesem Hause.Herzlichen Dank für die Aufmerksamkeit.
Ich schließe die Aussprache.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22445
Vizepräsidentin Petra Pau
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Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksache17/10092 mit dem Titel „Stiftung Datenschutz – Einwichtiger Baustein für modernen Datenschutz inDeutschland“. Die Fraktionen der CDU/CSU und derFDP wünschen Abstimmung in der Sache. Die FraktionDie Linke wünscht Überweisung an den Innenausschuss.Wir stimmen nach ständiger Übung zuerst über denAntrag auf Ausschussüberweisung ab. Ich frage deshalb:Wer stimmt für die beantragte Überweisung? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Dann ist dieÜberweisung abgelehnt.Wir kommen daher zur Abstimmung über den Antragauf Drucksache 17/10092. Wer stimmt für diesen An-trag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerAntrag ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen ge-gen die Stimmen der Oppositionsfraktionen angenom-men.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 15 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten UweBeckmeyer, Dr. Bärbel Kofler, Dirk Becker, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der SPDZukunft des „Energie- und Klimafonds“ undder durch ihn finanzierten Programme– Drucksache 17/10088 –Überweisungsvorschlag:Haushaltsausschuss
FinanzausschussAusschuss für Verkehr, Bau und StadtentwicklungAusschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben1). –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/10088 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sind Sie damit ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist die Überweisungso beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 16 auf:Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzeszur Reform des Kapitalanleger-Musterverfah-rensgesetzes– Drucksache 17/8799 –Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-schusses
– Drucksache 17/10160 –Berichterstattung:Abgeordnete Dr. Jan-Marco LuczakIngo EgloffChristian AhrendtJens PetermannJerzy MontagInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben2). –Ich sehe, Sie sind damit einverstanden.Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/10160, den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung auf Drucksache 17/8799 in der Ausschussfassunganzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzent-wurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen, umdas Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthältsich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Beratungbei Enthaltung der Fraktion Die Linke und Zustimmungder übrigen Fraktionen des Hauses angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist mit den Stimmen der Unionsfraktion, derFDP-Fraktion, der SPD-Fraktion und der Fraktion Bünd-nis 90/Die Grünen bei Enthaltung der Fraktion DieLinke angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten SabineLeidig, Dr. Gregor Gysi, Klaus Ernst, weitererAbgeordneter und der Fraktion DIE LINKEKeine Schließung des einzigen deutschenSchienenherstellers TSTG Schienen Technikin Duisburg – Übernahme des Unternehmensdurch die Deutsche Bahn AG– Drucksache 17/9581 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und ReaktorsicherheitFederführung strittigInterfraktionell wird vorgeschlagen, die Reden zudiesem Tagesordnungspunkt zu Protokoll zu geben3). –Ich höre keinen Widerspruch. Dann geschieht das so.Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/9581 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. Die Federführung istjedoch strittig. Die Fraktionen der CDU/CSU und derFDP wünschen Federführung beim Ausschuss für Wirt-schaft und Technologie. Die Fraktion Die Linke wünschtFederführung beim Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung.Ich lasse zuerst abstimmen über den Überweisungs-vorschlag der Fraktion Die Linke, also Federführungbeim Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung.Wer stimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-sungsvorschlag ist mit den Stimmen der Unionsfraktion1) Anlage 132) Anlage 143) Anlage 15
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22446 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Vizepräsidentin Petra Pau
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und der FDP-Fraktion gegen die Stimmen der Opposi-tion abgelehnt.Ich lasse nun abstimmen über den Überweisungsvor-schlag der Fraktionen der CDU/CSU und der FDP, alsoFederführung beim Ausschuss für Wirtschaft und Tech-nologie. Wer stimmt für diesen Überweisungsvor-schlag? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? –Der Überweisungsvorschlag ist mit den Stimmen derKoalitionsfraktionen gegen die Stimmen der Opposi-tionsfraktionen angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 18 a und b auf:a) Erste Beratung des von der Bundesregierungeingebrachten Entwurfs eines Jahressteuer-gesetzes 2013– Drucksache 17/10000 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
RechtsausschussAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendHaushaltsausschuss mitberatend und gemäß § 96 GOb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter undder Fraktion DIE LINKESteuerfreie Risikoausgleichsrücklage fürLandwirtschaftsbetriebe ermöglichen– Drucksache 17/10099 –Überweisungsvorschlag:Finanzausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzWie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden auchhier die Reden zu Protokoll genommen.
Wir beraten heute in erster Lesung das Jahressteuer-gesetz 2013. Traditionsgerecht werden mit dem Jahres-steuergesetz überwiegend steuertechnische Anpassun-gen vorgenommen, welche sich im Laufe eines Jahresaus Gerichtsurteilen, EU-rechtlichen Vorgaben oder ausAnregungen von Verwaltung und Verbänden ergaben.Wir haben über einen Gesetzentwurf im Umfang von155 Seiten mit mehr als 200 steuerrechtlichen Änderun-gen zu beraten. Auch wenn die Mehrzahl der Änderun-gen nur technischer Natur ist, enthält dieser Gesetzent-wurf eine Reihe von bedeutenden Regelungen. Hierzugehört zweifelsohne die weiter bestehende Steuerfreiheitfür den Grundsold der freiwillig Wehrdienst bzw. freiwil-lig Wehrübungen Leistenden, während alle weiteren Be-züge – Zuschläge, unentgeltliche Unterkunft und Ver-pflegung etc. – zukünftig steuerpflichtig sein sollen.Der Steuerpflicht auf die weiteren Bezugsbestandteilemüssen wir im Laufe der Beratungen besondere Beach-tung schenken. Hier sollten wir genau prüfen, ob eineSteuerpflichtigkeit nicht zu einem überbordenden Büro-kratismus bei der Truppe und daneben zu einem erhebli-chen Vollzugsaufwand bei den Finanzämtern führt. Ichfinde es konsequent und richtig, dass aus Billigkeitser-wägungen auch das für den Bundesfreiwilligendienstgezahlte Taschengeld für den Bundesfreiwilligendienststeuerfrei belassen wird. Wer sich außerhalb von Berufund Schule für das Allgemeinwohl im sozialen, ökologi-schen und kulturellen Bereich oder im Bereich desSports, der Integration sowie im Zivil- und Katastro-phenschutz engagiert, soll das ihm von der Einsatzstellegewährte Taschengeld von derzeit maximal 336 Euromonatlich nicht auch noch versteuern müssen. In denmeisten Fällen würde es aufgrund fehlender anderweiti-ger Einkünfte eh nicht zu einer Steuerpflicht kommen.Bedeutsam ist auch die zukünftige Zuordnung derersten sechs Monate des freiwilligen Wehrdienstes zuden Tatbeständen der Ausbildungsphase eines Kindes.Mit der steuerlichen Zuordnung können diese Zeitenbeim Kindergeld und auch beim Kinderfreibetrag be-rücksichtigt werden.Wir beraten auch über die steuerliche Förderung vonElektro- und Elektrohybridfahrzeugen im Bereich derDienstwagenbesteuerung. Aufgrund der preisintensivenAkkumulatoren liegt der Bruttolistenpreis von Elektro-und extern aufladbaren Hybridelektrofahrzeugen deut-lich über dem von herkömmlichen Kraftfahrzeugen. Wirwollen erreichen, dass die umweltfreundlichen Elektro-fahrzeuge zunehmend im Dienstwagenbereich akzeptiertwerden. Bislang schreckt jedoch der hohe Bruttolisten-preis und die damit verbundene höhere Versteuerung desgeldwerten Vorteils eher ab. Die Bundesregierung hatsich deshalb bereits mit dem Regierungsprogramm zurElektromobilität dafür ausgesprochen, die in der Syste-matik der Dienstwagenbesteuerung begründeten steuer-lichen Wettbewerbsnachteile für Elektrofahrzeuge abzu-bauen. Wir verstehen Elektromobilität als ein wichtigeszukunftsträchtiges und innovatives Element einer nach-haltigen Energie- und Verkehrspolitik. Hier gilt es, ge-rade im Stadium der Einführung dieser Technologie inden breiten Massenmarkt hinderliche Steuernachteileauszugleichen. Hierbei wird der zur Berechnung des zuversteuernden geldwerten Vorteils maßgebliche Brutto-listenpreis dieser Kraftfahrzeuge um die darin enthalte-nen Kosten des Batteriesystems im Zeitpunkt der Erstzu-lassung des Kraftfahrzeugs gemindert.Mit dem Jahressteuergesetz 2013 wollen wir außer-dem einen weiteren Schritt zum Bürokratieabbau gehen.Die Aufbewahrungsfristen für Unterlagen im Steuer-recht, die bisher zehn Jahre aufbewahrt werden mussten,sollen in einem ersten Schritt – ab 2013 – auf acht Jahreund in einem weiteren Schritt – ab 2015 – auf siebenJahre verkürzt werden. Wir werden damit auch im Han-delsgesetzbuch die Aufbewahrungsfristen entsprechendverkürzen. Damit verringert sich für Unternehmen derUmfang der insgesamt aufzubewahrenden Unterlagenerheblich.Die letzten Jahressteuergesetze haben gezeigt, dasswir bei den kommenden Beratungen sicherlich noch dieein oder andere zusätzliche Maßnahme ins Gesetz ein-fließen lassen werden. Der heute vorliegende Entwurfwird also in den Beratungen noch Ergänzungen erfah-ren. Nur beispielhaft soll hier die Aufteilung des Gewer-besteuermessbetrags zwischen Betriebs- und Standort-
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Olav Gutting
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gemeinden beim Betrieb von Photovoltaikanlagengenannt sein.Ich freue mich auf eine aufschlussreiche Sachverstän-digenanhörung und auf gute Beratungen in den nächs-ten Monaten – auch mit der Opposition.
Wir beraten heute in erster Lesung den vom Kabinettbeschlossenen Entwurf eines Jahressteuergesetzes 2013.Wie seine Vorläufer in den vergangenen Jahren fasstauch dieses Jahressteuergesetz eine Vielzahl von einzel-nen Regelungen aus unterschiedlichen Bereichen desSteuerrechts zusammen. Dieses Vorgehen hat sich alsein zeitsparender Weg erwiesen, um unsere Steuerge-setze an Vorgaben von europäischer Ebene, an aktuelleGerichtsurteile, an Erfahrungen bzw. Anregungen ausder Verwaltungspraxis und an neue gesellschaftlicheProblemlagen anzupassen. Diese Detailarbeiten sindwichtig, um die Ecken und Kanten unseres Steuerrechtszu glätten, Besteuerungslücken zu schließen, ungerecht-fertigte Nachteile für die Steuerpflichtigen zu beseitigenund seine Anwendbarkeit zu vereinfachen – zumindestals Arbeitsrichtung.Die Fülle an kleinteiligen Einzelregelungen fällt auf,wenn man sich überlegt, was der Bundesregierung fehlt:Reform des Mehrwertsteuersystems – Fehlanzeige; Re-form der Gemeindefinanzen und der Gewerbesteuer – zumGlück Fehlanzeige; Reform der Grunderwerbsteuer – Fehl-anzeige; Reform der Unternehmensbesteuerung, der Ver-lustverrechnung, der Gruppenbesteuerung und der Or-ganschaft – immer noch Fehlanzeige; Überlegungen zueiner gerechteren Verteilung von Belastungen in unsererGesellschaft, etwa über eine Weiterentwicklung der Erb-schaftsteuer und eine grundlegende Reform der Vermö-gensbesteuerung – Fehlanzeige.Dafür ein Steuervereinfachungsgesetz, das den Na-men nicht verdient; ein Wachstumsbeschleunigungsge-setz, das eigentlich nur das Wachstum der Klientelpolitikund der Steuerbefreiungen für Großunternehmen undErben hoher Vermögen beschleunigt; und die Wirtschaftklagt über neue bürokratische Lasten: Ich denke an dieTaxonomie der E-Bilanz oder an die Voraussetzungen andie Gelangensbestätigung bei innergemeinschaftlichenLieferungen.Es fällt mir – und wahrscheinlich auch jedem ande-ren – schwer, in der Steuerpolitik der Bundesregierungeine klare Arbeitsrichtung, neue Ideen, praktikable An-sätze zu erkennen. Das vorliegende Jahressteuergesetzführt uns diese Diskrepanz zwischen Ankündigung undEinhaltung, die „Fehlanzeigen im Großen“, nochmalsdeutlich vor Augen.Ich habe in den vergangenen Tagen und Wochen eineReihe von Briefen und Anrufen von Verbänden, Unter-nehmen und Einzelpersonen erhalten, die auf Probleme,Schwierigkeiten, Bedenken angesichts einiger Regelun-gen im Jahressteuergesetz hinweisen. Der heutige ersteBeratungsdurchgang bietet – vor dem Eintreten in dieFacharbeit im Finanzausschuss – die Möglichkeit, unseinige dieser Themen genauer anzuschauen.Das Jahressteuergesetz führt in Art. 1 ein EU-Amts-hilfegesetz, EUAHiG, ein, das die Regelungen der euro-päischen Amtshilferichtlinie in den nationalen Rechts-bestand überführt. Wir können damit wichtigeFortschritte beim steuerlichen Informationsaustauschzwischen Behörden machen, die uns dabei helfen sollen,ein gerechteres und gleichmäßigeres Besteuerungsver-fahren für alle Steuerpflichtigen durchzusetzen, Schlupf-löcher und Vermeidungsstrategien zu beenden und dieSteuereinnahmen in Deutschland zu verbessern.Die Richtlinie umfasst alle Steuerarten mit wenigenAusnahmen – Umsatzsteuer, Zölle und harmonisierteVerbrauchsteuern, Abgaben und Gebühren – und er-möglicht es unserer Steuerverwaltung, alle für das Be-steuerungsverfahren voraussichtlich erheblichen Infor-mationen zu erhalten bzw. diese anderen Staaten zurVerfügung zu stellen. Auch der persönliche Anwen-dungsbereich wird deutlich erweitert: künftig werdenauch Einkünfte, die in Stiftungen, Trusts oder neuenrechtlichen Konstruktionen versteckt werden, dem Fi-nanzamt bekannt. Die Zuständigkeit für den grenzüber-schreitenden Datenaustausch soll bei einem zentralenVerbindungsbüro liegen.Eine wichtige Verbesserung ist die Einrichtung einesVerfahrens für den automatischen Informationsaus-tausch. Ab 2014 werden steuerlich relevante Informatio-nen über Vergütungen aus unselbständiger Arbeit, überRuhegehälter, Vergütungen für Aufsichtsräte und Ver-waltungsräte, Eigentum und Einkünfte aus unbewegli-chem Vermögen, Lebensversicherungsprodukte auto-matisch zwischen Steuerbehörden ausgetauscht undnicht erst auf Anfrage. Leider ist es bislang nicht gelun-gen, bei der Überarbeitung der europäischen Zinsricht-linie zu einer gleichwertigen Regelung im Bereich derKapitaleinkünfte zu kommen.Das neue EU-Amtshilfegesetz enthält noch eine Reihevon weiteren Regelungen, etwa zum spontanen Informa-tionsaustausch zwischen Steuerbehörden, zum Prozedereder Datenübermittlung oder zur Beteiligung auslän-discher Steuerbeamter an inländischen Betriebsprüfun-gen.Im Bereich des Informationsaustausches mit Dritt-statten sind insbesondere auch datenschutzrechtlicheFragen zu beantworten, etwa mit Blick auf das Fehlenvon Widerspruchsrechten des betroffenen Steuerpflichti-gen, die Prüfung der Verwendung der Daten im Dritt-staat oder die Einhaltung der Bedingungen für die Da-tenweitergabe.Was passiert mit den Steuerdaten im Drittstaat, derdiese Informationen angefordert hat?Wie lässt sich überwachen, dass diese sensiblen Da-ten nicht unkontrolliert weitergereicht werden?Wer hat Zugriff auf die Daten, und wer bestraft ihremissbräuchliche Verwendung?Ich hoffe, dass die folgenden Beratungen und die Er-läuterungen der Fachbeamtinnen und Fachbeamten ausdem Bundesfinanzministerium zur Klärung dieser Fra-gen beitragen können.Zu Protokoll gegebene Reden
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22448 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Lothar Binding
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Ich habe in den vergangenen Tagen auch mehrereBriefe von zivilgesellschaftlich tätigen Nichtregierungs-organisationen erhalten, die auf eine Änderung der Ab-gabenordnung, § 51 Abs. 3 AO, hinweisen. Sie befürch-ten, dass durch eine Neuregelung der Voraussetzungenfür die steuerliche Begünstigung zivilgesellschaftlicherOrganisationen diese in ihrer Existenz gefährdet wer-den. Bislang gilt für Körperschaften, die in einem Ver-fassungsschutzbericht als extremistische Organisationerwähnt werden, die Klausel, dass sie damit ihre Be-rechtigung zur Steuerbegünstigung verlieren. Diese Ver-mutung ist allerdings „widerlegbar“ und ermöglicht esdaher den betroffenen Organisationen, juristisch da-gegen vorzugehen; zudem verbleibt dem zuständigenFinanzamt ein Entscheidungsspielraum. Die SPD-Fraktionhatte diese Beweislastumkehr-Regelung – Steuerbefrei-ung gegen Nachweis der verfassungsrechtlichen „Unbe-denklichkeit“ – im Zuge der parlamentarischen Bera-tungen zum Jahressteuergesetz 2008 eingeführt. Wie dieErfahrungen der vergangenen Jahre gezeigt haben, wardies ein praktikabler Kompromiss zwischen dem wirksa-mem Ausschluss tatsächlich verfassungsfeindlicher Or-ganisationen von steuerlicher Förderung, einem ausrei-chenden Rechtsschutz für Körperschaften und einemErmessensspielraum für das Finanzamt.Mit der Neuregelung im Jahressteuergesetz ist nunvorgesehen, diese Widerlegbarkeitsklausel abzuschaffenund einen Quasi-Automatismus einzurichten, das heißtwenn eine Organisation in einem Verfassungsschutzbe-richt Erwähnung findet, folgt hieraus zwingend die Ver-sagung der Steuerbefreiung. Ein gerichtlich zu prüfen-des Widerspruchsrecht der Betroffenen entfällt dadurchebenso wie der Entscheidungsfreiraum des Finanzamts.Außerdem werden sich viele Bürgerinnen und Bürgerüberlegen, ob sie weiterhin für eine der betroffenen Or-ganisationen spenden, wenn diese Zuwendung nichtmehr steuerlich geltend gemacht werden kann. Darausergibt sich nach Darstellung der betroffenen Organisa-tionen eine akute Gefährdung ihrer Finanzlage.Ich finde die widerspruchslose Verknüpfung von Steu-errecht und Verfassungsschutz in der vorgeschlagenenWeise nicht überzeugend. Das Gemeinnützigkeitsrechtist nach meiner Einschätzung nicht das beste Instru-ment, um sich mit einer möglichen Gefährdung unsererfreiheitlich-demokratischen Grundordnung auseinan-derzusetzen. Ich halte es für keine gute Idee, gerade andieser Stelle die juristische Überprüfung von Verwal-tungshandeln – eventuell auch die Korrektur von Fehl-einschätzungen in den Verfassungsschutzberichten – au-ßer Kraft zu setzen. Die Beratungen im weiterenparlamentarischen Verfahren geben sicher Gelegenheit,diese Regelung auf ihre Angemessenheit zu prüfen.Das Jahressteuergesetz sieht auch eine Steuerfreiheitvon Bildungsleistungen vor, die von Volkshochschulen,Ersatzschulen, Einrichtungen mit vergleichbarer Ziel-setzung, selbständigen Lehrern und Privatlehrern er-bracht werden. Zu diesen Bildungsleistungen gehörenSchul- und Hochschulunterricht, Maßnahmen der beruf-lichen Umschulung, Aus- und Fortbildungsleistungen.Für diese Leistungen ist eine steuerliche Begünstigungvorgesehen, die den Zugang zu Bildungsleistungen er-leichtert und die steuerliche Gleichbehandlung von pri-vaten und staatlichen Bildungseinrichtungen bzw. -leis-tungen herstellt. Die Steuerbefreiung bezieht sich nichtnur auf die Bildungsleistung selbst, sondern auch aufdamit eng verbundene Dienstleistungen und Lieferun-gen, etwa die Anmietung und Ausstattung eines Veran-staltungsorts.Die betroffenen Anbieter von Bildungsleistungen ha-ben darauf aufmerksam gemacht, dass mit der Steuerbe-freiung auch die Möglichkeit des Vorsteuerabzugs ent-falle, und leiten daraus ihre Befürchtungen über eineVeränderung der Wettbewerbsbedingungen ab. Vermut-lich wäre für das eigentliche Ziel der Neuregelung, derverbesserte Zugang zu Bildungsleistungen, wenig er-reicht, wenn Fort- und Weiterbildungen oder bildungs-bezogene Volkshochschulkurse infolge dieser Regelungteurer würden oder das Leistungsangebot schmälerwürde.Der Blick in den Begründungsteil des Gesetzes, derdie Notwendigkeit und Zielsetzung der Umsatzsteuerbe-freiung erläutert, zeigt, dass es bei der Regelung um dieUmsetzung gerichtlicher Entscheidungen geht – erfah-rungsgemäß ein Bereich, in dem der Gestaltungsspiel-raum des Gesetzgebers geringer als in anderen Gebietenist. Die parlamentarischen Beratungen im Ausschussund die Diskussionen in der Arbeitsgruppe Finanzenwerden Gelegenheit bieten, die Argumente zu prüfen undsich ein umfassenderes Bild von den Auswirkungen dergeplanten Umsatzsteuerbefreiung zu machen.Ich bin auch auf die Einschätzung der Steuerverwal-tung gespannt, der die Aufgabe der Beurteilung derVoraussetzungen für die Steuerbefreiung – die Bewer-tung von Lehrplänen, Methoden, Qualifikationen desLehrpersonals usw. – von Bildungsleistungen zukommt.Eine weitere Regelung im Jahressteuergesetz, überdie wir in den parlamentarischen Beratungen nochmalsnachdenken werden, ist die Aufhebung der privilegiertenBesteuerung von Bezügen des freiwilligen Wehrdienstes.Das Ziel ist die steuerliche Gleichbehandlung vonWehrsold, der im Rahmen des freiwilligen Wehrdienstesgezahlt wird, und des Taschengeldes, dass man für denBundesfreiwilligendienst erhält.Der Referentenentwurf zum Jahressteuergesetz hattenoch die Besteuerung des kompletten Wehrsoldes vorge-sehen. Im vorliegenden Kabinettsbeschluss ist nun vor-gesehen, dass für freiwillig Wehrdienstleistende und Re-servisten der Gehaltsbestandteil „Wehrsold nach § 2
dienstgesetzes gezahlte Taschengeld (zurzeit maximal336 Euro pro Monat) steuerfrei gestellt werden. Die wei-teren Bezüge, etwa für Verpflegung, Leistungszuschlagund Unterkunft sollen steuerpflichtig sein. Geld- undSachbezüge an Wehrpflichtige bleiben steuerfrei.Ich hoffe, dass wir uns im Verlauf der Beratungen imFinanzausschuss Klarheit hinsichtlich der Folgen dergeplanten Änderungen verschaffen können. Leider ent-hält der Entwurf bislang keine Zahlen zu den finanziel-len Auswirkungen auf die einzelnen Betroffenen sowieZu Protokoll gegebene Reden
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Lothar Binding
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den Bundeshaushalt. Wir werden auch nochmals überdie steuerrechtliche Qualifizierung des freiwilligenWehrdienstes als „auf die Einkünfteerzielung ausgerich-tete übliche Berufstätigkeit“ und die damit verbundeneAttraktivität des freiwilligen Wehrdienstes nachdenken.Ich habe die vorgesehenen Neuregelungen im Bereichder Unternehmensbesteuerung bislang nicht erwähnt,etwa die Erstattung von Abzugsteuer bei ausländischenKapitalerträgen, die Anwendung des Fremdvergleichs-grundsatzes auf internationale Betriebsstättenfälle so-wie grenzüberschreitende Geschäftsbeziehungen vonPersonengesellschaften und Mitunternehmerschaften,oder der steuerfreie Bezug von Auslandsdividendennach einem DBA. Nicht, weil ich diese Regelungen nichtfür wichtig oder diskussionswürdig hielte; ich glaubevielmehr, dass die Koalitionsfraktionen – wieder ein-mal – ein laufendes Gesetzgebungsverfahren dazu nut-zen werden, um noch weitere unternehmensteuerlicheRegelungen „draufzusatteln“. Das 12-Punkte-Papierder Koalitionsfraktionen bietet hier noch einiges an Ma-terial für eine „Reform durch die Hintertür“. Man kannsich mit Blick auf die bislang dargestellten Themenbe-reiche schon fragen, warum für die Anhörung zum Jah-ressteuergesetz ein sehr langer Zeitraum von vier Stun-den eingeplant ist.Dieses Vorgehen ist ein heimliches, weil peinlichesEingeständnis, dass wir es bei einem weiteren steuer-politischen Großprojekt der Bundesregierung, der Re-form der Unternehmensbesteuerung, mit einer Fehlan-zeige zu tun haben. Zugleich spricht daraus allerdingsauch eine ärgerliche Missachtung des Bundestages,wenn gerade die Oppositionsfraktionen mit dieser Taktikder tröpfchenweisen Reform an den Rand ihrer Belast-barkeit im parlamentarischen Verfahren gebracht wer-den.Der Verlauf der parlamentarischen Beratungen wirdzeigen, ob wir mit der sachkundigen Unterstützung vonFachleuten aus Verbänden, Verwaltung und Unterneh-men diesen Rückstand aufholen und am Ende zu guten,praktikablen Ergebnissen beitragen können.
Das Jahressteuergesetz 2013, welches wir heute be-raten, enthält eine Reihe von Punkten, die für mehr Steu-ergerechtigkeit, einen besseren Steuervollzug und kla-rere Regeln in der deutschen Steuergesetzgebung sorgenwerden. Folgende Punkte sind dabei hervorzuheben:Die Beendigung der vorübergehenden Steuerfreiheitdes Wehrsolds für freiwillig Wehrdienstleistende ist ausGerechtigkeitsgründen notwendig, soll aber das Vertei-digungsministerium nicht daran hindern, durch eineSolderhöhung die Belastungen der Wehrdienstleistendenzu minimieren. Ebenso ist zu beachten, dass auch fürWehrdienstleistende ein Grundfreibetrag von 8 004Euro gilt.Steuerfrei bleiben die Geld- und Sachbezüge anWehrpflichtige im Sinne des § 4 des Wehrpflichtgesetzesund die Vorteile aus einer unentgeltlichen truppenärztli-chen Versorgung der Soldaten und Zivildienstleistenden;dies gilt auch für den freiwilligen Wehrdienst. Ebensowird die Steuerfreiheit für die an Zivildienstleistendenach § 35 des Zivildienstgesetzes gezahlten Geld- undSachbezüge beibehalten.Für die den freiwilligen Wehrdienst und freiwilligeWehrübungen Leistenden werden mit der vorliegendenÄnderung zukünftig nur noch die Gehaltsbestandteile„Wehrsold nach § 2 Abs. 1 Wehrsoldgesetz“ sowie„Dienstgeld nach § 8 Wehrsoldgesetz“ steuerfrei ge-stellt. Die weiteren Bezüge, zum Beispiel Wehrdienstzu-schlag, besondere Zuwendungen sowie unentgeltlicheUnterkunft und Verpflegung, sind zukünftig steuerpflich-tig. Bei den Reservisten gibt es momentan noch Bera-tungsbedarf bezüglich steuerpflichtiger Leistungen undZulagen.Steuerfrei gestellt wird ferner das für den Bundesfrei-willigendienst gezahlte Taschengeld. Weitere Bezüge wiezum Beispiel unentgeltliche Unterkunft und Verpflegungsind steuerpflichtig. Das Taschengeld beträgt derzeitmonatlich maximal 336 Euro. Die Bezüge für den Bun-desfreiwilligendienst sind nach bisheriger Gesetzeslagevoll steuerpflichtig; sie wurden aber aufgrund einer Bil-ligkeitsregelung der Verwaltung bisher als steuerfrei be-handelt, um sie gegenüber den Bezügen für den freiwil-ligen Wehrdienst nicht zu benachteiligen. Mit dieserGesetzesänderung ist die Billigkeitsregelung nunmehrentbehrlich.Im Zuge dieser Klarstellungen setzen wir uns aberauch für die Einbeziehung des Jugendfreiwilligendiens-tes ein, da dieser bisher ausdrücklich nicht in das Gesetzeinbezogen wurde.Diskussionsbedarf sehen wir unter anderem nochbeim Kindergeld und bei den geplanten Änderungen beider Vorlage bzw. Vorzeigepflicht von Unterlagen gemäߧ 97 der Abgabenordnung.Besonders hilfreich und bürokratieabbauend wirdsich die zweijährige Geltungsdauer der im Lohnsteuer-abzugsverfahren zu berücksichtigenden Freibeträge er-weisen. Diese Verfahrensanweisung ist sowohl für dieArbeitnehmer wie auch die Finanzverwaltung entlas-tend. Die in § 39 a Abs. 1 Satz 2 geregelte zweijäh-rige Geltungsdauer eines Freibetrags im Lohnsteuerab-zugsverfahren ist erstmals für den Lohnsteuerabzug2014 anzuwenden und befreit den Steuerpflichtigen vonden jährlichen Neuanträgen auf Lohnsteuerermäßigung,soweit sich bezüglich seiner Antragssituation nichts ge-ändert hat.Zudem werden im Interesse des Bürokratieabbaus dieAufbewahrungsfristen nach der Abgabenordnung unddem Umsatzsteuergesetz ab 2013 zunächst auf acht undin einem weiteren Schritt ab 2015 auf sieben Jahre ver-kürzt und vereinheitlicht. Auch im Handelsgesetzbuchwerden die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbelegeentsprechend verkürzt. Dies spart erhebliche Kosten beiden Unternehmen und verstärkt die Motivation der Fi-nanzverwaltung, mehr Ressourcen in die zeitnahe Be-triebsprüfung, eine wichtige steuerpolitische Forderungder FDP, zu investieren.Zu Protokoll gegebene Reden
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22450 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Daniel Volk
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Mit dem Jahressteuergesetz 2013 werden auch dieEU-Amtshilferichtlinie, die Mehrwertsteuer-System-richtlinie, die Rechnungsstellungrichtlinie sowie die so-genannte Mutter-Tochter-Richtlinie umgesetzt. Dies istzur Vermeidung eines Vertragsverletzungsverfahrens
Das Gesetz zeigt, dass das Steuerrecht sehr komplexist und damit der Lebenswirklichkeit einer entwickeltenIndustrienation entspricht. Dass nur noch Experten denDurchblick haben, und das auch nur noch in Teilberei-chen, liegt auf der Hand. Forderungen nach Steuerver-einfachung sind berechtigt, setzen aber voraus, dassdem deutschen Drang nach Einzelfallgerechtigkeit stär-ker entgegengetreten wird. Stärkere Pauschalierungenwürden ebenfalls helfen, kosten aber Geld und garantie-ren ebenfalls keine Einzelfallgerechtigkeit. Das Ziel derSteuervereinfachung bleibt; trotzdem muss das beste-hende Recht an sich verändernde Verhältnisse angepasstwerden.Die FDP steht für eine verantwortungsbewusste undnachhaltige Steuer- und Finanzpolitik. Wir haben dieFamilien entlastet. Wir haben die Unternehmen entlas-tet. Wir haben Arbeitsplätze gesichert. Wir werden Ge-sundheit wieder bezahlbar machen. Wir stehen fürInvestitionen in die Zukunft. Wir werden die Bildungs-chancen für alle Menschen in diesem Land verbessern,denn dies bedeutet Wettbewerbsfähigkeit auch in vielenJahren und damit Wohlstand für die Menschen in diesemLand.
Wie gehabt steht wieder ein Jahressteuergesetz zurDiskussion und Verabschiedung an, für das Jahr 2013,und es beinhaltet wieder eine Vielzahl von teils sehr un-terschiedlichen Maßnahmen.Unter anderem findet sich in Art. 2 Nr. 5 eine Rege-lung zur steuerlichen Förderung der Elektromobilität.Aber ich denke, dazu wird im Rahmen des Verkehrsteu-eränderungsgesetzes genug gesagt; daher werde ichhierauf nicht weiter eingehen.Eingehen möchte ich auf zwei Punkte:Mit Art. 10 des JStG 2013 wollen Sie § 51 Abs. 3Satz 2 der Abgabenordnung durch die Streichung desWortes ‚widerlegbar‘ scheinbar minimal ändern. Esgeht hier um die Versagung bzw. Aberkennung der Ge-meinnützigkeit von Vereinen, sofern diese in Berichtendes Verfassungsschutzes als verfassungsfeindlich aufge-führt werden. Bereits vor vier Jahren, im Rahmen desJStG 2009, hatte eine Verschärfung dieser Regelungstattgefunden. Im JStG 2013 heißt es in der Begründungauf Seite 93 unter anderem:„Ist deshalb eine Körperschaft im Verfassungsschutz-bericht des Bundes oder eines Landes als verfassungs-feindlich aufgeführt, ist ihr die Anerkennung als gemein-nützige Körperschaft zu versagen. Die Überprüfung, obeine Körperschaft trotz einer Nennung in einem Verfas-sungsschutzbericht doch die Anforderungen nach § 51Absatz 3 Satz 1 erfüllt, muss nach Streichung des Wortes‚widerlegbar‘ in Satz 2 nicht mehr durchgeführt werden.Sollte eine Körperschaft ihrer Ansicht nach zu Unrechtin einem Verfassungsschutzbericht aufgeführt wordensein, so obliegt es ihr, sich dagegen in einem gerichtli-chen Verfahren zur Wehr zu setzen. Körperschaften, beidenen der bloße Verdacht der Verfassungsfeindlichkeitbesteht und die nur als Verdachtsfall in einem Verfas-sungsschutzbericht erwähnt wurden, ist nicht aufgrunddes Verdachtes die Gemeinnützigkeit zu versagen.“Natürlich ist auch die Linke der Meinung, dass extre-mistische und verfassungsfeindliche Organisationennicht ungewollt zum Beispiel durch Steuerbegünstigun-gen gefördert werden sollen. Das, denke ich, sollte allenhier nach Bekanntwerden der Pannen bei den Ermittlun-gen gegen die NSU ein Anliegen sein.Dennoch sehen wir mit der geplanten Regelung einegewisse Gefahr. Die Nennung und Einstufung im Verfas-sungsschutzbericht unterliegt stark einer politischenWillkür, und Verfassungsschutzbehörden sind dem vor-gesetzten Ministerium weisungsgebundene Behörden.Die bisherige Prüfmöglichkeit durch die Finanzämterentfällt, und es soll eine automatische Aberkennung derGemeinnützigkeit erfolgen. Viele engagierte Menschengerade in Vereinen, welche gegen Rechtsextremismuswirken, befürchten, dass sie dadurch im Zweifelsfalle ingerichtliche Prozesse gezwungen werden, welche sie fi-nanziell gar nicht stemmen könnten. Deshalb gibt es dabereits jetzt vielfältige Kritik. Diese Regelung ist bereitsjetzt streitanfällig. So hat jüngst auch der BFH am11. April 2012 entschieden, dass ein islamisch-salafisti-scher Verein für das Jahr 2008 trotz Erwähnung im Ver-fassungsschutzbericht als gemeinnützig anerkannt wer-den darf.Wir bitten Sie daher ausdrücklich, im Rahmen desGesetzgebungsprozesses sowie der Anhörung die Rege-lung noch einmal mit Vereinen und entsprechenden Inte-ressenverbänden zu diskutieren, um hier Klarheit zuschaffen.Ein anderer uns wichtiger Punkt ist die steuerfreie Ri-sikoausgleichsrücklage für Landwirtschaftsbetriebe,welche nach unserer Auffassung in das Jahressteuerge-setz aufgenommen werden sollte, denn es gibt dringen-den Handlungsbedarf. Ein entsprechender Vorschlagliegt Ihnen mit dem Antrag mit der Drucksachennummer17/10099 vor.Der Klimawandel steigert nachweislich die Risikenlandwirtschaftlicher Erzeugung in bisher ungeahntemMaße. Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher negativerAuswirkungen auf die Landwirtschaft, so zum BeispielTrockenheit bzw. Dürre, Überschwemmungen und Spät-fröste durch direkte extreme Witterungsereignisse ge-nauso wie die klimabedingte Ausbreitung von Krankhei-ten und Schaderregern bei Pflanzen und Tieren.Versicherungen sind in der landwirtschaftlichen Risiko-absicherung schnell überfordert und greifen im Scha-densfall nicht wirklich. Zudem wurde und wird die Land-wirtschaft sukzessive den globalen Märkten ausgesetzt.Durch die zunehmenden Preisschwankungen hat sichdie Risikolage für die Betriebe ebenfalls extrem verän-dert; längerfristig kalkulierbare Agrarpreise gibt esZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22451
Dr. Barbara Höll
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nicht mehr. Deshalb schlagen wir Ihnen vor, dass denlandwirtschaftlichen Betrieben ermöglicht wird, einenTeil ihrer erwirtschafteten Einkünfte aus ihrem zu ver-steuernden Einkommen herauszunehmen und in einesteuerbefreite Risikoausgleichsrücklage zu verwandeln.
Für die Bundesregierung ist das Jahressteuergesetz
wie jedes Jahr ein Auffangbecken für alles, was ohne
großes Aufsehen noch irgendwie abgeräumt werden
muss. Mit „fachlich notwendigem Gesetzgebungsbe-
darf“ und „Anpassungen an Recht und Rechtsprechung
der Europäischen Union“ wird das Gesetz begründet.
Doch bei genauerem Hinsehen liegt die Vermutung
nahe, dass die Bundesregierung auch in diesem Jahr es
nicht lassen kann, einige Steuergeschenke an ihre Klien-
tel zu verteilen. Die jährlichen Steuerausfälle Ihres Ent-
wurfs erreichen 250 Millionen Euro, ein erheblicher
Kostenaufwand, den Sie mit der Organleihe des Perso-
nals der Länder für die zukünftige Verwaltung der Kraft-
fahrzeugsteuer begründen. Es wäre wichtig zu wissen,
welche Steuerauswirkungen die weiteren zahlreichen
Änderungen verursachen.
Kein Wort findet sich zum Beispiel zur Frage der
Steuerausfälle, die sich aus der Verkürzung der Auf-
zeichnungsvorschriften ergeben. Wenn Finanzbehörden
– statt bisher zehn Jahre – zukünftig nur noch acht und
ab dem Jahr 2015 nur noch sieben Jahre Zeit haben sol-
len, bis die Festsetzungsverjährung eintritt, erhöhen Sie
gewaltig den Druck auf die Betriebsprüfung. Anlassbe-
zogene Prüfungen werden dann viel seltener durchge-
führt. Damit gehen Mehrergebnisse aus Betriebsprüfun-
gen verloren. Kein Wort davon, ob Sie gewillt sind, diese
Steuerausfälle zu kompensieren.
Nach über einem Jahr kommt die Regierung nun end-
lich auch ihrer Ankündigung nach, Elektrodienstwagen
steuerlich zu entlasten. Zu Recht hat der Finanzaus-
schuss des Bundesrats bereits kritisiert, dass die Regie-
rung sich hier eine komplizierte Regelung ausgedacht
hat. Die vorliegende Regelung ist zwar besser als die
Untätigkeit bei der Förderung der Elektromobilität im
letzten Jahr. Was wir aber eigentlich brauchen, ist ein
grundlegender Wandel in der Besteuerung von Dienst-
wagen, die noch immer leider viel zu oft als spritfres-
sende Statussymbole angeschafft werden. Wenn die Vor-
schläge meiner Fraktion zum Abbau des Steuerprivilegs
für Dienstwagen umgesetzt würden, brauchte man auch
keine komplizierte Sonderregelung für Dienstwagen mit
Elektroantrieb. Denn setzt die Dienstwagenbesteuerung
generell am Ausstoß von Klimagasen an, profitieren um-
weltfreundliche Elektromobile ganz automatisch.
Eine bisher wenig beachtete Änderung, die es jedoch
in sich hat, betrifft den Status der Gemeinnützigkeit. Es
sollen nun die Geheimdienste des Bundes und der Län-
der sein, die darüber entscheiden, ob Organisationen
vom Finanzamt als gemeinnützig anerkannt werden kön-
nen. Für die betroffenen Organisationen kann es dabei
durchaus um ihre Existenz gehen. Denn der Status der
Gemeinnützigkeit ist die Voraussetzung dafür, steuerab-
zugsfähige Spenden einzunehmen und unter Umständen
steuerfrei tätig sein zu können.
Bereits seit 2009 führt die Einstufung als extremisti-
sche Organisation im Jahresbericht des Bundesamtes
für Verfassungsschutz oder in einem der 16 Berichte der
Landesämter für Verfassungsschutz zur Versagung des
Status der Gemeinnützigkeit. Dabei genügen selbst wei-
che Formulierungen wie „ist extremistisch beeinflusst“.
Doch in der Vergangenheit hatten Finanzgerichte regel-
mäßig Finanzämtern widersprochen, die den Status der
Gemeinnützigkeit Organisationen auf Grundlage von
Verfassungsschutzberichten aberkannten. Die Geheim-
behörden sind aus offenkundigen Gründen nicht in der
Lage, ihre Einstufung zu rechtfertigen, sodass eine Wür-
digung der Erkenntnisse faktisch nicht möglich ist.
Nun soll nach den Plänen der Bundesregierung also
der Verfassungsschutz direkt entscheiden. Damit erhal-
ten die Berichte der Geheimdienste den Rang von steu-
erlichen Grundlagenbescheiden.
Ich teile das Ziel der Bundesregierung, Missbrauch
zu verhindern. Verfassungsfeindliche Organisationen
können nicht gemeinnützig sein. Doch die Lösung der
Bundesregierung geht völlig am Problem vorbei. Denn
Einschätzungen von Geheimbehörden können nicht
transparent geprüft werden. Und es ist auch nicht mit
meinem Verständnis von einem Rechtsstaat vereinbar,
wenn 17 intransparenten Geheimbehörden ein Freibrief
erteilt wird, nach eigenem Ermessen Organisationen
über die Aberkennung des Gemeinnützigkeitsstatus den
Geldhahn abdrehen zu können. Die Bundesregierung
verkennt hier das eigentliche Problem: Bürgerinnen und
Bürger brauchen verlässliche Angaben, ob die Organi-
sation, der sie spenden möchten, gemeinnützige Ziele
nicht nur auf dem Papier verfolgt. Doch hier muss ganz
anders angesetzt werden, als blind auf die Berichte des
Verfassungsschutzes zu vertrauen.
Neben den bisher genannten Punkten ließe sich die
Liste noch weiter fortsetzen. Und die eine oder andere
Änderung in letzter Minute ist ja jetzt schon abzusehen,
etwa bei der Umsetzung von EU-Vorgaben bei Mehr-
wertsteuerbefreiungen. Hier traut sich die Bundesregie-
rung offenbar nicht, die Änderungen von Anfang an ins
Gesetz zu schreiben.
H
Der vorliegende Entwurf für ein Jahressteuergesetz2013 als überwiegend technisches Gesetz ist erforder-lich, da sich in vielen Bereichen des deutschen Steuer-rechts ein fachlich notwendiger Änderungsbedarf erge-ben hat. Es erfolgen Anpassungen an das europäischeRecht, insbesondere bei der Umsatzsteuer, aber auchÄnderungen zur Umsetzung der EU-Amtshilferichtlinie.Außerdem wird das Steuerrecht als Folgeänderung anGesetzesänderungen in anderen Rechtsgebieten ange-passt. Daneben reagieren wir auf aktuelle Entscheidun-gen des Bundesfinanzhofes und nehmen gesetzlicheKlarstellungen zu steuerlichen Zweifelsfragen vor.Zu Protokoll gegebene Reden
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22452 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Parl. Staatssekretär Hartmut Koschyk
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Obwohl es sich um ein recht umfangreiches Gesetzhandelt, das verschiedene, thematisch zum Teil nur we-nig oder gar nicht miteinander verbundene Einzelmaß-nahmen enthält, hat es einige inhaltliche Schwerpunkte,auf die ich näher eingehen möchte:Schaffung eines EU-Amtshilfegesetzes. Mit dem EU-Amtshilfegesetz wird die sogenannte EU-Amtshilfericht-linie in deutsches Recht umgesetzt. Sie bezweckt vorallem eine effizientere Zusammenarbeit der Steuerbe-hörden der EU-Mitgliedstaaten, um Steuern bei grenz-überschreitenden Aktivitäten ordnungsgemäß festsetzenzu können. Die Neuerungen betreffen im Wesentlichendie Schaffung zentraler Verbindungsbüros in allen Mit-gliedstaaten und die stufenweise Entwicklung eines au-tomatischen Informationsaustauschs.Änderung von Steuergesetzen. Eine unmittelbare Um-setzung von europäischem Recht erfolgt unter anderemdurch folgende Rechtsänderungen: Es gibt verschiedeneAnpassungen des Umsatzsteuergesetzes an die soge-nannte Mehrwertsteuersystem-Richtlinie sowie die so-genannte Rechnungsstellungsrichtlinie. Zugleich wirddie Regelung zur Vermeidung einer Doppelbesteuerungvon Dividendenzahlungen und anderen Gewinnaus-schüttungen von Tochtergesellschaften an ihre Mutter-gesellschaften an dieNeufassung der sogenannten Mutter-Tochter-Richtlinieangepasst.Weitere bedeutsame materiell-rechtliche Änderungensind:Verkürzung der Aufbewahrungsfristen. Diese Maß-nahme ist ein wesentliches Anliegen der Bundesregie-rung auf dem Gebiet der Bürokratiekostenentlastung derWirtschaft, Als Ergebnis des Projekts „Harmonisierungund Verkürzung der Aufbewahrungs- und Prüfungsfris-ten nach Handels-, Steuer- und Sozialrecht“ werden dieAufbewahrungsfristen nach der Abgabenordnung unddem Umsatzsteuergesetz von bisher zehn Jahren ab2013 auf zunächst acht und in einem weiteren Schritt ab2015 auf sieben Jahre verkürzt. Auch im Handelsgesetz-buch werden die Aufbewahrungsfristen für Buchungsbe-lege entsprechend verkürzt. Dadurch verringert sich derUmfang der insgesamt in einem Unternehmen aufzube-wahrenden Unterlagen.Regelungen für Dienstwagen im Zusammenhang mitder E-Mobilität. Zur Umsetzung des Regierungspro-gramms Elektromobilität wird im Einkommensteuerge-setz eine Regelung zum Nachteilsausgleich für die pri-vate Nutzung von betrieblichen Elektrofahrzeugen undHybridelektrofahrzeugen geschaffen. Vom Regelungsge-genstand sind Elektrofahrzeuge und Hybridelektrofahr-zeuge erfasst, deren mechanische oder elektrochemischeSpeicher extern aufladbar sind. Um eine Überkompen-sation zu verhindern, wird der pauschale Abzug aufeinen Höchstbetrag beschränkt, der ratierlich ab-geschmolzen wird. Diese Änderungen stehen im Zusam-menhang mit Änderungen im Kraftfahrzeugsteuergesetz,die im Entwurf eines Verkehrsteueränderungsgesetzesenthalten sind, das heute ebenfalls in erster Beratungbehandelt wird.Besteuerung des Wehrsolds freiwillig Wehrdienstleis-tender. Für die den freiwilligen Wehrdienst und freiwil-lige Wehrübungen Leistenden wird zukünftig der Ge-haltsbestandteil „Wehrsold“ sowie „Dienstgeld“steuerfrei gestellt. Steuerfrei gestellt wird ferner das fürden Bundesfreiwilligendienst gezahlte Taschengeld, uminsoweit eine Gleichbehandlung sicherzustellen; weitereBezüge sind künftig steuerpflichtig. Damit tragen wirder besonderen gesellschaftlichen Bedeutung dieserFreiwilligendienste Rechnung.Eine echte Verfahrenserleichterung im Besteuerungs-verfahren für den Arbeitnehmer wie für die Finanzver-waltung bedeutet die Möglichkeit, auf Antrag die Gel-tungsdauer eines im Lohnsteuerabzugsverfahren zuberücksichtigenden Freibetrags künftig auf zwei Kalen-derjahre zu verlängern. Damit entsprechen wir der poli-tischen Zielsetzung, die Handhabbarkeit des Steuer-rechts – wo immer möglich – zu vereinfachen.Des Weiteren erfolgt eine Modernisierung und Ver-einfachung des Verfahrens der Anmeldung der Feuer-schutzsteuer durch die Option, diese künftig elektronischabzugeben.Die Mehrzahl der weiteren Änderungen hat überwie-gend technischen Charakter. Dies betrifft beispielsweiseredaktionelle Anpassungen der Steuergesetze an denVertrag von Lissabon, die Anpassung weiterer steuerli-cher Vorschriften an die Einführung der Abgeltung-steuer und Detailregelungen zur elektronischen Vermö-gensbildungsbescheinigung und Folgeänderungen imFünften Vermögensbildungsgesetz.Fazit. Die Bundesregierung legt mit dem heute zu be-ratenden Gesetzesvorhaben einen umfangreichen Ent-wurf mit vielen Detailregelungen vor. Auch ein derarti-ges Technikgesetz ist notwendiger Bestandteil einersoliden Regierungsarbeit. Mit den vorgenommenenRechtsänderungen soll ein möglichst reibungslosesFunktionieren des Besteuerungsverfahrens gewährleis-tet und damit das Steueraufkommen gesichert werden.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlagenauf den Drucksachen 17/10000 und 17/10099 an die inder Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse vorgeschla-gen. Die Vorlage auf Drucksache 17/10000, also Tages-ordnungspunkt 18 a, soll zusätzlich an den Ausschussfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend überwiesenwerden. Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall.Dann sind die Überweisungen so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 19 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten TomKoenigs, Kerstin Müller , Volker Beck
, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENSchutzverantwortung weiterentwickelnund wirksam umsetzen– Drucksache 17/9584 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Ausschuss für Menschenrechte und Humanitäre Hilfe
VerteidigungsausschussAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungFederführung strittigb) Beratung des Antrags der Fraktion der SPDDie internationale Schutzverantwortungweiterentwickeln– Drucksache 17/8808 –Überweisungsvorschlag:Auswärtiger Ausschuss
VerteidigungsausschussAusschuss für Menschenrechte und Humanitäre HilfeAusschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit undEntwicklungNach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für dieAussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich hörekeinen Widerspruch. Dann ist so beschlossen.Ich eröffne die Aussprache. Das Wort hat der KollegeTom Koenigs für die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen und
Herren! Nie wieder Völkermord – das ist das ehrgeizige
Ziel, das sich die internationale Gemeinschaft nach den
Massakern von Ruanda und Srebrenica gesetzt hat. In
den letzten drei Jahren wurden immer wieder Konkre-
tisierungen der Antworten auf die Frage gefunden, wie
Menschen besser vor Gräueltaten verbrecherischer
Regime geschützt werden können, also wie die 2005 be-
schlossene Schutzverantwortung, die sogenannte Re-
sponsibility to Protect, die RtoP, wirksamer umgesetzt
werden kann.
Immer mehr Staaten bestimmen die RtoP-Agenda
durch konkrete Antworten, durch konkrete Mitarbeit
und durch neue Ideen. Das deutsche Engagement dabei
ist – wenn überhaupt vorhanden – durch Profil- und
Konzeptlosigkeit geprägt, und das ungeachtet der histo-
rischen Verantwortung, die Deutschland für die Verhü-
tung von Völkermord und schweren Menschenrechtsver-
brechen eigentlich hat. Das alles spielt in der
gegenwärtigen deutschen Außenpolitik keine Rolle.
Das ist nicht überall so. Der amerikanische Präsident
Obama zum Beispiel lässt keine Gelegenheit aus, die
RtoP als nationales Sicherheitsinteresse und moralische
Verantwortung hervorzuheben, und das zu Recht. Die
Kanzlerin überlässt das Thema ihrem Außenminister,
und dieser orientiert sich lieber an seinen sogenannten
Gestaltungsmächten wie Russland und China. Auch
wenn der Außenminister das Gegenteil beteuert: Beim
Schutz vor schwersten Menschenrechtsverletzungen hat
Deutschland Nachholbedarf.
Andere Staaten sind weiter und begreifen die RtoP
als Säule einer menschenrechtsorientierten globalen
Friedenspolitik, und das zu Recht. Die US-Administra-
tion hat dazu einen ressortübergreifenden Beirat zur
Prävention vor schwersten Menschenrechtsverbrechen,
Atrocities Prevention Board, geschaffen. Er setzt sich
aus hochrangigen Vertretern der Ministerien für Äuße-
res, Verteidigung, Entwicklung, Finanzen und Justiz, der
Geheimdienste, der Streitkräfte, der Vertretung bei den
Vereinten Nationen und des Büros des Vizepräsidenten
zusammen. So macht man das, wenn man ein Thema
wirklich ernst nimmt.
Deutschland hat sich der globalen Initiative, nationale
RtoP-Kontaktstellen einzurichten, um nationale und in-
ternationale Anstrengungen besser koordinieren zu kön-
nen, bisher noch nicht angeschlossen. Die Regierung
sagt, sie prüfe. Ich frage: Wie lange eigentlich noch?
Wer wirksamen Schutz vor Völkermord will, darf
sich vor unbequemen Entscheidungen nicht drücken.
Dazu gehört auch, die UN-Missionen nicht nur zaghaft
zu unterstützen und die Hauptarbeit und vor allem das
Risiko anderen zu überlassen, sondern selbst Verantwor-
tung zu tragen. Die selbstgefällige Fixierung auf das We-
nige, das von Deutschland dann doch immerhin getan
wird, hilft denen nicht, die unmittelbar von schwersten
Verletzungen von Menschenrechten bedroht sind. RtoP
ist ein Konzept der Prävention, der Unterstützung und
des Handelns. Dieses Konzept verdient unsere volle Zu-
stimmung und Unterstützung.
In unserem Antrag haben wir verschiedene praktische
Anregungen zur Umsetzung der RtoP gegeben. Ich
hoffe, dass die Bundesregierung zumindest einige davon
aufgreift und entschlossener dazu beiträgt, dass die
moralische Maxime „Nie wieder Völkermord!“ kein lee-
res Versprechen bleibt.
Danke sehr.
Für die FDP-Fraktion hat nun die Kollegin Marina
Schuster das Wort.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Herr Koenigs, ich finde es schade, dass Sie dieses sehrwichtige Thema nehmen, um zu einem Rundumschlagauf die Bundesregierung auszuholen, und insbesonderenicht erwähnen, was in diesem Bereich, auch hier imParlament, auch im Bereich des Ressortkreises, aberauch im Bereich des Beirats, geleistet wird. Ich werdenachher noch einmal darauf zu sprechen kommen.
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22454 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Marina Schuster
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Die Entscheidung, wie sich die Bundesregierung imSicherheitsrat bei der Resolution 1973 verhalten hat,wurde ja mehrfach diskutiert. Ich will da gar nicht mehrauf Parteipolitik eingehen. Denn dann müsste ich derSPD die Äußerung ihres Fraktionsvorsitzenden Steinmeiervorhalten, der am Tag nach der Entscheidung das VotumDeutschlands ausdrücklich begrüßt hat.Zum Konzept der Schutzverantwortung. Sie ist in derTat ein Meilenstein im Völkerrecht. Unsere Aufgabemuss es jetzt sein, dieses Konzept weiterzuentwickeln,es zu operationalisieren. Denn unabhängig davon, obman für oder gegen die Libyen-Entscheidung war odersich bei ihr enthalten hat, die Entscheidung und der Ein-satz danach geben uns konkrete Hausaufgaben auf. Es istdie Frage zu beantworten: Was ist von der RtoP tatsäch-lich gedeckt? Die Bewaffnung von Rebellen? Das ge-zielte Töten eines Diktators oder einer ganzen Führungs-riege? Was ist erlaubt? Der Mandatstext im Fall Libyenbeinhaltete eben gerade nicht einen Regime Change oderWaffenlieferungen an Rebellen.
Deswegen erhoben gerade China und Russland in dernachfolgenden Diskussion den Vorwurf – sei er berech-tigt oder unberechtigt –, es habe einen Overstretch gege-ben. Insofern ist es unsere Aufgabe, diese strittigenFragen zu klären.
Der zweite Punkt, der damals in dem Dokument derGeneralversammlung 2005, aber auch schon vorher beidem Dokument der Konferenz der ICISS, der Internatio-nal Commission on Intervention and State Sovereignty,offengelassen wurde, ist die zukünftige Rolle von Regio-nalorganisationen.Damit hier kein Zweifel aufkommt: Natürlich sindwir der Auffassung, dass der Sicherheitsrat die obersteund zentrale Verantwortung für Frieden und Sicherheithat. Das ist auch die völkerrechtliche Legitimierung. Nurdie Vereinten Nationen können das Mandat zur Durch-setzung der RtoP erteilen, und das auch nur in den vierTatbeständen „Völkermord“, „Kriegsverbrechen“, „Ver-brechen gegen die Menschlichkeit“ und „ethnische Säu-berungen“.Doch man muss die Frage stellen: Welche Rolle wer-den die Regionalorganisationen zukünftig übernehmen?Ich denke da ganz besonders an einen Fall, nämlich andie Afrikanische Union. Sie hat nämlich in Art. 4 ihrerGründungscharta das Right to Intervene im Fall vonKriegsverbrechen, Völkermord und Verbrechen gegendie Menschlichkeit festgelegt. Das heißt, man mussschon klären, welche Rolle Regionalorganisationen zu-künftig spielen, und es muss immer klar sein, wem dieBefugnis für einen Einsatz erteilt wird.Der nächste Punkt – dieser ist in der Diskussion ganzbesonders wichtig – ist, dass wir klarstellen und ganzdeutlich machen müssen: Schutzverantwortung ist nichtidentisch mit militärischem Eingreifen. Es gibt keinenAutomatismus. Vielmehr ist RtoP ein ganzheitlichesKonzept mit drei wesentlichen Säulen, nämlich „to pre-vent“, „to react“ und „to rebuild“. Gerade dieser Bereich– es sind ja Kollegen da, die in dem Unterausschuss„Zivile Krisenprävention und vernetzte Sicherheit“ sehraktiv sind: Kollege Spatz als Vorsitzender und KerstinMüller – ist besonders wichtig. Es geht nämlich darum,Krisen früh zu erkennen, früh mit diplomatischen Mög-lichkeiten, mit politischen Möglichkeiten, sei es durchVermittlung, durch Sonderberichterstatter, Beauftragte,Krisen zu verhindern. Da würdigen Sie zu wenig, was imAusschuss, aber auch im Beirat „Zivile Krisenpräven-tion“ und im Ressortkreis geleistet wird. Wenn man dieBundesregierung kritisiert, muss man auch erwähnen,wo überall sich Deutschland engagiert,
nämlich auch auf internationaler Ebene, zum Beispielbei den Friends of RtoP auf UN-Ebene. Das muss manschon deutlich machen.Ein weiterer Bereich, den ich noch einmal ansprechenwollte, ist, dass dieses Konzept mit Vorschlägen andererStaaten ausgestaltet wurde. Wir haben ganz konkret ei-nen Vorschlag, den Brasilien im Herbst 2011 auf denTisch gelegt hat, nämlich „Verantwortung beim Schüt-zen“. Ich glaube, es ist ganz besonders wichtig, dass wirin der Diskussion über die RtoP gerade diese Staaten miteinbeziehen und in einem stetigen Dialog mit ihnen tre-ten, um dieses Konzept weiterzuentwickeln. Ich freuemich, dass wir im Auswärtigen Ausschuss und im Men-schenrechtsausschuss schon Ed Luck zu Gast hatten;denn es ist ja seine Arbeit, die wir unterstützen, übrigensauch finanziell.Mein ganz konkreter Vorschlag – ich habe im Rah-men der Parlamentarischen Versammlung des Europara-tes einen Bericht dazu vorgelegt, der sich im weitestenSinne mit Fragen der Staatlichkeit und der Souveränitätbefasst –: Wir sollten eine Folgekonferenz der ICISSeinberufen. Denn wir brauchen einen Austausch über dieOperationalisierung: mit Fachleuten, mit Wissenschaft-lern und auch mit NGOs. Wir müssen die Entwicklungender letzten zehn Jahre beleuchten. Ich denke, das wäreein ganz wichtiger Schritt, um dieses Konzept nachvorne zu bringen.Der letzte Punkt. Eines ist, glaube ich, ganz besonderswichtig: dass dieses Konzept nicht missbraucht oder dis-kreditiert wird, dass sich also kein Staat, wenn es ihmaus nationalem Interesse passt, darauf beruft, es später ineinem anderen Fall aber als Eingriff in die nationaleSouveränität ablehnt.
Das haben wir vonseiten Russlands schon erlebt.Insofern, glaube ich, ist es wichtig, dass wir eine sol-che Konferenz einberufen. Deutschland wird sich hieraktiv und engagiert einbringen.Vielen Dank.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22455
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Das Wort hat die Kollegin Heidemarie Wieczorek-
Zeul für die SPD-Fraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Die Responsibility to Protect, die Schutzverantwortung,ist die Lehre aus den Katastrophen von Ruanda 1994 undvon Srebrenica 1995. Sie ist – Tom Koenigs hat daraufhingewiesen – im Abschlussdokument der UN-General-versammlung von 2005 von der Staatengemeinschaft mitZustimmung Deutschlands anerkannt worden.Die Lehre aus … Ruanda und Srebrenica– so sagt Wolfgang Seibel –bestand namentlich darin, die Schranke der Ach-tung vor der einzelstaatlichen Souveränität und derterritorialen Integrität … im Interesse des Schutzesdes höherwertigen Gutes, nämlich des Schutzes vorMassenverbrechen, zu durchbrechen. Es sollte nichtnoch einmal die Situation eintreten, dass die inter-nationale Gemeinschaft tatenlos zusieht, wennstaatliche oder nichtstaatliche Akteure Massen-verbrechen … verüben …Diese Herausforderung ist, denke ich, bisher nicht in al-len politischen Diskussionen und in der AußenpolitikDeutschlands, aber auch vieler anderer Länder in demMaße verwirklicht.Ich will daran erinnern, dass die Schutzverantwortungan vier Tatbestände gebunden ist – dabei geht es nichtdarum, immer militärisch einzugreifen –: an die Tatbe-stände des Völkermordes, der Kriegsverbrechen, derVerbrechen gegen die Menschlichkeit und der ethni-schen Vertreibung. Es ist die primäre Verantwortung derStaaten, ihre Bevölkerung vor diesen Massenverbrechenund vor Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu schüt-zen. Wenn sie selbst dazu nicht imstande oder an diesenVerbrechen sogar beteiligt sind, dann geht die Schutz-verantwortung auf die internationale Gemeinschaft über.Sie hat in der Tat drei Säulen: die Prävention, die Re-aktion – damit ist auch die militärische Aktion gemeint –und den Wiederaufbau.Aber zur Wahrheit gehört auch, zu fragen: Wer disku-tiert frühzeitig über Prävention und die Notwendigkeitdes Eingreifens? Hier gibt es meist nur wenig Öffent-lichkeit, und vor allen Dingen werden dafür meist nurgeringe Finanzmittel mobilisiert.Wir machen in unserem Antrag deutlich: Zum erstenMal ist mit der Libyen-Resolution des UN-Sicherheits-rats vom März 2011 die internationale Schutzverantwor-tung der UN in einer konkreten Situation angewandtworden; damit ist eine Völkerrechtsnorm entwickeltworden. Sie erinnern sich: Der von Gaddafi angedrohteAngriff auf die Stadt Bengasi – mit mehr als 600 000Einwohnern – hätte zu einem Massaker mit Tausendenvon Opfern geführt. Der Einsatz hatte die Entscheidungdes UN-Sicherheitsrates, die Aufforderung der Men-schen aus dem Land selbst und den Beschluss der Regio-nalorganisation der Arabischen Liga als Voraussetzung;Frau Schuster hat das ja angesprochen. Es ist deshalb einschwerer historischer Fehler der Bundesregierung, dasssie sich bei der Abstimmung im UN-Sicherheitsrat überdie UN-Resolution 1973 der Stimme enthalten hat.
Durch ihre Entscheidung ist die Bundesregierung ihrerUnterstützungsfunktion für diese Norm der Schutz-verantwortung, die ja entwickelt wird, nicht gerechtgeworden.Es wäre Zustimmung notwendig gewesen, undgleichzeitig, Frau Schuster, hätte ein Prozess der Über-prüfung, ein sogenannter Monitoringprozess, die Aktionentsprechend begleiten müssen.
Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es vonseiten der Bun-desregierung keinerlei Versuch gegeben hat, einen sol-chen Monitoringprozess zu verwirklichen.Skandalös ist übrigens, dass die Bundesregierung inden nachfolgenden Tagen die Soldaten aus den über demMittelmeer nahe Libyen kreisenden AWACS-Flugzeu-gen abgezogen und auch die zwei Schiffe der Bundes-marine aus einem vor der libyschen Küste kreuzendenFlottenverband der NATO herausgelöst hat. Dessen Auf-gabe war die Durchsetzung des vom UN-Sicherheitsratam 26. Februar 2011 mit der UN-Resolution 1970 be-schlossenen Waffenembargos, das die Bundesregierungselbst gefordert und Bundesaußenminister Westerwellemehrfach begrüßt hatte.
Es ist absurd, wie sich die Regierung hier verhalten hat.Deutschland sollte nachdrücklich für das Konzept derSchutzverantwortung eintreten und in der EU und auchbei anderen Staaten – zum Beispiel den Schwellenlän-dern – für das Konzept werben. Die Schutzverantwor-tung muss zum Schwerpunktinstrument der deutschenEntwicklungszusammenarbeit werden, und die Bundes-regierung muss ausreichende Finanzmittel für Präven-tion und Wiederaufbau mobilisieren.Von denjenigen, die die Schutzverantwortung jeden-falls als Prinzip nicht wirklich akzeptieren oder sagen,das seien immer militärische Aktionen – Frau Schusterhat das auch noch einmal gesagt –, wird eingewandt,dass die Libyen-Entscheidung des UN-Sicherheitsrates,die UN-Resolution 1973, nicht den Auftrag enthaltenhabe, Gaddafi zu stürzen. Das ist in der Tat richtig. Dassaber gerade diejenigen, die der Resolution des UN-Sicherheitsrates nicht zugestimmt haben wie HerrWesterwelle, aktiv gesagt haben, Gaddafi müsse gestürztwerden, ist doch ein innerer Widerspruch.
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22456 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Heidemarie Wieczorek-Zeul
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Hier gibt es ja durchaus gemeinsame Vorschläge. Esist deshalb wichtig, die Leitkriterien in den UN für dieSchutzverantwortung so zu entwickeln, dass ihre An-wendung im Falle Libyens zukünftig nicht als Vorwandgenutzt werden kann, die Schutzverantwortung in ande-ren Situationen abzulehnen. Ich plädiere sehr dafür, dasswir über die Fraktionsgrenzen hinweg versuchen, ent-sprechende Positionen zu finden. Den Antrag der Frak-tion Bündnis 90/Die Grünen könnten wir zu einem ge-meinsamen Antrag weiterentwickeln.Ich möchte noch einmal darauf hinweisen: Dass eskeine militärische Initiative im Sinne der Schutzverant-wortung der internationalen Gemeinschaft in Bezug aufSyrien gibt, kann nicht als Argument herangezogen wer-den, dass es hier doppelte Standards gibt. Ein militäri-sches Eingreifen in Syrien würde die Zahl der Opfer ineiner derart komplexen Situation erhöhen.
Das entbindet uns aber nicht davon, alles zu tun unddazu beizutragen, dass dem Blutvergießen in Syrien Ein-halt geboten wird. Es schmerzt uns, wenn wir die Situa-tion der Menschen dort sehen.Meines Erachtens – das ist meine persönliche Mei-nung – wäre im UN-Sicherheitsrat ein Drängen auf dieEntsendung von UN-Blauhelmen notwendig. Die unbe-waffneten UN-Beobachter können das, was von demAnnan-Plan erwartet wird, jedenfalls nicht leisten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, dass es aber falschgewesen wäre, in Libyen einzugreifen, halte ich für ei-nen Vorwand. Dass wir nicht alle retten können, heißtdoch nicht, dass wir auch diejenigen nicht retten sollten,die wir retten können. Das müssen wir in all den Fällentun, in denen wir dazu alle Möglichkeiten haben, undzwar mit Leidenschaft, Engagement und finanzieller Un-terstützung. Die Prävention – das ist völlig klar – müssenwir natürlich immer an die Spitze stellen.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Dr. Johann Wadephul für
die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Meine sehr verehrten Damen undHerren! Ich finde es gut, dass wir uns dieses Themas an-nehmen, auch wenn ich mir eine andere Debattenzeithätte vorstellen können.
Aber das Thema verdient die Erörterung in diesem Ple-num in jedem Falle.Ich stelle voran: Wir sind uns einig, dass das Prinzipder Schutzverantwortung ein neues, relativ junges inter-nationales Prinzip ist, das noch mit Leben gefüllt werdenmuss. Aber die Tatbestände, die formuliert worden sind– die Vorredner haben das bereits ausgeführt –, sind un-streitig. Die Bundesrepublik Deutschland gehört zu denNationen, die sich innerhalb der UN dafür einsetzt, dassdas Prinzip weiterentwickelt wird, dass es Kraft gewinntund dass es ein Instrumentarium wird, das eine gewisseVerlässlichkeit bietet. Dabei muss Orientierung bei derFrage geschaffen werden, wann ein möglichst großerKonsens in der internationalen Gemeinschaft hergestelltwerden kann, um einzugreifen.Wir sind uns natürlich auch über die drei Säulen Prä-vention, Reaktion und Wiederaufbau einig. Darüberhinaus sind wir uns darüber einig, Frau KolleginWieczorek-Zeul, dass wir natürlich beim Thema Präven-tion noch nicht genug tun. Das ist auch in den Beiträgender Vorredner deutlich geworden. Automatisch liegt na-türlich ein Schwerpunkt auf der Reaktion.Ein Schwerpunkt ist auch die Diskussion, auch diestreitige Diskussion hier und anderswo, zum Beispiel inder UN. Daher ist eine Reaktion jetzt angesagt. DieFrage muss beantwortet werden, ob sie notwendig undgerechtfertigt ist. Deutschland tut gut daran, die präven-tiven Bemühungen zu verstärken. Wenn wir hierüber indiesem Hause einen Konsens herstellen, dann fände ichdas schon wertvoll.Wann allerdings das Prinzip der Schutzverantwortungheranzuziehen ist, um auch militärisch zu intervenieren,darüber sind wir ganz offenkundig unterschiedlicherAuffassung. Wichtig ist, dass wir dieses Instrument nichtauf militärische Interventionen verengen. So ist es,glaube ich, auch nie gemeint gewesen. Das kann immerein mögliches Element sein. Es kann aber immer nur dieUltima Ratio sein und sollte nicht die erste Maßnahmesein, wozu wir uns genötigt sehen, auch wenn es – dasgeben ja schon die Tatbestandsvoraussetzungen her – umGräueltaten geht. Wir dürfen nicht die Ersten sein, die zuden Waffen eilen. Das sollte ein Konsens in diesemHause sein.
Vor dem Hintergrund sage ich in Richtung der linkenSeite des Hauses – die Linkspartei, Herr Gehrcke, lasseich an der Stelle einmal außen vor, weil Sie da eine rela-tiv klare Position haben, die ich überhaupt nicht teile –:Das, was wir von den Sozialdemokraten und den Grünenzu diesem Thema hören, ist nicht konsistent. Diesen Vor-wurf kann ich Ihnen nicht ersparen. Als die Bundesre-gierung angekündigt hat, sich enthalten zu wollen, habenwir aus den ersten Reihen Ihrer Fraktionen eine Ad-hoc-Zustimmung vernommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22457
Dr. Johann Wadephul
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Es wurde gesagt: Wir haben jedes Verständnis dafür,dass sich Deutschland enthält. – Das kommt aus IhrenReihen. Fragen Sie Herrn Steinmeier und Herrn Trittin,was sie damals dazu gesagt haben. Man hat sich dannspäter korrigiert. Aber seien Sie so ehrlich: Die erste Re-aktion von Rot und Grün war Verständnis für diese Ent-haltung.
So ist das gewesen. Das muss hier schon einmal ge-sagt werden. Im Nachhinein tun Sie so, als hätten Sie al-les besser gewusst nach dem Motto „Wäre Deutschlanddoch bei der militärischen Aktion dabei gewesen“. Es istkeine Frage, dass es sich um ein menschenverachtendesRegime handelte und dass sich Gräueltaten andeuteten.Wie Sie dann, Frau Wieczorek-Zeul, in einer rhetori-schen Volte dazu kommen, einen Einsatz in Syrien kom-plett abzulehnen, wo doch dort im Grunde jeden Tag An-schläge wie in Bengasi geschehen, und wie Sie das hierschlüssig begründen wollen, das kann ich schlicht undergreifend nicht nachvollziehen. Das muss ich Ihnen inaller Offenheit sagen. Hier müssen Sie schon den glei-chen Maßstab anlegen.Deswegen bin ich ganz aufseiten der Bundesregie-rung, die die Schutzverantwortung, was das militärischeElement angeht, ganz offensichtlich restriktiv interpre-tiert. Das hat Deutschland insgesamt immer gut ange-standen.
Das sollte auch für die Zukunft an dieser Stelle unserGrundsatz sein.
Das Militärische ist nicht der Ausweg. Mit diesenWorten möchte ich meine Ausführungen beenden undfreue mich auf einen deutschen Sieg im Fußball.Vielen Dank.
Das Wort hat der Kollege Wolfgang Gehrcke für die
Fraktion Die Linke.
Frau Präsidentin! Verehrte Kolleginnen und Kolle-gen! Ich denke, dass es wirklich gut ist, sich am Beginnder Debatte doch einmal an die Charta der Vereinten Na-tionen und an den Gründungsgeist der Vereinten Natio-nen zurückzuerinnern und davon auszugehen. Es warenzwei große Gedanken, die die Vereinten Nationen be-wegt haben: Krieg sollte als Mittel der Politik ausge-schlossen werden, und man wollte nie wieder Faschis-mus, Diktaturen und Gewalt dulden. – Das sind dieLeitlinien der Vereinten Nationen.Deswegen haben sich die Vereinten Nationen sehrfrüh darauf festgelegt, Gewalt und bereits die Andro-hung von Gewalt aus dem Zusammenleben der Völkerauszuschließen. Stattdessen sind mehr und mehr Überle-gungen zu Konfliktvermeidung und friedlicher Konflikt-lösung entwickelt worden. Die Vereinten Nationen ha-ben einen großen Anteil daran, dass das Kolonialsystemzusammengebrochen ist. Ich glaube, dass man sich, vonden Positionen der Vereinten Nationen herkommend,besser die Frage stellen sollte: Gehören Menschenrechtezum Völkerrecht, oder stehen sie außerhalb des Völker-rechts? Das ist die rechtliche Frage. Ich möchte aus mei-ner Sicht ganz deutlich sagen: Menschenrechte gehörenzum Völkerrecht und sind Teil des Völkerrechts. Dassollte unbestritten sein.
Die großen beiden Dokumente der Vereinten Natio-nen sind für mich die Charta der Vereinten Nationen unddie Charta der Menschenrechte. Beides muss umgesetztwerden. Daraus ziehe ich für mich die Schlussfolgerung,dass die Vereinten Nationen nicht nur für Menschen-rechte kämpfen dürfen, sondern sie sind verpflichtet, fürMenschenrechte zu kämpfen und in diesem Bereichmöglichst noch mehr zu tun.Um den Kampf um Menschenrechte geht es auch inden vorliegenden Anträgen. Ich finde vieles, was in die-sen Anträgen steht, vernünftig. Ich würde gern in denAusschüssen, wo wir darüber noch reden werden, eini-ges vertiefen wollen. Aber ich will auch gleich auf diePferdefüße zu sprechen kommen, die für mich eine Zu-stimmung zu diesen Anträgen ausschließen.Beide Anträge beinhalten die Möglichkeit eines Krie-ges. Es ist allerdings anders formuliert: Die SPD sprichtin ihrem Antrag von militärischem Eingreifen oder mili-tärischer Intervention. Die Grünen sprechen vonZwangsmaßnahmen nach Kapitel VII der UN-Charta.Beide Anträge beziehen militärische Gewalt ein undschließen sie nicht aus.
Dem stimme ich nicht zu. Wir werden nicht unsere Stim-men für den Einsatz militärischer Gewalt geben.
– Ich behaupte ja nicht, dass die Anträge damit enden.Das ist erst der Anfang. Ich habe Ihre Anträge gelesen.Es gab einmal eine Zeit, wo für die Sozialdemokratiemilitärische Gewalt nicht Ultima Ratio, sondern UltimaIrratio war. Das war zur Zeit von Willy Brandt. Für dieGrünen galt dasselbe. Hier müssen Sie sich entscheiden:Wird militärische Gewalt für Sie wieder Ultima Ratio?Dann landet man schnell bei militärischer Gewalt. Oder
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22458 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Wolfgang Gehrcke
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bleibt es dabei, dass Krieg die Ultima Irratio ist? Dannmüssen wir sie ausschließen.
Schauen Sie sich einmal die Opfer der Kriege an: inJugoslawien – bei diesem Krieg wurde immer mit denMenschenrechten argumentiert –, im Irak, in Afghanis-tan und Libyen. Wenn Sie die Zahl der Opfer zusam-menrechnen, kommen Sie auf das furchtbare Ergebnis,dass wahrscheinlich über 900 000 Menschen in diesenKriegen ihr Leben verloren haben. Das ist eine gewaltigeOpferzahl. Kann es wirklich sein, dass wir akzeptieren,dass aufgrund des Einsatzes von militärischer Gewaltund ihrer Folgen Menschen Leben und Gesundheit ver-lieren? Das entspricht nicht meiner Vorstellung. Ichglaube nicht, dass man über den Krieg Menschenrechteerkämpfen kann. Deswegen will ich militärische Gewaltausschließen.
Ich schlage Ihnen gerne ein anderes Herangehen vor.Man kann über Schutzmaßnahmen in Form eines Paktsim Parlament diskutieren. Ich möchte gerne verhindern,dass Menschen weiter im Mittelmeer ertrinken, weil sienach Europa kommen wollen. 14 000 Menschen sind imMittelmeer umgekommen. Ist das nicht eine Herausfor-derung? Ich möchte die Flüchtlingsströme mit ihrenHunderttausenden von Menschen beenden. Ich möchte,dass wir eine Sprache finden, in der wir die Dinge wie-der beim Namen nennen und in der Krieg wieder Kriegheißt statt militärische Einmischung, Schutzverantwor-tung oder Zwangsmaßnahmen. Ich möchte, dass wir eineArt und Weise der Menschenrechtspolitik entwickeln,die gradlinig ist. Man kann nicht auf der einen Seite hin-schauen und auf der anderen Seite wegschauen.Bei Libyen hatte sich Deutschland – das war das ein-zig Vernünftige dieser Bundesregierung – seiner Stimmeenthalten. Wir hätten, wenn wir es zu entscheiden gehabthätten, dagegen gestimmt. Der Libyen-Krieg hat das Le-ben von 40 000 Menschen gekostet. Da können Sie dochnicht sagen, dass er vernünftig war.Danke sehr.
Letzter Redner in dieser Debatte ist der Kollege
Thomas Silberhorn für die Unionsfraktion.
Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen!Es ist, denke ich, in dieser Debatte deutlich geworden,dass das Konzept der Schutzverantwortung, das in denletzten zehn Jahren entwickelt worden ist, darauf abzielt,schwerste Menschenrechtsverletzungen zu unterbinden.Es hat im Jahr 2005 Eingang in das Abschlussdokumentdes Weltgipfels der Vereinten Nationen gefunden. Seit2008 gibt es einen Sonderbeauftragten der Vereinten Na-tionen zu diesem Thema.2009 hat der Generalsekretär der Vereinten Nationeneinen Bericht vorgelegt, in dem es um die Ausdifferen-zierung der Verantwortlichkeiten in die Bereiche Präven-tion, Reaktion und Wiederaufbau geht. Frau KolleginWieczorek-Zeul hat zu Recht darauf hingewiesen, dasszugleich der Anwendungsbereich auf die vier Massen-verbrechen Völkermord, Kriegsverbrechen, ethnischeSäuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeiteingegrenzt worden ist.Aber es bleibt dabei, meine Damen und Herren: DieEntscheidung über den Einsatz militärischer Mittel zurUmsetzung der Schutzverantwortung verbleibt beim Si-cherheitsrat der Vereinten Nationen im Rahmen von Ka-pitel VII der Charta der Vereinten Nationen.Die Entwicklung des Konzepts der Schutzverantwor-tung vor dem Hintergrund der schrecklichen Menschen-rechtsverletzungen auf dem Balkan, in Ruanda, in Dar-fur und im Kongo ist schon dargestellt worden. InLibyen hat dieses Konzept insofern eine Weiterentwick-lung erfahren, als der Sicherheitsrat in seiner Resolutionausdrücklich auf die Schutzverantwortung der libyschenBehörden gegenüber der eigenen Bevölkerung Bezuggenommen hat. Deswegen zeigt der Fall Libyen dieStoßrichtung des Konzepts auf: Wo Staaten ihrer Schutz-verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung nichtnachkommen, soll die Schutzverantwortung auf die in-ternationale Gemeinschaft übergehen. Diese soll dannhandeln, um drohende oder akute schwerste Menschen-rechtsverletzungen zu vermeiden.Das Konzept reiht sich damit in einen Paradigmen-wechsel ein, der schon seit längerem stattfindet und auchvom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen befördertwurde, und zwar im Hinblick auf die tragenden Säulendes Völkerrechts: die Prinzipien der Souveränität, desInterventionsverbots und des Gewaltverbots. Sicherlichbleibt es die essenzielle Aufgabe eines Staates, die Si-cherheit seiner eigenen Bevölkerung zu gewährleisten.Die Staaten haben diese Verantwortung in zahlreichenVerpflichtungen zum Menschenrechtsschutz und zumhumanitären Völkerrecht verankert.Je umfassender und konkreter diese Bindungen durchdas Völkerrecht sind, desto kleiner wird der Bereich aus-schließlicher nationaler Souveränität; desto sensiblerstellt sich aber auch die Frage nach einer Interventionvon außen im Sinne der Schutzverantwortung. Das hatsich zuletzt im Falle Libyens gezeigt: Dort haben die in-tervenierenden Kräfte unter Berufung auf die Schutzver-antwortung einen Regimewechsel herbeigeführt. Wirmüssen im Blick behalten, dass dieses Konzept von vie-len Staaten, die ihm ohnehin kritisch gegenüberstehen,durch diesen Regimewechsel als diskreditiert angesehenwird.Aufgrund dieser Entwicklung möchte ich dafür wer-ben, dass wir dem Konzept der Schutzverantwortungden Stellenwert beimessen, den es auch im Abschlussdo-kument des Weltgipfels der Vereinten Nationen hatte,nämlich den eines politischen Signals.Der Grundsatz, dass die Verantwortung eines Staatesdarin besteht, seine Bevölkerung zu schützen, ist nichtgerade neu; denn im Völkervertragsrecht und im Völker-gewohnheitsrecht ist diese Verpflichtung schon lange
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verankert, zum Beispiel in den Normen des internationa-len Menschenrechtsschutzes, in den Genfer Abkommenzum humanitären Völkerrecht, in der Völkermordkon-vention und im Völkerstrafrecht. Deshalb ist es wichtig,dass das Gipfeldokument von 2005 die Rolle und dieVerantwortung der internationalen Gemeinschaft und da-mit auch die Befugnisse des Sicherheitsrates der Verein-ten Nationen betont und bestätigt. Außer dem damaligenAufruf, eine Frühwarnkapazität im Rahmen der Verein-ten Nationen zu unterstützen, gibt es keine rechtlicheWeiterentwicklung. Insbesondere werden keine Optio-nen für den durchaus wahrscheinlichen Fall einer Blo-ckade des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen for-muliert.Eines muss klar herausgearbeitet werden: Es gibt imRahmen des Konzepts der Schutzverantwortung keinePflicht zum Eingreifen bei schwersten Menschenrechts-verletzungen. Das Konzept kann aber bei der Analysevon Gefährdungssituationen und bei der Operationalisie-rung von Handlungsoptionen durchaus gute Dienste leis-ten. Deutschland sollte dabei – hier gebe ich den Antrag-stellern recht – im Rahmen der Vereinten Nationen undder Europäischen Union sowie im Dialog mit den Men-schenrechtsorganisationen eine aktive Rolle spielen undseine vielfältigen Erfahrungen einbringen.Eine Gefahr bei der Berufung auf die Schutzverant-wortung besteht – das ist schon angesprochen worden –in der Verkürzung auf die militärische Option, die oftfalsche Erwartungen erweckt. Ich befürworte sehr, dasswir den Bereich der Analyse und Früherkennung sowieden Präventionsbereich weiter ausbauen. Wenn es aberum den Einsatz der Bundeswehr geht, müssen wir unswie üblich die Fragen stellen: Nützt oder schadet eine In-tervention? Wo sind die Grenzen der Intervention? Wielange dauert sie? Wie kann sie beendet werden? Worinbestehen unsere Interessen und die Bündnisinteressen?Ich rate zur Vorsicht bei der Schutzverantwortung, umkeine Enttäuschungen zu produzieren.Aus meiner Sicht macht es am meisten Sinn, das Kon-zept der Schutzverantwortung im Hinblick auf seine prä-ventiven Möglichkeiten zu diskutieren. Die Kapazitätender Vereinten Nationen in den Bereichen der Früherken-nung und der gezielten Beobachtung krisenhafter Ent-wicklungen sollten überprüft werden. Interessant ist si-cherlich auch der Austausch mit unseren amerikanischenPartnern. Die Obama-Administration hat ein AtrocitiesPrevention Board eingerichtet, das einen Katalog an ge-eigneten Maßnahmen und Instrumenten erarbeiten soll.Lassen Sie mich in einem letzten Schwenk –
Maximal in einem letzten Satz. Achten Sie bitte auf
die Zeit!
– auf das Prinzip der strukturellen Krisenvorsorge
eingehen, das die EU in unserer Nachbarschaft hervorra-
gend verwirklicht, insbesondere auf dem Balkan, wo die
Menschen vor nicht allzu langer Zeit ethnische Säube-
rungen ertragen mussten.
Wir sollten das, was wir realistischerweise tun kön-
nen, richtig tun. Die Schutzverantwortung beginnt vor
unserer eigenen, europäischen Haustür.
Vielen Dank.
Ich schließe die Aussprache.Interfraktionell wird vorgeschlagen, die Vorlagen aufden Drucksachen 17/9584 und 17/8808 an die in der Ta-gesordnung aufgeführten Ausschüsse zu überweisen.Die Federführung zur Vorlage auf Drucksache 17/9584 –Tagesordnungspunkt 19 a – ist jedoch strittig. Die Frak-tionen der CDU/CSU und FDP wünschen Federführungbeim Auswärtigen Ausschuss. Die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen wünscht Federführung beim Ausschuss fürMenschenrechte und Humanitäre Hilfe.Ich lasse zuerst über den Überweisungsvorschlag derFraktion Bündnis 90/Die Grünen abstimmen. Wer stimmtfür diesen Überweisungsvorschlag? – Wer stimmt dage-gen? – Wer enthält sich? – Der Überweisungsvorschlagist abgelehnt.Ich lasse nun über den Überweisungsvorschlag derFraktionen der CDU/CSU und FDP abstimmen. Werstimmt für diesen Überweisungsvorschlag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Überwei-sungsvorschlag ist angenommen. Damit liegt die Feder-führung beim Auswärtigen Ausschuss.Wir kommen nun zu dem in der Tagesordnung aufge-führten Überweisungsvorschlag zu Tagesordnungspunkt19 b. Sind Sie mit diesem Überweisungsvorschlag ein-verstanden? – Das ist der Fall. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 20 a und b auf:a) – Zweite und dritte Beratung des von der Bun-desregierung eingebrachten Entwurfs einesBundesbesoldungs- und -versorgungsan-
– Drucksache 17/9875 –Beschlussempfehlung und Bericht des Innen-ausschusses
– Drucksache 17/10145 –Berichterstattung:Abgeordnete Armin Schuster
Wolfgang GunkelDr. Stefan RuppertFrank TempelDr. Konstantin von Notz
– Drucksache 17/10151 –Berichterstattung:Abgeordnete Jürgen HerrmannDr. Peter Danckert
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Florian ToncarMichael LeutertKatja Dörnerb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Innenausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Matthias W.Birkwald, Jan Korte, Petra Pau, weiterer Abge-ordneter und der Fraktion DIE LINKEAbschaffung der gesetzlichen Vermutung der„Versorgungsehe“ bei Eheschließung und ein-getragener Lebenspartnerschaft mit Beamtin-nen und Beamten nach dem Eintritt in denRuhestand– Drucksachen 17/7027, 17/10144 –Berichterstattung:Abgeordnete Armin Schuster
Wolfgang GunkelDr. Stefan RuppertUlla JelpkeDr. Konstantin von NotzWir nehmen die Reden zu Protokoll.
Mit dem heute von der Bundesregierung eingebrach-ten Entwurf eines Bundesbesoldungs- und -versorgungs-anpassungsgesetzes gleichen wir die Bezüge der Bun-desbeamten, Richter, Soldaten und Ruheständler an dieEntwicklung der allgemeinen wirtschaftlichen und fi-nanziellen Verhältnisse in Deutschland an. Der Bundüberträgt damit die Ergebnisse der Tarifverhandlungenim öffentlichen Dienst inhaltsgleich auf die Beamtenbe-soldung. Und das ist ein gutes, es ist aber vor allem einsehr bewusstes Signal an unsere Staatsbediensteten.Gab es angesichts der heutigen Lage in Europa jemalsdeutlichere Belege dafür, wie stark und verlässlich un-sere öffentliche Verwaltung ihren Dienst leistet? Mit die-ser Anpassung der Bezüge honorieren wir die wertvolleArbeit unserer Beamtinnen und Beamten – eine Arbeit,die für unser Gemeinwohl von elementarem Wert ist undgleichzeitig maßgeblich zum deutschen Standortvorteilbeiträgt. Und deshalb müssen die öffentlichen Arbeitge-ber auch weiterhin attraktive Arbeitsbedingungen bie-ten. Um meinem Bild der letzten Reden treu zu bleiben:Der Bund ist als konkurrenzfähiger Arbeitgeber auf derAttraktivitätsleiter wieder eine Sprosse weiter geklettert.Als beamtenpolitischer Sprecher der CDU/CSU-Fraktion darf ich heute auch die Gelegenheit nutzen,eine Zwischenbilanz zu ziehen, eine Bilanz über eine dertatkräftigsten Legislaturperioden im Sinne der Beamtendes Bundes, der Soldaten und Bundesrichter:Ich erinnere an die Übertragung ehebezogenerRegelungen im öffentlichen Dienstrecht auf Lebenspart-nerschaften, die inhaltsgleiche Anpassung der Dienst-bezüge mit dem Bundesbesoldungs- und -versorungsan-passungsgesetz von 2010 bis Ende 2011, das Gesetz zumStaatsvertrag über die Verteilung von Versorgungslastenbei bund- und länderübergreifenden Dienstherrenwech-seln, das Einsatzversorgungs-Verbesserungsgesetz 2011für unsere Soldaten und das Fachkräftegewinnungsge-setz im März dieses Jahres. Wir haben den öffentlichenDienst in dieser Wahlperiode spürbar fortentwickelt undeinige Regelungen aufgefrischt. Selbst die Causa Weih-nachtsgeld haben wir wie versprochen bei der erstenmöglichen Gelegenheit korrigiert. Durch die nicht ein-fach zu erzielenden dienstrechtlichen Vereinbarungenim Bundeswehrreform-Begleitgesetz haben wir die ge-plante Umsetzung der Bundeswehrreform im Sinne derSoldatinnen und Soldaten maßgeblich unterstützt. Dierote Linie der Arbeitsbelastung wurde in einigen Berei-chen der Bundesverwaltung überschritten. Der Bundes-innenminister hat daher mit der Entscheidung, die pau-schalen Stellenkürzungen auslaufen zu lassen, genauzum richtigen Zeitpunkt ein wichtiges Zeichen gesetzt.Den zahlreichen schriftlichen und persönlichen Rück-meldungen, auch aus den Spitzenverbänden des öffentli-chen Dienstes, entnehme ich, dass dieser beamtenpoliti-sche Weg der christlich-liberalen Koalition der richtigeist.Das alles sind schon heute positive Wirkungen für dieFachkräftegewinnung; dennoch bleibt dieses Themaeine der besonderen Herausforderungen für die Zukunftder öffentlichen Verwaltung.So haben Verwaltungen in den kommenden Jahren ihrAngebot an staatlichen Leistungen den veränderten de-mografischen Rahmenbedingungen anzupassen. Es gilt,zukünftig mehr Menschen mit weniger Verwaltungsein-richtungen zu versorgen. Und gleichzeitig muss die IT-gestützte Ansprechbarkeit steigen. Das heißt, Regie-rungs- und Verwaltungshandeln der Zukunft wird stär-ker als heute durch Kooperation und Partizipation ge-kennzeichnet sein; offener und transparenter gegenüberden Bürgern und der Wirtschaft aufzutreten, ist das Ziel.Ein erster Schritt ist hier das Offenlegen von Verwal-tungsdaten. Die Förderung des Open Government unddie Bedeutung von offenen Daten ist deshalb eines vonsieben Steuerungsprojekten für Bund, Länder undKommunen. Hier hat das Bundesinnenministerium imOktober 2011 mit dem Beschluss zur Umsetzung derNationalen E-Government-Strategie Handlungsbedarferkannt. Wir, die christlich-liberale Koalition, erhebenden Anspruch, zukünftig mit einer bürgernahen, wirt-schaftlich handlungsfähigen und modernen Verwaltungzu arbeiten. Und hierzu muss die Politik die Rahmenbe-dingungen schaffen. Gerade im Bereich des E-Govern-ment und Open Government sehen wir die Möglichkeit,Akzente für eine noch effektivere Verwaltung zu setzen.Bürger und Unternehmen können noch stärker als Kom-munikationspartner in das Verwaltungshandeln onlineeingebunden werden. Bieten wir in Zukunft den Bürgernoder den Unternehmen verstärkt die Möglichkeit, Infor-mation, Kommunikation oder Datentransfers über dasInternet zu bewerkstelligen! Das bedeutet auch, die Mit-arbeiterinnen und Mitarbeiter in den Verwaltungen mit-zunehmen, insbesondere zu qualifizieren.Welche nächsten dienstrechtlichen Schritte planenwir in absehbarer Zeit? Wir werden noch in diesem Jahrunter anderem die Familienpflegezeitregelungen beiTarifbeschäftigten auch auf die Beamtinnen und Beam-
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ten des Bundes übertragen. Die christlich-liberale Re-gierungskoalition sieht die Vereinbarkeit von Familieund Beruf in der öffentlichen Verwaltung auch als eineArt Vorbildfunktion für die privaten Arbeitgeber undeine gerechtere Gesellschaft. Pflege von Angehörigen inder häuslichen Umgebung muss auch für Beamte mög-lich sein.Außerdem werden wir uns in dieser Wahlperiodenoch mit den Themen Mitnahmefähigkeit von Versor-gungsanwartschaften und Vereinbarkeit von Ehrenamtund öffentlichem Dienst beschäftigen.Wir können für die Verwaltung am Arbeitsmarkt nichtdie finanziellen Anreize der Privatwirtschaft bieten; wirkönnen aber mit den beschriebenen Vorhaben dafür sor-gen, dass die Bundesverwaltung Fachkräfte gewinnenkann, bei denen attraktive Arbeitsbedingungen eine grö-ßere Motivation auslösen.Abschließend muss ich leider noch zum unnützen An-trag der Linken Stellung nehmen:Sie, sehr geehrte Damen und Herren der Linkspartei,wollen die Benachteiligung von Bürgerinnen und Bür-gern, die eine Ehe oder eingetragene Lebenspartner-schaft mit einer Beamtin oder einem Beamten im Ruhe-stand eingehen, aufheben. Ihrer Meinung nach handeltes sich um Altersdiskriminierung mit moralischer, sozia-ler und ökonomischer Benachteiligung. Die Linksfrak-tion bezieht sich auf die Antidiskriminierungsrichtlinie2000/78/EG des Rates zur Verwirklichung der Gleich-behandlung in Beschäftigung und Beruf.Dazu kann ich Ihnen nur sagen: Im Beamtenversor-gungsgesetz ist ebenfalls geregelt, dass ein Hinterblie-bener Anspruch auf Witwengeld nur erhält, wenn dieEhe mit dem Beamten während dessen aktivem Beschäf-tigungsverhältnis mindestens ein Jahr gedauert hat
. Diese Regelung zielt darauf ab, dem Miss-
brauch der Ehe vorzubeugen. Dies ist nach Rechtspre-chung des Bundessozialgerichts für den Bereich dergesetzlichen Rentenversicherung absolut verfassungs-gemäß. Von Altersdiskriminierung kann also keine Redesein.Wir legen Ihnen mit dem Bundesbesoldungs- und -ver-sorgungsanpassungsgesetz in kürzester Frist die best-mögliche Form der Anpassung der Bezüge für unsereBeamten, Versorgungsempfänger und Bundesrichterzur Zustimmung vor. Auch wenn ich für die christlich-liberale Koalition bereits eine sehr positive beamten-politische Zwischenbilanz ziehen konnte: Die CDU/CSUwird sich auch weiterhin mit aller Kraft für eine attrak-tive Fortentwicklung und Modernisierung des öffentli-chen Dienstes starkmachen.
Wir debattieren heute zwei voneinander unabhängigeVorlagen zum Beamtenrecht, auf welche ich deshalb ge-sondert eingehen werde. Bei dem Entwurf eines Bundes-besoldungs- und -versorgungsanpassungsgesetzes 2012/2013 der Bundesregierung
handelt es sich um die übliche Anpassung der Bezüge andie Entwicklungen der allgemeinen wirtschaftlichen undfinanziellen Verhältnisse, die regelmäßig zu erfolgenhat. Die hier infrage stehende Anpassung orientiert sichan den Ergebnissen der Tarifverhandlungen für die Ta-rifbeschäftigten des öffentlichen Dienstes des Bundesvom 31. März 2012. Bereits während der Verhandlungenhatte Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich diezeit- und inhaltsgleiche Übertragung der Tarifeinigungauf Bundesbeamtinnen und -beamte, Soldatinnen undSoldaten sowie Versorgungsempfängerinnen und -emp-fänger des Bundes gefordert. Genau dies – nicht mehrund nicht weniger – bezweckt der vorliegende Gesetz-entwurf der Bundesregierung. Dem stimmen wir deshalbzu.Die zweite heute hier zu beratende Vorlage ist ein
gung im Falle einer sogenannten Nachheirat. Nach demBeamtenversorgungsgesetz sind Ansprüche des hinter-bliebenen Ehegatten auf Witwengeld unter anderem aus-geschlossen, wenn die Ehe erst nach Eintritt der Beam-tin bzw. des Beamten in den Ruhestand geschlossenwurde und die Ruhestandsbeamtin bzw. der -beamte zurZeit der Eheschließung die Regelaltersgrenze erreichthatte. Derzeit entspricht die Regelaltersgrenze der Voll-endung des 67. Lebensjahres. In solchen Fällen istgrundsätzlich ein Unterhaltsbeitrag zu gewähren. Auchin allen Landesbeamtenversorgungsgesetzen finden sichsolche Regelungen.Wie die Fraktion Die Linke in ihrem Antrag richtigvorbringt, trifft diese beamtenrechtliche Bestimmungauch auf Beamtinnen und Beamte zu, die in einer einge-tragenen Lebenspartnerschaft leben; denn das Bundes-verfassungsgericht hat mit Urteil vom 28. Oktober 2010
eine diesbezügliche Gleichstellung
mit der Ehe festgestellt. Warum die Antragsteller nun inder Begründung so umfangreich auf den Anspruch aufHinterbliebenenversorgung eingetragener Lebenspart-nerinnen und -partner eingehen, ist nicht ersichtlich undsei dahingestellt.Richtig ist auch, dass es sich hier um eine Regelung
dass nicht jede Benachteiligung aufgrund des Altersauch gleich eine Diskriminierung darstellt; denn Un-gleichbehandlungen können durch einen sachlichenGrund gerechtfertigt sein. Hier muss man also etwas ge-nauer hinschauen.Die Antragsteller beziehen sich in ihrer Begründungauf die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe.Menschen im höheren Alter werde unterstellt, dass siedie Ehe bzw. eingetragene Partnerschaft nur zum Zweckder Versorgung geschlossen hätten. Aber das ist garnicht Bestandteil der beamtenrechtlichen Regelung, de-ren Aufhebung die Fraktion Die Linke in ihrem Antragfordert. Denn § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 Beamtenversor-gungsgesetz schließt einen Anspruch auf Witwengeldnicht deshalb aus, weil eine Versorgungsabsicht unter-stellt wird. Vielmehr handelt es sich hier um den Fall dersogenannten Nachheirat oder Ruhestandsehe. Hinter-grund dieser Regelung ist die Erwägung, dass die Ge-Zu Protokoll gegebene Reden
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währung des Witwengeldes auch ein Ausgleich für dieBeteiligung des Ehegatten an der Lebensleistung desBeamten sein soll. Genau dies ist eben nicht der Fall,wenn die Ehe erst nach Eintritt der Beamtin bzw. des Be-amten in den Ruhestand geschlossen wurde.Die gesetzliche Vermutung der Versorgungsehe findetsich hingegen in § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Beamtenversor-gungsgesetz. Nach dieser Bestimmung wird Eheleutenbzw. Lebenspartnern ein Anspruch auf Witwengeld un-tersagt, wenn die Ehe nicht mindestens ein Jahr gedau-ert hat. Diese Regelung knüpft aber eben nicht an dasAlter, sondern an die kurze Dauer der Ehe bzw. eingetra-gene Lebenspartnerschaft an.Wie bereits erwähnt kann eine Benachteiligung auf-grund des Alters durch einen sachlichen Grund gerecht-fertigt sein; dann liegt auch keine Diskriminierung – imvorliegenden Zusammenhang: Altersdiskriminierung –vor. Genau dies ist hier der Fall. Der Ausschluss vomWitwengeld aus dem Grund, dass die Regelaltersgrenzebei Eheschließung bereits überschritten war, stellt eineUngleichbehandlung älterer Personen dar. Hierfür gibtes aber eine sachliche Rechtfertigung: Der Anspruchauf Witwengeld ist eben nicht deshalb ausgeschlossen,weil die Eheleute bzw. Lebenspartner ein bestimmtes Al-ter erreicht haben. Der Grund für die Versagung derLeistung liegt vielmehr darin, dass das Witwengeld eineKompensation für die Unterstützung des Ehegatten bzw.Lebenspartners an der Lebensleistung der Beamtin bzw.des Beamten darstellt. Davon kann man eben nicht spre-chen, wenn die Ehe oder eingetragene Lebenspartner-schaft erst nach Beendigung der beruflichen Laufbahnder Beamtin bzw. des Beamten geschlossen wurde. Sogeht auch das Bundesverwaltungsgericht in seiner stän-digen Rechtsprechung davon aus, dass § 19 Abs. 1 Satz 2Nr. 2 Beamtenversorgungsgesetz mit höherrangigemRecht, insbesondere Art. 3 und 6 Grundgesetz sowie
Die Fraktion Die Linke vermengt in ihrem Antragzwei beamtenrechtliche Bestimmungen zum Ausschlussvom Witwengeld. So fordert sie die Aufhebung der Rege-
gesetzliche Vermutung einer Versorgungsehe (§ 19Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 Beamtenversorgungsgesetz) eine Al-tersdiskriminierung darstelle. Ich empfehle einen Blickin einen Kommentar zum Beamtenrecht. Der Antrag istfolglich abzulehnen.
Das Beamtentum in Deutschland hat eine langeTradition. Als Vater des Berufsbeamtentums in seinermodernen Form gilt der Soldatenkönig FriedrichWilhelm I. von Preußen; König von 1713 bis 1740. Erverlangte von seinen Beamten, was heute als typischpreußische Tugenden gilt, nämlich treu, fleißig, unbe-stechlich, pünktlich, sparsam und genau zu sein. SeinSohn Friedrich II. prägte als Erster den Begriff desStaatsdieners. Er betrachtete sich selbst als ersten Die-ner des Staates.Vielleicht hilft dieser Ausflug in die Geschichte, denUrsprung des gegenseitigen Dienst- und Treueverhält-nisses besser zu verstehen, in dem Dienstherr und Be-amte noch heute verbunden sind.Aus Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzes ergibt sich dasAlimentationsprinzip als einer der hergebrachtenGrundsätze des Berufsbeamtentums. Es verpflichtet denDienstherrn, Beamten während des aktiven Dienstes undim Ruhestand einen angemessenen Lebensunterhalt zuzahlen. Aus § 14 des Bundesbesoldungsgesetzes und aus§ 70 des Beamtenversorgungsgesetzes ergibt sich fürden Gesetzgeber die Verpflichtung, die Bezüge der Be-amten, Soldaten und Richter des Bundes regelmäßig andie allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellen Ver-hältnisse anzupassen.Gemeinsam beschließen heute alle Fraktionen desDeutschen Bundestages den Gesetzentwurf der Bundes-regierung zur Besoldungs- und -versorgungsanpassungund werden damit ihrem gesetzlichen Auftrag einmalmehr gerecht.Mit dem Gesetzentwurf wird der Tarifabschluss fürdie Beschäftigten des öffentlichen Dienstes vom31. März 2012 auf die Beamtenbezüge übertragen. Al-lerdings wird die Erhöhung um 0,2 Prozentpunkte ge-genüber den Erhöhungen für Tarifbeschäftigte reduziert.Der Differenzbetrag fließt in die Versorgungsrücklagedes Bundes gemäß den Bestimmungen im Versorgungs-reformgesetz 1998. Damit erbringen die Beamten für dieHaushaltsjahre 2012 und 2013 einen Sparbeitrag vonetwa 76 Millionen Euro.Die Erhöhung von insgesamt 5,7 Prozent der Bezügewird in drei Schritten umgesetzt. Im ersten Schritt erfolgtrückwirkend zum 1. März 2012 eine Anhebung um3,3 Prozent, zum 1. Januar 2013 eine weitere um1,2 Prozent und zum 1. August 2013 dann die finale um1,2 Prozent. Die Anwärterbezüge erhöhen sich zum1. März 2012 um 50 Euro, zum 1. August 2013 noch-mals, nämlich um 40 Euro.Angesichts der erfolgreichen Wachstums- und Konso-lidierungspolitik der Koalition ist die Übertragung derTarifverhandlungsergebnisse auf den Beamtenbereichmehr als gerechtfertigt. Mit ihrem Sparbeitrag für dieVersorgungsrücklage des Bundes tragen die Beamtenaußerdem zur Sicherung der Finanzierungsgrundlageder Beamtenversorgung bei. Es ist erfreulich, dass wirdieses Gesetzesvorhaben fraktionsübergreifend be-schließen können.Die mit dem Antrag der Fraktion Die Linke ange-strebte Änderung der Gesetzeslage zum Witwengeld imBeamtenrecht lehnen wir hingegen ab. Die Ehe ist– auch nach dem Grundgesetz – ein schützenswertesGut. Es ist legitim, ihrem Missbrauch zum finanziellenVorteil vorzubeugen. Dazu dient unter anderem die be-treffende Bestimmung des § 19 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 desBeamtenversorgungsgesetzes. Wenn eine Ehe nur ge-schlossen wird, um die Witwenrente des Partners zu si-chern, kann man gerechtfertigt von einer solchen Ver-sorgungsehe ausgehen. Mit Altersdiskriminierung hatdas nichts zu tun. Mit ihrem Antrag sprengt die Links-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Stefan Ruppert
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fraktion bei weitem den Rahmen, den das Alimentations-prinzip dem Gesetzgeber vorgibt.
Die zeit- und inhaltsgleiche Übernahme der Ergeb-nisse der Tarifverhandlungen für den öffentlichen Dienstbegrüßen wir ausdrücklich. Für die Linke ist das eineSelbstverständlichkeit, bei der Bundesregierung ist mansich da leider nie sicher.Offensichtlich will die Bundesregierung aber ein De-saster wie beim Weihnachtsgeld vermeiden. Der massiveDruck aus Gewerkschaften und Opposition war zu starkund der Vertrauensverlust unter den Beamtinnen undBeamten kaum wiedergutzumachen. Die andauerndeVerärgerung in der Beamtenschaft wegen der beamten-rechtlichen Regelungen bei der Bundeswehrreform, denZuständen bei der Bundespolizei und infolge der allge-meinen Arbeitsverdichtung in den Bundesbehörden er-laubt keine weiteren Konfliktpunkte.Inzwischen ist auch das Defizit an hochqualifiziertenArbeitskräften in der Bundesverwaltung unübersehbar.Etwaige Besoldungskürzungen würden bei der Fach-kräftegewinnung kontraproduktiv wirken. Auch dasBundesverfassungsgerichtsurteil zur angemessenen Ali-mentierung – W-Besoldung – dürfte die Bundesregie-rung zur zeit- und inhaltsgleichen Übernahme bewogenhaben.Allerdings ist die Fortführung der Verminderung derErhöhung der Bezüge um 0,2 Prozentpunkte für die Ver-sorgungsrücklage, bei der in den letzten Jahren einge-tretenen Verminderung des Besoldungs- und Versor-gungsniveaus, so nicht mehr gerechtfertigt. DasBundesbesoldungsgesetz erlaubte eine Verminderungder Kürzungen auch unter 0,2 Prozent im Falle geringerAnpassungen. Der DGB fordert deshalb eine Aussetzungder Kürzung für die beiden Erhöhungsschritte zum 1. Ja-nuar 2013 und 1. August 2013. Dem können wir uns nur an-schließen.Nun zu unserem Antrag zur Abschaffung der gesetzli-chen Vermutung der Versorgungsehe. Wie Sie wissen, istnach aktueller Rechtslage das Witwengeld für die Fälleausgeschlossen, in denen die Ehe erst nach dem Eintrittder Beamtin oder des Beamten in den Ruhestand ge-schlossen worden ist und/oder die Regelaltersgrenze be-reits erreicht war. Das führt zur Situation, dass eine Ehe-schließung am Tag vor der der Pensionierung bzw. derRegelaltersgrenze dazu führt, dass Witwen oder Witweralle Versorgungsrechte genießen können. Wird die Eheallerdings einen Tag später geschlossen, sind Versor-gungsansprüche paradoxerweise hinfällig.Diese Regelung beruht auf einem Gesellschaftsmo-dell, in dem Ehescheidungen und Zweit- oder Drittehendie Ausnahme waren und die Lebenserwartungen deut-lich geringer ausfielen. Die Verhältnisse haben sich ra-sant verändert, und es ist keine Ausnahme, dass soge-nannte Spätehen auch 20 Jahre und länger Bestandhaben. Was früher absolut selten war, wird immer häufi-ger Realität.Neben der Verkennung gesellschaftlicher Realitätenwürde eine Aufrechterhaltung der gesetzlichen Vermu-tung der Versorgungsehe bei Eheschließung und einge-tragener Lebenspartnerschaft mit Beamtinnen und Be-amten nach dem Eintritt in den Ruhestand auch demAltersdiskriminierungsverbot im Europarecht und letzt-lich auch dem allgemeinen Diskriminierungsverbot desGrundgesetzes widersprechen.Dass CDU/CSU unserem Antrag im Innenausschussnicht zustimmen konnte, ist Ihrem konservativen Bildvon Familie und Ehe geschuldet. Das üblicherweise op-portunistische Abstimmverhalten der FDP verwundertmich ebenfalls nicht. Völlig unklar ist mir hingegen, wa-rum SPD und Grüne unseren Antrag abgelehnt haben.Ich sehe keine Hinderungsgründe, die Regelung für Hin-terbliebene in diesem Punkt anzupassen. Weder wird diefinanzielle Belastung immens steigen, noch ergeben sichrechtssystematische Probleme. Sie würden aber eine Ge-rechtigkeitslücke schließen. Stimmen Sie deshalb unse-rem Antrag im Plenum zu!
Die unter dem Strich diesmal doch deutlich ausfallen-den Anhebungen der Dienst- und Versorgungsbezüge imBund begrüßen wir. Wir stehen zu der auch in § 14BBesG einfachgesetzlich festgeschriebenen regelmäßigenAnpassung. Dort heißt es – daran soll hier gleich ein-gangs erinnert werden –:Die Besoldung wird entsprechend der Entwicklungder allgemeinen wirtschaftlichen und finanziellenVerhältnisse und unter Berücksichtigung der mitden Dienstaufgaben verbundenen Verantwortungdurch Gesetz regelmäßig angepasst.Die Amtsangemessenheit begrenzt den Gesetzgeberzwar bei der Festsetzung der Erhöhung, er hat aber ei-nen weiten Gestaltungsspielraum. Die Eckdaten vonHaushaltslage einerseits und allgemeiner Gesamtent-wicklung bei Löhnen und Gehältern andererseits waren– trotz der andauernden, höchst angespannten Lage auf-grund der europäischen Finanzkrise mit ungewissemAusgang – dazu angetan, eine auch im Vergleich zu ver-gleichsweise mäßigen Abschlüssen der Vorjahre deut-lichere Runde der Übertragung der Ergebnisse der öf-fentlichen Tarifrunde auch für die Beamten, Richter undSoldaten im Bund abzuschließen. Das liegt auch daran,dass der Bund über eine im europäischen Vergleich nachdiversen Maßnahmen der vergangenen Jahre ver-gleichsweise moderate Gesamtzahl von Beamten ver-fügt, die zudem bei einer im Vergleich längeren Gesamt-arbeitszeit eine weiter wachsende Anzahl von Aufgabenzu erledigen hat.An dieser Stelle sollte erinnert werden, das das soge-nannte Alimentationsprinzip für die Berufsbeamtenseine Absicherung in Art. 33 Abs. 5 des Grundgesetzesfindet. Die besondere Funktion der Beamten in ihrer aufdas Gemeinwohl verpflichteten Aufgabenerfüllung, dieBezogenheit der Versorgungsansprüche auf ein lebens-langes „commitment“ und die zahlreichen mit der Be-Zu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Konstantin von Notz
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amtenstellung einhergehenden Verpflichtungen prägenund tragen diese Sonderstellung.Mit den regelmäßigen Anpassungen an die Ergeb-nisse der Aushandlungen des öffentlichen Dienstes wirdein weiteres Auseinanderfallen der Bezüge der heute oft-mals in einem Büro zusammenarbeitenden Beamten undöffentlichen Angestellten vermieden.Insoweit geht es mitnichten um dumpfe Tarifrituale;denn die öffentlich-rechtlichen Geldleistungen machenwie in der Privatwirtschaft auch einen zentralen Be-standteil der Freiheiten der Berufsbeamten aus, unddiese sind unter anderem ebenso betroffen von Schwan-kungen wie etwa den Kaufkrafteinbußen aufgrundschleichender Inflation.Keinesfalls aber kann eine noch so üppige Anhebungder Dienst- und Versorgungsbezüge eine Politik für dieZukunftsfähigkeit des öffentlichen Dienstes auch im Be-reich der Beamtenschaft ersetzen. Unsere Vorstellungenvon staatlicher Steuerung beispielsweise in den Berei-chen von Umwelt und Energie sind ohne eine leistungs-fähige öffentliche Verwaltung nicht zu haben. Neben derFinanzierbarkeit bürgernaher Dienstleistungen und demDamoklesschwert der herannahenden Pensionierungs-welle – vor allem auf Landesebene – für die Aufgabener-füllung geht es hier vor allem darum, den öffentlichenDienst als attraktives Tätigkeitsfeld zu erhalten.Die entsprechenden Stichworte wie der demogra-fische Wandel, aber auch die sich unter anderem auf-grund veränderter Einstellungen der Beschäftigten ver-ändernde Konkurrenzlage mit der Privatwirtschaftverlangen hier kontinuierliche Nachsteuerung. Einekonsequente Modernisierung umfasst Fragen der weite-ren organisationellen Effektivierung, bei der beispiels-weise das Laufbahnrecht, aber auch perspektivisch dergenaue Umfang des Berufsbeamtentums selbst kritischüberprüft werden sollten. Begriffe wie Attraktivität desBerufsbildes und Fachkräftemangel sind bei der Bun-desregierung erfreulicherweise angekommen, nur sinddie Ansätze, hier mit anderen Methoden als monetärenAnreizen zu Werke zu gehen, noch zu zaghaft. Es wird zuevaluieren sein, welchen Mehrwert zum Beispiel dasFachkräftegewinnungsgesetz gebracht hat. Auch Fami-lienfreundlichkeit, Gesundheits- und Arbeitszeitma-nagement, Fortbildungsperspektiven – all dies sind aus-baufähige Bereiche.Wir Grüne setzen auf einen starken öffentlichenDienst. Die Beamtenschaft mit ihrer besonderen gesetz-lichen Bindung und Verantwortung hat darin ihren fes-ten Platz. In einem dynamischen Ganzen kommen auchauf die Beamten im Bund weitere Veränderungen zu. Diehervorgehobene Rolle der Beamtenschaft bei der Ge-währleistung eines freiheitlichen, dem Gemeinwohl ver-pflichteten und vor allem zukunftsfähigen Gemeinwe-sens verdient besondere Wertschätzung.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/10145, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf den Drucksachen 17/9875 und 17/10058 anzuneh-
men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf zu-
stimmen wollen, um ihr Handzeichen. – Wer stimmt da-
gegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist
damit in zweiter Beratung einstimmig angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die zu-
stimmen wollen, sich zu erheben. – Wer stimmt dage-
gen? – Wer enthält sich? – Der Gesetzentwurf ist ein-
stimmig angenommen.
Tagesordnungspunkt 20 b. Der Innenausschuss emp-
fiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksache
17/10144, den Antrag der Fraktion Die Linke auf Druck-
sache 17/7027 abzulehnen. Wer stimmt für diese Be-
schlussempfehlung? – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-
hält sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 21 auf:
Zweite und dritte Beratung des von der Bundesre-
gierung eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes
– Drucksache 17/7746 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Innenaus-
schusses
– Drucksache 17/10158 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Helmut Brandt
Gabriele Fograscher
Manuel Höferlin
Frank Tempel
Wolfgang Wieland
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die Re-
den zu Protokoll genommen.
Angesichts einer sich stetig wandelnden Informa-tionsgesellschaft und angesichts zunehmend grenzüber-schreitender Bezüge bei der Datenübermittlung hat dasMeldewesen stetig an Bedeutung gewonnen. Vor diesemHintergrund ist die mit dem vorliegenden Gesetzentwurfangestrebte Vereinheitlichung der unterschiedlichenlandesrechtlichen Vorschriften sowie die Einführungbundesweit gültiger technischer Standards dringend ge-boten. Wir wollen eine moderne Verwaltung. Wir wollenE-Government. Deshalb sind unterschiedliche landes-rechtliche Vorschriften und unterschiedliche technischeStandards in der Verwaltung nicht mehr zeitgemäß.Dieser Aufwand lohnt sich. Denn das Meldewesen istgleichsam das „informationelle Rückgrat“ der Verwal-tung, der Bürgerinnen und Bürger, aber auch der Wirt-schaft. In mehr als 5 200 Melderegistern werden die Da-ten von rund 82 Millionen Bürgerinnen und Bürgernvorgehalten, Daten, die die Behörden benötigen, zumBeispiel für die Berechnung der Rente oder des Eltern-geldes. Das Melderegister ist zwar in erster Linie ein be-hördeninternes Register, das sowohl dem innerdienstli-
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22465
Helmut Brandt
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chen Gebrauch der Meldebehörden dienen als auch dasInformationsinteresse anderer Behörden befriedigensoll. Es hat aber auch den Zweck, dem Informationsbe-dürfnis des privaten Bereichs, insbesondere der Wirt-schaft, Rechnung zu tragen. Umso wichtiger ist es, dassder vorliegende Gesetzentwurf neben diesem Informa-tionsinteresse auch dem Schutz des Einzelnen vor einemMissbrauch seiner Daten Rechnung trägt, indem er dasRecht des Einzelnen auf informationelle Selbstbestim-mung bei der Melderegisterauskunft stärkt.Zukünftig kann jeder Bürger mittels der Onlineaus-weisfunktion des neuen Personalausweises, der Identifi-zierungsfunktion von De-Mail oder qualifizierter elek-tronischer Signatur auf elektronischem Wege Folgendesvornehmen oder beantragen: Anmeldung, Selbstaus-kunft, Meldebestätigung und Meldeauskunft.Im Sinne des Rechts auf informationelle Selbstbestim-mung kommt dabei der Selbstauskunft gemäß §§ 10 ff.des Gesetzentwurfs eine besondere Bedeutung zu. Da-nach hat jede Person das Recht, zu erfahren, welche Da-ten der Behörde über sie vorliegen, woher die Datenstammen und wer die Daten erhalten hat. Eine wesentli-che Erleichterung stellt hier die Möglichkeit eines Da-tenabrufs im elektronischen Verfahren dar.Leitlinie des vorliegenden Gesetzentwurfs ist nebendem Datenschutzgesetz auch eine Entscheidung desBundesverwaltungsgerichts vom 21. Juni 2006. Danachdarf die Meldebehörde eine einfache Melderegisteraus-kunft nicht erteilen, wenn diese erkennbar für Zweckeder Direktwerbung begehrt wird und der Betroffene ei-ner Weitergabe seiner Daten für solche Zwecke zuvorausdrücklich widersprochen hat.Im Zuge des parlamentarischen Verfahrens haben wirdeshalb den Schutz des Einzelnen vor einem Missbrauchseiner Daten zu Werbezwecken dahingehend gestärkt,dass künftig der Abruf melderechtlicher Daten für Zwe-cke der Werbung und des Adresshandels gemäß § 44Abs. 4 des Gesetzentwurfs nur erfolgen darf, wenn derZweck im Zuge der Anfrage angegeben wurde und wennder Betroffene nicht zuvor widersprochen hat. Auf dasRecht des Widerspruchs muss der Betroffene bei der An-meldung sowie einmal jährlich durch ortsübliche Be-kanntmachung hingewiesen werden.Eine weitere Änderung gegenüber unserem erstenEntwurf, die sich im Laufe der parlamentarischen Bera-tungen ergeben hat, betrifft die Anmeldepflicht von Bun-deswehrsoldaten. Der erste Entwurf sah vor, nebenWehrpflichtigen künftig auch Zeit- und Berufssoldatenvon der Meldepflicht zu befreien. Der Bundesrat hatdiese Neuregelung kritisiert. Er befürchtet, dass dieseAusnahme für die Bundeswehrstandortkommunen nichtunerhebliche finanzielle Einbußen zur Folge hätte. Wirhaben diese Sorge ernst genommen. Entgegen demersten Entwurf besteht gemäß § 27 Abs. 1 Ziff. 5 eineAusnahme für Berufs- und Zeitsoldaten von der Melde-pflicht künftig nur noch dann, wenn sie ihre Gemein-schaftsunterkunft oder eine andere dienstlich bereitge-stellte Unterkunft für nicht länger als sechs Monatebeziehen.Ich will an dieser Stelle noch einmal betonen, dasswir gerade durch die von den Koalitionsfraktionen ein-gebrachten Änderungen im neuen Meldegesetz exakt diebisherige Rechtslage abbilden, die durch die verwal-tungsgerichtliche Rechtsprechung in der Vergangenheitimmer wieder bestätigt worden ist. Um es klar zu sagen:Für die Soldaten ändert sich gar nichts. Dennoch stößtdiese Regelung beim Bundeswehrverband auf heftigeKritik. Ich kann diese Kritik nicht so recht nachvollzie-hen. Da ein Soldat die Infrastruktur der Garnisonsstadtin gleicher Weise in Anspruch nimmt wie ein Soldat, derin einer privaten Wohnung lebt, ist die jetzt vorgeseheneRegelung auch aus Gründen der angemessenen Behand-lung der betroffenen Kommunen gerechtfertigt. Es giltauch im Sinne der Gleichbehandlung: Vor und hinterder Kasernenmauer gilt das gleiche Recht. Wir verken-nen nicht, dass der Soldatenberuf insofern mit bürokra-tischen Lasten verbunden ist. Das ist dem Soldatenberufaber seit Jahrzehnten immanent und wird nicht erstdurch das neue Melderecht herbeigeführt. Dennoch be-steht seitens der CDU/CSU-Bundestagsfraktion die Be-reitschaft, die jetzt geltende Rechtslage bis zum In-kraftreten des Gesetzentwurfes Ende 2014 noch einmalzu überprüfen.Im parlamentarischen Verfahren sind wir auch denSuchdiensten entgegengekommen und haben diesen ei-nen erweiterten Zugang auf die in den Melderegisterngespeicherten Daten geschaffen. Die Suchdienste neh-men wichtige humanitäre Aufgaben wahr, für deren Er-füllung sie zwingend auf die Übermittlung von Datenaus den Melderegistern angewiesen sind. Typischer-weise verfügen sie aber nur über lückenhafte oder zwei-felhafte Angaben zu der gesuchten Person. Es bedurftedaher besonderer Regelungen und eines erweitertenAuskunftsrechts bei Anfragen im automatisierten Ver-fahren, damit eine gesuchte Person sicher identifiziertwerden kann.Der vorliegende Entwurf, der unter Einbeziehung derLänder zustande gekommen ist, ist fachlich und politischzu begrüßen. Ich bin überzeugt, dass er den technischenHerausforderungen und fachlichen Anforderungen un-serer Zeit genügt und bitte Sie um Ihre Zustimmung.
Heute verabschieden wir in 2. und 3. Lesung das Ge-setz zur Fortentwicklung des Meldewesens, das soge-nannte Meldegesetz. Sicherlich wird es den ein oder an-deren wundern, dass ich mich an dieser Stelle zu Wortmelde, denn sonst beschäftige ich mich mit Themen derGesundheits- und der Haushaltspolitik.Im Rahmen der Debatte über das Melderecht möchteich mich auch nur auf einen einzigen konkreten Punktkonzentrieren. Und das sind die vorgeschriebenen Un-terlagen zur Um- und Anmeldung bei einem Wohnungs-wechsel.Seit der Reform des Melderechtsrahmengesetzes ausdem Jahre 2002, mit dem der damalige Bundestag dieerforderlichen Rahmenbedingungen für die Nutzungmoderner Informations- und Kommunikationstechnolo-gien im Meldewesen geregelt hat, sind unter der Über-Zu Protokoll gegebene Reden
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22466 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Stefanie Vogelsang
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schrift „Bürokratieabbau“ einige Vorlagepflichten beider An- und Ummeldung entfallen. So musste in den letz-ten zehn Jahren ein Bürger bei der An- und Ummeldungkeine Bestätigung des Wohnungsgebers über seinen tat-sächlichen Einzug beim zuständigen Meldeamt vorle-gen.Dies hat vor allem in großen Städten wie Berlin oderHamburg dazu geführt, das sich für Kriminelle erschre-ckende Möglichkeiten aufgetan haben. Niemand konntemehr sicher sein, dass in seiner Wohnung, in der er lebt,nicht noch diverse andere Personen mit natürlich nichtpositiven Absichten gemeldet waren. So ist es diverseMale vorgekommen, dass Polizeieinsatzkräfte an derWohnungstür von völlig unbescholtenen Bürgern Ein-lass begehrten, um Personen habhaft zu werden, die inkriminelle Machenschaften verstrickt waren.In der Zeit von 2001 bis 2006 war ich die für dasMeldewesen im Berliner Bezirk Neukölln zuständigeDezernentin. Aus der Praxis heraus war mir klar, dasswir diese gutgemeinte Entschlackung von bürokrati-schen Pflichten so schnell wie möglich rückgängig ma-chen müssen. Nach vielen Versuchen über Bundesrats-initiativen und Ähnliches gelang es dann, 2009 dieÄnderung des Melderechts und die Vorlagepflicht derEigentümerbestätigung in die Koalitionsvereinbarungzur Bildung dieser Regierung hineinzuverhandeln. Inden letzten anderthalb Jahren haben sich Bund und Län-der und der hier im Bundestag zuständige Innenaus-schuss intensiv mit der Reform des Melderechts beschäf-tigt und so nun auch die Eigentümerbestätigung wiederin den Pflichtkanon des Meldegesetzes genommen.Dies ist ein guter Tag für Deutschland, für die Sicher-heit der Bürger, für den Schutz der eigenen Wohnungund für ein zukünftig korrektes Melderegister. Zuneh-mend hatten Bürgerinnen und Bürger ein unwohlesGefühl, waren Polizisten in ihrer Dienstausübung behin-dert. Das haben wir nun beseitigt, darüber freue ichmich.
Es ist gut und richtig, dass durch die Fortentwicklungdes Meldewesens Rechtseinheit in diesem Bereich durchbundesweit einheitliche Vorschriften und Standards ge-schaffen werden soll. Wir begrüßen es ausdrücklich,dass keine neue Bundesdatei errichtet wird.Am 26. April 2012 haben wir im Plenum in erster Le-sung den Gesetzentwurf zur Fortentwicklung des Melde-wesens diskutiert. In der damaligen Debatte hatte ichgesagt, dass der Entwurf eine gute Beratungsgrundlagesei. Ich hatte auch einige Punkte angesprochen, über dieman beraten müsse. Dazu gehörten die Ausnahmen vonder Meldepflicht für Bundeswehrangehörige, die Ver-mieterbescheinigung, die Melderegisterauskünfte unddie Weitergabe der Meldedaten an Dritte.Zu einer modernen Verwaltung gehört auch ein mo-dernes Melderecht, es ist wichtig für das Funktionierendes öffentlichen Bereiches und die Erledigung öffentli-cher Aufgaben.Beratungsbedarf gab es scheinbar innerhalb derKoalitionsfraktionen, aber nicht mit den Berichterstat-tern der Opposition. Ich hätte es begrüßt, wenn es zudiesem Gesetzentwurf einmal ein Berichterstatterge-spräch gegeben hätte. Offensichtlich hatten die Koali-tionsfraktionen kein Interesse, über das Melderecht zureden.In letzter Minute haben Sie im Ausschuss einen Ände-rungsantrag vorgelegt, der die positiven Ansätze des ur-sprünglichen Gesetzentwurfes ins Gegenteil verkehrt.Sie ändern durchaus wesentliche Punkte des Gesetzent-wurfs. In dem ursprünglichen Entwurf wurden Zeit- undBerufssoldaten von der Meldepflicht ausgenommen,wenn sie in einer dienstlich bereitgestellten Gemein-schaftsunterkunft am Standort wohnen und eine Woh-nung im Inland haben, in der sie gemeldet sind. Nunwollen Sie diese Neuregelung doch nicht mehr. Mit demÄnderungsantrag wollen Sie die Rechtslage, die in den16 derzeit gültigen Landesmeldegesetzen besteht, dochbeibehalten. Einzig Kommunen mit großen Standortenwerden die Beibehaltung der Regelung begrüßen. Aberandere Stimmen kommen vom Wehrbeauftragten desDeutschen Bundestages, Hellmut Königshaus, FDP, derdie im Änderungsantrag vorgesehene Regelung für ver-fassungsrechtlich bedenklich hält, und vom Reservisten-verband, der in einer Pressemitteilung diese angestrebteRegelung als melderechtlichen Unsinn bezeichnet. Inder Pressemitteilung schreibt der Präsident des Reser-vistenverbandes, Roderich Kiesewetter, CDU-MdB:„Die neue Bundeswehr will modern und familienfreund-lich sein. Dem widerspricht der jetzt vorliegende Ände-rungsentwurf. … Hier verbaut man sich eine wichtigeChance, die Attraktivität des Soldatenberufes zu stei-gern.“ Mit dem neuen Entwurf dränge man die betroffe-nen Soldaten dazu, ihren Lebensmittelpunkt immer wie-der zu verlegen – ohne Rücksicht auf berufstätigeFrauen und schulpflichtige Kinder, die auf ein stabilesWohnumfeld angewiesen sind.Die Mitwirkung des Wohnungsgebers in § 19 wollenSie, wie im Entwurf vorgesehen, wieder einführen. DieseRegelung galt bis 2002. Begründet wurde die Abschaf-fung damit, dass die Vermietermeldepflicht von den Bür-gerinnen und Bürgern als lästig empfunden wurde, zuVerzögerungen im Meldeprozess geführt habe und nichtgeeignet sei, Scheinanmeldungen zu verhindern. Nunführen Sie diese Vermieterbescheinigung wieder ein. Obdieses Mittel tauglich ist, um Scheinanmeldungen zuverhindern, wie Sie behaupten, wird nicht nur von uns,sondern auch vom Datenschutzbeauftragten und Prakti-kern in den Meldebehörden kritisch gesehen.Das Melderecht verpflichtet jeden Bürger und jedeBürgerin, bestimmte Daten an die Meldebehörden zu ge-ben. Dazu gehören der Familienname, frühere Namen,Vornamen, Geburtsdatum und Geburtsort, Staatsange-hörigkeit, Adresse und andere Daten. Die Bürgerinnenund Bürger müssen sicher sein, dass ihre Daten bei denMeldebehörden gut und sicher aufgehoben sind undnicht unbegründet an Dritte weitergegeben, dort gespei-chert und gegebenenfalls weiterverwendet werden. Des-halb sollte es der Regelfall sein, dass es für die Weiter-gabe von Daten der Einwilligung des BetroffenenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22467
Gabriele Fograscher
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bedarf. Die Nichtweitergabe der Daten sollte der Regel-fall sein und nicht die Ausnahme. Eine solche Einwilli-gungslösung war im ursprünglichen Entwurf vorgese-hen. Doch mit Ihrem Änderungsantrag schaffen Sie dieEinwilligungslösung ab und sehen jetzt lediglich eineunzureichende Widerspruchslösung vor. Damit wird derRegelfall zur Ausnahme und die Ausnahme zur Regel.Das ist eine deutliche Verschlechterung des Daten-schutzniveaus im Vergleich zum Ausgangsentwurf.Mit dem vorliegenden Änderungsantrag werden hin-sichtlich der Verwendung von Daten aus Melderegister-auskünften die bisher geplanten Regelungen zur Zweck-bindung sowie zum Widerspruch gegen die Verwendungfür Werbung und Adresshandel völlig ausgehebelt. Siewollen, dass der Widerspruch gegen die Verwendung fürWerbung und Adresshandel nicht gelten soll, wenn „dieDaten ausschließlich zur Bestätigung oder Berichtigungbereits vorhandener Daten verwendet werden“. Dasmacht die Regelung wirkungslos. Da man für die Melde-registerauskunft immer bereits vorhandene Daten benö-tigt, wird es sich stets um eine Bestätigung oder Berich-tigung vorhandener Daten handeln. Das ist eine massiveSchwächung des Datenschutzes. Diese Änderung bedeu-tet daher einen deutlichen Rückfall hinter die Regelun-gen der bisherigen Gesetzeslage.Jede Bürgerin und jeder Bürger muss mindestens ein-mal in seinem Leben seine Daten den Meldebehördengeben. Viele Bürgerinnen und Bürger machen das mehr-fach in ihrem Leben. Deshalb sollten wir als Gesetzge-ber und als Staat besonders sensibel mit diesen Datenumgehen. Wir sollten sie besonders sicher verwenden.Wir sollten sorgsam mit ihnen umgehen. Wir dürfen eineWeitergabe nur dann zulassen, wenn sie notwendig undausreichend begründet ist. Die Bürgerinnen und Bürgervertrauen auf einen sensiblen Umgang mit ihren Datenund können das auch vom Staat erwarten.Deshalb haben wir den Änderungsantrag der Koali-tionsfraktionen im Innenausschuss abgelehnt; denn füruns als Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten isteine Aufweichung des Datenschutzes und eine Umkehrvon Regel und Ausnahme nicht hinnehmbar. Da Siediese Änderungen aber unbedingt vornehmen wollen,lehnen wir auch den veränderten Gesetzentwurf ab. EinRückschritt in Sachen Datenschutz ist mit uns nichtmachbar.Dem im Ausschuss gestellten Änderungsantrag vonBündnis 90/Die Grünen, nach dem auf die Speicherungdes Doktortitels im Melderegister verzichtet wird, stim-men wir zu. Wir halten dieses Vorhaben für richtig; dennnach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unddes Bundesverwaltungsgerichts ist der Doktortitel einakademischer Grad und kein Namenszusatz oder Na-mensbestandteil. Er ist auch der einzige akademischeTitel, der in den Personalausweis oder Reisepass einge-tragen werden kann. Diese Regelung gibt es sonst nur inÖsterreich und Tschechien. In allen anderen Ländernder Welt ist diese Regelung unüblich. Der Verzicht aufdie Angabe des Doktortitels in Melderegistern führt zueiner Entlastung der Meldebehörden und somit zum Bü-rokratieabbau.Mit dem Änderungsantrag haben Sie von den Regie-rungsfraktionen aus einem guten Gesetzentwurf einschlechtes Gesetz zur Fortentwicklung des Meldewesensgemacht. Deshalb werden wir das Gesetz in der jetzigenFassung ablehnen.
Heute geht es um die zweite und dritte Lesung desGesetzentwurfs zur Fortentwicklung des Meldewesens.In der ersten Lesung habe ich von der grundsätzlichenNotwendigkeit der Reform gesprochen. In diesem Punktsind wir uns wohl alle einig: Es musste etwas getan wer-den im Nachgang zur Föderalismusreform. Und das istuns auch gelungen. Wir haben uns stark dafür einge-setzt, dass ein einheitliches, praktikables Regelwerk ent-steht, das auch den Möglichkeiten der Technik keineHürden bereitet, ohne die verschiedenen kommunalenStrukturen mit den Neuerungen zu überfordern.Nun haben wir im Gesetzentwurf viele gute Regelun-gen gefunden und mit den Änderungsanträgen der Ko-alition dem Gesetzentwurf den letzten Schliff gegeben.Neben dem großen Ziel bundesweiter meldegesetzlicherRegelungen möchte ich besonders auf drei Punkte hin-weisen, die mir besonders wichtig sind:Zunächst wird die Bestätigung des Mietverhältnissesdurch den Vermieter als Voraussetzung für Anmeldun-gen wieder eingeführt. Das hat auch seinen gutenGrund: Vermieter sollen nicht im Dunkeln tappen müs-sen, welche und wie viele Personen gerade die vermie-tete Wohnung vermeintlich bewohnen. Zustände, in de-nen über 20 Personen in einer kleinen Wohnunggemeldet sind, sind untragbar. Dass man damit dieseFälle nicht ausschließen kann, ist mir auch bewusst.Man kann aber die Hürde etwas höher hängen.Zweitens ist der Datenschutz auch im Meldegesetz einelementares Thema. Uns ist es wichtig, dass das Daten-schutzniveau auf der Höhe des Bundesdatenschutzgeset-zes ist. Das Meldegesetz steht damit in Einklang mit demBundesdatenschutzgesetz. Ich möchte auch hier dieVorwürfe der Opposition zurückweisen, wir hätten diemelderechtliche Lage der Bürgerinnen und Bürger ver-schlechtert.Durch die jährliche ortsübliche Bekanntmachung derWiderspruchsmöglichkeit kann der Betroffene auch rea-listischer Weise von diesem recht speziellen GebietKenntnis erlangen und wird nicht dauernd mit lästigenEinwilligungsanfragen behelligt. Anstatt mit unbe-stimmten Rechtsbegriffen den Groll der Bürger und dieVerunsicherung der Wirtschaft hervorzurufen, haben wirklare Tatbestände formuliert und bei Verstoß empfindli-che Bußgelder vorgesehen.Ausnahmen vom Verbot der Verwendung zu Werbe-und Adresshandelszwecken gelten – unter den bisheri-gen Voraussetzungen des Bundesdatenschutzgesetzes –nur, wenn bei der Weitergabe der Adressen der Zweckangegeben wurde. Damit wird sichergestellt, dass nichtunter einem Vorwand Adressen aus Melderegistern er-worben werden, um dann zu Werbezwecken oder zumZwecke des Adresshandels weitergenutzt zu werden. DerZu Protokoll gegebene Reden
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22468 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Manuel Höferlin
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Weitergabe von Adressdaten zum Zwecke der Werbungund des Adresshandels kann jederzeit widersprochenwerden. Die einfache Melderegisterauskunft erfolgtdann nicht. Damit hat der Bürger selbst das Heft desHandelns in der Hand. Er kann entscheiden und seinRecht auf informationelle Selbstbestimmung ausüben.Dem Vorwurf der Sozialdemokraten, den Datenschutznicht hinreichend berücksichtigt zu haben, begegne ichmit der Frage, warum die SPD bisher in den Ländernnicht selbst tätig geworden ist. Wer hätte in Ländern mitsozialdemokratischer Regierungsbeteiligung sie gehin-dert, hier auf Landesebene vorzugehen? Sie haben eswohl aus gutem Grund nicht gemacht.Drittens komme ich nun zu der Frage nach der Mel-depflicht von Soldaten. Bisher war es so geregelt, dassBerufs- und Zeitsoldaten sowie Beamte der Bundespoli-zei von der Meldepflicht ausgenommen sind, wenn sieaus dienstlichen Gründen für eine Dauer von bis zusechs Monaten eine Gemeinschaftsunterkunft oder eineandere dienstlich bereitgestellte Unterkunft beziehenund sie für eine Wohnung im Inland gemeldet sind. DieLandesmeldegesetze sehen überwiegend vor, dass Be-amte der Landespolizei von der Meldepflicht ausgenom-men sind, unabhängig von der Dauer des Bezugs einerGemeinschaftsunterkunft oder einer anderen dienstlichbereitgestellten Unterkunft, wenn sie im Inland für eineWohnung gemeldet sind.Der Kabinettsentwurf sieht eine Regelung vor, wie siein den weitaus meisten Ländern für Vollzugsbeamte derLandespolizei gilt. In der Koalition haben wir uns da-rauf verständigt, eine einheitliche Regelung für Berufs-soldaten, Soldaten auf Zeit und Bundes- und Landes-polizeibeamte im Vollzugsdienst zu finden. Wir habenuns entschlossen, die bisherige Regelung beizubehalten,wonach eine Befreiung von der Meldepflicht nur gilt,wenn die Unterkunft für nicht länger als sechs Monatebezogen wird. Kommunen mit Gemeinschaftsunterkünf-ten der Bundeswehr oder der Polizei hätten durch einezeitlich unbegrenzte Regelung erhebliche finanzielleEinbußen beim kommunalen Finanzausgleich zu be-fürchten. Zugleich nehmen die stationierten Soldatenkommunale Infrastruktur wie öffentlichen Nahverkehr– um nur ein Beispiel zu nennen – für sich in Anspruch,ohne dass sie in der Kommune gemeldet wären. Deshalbist es gerechtfertigt, die Freiheit von der Meldepflichtzeitlich zu verkürzen.Und bevor jetzt wieder die Unkenrufe kommen: EineBenachteiligung zur bestehenden Rechtslage ergibt sichaus der Änderung nicht, da in fast allen derzeit gültigenLandesmeldegesetzen eine solche Reglung enthalten ist.Mit der Pflicht zur Meldung wird nicht auch gleichzeitigder Lebensmittelpunkt bestimmt. Außerdem gibt es nochdie Möglichkeit der Meldung eines Zweitwohnsitzes. Ichvertraue darauf, dass die Soldaten sich wie bisher mitder Meldepflicht arrangieren können und dass die Kom-munen somit auch die Aufgaben der Selbstverwaltungbewältigen können.Abschließend möchte ich noch ein paar kleine, aberfeine Änderungen vorstellen.Zunächst einmal haben wir die Möglichkeiten vonSuchdiensten zum automatisierten Abruf von Meldeda-ten verbessert und erweitert. Somit kann den neuen He-rausforderungen bei globalen Suchen begegnet werden.Jede geglückte Vermittlung hilft den Menschen, über dietrennenden Katastrophen hinwegzukommen und wiederzueinanderzufinden. Suchdienste haben in Deutschlandeine lange Tradition und haben heute noch große Bedeu-tung.Wir haben das Recht der betroffenen Person, einerautomatisierten Melderegisterauskunft zu widerspre-chen, gestrichen. Bevor hier wieder das Geschrei ausder Opposition kommt: Die Entscheidung war richtig.Denn der einfachen Melderegisterauskunft kann – beiVorliegen der Voraussetzungen – außer in den vorhin ge-nannten Fällen nicht widersprochen werden. Nach demKabinettsentwurf sollte aber der elektronischen Formwidersprochen werden können. Diese rückwärtsge-wandte, rationalen Argumenten völlig verschlosseneHaltung sind wir entgegengetreten und behandeln nunanaloge und digitale Bearbeitung gleich. Dieses im Ge-setz verankerte Hindernis für die Digitalisierung derMelderegister haben wir beseitigt.Lassen Sie mich zum Schluss auf den Antrag der Grü-nen eingehen. Deren einzige Sorge beim Melderecht ist,das Merkmal „Doktorgrad“ zu streichen. Hier haben siewieder einen Spielplatz für ihre Personenstandsdebattegefunden. Das ist mal Oppositionsarbeit an den Inhal-ten. Und auch diesmal lehne ich diese gezwungeneScheindiskussion ab.
Seit der Föderalismusreform 2006 fällt das Meldewe-sen in die ausschließliche Gesetzgebung des Bundes.Das neue Gesetz führt das bisherige Melderechtsrah-mengesetz mit den Landesmeldegesetzen zusammen. Be-hauptet wird von der Bundesregierung, es diene derFortentwicklung des Meldewesens. Wesentliches Instru-ment ist der länderübergreifende Onlinezugriff der Be-hörden auf die Daten der Meldebestände. Die Sicher-heitsbehörden sollen ebenfalls länderübergreifend rundum die Uhr online auf die Meldedaten zugreifen können.Dazu sollen die Länder gegebenenfalls Abfrageportaleschaffen.Meldedaten waren und sind ein begehrtes Objekt, beiSicherheitsbehörden und Wirtschaft gleichermaßen.Frühere Überlegungen zielten auf ein zentrales Melde-register, am besten mit einer einheitlichen Identifika-tionsnummer für die Gemeldeten. Dazu wurde im letztenEntwurf unter Schäuble noch die Steuer-ID-Nummereingesetzt. Mühsam und in langen Auseinandersetzun-gen wurden diese Pläne zurückgestutzt.Ein zentrales Register ist im vorliegenden Gesetzent-wurf nicht mehr vorgesehen, wohl aber der automati-sierte Zugriff auf die 5 200 Melderegister. Angesichtsder technischen Entwicklung ist das fast so gut wie einZentralregister. Wollte man also das Meldewesen tat-sächlich im Sinne der Bürgerinnen und Bürger weiter-entwickeln, müsste gerade angesichts des rasanten Fort-schritts in der Datenverarbeitung und -nutzung und vorZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22469
Jan Korte
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allem der kommerziellen Nutzung umso schärfer auf Da-tensparsamkeit, Zweckbindung bei Abruf bzw. Weiter-gabe und Zugriffsberechtigungen geachtet werden. Daswäre eine Fortentwicklung des Meldewesens, die denNamen verdiente.Wird hier zu wenig reduziert, so wird andererseits beiden Auskunftsrechten über die Datenverwendung und beiden Einspruchsmöglichkeiten nicht in erforderlichemUmfang auf deren Erweiterung gesetzt. Nicht zu akzeptie-ren ist es, dass für öffentlich-rechtliche Religionsgemein-schaften die Meldebehörden als regelrechte Serviceein-richtungen fungieren sollen, die auch die Daten derAngehörigen, die nicht Mitglied der entsprechenden Re-ligionsgemeinschaft sind, übermitteln dürfen. Gruppen-auskünfte sollen erteilt werden können mit mehr als14 Grunddaten; das dabei zu berücksichtigende Interessewird bei Wissenschaft und Forschung sowie der Gesund-heitsvorsorge offensichtlich grundsätzlich vorausgesetzt.Angesichts der Kommerzialisierung auch des Wissen-schaftsbereichs ist das ein datenschutzrechtlicher Trep-penwitz.Schon die Erarbeitungs- und Beratungsphase des Ge-setzes stand unter permanentem Druck der datennutzen-den Lobbys. Das Gesetz hat versäumt, unüberschreit-bare Grenzen zu formulieren, sodass die Furcht nichtunbegründet ist, dass eine Ausweitung der Verwen-dungsmöglichkeiten der Daten die andere jagen wird.Schon jetzt wird zum Beispiel die automatisierte Boni-tätsprüfung bei Vertragsabschlüssen beim Abschlussvon DSL-Verträgen oder Ähnlichem gefordert.Den kritischen Anmerkungen des Bundesbeauftrag-ten für den Datenschutz und die Informationsfreiheitschließen wir uns an: Die Wiedereinführung der Mitwir-kungspflicht der Vermieter bei An- und Abmeldung istnicht begründet, das Festhalten an der Hotelmelde-pflicht genauso wenig, zumal es sich dabei vermutlichum Polizeirecht handelt. Die Melderegisterauskünfte inden §§ 44 und 45 sind ungenügend geregelt, und dasWiderspruchsrecht gegen Melderegisterauskünfte inbesonderen Fällen – Parteien, Alters- und andereJubiläen – sollte durch ein Einwilligungsrecht ersetztwerden . Für die Verwendung in Adress-büchern sollte ebenfalls eine Einwilligungslösung vor-geschrieben werden.Angesichts der Bedeutung der Meldedaten und der ra-santen technischen Entwicklungen sind die Schutz-instrumente in diesem Gesetz, sowohl was ihren kommer-ziellen Nutzen als auch den Zugriff staatlicher Behördenbetrifft, ungenügend ausgestaltet. Die absehbaren Ver-suche von Unternehmen, aber auch von Bundeswehr undReligionsgemeinschaften eine noch einfachere Melde-datennutzung zu erreichen bzw. Privilegierungen für dieeigene Klientel durchzusetzen, werden zunehmen.In ihrer Gegenäußerung zur Stellungnahme des Bun-desrates hat die Bundesregierung zugesagt, die finan-ziellen Auswirkungen auf die Länder und Kommunendarzustellen. Die Bundesregierung hat diese Zusagemeines Wissens nicht eingehalten. Der Bundesrat hatteseine Bitte detailliert begründet: Das Bundesmeldege-setz in der vorliegenden Fassung hat direkte und indi-rekte finanzielle Auswirkungen auf die öffentlichenHaushalte der Länder und der Kommunen. Der Umfangist nirgends hinreichend dargestellt.Auch aus diesem Grund lehnt meine Fraktion diesenGesetzentwurf ab.
Dieses Gesetz, hinter dessen klangvoll-bürokrati-schem Namen sich nichts anderes verbirgt als das Bun-desmeldegesetz, ist ein gutes Beispiel für das regie-rungsamtliche Stop-and-go mit mäßigem Blick für dasWesentliche, wie wir es hier seit Monaten bei allen The-men erleben: Entwurf, streiten und warten, Änderungdes Entwurfs, hektischer Abschluss in halbgarem Zu-stand.Seit der Föderalismusreform I, die nun auch schonein halbes Jahrzehnt zurückliegt, hat der Bund die Ge-setzgebungskompetenz für das Meldewesen. Es tat sichlange nichts, dann kam im Herbst 2007 ein Entwurf, derliegen blieb. Nun hat diese Koalition letzten Septembereinen Entwurf vorgelegt, der seinen gemessenen Gangdurch den Bundesrat nahm und den wir in erster Lesunghier Ende April behandelt haben.Alles so weit entspannt, aber seit dieser Wocheherrschte nun Hektik: Die Koalition legte kurzfristig ei-nen Änderungsantrag vor, hatte keine Zeit mehr, die Ge-danken der Datenschutzbeauftragten von Bund undLand Berlin zu prüfen und hat im Innenausschuss dannauch nicht mehr debattieren wollen. Die Eile war nunnicht so ganz geboten. Wer nachliest, stellt fest: Das Ge-setz soll zum 1. Januar 2014 in Kraft treten.Genug Zeit wäre also gewesen. Genug Zeit, um diepraktische Verbesserung des hochgeschätzten BerlinerDatenschutzbeauftragten Dix zu verwirklichen, bei derMeldung eine Kontaktperson für Notfälle angeben zukönnen. Genug Zeit, um die Vorschläge des nicht mindergeschätzten Bundesdatenschutzbeauftragten Schaar zuberücksichtigen. Er hatte angeregt, auf die Hotelmelde-pflicht zu verzichten, jene Vorratsdatenspeicherung, derauch die FDP freudig zustimmt, deren Wert für die Kri-minalitätsbekämpfung aber zweifelhaft, jedenfalls erklä-rungsbedürftig bleibt.Peter Schaar hatte aber vor allem auf einen der gro-ßen Schwachpunkte in diesem Entwurf hingewiesen,nämlich die Melderegisterauskunft. Als er sie kommen-tierte war die Regelung für Adresshandel und Werbe-zwecke noch vergleichsweise in Ordnung, denn da wares das Modell opt-in, sprich: Der Meldepflichtigemusste explizit zustimmen, dass seine Daten so verwen-det werden dürfen. Das wurde mit dem Änderungsantragnun ins glatte Gegenteil verkehrt. Nun soll man wider-sprechen müssen, also explizit seine Ablehnung erklä-ren, dass irgendjemand die eigene Adresse weitergibt.Da hilft es auch nichts, dass der Adresshändler bei derAbfrage sagen muss, was er vorhat; denn davon kriegeich als Meldepflichtiger ja gar nichts mit.Das ist für jeden, der sich neu meldet, ärgerlich, unddas wird in der Praxis eher zu mehr als zu weniger un-gewollter Post führen. Es bedeutet auch, dass bei denZu Protokoll gegebene Reden
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22470 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Wolfgang Wieland
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Altdaten, also den jetzt vorhandenen Meldedaten, keinWiderspruch vermerkt ist. Das ist wirklich ein Problem;denn das Melderegister dient ja vor allem amtlichen undhoheitlichen Zwecken und nicht als Arbeitserleichterungder Werbe- und Auskunfteibranche. Man hätte beim Mo-dell opt-in bleiben müssen und eher noch überlegen, obdie Hürden für die allgemeine Auskunft nicht hätten hö-her werden müssen. Auskunfteien und Inkassounterneh-men werden sich darüber freuen, auch der geänderte§ 47 kommt ihnen gut zupass; jedenfalls haben sie dieseÄnderungen im Vorfeld gefordert. Bei den Koalitions-parteien rannte man da wohl offene Türen ein, Fragendes Datenschutzes haben sich den kommerziellen Inte-ressen offenbar immer unterzuordnen.Zuletzt haben sich dann auch noch die kommunalenKämmerer gegen die Interessen der Bundeswehrsolda-ten durchgesetzt. Der Gesetzentwurf sah vor, dass Solda-ten und Polizisten in Gemeinschaftsunterkünften keinerMeldepflicht unterliegen, sie hätten in der Heimat ge-meldet bleiben können und dort dann auch keine Zweit-wohnungsteuer zahlen müssen. Nun unterliegen sie wie-der der alten schlechten Regel und Meldepflicht nachsechs Monaten. Die Einwände von Beauftragten habenes bei dieser Koalition wirklich schwer; das gilt nichtnur für den Datenschutzbeauftragten, sondern ebenauch für den Wehrbeauftragten, der – zu Recht – eineLösung zugunsten der Soldaten angemahnt hatte.Die Bundesregierung hat es also wieder einmal ge-schafft: Die Gelegenheit, die gröberen Mängel aus denexistierenden Meldegesetzen auszubügeln, hat sie ver-säumt, und ihren eigenen Entwurf hat sie so weit ver-schlechtert, dass dem Prinzip Datenschutz wieder dasPrinzip Datenschleuder vorgezogen wird. Schade drum.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Innenausschuss
empfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-
che 17/10158, den Gesetzentwurf der Bundesregierung
auf Drucksache 17/7746 in der Ausschussfassung anzu-
nehmen. Ich bitte diejenigen, die zustimmen wollen, um
das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Damit ist der Gesetzentwurf in zweiter Beratung
angenommen.
Dritte Beratung
und Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die dem
Gesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-
entwurf ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 24 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Dietmar
Nietan, Uta Zapf, Josip Juratovic, weiterer Abge-
ordneter und der Fraktion der SPD
Für eine ehrliche und faire europäische Per-
spektive der Staaten des westlichen Balkans
– Drucksache 17/9744 –
Überweisungsvorschlag:
Auswärtiger Ausschuss
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir auch
diese Reden zu Protokoll.
Stabilität und Sicherheit auf dem Balkan sind für dieBundesrepublik Deutschland von herausgehobenem In-teresse. Die Kriege der 1990er-Jahre haben uns gezeigt,dass wir zu aktivem Handeln in unserer europäischenNachbarschaft verpflichtet sind. Dass es uns damit ernstist, zeigt sich auch in der langjährigen Präsenz der Bun-deswehr in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo.Es ist auch in unserem mittelfristigen Interesse, denMenschen in den Staaten des westlichen Balkans einePerspektive in der Europäischen Union aufzuzeigen.Nur durch Integration und Kooperation lassen sich dieaus der Vergangenheit resultierenden Probleme über-winden, demokratische wie rechtsstaatliche Strukturenaufbauen und die wirtschaftliche Entwicklung fördern.Der Bundesregierung ist bewusst, dass die Menschenmit der Europäischen Union die Hoffnung verbinden,dass sich durch eine Mitgliedschaft ihr Leben spürbarverbessert. Trotz ihrer aktuellen Schwierigkeiten stehtdie Europäische Union für diese Menschen nach wie vorfür Freiheit, Stabilität, Demokratie, Rechtsstaatlichkeitund erfolgreiche wirtschaftliche Entwicklung. Diese po-sitive Grundhaltung gilt es zu nutzen. Das erfordert Sen-sibilität. Hoffnungen auf schnelle Ergebnisse und zügigeFortschritte führen nur zu Enttäuschung und Verärge-rung.Auch wenn wir vereinfachend vom „Balkan“ spre-chen, dürfen wir die Heterogenität dieser Region nichtignorieren. Die politischen und wirtschaftlichen Ent-wicklungsstadien sind ebenso unterschiedlich, wie diejeweiligen landestypischen Kulturen vielfältig sind.Alle der im Antrag der SPD genannten Staaten befin-den sich somit in sehr unterschiedlichen Entwicklungs-phasen. Daher müssen wir auch jeden Staat individuellbetrachten. Eine schnelle Aufnahme des gesamten west-lichen Balkans ist daher weder hilfreich noch zielfüh-rend noch praktikabel – sie ist auch sachlich nicht ge-rechtfertigt. Erkennbare Anstrengungen aktueller undpotenzieller Beitrittskandidaten gilt es zu honorieren; esgilt, Versäumnisse klar zu benennen und offensichtlichesFehlverhalten eindeutig zu kommentieren.Dementsprechend bemüht sich die Bundesregierungauch um die Förderung der an einem Beitritt zur Euro-päischen Union interessierten Staaten. Der Antrag derSPD wiederum deutet irrigerweise darauf hin, dass dieBundesregierung ihren Verpflichtungen hinsichtlich ei-ner Integration der Staaten des westlichen Balkans indie Europäische Union nur schleppend oder unzurei-chend nachkäme. Dies ist unzutreffend: Wir stehen wei-terhin zu dem auf dem Gipfel von Thessaloniki 2003 be-schlossenen politischen Versprechen, dass der westlicheBalkan ein integraler Bestandteil des vereinten Europasist.Allerdings vertreten wir auch weiterhin das Prinzipvon Fördern und Fordern: Nur wer seinen Verpflichtun-gen beispielsweise in Sachen Korruptionsbekämpfung
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22471
Peter Beyer
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oder beim Aufbau von rechtsstaatlichen Strukturennachkommt, wer Kriminalität entschieden entgegentrittoder die Medienfreiheit garantiert, wer Kriegsverbre-cher inhaftiert oder Minderheiten schützt, soll auch wei-tere Unterstützung auf seinem Weg in Richtung EU er-halten. Einen Automatismus darf es nicht geben. DasTempo der Entwicklung wird also nicht nur in Brüsseloder Berlin, sondern in erster Linie in Belgrad, Podgo-rica, Skopje, Sarajevo, Tirana und Pristina bestimmt.Dass wir niemanden überfordern, zeigt sich am BeispielKroatiens: Zagreb hat den Weg erfolgreich beschrittenund wird voraussichtlich am 1. Juli 2013 als 28. Mit-glied in die Europäische Union aufgenommen.Ich merke aber an, dass die Herausforderungen, vordenen die derzeitigen und künftigen Beitrittskandidatenstehen, sehr groß sind. Serbien beispielsweise, offiziellerBeitrittskandidat seit März 2012, steht vor großen wirt-schaftlichen Herausforderungen. Auch die Auseinander-setzung mit dem Kosovo wird dieses Land weiterhinbeschäftigen. Montenegro wiederum muss noch ent-schiedener gegen Korruption und organisierte Krimina-lität vorgehen. Die Anstrengungen Podgoricas wurdenjüngst dadurch anerkannt, dass die EU mit ersten offi-ziellen Beitrittsverhandlungen beginnen wird.Im Falle Mazedoniens muss wiederum sehr diploma-tisch vorgegangen werden. Der ungelöste Namensstreitmit Griechenland ist das zentrale Hindernis für eineBeitrittsperspektive zur EU und einer Mitgliedschaft inder NATO. Diplomatisches Vorgehen ist hier deshalb be-sonders angebracht, da Griechenland sich in einer sehrprekären Situation befindet. Vor dem Hintergrund wach-sender antideutscher Ressentiments wäre insbesonderepolitischer Druck aus Berlin, den Namensstreit endlichbeizulegen, wenig hilfreich.Das Kosovo wiederum wird derzeit nicht von allenMitgliedern der EU anerkannt. Zu diesem Schritt kön-nen wir niemanden zwingen. Hier ist nur langfristigeÜberzeugungsarbeit erfolgversprechend. Auch in die-sem Bereich ist die Bundesregierung seit langem enga-giert. Ebenfalls belasten die kosovarisch-serbischen Be-ziehungen weitere Schritte hin zur Integration in die EU.Für diese beispielhaft genannten und alle anderenStaaten gilt zudem, dass sie ihre Volkswirtschaften denGegebenheiten des 21. Jahrhunderts anpassen müssen.Die Bundesregierung ist sich somit ihrer Verantwortungin der Region bewusst. Bei der Bewältigung dieser He-rausforderungen wird sie weiterhin Hilfe zur Selbsthilfeleisten. Denn nur wer beiträgt, kann beitreten.
Die europäische Perspektive, die die EU den Länderndes westlichen Balkans in der Erklärung des Europäi-schen Rats von Thessaloniki 2003 mit den Worten „DieZukunft des westlichen Balkans liegt in Europa“ gab,wird nächstes Jahr mit dem Beitritt Kroatiens im Juli2013 eine neue Form der Realität annehmen.Auch die anderen Staaten des westlichen Balkanssind auf dem Weg nach Europa. Die europäische Per-spektive ist somit heute näher und konkreter denn je, al-lerdings ist sie nicht pauschal und ohne Bedingungenund Auflagen zu haben. Daher lehnen wir den Antragder SPD ab.Die EU hat für alle Länder des westlichen Balkans ei-nen Stabilisierungs-und Assoziierungsprozess, SAP, ein-geleitet, der sie nach und nach enger an die EU heran-führen soll. In den letzten Jahren waren etlicheFortschritte zu verzeichnen, wobei jeder Staat selbstTiefe und Geschwindigkeit dieses Prozesses bestimmt.Hier ergibt sich doch noch ein sehr differenziertes Bild.Als potenzielle Kandidaten gelten nach heutigemStand Albanien sowie Bosnien und Herzegowina unddas Kosovo.Was Albanien anbelangt, so hat, nachdem der Rat derEU letzten Dezember in den Schlüsselkriterien nur ge-ringe Fortschritte verzeichnen konnte, die EU-Kommis-sion erneut keine Empfehlung für den Kandidatenstatusausgesprochen. Die EU hat Albanien daraufhin ange-halten, seine Reformbemühungen zu intensivieren. Wirunterstützen diese Haltung der EU.Bosnien und Herzegowina muss insbesondere seineVerfassung in Einklang mit der Europäischen Men-schenrechtskonvention bringen, damit endlich das Stabi-lisierungs-und Assoziierungsabkommen, SAA, in Krafttreten kann und die Grundlagen für einen fundiertenBeitrittsantrag gelegt werden. Dies hat der Rat der EUgerade erst wieder in seinen jüngsten Schlussfolgerun-gen am 25. Juni bekräftigt. Für uns sind darüber hinaussubstanzielle Fortschritte mit Blick auf die Verfassungs-reform im Bereich Parlamentskammer und Präsident-schaft unablässige Voraussetzungen für das Inkrafttre-ten des SAAs und einen möglichen EU Beitritt.Was das Kosovo anbelangt, gilt, dass wir uns weiter-hin insbesondere in den Bereichen Rechtsstaatlichkeit,Bekämpfung organisierter Kriminalität und Korruptionengagieren müssen, um die entsprechenden Reformen imKosovo und die Arbeiten an einem Stabilisierungs- undAssoziierungsabkommen zu unterstützen.Auch was die Kandidatenländer Mazedonien, Monte-negro und Serbien betrifft, so möchte ich nicht verheh-len, dass dort Fortschritte erzielt worden sind. Gleich-wohl bestehen weiterhin Defizite. Auch hier gilt: Auchwenn diese Staaten auf ihrem Weg in die EU bereits wei-ter vorangeschritten sind, bestehen wir darauf, dass alleAuflagen und Verpflichtungen der EU erfüllt sind, eheein Beitritt erfolgt.In Bezug auf Mazedonien unterstützen wir daher denhochrangigen Dialog zur EU-Annäherung, der Refor-men in allen Bereichen begleitet, solange die Aufnahmevon Beitrittsverhandlungen aufgrund des Namenstreitsdurch Griechenland blockiert wird.Montenegro hat insbesondere in den BereichenRechtsstaatlichkeit, Bekämpfung von Korruption undorganisierter Kriminalität noch etliche Reformen zumeistern. Daher begrüßen wir den Ansatz der EU-Kom-mission, die Aufnahme der Beitrittsverhandlungen, wievom Rat der EU erst vorgestern beschlossen, mit denKapiteln „Justiz“ und „Rechtstaatlichkeit“ zu beginnen.Zu Protokoll gegebene Reden
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22472 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Wolfgang Götzer
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Auch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mitSerbien im Herbst dieses Jahres muss unserer Meinungnach insbesondere an weitere Fortschritte im Stabilisie-rungs-und Assoziierungsprozess sowie in den bilatera-len Beziehungen zu Kosovo gebunden sein. Ferner wer-den wir den europapolitischen Kurs des neuen ser-bischen Präsidenten Nikolic genauestens verfolgen.Bleibt zu hoffen, dass er den Reformkurs seines Vorgän-gers fortsetzt.Letztendlich legen wir auch bei dem BeitrittslandKroatien Wert darauf, dass die EU-Kommission ihr bis-heriges Monitoring mit einem besonderen Fokus aufRechtsstaatlichkeit bis zum voraussichtlichen EU-Bei-tritt Kroatiens am 1. Juli 2013 fortsetzt.Mit dem Beitritt Kroatiens als dem ersten Land deswestlichen Balkans wird eine Signalwirkung für die an-deren Länder des westlichen Balkans ausgehen, die de-ren europäische Perspektive in greifbare Nähe rückt.
Auf dem EU-Gipfel, zu dem sich die europäischenStaats- und Regierungschefs derzeit versammelt haben,wird es in erster Linie um Wege aus der Finanz- undSchuldenkrise gehen, die Europa so schwer beutelt.Doch zumindest eine erfreuliche Nachricht wird es wohlmit Sicherheit geben: die Aufnahme von EU-Beitritts-verhandlungen mit Montenegro.Das ist ein weiterer wichtiger Schritt auf dem Weg deswestlichen Balkans in Richtung Europa. Wir alle habengesehen, welch ungeheure Reformdynamik durch Bei-trittsverhandlungen entfaltet werden kann. Deshalbmöchten wir mit unserem vorliegenden Antrag noch ein-mal deutlich machen: Deutschland und die EU müssendie Staaten des westlichen Balkans auf ihrem Weg derAnnäherung an die EU ermutigen und unterstützen. Diesliegt in unserem ureigensten Interesse und erwächstauch aus einer historischen Verantwortung: Wie wahr-scheinlich viele Menschen in Deutschland und Europahaben wir alle noch lebhaft die schrecklichen Konflikteder 1990er-Jahre in Erinnerung. Europa versagte da-mals auf tragische Weise – es konnte die jugoslawischenBürgerkriege weder verhindern, eindämmen noch effek-tiv beenden.Dass nun Kroatien voraussichtlich im Sommer nächs-ten Jahres der EU beitreten wird, dass Montenegro,Mazedonien und endlich auch Serbien Beitrittskandida-ten sind, muss uns angesichts der noch nicht lange zu-rückliegenden Vergangenheit voller Hass und Gewaltfür die Zukunft optimistisch stimmen. Auch den anderenStaaten des westlichen Balkans – Albanien, Bosnien undHerzegowina und dem Kosovo – hat die EU beim Gipfel-treffen von Thessaloniki 2003 eine europäische Perspek-tive zugesagt und dies seitdem auch immer wieder be-kräftigt. Wir als SPD-Bundestagsfraktion stehen hinterdiesem Versprechen.Niemand in unseren Reihen wird jedoch auf die Ideekommen, die Westbalkanstaaten durch eine rosa Brillezu betrachten. Vieles in der Region liegt im Argen, dasmuss deutlich gesagt werden, und das machen wir in un-serem Antrag auch deutlich. Korruption und organi-sierte Kriminalität stellen ein ernsthaftes Problem dar.Noch immer gibt es Konfliktherde, die im Nachklang derBalkankriege teils offen, teils verdeckt schwelen. DieBeilegung regionaler Konflikte muss aber Bedingungfür eine EU-Mitgliedschaft sein, wie unser Antrag nach-drücklich festhält.Der Hass zwischen verschiedenen Ethnien und dieGefahr der Destabilisierung durch nationalistische, an-tieuropäische Kräfte sind noch keineswegs gebannt. MitAusnahme Kroatiens haben alle Staaten der Regionnoch einen harten und langen Weg bis zu einem mögli-chen EU-Beitritt vor sich. Ich möchte dafür nur einigeBeispiele nennen.Große Sorgen macht uns der Zustand im Kosovo.Deshalb begrüßen wir die Pläne der EU-Kommissionzur Durchführung einer Machbarkeitsstudie für einStabilisierungs- und Assoziationsabkommen mit demKosovo. Trotz der jüngsten Fortschritte im Dialogpro-zess zwischen Serbien und dem Kosovo hinsichtlich dergemeinsamen Grenzverwaltung und dem Auftreten desKosovo auf regionaler Ebene sind die Beziehung zwi-schen Serbien und dem Kosovo und insbesondere die Si-tuation im Nordkosovo nach wie vor angespannt. Sokommt es im Nordkosovo immer wieder zu Zusammen-stößen an den Grenzübergängen. Deshalb ist es auchrichtig, dass der Deutsche Bundestag den KFOR-Ein-satz um ein weiteres Jahr verlängert hat.Eine seitens der EU und ihrer Mitgliedstaaten ernst-haft betriebene Unterstützung Serbiens und des Kosovoauf deren Weg in die EU ist aus meiner Sicht immer nochder beste Weg, beide Staaten zu ermutigen, aufeinanderzuzugehen. Am Ende wird sich Serbien in der Status-frage des Kosovo bewegen müssen. Das weiß man inSerbien, doch es wird dafür noch Zeit brauchen, die manden Menschen dort auch einräumen muss. Wer eine An-erkennung des Kosovo durch Serbien zur Vorbedingungvon Beitrittsverhandlungen macht, verschärft das Pro-blem, anstatt zu seiner Lösung beizutragen.Allerdings muss auch in Serbien jeder wissen: Wennes um den Beitritt zur Europäischen Union geht, mussSerbien den Weg zur Anerkennung des Kosovo gehen.Aber diese Entscheidung muss am Ende des Beitrittspro-zesses gelöst werden und nicht schon jetzt vor Beginndieses Prozesses.Die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Maze-donien ist wegen des Namensstreits mit Griechenlandblockiert. Nach dem Urteil des Internationalen Ge-richtshofs vom 5. Dezember 2011 muss die Bundesregie-rung jetzt prüfen, wie sie das Thema der Aufnahme vonBeitrittsverhandlungen mit Mazedonien erneut auf dieTagesordnung des Europäischen Rates bringen kann.Sich der griechischen Blockade in dieser Frage einfachzu ergeben, ist jedenfalls für mich und meine Fraktionnicht akzeptabel. Ebenso muss es mit MazedoniensNATO-Beitritt vorangehen. Dass es beim NATO-Gipfelin Chicago in dieser Hinsicht keine Fortschritte gab, istbedauerlich.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22473
Dietmar Nietan
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Albanien und Bosnien und Herzegowina sind von denVoraussetzungen für einen EU-Beitrittsprozess nochweit entfernt, doch auch dort kann wohl vor allem dieEU-Perspektive positive Entwicklungen anstoßen undvorantreiben. Mit Blick auf Bosnien und Herzegowinamöchte ich an dieser Stelle noch auf die Bedeutung desHohen Repräsentanten für Bosnien und Herzegowina,OHR, hinweisen. Die Pläne zur Verkleinerung sowieVerlagerung des Büros des Hohen Repräsentanten insAusland sind Ihnen bekannt. Ich halte eine Schwächungder Arbeitsmöglichkeiten des OHR für falsch, denn diesogenannten Bonn Powers des Hohen Repräsentantensind nach wie vor ein Stützpfeiler der staatlichen Inte-grität von Bosnien und Herzegowina. Der Sonderbeauf-tragte der EU begleitet und unterstützt Bosnien undHerzegowina bei Reformprozessen und nimmt einewichtige Brückenfunktion zur Europäischen Unionwahr. Solange er jedoch keine dem OHR vergleichbarenRechte besitzt und solange die fünf Ziele und zwei Bedin-gungen, 5+2, zur Schließung des OHR-Büros nicht er-füllt sind, ist der EU-Sonderbeauftragte eine wertvolleErgänzung, aber keine ausreichende Alternative zumOHR.Eine weitere Herausforderung, die ich sehe, ist auchdie Intensivierung der regionalen Kooperation der West-balkanstaaten untereinander. Der Regional CooperationCouncil, RCC, leistet hier als Nachfolger des Stabilitäts-pakts für Südosteuropa wichtige Arbeit und braucht wei-terhin unsere volle Unterstützung. Voraussetzung füreine erfolgreiche regionale Zusammenarbeit ist, dasseine ehrliche Aufarbeitung der Vergangenheit im Sinneeiner friedlichen und gemeinsamen Zukunft stattfindet.Die Auslieferung von Kriegsverbrechern an das UN-Tribunal in Den Haag war ein Meilenstein für diese Auf-arbeitung. Wenn aber in Kroatien, Serbien oder Bosnienund Herzegowina mancherorten Kriegsverbrecher nochimmer als Helden gelten, schadet das dem Frieden undder guten Zusammenarbeit mit den Nachbarn. Hier müs-sen die politischen Eliten der jeweiligen Länder mutigvorangehen und die Saat pflegen, die die Präsidentenvon Kroatien und Serbien, Ivo Josipovic und BorisTadic, bereits ausgesät hatten. Es bleibt zu hoffen, dassder neue serbische Präsident Nikolic mit seinen har-schen Äußerungen die noch zarten Pflanzen der Versöh-nung nicht allzu leicht zertritt. Dazu muss er sich glaub-haft von seiner ultranationalistischen Vergangenheitlösen und unter Beweis stellen, dass es ihm mit derKehrtwende Richtung Europa ernst ist. Dies gilt auchfür die sozialistische Partei Serbiens unter Ivica Dacic,die mit Nikolics Partei die neue Regierung Serbiens bil-den wird und Boris Tadic in die Opposition schickt. Diesist für mich eher ein Schritt in die Vergangenheit als indie Zukunft.Neben politischen Herausforderungen hat der westli-che Balkan große wirtschaftliche und soziale Problemezu bewältigen, die den Alltag der Menschen vor Ort be-stimmen. Verstärkt werden diese Probleme durch die seitJahren andauernden Finanz- und Wirtschaftskrisen, de-nen die Region wenig entgegenzusetzen hat. Es brauchtstabiles Wachstum und Investitionen. Eine Vorausset-zung dafür sind vor allem stabile Rahmenbedingungenund eine klare EU-Beitrittsperspektive, auch um inter-nationalen Investoren Perspektiven zu bieten. SozialeFaktoren dürfen in der Debatte um wirtschaftlichen Auf-schwung für die Länder des westlichen Balkans nicht zukurz kommen. Die Region hat mit zum Teil extrem hohenArbeitslosenzahlen zu kämpfen, insbesondere die dra-matische Jugendarbeitslosigkeit stellt, wie andernorts inEuropa, ein großes Problem dar. Das hohe Armuts-niveau und mangelnde soziale Sicherung auf dem west-lichen Balkan können für uns nicht hinnehmbar sein.Wie bereits gesagt, es bleibt noch viel zu tun. Das darfaber nicht dazu führen, dass seitens der EU die Beitritts-prozesse erlahmen. Dass mit Bulgarien und Rumänien„unfertige“ Länder der EU beigetreten seien, deren ver-frühter Beitritt der EU geschadet habe, ist allenthalbenzu hören und zu lesen. Das mag so sein. Daraus lässtsich meines Erachtens aber keine Begründung einer Er-weiterungspause ableiten, wie sie viele gegenüber derTürkei und den Westbalkanstaaten am liebsten sähen.Wer eine Erweiterungspause will, muss dies offen undklar beschließen und begonnene Beitrittsprozesse stop-pen. Das wäre dann auch die Verabschiedung von demVersprechen, das wir den Westbalkanstaaten auf demEuropäischen Rat von Thessaloniki gegeben haben.Eine solche Bankrotterklärung seitens der EU kannwohl niemand in diesem Hause wirklich wollen.Seien wir realistisch: Die Zusage einer europäischenPerspektive, die Verleihung eines Kandidatenstatus undauch die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen sindnoch lange kein Beitritt und auch keine Garantie dafür,dass sich in den entsprechenden Ländern alles schlag-artig zum Guten wendet. Doch haben wir nicht oft genugerlebt, dass eine klare europäische Perspektive, dasStreben in die EU, der Beitrittsprozess selbst die effek-tivsten Motoren für Stabilisierung und Reformen sind?Kroatien ist dafür ein deutliches Beispiel. Ein Entzugder europäischen Perspektive dagegen würde die Ge-fahr politischer und ökonomischer Regression bergen.Die Erfüllung klar definierter Kriterien und harteVerhandlungen sind selbstverständlich. Wer in die EUwill, muss die entsprechenden Kriterien erfüllen. VonAnfang an habe ich das Vorhaben der EU-Kommissionbegrüßt, in zukünftigen Beitrittsverhandlungen dieKapitel 23 und 24 frühzeitig zu eröffnen und erst zumAbschluss der Verhandlungen hin zu schließen. Wirmöchten, wie in unserem Antrag dargelegt, noch einenSchritt weitergehen: aus unserer Sicht macht es Sinn,über den Besitzstand des Kapitels 23, „Judikative undGrundrechte“, bereits vor dem Beginn offizieller Bei-trittsverhandlungen mit Kandidatenländern ohne lau-fende Verhandlungen und Ländern, die einen Antrag aufBeitritt zur EU gestellt haben, zielgerichtete Vorver-handlungen zu führen. So könnten schon frühzeitig bes-sere Rahmenbedingungen für Reformen und für einenerfolgreichen Beitrittsprozess geschaffen werden.Politische Rabatte seitens der EU darf es gegenüberbeitrittswilligen Ländern nicht geben. Gleichzeitig hatjedes beitrittswillige Land das Recht auf faire Verhand-lungen. Der Erfüllung von Anfang an klar definierterBedingungen müssen im Sinne der Glaubwürdigkeit derZu Protokoll gegebene Reden
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22474 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dietmar Nietan
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EU auch klar definierte Fortschritte im Beitrittsprozessfolgen.Es liegt in unserem eigensten Interesse, die EU alsRaum von Freiheit, Demokratie, Frieden, Sicherheit undWohlstand nicht für europäische Länder zu verschlie-ßen, die umgeben von EU-Mitgliedstaaten in unsererMitte liegen. Gemeinsam mit ihnen sollten wir dafür ein-treten, dass die Staaten des westlichen Balkans auf langeSicht keine weißen Flecken auf der Landkarte der EUbleiben oder sich gar zu tragischen schwarzen Löchernin unserem Kontinent entwickeln.Denn wenn dies passieren würde, hätte die EU in die-ser Region zum zweiten Mal in schändlicher Weise ver-sagt.
Heute vor 23 Jahren hielt Slobodan Milosevic seineberüchtigte Rede zum 600. Jahrestag der Schlacht aufdem Amselfeld. Heute vor elf Jahren wurde derselbeSlobodan Milosevic dem UNO-Kriegsverbrechertribu-nal in Den Haag ausgeliefert. In den dazwischen liegen-den zwölf Jahren mussten wir auf dem Balkan Krieg,Leid und ein Ausmaß an Verbrechen erleben, das wir inEuropa nicht mehr für möglich gehalten haben. Diesesunsägliche Leid ist die direkte Folge eines verbrecheri-schen Missbrauchs von Geschichte. Einen derartigenMissbrauch hat es in Europa viel zu oft gegeben. AberEuropa hat nach der größten Katastrophe daraus ge-lernt und mit der europäischen Einigung seine Lehrenumgesetzt. Auf diesem Weg wollen wir auch die Länderdes westlichen Balkans mitnehmen.Ich gehe davon aus, dass die Kollegen der SPD denTitel ihres Antrages als Beschreibung der Realität ver-stehen. Denn die Staaten des westlichen Balkans habeneine ehrliche und faire europäische Perspektive. DieFortschritte einzelner Länder allein in den letztenMonaten sprechen da wohl für sich: Verleihung desKandidatenstatus an Serbien im März, der Beginn derRatifizierung des kroatischen Beitritts und, ab morgen,der Beginn von Beitrittsverhandlungen mit Montenegro.Das zeigt: Fortschritte sind möglich, und wo LänderFortschritte machen, werden sie von der EU auch hono-riert.Aber es gibt natürlich auch noch genug Probleme.Am schwierigsten für die europäische Glaubwürdigkeithalte ich den Fall Mazedonien. Denn hier hat ein Landwirklich Fortschritte gemacht und kommt trotzdem nichtweiter. Hier sehe ich auch die dringende Notwendigkeit,weiter auf Griechenland einzuwirken. Allerdings glaubeich kaum, dass wir hier mit Druck weiterkommen. Wirmüssen aber nachdrücklich darauf hinweisen, dassgerade in der aktuellen Situation eine etwaige Destabi-lisierung in seiner direkten Nachbarschaft für Griechen-land keineswegs wünschenswert sein kann.Ein zweiter Problemfall ist – und bleibt wahrschein-lich auch für geraume Zeit – Bosnien-Herzegowina.Hier lehne ich allerdings Ihre Forderung nach einerStärkung des OHR ganz strikt und kategorisch ab. DieZeit von Eingriffen des OHR ist endgültig abgelaufen;das müssen wir anerkennen. Zu glauben, man könnemehr als 15 Jahre nach dem Kriegsende und nach einerganzen Reihe von demokratischen Wahlen immer nochquasidiktatorisch von außen Fortschritte erzwingen, istgrundfalsch. Wir müssen im Gegenteil viel mehr auf dieArbeit des EU-Repräsentanten setzen. Die EU muss demLand klare, aber eben auch erreichbare Ziele setzen.Hier hat die EU in der Vergangenheit ja auch selberFehler gemacht, wie etwa die gar nicht zu rechtfertigen-den Vorgaben zur Polizeireform. Und ich glaube, wirsind uns einig, dass Herr Sörensen hier bislang einensehr überzeugenden Job gemacht hat.Serbien hat im März den Kandidatenstatus bekom-men. Und jetzt müssen wir sehen, was der neu gewähltePräsident Nikolic aus dieser Chance macht. Ich habenach seiner Wahl dafür plädiert, ihn nach seinen heuti-gen Taten zu beurteilen; aber ich gebe gerne zu, dasseinige seiner Reden nicht gerade optimistisch stimmen.Jede Relativierung des Völkermords in Srebrenica istvöllig unerträglich. Die Regierungsbildung ist immernoch nicht abgeschlossen.Im Kosovo ist es wieder zu Unruhen gekommen, undich möchte den verletzten Soldaten auch bei dieser Gele-genheit meine besten Wünsche übermitteln.Eines ist völlig klar und völlig unverhandelbar: Ser-bien kann nur in die EU kommen, wenn der Konflikt mitKosovo im gegenseitigen Einvernehmen geregelt ist.Das muss nicht zwingend eine völkerrechtliche Anerken-nung sein. Es muss aber so weit von einem Geist der Ver-söhnung und guter Nachbarschaft getragen sein, dasswir begründet davon ausgehen können, dass bilateraleSchwierigkeiten nicht in die EU hineingetragen werden.Serbien kann nicht weiterhin Parallelstrukturen imKosovo in der bisherigen Form aufrechterhalten. DieVerfassung des Kosovo, in Umsetzung des Ahtisaari-Plans, enthält genug Möglichkeiten für Kommunen mitmehrheitlich serbischer Bevölkerung, sich innerhalb deskosovarischen Staats als Serben zu organisieren undihre eigenen Belange zu verwalten.Aber auch Kosovo muss noch erhebliche Fortschrittemachen. Ich begrüße es, dass EULEX sich jetzt schlan-ker organisiert und auf die wesentlichen Probleme kon-zentriert. Und sosehr ich es natürlich auch begrüßenwürde, dass alle EU-Staaten das Kosovo anerkennen, soglaube ich doch eher, dass der Weg umgekehrt verlaufenwird: Wenn Serbien und Kosovo bilateral zu einer Rege-lung kommen, dann werden auch die verbliebenen EU-Staaten sich dem nicht mehr verschließen.Ich sehe durchaus die Gefahren, die auf dem Balkandurch europäische Untätigkeit entstehen können. Ichsehe aber auch die Gefahren, die durch zu große Unge-duld entstehen. Vieles in der Region muss noch wachsenund braucht auch Zeit zum Wachstum. Das gilt fürrechtsstaatliche Strukturen, für wirtschaftliche Koope-ration innerhalb der Region und auch für den Abbau vonFeindbildern.Die EU sollte sich in den Ländern, in denen einschneller Fortschritt des Beitrittsprozesses derzeit nichtmöglich erscheint, darauf konzentrieren, kleine, aber fürZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22475
Dr. Rainer Stinner
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die Masse der Bevölkerung sicht- und fühlbare Schritteanzubieten. Der Prozess zur Visafreiheit ist für mich im-mer noch vorbildhaft. Gerade im Bereich Wirtschaft undbei der engeren Anbindung der Länder an den EU-Bin-nenmarkt ist auch unterhalb formeller Mitgliedschaftvieles möglich. Hier wünsche ich mir etwas mehr Krea-tivität.Insgesamt bin ich sehr froh, dass wir uns in diesemHaus im Ziel der Heranführung des westlichen Balkansan die EU weitestgehend einig sind. Und ich halte diesegrundsätzliche Einigkeit auch für ein wichtiges Signalan die Region, auch wenn wir wegen einzelner PunkteIhrem Antrag heute nicht zustimmen können.
Um es vorneweg klarzustellen: Die Fraktion DieLinke tritt entschieden für eine ehrliche und faire euro-päische Perspektive der Staaten des westlichen Balkansein. Der Ehrlichkeit und Fairness halber müssen wir da-bei jedoch die Bedingungen und Zustände innerhalb derEuropäischen Union und des westlichen Balkans sowiedie Beziehungen zwischen beiden klar benennen. DieEU und ihre Erweiterungs- und Nachbarschaftspolitiktragen immer deutlicher die Züge eines imperialen Pro-jekts, und an verschiedenen Stellen wird das innerhalbder EU und der ihr angegliederten Denkfabriken auchimmer ehrlicher so benannt. Ein Imperium zeichnet sichdadurch aus, dass es keine klaren Grenzen hat, dass esden Geltungsbereich seines Rechts bis in eine weit ent-fernte Peripherie ausdehnt, während es die Entschei-dungsgewalt im Zentrum konzentriert. Wenn wir uns denGeltungsbereich des Acquis Communautaire einerseitsund die Bündelung politischer und ökonomischer Machtin Westeuropa und ganz besonders in Berlin auf der an-deren Seite anschauen, dann müssen wir ganz klar voneiner imperialen Struktur sprechen. Dasselbe gilt, wennwir uns das EU-Grenzregime betrachten, das ja genaudeshalb von so herausragender Relevanz ist, weil esdiese Struktur auf den Punkt bringt. Durch Verbin-dungsbeamte, Rücknahmeabkommen, Partnerschafts-programme, die Zusammenarbeit mit Drittstaaten undInstitutionen wie Frontex wurden die Grenzkontrolleund Flüchtlingsabwehr bis hinein in die Herkunfts- undTransitstaaten ausgelagert, in Gebiete, wo ein Grund-rechteschutz oder ein Zugang zum europäischen Rechts-system nicht existieren. Bereits in den Herkunftsstaatenversehen deutsche und europäische Beamte – und oft ge-nug auch europäische Soldaten – ihren Dienst; dazwi-schen wurde ein Ring sogenannter sicherer Drittstaatengeschaffen, welche sich zu den willigen Erfüllungsgehil-fen der EU haben machen lassen. Im Inneren liegt dannder Schengen-Raum, der bis heute nicht mit der Euro-päischen Union deckungsgleich ist, und im Zentrum diewesteuropäischen Staaten, die mittlerweile immer öfterfür sich in Anspruch nehmen, das Schengen-Abkommentemporär außer Kraft zu setzen. In der Peripherieherrscht der Ausnahmezustand, im Zentrum wird überdiesen entschieden. Auch hier zeigt sich eindeutig dieimperiale Struktur der EU.Vor diesem Hintergrund wird gegenwärtig immerdeutlicher von einer grundsätzlichen Unvereinbarkeitvon Europäischer Union und Demokratie gesprochen.Erinnern wir uns an die Referenden zum Vertrag vonLissabon: Man hat die Iren so lange abstimmen lassen,bis das für Berlin und Brüssel richtige Ergebnis heraus-kam. Ähnliches geschah nun in Griechenland. Und so-genannte technokratische Regierungen werden inner-halb der EU weiter zunehmen, weil es eigentlich nurnoch Aufgabe der Regierungen ist, Entscheidungen ausBerlin und Brüssel gegen den Willen der Bevölkerungdurchzustellen.Diese Art der Politik hat den Beitrittsprozess bislangwesentlich geprägt und wurde darin weiterentwickelt.Man hat dabei ganz offen versucht, in Wahlen einzugrei-fen, indem Entscheidungen über den Beitrittsprozessoder Visaliberalisierungen kurz vor Wahlen gelegt wur-den, um die sogenannten proeuropäischen Kräfte zu un-terstützen. Gleichzeitig wurde in Westeuropa hintermehr oder weniger vorgehaltener Hand recht deutlichgesagt, dass es eine tatsächliche Beitrittsperspektive füreinige der betreffenden Staaten nicht geben wird. Vordiesem Hintergrund ist die Forderung nach einer ehrli-chen und fairen europäische Perspektive der Staaten deswestlichen Balkans grundsätzlich richtig; allein: Sie istverlogen. Betrachten wir nur einmal Serbien und dasKosovo, wo nicht einmal unter den westeuropäischenStaaten Einigkeit besteht, ob es sich um einen Staat oderzwei Staaten handelt. Deutsche Soldaten waren hier inden letzten Monaten auf täglicher Basis damit beschäf-tigt, die Verwaltungsgrenze zwischen Serbien und demNordkosovo militärisch gegen die ansässige Bevölke-rung durchzusetzen, sie gaben Schüsse ab und wurdenselbst verwundet. In Bosnien und Herzegowina hinge-gen sind Soldaten der EU bis heute damit beschäftigt,das Auseinanderbrechen eines künstlichen Gebildes hi-nauszuzögern.Während deutsche Soldaten auf dem Balkan wiedermit Gewalt Grenzen ziehen und der deutsche DiplomatIschinger – von der Regierung unwidersprochen – for-dert, Deutschland solle die Rolle des „gutmütigen Hege-mons“ einnehmen, kommen Sie mit diesem Antrag, dersich neben falschen Versprechungen vor allem durchden erhobenen Zeigefinger auszeichnet, der an die Re-gierungen des westlichen Balkans gerichtet ist. Das Ver-sprechen von Thessaloniki soll erneuert werden, um dortneue Sparprogramme, die Privatisierung und Liberali-sierung weiter voranzutreiben. Kein Wort verlieren Siezu den sozialen Folgen dieser Politik, zu der wachsen-den Verarmung einer breiten Bevölkerungsmehrheit. Siereden von Fortschritten bei Demokratie und Rechts-staatlichkeit und meinen damit die weitere Entrechtung,die Unterwerfung der Bevölkerungen und Regierungenunter das Diktat Berlins und Brüssels.Wenn die Bevölkerungen des westlichen Balkans denBeitritt wirklich wollen und sie die Kriterien im gleichenAusmaß erfüllen wie die Mitgliedstaaten, dann müssensie auch aufgenommen werden. Bevor wir dies aber insZentrum unserer Forderungen an die EU stellen, haltenwir einen Abzug der Truppen aus Bosnien und dem Ko-sovo für notwendig. Bevor wir eine weitere Erweiterungder EU wirklich begrüßen können, wäre ihre Neugrün-dung als demokratisches und soziales Projekt wün-Zu Protokoll gegebene Reden
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22476 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Sevim Dağdelen
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schenswert – im Interesse der Bevölkerungen innerhalbder EU und derer, die beitreten wollen.
In einem Jahr wird Kroatien der Europäischen Unionals 28. Mitgliedstaat beitreten. Das ist eine gute Nach-richt, in dreifacher Hinsicht. Der Beitritt zeigt erstens,dass die europäische Perspektive für die Staaten deswestlichen Balkans Realität wird. Der Beitrittsprozesshat zweitens gezeigt, welche enorme Transformations-kraft ein Beitrittsprozess freisetzen kann. Schließlich hatdie Europäische Union mit dem Beitrittsprozess Kroa-tiens bewiesen, dass sie aus den Fehlern, die bei vergan-genen Beitrittsrunden gemacht wurden, gelernt hat.Zur Beitrittsperspektive der Staaten des westlichenBalkans. Ich begrüße ausdrücklich, dass die SPD unse-rem Beispiel folgt und einen umfassenden Antrag zur eu-ropäischen Perspektive der Staaten des westlichen Bal-kans vorlegt. Ich bin froh, dass in diesem Haus einebreite Mehrheit die europäische Perspektive des westli-chen Balkans unterstützt. Nach den Kriegen der 90er-Jahre und der Auflösung des ehemaligen Jugoslawiensist es unsere moralische Pflicht, eine Wiederholung die-ser schrecklichen Ereignisse zu verhindern. Stabilitätund die positiven Entwicklungen der letzten Jahre wür-den wir durch eine Abkehr von der europäischen Per-spektive leichtfertig aufs Spiel setzen. Die EuropäischeUnion muss auf dem westlichen Balkan beweisen, dasssie auch innerhalb Europas in der Lage ist, Demokratie,Stabilität und Wohlstand zu etablieren. Ohne die Inte-gration des westlichen Balkans, der völlig von EU-Mit-gliedstaaten umgeben ist, bliebe die historische Errun-genschaft „Europäische Union“ unvollendet.Die Transformationskraft, die die Beitrittsprozesseauslösen, ist beeindruckend. Das hat Kroatien gezeigt.Kroatien wird bis zum endgültigen Beitritt in einem Jahrauch weiter beweisen müssen, dass der Reformwillenicht nachlässt, Reformzusagen eingehalten werden unddie Implementierung der neuen Gesetze vorangetriebenwird. Die Transformationskraft zeigen aber auch dieEntwicklungen in den anderen Staaten des westlichenBalkans. Montenegro hat gezeigt, dass es willens ist,schwierige Hürden zu nehmen. Montenegro hat die Be-dingungen für die Aufnahme von Verhandlungen erfüllt.Den Start der Verhandlungen am morgigen Freitag hatsich Montenegro damit redlich verdient. Das heißt na-türlich nicht, dass Montenegro die Bedingungen für eineMitgliedschaft in der Europäischen Union erfüllt; dasmuss es aber auch noch nicht. Montenegro geht morgenan den Start, nachdem es das Training und alle medizi-nischen Tests erfolgreich absolviert hat. Beitreten wirdMontenegro aber erst, wenn es auf der Zielgeraden an-gekommen ist und die Ziellinie überquert hat, also wennalle notwendigen Reformen umgesetzt und alle Anforde-rungen für eine EU-Mitgliedschaft erfüllt sind.Auch Serbien hat in den vergangenen Jahren Fort-schritte gemacht und hat im Frühjahr den offiziellenKandidatenstatus erhalten. Dies war nur möglich, weilSerbien vollständig mit dem Internationalen Strafge-richtshof für das ehemalige Jugoslawien zusammenge-arbeitet hat. Das hat zuletzt die Auslieferung RatkoMladics und Goran Hadzics bewiesen. Und das warzweitens nur möglich – und wird in Zukunft auch nurmöglich sein –, weil Serbien den Dialog mit dem Kosovowieder aufgenommen hat.Der nächste Schritt wird die Aufnahme von Beitritts-verhandlungen sein. Aus unserer Sicht sind dafür wei-tere glaubwürdige Fortschritte im Dialogprozess mitdem Kosovo und Fortschritte beim Abbau der Parallel-strukturen im Nordkosovo absolut notwendig. Und einsmuss auch ganz deutlich gesagt werden: Ohne völker-rechtliche Anerkennung des Kosovo wird Serbien derEuropäischen Union nicht beitreten können. Dieses Be-kenntnis suche ich im Antrag der SPD vergeblich. Wirmüssen unmissverständlich klarstellen, dass die Unab-hängigkeit des Kosovo in den bestehenden Grenzennicht verhandelbar ist. Grenzverschiebungen zur Her-stellung ethnischer Homogenität laufen dem Prinzip derdemokratischen Gesellschaft zuwider. Sie bergen zudemdas unüberschaubare Risiko in sich, in einer Kettenreak-tion schwere Krisen in den unvollendeten Staaten desWestbalkans hervorzurufen. Daher müssen wir uns in ei-ner Frage einig sein: Auf dem Westbalkan darf es keineGrenzverschiebungen mehr geben.Schließlich möchte ich noch etwas zu den Beitritts-prozessen an sich sagen: Nach den Beitritten Bulgariensund Rumäniens hat sich die Europäische Union auf neueGrundsätze bei der Erweiterung der EuropäischenUnion geeinigt. Danach bestimmen die Ergebnisse derReformen das individuelle Tempo des Beitrittsprozessesin einem Land. Mit dem Beitritt müssen die Kopenhage-ner Kriterien erfüllt sein. Die Europäische Kommissiondarf dabei nicht nur die Umsetzung der Reformen über-prüfen. Sie muss auch bis zum Ende schauen, ob die Re-formen auch implementiert werden. Das tut sie übrigensgerade bei Kroatien. Bis zum endgültigen Beitritt legtsie noch zwei weitere Monitoringberichte vor.Schwierige Fragen wie die Reform der Verwaltungund Justiz sowie die Bekämpfung der Korruption sollenfrühzeitig behandelt werden. Es ist daher folgerichtigund begrüßenswert, dass in den Beitrittsverhandlungenmit Montenegro das Kapitel 23 gleich zu Beginn geöff-net wird und während der gesamten Verhandlungen ge-öffnet bleiben soll. Diese Grundsätze und eine strikteKonditionalität in allen Phasen der Verhandlungen sindGrundlage für erfolgreiche Beitrittsverhandlungen.Diese harte Konditionalisierung ist richtig, sie stelltden westlichen Balkan aber auch vor ein großes Pro-blem. Die Staaten werden nicht gleichzeitig am Ziel– also in der EU – ankommen. Kroatien ist schon da,Montenegro startet, Serbien wird bald die Verfolgungaufnehmen. Wann das Kosovo, wann Bosnien und Her-zegowina an den Start gehen, ist noch völlig offen. DieAufnahme der Verhandlungen mit Mazedonien sind aufnicht absehbare Zeit durch den Namensstreit mit Grie-chenland blockiert. In dieser Ungleichzeitigkeit stecktaber eine große Gefahr. Daher gilt es, parallel zu denkünftigen Beitrittsverhandlungen auch Wege und For-men zu finden, das Kosovo und Bosnien und Herzego-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22477
Manuel Sarrazin
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wina nicht zurückzulassen. Wir müssen diese Staatenmitnehmen. Die ungleichzeitige europäische Integrationdarf nicht die Isolierung anderer Staaten bedeuten. Indieser Frage sind wir dem westlichen Balkan noch Ant-worten schuldig. Antworten und Engagement sind wirvor allem Bosnien schuldig. Die Europäische Unionträgt eine besondere Verantwortung für Bosnien undHerzegowina und die Überwindung der unvollendetenVerfasstheit von Bosnien und Herzegowina.Für die Beitrittsprozesse der Staaten des westlichenBalkans sind aus meiner Sicht weitere Bedingungen un-erlässlich: Die völkerrechtliche Anerkennung der Staa-ten des Westbalkans in den heutigen Grenzen habe ichbereits erwähnt. Außerdem müssen mit Abschluss derVerhandlungen alle bilateralen Konflikte gelöst oder wieim Fall Kroatien und Slowenien einer Lösung zugeführtsein. Neben den gutnachbarschaftlichen Beziehungenmuss schließlich ausgeschlossen werden können, dassEU-Beitritte „verspäteter“ Staaten des Westbalkansdurch bereits beigetretene Staaten blockiert werden kön-nen.Abschließend möchte ich noch zwei Punkte anspre-chen: Die Frage der Minderheiten spielt auf dem gesam-ten westlichen Balkan eine wichtige Rolle. Ich denke da-bei vor allem an die schwierige Situation der Roma. Sieleben vielerorts unter Umständen, die Menschen nichtwürdig sind. Sie sehen sich Diskriminierung ausgesetzt,ihnen werden noch immer soziale und wirtschaftlicheRechte vorenthalten. Diese Probleme müssen die Staa-ten des westlichen Balkans so schnell wie möglich ange-hen. Ungarn hat während seiner Ratspräsidentschaft ei-nen Rahmen für nationale Strategien zur Integration derRoma vorgelegt. Die EU muss diesen guten Ansatz kon-sequent weiterverfolgen und auch die Staaten des west-lichen Balkans frühzeitig einbeziehen.Das Zweite ist die Umweltfrage im Beitrittsprozess:Wir Grüne setzen uns seit jeher dafür ein, dass der Zu-stand der Umwelt, hohe Umweltstandards und vor allemderen Einhaltung eine gewichtige Rolle in Beitrittsver-handlungen spielen. Engagement in Bezug auf Naturund natürliche Ressourcen ist dabei nicht einfach nurein Selbstzweck, sondern auch eine Frage der Selbstbe-hauptung gegen mangelnde Korruptionsbekämpfung inkünftigen EU-Staaten. Es gibt kaum einen anderen Be-reich, der mit Korruption so eng verbunden ist wie Um-weltverschmutzung oder Raubbau an der Natur, sei esbei Bauvorhaben, Infrastrukturprojekten oder der öf-fentlichen Vergabe. Wenn wir Korruption als eine dergroßen Herausforderungen auf dem westlichen Balkanbekämpfen wollen, dann brauchen wir gute und hoheUmweltstandards und Reformen, die die Einhaltung die-ser Standards auch sicherstellen.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9744 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. Sie sind damit ein-
verstanden? – Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 23 auf:
Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrat
eingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Stär-
kung der Täterverantwortung
– Drucksache 17/1466 –
Beschlussempfehlung und Bericht des Rechtsaus-
schusses
– Drucksache 17/10164 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Ansgar Heveling
Dr. Eva Högl
Jörg van Essen
Halina Wawzyniak
Jerzy Montag
Auch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.
„Heinrich, mir graut vor dir“ – so wendet sich in ei-ner berühmten Passage in Goethes Faust Margareteangstvoll an den von ihr so geliebten Heinrich. Es gehthierbei um Angst, um latente Aggressionen, um Aus-einandersetzungen in einem Nähe- und Beziehungsge-flecht. Es geht um genau die Situationen, für den derheute zur Schlussabstimmung stehende Gesetzentwurfzur Stärkung der Täterverantwortung ein neues Instru-ment zur Verfügung stellen soll.Er knüpft an Strukturen an, bei denen Gewalt aus ei-nem Beziehungsgeflecht entspringt, dort, wo Täter undOpfer in einer räumlichen und emotionalen Nähe zuein-ander stehen oder gestanden haben und es immer wiederzu gewalttätigen Übergriffen kommt. Zumeist sind dieBeschuldigten dabei Männer. Es geht dabei um Nähebe-ziehungen, die bei den Tätern immer wieder Aggres-sionen und Gewalt hervorrufen. Es geht um Situationen,in denen Frauen vor ihren Männern, vor deren willkür-lichen, gegen sie gerichteten Gewaltakten Angst habenmüssen.So flüchten jährlich rund 45 000 physisch, sexuelloder psychisch misshandelte Frauen mit ihren Kindernin eines der etwa 400 Frauenhäuser oder in ähnlicheZufluchtsorte. Die Dunkelziffer ist dabei sehr hoch. Oft-mals werden die Taten nicht angezeigt, gemeldet oderverbleiben im familiären und privaten Umfeld, ausScham, Angst oder weil die Beziehung trotz der Gewaltfortbestehen bleibt.Die Frage ist, wie wir darauf reagieren. Wir könnenweiter hauptsächlich an den Symptomen ansetzen undallein mit strafrechtlichen Sanktionen reagieren oderversuchen, die Ursachen konsequent mit allen zur Verfü-gung stehenden Möglichkeiten zu bekämpfen – präventivwie repressiv.Es kann uns allen nur daran gelegen sein, dafür zusorgen, dass Gewalt in solchen Nähebeziehungen nichtmehr stattfindet. Strafen allein können dabei nur bedingthelfen. Einen Beitrag dazu liefert der vorliegende Ge-setzentwurf zur Stärkung der Täterverantwortung.
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22478 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Ansgar Heveling
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Ziel ist es, die Handlungsmöglichkeiten der Staatsan-waltschaften und Gerichte im leichten und mittleren Kri-minalitätsbereich zu erweitern, dort, wo Gewalt in ei-nem Geflecht von häuslicher Nähe eine immerwiederkehrende Spirale ist, dort, wo Täter und Opfer ineiner räumlichen und emotionalen Nähe zueinander ste-hen oder gestanden haben.Ziel ist es, diese Gewalt in den Griff zu bekommen.Daher setzt das Gesetz sinnvollerweise an zwei Stellenan: Erstens sieht es vor, die Einstellung durch Erteilungeiner Weisung, an einem Trainingsprogramm teilzuneh-men, in § 153 a StPO zu ermöglichen, und zweitens istgeplant, eine Erweiterung der Verwarnung mit Strafvor-behalt durch die Erteilung der Anweisung, an einem Tä-terprogramm teilzunehmen, in § 59 a Abs. 2 StGB vorzu-nehmen.In der gängigen Kommentierung zur Strafprozessord-nung von Lutz Meyer-Großner heißt es zum Hintergrundder Einstellungen nach § 153 a StPO: „Es handelt sichum ein zweckmäßiges vereinfachtes Erledigungsverfah-ren im Bereich der kleineren und mittleren Kriminalitätmit Beschleunigungs- und Entlastungseffekt, um verur-teilungslose Friedensstiftung in diesem Bereich ohneVerzicht auf Sanktionen, aber ohne Strafe oder Vorbe-straftsein.“
Genau das wollen wir doch erreichen: die nachhal-tige Befriedung des häuslichen familiären Lebensbe-reichs. Gleichzeitig sollen aber die Sanktionen dem Op-fer zeigen, dass der Beschuldigte etwas tun muss, alsonicht sanktionslos bleibt.Täterarbeit ist Gewaltprävention und damit im Inte-resse des Opfers. Oftmals sind die Täter aber offenbarnicht in der Lage, sich freiwillig ihre Situation einzuge-stehen und selbst Maßnahmen einzuleiten, die eine Ver-haltensänderung bewirken könnten. Häufig scheintihnen die Einsicht zu fehlen, und sie verleugnen undverdrängen ihre Gewalttaten.Daher sind Geldauflagen oder die Verhängung vonGeldstrafen oder Geldbußen unter Umständen nichtsehr erfolgversprechend. Der Täter kauft sich von seinerSchuld frei oder bezahlt seine Strafe. Eine Änderung sei-ner Wahrnehmung oder seines Verhaltens wird dadurchhäufig aber nicht erreicht. Folge ist, dass sich das Opferweiterhin der Gewalttätigkeit des Täters ausgesetzt siehtund die Justiz sich weiterhin mit dem Täter befassenmuss.Mit den vorgesehenen Ergänzungen in der Strafpro-zessordnung sowie im Strafgesetzbuch werden die Täterdurch justizielle Weisungen im Rahmen von Ermittlungs-oder Strafverfahren daher zukünftig gezwungen, an ei-nem Täterprogramm teilzunehmen. Dadurch wird denTätern ermöglicht, Einsicht in das Unrecht zu gewinnen,die Ursachen des gewalttätigen Handelns zu erkennenund eine Änderung des Verhaltens zu erarbeiten.Durch die justiziell erzwungen Maßnahmen wird aberauch der Motivationsdruck der Täter, an einem solchenTäterprogramm teilzunehmen, erhöht:Bei der vorläufigen Einstellung des Verfahrens– §153 a StPO – besteht der Motivationsdruck des Tä-ters, ein Strafverfahren und eine Strafe zu vermeiden.Bei der Verwarnung mit Strafvorbehalt – § 59 a StGB –besteht der Motivationsdruck, dass die Strafe ansonstenvollstreckt wird.Der Täter soll im Rahmen eines Trainingsprogrammsdie in ihm aufkommende Aggression frühzeitig erken-nen, sie beherrschen und diese Gewalt kontrollieren ler-nen. Er soll die Fähigkeit zur Verantwortungsüber-nahme und zur Selbstkontrolle vermittelt bekommen.Eine längerfristige und nachhaltige Einwirkung aufdie Lebens- und Verhaltensweisen des Täters kommtdem Opfer zugute und soll eine Befriedung der gewalt-geprägten Beziehung zwischen Täter und Opfer errei-chen.Dies gilt aber nicht nur für Täter häuslicher Gewalt.Vielmehr sollen im Interesse eines effektiven Opfer-schutzes diese Möglichkeiten nicht nur auf diese Berei-che beschränkt bleiben, sondern auch auf andere Fälleangewendet werden können, in denen sich die Täterpro-gramme als geeignet erweisen.Die dafür im Gesetzentwurf vorgesehene Frist be-trägt ein Jahr. Die Abweichung von der sonst in § 153 aStPO vorgesehenen Frist von sechs Monaten zur Erfül-lung von Auflagen und Weisungen – mit Ausnahme derUnterhaltspflichtverletzungen, für die aus anderenGründen eine Jahresfrist gilt – ist deshalb sinnvoll, weilnur so eine dauerhafte und nachhaltige Verhaltensände-rung beim Täter möglich ist. Die von der Bundesarbeits-gemeinschaft „Täterarbeit Häusliche Gewalt“ 2007 er-arbeiteten bundesweiten Qualitätsstandards sehen vor,dass der Täter mindestens ein sechsmonatiges Täterpro-gramm durchlaufen sollte. Diesem halbjährlichen Pro-gramm geht ein Aufnahmeverfahren voraus, und esschließt sich ein sogenannter Follow-up an.Mit den im Gesetzentwurf vorgesehenen Möglichkei-ten erweitern wir den Handlungsspielraum der Staats-anwaltschaften und Gerichte, um angemessen, effektiv,zielgenau, nachhaltig und individuell auf die Persön-lichkeit des Täters und auf sein strafbares Verhalten re-gieren zu können. Dabei werden die Gerichte die Bezie-hungen zwischen Opfer und Täter und auch die Belangedes Opfers gewichten müssen. Denn eines ist auch klar:Die Täter begehen strafrechtlich relevante Gewalttaten.Und Strafrecht hat auch die Funktion der Sühne – undGenugtuung für die Opfer.Sühne und Genugtuung können aber auch aus Sichtdes Opfers dadurch erfolgen, dass der Täter ein solchesTäterprogramm ernsthaft und für eine längere Dauerdurchlaufen muss und mit dem Ziel abschließt, künftigkeine Gewalt mehr gegen das Opfer oder andere Men-schen zu verüben.Auf der anderen Seite bedeutet dieses Trainingspro-gramm für die Täter aber auch eine letzte Chance, eineÄnderung ihrer Einsicht und ihres Verhalten herbeizu-führen, bevor der Täter bestraft und vorbestraft seinwird.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22479
Ansgar Heveling
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Lassen Sie uns mit dem Gesetz die Ursachen bekämp-fen in der Hoffnung, dass die Täterprogramme erfolg-reich verlaufen und helfen, Gewalt zu verhindern.
Das moderne Strafrecht ist stärker von dem Ziel derVerbrechensvorbeugung geprägt als von dem Ziel derSühne für die begangene Tat und der Wiederherstellungder Rechtsordnung. Dies sind zweifellos zentrale Funk-tionen des Strafrechtes. Die Verbrechensvorbeugung hatjedoch für die Sicherheit und für die Aufrechterhaltungder Rechtsordnung eine überragende Bedeutung. Wennes gar nicht erst zu einer Straftat kommt, kommt es auchnicht zu einer Störung der Rechtsordnung.Zweifellos hat die Strafandrohung eine abschre-ckende und damit eine präventive Wirkung. Dies gilt so-wohl im generalpräventiven Sinn als auch im konkretenFall für einen potenziellen Täter, der eine bestimmte Tatbegehen will. Dazu gehört aber, dass die Strafverfol-gung effektiv ist. Durch den Gesetzestext allein lässt sichder Täter nicht beeindrucken. Aber auch wenn beideszusammen kommt, die Strafandrohung und die Gefahrdes Entdecktwerdens, werden viele Täter von ihren Ta-ten dennoch nicht abgehalten. Das haben wir bei derBekämpfung des Terrorismus und der organisierten Kri-minalität erfahren müssen. Solche Straftaten könnenkaum durch Strafandrohung, sondern vielmehr durch dievorzeitige Aufdeckung von Anschlagsplänen verhindertwerden, also durch präventive Maßnahmen.Prävention ist deshalb die wichtigste Aufgabe in derBekämpfung von Straftaten. Genau diesem Ziel widmetsich der vorliegende Gesetzentwurf. Darin geht es umdie Verbesserung der sogenannten Täterarbeit. Durchentsprechende Programme sollen, wie es in der Begrün-dung des Entwurfs heißt, „Verhaltens- und Wahrneh-mungsveränderungen auf Täterseite“ bewirkt werden.Der Täter soll dazu angemahnt werden, Verantwortungfür seine Tat zu übernehmen und mehr Selbstkontrolleeinzuüben. Dies soll im Rahmen von Ermittlungs- undStrafverfahren durch die Teilnahme an entsprechendenProgrammen – in der Regel sind dies soziale Trainings-kurse mit bester Besetzung – erreicht werden. Dadurchsoll der Täter die Fähigkeit erlangen, sich künftig nichtgewaltbereit, sondern kontrolliert und gewaltfrei in ei-ner Konfliktsituation zu verhalten. Dies gilt insbeson-dere im häuslichen Bereich und richtet sich in der Regelan Männer.Das Problem „Häusliche Gewalt“ darf nicht unter-schätzt werden. Gewalt in den eigenen vier Wänden hates immer gegeben. Sie war aber nicht so häufig. Oft al-lerdings haben sich Frauen ihrem Schicksal ergeben. In-zwischen jedoch gehört die Gewalt im häuslichen Be-reich für viele Frauen und Kinder zum Alltag. Jährlichsuchen 45 000 sexuell und psychisch misshandelteFrauen in den 600 Frauenhäusern Zuflucht. Dazu ge-hört eine große Dunkelziffer, da längst nicht alle Ge-walttaten gemeldet werden.In den letzten zwanzig Jahren wurden Trainingspro-gramme entwickelt, um die gewalttätigen und gewaltbe-reiten Männer zu einer Veränderung ihres Verhaltens zubringen. Wird diese Veränderung erreicht, haben solcheMaßnahmen eine viel größere Wirkung als zum Beispieleine Geldstrafe, wie sie in solchen Fällen insbesonderebei Ersttätern üblich ist. Oft auch trifft die Geldstrafenicht nur den Täter, sondern auch das Opfer, weil weni-ger Geld in der Haushaltskasse ist. Durch das vorge-nannte Trainingsprogramm kann daher aus mehrfachemGrund ein besserer Opferschutz erlangt werden.Beim vorliegenden Gesetzentwurf geht es um die Ver-besserung und die Erweiterung der Möglichkeiten, Straf-täter über staatsanwaltschaftliche oder gerichtlicheWeisungen im Rahmen von Ermittlungs- bzw. Strafver-fahren qualifizierten Täterprogrammen zuzuweisen.Deshalb ist eine Ausweitung der Auflagen im Rahmeneiner Einstellung nach § 153 a StPO und eine Auswei-tung der Auflagen im Rahmen einer Verwarnung mitStrafvorbehalt nach § 59 a StGB vorgesehen. Dabei gehtes um die Teilnahme an einem oben beschriebenen Tä-terprogramm. Unter diesem Täterprogramm wird ein„Unterstützungs- und Beratungsangebot zur Verhaltens-änderung für gewalttätige Männer“ verstanden. Füreine solche „Täterarbeit“ ist nach den Angaben derBundesarbeitsgemeinschaft „Täterarbeit häusliche Ge-walt“ ein längerer Zeitraum, als die im § 153 a StPOvorgesehenen 6 Monaten notwendig. Daher wird dieseFrist auf ein Jahr verlängert.Darüber hinaus wird der Katalog bei einer Verwar-nung mit Strafvorbehalt gemäß § 59 a StGB um dieMöglichkeit der Weisung, an einem Täterprogramm teil-zunehmen, ergänzt.Außerdem wird in § 153 a ein neuer Abs. 4 einge-führt. Es handelt sich dabei um eine Regelung für dieWeitergabe personenbezogener Daten aus dem Strafver-fahren, die nicht den Beschuldigten betreffen. Diese Da-ten dürfen an die mit der Durchführung des Programmeszur Änderung gewalttätigen Verhaltens befasste Stellenur übermittelt werden, „soweit die betroffenen Perso-nen in die Übermittlung eingewilligt haben.“Allerdings ist auch auf die Kritik an dem Gesetzent-wurf hinzuweisen. Man kann durchaus die Auffassungvertreten, dass ein Regelungsbedürfnis nicht besteht. So-weit es nämlich im Rahmen häuslicher Gewalt zu erheb-lichen Straftaten kommt, wird eine Sanktionierung durcheine Auflage nach § 153 a, StPO, eine Verwarnung mitStrafvorbehalt, nicht schuldangemessen sein.Soweit eine Freiheitsstrafe zur Bewährung ausgesetztwird, ist eine Therapieeinweisung jetzt schon möglich.Außerdem verweist die Kritik darauf, dass für dievorgesehene Täterarbeit bundesweit nicht genügendFachkräfte vorhanden sein werden. Darüber hinaus darfnicht übersehen werden, dass bereits jetzt schon in§ 153 a, Abs. 1, Satz 1, Satz 2, Nr. 5 StPO die Möglich-keit vorgesehen ist, dem Beschuldigten die Bemühungenum einen Täter-Opfer-Ausgleich aufzuerlegen.Die Übermittlung von Daten, die nicht den Beschul-digten betreffen, nur mit Einwilligung der betroffenenPersonen ist kaum praktikabel. Dadurch könnten die Er-folgsaussichten des Programms verringert werden. InZu Protokoll gegebene Reden
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22480 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Norbert Geis
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jedem Fall muss es möglich sein, einen Tatvorgang, beidem naturgemäß auch das Opfer beteiligt gewesen ist,ohne Rücksicht auf die Interessen des Opfers an die The-rapiestelle weiterzugeben. Der Gesetzeswortlaut ist in-soweit unklar.Alles in allem gesehen handelt es sich hier jedoch umeinen Gesetzentwurf, der in der Praxis erprobt werdensollte. Es ist davon auszugehen, dass tatsächlich eineVerbesserung im Verhalten der Täter erreicht werdenkann. Insofern ist dem Gesetzentwurf trotz der beschrie-benen Bedenken zuzustimmen.
Häusliche Gewalt, insbesondere Gewalt gegen
Frauen und Kinder, ist nach wie vor an der Tagesord-
nung in vielen Haushalten – auch in Deutschland. Sexu-
elle Übergriffe, psychische Folter oder körperliche
Misshandlungen: Es ist die Aufgabe von uns Parlamen-
tarierinnen und Parlamentariern, für einen umfassen-
den Rechtsrahmen beim Thema Opferschutz zu sorgen.
Wir Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten stehen
bei sämtlichen Straftaten eng an der Seite der Opfer.
Der rheinland-pfälzische Vorschlag zur Stärkung der
Täterverantwortung passierte am 5. März 2010 den
Bundesrat und wurde am 7. April 2011 von uns in erster
Lesung diskutiert. Wir begrüßen die Vorlage des Gesetz-
entwurfes zu diesem wichtigen Thema sehr. Die vorgese-
henen Gesetzesänderungen dienen dem vorbeugenden
Opferschutz und der Verhinderung von Kriminalität, in-
dem die meist männlichen Gewalttäter stärker in die
Verantwortung genommen werden. Der Gesetzentwurf
trägt vor allem dem besonderen Schutzbedürfnis weibli-
cher Opfer Rechnung. Staatsanwältinnen und Staatsan-
wälten sowie Richterinnen und Richtern soll es künftig
möglich sein, dem Straftäter bzw. der Straftäterin die
Teilnahme an einem sozialen Trainingskurs für die
Dauer von bis zu einem Jahr aufzugeben. Ziel dieser
Kurse ist es, Verhaltens- und Wahrnehmungsänderungen
bei den Straftätern zu erreichen, um diese durch die
Stärkung der Selbstkontrolle von der Wiederholung sol-
cher Taten abzuhalten. Insbesondere die Auseinander-
setzung der Täterinnen und Täter mit ihrer Gewaltbe-
reitschaft muss das zentrale Element der Trainingskurse
sein.
Haftstrafen oder Geldstrafen führen nicht zwangsläu-
fig zu einer kritischen und konstruktiven Auseinander-
setzung der Täterinnen und Täter mit ihrem eigenen Ver-
halten. Die sogenannten Täterprogramme setzen genau
hier an, indem sie in individuellen Gesprächen und
Gruppensitzungen die Betroffenen mit ihrem Gewaltver-
halten konfrontieren. Um vor allem Ersttäterinnen und
Ersttäter davor zu bewahren, weitere Straftaten zu bege-
hen, stellen die Trainingsprogramme eine wichtige Mög-
lichkeit dar. So können Täterinnen und Täter von Beginn
an von weiteren Straftaten abgehalten werden. Hierbei
gilt es, ein Abgleiten in verfestigte kriminelle Strukturen
zu verhindern.
Nach § 153 a Strafprozessordnung kann die Staatsan-
waltschaft auch heute schon bei einem Vergehen vorläu-
fig von der Erhebung einer öffentlichen Klage absehen
und stattdessen dem/der Beschuldigten Auflagen und
Weisungen, beispielsweise spezielle Trainings, erteilen.
Gemäß Strafprozessordnung muss eine Weisung inner-
halb der vorgesehenen Sechsmonatsfrist erfüllt sein.
Dieser Zeitrahmen ist jedoch mit Blick auf die Qualitäts-
standards der BAG „Täterarbeit Häusliche Gewalt“
kaum zu realisieren. Straftäterinnen und Straftäter benö-
tigen einen ausreichend langen Prozess zur Änderung
des sozialen Verhaltens. Der zeitliche Prozess der Kurse
mit Vorbereitungen und Aufnahmeverfahren, Follow-up-
Terminen usw. war in der bisherigen Kürze wenig viel-
versprechend. Diese Zeit muss aber gewährleistet sein,
denn ein strukturiertes und professionell durchgeführtes
Programm benötigt in der Regel länger als sechs Mo-
nate. Der nun vorgelegte Entwurf sieht einen deutlich
längeren Zeitraum von bis zu einem Jahr vor. Der Kata-
log der Auflagen und Weisungen in § 153 a Abs. 1 StPO
soll um die Möglichkeit der Teilnahme an einem Täter-
programm erweitert und die Frist um sechs Monate ver-
längert werden. Ein sinnvoller Vorschlag, den wir gerne
unterstützen, ebenso wie die künftige Möglichkeit, auch
bei einer Verwarnung mit Strafvorbehalt die Teilnahme
von Trainings anzuordnen.
Die SPD-Bundestagsfraktion begrüßt darüber hi-
naus, dass der schon feststehende Fachbegriff „Täter-
programm“ durch den Begriff „sozialer Trainingskurs“
ersetzt wird. Damit stimmen wir der Gegenäußerung der
Bundesregierung zu. Zudem halten wir es im Sinne der
Opfer für eine wichtige Regelung, eine gesetzliche
Grundlage für die Übermittlung von personenbezoge-
nen Daten zu schaffen, um dadurch der das Training
durchführenden Stelle die Möglichkeit zu eröffnen, die
Akten über den Sachverhalt einsehen zu können. Die ist
ein wichtiger Punkt, da so einer Verharmlosung der Tä-
terin und des Täters entgegengewirkt werden kann. Tä-
terinnen und Täter können in Zukunft bei ihrer Teil-
nahme an einem Trainingskurs ihr Verhalten nicht
harmloser darstellen, als es eigentlich war. Möglichen
Bagatellisierungstendenzen der Beschuldigten wird so-
mit von Beginn an entgegengewirkt. Wichtig für uns So-
zialdemokratinnen und Sozialdemokraten ist es aber
hier, dass die Daten nur an die mit sozialen Trainings-
kursen betrauten Stellen übermittelt werden dürfen, so-
fern die betroffenen Personen der Übermittlung zuge-
stimmt haben. Der Schutz der persönlichen Daten muss
auch hier an erster Stelle stehen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf werden wichtige
Änderungen zur Stärkung der Täterverantwortung über-
nommen. Im Sinne des Opferschutzes stimmen meine
Fraktion und ich den Gesetzesänderungen gerne zu.
Mit der heutigen zweiten und dritten Beratung zumGesetzentwurf des Bundesrates zur Stärkung der Täter-verantwortung schließen wir eine Initiative aus den Län-dern ab, die zu einer Verbesserung der Möglichkeitenführt, Straftäter über staatsanwaltliche oder gerichtli-che Weisungen qualifizierten Täterprogrammen zuzu-weisen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22481
Jörg van Essen
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Zu begrüßen sind die Änderungsvorschläge des Bun-desministeriums der Justiz.Zum einen wird vorgeschlagen, den vorgesehenen Be-griff „Täterprogramm“ durch den Begriff „sozialerTrainingskurs“ zu ersetzen. Dieser neue Begriff bringtden Sinn und Zweck des Gesetzentwurfs besser zum Aus-druck, da sich – wie die Bundesregierung in ihrer Stel-lungnahme zu Recht kritisiert – mit Blick auf noch nichtverurteilte Personen in einer Gesetzesnorm die Bezeich-nung „Täter“ verbietet.Zum anderen sind die Änderungen, die in einemneuen Abs. 4 des § 153 a StPO eine ausdrückliche ge-setzliche Grundlage für die Übermittlung von personen-bezogenen Daten an die aufgrund einer Weisung mit ei-nem sozialen Trainingskurs befassten Stelle schaffen,sehr zu begrüßen. Das Akteneinsichtsrecht der Mitarbei-terinnen und Mitarbeiter für personenbezogene inhaltli-che Daten des Täters in den Projekten der Täterarbeitist notwendig. Die Kenntnis des Trainers über den Sach-verhalt und die Hintergründe des Täters sind für einewirksame Therapie erforderlich.Es wird jedoch der Umfang der Datenübermittlungauf das Nötigste begrenzt. Durch eine Bezugnahme aufdie vergleichbare Regelung beim Täter-Opfer-Ausgleichwird sichergestellt, dass eine Übermittlung personenbe-zogener Daten, die nicht den Beschuldigten betreffen,nur bei Einwilligung der betroffenen Personen zulässigist. Damit wird den Interessen dieser Personen, insbe-sondere der Opfer, Rechnung getragen. Es wird sicher-gestellt, dass personenbezogene Daten, die gerade beiGewaltproblemen in sozialen Näheverhältnissen sehrsensibler Natur sein können, nur mit Einwilligung derbetroffenen Personen übermittelt werden. Diese Infor-mationen werden in der Regel nur an private Stellenweitergeleitet, die mit der Durchführung des sozialenTrainingskurses befasst sind.Die nun vorgeschlagenen Änderungen beseitigen dieletzten Schwachpunkte des Entwurfs und garantieren so-mit den Erfolg dieser Initiative.
Die Koalition hat sich den Gesetzentwurf des Bundes-rates zur Stärkung der Täterverantwortung zu eigengemacht, und deshalb debattieren wir ihn heute zumzweiten Mal.Was den Konsens anbelangt, auf den wir uns berufenkönnen, so hat sich seit der ersten Lesung nichts geän-dert: Wir sind uns einig darin, dass häusliche Gewalt einsehr ernst zu nehmendes Problem ist. Wir sind uns aucheinig darin, dass die Täterverantwortung gestärkt undvor allem die Präventionsarbeit verbessert werdenmuss. Wir sind uns ebenso darin einig, dass Täterpro-gramme ein guter Ansatz sind, zu Verhaltensänderungenbeizutragen, und dass häusliche Gewalt gesellschaftlichgeächtet werden muss. Wir müssen aber auch konstatie-ren, dass häusliche Gewalt noch immer allzu häufig alsKavaliersdelikt gilt und die Dunkelziffer hoch ist. Verge-waltigung in der Ehe ist erst seit 1997 strafbar.Für das Jahr 2011 hat das Bundeskriminalamt erst-mals ausgewiesen, welche von den insgesamt 662 Men-schen, die Opfer von Mord und Totschlag wurden, mitdem Täter verwandt waren. 26,9 Prozent der Täter wa-ren aktuelle oder ehemalige Lebenspartner der Opfer, inzwei Dritteln dieser Fälle waren Opfer und Täter zur
sagt, dass hierzulande jede vierte Frau zwischen 16 und85 Jahren Erfahrungen mit häuslicher Gewalt machenmusste. Das ist eine erschreckend hohe Zahl, hinter dersich Leid, Demütigung, Hilflosigkeit und viel zu vielGleichgültigkeit verbirgt.Von häuslicher Gewalt Betroffenen muss schnell undunbürokratisch geholfen werden. Aber was passiert bei-spielsweise im Hinblick auf Frauenhäuser? Die Linkefordert eine bundesweit einheitliche Finanzierung derFrauenhäuser und einen ungehinderten Zugang für allebetroffenen Frauen und deren Kinder, unabhängig vonsozialer oder ethnischer Herkunft. Täterprogrammesind notwendig und wichtig, aber die Opfer sollten nichtunberücksichtigt bleiben. Wenn der Rechtsanspruch aufeine Zufluchtsmöglichkeit in allen Fällen von Gewalt alsfreiwillige Leistung gewährt wird, führt dies, auch we-gen der Steuerpolitik der Regierung, zulasten der Kom-munen, häufig zu weitreichenden Kürzungen und damitzur Einschränkung von Schutz- und Hilfsmöglichkeiten.Unser Problem mit dem Gesetzentwurf bleibt weiter-hin ein rechtspolitisches. Unser Problem ist die Fort-schreibung des strafrechtlichen Deals, wie er durch dieVerlängerung der Frist in § 153 a Abs. 1 Satz 2 Nr. 6StPO vorgeschlagen wird. Wir wollen eben nicht die Le-galisierung des Deals, sondern dessen gesetzliches Ver-bot für alle nicht geringfügigen Straftaten.Worum geht es genau? Wir sind uns einig, dass häus-liche Gewalt keine geringfügige Straftat ist. Warum wol-len Sie dann aber die Ausweitung einer bereits bestehen-den Dealregelung? Wenn wir uns einig sind, dass inFällen häuslicher Gewalt zum Opferschutz und zurPrävention Täterprogramme durchzuführen sind mitdem Ziel, Verhaltens- und Wahrnehmungsveränderun-gen vorzunehmen, dann ist nicht nachvollziehbar, dassbei Teilnahme an solchen Programmen das Verfahreneingestellt wird. Das heißt doch nichts anderes als: Dudarfst prügeln, und wenn du danach ein Täterprogrammbesuchst, dann stellen wir das Strafverfahren ein. – Dasist und es bleibt ein Skandal. Solange der Deal im Straf-recht als probates Mittel angesehen wird, können wirdiesem Gesetzentwurf nicht zustimmen.Dem Gesetzentwurf hätte es ebenso gut zu Gesichtgestanden, wenn er umfassender gewesen wäre undgleichzeitig sicherstellen würde, dass genügend gute Tä-terprojekte vorhanden sind. Häufig ist es doch so, dasses keine Therapieplätze gibt und die Prävention und derOpferschutz auch daran scheitern. Allein eine Fest-schreibung in der StPO führt nicht dazu, dass genügendTäterprogramme vorhanden sind, und das erscheint unszumindest als ein mindestens ebenso großes Problem.Wir fordern ein umfassendes Konzept im Umgang mithäuslicher Gewalt. Sie ist kein Kavaliersdelikt und mussZu Protokoll gegebene Reden
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22482 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Halina Wawzyniak
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geächtet werden. Die Ausfinanzierung von Frauenhäu-sern und die Bereitstellung von Täterprogrammen sindnotwendige Maßnahmen, die auch unterstreichen wür-den, dass wir es mit unserem Anliegen ernst meinen.
Die Aufnahme von Programmen zur Veränderung ge-
walttätigen Verhaltens in die Weisungskataloge des
§ 153 a StPO und des § 59 a StGB ist eine längst über-
fällige Öffnung hin zu einem modernen Strafrecht. Ge-
rade bei gewalttätigem Verhalten können Programme,
die sich mit pädagogisch-therapeutischen Ansätzen der
Reduktion von Agressionspotenzialen nähern, erfolg-
reich einen wesentlichen Beitrag zum zukünftigen Op-
ferschutz leisten. Der Intention des Gesetzentwurfs des
Bundesrates stimmen wir zu. Natürlich kann dies jedoch
nur der Anfang einer Reform des Sanktionenrechts sein,
in welcher sich das deutsche Strafrecht zu den Vorteilen
der Diversion bekennt und zielführende Konzepte als Er-
satz oder Vorstufe für Geld- oder Freiheitsstrafen vor-
legt.
Begrüßenswert ist ebenfalls, dass die Koalitionsfrak-
tionen sich in ihrem im Ausschuss vorgelegten Ände-
rungsantrag von dem Begriff des Täterprogramms ent-
fernen, dessen Verwendung sich im Zusammenhang mit
nicht rechtskräftig verurteilten Beschuldigten verbietet.
Es ist ihnen aber nicht gelungen, einen Begriff zu wäh-
len, der das Ziel dieses Gesetzentwurfs, nämlich die
Prävention von gewalttätigem Verhalten, deutlich
macht. Der von der Koalition als Ersatz für „Täterpro-
gramme“ vorgeschlagene Begriff des sozialen Trai-
ningskurses orientiert sich an der im Jugendstrafrecht
bereits eingeführten Weisung des § 10 Abs. 1 Nr. 6 JGG.
Der Erziehungsgedanke des Jugendstrafrechts, der sich
im Begriff des sozialen Trainingskurses widerspiegelt,
ist jedoch im Erwachsenenstrafrecht fehl am Platze.
Im Sanktionenrecht für Erwachsene geht es nicht da-
rum, mithilfe eines sozialen Trainings Erziehungsdefi-
zite von erwachsenen Delinquenten auszugleichen. Viel-
mehr soll die Weisung explizit auf ein Programm zielen,
welches ein gewaltzentriertes und konfrontatives Unter-
stützungs- und Beratungsangebot zur Veränderung des
gewalttätigen Verhaltens von Beschuldigten bietet, um
so zukünftige Gewalt zu verhindern. Die Gewähr dieser
Inhalte bietet der Begriff des sozialen Trainingskurses
jedoch gerade nicht. Deshalb haben wir in unserem im
Ausschuss vorgelegten Änderungsantrag vorgeschla-
gen, den Begriff des Täterprogramms nicht gegen den
des sozialen Trainingsprogramms, sondern gegen den
Begriff des Programms zur Veränderung gewalttätigen
Verhaltens auszutauschen. Nur so wird die Zielsetzung
der Weisung – nämlich gerade die Gewaltprävention
insbesondere im häuslichen Bereich – zur Genüge deut-
lich gemacht.
Wir stimmen ausdrücklich der Forderung der Bun-
desregierung zu, den Gesetzentwurf dahin gehend zu än-
dern, dass personenbezogene Daten im Rahmen des
§ 155 b StPO mit Einwilligung des Beschuldigten an die
mit der Durchführung solcher Programme zur Verände-
rung gewalttätigen Verhaltens befassten Stelle weiterge-
geben werden können. Die für ein erfolgreiches Pro-
gramm zur Veränderung gewalttätigen Verhaltens
notwendige Hintergrundinformationen zum Sachverhalt
dürfen nur mit Einwilligung des Sanktionierten weiter-
gegeben werden, gerade weil die weiterzugebenden Da-
ten teilweise hochsensibel und persönlich sind.
Leider bleibt der Vorschlag der Koalition im Bereich
der Fristenregelung des § 153 a StPO hinter dem Erfor-
derlichen zurück. Gerade in Fällen der Weisung der
Wiedergutmachung des verursachten Schadens oder der
Zahlung eines Geldbetrags an eine gemeinnützige Ein-
richtung löst die gesetzliche Frist von höchstens sechs
Monaten bei vielen Beschuldigten eine erhebliche Über-
forderung aus. In unserem Änderungsantrag haben wir
aus diesem Grund eine Angleichung der Frist zur Erfül-
lung aller Weisungen an die für die Weisung der Leis-
tung von Unterhaltszahlungen gegebene Frist von zwölf
Monaten gefordert. Diesem sinnvollen und notwendigen
Signal an die Beschuldigten hat sich die Bundesregie-
rung leider verwehrt.
Der Schritt der Bundesregierung hin zur Öffnung des
Sanktionenrecht gegenüber der Diversion ist begrüßens-
wert. Leider ist die Umsetzung hinter dem Notwendigen
zurückgeblieben. Unsere Änderungsanträge lehnen Sie
ab. Wir werden uns deshalb zum Gesetzentwurf des Bun-
desrates enthalten.
Wir kommen zur Abstimmung. Der Rechtsausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/10164, den Gesetzentwurf des Bundesrates aufDrucksache 17/1466 in der Ausschussfassung anzuneh-men. Ich bitte diejenigen, die dem Gesetzentwurf in derAusschussfassung zustimmen wollen, um ihr Handzei-chen. – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – DerGesetzentwurf ist damit in zweiter Beratung angenom-men.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 30 auf:Beratung des Antrags der Fraktionen SPD undBÜNDNIS 90/DIE GRÜNENRentenzahlungen für Beschäftigungen in ei-nem Ghetto rückwirkend ab 1997 ermöglichen– Drucksache 17/10094 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
InnenausschussRechtsausschussFinanzausschussHaushaltsausschussAuch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22483
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Zum System der menschenverachtenden und men-schenvernichtenden Politik des Naziregimes gehörteauch die Einrichtung von Ghettos, in dem vor allem jü-dische Mitbürgerinnen und Mitbürger unter zum Teil er-bärmlichen Bedingungen zusammengepfercht wurden.Einen dramatischen Einblick in das Warschauer Ghettogab uns in diesem Jahr im Deutschen Bundestag MarcelReich-Ranicki mit seiner Rede zum Tag des Gedenkensan die Opfer des Nationalsozialismus. Eine ganze Reihevon Frauen und Männern, die den Naziterror und dieGhettozeit überlebt haben, leben noch heute hochbetagtunter uns. Sie waren damals als Kinder in die Ghettosverbracht worden.Im Jahr 2002 hat der Deutsche Bundestag das Gesetzzur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen ineinem Ghetto, ZRBG, verabschiedet. Damit solltenArbeitsleistungen von Verfolgten in den vom DrittenReich eingerichteten Ghettos als „Beschäftigung“ ge-wertet werden, für die Renten aus der gesetzlichen Ren-tenversicherung zu zahlen sind. Damit wurde fraktions-übergreifend entschieden, eine gesetzliche Grundlage zuschaffen, um die in einem Ghetto ausgeübte Tätigkeitrentenrechtlich als Beitragszeit zu berücksichtigen.In der Folge dieses Gesetzes wurden aus aller Weltmehr als 70 000 entsprechende Anträge gestellt, davonetwa 30 000 aus Israel und mehr als 10 000 aus den USAund Kanada. Weitere 1 000 Anträge gingen nicht sofort,sondern erst Jahre später bei den deutschen Rentenver-sicherungsträgern ein. Wenn ein Antrag bis Mitte 2003gestellt wurde, sollten die Ansprüche von monatlichmeist 100 bis 300 Euro rückwirkend ab Juli 1997 ausge-zahlt werden.In der ersten Antragswelle bis 2009 wurden aller-dings rund 90 Prozent der Anträge abgelehnt, weil nachdem Vortrag der Antragsteller die gesetzlichen Voraus-setzungen des ZRBG nicht nachgewiesen oder glaubhaftgemacht werden konnten. Das Gesetz sieht nach seinemWortlaut vor, dass eine Rentenzahlung für Zeiten der Be-schäftigung von Verfolgten in einem Ghetto, die sichdort zwangsweise aufgehalten haben, nur bezahlt wird,wenn die Beschäftigung „aus eigenem Willensentschluss“zustande gekommen ist und „gegen Entgelt“ ausgeübtwurde und sich das Ghetto in einem Gebiet befand, dasvom Deutschen Reich besetzt oder diesem eingegliedertwar. Hintergrund dieser Voraussetzungen war es, eineAbgrenzung zur Zwangsarbeit herzustellen, die geson-dert zu entschädigen ist.Rückblickend muss man sagen, dass die in den erstenJahren nach dem Inkrafttreten des Gesetzes praktizierterestriktive Rechtsprechung zu den Voraussetzungen der„Freiwilligkeit“ und „Entgeltlichkeit“ viel zu spät kor-rigiert worden ist. Erst mit den grundlegenden Urteilenvom 2. und 3. Juni 2009 haben die Rentensenate desBundessozialgerichts neue, einfachere Leitlinien zurAuslegung dieser beiden Kriterien aufgestellt und dieKriterien im Lichte der Verhältnisse in den Ghettos aus-gelegt. Vorausgegangen waren Untersuchungen überdie Arbeitsbedingungen in den verschiedenen Ghettos.Damit konnten die hohen Ablehnungsquoten für die Zu-kunft vermieden werden; und es wurde sichergestellt,dass die eigentliche Zielsetzung, nämlich den im GhettoBeschäftigten eine gesetzliche Rente zuzusprechen, nichtins Leere läuft. Das Gesetz zur Zahlbarmachung vonRenten aus Beschäftigungen in einem Ghetto ist damitzu einer wichtigen Grundlage geworden, die Menschen,die in den Ghettos arbeiten und um ihr Überleben kämp-fen mussten, in der gesetzlichen Rentenversicherung zuberücksichtigen.Im Sinne der neuen Rechtsprechung hat die DeutscheRentenversicherung alle im Juni 2009 noch offenen Ver-fahren bearbeitet. Alle Anträge, die zuvor abgelehntworden sind, wurden von Amts wegen erneut aufgegrif-fen und überprüft, ohne dass es eines neuen Antragsoder der Meldung durch den oder die Betroffenen be-durfte. Die zuständigen Träger der Deutschen Renten-versicherung haben sich direkt mit den Betroffenen inVerbindung gesetzt, wobei sich die Bearbeitungsreihen-folge nach den Geburtsjahrgängen der Betroffenen rich-tete.Insgesamt wurden 56 753 Anträge überprüft, wobeibei knapp 7 200 Fällen festgestellt werden musste, dassder Bezug zum ZRBG fehlt. Von den verbleibenden49 600 Fällen wurden rund 25 000 mit positivem Bewil-ligungsbescheid abgeschlossen. 3 000 Anträge wurdenabgelehnt. Etwa 22 000 Anträge konnten leider nicht miteinem Bescheid abgeschlossen werden, weil die Betrof-fenen zum Beispiel verstorben und die Rechtsnachfolgernicht ermittelt werden konnten, rund 7 000 Fälle, weil esaufgrund der Prüfung zu keinem anderen Ergebnis kamund der ursprüngliche Ablehnungsbescheid weiter Gel-tung behielt, 4 200 Fälle, oder weil die Überprüfung be-reits an der Kontaktaufnahme mit den Betroffenen schei-terte, 10 000 Fälle.Von diesen gemäß dem Urteil des Bundessozialge-richts vom Juni 2009 überprüften und bewilligten25 000 Anträgen waren 3 500 wegen der Rechtsbehelfs-belehrung noch offene Fälle, für die Rente ab Juli 1997gezahlt werden konnte. Für die restlichen 21 500 Betrof-fenen wurde die Rückwirkung auf vier Jahre bis 2005gerechnet.Insgesamt wurde ein Rentenvolumen von über441 Millionen Euro nachgezahlt, davon 54 MillionenEuro an Zinsen. Die laufenden monatlichen Rentenzah-lungen belaufen sich auf rund 5 Millionen Euro.Für die bis Juni 2009 bestandskräftig abgelehntenAnträge wurde der im Sozialrecht für diese Fälle gel-tende § 44 SGB X herangezogen, der generell eine Rück-wirkung auf vier Jahre vorsieht. Diese Begrenzung solldie Rentenversicherung vor beitragssatzrelevanten un-vorhergesehenen Ansprüchen schützen und für längereVergangenheitszeiträume Rechtsfrieden schaffen. Es istdamit eine allgemein gültige Regelung im deutschen So-zialrecht.Nach § 44 Abs. 1 SGB X hat jeder einen Anspruch auferneute Überprüfung, wenn sich ein früherer Bescheidzu seinen Ungunsten als rechtswidrig erweist. In Abs. 4der Vorschrift ist ferner geregelt, dass die Verwaltungdie Leistung für vier Jahre zurück zu erbringen hat,Zu Protokoll gegebene Reden
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22484 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Peter Weiß
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wenn wegen der falschen Entscheidung Sozialleistungenzu Unrecht nicht gezahlt worden sind.Die Betroffenen fordern allerdings abweichend vondieser allgemein gültigen Regelung eine Rückwirkungbis 1997, wie dies in § 3 Abs. 1 ZRBG für bis zum30. Juni 2003 gestellte Anträge vorgesehen ist, und ha-ben dazu teilweise den Klageweg beschritten. Die An-wendung der Vierjahresfrist haben der 5. und der 13. Se-nat des Bundessozialgerichts in der Vergangenheit inmehreren Fällen entschieden, zuletzt in einem Urteilvom Februar 2012, dessen Begründung seit Mai 2012vorliegt.Bei denen, deren Anträge schon einmal bindend ab-gelehnt worden waren, wurde die Vierjahresfrist ange-wendet, die das Sozialrecht gemäß § 44 SGB X vorsieht,der eine materiell-rechtliche Einschränkung für nach-träglich zu erbringende Sozialleistungen vorsieht. ImGegensatz zu § 100 Abs. IV SGB VI, der als Sonderrege-lung zu § 44 SGB X die Rücknahme rechtswidriger nichtbegünstigender Verwaltungsakte im Bereich des SGB VIregelt, haben die Rentenversicherungsträger damit be-reits die günstigere Regelung angewandt. So wird nach§ 44 SGB X eine rückwirkende Leistungserbringungnicht wie bei § 100 Abs. IV SGB VI quasi ausgeschlos-sen, sondern auf einen maximalen Zeitraum von vierJahren begrenzt. Hintergrund dieser Regelung ist derAusgleich zwischen den Interessen des Einzelnen an ei-ner möglichst vollständigen Erbringung der ihm zu Un-recht vorenthaltenen Sozialleistungen und dem Interesseder Solidargemeinschaft an einer Eingrenzung der Zeit-räume und damit der Kalkulierbarkeit der finanziellenBelastungen.In der jetzt kürzlich erschienenen Urteilsbegründungdes 13. Senats wird im Gesamtzusammenhang auch da-rauf hingewiesen, dass die Berechtigten, die die Renteab 2005 erhalten, einen höheren Zugangsfaktor zuge-rechnet erhalten, also höhere Rentenzuschläge bekom-men als bei einem Rentenbeginn im Jahr 1997. DieseRentenzuschläge resultieren aus den Zuschlägen für je-den Monat, den die Rente nach dem 65. Lebensjahr nichtbezogen wurde. Dadurch kann ein um 45 Prozent höhe-rer Rentenbezug ausbezahlt werden, als er sich bei ei-nem Rentenbezug bereits ab 1997 ergeben würde. ImHinblick auf die Lebenserwartung der Betroffenen stehtdamit die Frage im Raum, ob es nun sinnvoller ist, weni-ger monatliche Rente für mehr Jahre zu erhalten odermehr Rente für weniger Jahre, die aber auch in Zukunftin dieser Höhe monatlich bezahlt wird.Deshalb rate ich uns dazu, keinen Prinzipienstreit zuführen über die Fragen der Rückwirkung. Für die Be-troffenen ist doch wesentlich, dass sie aktuell eine ange-messene Rentenzahlung erhalten. Dank dem höheremZugangsfaktor kann auch bei nur vierjähriger Rückwir-kung eine insgesamt sogar höhere Rentenleistung be-gründet werden. Finanziell wird in der Regel also kaumeine Schlechterstellung bewirkt.Hinzu kommt, dass die Berechtigten nach dem Gesetzzur Zahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen ineinem Ghetto neben einer Ghettorente eine einmaligeAnerkennungsleistung von 2 000 Euro vom Bundesamtfür zentrale Dienste und offene Vermögensfragen nachder Anerkennungsrichtlinie vom 1. Oktober 2007 erhal-ten. Diese Richtlinie ist ursprünglich 2007 als Alterna-tive zur Ghettorente geschaffen worden, nachdem rund90 Prozent der Anträge abgelehnt worden waren. DieAnerkennungsleistung wird aber seit der Änderung derRichtlinie im Juli 2011 zusätzlich zu der Ghettorente be-zahlt. Anträge auf diese Anerkennungsleistung könnenunbefristet gestellt werden.Nun wird unter anderem vorgeschlagen, denjenigen,für die die vierjährige Rückwirkung gilt, eine weitereEinmalleistung zu gewähren. Dies birgt die Schwierig-keit, dass dadurch alle Fälle, die von vornherein positivbeschieden worden sind, schlechter gestellt würden,ebenso diejenigen, die ihre Anträge erst später gestellthaben, und es würden somit neue Ungerechtigkeitenhervorgerufen.Hinzu kommt, dass auch die Höhe der Einmalleistungnicht bestimmbar ist. Wählt man eine pauschalierte Ein-malzahlung, würde man außer Acht lassen, dass die der-zeitigen monatlichen Renten sehr unterschiedlich sind.So gibt es Rentnerinnen und Rentner, die lediglich25 Euro Ghettorente erhalten, aber auch solche, dieüber 300 Euro erhalten. Ein einheitlicher Einmalbetragwäre hier wohl kaum nachvollziehbar. Bei individuali-sierten Lösungsvorschlägen oder Wahlrechtmöglichkei-ten stellt sich das Problem der Einzelberechnung, desbürokratischen Aufwandes im Verhältnis zum Nutzen;denn es ist rechnerisch durchaus denkbar, dass sich füreinige Betroffene auch eine schlechtere als die derzei-tige Lösung ergeben könnte.Rentenmathematisch führt die derzeitige Rechtslagefür einen Großteil der Fallgruppen bereits zu einer inder Gesamtschau ausgeglichenen Lösung, indem derversicherungsmathematische Ausgleich für diejenigeGruppe, die unter § 44 SGB X fällt, durch den erhöhtenZugangsfaktor inklusive zusätzlichen Zinsen für denspäteren Rentenbeginn die verlorenen Jahre ab Juli1997 ausgleicht. Weitere Änderungen würden wahr-scheinlich wieder zu neuen Benachteiligungen oder un-gewollten Verschiebungen führen.Wir sollten in den Ausschussberatungen diese Ge-sichtspunkte nochmals gemeinsam genau prüfen und be-raten. Und wir sollten dabei beachten, dass es nicht nurum die richtige Rentensystematik oder Prinzipienreitereigeht; es geht darum, Menschen, die durch das Nazire-gime ins Ghetto gezwungen wurden, ein Stück Gerech-tigkeit durch eine Rentenleistung widerfahren zu lassen.
Erst vor einigen Monaten, am 26. Januar dieses Jah-res, haben wir die Probleme bei der rückwirkendenAuszahlung der Renten nach dem ZRBG – Gesetz zurZahlbarmachung von Renten aus Beschäftigungen in ei-nem Ghetto – hier im Haus beraten. Anlass war einAntrag der Fraktion Die Linke, der für alle fristgerechtgestellten Anträge nach dem ZRBG die Zahlung einerRente, wie im Gesetz vorgesehen, ab 1997 fordert.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22485
Anton Schaaf
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Im Januar hatten wir noch gehofft, dass die für den7. und 8. Februar 2012 angekündigten Urteile des Bun-dessozialgerichts die gängige Rechtsanwendung nichtbestätigen, wonach zunächst bindend abgelehnte An-träge und die, die nach Urteilen des BSG aus dem Jahr2009 überprüft wurden, erst ab 2005 und nicht bereitsab 1997 gezahlt werden dürfen. Leider ist es anders ge-kommen. Ein politisches Eingreifen hat sich damit aberkeineswegs erübrigt, sondern ergibt sich gerade auchaus den Urteilsbegründungen.Die beiden Urteile des BSG haben die gängigeRechtsanwendung bestätigt, was der ursprünglichenIntention des Gesetzgebers aber widerspricht. Daherlegen wir heute unseren Antrag „Rentenzahlungen fürBeschäftigungen in einem Ghetto rückwirkend ab 1997ermöglichen“ vor, der den Betroffenen helfen soll, ihreAnsprüche tatsächlich zum frühestmöglichen Zeitpunktgeltend zu machen. Tun wir nichts, bleibt es bei der pa-radoxen Situation, dass nur ein kleiner Teil der Berech-tigten trotz fristgerechter Antragstellung in den Genusseiner Rente ab 1997 kommt: Rund 21 500 Personen er-halten ihre Rente erst ab dem Jahr 2005 und nur rund3 500 ab dem Jahr 1997.Die Gewährung der sogenannten Ghettorente ergänztdas bestehende Entschädigungsrecht nach Zwangsar-beit und ist damit Teil deutscher Wiedergutmachungnach dem Terror der Nationalsozialisten. Das im Jahr2002 verkündete ZRBG regelt die Voraussetzungen.Leistungen werden bei rechtzeitiger Antragstellung ab1997 gewährt, dem Beginn der „Ghettorechtspre-chung“. Wer bis zum 30. Juni 2003 einen Antrag aufGhettorente gestellt hat, soll, unabhängig vom Zeitpunktder tatsächlichen Bewilligung, ab 1997 auch Leistungenerhalten.Leider führten die folgenden Anträge auf eine Rentenach dem ZRGB in den allermeisten Fällen zu einerAblehnung. Insbesondere die in der gesetzlichen Renten-versicherung geltenden Kriterien der „Freiwilligkeit“sowie der „Entgeltlichkeit“ waren kaum zu erfüllen.Erst im Jahr 2009 lockerte das BSG die Auslegung.Noch zuvor war am 1. Oktober 2007 vor dem Hinter-grund der sehr hohen Ablehnungsquote der Anträgenach dem ZRBG eine Richtlinie der Bundesregierungerlassen worden. Seitdem können Verfolgte im Sinne des§ 1 des Bundesentschädigungsgesetzes, die sich zwangs-weise in einem Ghetto im nationalsozialistischen Ein-flussgebiet aufhielten, eine einmalige Leistung in Höhevon 2 000 Euro erhalten, wenn für diese Arbeit keineLeistung im Rahmen der Entschädigung nach Zwangs-arbeit gezahlt wurde.Im Nachgang zu den Urteilen des BSG von 2009 hatdie Deutsche Rentenversicherung eine Überprüfung derabgelehnten Anträge vorgenommen, die weitgehend ab-geschlossen ist. Mehrere Tausende Berechtigte erhaltennun Renten nach dem ZRBG. Darunter befinden sichviele, deren Anträge vor der Änderung der Rechtspre-chung bereits einmal bindend abgelehnt worden waren.Genau hier liegt der wunde Punkt: Für diese Antragstel-ler begannen die Rentenzahlungen nicht rückwirkendzum 1. Juli 1997, wie dies § 3 Abs. 1 ZRBG für bis zum30. Juni 2003 gestellte Anträge vorsieht. Vielmehr ha-ben die Rentenversicherungsträger die Renten erst ab1. Januar 2005 gezahlt, wenn aufgrund der neuenRechtsprechung im Jahr 2009 überprüft wurde. Insofernkam § 44 SGB X zur Anwendung. Nach dessen Abs. 1hat jeder einen Anspruch auf erneute Überprüfung,wenn sich ein früherer Bescheid zu seinen Ungunsten alsrechtswidrig erweist. In Abs. 4 der Vorschrift ist darüberhinaus festgelegt, dass dann Leistungen für vier Jahrerückwirkend zu erbringen sind.Genau diese Praxis bestätigte das BSG im Februardieses Jahres. Das Urteil des 13. Senats des BSG siehtdie Prinzipien der Wiedergutmachung durch die Begren-zung der rückwirkenden Auszahlung auf vier Jahre nach§ 44 Abs. 4 SGB X nicht verletzt, soweit die Verfahrenbestandskräftig waren, weil es sich um renten- bzw. so-zialversicherungsrechtliche Belange handelt. Ein Son-derstatus wird daher für das ZRBG nicht anerkannt.Zum anderen weist der Senat auf die Wirkung des er-höhten Zugangsfaktors hin, der bei einem zeitlichenAufschub des Rentenbeginns den Zahlbetrag steigertund somit einen Teilausgleich für den späteren Beginnder Rentenauszahlung bietet. Der erhöhte Zugangsfak-tor honoriert über einen Zuschlag von monatlich0,5 Prozent den aufgeschobenen Ruhestand. Honoriertwird der spätere Rentenzugang, weil sich dadurch dieRentenbezugsdauer und damit der Gesamtrentenzahlbe-trag verringert. Er wirkt in die Zukunft, was bedeutet:Er wirkt sich nur positiv aus bei einer hohen, fernenLebenserwartung. Ein Versicherter des Jahrgangs 1920mit einer durchschnittlichen Rente, für den ein erhöhterZugangsfaktor ab dem Jahr 2005 zum Tragen kommt,fährt schlechter als bei einem rückwirkenden Rentenbe-ginn ab 1997 trotz eines entsprechend niedrigerenZugangsfaktors – und das selbst bis zu einem Lebensal-ter von 95 Jahren. Der höhere Zugangsfaktor kann dievon 1997 bis 2005 entgangenen Rentenzahlungen nichtausgleichen.Der 13. Senat macht darüber hinaus in seiner Urteils-begründung deutlich, dass die Gewährung des erhöhtenZugangsfaktors für seine Entscheidung nicht relevantist. Dies ist wichtig, weil vor allem seitens der CDU/CSU immer wieder auf dessen ausgleichenden Effekthingewiesen wurde. Eine Verknüpfung von Zugangsfak-tor und eingeschränkter Rückwirkung erscheint uns vordem Hintergrund des dargestellten Resultats jedochäußerst unbefriedigend. Schließlich wurde der Renten-beginn von den Betroffenen nicht freiwillig aufgescho-ben, sondern der Aufschub ist Ausdruck der unklarenRechtslage, die mit der Umsetzung des ZRBG einher-ging. Es hat sieben Jahre gedauert, bis das BSG mit sei-ner Rechtsprechung zur Ghettorente Klarheit bei derAnwendung des ZRBG für die Rentenversicherungsträ-ger schaffen konnte. Darüber hinaus hatten die Betroffe-nen kaum Einfluss darauf, zu welchem Zeitpunkt die Ab-lehnung ihrer Anträge bindend wurde. Dies wiederumhing vor allem vom Arbeitsaufkommen bei den zuständi-gen Gerichten ab und davon, in welcher Reihenfolge dieVerfahren abgearbeitet wurden. Damit blieb es also eherdem Zufall überlassen, welche Verfahren noch offen undZu Protokoll gegebene Reden
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22486 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Anton Schaaf
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welche schon bindend entschieden waren – keine guteGrundlage für die Gleichbehandlung der Antragsteller.Der ebenfalls entscheidende 5. Senat des BSG weistzudem darauf hin, dass eine weitere Rechtsfortbildung,wie beispielsweise bei der Nichtanwendung des § 306Abs. 1 SGB VI für Bestandsrentner geschehen, zur Ver-wirklichung der Ziele des ZRBG hier an ihre Grenzenstößt. Daher sei auch die Anwendung der Rechtsvor-schriften im Sinne des § 44 Abs. 4 SGB X unumgänglich.Alles Weitere müsse nun der Gesetzgeber selbst in dieHand nehmen. Hierzu führt der 5. Senat aus: „Die nach-trägliche Anordnung der Nichtanwendbarkeit des § 44Abs. 4 SGB X im hier maßgeblichen Zusammenhang istdaher allein Sache des Gesetzgebers; die Rechtspre-chung ist hierzu nicht befugt, auch wenn der Senat die-ses Ergebnis für wünschenswert hielte.“ Genau dieseswünschenswerte Ergebnis sollte unser Ziel sein, um demletzten Kapitel der Wiedergutmachung zu einem würdi-gen Abschluss zu verhelfen.Mit der Überprüfung der zunächst abgelehnten An-träge durch die Träger der gesetzlichen Rentenversiche-rung seit 2009 hat sich herausgestellt, dass mittlerweilecirca 7 000 Antragssteller verstorben sind und zu vielenTausend – trotz erheblicher Bemühungen – kein Kontaktmehr hergestellt werden konnte. Diese Zahlen unter-streichen die besondere Dringlichkeit für eine abschlie-ßende und zufriedenstellende Lösung. Daher fordern wirmit dem gemeinsamen Antrag von Grünen und SPD dieBundesregierung zum Handeln auf. Trotz einiger Beden-ken und Schwierigkeiten – das Wohl der Berechtigtenmuss der Maßstab unserer Politik sein. Dabei schlagenwir zwei Lösungswege vor:Erstens. Für ehemalige Ghettoinsassen wird bei frist-gerecht gestellten, aber zunächst bestandskräftig abge-lehnten und erst nach 2009 bewilligten Rentenanträgenaus dem ZRBG eine rückwirkende Auszahlung der Renteab dem 1. Juli 1997 ermöglicht. Zweitens. Alternativ ist– bei Verzicht auf die Verlängerung der Rückwirkung –eine Änderung der „Richtlinie der Bundesregierungüber eine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit
sodass der Betrag, der sich aus der Summe der monatli-chen Rentenzahlungen bei einem Rentenbeginn ab demJahr 1997 ergeben hätte, als Kapitalzahlung zu gewäh-ren ist.Unser Antrag unterscheidet sich in seiner Zielrich-tung nicht von dem der Linken, wir eröffnen aber eineAlternative zu der rentenrechtlichen Lösung. Bei derrentenrechtlichen Regelung ist klar, dass diese einen ho-hen Verwaltungs- und Vermittlungsaufwand mit sichbringt, weil auch eine Rentenneuberechnung notwendigwäre. Dabei gilt es zu berücksichtigen, dass zudem derZugangsfaktor durch den früheren Rentenzugang gerin-ger ausfiele: Die Menschen erhielten zwar für einen län-geren Zeitraum rückwirkend Rentennachzahlungen, diezukünftigen Rentenleistungen fielen allerdings geringeraus. Ob diese dem Prinzip der Rentenversicherung ent-sprechende Regelung wirklich dem Rechtsfrieden dient,lasse ich einmal dahingestellt. Der andere Weg über die„Anerkennungsrichtlinie“ ist daher nicht nur derschnellere, sondern in meinen Augen auch der bessere:Es wäre lediglich ein Kabinettsbeschluss notwendig,und eine Kapitalzahlung könnte den entstandenen finan-ziellen Schaden bei den Betroffenen beheben.Wir haben in den vergangenen Wochen Gesprächemit allen im Bundestag vertretenen Fraktionen geführt.Alle waren sich einig darüber, dass durch die Einschrän-kung der Nachzahlung eine schwer zu begründendeUngleichbehandlung entstanden ist, die nur schwer mitden Zielen der Wiedergutmachungspolitik zu versöhnenist. Unser gemeinsames Ziel war zunächst, Lösungsmög-lichkeiten zu sondieren. Oberste Priorität sollten dabeiRegelungen haben, die eine schnelle und möglichstunbürokratische Lösung herbeiführen könnten. DieKoalitionsfraktionen bezogen aber zu den diskutiertenLösungsvorschlägen keine eindeutige Stellung.Der vorliegende Antrag steht allerdings unseres Er-achtens der Fortführung unseres Dialogs nicht entge-gen. Dabei wünschen wir uns aber Impulse in Richtungeiner Lösung des Problems. Bisher hat vor allem dieCDU/CSU den Bedenken große Aufmerksamkeit ge-schenkt, ohne erkennen zu lassen, ob sie das Problemtatsächlich aus der Welt räumen will. Das ZRBG gehörtzwar zum Rentenrecht, stellt unseres Erachtens abereine Sonderregelung dar; dies liegt in der besonderenhistorischen Konstellation und den extremen Bedingun-gen begründet, unter denen die Verfolgten in den Ghet-tos der Nationalsozialisten zu leiden hatten.Daher ist unser Ziel, der ursprünglichen Intentiondes ZRBG, eine Lücke im Recht der Wiedergutmachungfür alle Ghettoüberlebenden zu schließen, zum Durch-bruch zu verhelfen; denn wie sich der Sachverhalt jetztdarstellt, werden verursacht durch den langen Klä-rungsprozess nicht alle Betroffenen tatsächlich gleichbehandelt.
Der Deutsche Bundestag war, ist und bleibt sich sei-ner Verantwortung für die Bewältigung aller Folgen desnationalsozialistischen Regimes bewusst. Die Art undWeise, wie wir in den letzten Jahren etwa Fragen derWiedergutmachung debattiert haben, belegt meines Er-achtens auch sehr deutlich, dass sich alle Fraktionen imDeutschen Bundestag der besonderen Sensibilität dieserThemen bewusst sind.In einer Stellungnahme vor wenigen Monaten habeich deshalb meine Überzeugung zum Ausdruck ge-bracht, dass der Bundestag bei der Frage der Renten-zahlungen für Beschäftigungen in einem Ghetto „wie inder Vergangenheit auf einer sehr breiten – ich hoffe ein-stimmigen – Basis agieren wird.“ Es ist bedauerlich,dass die bisher geführten Gespräche der Berichterstat-ter untereinander und mit den Fachleuten des Bundes-ministeriums für Arbeit und Soziales nicht zu dieser Ein-stimmigkeit führen. Das ist insbesondere deswegenbedauerlich, weil wir im Grunde uns alle einig sind.Niemand hier in diesem Hause ist bereit, eine Be-nachteiligung früherer Ghettoinsassen hinzunehmen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22487
Dr. Heinrich L. Kolb
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Unsere unterschiedlichen Vorschläge beruhen auf unter-schiedlichen Schlüssen im Hinblick auf die Rechtssyste-matik unseres Rentensystems.Erlittenem Unrecht mit den Möglichkeiten unseresdeutschen Rentenrechts zu begegnen, ist schwierig, Ein-zelfallgerechtigkeit auf diesem Wege zu erreichen, gänz-lich unmöglich. Das war übrigens der Grund, weswegenich mich auch schon beizeiten für meine Fraktion eherskeptisch gegenüber der rentenrechtlichen Lösung geäu-ßert hatte.Dennoch haben wir gemeinsam im Jahr 2002 – ein-stimmig – diesen Weg beschritten. Da die praktischeUmsetzung durch die Rentenversicherungsträger undSozialgerichte nicht im Sinne unserer damaligen Vor-stellungen erfolgte, hieß es nachzujustieren. Dies ist inmehrfacher Hinsicht erfolgt: erstens in Form der seit2007 geltenden „Richtlinie der Bundesregierung übereine Anerkennungsleistung an Verfolgte für Arbeit in ei-nem Ghetto, die keine Zwangsarbeit war“. Sie gewährtAnerkennungsleistungen, die Rentenzahlungen je nachFallgestaltung ersetzen oder auch ergänzen. Zweitens inForm grundlegender Urteile des Bundessozialgerichts,die 2009 eine bis dahin äußerst restriktive Auslegungder rentenrechtlichen Voraussetzungen ersetzt haben. Inder Folge wurden alle bis dahin abgelehnten Rentenan-träge von Amts wegen erneut überprüft.Da ein großer Teil der zuvor abgelehnten Anträge da-nach positiv beschieden wurde, stellte und stellt sich dieFrage einer verlängerten Rückwirkung, also die Frage,ob in diesen Fällen eine rückwirkende Auszahlung derRente ab dem 1. Juli 1997 möglich sein soll.Wir haben diese Frage in den letzten Wochen sehr in-tensiv diskutiert und anhand von verschiedenen Annah-men auch ganz konkret in den finanziellen Auswirkun-gen betrachtet.Dabei war insbesondere auch zu berücksichtigen,dass für erst später gewährte Rentenzahlungen Zu-schläge von 6 Prozent pro Jahr zu berücksichtigensind – und zwar für die Nichtbezugszeit seit 1997. Da-durch können deutlich höhere Rentenzahlbeträge festge-stellt werden. Je nach Geburtsjahr und Geschlecht odermit Blick auf eventuelle Hinterbliebenenrenten gibt eseinen Streubereich der zu erwartenden rentenrechtli-chen Gesamtleistung. Ob die verlängerte Rückwirkungoder der spätere Zahlungsbeginn mit Zuschlägen imEinzelfall zu besseren Ergebnissen führt, hängt sehrstark von den individuellen Verhältnissen ab. Eine Ver-längerung der Rückwirkung erscheint danach jedenfallsnicht zwingend. Mit Blick auf die bei einer Verlängerungder Rückwirkung erforderlichen Rentenneuberechnun-gen und Rentenzahlungsverrechnungen ist vielmehr da-von auszugehen, dass hier neue Ungerechtigkeiten ge-schaffen würden. Jedenfalls wäre dieser Weg denBetroffenen schwer zu vermitteln.Das ist auch der Grund, weswegen SPD und Grüne inihrem Antrag gleich die Alternative mit einer Auswei-tung der Anerkennungsleistungen benennen. Eine„Richtlinie über eine Anerkennungsleistung an Ver-folgte für Arbeit im Ghetto, die keine Zwangsarbeitwar“, gibt es – wie erwähnt – ja bereits. Und dieseRichtlinie ist erst im Dezember 2011 genau in diesemSinne geändert worden. Seitdem gibt es die Möglichkeitder rückwirkenden Anerkennungsleistung auch zusätz-lich zur Rente. Diese Leistung in der Form nun so aus-zuweiten, wie es die Antragsteller vorschlagen, führteebenfalls zu komplizierten Verrechnungen zwischen lau-fenden Rentenzahlungen und einmaligen Kapitalauszah-lungen, deren Ergebnis sicher keineswegs im Interessejedes Empfängers liegen würde. Schon deshalb rate ichdavon ab.Im Bewusstsein dieser sehr komplizierten Materiesage ich zu, nach wie vor an der Suche nach einem brei-ten Konsens bei der sorgfältigen Abwägung mitzuwir-ken. Den Antrag in der vorliegenden Form vermag ichindes nicht zu unterstützen.
Vor einem halben Jahr hat die Linke einen Antrageingebracht, der fordert, dass die Renten für NS-Opfer,die im Ghetto geschuftet haben, rückwirkend ab 1997ausbezahlt werden sollen. So hatte es der Bundestag vorfast zehn Jahren beschlossen, so wurde es aber nicht um-gesetzt. Verantwortlich dafür waren zu enge Auslegun-gen in der Gesetzesanwendung. Sie kennen die Stich-wörter: Die Arbeit im Ghetto erbrachte nur dannRentenansprüche, wenn sie freiwillig erfolgte und es einEntgelt gab. Das haben die Rentenversicherungsträgernach unseren heutigen Maßstäben geprüft, anstatt nachden konkreten Bedingungen im Ghetto. Folge war diemassenhafte Ablehnung von Rentenanträgen, bis derBundesgerichtshof endlich ein verbindliches Urteilfällte, um das geradezurücken. Das war 2009, und weiles im Sozialrecht eine maximale Rückwirkungszeit vonvier Jahren gibt, erhalten die allermeisten NS-Opfer ihreRente erst mit Wirkung ab 2005 – und nicht schon ab1997, wie es der Bundestag einmal einstimmig beschlos-sen hatte. Anders ausgedrückt: Weil es auf unserer Seite– bei den Rententrägern, den Gerichten und auch imParlament – Fehler gegeben hat, müssen die NS-Opferauf einen Teil der zugesagten Gelder verzichten. Tau-sende sind schon gestorben, ohne je einen Cent Renteerhalten zu haben.Um gutzumachen, was noch gutzumachen geht, hatdie Linke, wie erwähnt, vor einem halben Jahr einen An-trag eingebracht. Jetzt ziehen Grüne und SPD mit einemeigenen Antrag nach, der inhaltlich nichts anderes for-dert. Einerseits freut es mich, dass sie unsere Stoßrich-tung teilen, andererseits frage ich mich, warum sie ihreigenes Süppchen kochen müssen. Aber immerhin:Wichtig für die Linke ist, dass die noch lebenden ehema-ligen Ghettoinsassen schnellstmöglich kriegen, was wirihnen zugesagt hatten – wohlgemerkt, was wir alle ihnenzugesagt hatten. Das gilt auch für CDU, CSU und FDP,die damals ebenfalls für das Ghettorentengesetz ge-stimmt haben und jetzt so tun, als gehe sie das nichtsmehr an. Seit Monaten verzögern die Regierungsfraktio-nen im Ausschuss die Beratung unseres Antrags, ladenerst zu Berichterstattergesprächen ein und dann wiederaus, um am Ende zu erklären, sie würden die Hände inden Schoß legen und sähen keinen Handlungsbedarf.Zu Protokoll gegebene Reden
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22488 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Ulla Jelpke
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Das ist wirklich beschämend und zeigt, wie diese Par-teien mit NS-Opfern umgehen, wenn es keine starkeLobby gibt, die sich für sie starkmacht.In den letzten Wochen wurde viel mit Zahlen jongliert.Um das einmal auf den Punkt zu bringen: Wir sprechenhier von etwas über 20 000 NS-Opfern, denen bishersiebeneinhalb Jahre Rentenzahlungen vorenthalten wor-den sind. Die Union hat, hinter den Kulissen, argumen-tiert, es brauche keine Nachzahlung, weil ja durch denspäteren Rentenbeginn der Zugangsfaktor erhöht wor-den sei, die monatlichen Zahlungen also höher ausfal-len. Das stimmt, ist aber kein Argument gegen unserenAntrag. Das können Sie leicht nachrechnen. Selbst dieDeutsche Rentenversicherung geht davon aus, dass dieBetroffenen, wenn unser Antrag verabschiedet würde,eine Nachzahlung von im Durchschnitt 7 000 Euro er-halten würden. Selbst wenn, was wir nicht wollen, aufeine Günstigerklausel verzichtet würde: Für die hochbe-tagten Leute sind diese 7 000 Euro unter Umständenentscheidend, um sich einen Rollstuhl zu kaufen, ihreWohnung behindertengerecht umzubauen, eine Kur oderauch eine letzte Reise in ihre alte Heimat zu finanzieren.Es ist schlicht und einfach unrecht, ihnen dieses Geldvorzuenthalten.Ich habe schon gesagt: Für die Linke ist wichtig, dassdie NS-Opfer schnellstmöglich zu ihrem Recht kommen.Ob das mithilfe unseres Antrags oder des SPD-Grünen-Antrags, ob mit Variante A oder B passiert, ist für unszweitrangig. Den Kollegen von den anderen Opposi-tionsfraktionen muss man aber schon vorwerfen, dasssie ihren Antrag erst jetzt, unmittelbar vor der Sommer-pause einreichen. Das verzögert den ganzen Entschei-dungsprozess mindestens bis zum Herbst, womöglich biszum Winter. Bis dahin werden wieder einige Hundert derbetroffenen NS-Opfer versterben. Ich appelliere deswe-gen an alle hier im Haus: Provozieren Sie keine weiterenVerzögerungen!
Das ZRBG wurde 2002 einstimmig vom DeutschenBundestag beschlossen, und so sollte der 20. Juni 2002eigentlich ein guter Tag für ehemalige Ghettoarbeiterin-nen und -arbeiter sein. An diesem Tag, also vor fast ge-nau zehn Jahren, hat das Gesetz zur Zahlbarmachungvon Renten aus Beschäftigungen in einem Ghetto seineGültigkeit erlangt. Rot-Grün wollte mit dem ZRBG eineLücke in der Wiedergutmachung nationalsozialistischenUnrechts schließen. Eine Lücke, die das Bundessozial-gericht im Jahr 1997 aufzeigte, als es die in einemGhetto ausgeübten Beschäftigungen als Beitragszeit inder gesetzlichen Rentenversicherung anerkannte. Es ge-währt denjenigen Wiedergutmachung in Form von Ren-tenzahlungen, die sich zwangsweise in einem Ghettoaufhielten und deren Beschäftigung „aus freiem Wil-lensentschluss zustande gekommen ist“ und „gegen Ent-gelt ausgeübt wurde“.Leider war die Umsetzung des Gesetzes in den letztenzehn Jahren nicht so, wie wir alle uns das vorgestellt ha-ben. So hatten über 20 000 Betroffene zunächst gar kei-nen Anspruch, ihn dann zwar erhalten, aber nur rück-wirkend ab 2005 und nicht, wie von der Politikversprochen, ab 1997. Als wir im Januar die letztePlenumsdebatte zu diesem Thema hatten, standen dieUrteile des BSG kurz bevor. Nun müssen wir konstatie-ren, dass das BSG in seinen Urteilen vom 7./8. Februar2012 die Anwendung des § 44 Abs. 4 SGB X und damitauch die Praxis der Deutschen Rentenversicherung be-stätigt hat. Das bedeutet, dass bei diesen Anträgen, diezwar rechtswidrig, aber trotzdem rechtswirksam abge-wiesen wurden, Renten nur rückwirkend bis zum Jahr2005 gezahlt werden müssen. Das führt einmal mehrdazu, dass dieses Gesetz nicht so wirkt, wie alle Beteilig-ten damals und wir alle heute hier es uns gewünscht ha-ben. Das müssen wir als Gesetzgeber korrigieren, denndie Betroffenen erwarten zu Recht, dass wir unser politi-sches Versprechen halten. Das Heft des Handelns liegtbei uns!Mit unserem Antrag schlagen wir zwei Lösungswegevor. Der erste ist innerhalb des Rentenrechts. Diese wäredie wünschenswerteste und auf den ersten Blick nahelie-gendste Option, ist allerdings nicht ganz einfach umzu-setzen. Das „Problem“ ist, dass mit dem späterenBeginn des Bezugs der Rente auch eine höhere Renteeinhergeht, weil der sogenannte Zuschlagsfaktor be-rücksichtigt wird, der eigentlich dazu eingeführt wurde,ein späteres Renteneintrittsalter zu belohnen. Dieser er-höht die Rente um 6 Prozentpunkte pro Jahr späterenRentenbezugs. Für die Ghettorenten bedeutet das, dassbei einem Rentenbezug ab 31. Dezember 2004 statt ab1. Juli 1997 die Rente also um 45 Prozent höher ist –oder umgekehrt: Würden wir die Renten rückwirkendbereits ab 1. Juli 1997 zahlen, müsste die monatlicheRente um 45 Prozent verringert werden. Das wäre denBetroffenen nur schwer zu erklären. Obwohl auch hierLösungen denkbar wären, die um eine Verringerung derRente herumkommen, ist das möglicherweise aber nichtder beste Weg.Deswegen schlagen wir zweitens als Alternative zueiner rentenrechtlichen Lösung eine Lösung durch eineeinmalige Kapitalzahlung vor, durch die die Benachtei-ligung ausgeglichen wird. Zu beachten ist dabei, dassdie Benachteiligung umso größer ist, je älter die Betrof-fenen sind. Für Personen, die 1997 gerade 65 Jahre wa-ren, bewirkt der Zuschlagsfaktor, dass bei einem Beginndes Rentenbezugs ab 2005 die höhere Rente die kürzereBezugsdauer bei durchschnittlicher Lebenserwartungausgleicht. Das wäre bei Personen der Fall, die 1932geboren, also als Kinder im Ghetto gearbeitet haben.Bei Älteren ist aber die Restlebenserwartung deutlichkürzer, sodass die höhere Rente den späteren Rentenbe-zug nicht ausgleicht. Der Weg über eine Einmalzahlungscheint mir persönlich die unbürokratischste und ziel-führendste Möglichkeit zu sein, den berechtigten An-sprüchen der Betroffenen gerecht zu werden. Sie könntean die bereits bestehende Möglichkeit der finanziellenAnerkennungsleistung für die Beschäftigung in einemGhetto anknüpfen, die über das ZRBG in Verbindung mitden entsprechenden rentenrechtlichen Vorschriften hi-nausgeht, die es mit den Anerkennungsrichtlinien vom1. Oktober 2007 und 20. Dezember 2011 ja bereits gibt.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22489
Dr. Wolfgang Strengmann-Kuhn
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Das ZRBG wurde 2002 einstimmig vom DeutschenBundestag beschlossen. In seiner praktischen Anwen-dung hat das Gesetz lange nicht zu den vom Gesetzgebergewünschten Ergebnissen geführt. Das haben alle imDeutschen Bundestag vertretenen Fraktionen erkannt.Und auch der Wille, hier zu einer befriedenden Lösungim Sinne der Betroffenen zu kommen, ist bei all diesenFraktionen erkennbar. Nur: Eine Lösung gibt es immernoch nicht!Es darf nicht sein, dass wir das Versprechen, das wirden Ghettoarbeiterinnen und -arbeitern gegeben haben,nicht erfüllen! Deswegen appelliere ich noch einmal ein-dringlich an die Kolleginnen und Kollegen aus den Re-gierungsfraktionen: Denken Sie noch einmal nach undverweigern Sie sich einer Lösung nicht! Das Beste wäre,wenn wir gemeinsam mit allen Fraktionen eine Lösungals Gesetzgeber beschließen würden. Ich würde mirwünschen, dass 2012 das Jahr wird, in dem der Deut-sche Bundestag einstimmig die notwendigen rechtlichenund politischen Schritte beschließt, um die berechtigtenAnsprüche der Betroffenen nun endlich zu befriedigen.Wir haben dafür zwei Lösungswege aufgezeigt, sindaber für weitere Lösungen und Gespräche offen. Wir for-dern Sie auf: Denken Sie noch einmal nach! Wo ein Willeist, ist auch ein Weg!
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10094 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Also ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 25 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Philipp
Mißfelder, Peter Beyer, Kai Wegner, weiterer Ab-
geordneter und der Fraktion der CDU/CSU sowie
der Abgeordneten Harald Leibrecht, Dr. Rainer
Stinner, Rainer Brüderle, weiterer Abgeordneter
und der Fraktion der FDP
25 Jahre Reagan-Rede vor dem Brandenbur-
ger Tor – „Mr. Gorbatchev, tear down this
wall!“ – Deutschland sagt „Danke!“ für die
Unterstützung der USA bei der Überwindung
der deutschen und europäischen Teilung
– Drucksache 17/9952 –
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus-
gewiesen, die Reden zu Protokoll.
Am 12. Juni 1987 sagte Ronald Reagan, Präsidentder Vereinigten Staaten von Amerika, vor 25 000 Zu-schauern diese legendären Worte. Er forderte den sow-jetischen Staats- und Parteichef Michail Gorbatschowauf, das Tor zu öffnen und die Mauer niederzureißen.Dafür erntete der US-Präsident viel Kritik. Viele in Ostund West sehen ihn bis heute als einen „Kalten Krie-ger“.Es ist heute an der Zeit, diese Rede und die Ver-dienste, die sich Ronald Reagan und das amerikanischeVolk für die Überwindung der deutschen Teilung und fürdas Ende des Kalten Krieges erworben haben, zu ehren.Beim Amtsantritt Reagans war die Sowjetunion dabei,mit der Einführung von Mittelstreckenraketen vomneuen Typ SS-20 die Kräftebalance zwischen dem freienWesten und dem Block kommunistischer Diktaturen zuihren Gunsten zu verschieben. Es war Kanzler HelmutSchmidt, der auf die sich abzeichnende bedrohliche Ent-wicklung aufmerksam machte und den sogenanntenNachrüstungsbeschluss der NATO herbeiführte: Aufdem Boden der Bundesrepublik sollten Mittelstreckenra-keten und Marschflugkörper des Typus Pershing undCruise Missile stationiert werden, um das zur Abschre-ckung notwendige Gleichgewicht wiederherzustellen.Daraufhin entstand eine Friedensbewegung, die mitFriedensmärschen, Sitzblockaden, Menschenketten, Kon-gressen und Symposien gegen diese Nachrüstung mobilmachte. Während einer der großen Demonstrationen imBonner Hofgarten am 22. Oktober 1983, so berichteteBundeskanzler Helmut Kohl später, sei er über den vie-len Tausenden von Demonstranten im Hubschrauber ge-kreist. Dabei habe er sich die Frage gestellt: Machst duauch wirklich alles richtig? Ist die Nachrüstung wirklicherforderlich?Die Geschichte hat ihm und allen, die damals amDoppelbeschluss festhielten, recht gegeben. Bei denBundestagswahlen 1983 erreichte die CDU/CSU mitHelmut Kohl an der Spitze unerwartete 48,8 Prozent derZweitstimmen. Die Wähler hatten die Politik des Kanz-lers bestätigt und legitimiert. Konsequent begannHelmut Kohl nach diesem Wahlsieg in enger Abstim-mung mit Ronald Reagan die Umsetzung des NATO-Doppelbeschlusses. Ein letzter Versuch des wirtschaft-lich wankenden kommunistischen Blocks, die USA vonEuropa zu trennen und die Hegemonie über den euro-päischen Kontinent zu gewinnen, war gescheitert.Spätestens ab Mitte der 80er-Jahre gab es für dieKreml-Führung keine Alternative mehr dazu, das eigeneSystem umfassend zu reformieren. Die SED-Führung re-agierte auf ihre Weise auf Glasnost und Perestroika inder Sowjetunion. Berühmt geworden ist der Ausspruchdes SED-Chefideologen Kurt Hager im Interview mitdem „Stern“ am 20. März 1987: „Würden Sie, nebenbeigesagt, wenn Ihr Nachbar seine Wohnung tapeziert, sichverpflichtet fühlen, Ihre Wohnung ebenfalls neu zu tape-zieren?“Neben der ideologischen Verkrustung des DDR-Polit-büros traten seit 1986 in der bundesdeutschen Politikaber immer mehr Stimmen auf, welche die DDR völker-rechtlich anerkennen, das Einheitsgebot aus demGrundgesetz streichen und einen Friedensvertrag ab-schließen wollten. Kernstück dieser Bestrebung war –das gehört zur historischen Wahrheit – das sogenannteIdeologiepapier zwischen SED und SPD, das gemein-sam von der SPD-Grundwertekommission und der Dele-gation der Akademie für Gesellschaftspolitik des ZK derSED erarbeitet wurde und den Titel „Der Streit der Ideo-logien und die gemeinsame Sicherheit“ trug. Der zen-trale Satz dieses Papiers vom 3. August 1987 lautet:„Keine Seite darf der anderen die Existenzberechtigung
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22490 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Philipp Mißfelder
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absprechen. Unsere Hoffnung kann sich nicht daraufrichten, daß ein System das andere abschafft. Sie richtetsich darauf, daß beide Systeme reformfähig sind und derWettbewerb der Systeme den Willen zur Reform auf bei-den Seiten stärkt. Koexistenz und gemeinsame Sicher-heit gelten also ohne zeitliche Begrenzung.“ Angesichtsdieser Tendenzen sagte der damalige amerikanischeBotschafter in Deutschland, John Kornblum, vor weni-gen Wochen bei einer Veranstaltung in Berlin: „Daschrillten bei uns natürlich die Alarmglocken.“Berichte über die Annäherungen beider deutscherStaaten, die in der Konsequenz die Herauslösung derBundesrepublik aus der NATO bedeuten könnten, riefenin Washington Unruhe hervor. Es verfestigte sich dieÜberzeugung, dass die USA ihre Gestaltungshoheit imVerbund mit den anderen drei Siegermächten des Zwei-ten Weltkrieges unverändert wahrnehmen müssten. Des-halb musste ein symbolträchtiger Ort für eine klare Aus-sage gefunden werden.Am 12. Juni 1987 war es so weit. US-PräsidentRonald Reagan sprach vor der Berliner Mauer amBrandenburger Tor und forderte KPdSU-ChefGorbatschow demonstrativ auf, die Berliner Mauer zuöffnen. Es war dies ein unglaublicher Vorgang, weil derStatus quo, in dem sich viele Deutsche eingerichtet hat-ten, vom mächtigsten Mann der Welt plötzlich infragegestellt wurde.Was viele als Utopie abtaten, wurde nur zwei Jahrespäter Wirklichkeit. Die Mauer, die das kommunistischeSED-Regime durch Berlin gezogen hatte, fiel. Die Chan-cen, die dank der mutigen Menschen in der DDR unddank der Politik von Bundeskanzler Dr. Helmut Kohl ge-meinsam mit Michail Gorbatschow und anderen ent-standen waren, führten so zur neuen Einheit Deutsch-lands und Europas. Einen wichtigen Baustein hierzuhatte Reagan mit seiner Rede gelegt.Deshalb ist hier auch der geeignete Anlass, dem ame-rikanischen Volk und vielen Amerikanern, ob in Ziviloder als Militär, dafür zu danken, dass sie in Deutsch-land gearbeitet haben, dass sie hier stationiert waren,dass sie für unsere Freiheit mit eingestanden haben undzu Botschaftern Deutschlands in den USA wurden.Auch nach dem Abzug amerikanischer Soldaten ausvielen Städten und Regionen, der dieses Jahr beginnt,werden wir voller Dankbarkeit ihr Andenken bewahren.Wie sehr sich Amerika und seine Präsidenten in das kol-lektive deutsche Bewusstsein eingeprägt haben, zeigt einweiteres Ereignis, das wir kommendes Jahr begehenwerden. Am 26. Juni 2013 jährt sich zum 50. Mal die be-rühmte Rede John F. Kennedys „Ich bin ein Berliner“vor dem Schöneberger Rathaus.Die Geschichte hat gezeigt: Unsere amerikanischenFreunde haben über Jahrzehnte dafür gesorgt, dass dieEinheit Deutschlands in Freiheit gelingen konnte. Dafürsind wir dankbar. Dieser Beistand ist uns auch für dieZukunft Verpflichtung. Die transatlantischen Beziehun-gen sind ein entscheidender Pfeiler der deutschen Au-ßenpolitik.Neben dem kulturellen und gesellschaftlichen Werte-konsens und der gemeinsamen Sicherheitspolitik sind esdie wirtschaftlichen Verflechtungen der europäischenund amerikanischen Wirtschaftsräume – vor allemdurch Handel und wechselseitige Direktinvestitionenvon Unternehmen –,welche die Partnerschaft Deutsch-lands und Europas mit den Vereinigten Staaten von Ame-rika prägen.Wir wollen die transatlantische Werte- und Wirt-schaftspartnerschaft konsequent weiterentwickeln. Da-für steht die CDU/CSU-Bundestagsfraktion ein.
In diesem Monat gedenken wir zweier historischerEreignisse, die für das Ende der SED-Herrschaft undden Fall der Mauer von entscheidender Bedeutung sind:Am 17. Juni 1953 fand der Volksaufstand in Ostberlinund der DDR statt. An diesem Tag manifestierte sichzum ersten Mal der Freiheitswille der Menschen in Ost-deutschland, die das SED-Regime ablehnten. Auch wennes danach noch Jahrzehnte dauern sollte, bis sich dieserFreiheitswille gegen die Unterdrückung Bahn brechenkonnte, begehen wir den 17. Juni heute völlig zu Rechtals nationalen Gedenktag.Am 12. Juni 1987 hielt Ronald Reagan seine histori-sche Rede vor dem Brandenburger Tor, in der er MichailGorbatschow aufforderte, das Brandenburger Tor zuöffnen und die Mauer niederzureißen. Dass dies nurzwei Jahre später Wirklichkeit wurde, ist mehr als einbloßer Zufall. Es unterstreicht vielmehr den immensenBeitrag, den sowohl diese Rede als auch das gesamtepolitische Wirken Ronald Reagans für die Überwindungder Teilung Deutschlands geleistet haben.Reagan war der festen Überzeugung, dass die westli-che Staatengemeinschaft aufgrund der ihren politischenSystemen zugrunde liegenden Werte – Freiheit, Demo-kratie, Marktwirtschaft – dem Sowjetblock auf Dauerüberlegen sein würde. Nichts verdeutlicht seine visio-näre Kraft besser als ein Satz gegen Ende seiner Rede:„Die Mauer wird der Freiheit nicht standhalten kön-nen.“ Mit diesen Worten nahm Reagan die historischenEreignisse im Herbst 1989 vorweg. Er hat früher als an-dere erkannt, dass in Europa die Zeit für die Idee derFreiheit angebrochen war.An seiner Botschaft hielt Reagan gegen alle Wider-stände, die zur damaligen Zeit beträchtlich waren, fest.Die von vielen als zu konfrontativ empfundene PolitikReagans stieß teilweise auf heftige Ablehnung. Erinnertsei nur daran, dass die damalige Rede – die wir heuteals Meilenstein würdigen – von heftigen Demonstratio-nen begleitet war. Die damaligen Reagan-Gegner for-derten insbesondere, der Sowjetunion stärker entgegen-zukommen, um damit die deutsche Wiedervereinigungauf den Sankt Nimmerleinstag zu verschieben. Dieszeigt: Das Eintreten für die deutsche Einheit war vor1989 eben keine Selbstverständlichkeit.Noch etwas wird bei heutiger Betrachtung derReagan-Rede deutlich: Der Niedergang des Kommunis-mus und die Wiedervereinigung Deutschlands warenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22491
Thomas Silberhorn
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keineswegs Selbstläufer. Sie waren vielmehr das Ergeb-nis kluger, vorausschauender und mutiger Politik großerStaatsmänner, die das übergeordnete Ziel – die Über-windung der Teilung Europas – nie aus den Augen ver-loren haben. Um die Wiederherstellung der nationalenEinheit wurde im damaligen Westdeutschland heftig ge-rungen. Hier wird der Gegensatz zwischen den politi-schen Kräften, die im Vertrauen auf eigene Stärken dieAbgrenzung zur Sowjetunion nicht gescheut haben, undjenen, die auf Wandel durch Annäherung gesetzt haben,besonders deutlich.Zur historischen Wahrheit gehört, dass die Deutsch-landpolitik der SPD über weite Strecken darin bestand,vom Ziel der Wiedervereinigung schrittweise abzurü-cken und den Status quo hinzunehmen. CDU und CSUhingegen gehörten stets zu den entschiedensten Verfech-tern der deutschen Einheit. Ohne Staatsmänner wieRonald Reagan, George Bush und Helmut Kohl sowieMichail Gorbatschow hätte sich die Wiedervereinigungnicht in diesem zeitlichen Rahmen und nicht auf dieseWeise vollzogen, wie es der Fall war. Sie haben den Bo-den für die Freiheit und Einheit ganz Deutschlands mitbereitet.Die deutsche Wiedervereinigung wäre nicht möglichgewesen ohne die Unterstützung vonseiten der USA undohne die Einbettung in die Europäische Union. Daranwird deutlich, welch fundamentale Bedeutung das trans-atlantische Bündnis und die europäische Integration fürDeutschland haben. Diese beiden tragenden Säulen derdeutschen Außenpolitik müssen weiter gestärkt werden.Eine enge transatlantische Zusammenarbeit ist – auchunter veränderten internationalen Vorzeichen – heute sonotwendig wie zur Amtszeit Ronald Reagans: Mit Blickauf den Aufstieg neuer Machtzentren in Asien, Latein-amerika und Afrika ist die transatlantische Partner-schaft die beste Gewähr dafür, westliche Werte wie Frei-heit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit auch künftig zuwahren.Das politische Erbe Ronald Reagans sollte für unsAuftrag sein, das Streben nach Freiheit in anderen Tei-len der Welt nachdrücklich zu unterstützen. Dies giltderzeit vor allem für die arabische Welt, deren Gesell-schaften heute um politische Selbstbestimmung kämp-fen. Gerade weil es lange Zeit dauern kann, bis das Stre-ben eines Volkes nach Freiheit gegenüber staatlicherUnterdrückung voll zum Tragen kommt, kann politischeFührung der Geschichte eine entscheidende Wendunggeben. Diese Impulse können durchaus auch von außenkommen, wie wir an der Rede Reagans sehen. Umsowichtiger ist es, dass wir den arabischen Gesellschaftenbei ihrem Freiheitsstreben nach Kräften helfen. Es gehtum Rechtsstaatlichkeit und demokratische Strukturen,um den Aufbau von Zivilgesellschaften und um die För-derung der wirtschaftlichen Entwicklung.Wenn wir den vor 25 Jahren vor dem BrandenburgerTor formulierten Appell als Auftrag für unsere heutigePolitik verstehen, dann führen wir das Erbe RonaldReagans fort, für den die Idee der Freiheit die zentraleBezugsgröße in seinem politischen Wirken war.
Wir haben es heute mit einem Antrag der Regierungs-koalition zu tun, der Passagen enthält, denen man nichtwidersprechen kann. Zwar wird man etwas misstrauischbei der Wortwahl im Titel der Antrags, wo es heißt:„Deutschland sagt ‚Danke!‘ für die Unterstützung derUSA bei der Überwindung der deutschen und europäi-schen Teilung“, weil das so klingt, als ginge gleich derVorhang auf zu einer Fernsehshow mit Benefizcharakter.Aber prinzipiell möchte man sich einem Ausdruck vonDankbarkeit nicht verweigern: gegenüber der Schutz-macht Amerika, die tatsächlich viel zum Schutz Berlinsund auf dem Weg zur deutschen Vereinigung beigetragenhat.Allerdings kann die SPD-Fraktion wohl dem Dank,aber nicht dem Antrag zustimmen. Und das hat folgendeGründe:Der Koalitionsantrag zerfällt in zwei Teile: in einenideologie- und pathosschwangeren Feststellungsteil undin einen armseligen, ja im wahrsten Sinne des Wortesnichtssagenden Forderungsteil.„Geschichtsklitterung“ ist noch ein Euphemismus fürdie Zusammenfassung des Kalten Krieges und seinerÜberwindung, die wir da geboten kriegen: Demnach hatDeutschland den Fall der Mauer und die deutsche Wie-dervereinigung in erster Linie den Vereinigten Staatenund der Inspiration von Präsident Reagan mit seinerRede vom 12. Juni 1987 zu verdanken. Geholfen habendann noch die NATO, Helmut Kohl sowie der – ichzitiere – maßgebliche Einfluss liberaler Außenpolitikerwie Walter Scheel und Hans-Dietrich Genscher.Lobend erwähnt werden die Schlussakte von Helsinkiund Walter Scheels Rolle bei dem ganzen Prozess, ver-schwiegen aber wird, dass ausgerechnet die CDU/CSUwegen der gleichberechtigten Teilnahme der DDR amEnde gegen die Unterzeichnung gestimmt hat. WillyBrandt, dessen neue Ost- und Deutschlandpolitik denWeg zum Helsinki-Prozess erst geebnet hatte, wird ineinem einzigen Satz erwähnt. Helmut Schmidt, währenddessen Amtszeit als Bundeskanzler die Schlussakteunterzeichnet wurde, wird unterschlagen. Aber richtigempörend ist, dass zwei Akteure praktisch ausgeblendetwerden: die Menschen in der ehemaligen DDR und inOsteuropa, deren Bürgerbewegungen das Ende der öst-lichen Regime herbeigeführt haben, und MichailGorbatschow mit seiner Rolle, ohne dessen mutigenReformkurs mit Glasnost und Perestroika und ohne des-sen ebenso mutige Zustimmung zur deutschen Vereini-gung diese historische Zäsur gar nicht oder nur miterheblichen Opfern hätte stattfinden können.Ich frage mich: Was für ein Geschichtsverständnishaben eigentlich die Autoren des Antrages, also die Kol-legen Mißfelder, Beyer und Wegner von der CDU/CSUsowie Leibrecht, Stinner und Brüderle von der FDP?Auf jeden Fall eines, das schon im 19. Jahrhundert alsveraltet galt, nämlich eines, wo Männer Geschichte ma-chen und wo Geschichte nicht etwa gesellschaftlichenBewegungen und Veränderungen folgt und von denMenschen selbst geprägt wird!Zu Protokoll gegebene Reden
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22492 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. h. c. Gernot Erler
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Der Antrag erweckt die falsche Vorstellung, am12. Juni 1987 habe Ronald Reagan Gorbatschow aufge-fordert, die Mauer niederzureißen, und zweieinhalbJahre später sei der sowjetische Generalsekretär dieserAufforderung endlich gefolgt. Die Wirklichkeit siehtanders aus: Das Prophetische an Ronald Reagans Redefiel erst viel später auf, als die Mauer tatsächlich bereitsgefallen war. Gar nicht so positiv war die Reaktion aufseine konkreten Vorschläge vom 12. Juni 1987, nämlichWestberlin zu einem Luftdrehkreuz zu machen und alsOrt für Konferenzen über Menschenrechte und Rüs-tungskontrolle zu nutzen, Sommeraustauschprogrammemit jungen Ostberlinern zu veranstalten oder sogar dieOlympischen Spiele nach West- und Ostberlin zu holen.Neun Monate später überprüfte der „Spiegel“, wasaus diesen Vorschlägen geworden ist, und kam zu demErgebnis: „Ronald Reagans Berlin-Initiative vom Junivorigen Jahres erweist sich als Flop – mit womöglichschädlichen Folgen.“ Der „Spiegel“-Artikel stellt dieThese auf, Reagans Vorstoß verfolgte das Ziel, „dieRussen weltweit vorzuführen und in die Defensive zutreiben – in Afghanistan wie an der Mauer in Berlin“,und er vermutet, das sei auch eine Antwort auf Rechts-konservative in der CDU/CSU, die Kritik an der atoma-ren Abrüstung übten, und auf den „glücklos agierendenCDU-Bürgermeister Eberhard Diepgen“, der bei denwestlichen Alliierten als „ungeschickt und vorlaut“gelte.So ist das manchmal bei historischen Reden: Die Ge-schichte muss sich erst einmal auf sie zubewegen, um diehistorische Aura zu übertragen, und dann verdient dasPrädikat des Historischen auch nur ein einziger Satz,herausgebrochen aus einer halbstündigen Rede, die kei-neswegs von allen – wir haben es gehört – auf Begeiste-rung stieß.Eines steht fest: Zu dem schwallenden Pathos, dasden Koalitionsantrag von A bis Z durchzieht, gibt eskeine hinreichende Begründung.Richtig peinlich wird es in dem Antrag aber erst bei dendrei Forderungen an die Bundesregierung. Diese solle ge-meinsam mit dem Land Berlin Reagan herausragend eh-ren, heißt es da. Aber das ist längst passiert: Seit 1992 istPräsident Reagan Ehrenbürger von Berlin, die höchsteEhrung, die die Stadt vergeben kann. Das berühmte Zitatist im Treppenaufgang des Berliner U-Bahnhofs „Bran-denburger Tor“ zu lesen. Und vor zwei Wochen sind zweiweitere herausragende Ehrungen dazugekommen. Vordem Axel-Springer-Haus in der Zimmerstraße wurdeeine bronzene Gedenktafel mit dem Reagan-Zitat in dieErde eingelassen. Im Entwurf vorgestellt wurde eineweitere Gedenktafel, die am Platz des 18. März beimBrandenburger Tor demnächst aufgestellt werden soll.Es bleibt insofern schleierhaft, was dann noch fehlt;aber dazu schweigt sich der Antrag aus.Die zweite Forderung, gemeinsam mit den Bundes-ländern weiterhin den Sieg der Freiheit und die histori-sche Rolle der USA hochzuhalten, ist an Allgemeinheitkaum mehr zu überbieten; es sei denn, man liest noch diedritte Forderung, die da lautet, „die transatlantischePartnerschaft in allen Bereichen weiterhin engagiert zufördern“. Nichts, aber auch gar nichts Konkretes ist denAntragstellern dazu eingefallen. Die Bundesregierungsoll einfach irgendetwas machen.Nein! Dieser Antrag wird die transatlantische Zu-sammenarbeit, die wir hoch achten, pflegen und jedenTag mit Leben zu erfüllen suchen, nicht nach vorne brin-gen. Ich sage voraus: Er wird im günstigsten Fall zueinem Zitatensteinbruch für Kabarettisten werden, amwahrscheinlichsten aber sofort in Vergessenheit gera-ten, was für die Autoren vielleicht noch am vorteilhaftes-ten wäre.
„Herr Gorbatschow, öffnen Sie das Tor! Reißen Siediese Mauer nieder!“ war und ist das Bekenntnis derUSA zur uneingeschränkten Solidarität mit Deutsch-land.Am 25. Jahrestag von Präsident Reagans Rede vordem Brandenburger Tor wollen wir Ronald Reaganehrend gedenken, an seine besonderen politischen Ver-dienste, seinen Mut und seinen unerschütterlichenGlauben an die deutsche Einigung erinnern und demamerikanischen Volk für seine Unterstützung danken.Neben der europäischen Integration bildet das trans-atlantische Verhältnis, die freundschaftlichen Beziehun-gen Deutschlands und Europas zu den Vereinigten Staa-ten von Amerika, den zweiten Pfeiler der deutschenAußenpolitik. Ohne die Unterstützung unserer amerika-nischen Freunde gäbe es heute weder ein geeintesDeutschland noch ein geeintes Europa. Nach dem Zwei-ten Weltkrieg waren es vor allem die USA, die für neuesVertrauen in die Menschen warben und sich maßgeblichfür den Wiederaufbau eingesetzt haben; man denke nuran den Marshallplan, der vor 65 Jahren initiiert wurdeund bis in die heutige Zeit hinein als herausragendesModell für wirtschaftliche Zusammenarbeit gilt.Deutschland hat auf die Unterstützung der Vereinig-ten Staaten bauen können, dies haben amerikanischePräsidenten immer wieder deutlich gemacht.Präsident John F. Kennedy hat sich vor allem mit sei-ner Rede vor dem Rathaus Schöneberg am 26. Juni 1963mit den Berlinern und dem deutschen Volk identifiziertund sich damit seinen Platz in unserem kollektiven Ge-dächtnis geschaffen.24 Jahre später inspirierte Präsident Reagan die Ber-liner und die Demokratiebewegungen durch seinen un-beirrten Glauben an Freiheit.In seiner Rede anlässlich des 750. Jubiläums Berlinsam 12. Juni 1987 vor dem Brandenburger Tor betontePräsident Ronald Reagan nicht nur seine starke Verbun-denheit mit unserer heutigen Hauptstadt. Vielmehr er-klärte er vor den Berlinern, den Deutschen, den Alliier-ten, aber auch vor der Weltöffentlichkeit – gerichtet andie kommunistischen Regime im Osten Europas – , dasser sich mit der europäischen Teilung nicht abfindenwürde. Bewegt durch eine tiefgehende Verbundenheitzum deutschen Volk und seinen unbeirrten Wunsch nachweltweiter Freiheit entwickelte er die Worte KennedysZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22493
Harald Leibrecht
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weiter: „Every man is a German. … Every man is a Ber-liner“. Dem deutschen Volk sicherte Ronald Reaganseine resolute Unterstützung bei der Überwindung derdeutsch-deutschen Teilung zu.Präsident Reagan gehörte zu den wenigen Politikernseiner Zeit, die entschieden waren, alles zu sagen und zutun, das zur Überwindung der Unfreiheit in der DDRund der Sowjetunion notwendig erschien. Er war über-zeugt, dass durch gute diplomatische Beziehungen undvertrauensbildende Zusammenarbeit das Misstrauenüberwunden und somit ein Ende der Konfrontation er-zielt werden könne.Obwohl Ronald Reagan der UdSSR ablehnendgegenüberstand, waren seine Beziehungen zuGorbatschow gut. Nicht zuletzt diese persönliche Bezie-hung zwischen zwei Staatsmännern hat einen wichtigenBeitrag zur Aufhebung der gewaltsamen Teilung geleis-tet.Es ist klar, dass die Überwindung der deutschen Tei-lung ohne Bürgerrechtsbewegungen, ohne den Einsatzmutiger Menschen, ohne Demonstrationen, ohne dasBekenntnis „Wir sind ein Volk“ undenkbar gewesenwäre. Doch sollten wir nicht vergessen, dass sich ganzbesonders unsere amerikanischen Freunde für uns ein-gesetzt und unsere Freiheit verteidigt haben.Präsident Reagan argumentierte gegen den politi-schen Zeitgeist seines Umfelds und trat seinen unzähli-gen Kritikern mit Mut und Entschlossenheit entgegen.Es sollte seine Politik „Frieden durch Stärke“ sein, diezur Überwindung der territorialen und politischen Tei-lung Europas, zum Fall der UdSSR führen sollte.Deutschland ist dem 40. Präsidenten der VereinigtenStaaten von Amerika zu großem Dank verpflichtet, weiler bis zum Ende an ein vereinigtes Deutschland glaubte,er seinen Skeptikern keine Zugeständnisse machte unddem Kommunismus mit seltener Standhaftigkeit entge-gentrat.Und Ronald Reagans unerschütterlicher Glauben anden Sieg der Freiheit ist auch heute noch von hoher Ak-tualität. Denn leider erleben wir direkt vor unsererHaustür immer noch Unfreiheit und politische Repres-sion – zum Beispiel in Weißrussland, der Ukraine undganz aktuell auch in Russland. Hier sollten wir konse-quent für Freiheit und liberale Grundrechte einstehen.Dass sich das lohnt, zeigen nicht nur der Fall der Mauerund die deutsche Wiedervereinigung, sondern aktuellauch die Umbrüche im arabischen Raum. Wer hätte vorzwei Jahren geglaubt, dass die Menschen in vielen ara-bischen Staaten mutig gegen ihre autoritären Macht-haber aufbegehren? Der arabische Frühling lehrt uns,dass wir nicht aufhören sollten, mutig und visionär zudenken, wie Ronald Reagan es getan hat.
Um es gleich vorweg zu sagen – und ich gebe zu, dassich das im Herbst 1989 noch anders gesehen habe –: Ichbin sehr froh, dass 1989 die Berliner Mauer eingerissenwurde und die Teilung Deutschlands und Europas über-wunden werden konnte. Doch zu danken haben wir dasnun wirklich nicht Ronald Reagan, dem kalten Kriegeraus Bel Air, dem Nobelviertel von Los Angeles, sondernFrau Krause und Herrn Lehmann aus Leipzig und Ost-berlin. Die Menschen in der DDR hatten einen Staatsatt, der sie daran hinderte, eine Weltanschauung auchdurch Anschauung der Welt entwickeln zu können. Wirverdanken das ebenso Herrn Kowalski aus Poznan, wieFrau Kovacs aus Budapest, denen es ähnlich ging.Diese Menschen gilt es zu ehren, wenn wir uns an dasEnde der Teilung Europas erinnern.Ich habe mich schon gefragt, wie Sie jetzt auf die Ideekamen, nun dem verstorbenen Ronald Reagan die Wür-digung einer Freitagnachmittagsdebatte vor dem dürftigbesetzten Auditorium des Bundestages zuteilwerden zulassen. Und ich habe die Antwort der „Bild“-Zeitungentnommen. Natürlich: Nachdem der Springer-Verlagund seine Medien ausgiebig die Reagan-Rede feierten,mussten jetzt CDU/CSU und FDP nachziehen.Erinnern wir uns doch mal an 1987: Berlin feierte inbeiden Hälften der Stadt sein 750-jähriges Jubiläum.Mit dem 1985 ins Amt gekommenen Generalsekretär derKPdSU, Michail Sergejewitsch Gorbatschow, zeichnetesich eine Entspannungsphase ab. Auf Einladung vonBundeskanzler Helmut Kohl plante der Staatsratsvorsit-zende der DDR, Erich Honecker, seinen Besuch in Bonn.Ronald Reagan hingegen war der Präsident, der wiekaum ein zweiter den Kalten Krieg wieder anheizte. Er-innern Sie sich noch an seine Sprache? „Reich des Bö-sen“ nannte er die UdSSR. Und: „Meine amerikani-schen Mitbürger, es freut mich, Ihnen heute mitteilen zukönnen, dass ich ein Gesetz unterschrieben habe, dasRussland dauerhaft für vogelfrei erklärt. Wir beginnenin fünf Minuten mit der Bombardierung.“ hielt er für ei-nen gelungenen Mikrofontest.Ich bitte Sie! Das im Jahr 1984, in Europa waren ge-rade neue Atomraketen aufgestellt worden, der Weltfrie-den hing am seidenen Faden.Aber es blieb nicht bei Worten: Das „Star Wars“-Pro-gramm SDI war eine milliardenteure weltraumgestützteRaketenabwehr, die von Ronald Reagan auf den Weg ge-bracht wurde und die die Welt mehr als einmal an denRand eines Atomkrieges brachte.Nein, Ronald Reagan war kein Präsident, der in derBundesrepublik Deutschland und in Berlin auf unge-teilte Zustimmung stieß – im Gegenteil! Während seinesBesuchs demonstrierten 50 000 Berlinerinnen und Ber-liner. Kreuzberg war hermetisch abgeriegelt. Dazu sagteReagan in seiner hier von CDU/CSU und FDP zur Wür-digung vorgeschlagenen Rede, abweichend vom Manu-skript, dass diejenigen, die hier in Berlin gegen ihn de-monstrieren, wohl Herrschaftsverhältnisse wie imanderen Teil der Stadt wollten. Man könnte auch sagen:„Geht doch rüber!“Kurz vor Reagans Rede wurde ein Mauer-Graffito„Reagan go home“, das im Hintergrund des Holz-gestells angebracht worden war, übermalt in „WelcomeReagan 1987“.Zu Protokoll gegebene Reden
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22494 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Stefan Liebich
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Vor 25 000 ihm zugeneigten Berlinerinnen, Berli-nern und in Berlin stationierten US-Amerikanerinnenund -Amerikanern sprach er dann am BrandenburgerTor, einem Ort, den John Kornblum persönlich mit demsowjetischen Botschafter in der DDR abgeklärt hatte,ohne Einwände, wie es heißt.Reagan schlug hier schließlich dem Chef der KPdSU,Gorbatschow, vor, er möge die Mauer einreißen. Reagansagte dies gegen die Überzeugungen in seiner Administ-ration; sein Außenministerium versuchte noch biszuletzt ihn von diesen Worten abzuhalten. Aber der Prä-sident mochte eben einfache und dramatische Worte, wiesein Redenschreiber sagte.Sie sagen in Ihrem Antrag dazu: „Was viele als Uto-pie abtaten, wurde nur zwei Jahre später Wirklichkeit.Die Mauer … fiel.“ So einfach ist das. Reagan sprach,und die Mauer war weg.Die Mauer ist aber gar nicht gefallen, sondern wurdeeingerissen, nicht von Reagan, nicht von Papst JohannesPaul II. und nicht von der CDU/CSU und der FDP imBonner Wasserwerk. Sie wurden doch in Wirklichkeitalle am 9. November 1989 von der Entschlossenheit derOstberliner überrascht, die einer konfusen DDR-Regie-rung das Heft des Handelns aus der Hand nahmen.Ich weiß nicht, ob der vierzigste Präsident der Verei-nigten Staaten für die Rolle taugt, die Sie ihm hier post-hum zuschanzen wollen. Letztlich geht es Ihnen, so ver-mute ich, darum, ihm eine weitere öffentliche Ehrungzukommen zu lassen. Dabei ist er schon Ehrenbürgerunserer Hauptstadt, und Gedenktafeln gibt es auch. Nunnoch mehr?Ich finde, dagegen gibt es gute Gründe. Reagan hatneben seiner konfrontativen Außenpolitik mit seiner ver-fehlten Wirtschaftspolitik, den Reaganomics, einen riesi-gen Schuldenberg hinterlassen; er hat den Sozialstaat inden USA dramatisch abgebaut; er hat das Wort „Aids“zum ersten Mal in den Mund genommen, als bereits fast10 000 Amerikanerinnen und Amerikaner an derImmunschwäche gestorben waren. Kurz: Er hat einerPolitik das Wort geredet, die selbst anständigen Konser-vativen die Schamesröte ins Gesicht steigen ließ.Deshalb lehnen wir Ihren Antrag ab. Er überhöht dieRede Reagans und verkleinert damit den Anteil der Leh-manns und Krauses, von Kowalski und Kovacs, die sichzwei Jahre danach das Recht nahmen, für sich und ihreKinder auf die Straße zu gehen und das Ende von Syste-men einzuläuten, über die die Zeit längst hinweggegan-gen war.
Nun hatte die Koalition den Jahrestag der Reagan-
Rede vor dem Brandenburger Tor schon in der letzten
Sitzungswoche verpasst. Ihr Antrag datierte vom
12. Juni, just diesem Jahrestag. Die Debatte sollte zwei
Tage später stattfinden und fiel dann aus.
Jetzt hinkt der Antrag Wochen hinterher und ist zur
Gestaltung dieses Tages schlicht überholt. Mit den For-
derungen werden im übrigen offene Türen eingerannt
und die Begründung ist Geschichtsklitterung à la CDU:
Große Männer machen Geschichte, allen voran Konrad
Adenauer und Helmut Kohl. Sie glauben doch nicht im
Ernst, dass wir dieser Klippschule für Junge Unionisten
zustimmen werden.
Eine zusätzliche Ehrung für den verstorbenen ameri-
kanischen Präsidenten Ronald Reagan ist nicht notwen-
dig. Es gab eine Ehrung zum Jahrestag am Pariser
Platz, von ihm geschenkte Texas-Gäule stehen als Stand-
bild in der Clayallee, neben dem Springer-Verlag wurde
eine Gedenkplatte enthüllt, und last but not least ist er
Ehrenbürger der Stadt Berlin. Dies ist die höchste
Ehrung überhaupt, die diese Stadt zu vergeben hat.
Die Berlinerinnen und Berliner wissen genau, wem
sie die Freiheit des westlichen Teiles ihrer Stadt zu ver-
danken haben. An erster Stelle gilt ihre Dankbarkeit
daher John F. Kennedy und Lucius D. Clay, dem Vater
der Luftbrücke. Es ist auch unvergessen, wie spät sich
der damalige Bundeskanzler Konrad Adenauer nach
dem Mauerbau in der Stadt sehen ließ. Konsequenter-
weise musste die Umbenennung des Kaiserdamms in
Konrad-Adenauer-Damm aufgrund anhaltender Bür-
gerproteste rückgängig gemacht werden. Erst ein neu
geschaffener Platz konnte nach ihm benannt werden.
Ebenso unvergessen ist der Goebbels-Gorbatschow-
Vergleich von Helmut Kohl. Anders als dieser Altkanzler
haben die Menschen in Ostberlin sehr wohl die Chance
gesehen, die seine Politik der Perestroika bot. Seinen
Namen haben sie bei Demonstrationen gerufen, nicht
den von Ronald Reagan.
Eine Bedeutung von Reagans Rede für die friedliche
Revolution in der DDR oder den Fall der Mauer lässt
sich nicht nachweisen. Die Bürgerbewegung in der DDR
war auch immer eine Friedensbewegung. Von daher ver-
bot sich jede Bezugnahme auf den erklärten Sternenkrie-
ger Ronald Reagan, der vom biblischen Armageddon,
der Entscheidungsschlacht zwischen Gut und Böse,
fabulierte und die sogenannten Contras in Lateiname-
rika ebenso bewaffnete wie die Islamisten in Afghanis-
tan.
Von daher war es nicht verwunderlich, dass der
Reagan-Besuch vor allem wegen der Proteste gegen
diese Politik der Konfrontation in Erinnerung geblieben
ist – vom sogenannten Lappen-Krieg gegen Transpa-
rente an Hauswänden bis zur Totalabriegelung eines
ganzen Bezirkes, Kreuzbergs, am helllichten Tage. Die
Menschheit war letztlich froh, dass sie die Amtszeit die-
ses US-Präsidenten überlebte. Bei dieser Freude sollten
wir es belassen.
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag derFraktionen der CDU/CSU und FDP auf Drucksa-che 17/9952. Wer stimmt für diesen Antrag? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Antrag istangenommen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22495
Vizepräsidentin Petra Pau
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Ich rufe den Tagesordnungspunkt 26 auf:Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Kirsten Tackmann, Dr. Dietmar Bartsch,Herbert Behrens, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEImkerei vor der Agro-Gentechnik schützen– Drucksache 17/9985 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft undVerbraucherschutzWie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wirdie Reden zu Protokoll.
Seit 1996 wird weltweit über 1 Milliarde genetischveränderte Pflanzen angebaut, und bis zum heutigenTage ist kein einziger Schadensfall weltweit bekannt,weder bei einem Menschen, noch bei einem Tier oderetwa der Umwelt.Um es ganz klar an den Anfang zu stellen: Das Wohlder Menschen in unserem Land liegt uns ganz besondersam Herzen. Wir nehmen die Sorgen und Ängste der Men-schen sehr ernst. Das gilt für die Bewertung aller mo-dernen Technologien gleichermaßen. Oberstes Prinzipbei der Anwendung ist und bleibt die Sicherheit vonMensch, Tier und Umwelt.Der Umgang mit gentechnisch veränderten Organis-men steht stets unter dem Vorbehalt, dass Sicherheit,Wahlfreiheit und Transparenz auf allen Ebenen – etwabei der Entwicklung und Zulassung – gesichert bleiben.In erster Linie tragen Informationsdefizite oder absicht-lich herbeigeführte Irritationen zu einer starken Verun-sicherung der Konsumenten bei. Sie halten auch keinerwissenschaftlichen Begründung stand. In vielen Län-dern der Welt werden gentechnisch veränderte Pflanzenangebaut. Zufällige Beimengen von GV-Pollen in Le-bensmitteln, wie zum Beispiel Honig, sind somit kaumauszuschließen.In Deutschland ist lediglich auf 10 Hektar Fläche derAnbau gentechnisch veränderter Pflanzen zulässig. Daswichtige Lebensmittel Honig wird zu 80 Prozent impor-tiert. Die Imker in Deutschland liefern etwa 20 Prozentdes nationalen Honigverzehrs, rund 90 000 Tonnen wer-den aus Argentinien, Mexiko, Brasilien, Uruguay undKanada eingeführt. Pollen ist kein Fremdstoff und keineVerunreinigung von Honig, sondern ein normaler Be-standteil dieses Produkts.Wissenschaftliche Untersuchungen belegen, dass we-der Pollen von Bt-Mais MON810 noch der einer Bt-Mais-sorte, die drei verschiedene Bt-Proteine bildet, eineschädliche Wirkung auf Larvenstadien der Bienenzeigte. Ein Gutachten der Europäischen Behörde für Le-bensmittelsicherheit, EFSA, vom Oktober letzten Jahresbestätigt, dass Pollen aus MON810 sicher sind. Im Üb-rigen: Deutschland scheint zurzeit der einzige EU-Mit-gliedstaat zu sein, der Honig auf gentechnisch verän-derte Pollen untersucht.Pollen im Honig stellen einen unvermeidbaren undrein zufälligen Bestandteil dar. Analysen zeigen, dassdieser Anteil bei gerade einmal 0,1 bis 0,5 Prozent liegt.In dem vom EuGH entschiedenen Fall lag der Anteil derMON810-DNA in Relation zur Gesamt-Mais-DNA beinur 4,1 Prozent – und das, obwohl der Bienenstock nurcirca 500 Meter entfernt vom GV-Maisfeld lag. Insge-samt entspricht der GV-Pollenanteil damit 0,0041 Pro-zent des Honigs! Zum Vergleich: Der gültige – für dieKennzeichnung maßgebliche – Schwellenwert für GVOin Lebensmitteln liegt bei 0,9 Prozent.Nach den geltenden Vorschriften ist Honig, der nichtzugelassene GV-Pollen enthält, nicht verkehrsfähig. Wasder vorliegende Antrag jedoch unerwähnt lässt, ist dieTatsache, dass nach dem Gentechnikgesetz ein verschul-densunabhängiger Schadenersatzanspruch für die Im-ker besteht.Nach unserer Rechtsordnung ist der Einsatz von Gen-technik grundsätzlich zugelassen und soll auch möglichbleiben. Über Schutzvorkehrungen wie Abstandsvor-schriften von etwa 10 Kilometern darf nicht faktisch einVerbot des Umgangs mit zum Inverkehrbringen zugelas-senen GVO bewirkt werden. Das hat auch der Bayeri-sche VGH so festgestellt; denn sonst würde auch dieForschung mit GVO, die der Allgemeinheit dient, un-möglich gemacht.Folglich brauchen wir Maßgaben, die der neuenRechtsprechung des EuGH zu GVO in Honig Rechnungtragen und einen verantwortungsvollen Umgang mitgrüner Gentechnik ermöglichen. Diesen Rahmen kannnicht die Rechtsprechung setzen; hier sind wir selbst alsGesetzgeber gefragt.Sinnvoll wäre die Zulassung der – wie bereits er-wähnt – ungefährlichen GVO-Bestandteile im Honig.Außerdem spricht der hohe Anteil der Honigimporte da-für, auch die Einführung eines Schwellenwertes für GVOim Honig zu prüfen. Nulltoleranz macht hier – ebensowie bei anderen Lebensmitteln – in einer Welt mit globa-len Handelsströmen keinen Sinn. Dieses Konzept füreinen praktikablen und sicheren Umgang mit GVO imHonig müsste ergänzt werden durch eine passende Pro-zesskennzeichnung der Produkte; denn Transparenz undWahlfreiheit sind zentrale Bestandteile unserer Politik.Leider haben wir in diesem Punkt aber noch mit enor-mem Widerstand auf europäischer Ebene zu kämpfen.Der vorliegende Antrag macht abermals deutlich:Die grüne Gentechnik ist in Deutschland und Europa einstark umstrittenes Thema. Die grüne Gentechnik alleinkann die globalen Herausforderungen, wie die Siche-rung der Welternährung bei wachsender Weltbevölke-rung und gleichzeitig rückläufiger Anbaufläche, nichtlösen. Jedoch kann die grüne Gentechnik einen wesent-lichen Beitrag zur Verbesserung der genetischen Ei-genschaften einer Pflanze leisten, und sie kann unteranderem auch helfen, Pflanzen unter kritischen Anbau-bedingungen, Kälte, Hitze, schwierige Böden, anbauenzu können.Es ist bewiesen, dass der Einsatz von GVO die land-wirtschaftliche Produktivität erhöht und zugleich den
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22496 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Max Lehmer
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wirtschaftlichen Wert landwirtschaftlicher Produkte,aufgrund der höheren Qualität pflanzlicher Nahrungs-und Futtermittel, steigert. 117 Millionen Landwirte, vor-wiegend kleiner Betriebe, nutzen bereits die Vorzügegentechnisch veränderter Pflanzen. Die Zulassung gen-technisch veränderter Organismen soll sich daher ander wissenschaftsbasierten Abwägung zwischen Chan-cen und Risiken ausrichten. Ideologische Versuche,ganze Technologien in Deutschland zu verhindern,schwächen den Forschungs- und WirtschaftsstandortDeutschland.
Bereits im November 2007 hatte der Bundesrat die
Bundesregierung mit seinem Beschluss Drucksache 563/07
aufgefordert, „... mit einer Verordnung schnellstmöglich
sicherzustellen, dass auch die Belange der Imkerei beim
Anbau von gentechnisch veränderten Pflanzen ange-
messen berücksichtigt werden. Der Geltungsbereich der
vorliegenden Verordnung schließt die Imkerei nicht ein.
Die Koexistenz beinhaltet jedoch nicht nur das Neben-
einander des GVO-Anbaus und konventioneller Pflan-
zen, sondern auch des GVO-Anbaus und der Imkerei.
Hierfür sind gesonderte Regelungen erforderlich.“
Doch bis heute ist nichts passiert. Nach wie vor müs-
sen sich Imker durch den Anbau von gentechnisch ver-
ändertem Mais in ihrer wirtschaftlichen Existenz be-
droht sehen. Verbraucherinnen und Verbraucher wollen
gentechnikfreie Lebensmittel. Aber Imker, die in der
Nähe eines Gentech-Maisfeldes arbeiten, laufen große
Gefahr, dass sich gentechnisch veränderte Bestandteile
im Honig nachweisen lassen. Denn Bienen halten sich
nicht an Sicherheitsabstände und haben einen Flugra-
dius von über 5 Kilometern.
Eine Untersuchung des Chemischen und Veterinärun-
tersuchungsamts Freiburg von Anfang Juni zeigte, dass
viele aus den USA stammende Honigsorten mit gentech-
nisch verändertem Soja verunreinigt sind, teilweise auch
mit nicht zugelassenem Gentechnikraps. In den USA ist
der GVO-Anbau weit verbreitet. Aber auch wenn bei uns
derzeit nicht kommerziell angebaut wird, kann das Pro-
blem sehr bald auch hier wieder akut werden.
Honig, der mit gentechnisch veränderten Pollen ver-
unreinigt wurde, ist nicht verkehrsfähig. Dies hat der
Europäische Gerichtshof, EuGH, im September letzten
Jahres entschieden. Auch geringe Spuren von MON810
führen dazu, dass der Honig nicht mehr verkauft werden
darf. Denn der Gentechnikmais MON810 hat keine Zu-
lassung zu Lebensmittelzwecken. Mit dem Urteil steht
fest, dass Imker einen Anspruch auf Entschädigung ha-
ben, wenn ihr Honig mit gentechnisch veränderten Pol-
len verunreinigt wurde, die nicht als Lebensmittel zuge-
lassen sind.
Dies war der Fall des Imkers Bablok, der in seinem
Honig GVO-Spuren aus einem staatlichen Versuchsan-
bau des Freistaats Bayern mit MON810 fand und da-
raufhin seine gesamte Ernte vernichten musste. Er zog
vor Gericht und verklagte den Freistaat Bayern auf
Schadenersatz. Wegen ungeklärter Fragen europäischen
Rechts legte der Bayerische Verwaltungsgerichtshof
dem EuGH 2009 einige Punkte zur Entscheidung vor.
Dieser entschied im Sinne der Imker und Verbraucher,
die Gentechnik in Lebensmitteln überwiegend ablehnen.
Anschließend musste der bayerische Gerichtshof da-
rüber entscheiden, ob auch Schutzansprüche bestehen.
Aber diese lehnte der Bayerische Verwaltungsgerichts-
hof am 27. März 2012 ab: Imker sollen keinen Rechtsan-
spruch auf Schutzvorkehrungen haben, wenn auf Fel-
dern in unmittelbarer Nachbarschaft ihrer Bienenstände
gentechnisch veränderte Pflanzen zum Anbau kommen.
Hier besteht dringender Handlungsbedarf. Es kann
nicht sein, dass der GVO-Anbau auf dem Rücken der Im-
ker ausgetragen wird. Die Imker haben ein Recht auf
Schutz. Die Belange der Bienenwirtschaft müssen end-
lich berücksichtigt werden. Wir werden diese Frage aus-
führlich im Ausschuss diskutieren müssen.
Die Imkerei hat eine jahrhundertelange Tradition undist für die Landwirtschaft aufgrund ihrer Bestäubungs-leistung von großer Bedeutung. Die Biene gilt als dasproduktivste Haustier des Menschen, und die Produkteder Imkerei genießen bei den Verbraucherinnen und Ver-brauchern eine große Wertschätzung. Ob gesunder undleckerer Honig oder Gelée Royale für die Ernährungoder Pollenerzeugnisse für die Kosmetik, die Imker, ihreSchützlinge und ihre Produkte genießen großes Ver-trauen. Der deutsche Honig gilt zu Recht als absolutesQualitätsprodukt. Viele Imker betreiben die Haltung vonBienen leidenschaftlich als Hobby. Diesen, aber auchden Berufsimkern bringen wir mit der Wertschätzung ih-rer Produkte und ihrer Dienstleistungen für Gartenbauund Landwirtschaft unsere Anerkennung entgegen.Trotz alledem stehen die Imker und ihre Bienenvölkerunter immensem Druck. In diesem Winter hatten vieleImker große Überwinterungsverluste bei ihren Völkernzu beklagen, teilweise bis zum Komplettverlust. Die Un-tersuchungen der Bieneninstitute, federführend dabeidas Fachzentrum Bienen und Imkerei in Mayen, und desDeutschen Bienenmonitorings zeigen durchschnittlicheVerluste von bis zu 25 Prozent der Bienenvölker im ver-gangenen Winter. Diese sind regional noch wesentlichhöher ausgefallen. Die Verluste sind vergleichbar mitden ebenso schweren Verlusten in den Wintern 2005/06und 2007/08. Die überwältigende Mehrzahl der Bienen-wissenschaftler ist sich einig, dass die hohen Überwinte-rungsverluste auf den zunehmenden Befall der Bienen-völker durch die Varroamilbe und damit einhergehendeInfektionen durch Viren zurückzuführen sind.Diese Zahlen machen deutlich, dass unsere Imker vorgroßen Herausforderungen stehen. Derartige Verlustekönnen insbesondere viele Hobbyimker nicht kompen-sieren. Angesichts dieser äußerst besorgniserregendenEntwicklung und des existenziellen Mangels an geeigne-ten, effektiven und handhabbaren Therapeutika wirkt eswie ein Hohn, dass die Fraktion Die Linke einen Antragmit dem Titel „Imkerei vor der Agro-Gentechnik schüt-zen“ vorgelegt hat. Sie hat das Thema verfehlt!Was hilft einem Imker, der seine Völker durch die Var-roamilbe verloren hat, eine Änderung des Gentechnik-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22497
Dr. Christel Happach-Kasan
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gesetzes? Wenn mein Hund krank ist, würde mir dochauch keiner raten, einen neuen Personalausweis zu be-antragen. Das ist völlig absurd. Auch das zweite Pro-blem der Imkerei wird dadurch nicht gelöst. Bienen findenin einigen Regionen zu wenig Nahrung. Wir brauchenmehr Blütenpflanzen in unserer Landschaft.In einem Punkt hat der Antrag meiner geschätztenKollegin Tackmann jedoch recht: Das unsägliche Urteildes Europäischen Gerichtshofs zur Verkehrsfähigkeitvon Honig, Az C442/09, in der Rechtssache Bablokmacht rechtliche Änderungen notwendig. In seinem Ur-teil legte der Gerichtshof dar, dass Pollen nur dann alsgentechnisch veränderter Organismus, GVO, eingestuftwerden, wenn sie einen „Organismus“ im Sinne derRichtlinie und der Verordnung, das heißt eine „biologi-sche Einheit, die fähig ist“, „sich zu vermehren“ oder„genetisches Material zu übertragen, darstellen. DerGerichtshof kam zu dem Schluss, dass ein Stoff wie derPollen einer genetisch veränderten Maissorte, der seineFortpflanzungsfähigkeit verloren hat und in keinerWeise fähig ist, in ihm enthaltenes genetisches Materialzu übertragen, nicht mehr von dem Begriff GVO erfasstwird.Weiter sieht das Gericht die Notwendigkeit der Zulas-sung von Pollen als Lebensmittel und begründet dies da-mit, dass Pollen eine Zutat im Honig sei. Genau dies istfalsch. Tomaten auf der Pizza sind eine Zutat, der Pollenim Honig jedoch nicht; denn niemand tut ihn absichtlichhinein. Es gibt keinen natürlichen Honig ohne Pollen.Die Interpretation von Pollen als Zutat durch dasEuGH hat beträchtliche Auswirkungen auf die gesamteHonigwirtschaft, von der Produktion über die Liefer-und Vermarktungskette bis hin zur Verarbeitung. DieHauptlieferländer für den europäischen Honigmarktsind Argentinien, Mexiko, China, Chile, Indien und Bra-silien; alle diese Länder bauen GV-Pflanzen an. In die-sen Ländern sind vorwiegend kleine und mittelgroßebäuerliche Imkerbetriebe betroffen, welche aufgrunddes großflächigen Anbaus von GV-Pflanzen in ihrenLändern den wichtigsten Exportmarkt die EU verlierenkönnten. Sehr viele der Imkereien werden gezielt vonFair Trade oder anderen Entwicklungsprojekten geför-dert. Alle diese Imker und Projekte sind jetzt gefährdet.Sie können weder die GVO-Freiheit ihrer Produkte ga-rantieren noch die hohen Analysekosten tragen. DieKosten für die Verbraucherinnen und Verbraucher wer-den immens steigen, obwohl sich die Qualität des Ho-nigs in keiner Weise ändert. Honig ist und bleibt ein le-ckeres, gesundes, hochqualitatives Lebensmittel.Aus Sicht der FDP-Bundestagsfraktion muss unbe-dingt Rechtssicherheit für Imker, Landwirte und den Ho-nighandel hergestellt werden. Auf europäischer Ebeneist es geboten, die Honigrichtlinie und abgeleiteteRechtsvorschriften so zu ergänzen, dass die negativenAuswirkungen des EuGH-Urteils rückgängig gemachtund Pollen als integraler Bestandteil und nicht als Zutatvon Honig klassifiziert wird.Ich bin mir bewusst, dass rund um die grüne Gentech-nik noch Unbehagen bei einigen Imkern besteht. Wirmüssen alle gemeinsam darüber nachdenken, wie wir indieser Frage zu sachgerechten und für alle akzeptablenLösungen kommen können.
Stellen Sie sich Folgendes vor: Sie sind Herstellervon Sportschuhen. Neben Ihnen produziert jemand Au-tolacke. Eines Tages kommt es dazu, dass Farbspitzerder Autolacke auf einer zur Auslieferung bereitstehen-den Turnschuhpalette landen. Ein Gericht verbietet Ih-nen nun, diese beschmutzten Turnschuhe zu verkaufen.Sollte bewiesen werden, dass die Farbenmanufaktur Ih-res Nachbarn Schuld an der Sauerei ist, dann muss erIhnen den entstandenen Schaden bezahlen. Ein weiteresGericht sagt aber auch, dass Sie keinen Anspruch da-rauf haben, vor Farbklecksen geschützt zu werden. DerNachbar kann also fröhlich mit Farbe umherspritzen,ohne einen Sicherheitsabstand zu Ihren Schuhpaletteneinzuhalten oder eine Trennwand aufzubauen. Klingtparadox? Ist es auch. Aber es ist trotzdem wahr.Was in dem Sprachbild der Schuh, ist in der Realitätder Honig. Was in der Geschichte der Autolack, sindGentech-Pollen, Pollen vom Monsanto-Mais MON810.Und die unglaubliche Geschichte geht so: Am 6. Sep-tember 2011 urteilte der Europäische Gerichtshof, dassdie Verkehrsfähigkeit von Honig durch Verunreinigun-gen mit Pollen des gentechnisch veränderten MaisMON810 beeinträchtigt wird. Auf gut Deutsch: Er darfnicht verkauft, sondern muss als Müll entsorgt werden.Hintergrund: Dieser Mais hat in der EU zwar eine Le-bensmittelzulassung, jedoch nicht für Honig. Darumdürfen auch keine MON810-Spuren im Honig sein.Darüber hinaus besitzt MON810 eine EU-Anbauzulas-sung. In der Bundesrepublik ist sein Anbau jedoch ver-boten. Die Linksfraktion wird dafür kämpfen, dass dasauch so bleibt.Zurück zum Honig: Am 27. März 2012 urteilte nunder Bayerische Verwaltungsgerichtshof, dass Imkerin-nen und Imker keinen Anspruch auf Schutzmaßnahmengegen die Verunreinigung ihres Honigs durch den Anbauvon gentechnisch veränderten Pflanzen haben. Gleich-zeitig wurde bestätigt, dass durch Pollen des gentech-nisch veränderten Mais MON810 verunreinigter Honignicht verkauft werden darf.Um im Bild der Eingangsgeschichte zu bleiben: DieLackhersteller dürfen weiter fröhlich mit der Farbe han-tieren, ohne Vorkehrungen zu treffen, dass die Schuhedes Nachbarn nicht verschmutzt werden.Die betroffenen Imkerinnen und Imker sind zwar ge-gen das widersinnige Urteil vor das Bundesverwal-tungsgericht gezogen, aber dessen Entscheidung stehtnoch aus. Hier sieht die Linke dringenden Handlungsbe-darf des Gesetzgebers, um diese aberwitzige Benachtei-ligung der Imkerinnen und Imker gegenüber dem Anbaugentechnisch veränderter Pflanzen zu beenden, undzwar rechtssicher. Mit diesem Antrag stellt sich dieLinksfraktion klar auf die Seite der Imkerei und gegendie Profiteure der Agrogentechnik. Uns sind die Interes-sen der Bienen und ihrer Halterinnen und Halter deut-lich wichtiger als die Interessen der mächtigen Agrar-konzerne und ihrer Genlabore.Zu Protokoll gegebene Reden
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22498 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Kirsten Tackmann
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Wir wissen natürlich, dass zur Verbesserung derSchutzrechte von Verbraucherinnen und Verbrauchern,der gentechnikfreien Landwirtschaft und der Imkerei ei-gentlich viel umfangreichere Änderungen im nationalenund europäischen Gentechnikrecht nötig wären. Dochdiese mehrfach angekündigte große Novelle zum Gen-technikgesetz wird von dieser Koalition wohl nicht mehrkommen, eine gute sowieso nicht. Daher fordern wir alsdie dringendste Sofortmaßnahme, den Schutz der Imke-rei im Gentechnikrecht wirksam zu verbessern. WeitereÄnderungen bleiben trotzdem notwendig.Die paradoxe Situation, dass verunreinigter Honignicht verkauft werden darf, wenn die transgene Pflanzekeine Lebensmittelzulassung für Honig hat, gleichzeitigjedoch kein Rechtsanspruch auf den Schutz vor Verun-reinigung besteht, muss durch den Gesetzgeber unver-züglich beseitigt werden, also durch den DeutschenBundestag; denn er hat eine besondere Sorgfaltspflichtund ist neben dem Verursacherprinzip auch dem Vorsor-gegedanken verpflichtet. Was wäre die Alternative?Womöglich eine Verpflichtung der Bienen, den gentech-nisch veränderten Mais zu meiden, oder der Imkerinnenund Imker, vor dem Anbau einer nicht als Lebensmittelzugelassenen Gentech-Pflanze ausweichen zu müssen?Wir halten diese Alternativen für absurd und sehen dasPrinzip wie beim Gewaltschutzgesetz: Der Verursachermuss gehen, nicht das Opfer. Übersetzt: Nicht der poten-ziell geschädigte Imker oder die Imkerin muss der Ge-fahr ausweichen, sondern der Gefahrenverursacher– also der Gentech-Bauer – muss das Risiko vermeiden.Das ist so bestechend logisch, dass man unserem Antragnur zustimmen kann.
Wie bei kaum einem anderen Wirtschaftszweig wirdanhand der Probleme der Imkerei aufgrund der Gefahrvon Verunreinigungen mit Gentech-Pollen deutlich, dasseine Koexistenz zwischen Landwirtschaft mit und ohneGentechnik in der Praxis nicht funktionieren kann. Dashat jüngst auch Ernst-Ludwig Winnacker, der ehemaligePräsident der Deutschen Forschungsgemeinschaft, be-stätigt. Bienen fliegen gezielt über mehrere Kilometer zuihren Futterquellen. Das „Honig-Urteil“ des Europäi-schen Gerichtshofs von 2011 hat die Bedeutung dieserFrage wieder ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. Zwarhaben wir in Deutschland gegenwärtig keinen Anbaugentechnisch veränderter Pflanzen. Wenn es aber in Zu-kunft je dazu kommen sollte, sind weite Schutzabständezwischen Feldern mit gentechnisch veränderten Pflan-zen und den Bienenstöcken der einzige praktikable Weg,den deutschen Honig frei von unerwünschten gentechni-schen Verunreinigungen zu halten. Die Bundesregierungdarf sich dieser Einsicht nicht länger verschließen.Kanadische Imker und Imkerinnen haben aufgrundder flächendeckenden Kontamination ihres Honigsdurch Genrapspollen bereits den europäischen Absatz-markt weitgehend eingebüßt, ähnliches droht vielen Ho-nigproduzenten und Produzentinnen in Lateinamerikadurch den großflächigen Anbau von Gensoja. Ein Anbauvon Gentech-Pflanzen ohne ausreichende Mindestab-stände würde auch bei uns das Aus für viele kleine undmittelständische Berufs- und Hobbyimker und Hobbyim-kerinnen bedeuten. Ein mittelständischer Berufsimker,der gentechnikfrei wirtschaften möchte, hätte durch denkommerziellen Anbau von Gentech-Pflanzen Kosten vonbis zu 15 000 Euro pro Jahr für Analysen zu Verschmut-zungen durch Gentech-Pollen zu tragen. Wer würde denImker und Imkerinnen diesen existenzgefährdendenSchaden ersetzen?Die Imker und Imkerinnen bestehen zu Recht darauf,dass ihre Produkte genauso gut vor gentechnischen Ver-unreinigungen geschützt sein müssen wie andere Le-bensmittel auch. Doch seit Jahren werden die berechtig-ten Schutzansprüche der Imkerei in Bezug auf Schädendurch die Gentechnik juristisch weitgehend ignoriertund ausgeblendet. Auch hier muss endlich das Verursa-cherprinzip gesetzlich klar umgesetzt werden und derSchadenverursacher haften. Hersteller und Anbauer vonGVO müssen endlich zur Begleichung solcher Folge-schäden durch Gentechnik herangezogen werden.Das Bundesverfassungsgericht, der Europäische Ge-richtshof und das Bundesverwaltungsgericht Leipzig ha-ben klar das Vorsorgeprinzip, den Schutzanspruch vonImkerei, Landwirtschaft und Verbrauchern und Verbrau-cherinnen und damit die absolute Nulltoleranz gegen-über nicht zugelassenen GVO bestätigt. Das sind wich-tige Signale.Die Nulltoleranz sichert Verbraucherrechte, Wahl-freiheit und die Existenz der gentechnikfreien Land- undLebensmittelwirtschaft. Denn gerade für viele kleineund mittlere Unternehmen ist eine Aufweichung derNulltoleranz ein echter Bärendienst. Sie müssten künftigteure quantitative Analysen statt deutlich günstigererJa-Nein-Analysen durchführen. Damit würden der gen-technikfreien Wirtschaft weitere bürokratische und fi-nanzielle Belastungen aufgebürdet. Und was kommtnach dem Fall der Nulltoleranz für Futtermittel und derNulltoleranz für Lebensmittel? Wird dann auch die Null-toleranz bei Saatgut infrage gestellt? Das wäre das ab-sehbare und sichere Ende der gentechnikfreien Land-wirtschaft und damit auch der Wahlfreiheit, weil sichdiese Verunreinigungen über Auskreuzung ausbreiten.Natürlich freuen wir uns, dass Ministerin Aigner un-serer Forderung, die GVO-Nulltoleranz bei Lebensmit-teln zu erhalten, folgen will. Aber wo war Frau Aignerim letzten Jahr, als die Nulltoleranz bei Futtermitteln mitZustimmung Deutschlands aufgehoben wurde? Einsatzfür Sicherheit? Leider völlige Fehlanzeige. Verbraucherund Verbraucherinnen müssen auch in Zukunft die Frei-heit und die Möglichkeit haben, sich gegen Gentechnikzu entscheiden. Dazu braucht es die Nulltoleranz, aberkeine Lizenz für die flächendeckende Verunreinigungvon Lebensmitteln. Jetzt muss die Ministerin auch end-lich konsequent handeln und vorangehen! Wir brauchenendlich bundeseinheitliche Schutzabstände zwischenBienenständen und Gentech-Feldern – und hier redenwir über 5 Kilometer und mehr, nicht nur über ein paarwenige Hundert Meter. Selbstverständlich muss dabeiBestandsschutz für bestehende Bienenstände gelten.Wie ernst es Ministerin Aigner mit dem Schutz vonLandwirtschaft, Imkerei und Verbrauchern und Verbrau-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22499
Harald Ebner
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cherinnen ist, muss sie in den kommenden Monaten be-weisen, wenn Zulassungsentscheidungen auf EU-Ebeneanstehen. Denn bislang hat die Bundesregierung nochkeinen einzigen Antrag auf Zulassung von GVO abge-lehnt. Hier erwarten wir nicht nur laute Ansagen derMinisterin, sondern klares Handeln – in Berlin undBrüssel.Der vorliegende Antrag geht in die richtige Richtung;denn jetzt ist die Zeit, endlich klare Regelungen zu tref-fen, statt weiter Katz und Maus zu spielen, wie es die Ko-alition bisher in dieser Frage gemacht hat. Bei einer No-vellierung des Gentechnikgesetzes kommt es allerdingsauf eine sorgfältige und umfassende Umsetzung statt ei-nes Schnellschusses an. Die Festlegung ausreichendgroßer, bundesweit einheitlicher Mindestabstände in derGentechnik-Pflanzenerzeugungsverordnung muss alsSchlüsselelement zügig und deshalb zeitlich vor der auf-wendigeren Änderung des Gentechnikgesetzes erfolgen.Wir erwarten von der Bundesregierung jetzt nebender Novellierung des Gentechnikgesetzes im Sinne desSchutzes von Umwelt, Verbrauchern und Verbraucherin-nen und Imkerei folgende Schritte: die Umsetzung derForderung des Bundesrates vom 30. November 2007,wonach die Imkerei endlich bei der Gentechnik-Pflan-zenerzeugungsordnung berücksichtigt werden muss,verbindliche Informationspflichten für GVO-Anbauergegenüber den im Flugradiusbereich aktiven Imkereien,bei den Ländern auf flächendeckende Kontrollen zurEinhaltung der Meldepflicht von Freisetzungen vonGVO für das Standortregister zu drängen und die Vo-raussetzungen zu schaffen, damit Verstöße gegen dieMeldepflicht wirkungsvoll sanktioniert werden, Einfüh-rung von Regelungen, die dem Verursacherprinzip auchbei indirekt durch den GVO-Anbau bedingten Schädenund Kosten Rechnung tragen.Wer etwas zum Schutz der Imkerei, der Bienen, Ho-nig- wie Wildbienen, und der Hummeln und damit eineswesentlichen Teils unserer Ökosysteme beitragen will,darf aber nicht bei der Frage der Agrogentechnik stehenbleiben. Blütenmangel in unseren Agrarlandschaften,Pestizidbelastungen, insbesondere durch Neonicotino-ide, sind Alarmzeichen, die uns nachdenklich machenmüssen.Im Gegensatz zur Blockadehaltung der Bundesregie-rung und des Deutschen Bauernverbandes gegen dasGreening der EU-Agrarpolitik haben die Imkerverbändeerkannt, dass der aktuelle Kurs der Landwirtschaftspo-litik nicht zukunftsfähig ist. Ich empfehle die Lektüre deraktuellen „Berliner Erklärung“ der Imkerverbände mitkonkreten Forderungen und Vorschlägen dazu, wie dieLandwirtschaft bienenfreundlicher gemacht werdenkann. Auch das EEG muss bei den Fördervoraussetzun-gen und der Vergütung so verbessert werden, dass derAnbau von bienenfreundlichen Kulturen und Zwischen-saaten wirtschaftlich attraktiv wird.Stirbt die Biene, stirbt der Mensch! Bienenfreundli-che Agrarpolitik ist daher immer auch menschenfreund-liche Agrarpolitik. Dazu gehört auch der Schutz der Im-kerei vor den Gefahren der Agrogentechnik, damitHonig ein sauberes Naturprodukt bleibt. Frau Ministe-rin Aigner, es ist höchste Zeit. Handeln Sie jetzt!
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9985 an den Ausschuss für Ernährung,
Landwirtschaft und Verbraucherschutz vorgeschlagen.
Sind Sie damit einverstanden? – Das ist der Fall. Dann
ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 27 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Finanzausschusses
– zu dem Antrag der Abgeordneten Klaus-Peter
Flosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
CDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. Daniel
Volk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der
FDP
Rechtssicherheit beim Zugang zu einem Ba-
siskonto schaffen
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Bericht der Bundesregierung zur Umset-
zung der Empfehlungen des Zentralen Kre-
ditausschusses zum Girokonto für jeder-
mann
– Drucksachen 17/9398, 17/8312, 17/9798 Buch-
stabe a und e –
Berichterstattung:
Abgeordnete Peter Aumer
Dr. Carsten Sieling
Holger Krestel
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus-
gewiesen, die Reden zu Protokoll.
Ein Leben ohne Konto ist für uns heute eigentlich un-vorstellbar. Im täglichen Leben wird es für Lohn- undGehaltszahlungen, finanzielle Leistungen des Staateswie Kindergeld, Elterngeld, Arbeitslosengeld undBAföG, aber auch zur Begleichung von Rechnungen fürMiete, Strom, Wasser, Einkäufe und vieles mehr benötigt.Heute werden eine Vielzahl von Geschäften des Alltagsunbar über das Konto oder eine Kreditkarte getätigt; dieBargeldzahlung wurde in vielen Bereichen abgelöst. InDeutschland wurden allein im Jahr 2010 Güter mit ei-nem Volumen von 144 Milliarden Euro über kartenge-stützte Zahlungsverfahren umgesetzt. Das sind rund38 Prozent des Gesamtumsatzes. Aber auch das Bargeldfür den täglichen Bedarf stammt meist aus einem Geld-automaten einer Bank, bei der wir ein Girokonto haben.Für einen Großteil der Bürger in unserem Land sinddiese Vorteile heute selbstverständlich. Das Girokontoermöglicht es uns, am gesellschaftlichen und modernenwirtschaftlichen Leben teilzunehmen.
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22500 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Peter Aumer
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Jedoch gibt es in Deutschland immer noch Menschen,die kein Girokonto besitzen. Schätzungen gehen von ei-nem hohen sechsstelligen Wert aus. Für diese konto-losen Personen ist es oft unmöglich, am gesellschaftli-chen Leben, am Wirtschaftsleben und oftmals auch amArbeitsleben teilzuhaben. Die Barauszahlung, wie zumBeispiel vom Lohn, als auch die Barbezahlung, zum Bei-spiel der Miete, gestalten sich oft sehr schwierig undsind mit einem vermehrten zeitlichen, personellen undfinanziellen Aufwand verbunden. Auch für staatlicheStellen ist die Barauszahlung finanzieller Leistungen un-gleich höher, da sie jeden Vorgang individuell bearbei-ten müssen.Gerade im Hinblick auf die fortschreitende Harmoni-sierung des europäischen Zahlungsraums durch dieneue SEPA-Verordnung, deren Umsetzung wir heute inerster Lesung im Plenum behandeln, werden Kontolosein Zukunft von dieser Verbesserung nicht profitierenkönnen.Darüber hinaus haben wir auch ein Interesse, dassZahlungen über Bankkonten abgewickelt werden. Solassen sich Betrugs- und Geldwäschefälle leichter auf-decken.Zur Beseitigung dieses Missstandes erarbeitete derZentrale Kreditausschuss – heute die Deutsche Kredit-wirtschaft – eine Empfehlung zum Girokonto für jeder-mann. Diese Empfehlungen wurden aber bisher unzurei-chend umgesetzt.Im aktuellen Bericht der Bundesregierung zur Umset-zung der Empfehlungen des Zentralen Kreditausschus-ses zum Girokonto für jedermann vom 27. Dezember2011 kommt man zu dem Ergebnis, dass trotz eines wei-teren Anstiegs der Girokonten für jedermann weiterhinüberzeugende Anhaltspunkte dafür vorliegen, dass Kon-tolosigkeit in Deutschland ein ernstzunehmendes Pro-blem ist.Auf europäischer Ebene führte die Kommissionhierzu bereits eine Folgenabschätzung durch. Im Juliletzten Jahres sprach sich auch der zuständige Binnen-marktkommissar Michel Barnier für die Einführung ei-nes Basiskontos für alle Bürgerinnen und Bürger aus. ImMai dieses Jahres forderte auch der Ausschuss für Wirt-schaft und Währung des Europäischen Parlaments dieEinführung eines Kontos für alle Bürger. Aufgrund die-ser fortschreitenden Entwicklungen erwarten wir einenGesetzentwurf der Kommission noch bis Ende diesesJahres. Im Allgemeinen begrüße ich diese Entwicklun-gen auf europäischer Ebene.Die gesetzliche Verankerung eines Basiskontos für je-dermann allein stellt allerdings kein Allheilmittel dar,welches das Problem der Kontolosigkeit löst. Dies ha-ben Erfahrungen in anderen Ländern sowie Bundeslän-dern mit entsprechenden Sparkassengesetzen gezeigt.Ziel muss es daher sein, die Betroffenen besser aufzuklä-ren. Wir benötigen effiziente Verfahren, um dem Betrof-fenen die Chance auf eine Kontoeröffnung zu bieten,ohne ihn auf den aufwendigen Rechtsweg zu den ordent-lichen Gerichten verweisen zu müssen.Die Koalitionsfraktionen sind sich daher einig, dassder Zugang der kontolosen Verbraucher zu den kosten-losen Schlichtungsverfahren der Verbände der Kredit-wirtschaft, in denen die Kontoverweigerung durch einenunabhängigen Schlichter überprüft werden kann, ein inDeutschland bewährtes Instrument darstellt.Für die Betroffenen beinhaltet ein solches Verfahrendeutliche Vorteile. Im Gegensatz zu einem Klageverfah-ren ist es deutlich günstiger, einfacher, bürokratiearmund ohne juristische Fachkenntnisse zu meistern.Viele Betroffene sind jedoch nur mangelhaft überdiese Möglichkeit durch die Kreditinstitute informiert,auch wenn die Zahlen belegen, dass ein solches Schlich-tungsverfahren in den meisten Fällen zum Erfolg führt.Deswegen wollen wir dieses Verfahren verbessern. Kre-ditinstitute sollen daher zukünftig zu einem Bescheid beiAblehnung eines Kontoantrags in Textform und zu einemHinweis auf die Möglichkeit eines Schlichtungsverfah-rens verpflichtet werden. Die verpflichtende Einführungwürde die Kunden über die Gründe der Ablehnung in-formieren und eine Schlichtung in deutlich mehr Fällenermöglichen. Wir fordern daher die Bundesregierungauf, einen Gesetzentwurf mit diesen Vorschlägen vorzu-legen.Die Möglichkeit des Schlichtungsverfahrens in Zu-sammenhang mit der verbindlichen Abgabe eines Ableh-nungsbescheids stellt für alle Beteiligten die kosten- undzeitgünstigste Variante dar. Bei den Verhandlungen aufeuropäischer Ebene sollte auch eine solche Lösung be-rücksichtigt werden.In diesem Sinne bitte ich Sie um Unterstützung unse-res Antrags.
Die Teilhabe am modernen gesellschaftlichen Lebenwird heute anders bewertet als noch vor 40 Jahren. Werheutzutage kein Konto besitzt, ist in seiner Teilhabe einge-schränkt. Kontolosigkeit begrenzt die wirtschaftlicheHandlungsfreiheit der Betroffenen. Aus dem Bericht derBundesregierung geht hervor, dass die Zahl der von denBanken auf Guthabenbasis angebotenen Girokonten fürjedermann von 1,9 Millionen in 2005 auf 2,6 Millionen in2010 gestiegen sind. Wenn aber über eine halbe MillionBürger keinen Zugang zu einem Basiskonto erhält, dannist das ein unmöglicher Zustand und ein ernstzunehmen-des Problem.Seit 1995 haben wir den Banken Empfehlungen andie Hand gegeben. 2006 haben wir den Kreditinstitutenein Maßnahmenpaket empfohlen, 2008 noch einmal.Dabei hat die Bundesregierung auch sehr deutlich ge-macht, dass, sollten die Banken den Empfehlungen nichtfolgen, eine gesetzliche Regelung eingeführt wird.Bisher wurde keine einzige der Empfehlungen umge-setzt. Die Chance zur Selbstregulierung wurde vertan.Das ist für uns inakzeptabel. Aber vor allem ist es in-akzeptabel für die Verbraucher und Verbraucherinnen,die ohne Konto dastehen. Und darum handeln wir.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22501
Mechthild Heil
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Ganz klar brauchen Banken in einer sozialen Markt-wirtschaft Freiräume, aber Regulierung ist immer ander Stelle nötig, wo es der Markt nicht selber schafftoder wie in diesem Fall nicht will. Aus diesem Grundwollen wir das Basiskonto für jedermann. In diesemPunkt sind wir uns sogar mit der Opposition einig.Nur wollen wir eine Regelung auf europäischerEbene. Denn es bringt nichts, wenn wir in den nächstenWochen und Monaten eine Regelung finden, die dannkurze Zeit später wieder hinfällig ist, weil die Euro-päische Kommission dann eine entsprechende Lösungverabschiedet. Davon haben die Verbraucherinnen undVerbraucher nichts.Nein, wir wollen eine langfristige Lösung und keineSchnellschüsse, die übermorgen verpufft sind. Daherlehnen wir auch die Anträge der Opposition ab.Unser Antrag sieht neben der Einführung eines EU-weiten Basiskontos noch Neuerungen für das Schlich-tungsverfahren vor:Wir wollen einfache, zügige und kostengünstigeStreitschlichtungsverfahren.Mit Blick auf Kreditinstitute, die nicht an derartigenVerfahren teilnehmen, fordern wir die Bundesregierungauf, eine gesetzliche Regelung zu schaffen. In den Fällensoll das gesetzlich vorgesehene Schlichtungsverfahrenbei der Deutschen Bundesbank durch eine Änderung desUnterlassungsklagengesetzes erweitert werden.Verbrauchern soll die Ablehnung einer Kontoeröff-nung seitens der Kreditinstitute schriftlich mitgeteiltwerden, und sie müssen über den Anspruch auf einSchlichtungsverfahren informiert werden. Die Bundes-regierung wird aufgefordert, hierzu eine gesetzliche Re-gelung zu schaffen.Immer noch viel zu viele Verbraucher ohne Basis-konto nehmen das Schlichtungsverfahren nicht in An-spruch, weil sie weder wissen, dass es existiert, nochmissen, dass es für sie kostenlos ist. 2011 haben etwa5 200 Verbraucher an einem solchen Verfahren im Ban-kensektor teilgenommen. Bedenkt man die Zahl derer,die ohne Konto dastehen, ist es eine viel zu geringe Zahl.Daher fordern wir eine bessere Informationspolitik zuden Zugangsmöglichkeiten zu einem Schlichtungsver-fahren seitens der Auszahlungsstellen für Sozialleistun-gen. Ein Schlichter wird, wenn er den Auftrag erhaltenhat, für den Verbraucher kostenlos feststellen, ob die Ab-lehnung rechtskonform ist. Mit der Normierung desSchlichtungsverfahrens schaffen wir rechtliche Klarheitfür diejenigen, denen die Eröffnung eines Girokontosverwehrt wird.Wie sehen die weiteren Schritte aus? Die EuropäischeKommission hat bereits die Absicht geäußert, noch für2012 eine Regelung bezüglich eines Basiskontos vorzu-legen. Dies begrüßen wir.Weiterhin fordern wir die Bundesregierung auf, derzügigen Umsetzung dieses Vorhabens Nachdruck zu ver-leihen. Jedem Verbraucher muss die Möglichkeit gege-ben werden, ein Konto zu eröffnen – und dies natürlichauch zu einem angemessen Preis. Daher werden wirauch in Zukunft sehr genau beobachten, inwieweit dieBanken ihren Verpflichtungen gerecht werden. EineWeisheit besagt: „Der Markt basiert auf Eigennutz.Drum gibt es den Verbraucherschutz.“ Diesem Aus-spruch lassen wir Taten folgen.
Heute diskutieren wir den mittlerweile sechsten Be-richt der Bundesregierung zur Umsetzung der Empfeh-lungen des Zentralen Kreditausschusses zum Girokontofür jedermann und einen Antrag der Koalitionsfraktio-nen.In ihrem Bericht soll die Bundesregierung die Fort-schritte bei der Umsetzung der Selbstverpflichtung derdeutschen Kreditwirtschaft in Sachen Girokonto für je-dermann darstellen. Denn seit 1995 haben sich die Ban-ken in Deutschland verpflichtet, grundsätzlich jedem,der ein Girokonto eröffnen will, das auch zu ermögli-chen. So weit die Theorie.Auf 67 Seiten des Berichts der Bundesregierung vomDezember 2011 steht dagegen, wie die Realität inDeutschland aussieht: Die Selbstverpflichtung der deut-schen Kreditwirtschaft ist gescheitert.Immer noch gibt es Hunderttausende Menschen inDeutschland, denen ein Girokonto verweigert wird, ob-wohl sie schon eine Odyssee zwischen den Filialen derverschiedenen Kreditinstitute hinter sich gebracht ha-ben und immer wieder abgewiesen wurden, und dieschließlich gesetzwidrig das Konto einer nahestehendenPerson für eigene Zahlungszwecke verwenden müssen.Für die SPD-Fraktion ist das schlicht ein Skandal undein Umstand, bei dem jetzt endlich der Gesetzgeber ge-fordert ist. Wir wollen, dass die Banken in Deutschlanddie gesetzliche Pflicht haben, kontolosen Kunden aufAntrag ein Girokonto auf Guthabenbasis zu angemesse-nen Kosten einzurichten, sofern dies im Einzelfall nichtunzumutbar ist.Ein Girokonto gehört zum verfassungsrechtlichenExistenzminium. Denn mittlerweile ist es fast unstrittig,dass mehr zur staatlichen Daseinsvorsorge gehört, alsden Betroffenen Geld für Miete und Essen bereitzustel-len. Das Bundesverfassungsgericht hat festgestellt, dassder Staat die Rahmenbedingungen dafür schaffen muss,die der Bürger als Mindestvoraussetzung für ein men-schenwürdiges Dasein benötigt. Zusammengefasst ha-ben die Richter das in dem Satz: Der Mensch als Personexistiert notwendig in sozialen Bezügen.Früher wurde in diesem Zusammenhang über dieHöhe des Sozialhilfesatzes, den Steuerfreibetrag undden Kindergeldanspruch diskutiert. Heute schaffenStädte Sozialtickets, damit sich sozial Schwächere in derStadt bewegen können. Es gibt Kulturtickets für 3 Euro,damit Empfänger von Arbeitslosengeld II ein klassischesKonzert besuchen können oder mit den Kindern ins Pup-pentheater gehen können.Bei einem Girokonto gilt das aber alles offensichtlichnicht. Dabei gehört ein Konto heute zweifelsohne dazu,um am modernen Leben teilzuhaben. Heinz RühmannZu Protokoll gegebene Reden
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22502 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Carsten Sieling
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sang einst: „Der Freitag ist mein Freudentag, da über-reicht man mir den schwer verdienten Wochenlohn imTütchen aus Papier.“ Aber die klassische Lohntüte gibtes nicht mehr. Wie soll man ohne Girokonto eine Woh-nung und einen Arbeitsplatz finden und Steuern zahlen,Mobilfunkverträge abschließen oder Internetgeschäftetätigen?Ein Girokonto ist eine Grundvoraussetzung zur indi-viduellen Teilnahme am wirtschaftlichen und sozialenLeben und als solcher unverzichtbarer Bestandteil derDaseinsvorsorge. Solange es nicht glasklar geregelt ist,dass jedermann einen Anspruch auf ein Girokonto hat,haben wir hier eine offene Flanke. Für die SPD ist dieFrage nach dem Girokonto für jedermann damit gelebteSozialpolitik.Als Zwischenlösung wurde im Jahr 2010 das Pfän-dungsschutzkonto, P-Konto, geschaffen. Damit bleibtden Menschen das pfändungsfreie Existenzminimum vonderzeit 1 028,89 Euro automatisch erhalten. Aber auchdiese Erwartungen haben sich nicht erfüllt. Entgegender Absicht des Gesetzgebers, P-Konto-Inhaber nichtstärker zu belasten als Inhaber eines gewöhnlichenGirokontos, ist bei einer Vielzahl von Bankinstituten dieKontoführung nach Umwandlung in ein P-Konto deut-lich teurer als beim Girokonto. Die Kosten belaufen sichauf bis zu 25 Euro im Monat, und das, obwohl die Men-schen sowieso schon wenig Geld haben. Das ist Ab-zocke! Und vor allem: Wer noch nicht einmal ein Giro-konto hat, dem nützt der Anspruch auf seineUmwandlung in ein P-Konto auch nichts.Ein Komplex, der bisher viel zu wenig beleuchtetwurde, sind die Kosten, die dem Staat dadurch entste-hen, dass Banken Kontos verweigern. Allein die Bundes-agentur für Arbeit beziffert die jährlichen Bürokratie-kosten auf 11 Millionen Euro! Diese Kosten entstehender Agentur, wenn sie mit der Post Zahlungsanweisun-gen zur Verrechnung vornehmen muss. Das waren alleinim Jahr 2011 circa 11 Millionen Vorgänge. Ein unglaub-licher bürokratischer Aufwand, der vermeidbar wäre,wenn sich die schwarz-gelbe Koalition hier endlich be-wegen würde.Die Koalitionsfraktionen gehen dagegen weiter denBanken auf den Leim. Anders ist der Antrag, den wirheute abschließend beraten, nicht zu verstehen. Denn erist absolut unzureichend und wird dem Problem in kei-ner Weise gerecht. Bei Schwarz-Gelb herrscht offen-sichtlich die Auffassung, Banken zu Verträgen zu zwin-gen, sei mit einer freien Marktwirtschaft nicht vereinbar.Aber was ist denn das für eine Vorstellung von Markt-wirtschaft, die nur eine Seite, nämlich die der Banken, inBlick hat? Weder wird endlich eine gesetzliche Ver-pflichtung der Banken gefordert, noch werden – wozusich die Banken eigentlich längst verpflichtet haben –die Schlichtungssprüche der Schiedsstellen als verbind-lich vorgeschrieben. Das ist viel zu wenig.Selbst die EU-Kommission sieht Handlungsbedarf.Binnenmarktkommissar Barnier hat unlängst eine Ini-tiative für eine gesetzliche Verpflichtung der Banken an-gekündigt. Es gibt aber keinen Grund, jetzt auf die EUzu warten. Wir wissen nicht, wie der Vorschlag ausge-staltet ist, und wir wissen nicht, wann er endgültig aufdem Tisch liegt. Das kann noch sehr lange Zeit dauern.Auch andere europäische Staaten wie Belgien undFrankreich haben eigene Regelungen, Deutschlandsteht dagegen weiter im Abseits.Die SPD will hier endlich Abhilfe schaffen. Deshalbhaben wir ein eigenes Konzept vorgelegt, mit dem wirdas Problem endlich lösen können, damit nicht im sie-benten Bericht der Bundesregierung wieder steht, dassdas Girokonto für Jedermann nach wie vor nicht funk-tioniert. Den Antrag der Koalitionsfraktionen lehnenwir ab.
Was die Opposition in sieben Jahren rot-grünerKoalition und in elf Jahren mit einem sozialdemokrati-schen Finanzminister nicht auf die Beine gestellt bekom-men haben, schließen wir nach wenigen Monaten kon-zentrierter, sachbezogener Arbeit ab.Darin, dass ein Girokonto im Hinblick auf die heutigeGeschäftswelt zur Teilhabe an der Gesellschaft und demalltäglichen Leben notwendig ist und dass Bürgern, de-nen ein Zugang zu einem Konto unfreiwillig verwehrtbleibt, benachteiligt werden, sind wir uns in diesemHause ja einig. Der Ansatz, wie wir diesem Problem bei-kommen können, unterscheidet uns aber von der Oppo-sition. Eine alleinige gesetzliche Verpflichtung kann keinAllheilmittel sein. Wir haben während unserer Antrags-beratung alle betroffenen Seiten mit einbezogen. SowohlVerbraucher als auch private und öffentliche Bankenwurden angehört und ein gesunder Konsens gefunden,mit dem den Beteiligten geholfen und den Anbietern hof-fentlich nicht geschadet ist.Im Rahmen der auf europäischer Ebene laufendenVerhandlungen fordern wir die Bundesregierung daherauf, sich dafür einzusetzen, dass den deutschen Bürgernein Zugang zu einem Basiskonto auf Guthabenbasis er-möglicht wird. Da einem Verbraucher ein Anspruch aufetwas aber nichts nützt, wenn er diesen nicht kennt oderdurchsetzen kann, fördern wir des Weiteren den Zugangzu dem kostenlosen Schlichtungsverfahren der Verbändeder Kreditwirtschaft. In diesen bewährten Verfahrenwird durch einen unabhängigen Schlichter zwischenVerbrauchern und Instituten vermittelt, und die veröf-fentlichten Zahlen belegen, dass den Kunden im Regel-fall zu einem Konto verholfen werden kann. Dies ist fürden einfachen Bürger zugänglicher und mit weniger bü-rokratischem Aufwand verbunden als ein Verfahren voreinem ordentlichen Gericht. Darum setzen wir auf eineklare Kommunikation und Aufklärung – unter anderemdurch Träger von Sozialleistungen, aber auch durch dieBanken selbst. Die Institute sollen daher verpflichtetwerden, Ablehnungen eines Kontowunschs stets in Text-form auszuweisen und auf die Möglichkeit eines Schlich-tungsverfahrens hinzuweisen. Mit einer schriftlich fest-gehaltenen Ablehnung wird das dann folgendeVerfahren enorm erleichtert und auch andere Formalitä-ten wie zum Beispiel der Nachweis beim Träger von So-zialleistungen, dass man sich um ein Konto bemüht,werden für den Verbraucher vereinfacht.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22503
Holger Krestel
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Personen, die aufgrund von offensichtlichem Eigen-verschulden kein Konto erhalten, weil sie sich zum Bei-spiel dem Personal in der Filiale gegenüber untragbarverhalten, werden allerdings weiterhin keiner Bank zu-gemutet werden! Ebenso sehen wir, dass eine Bank ent-weder ein Unternehmen oder eine Genossenschaft ist,welche beide am Ende des Jahres wenigstens mit einerschwarzen Null unter der Bilanz dastehen möchten. Da-her wird es ihnen auch weiterhin gestattet sein, ein an-gemessenes Entgelt für die Kontoführung zu berechnen.Dies ist auch notwendig, um einer Ungleichbehandlungvon Banken nach Regionen zuvorzukommen und zu ver-hindern, dass Filialen in dann für das Geschäft ungüns-tigen Gebieten geschlossen werden, obwohl sie dortdringend gebraucht werden.Die Koalition hat hier einen sehr verbraucherfreund-lichen und an der Realität orientierten Entwurf, derklare Lösungswege ebnet, vorgelegt. Das ist etwas, waskein sozialdemokratischer Finanzminister in elf undkeine grüne Verbraucherschutzministerin in vier Jahrengeschafft haben. Ich bitte Sie daher, diesen Antrag zu un-terstützen.
Seit Jahren diskutieren wir über die Einführung einesGirokontos für jedermann. Immerhin berichtet die Bun-desregierung auch auf unseren Druck und den von So-zialverbänden hin seit 2002 in der Regel im zweijähri-gen Abstand über den Stand der Umsetzung derEmpfehlung des Zentralen Kreditausschusses. Der unshier vorliegende Bericht erfasst ausnahmsweise einendreijährigen Zeitraum bis zum 31. Dezember 2011, wo-durch die Auswirkungen der Reform des Kontopfän-dungsschutzes berücksichtigt werden konnten. Mit demPfändungsschutzkonto, kurz P-Konto, versuchte dieBundesregierung, das Problem, der Blockierung vonGirokonten durch Pfändungsmaßnahmen, anzugehen.Doch löst das P-Konto nicht das Problem der Konto-losigkeit.Was sagt uns der vorliegende Bericht? Er gibt in denersten Teilen eine statistische Übersicht über die zahlen-mäßige Entwicklung der „Girokonten für jedermann“
, einschließlich Kontokündigungen, -ablehnungen
und Beschwerdeverfahren sowie der P-Konten bis Juni2011. Zu den Kontolosen in Deutschland wird auf eineStudie der Europäischen Kommission verwiesen, wo-nach im Juli 2010 in Deutschland rund 670 000 Men-schen der über 18-Jährigen ohne Konto waren. Das sindMenschen, die nicht überschuldet sein müssen, lediglichkontolos. Wenn man sich allerdings die Schätzungen desInstituts für Finanzdienstleistungen, iff, anschaut, willdas so recht nicht ins Bild passen. Denn laut iff habensich allein rund eine halbe Million überschuldete konto-lose Menschen freiwillig an eine Schuldnerberatung ge-wandt. Dies legt nahe, dass die Dunkelziffer bei denKontolosen deutlich höher ausfallen dürfte.Die Empfehlung des Zentralen Kreditausschusses„Girokonto für jedermann“ stammt bereits aus demJahr 1995 und wurde als Selbstverpflichtung ohne Bin-dungswirkung an die Mitgliedsinstitute, das heißt dieeinzelnen Bankenverbände, abgegeben. Sie erfolgte vorallem auf Druck der Sozialverbände. Seitdem war genü-gend Zeit, um seitens des Gesetzgebers aktiv zu werden.Doch wir müssen feststellen: Bisher ist so gut wie nichtspassiert. Der nun schnell zurechtgezimmerte Antrag derRegierungskoalition, der den bereits seit längerem vor-liegenden Anträgen der Oppositionsfraktionen kürzlichbeigelegt worden ist, ist wahrlich kein Glanzstück. Undder Idee eines Girokontos für jedermann wird er keines-wegs gerecht. Hinter der Idee steht, Bürgerinnen undBürgern ohne Girokonto einen Neuzugang zum bargeld-losen Zahlungsverkehr und hierdurch die Teilnahme amWirtschaftsleben zu ermöglichen.Mit dem Antrag machen es sich die Koalitionsfraktio-nen zu einfach. Ihr jetziger Vorschlag besteht nur darin,die Banken stärker in die Pflicht zu nehmen, indem sieüber die bestehende Möglichkeit von Schlichtungsver-fahren zu informieren haben. Das mag dann vielleichtals Folge mehr Schlichtungsverfahren geben. Denn Be-troffene erfahren dann nicht erst auf Anfrage hin bei so-zialen Beratungsstellen von dieser Möglichkeit, sofernsie sich überhaupt an eine solche wenden. Daraus gleicheinen verbesserten Zugang zum Basiskonto und Rechts-sicherheit für von Kontolosigkeit Betroffene herzuleiten,ist blauäugig. Daneben ist die Schlichtungsaufgabe ver-bandsabhängig eingebettet. Das heißt, sie ist beim Ver-band der Bank angesiedelt. Ein unabhängiger Ombuds-mann kann bei Nichteinigung auch noch hinzugezogenwerden; sein Urteil ist aber von keiner bindenden Wir-kung. Das wird den Betroffenen also wenig nützen. EineLösung des Problems der Kontolosigkeit ist damit alsoimmer noch nicht in Sicht. Um endlich Rechtssicherheitund Bürgernähe in die Praxis umzusetzen, braucht eseine gesetzliche Verankerung eines Rechtsanspruchs.Aber was hier als „Zugang zu einem Basiskonto“ loseumrissen wird, ist nichts als ein unverbindlicher Appell.In der Praxis taugt dies gar nichts. Das hat die über15 Jahre dauernde Selbstverpflichtung gezeigt.Die Verankerung eines individuell einklagbarenRechts auf ein Girokonto hingegen schafft Verbindlich-keit. Es ermöglicht die Teilnahme am Geldsystem und istnicht zuletzt nach den Grundsätzen der Versorgung mitlebensnotwendigen Gütern möglich und sinnvoll, weilnormativ geboten – Stichwort Existenzminimum. Zudemkann bei einem rechtlichen Anspruch der GesetzgeberBedingungen festlegen und Leistungen definieren, zumBeispiel dass das Konto kostenlos und erschwinglich fürjedermann ist, und er kann festlegen, welche Funktionenes beinhalten soll, beispielsweise ein Girokonto mit Dis-pokreditfunktion statt eines reinen Basiskontos.Zum Schluss möchte ich festhalte: Der Versuch derBundesregierung, das Thema Girokonto für jedermannohne Debatte im Bundestag einfach so abzubügeln, wirddem immens wichtigen Anliegen der Idee eines Giro-kontos für jedermann keineswegs gerecht. Wir erwartenvon der Regierung, dass sie das noch einmal vernünftigdiskutiert. Auch fordern wir eine Überarbeitung des An-trags der Koalitionsfraktionen; denn dieser bietet keineLösung, er verschiebt lediglich das Problem. Gegenüberunserem Anliegen, einen Rechtsanspruch für ein Giro-konto zu verankern, ist er weit entfernt. Zudem leuchtetZu Protokoll gegebene Reden
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22504 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Barbara Höll
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es überhaupt nicht ein, weiteres Handeln auf die langeBank einer möglichen Regelung auf europäischer Ebenezu schieben und Kompetenzen aus der Hand zu geben.Wir hoffen inständig, dass sich die Bundesregierungdiesem wichtigen Thema noch einmal mit entsprechen-der Sensibilität widmen wird, sodass eine Lösung im In-teresse der betroffenen Bürgerinnen und Bürger heraus-kommt.
Ohne Konto ist das Leben teuer, unbequem und oftstigmatisierend. Trotz einer anders lautenden Selbst-verpflichtung der Kreditwirtschaft machen Hochrech-nungen der Europäischen Kommission zufolge über600 000 Menschen in Deutschland täglich diese Erfah-rung. Telefon- und Internetanschluss, die monatlicheÜberweisung vom Arbeitgeber, der Kindergeldstelle,das Einkaufen im Internet oder der Stromabschlag –ohne Bankverbindung ist dies alles entweder unmöglichoder nur durch aufwendige, teure und nicht selten stig-matisierende alternative Wege wie Bareinzahlungenoder Fremdkontonutzung möglich.Dieses Problem wird erfreulicherweise auch von derschwarz-gelben Koalition erkannt. Völlig richtig be-schreiben Union und FDP in ihrem Antrag das Kontoals Bindeglied zum Wirtschaftskreislauf und als Teil dergewöhnlichen Lebensführung und stellen die Problemeder Kontolosigkeit für die Betroffenen und ihr Umfeldzutreffend dar. Leider folgen aus diesen Feststellungenkeine Taten. Der guten und klaren Problemanalyse fol-gen verschwurbelte Windungen und Drehungen, die ei-gentlich nur eines sagen: Die Probleme der Kontolosensind Schwarz-Gelb den Ärger mit den Banken nicht wert.Dabei liegen die volkswirtschaftlichen Kosten der Kon-tolosigkeit wesentlich höher als die Kosten einer Versor-gung mit Konten.Statt einen Gesetzentwurf für ein Recht auf ein Kontoauf Guthabenbasis vorzulegen oder wenigstens der Bun-desregierung einen entsprechenden Arbeitsauftrag zuerteilen, versteckt sich die Koalition hinter Brüssel undgibt vor, auf eine europäische Regelung zu warten. DasVerhalten der Bundesregierung ist zynisch; denn siezweifelt in diesem Bereich die gesetzgeberische Kompe-tenz der EU an. Statt sich der grünen Forderung nach ei-nem Recht auf ein Girokonto auf Guthabenbasis anzu-schließen, steht die Koalition lediglich europäischenInitiativen „aufgeschlossen gegenüber“ und will dieKontolosen mit einem Recht auf eine Ablehnung ihresAntrages auf Kontoeröffnung in Textform und mit ver-besserter Information über die Schlichtungsverfahrender Kreditwirtschaft abspeisen. Auch diese Minimalfor-derungen werden im Antrag noch eingeschränkt und ab-geschwächt – immer im Sinne der Banken.Der vorliegende Antrag zeigt deutlich worin der Un-terschied zwischen Opposition und Koalition besteht:Wir wollen, dass alle Menschen am Wirtschaftslebenteilhaben können und dass auch arme Menschen unterfairen Bedingungen Zugang zu Bankgeschäften haben,und zwar mit einem gesetzlichen Anspruch und nicht alsBittsteller und Bittstellerinnen. Und wir wollen gleicheBedingungen für alle Kreditinstitute. Es ist nicht fair,dass lediglich einige Sparkassen durch die Reglungen inden Landessparkassengesetzen einem Kontrahierungs-zwangs unterliegen und ihre Wettbewerber alles tun, umsich unliebsame Kunden vom Hals zu halten.Sie stehen aufseiten der Banken und verschanzen sichhinter dem Hinweis auf eine europäische Regelung, diedie Bundesregierung nach allem, was man aus Brüsselhört, nach Kräften hintertreibt. Ich hätte nach der erstenLesung der Oppositionsanträge zum Konto für jeder-mann mehr von der Union erwartet als diesen lauen undhalbgaren Antrag. Wir werden weiter für ein Recht aufein Basiskonto kämpfen. Für uns ist die Debatte mit demheutigen Tag nicht vorbei.Ein „Konto für jedermann“ ist aber für die Teilhabeam gesellschaftlichen Leben und die Teilnahme am mo-dernen Wirtschaftsleben im 21. Jahrhundert unverzicht-bar. Selbst der Gesetzgeber sieht das so, vergleiche nur§ 47 SGB I, wonach der Regelfall die unbare Auszah-lung von Geldleistungen ist.Die Zahl der kontolosen Verbraucher ist nach wie vorhoch, circa 670 000 Personen in Deutschland. Lediglichin acht Bundesländern sind die Sparkassen landesge-setzlich verpflichtet, neuen Bankkunden ein Girokontoauf Guthabenbasis zur Verfügung zu stellen. Mit Aus-nahme des Deutschen Sparkassen- und Giroverbands,DSGV, lehnen die Verbände der Kreditwirtschaft unver-ändert jede verbindliche Regelung von Guthabenkontenab. Es kann nicht sein, dass den öffentlichen Kreditinsti-tuten die alleinige Last aufgetragen wird.Eine gesetzliche Regelung, Kontrahierungszwang,die dem Verbraucher unter Ausschluss von Unzumutbar-keitsgründen ein subjektives Recht auf ein Girokontoeinräumt, ist verfassungsrechtlich zulässig, so die wohlherrschende Meinung.Das Verhalten der Bundesregierung ist zynisch. Aufnationaler Ebene verweist man darauf, eine europäischeGesetzgebung abzuwarten. „Jedenfalls kann aufgrundder sich abzeichnenden europäischen Regelung ein ge-setzgeberischer Handlungsbedarf auf nationaler Ebenegegenwärtig nicht bejaht werden.“ Auf der europäi-schen Ebene vertritt die Bundesregierung ihre Zweifelan einer Gesetzgebungskompetenz der EU. Das ist sogarin der Sache begründet, denn es ist fraglich, ob ein hin-reichender, grenzüberschreitender Kontomarkt für ele-mentare Teilhabe besteht. Jedenfalls wird es kurzfristigkeinen Rechtsakt der Kommission geben, sodass dieBundesregierung bzw. der Bundestag gefordert ist, na-tional tätig zu werden.Lediglich sollen Kreditinstitute dann, wenn der An-trag auf Eröffnung eines Basiskontos verweigert wird,gesetzlich verpflichtet werden, die Ablehnung schriftlichzu begründen. Damit wird Verbraucherinnen und Ver-brauchern nicht wirklich geholfen, zwischen Kunde undKreditwirtschaft gibt es kein Geschäftsverhältnis aufAugenhöhe, Schlichtungsverfahren sind nicht verbind-lich.Kontolosigkeit führt zu volkswirtschaftlichen Mehr-kosten, die erheblich höher liegen als eine VersorgungZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22505
Nicole Maisch
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mit Konten. Selbst die Bundesagentur für Arbeit emp-fiehlt eine gesetzliche Regelung. Bei der Übermittlungvon Leistungen nach ALG I oder II sowie Kindergeldentstanden im Jahr 2011 durch Kontolosigkeit Entgeltein Höhe von mehr als 10 Millionen Euro. Studien habengezeigt, dass Kontolosigkeit die Verweildauer in Über-schuldungssituationen fördert. Gebühreneingrenzung,Belastung der finanziell Schwächsten durch Gebührenvon monatlich über 20 Euro für ein nicht voll ausgestat-tetes Girokonto, Internetnutzung, dürfen nicht sein.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Finanzausschusses auf Drucksa-
che 17/9798. Der Ausschuss empfiehlt in Kenntnis des
Berichts der Bundesregierung auf Drucksache 17/8312
unter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung die An-
nahme des Antrags der Fraktionen der CDU/CSU und
FDP auf Drucksache 17/9398 mit dem Titel „Rechtssi-
cherheit beim Zugang zu einem Basiskonto schaffen“.
Wer stimmt dafür? – Wer stimmt dagegen? – Wer enthält
sich? – Die Beschlussempfehlung ist angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 28 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Stephan
Kühn, Dr. Anton Hofreiter, Dr. Valerie Wilms,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion BÜND-
NIS 90/DIE GRÜNEN
Mit ambitionierten Verbrauchsgrenzwerten
die Ölabhängigkeit verringern
– Drucksache 17/10108 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Finanzausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Auch hier nehmen wir, wie in der Tagesordnung aus-
gewiesen, die Reden zu Protokoll.
Unser Verkehrsminister Peter Ramsauer rief vor eini-gen Jahren die Automobilindustrie dazu auf, in die Ent-wicklung alternativer Antriebe – insbesondere in dieElektroautoentwicklung – zu investieren. Er sagte kon-kret, ich zitiere: „Wer jetzt nicht investiert, verschläft dieZukunft.“Und investiert haben wir in den letzten Jahren – da-mit meine ich, Politik und Industrie haben nicht ver-schlafen, wir haben und werden auch weiterhin in un-sere Zukunft investieren. Von politischer Seite geben wirdie Impulse, die Anschübe und Vorgaben und die Indus-trie tut ihren Teil dazu.Innovation ist in unser aller Sinne, und damit stehenwir weltweit immer noch mit an der Spitze. Bei der Re-duktion des Verbrauchs fossiler Energien sowie des Aus-stoßes von Treibhausgasemissionen ist der Verkehrssek-tor nur ein Teil von vielen. Aber auch er muss seinenBeitrag leisten.Im Koalitionsvertrag haben wir uns verpflichtet, einebreit angelegte und technologieoffene Mobilitäts- undKraftstoffstrategie zu entwickeln. Diese soll alle alterna-tiven Technologien und Energieträger berücksichtigen.Die Bedeutung dieser Strategie wird sogar noch einmalim Energiekonzept der Bundesregierung von 2010 un-terstrichen.Das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadt-entwicklung ist auch schon tätig geworden und hat unteranderem unter Koordination der Deutschen Energie-Agentur GmbH, dena, vier Institute mit einer Vorunter-suchung beauftragt: das Deutsche Biomasse For-schungs Zentrum, DBFZ, das Institut für Energie- undUmweltforschung Heidelberg, ifeu, Ludwig-Bölkow-Systemtechnik, LBST, sowie die ProgTrans AG.Diesen Vorentwurf, den Sie auch auf den Internetsei-ten des BMVBS finden, empfehle ich allen als Lektüre,und ich bin mir sicher, dass die Bundesregierung die da-rin gemachten Vorschläge sorgfältig prüfen und dannentsprechend angehen wird, wenn sie das nicht sogarschon tut.Auf Basis konkreter energie- und klimapolitischerZiele sollen Maßnahmen bzw. Steuerungsinstrumentedefiniert werden. Dabei steht dann eine Vielzahl fiskali-scher bzw. förderpolitischer sowie ordnungsrechtlicherInstrumente zur Verfügung.Wir haben uns bisher hauptsächlich auf den Pkw-Ver-kehr konzentriert, müssen das aber selbstverständlichauch auf die anderen Verkehrsarten ausweiten.Dennoch werden wir das nicht so wie die Grünen ma-chen. Wir sind wirtschaftsfreundlich und verlangen denUnternehmen und den Entwicklern nicht Dinge ab, dietechnisch und wirtschaftspolitisch unrealistisch sind.Die Koalition verfolgt zudem schon seit langem einetechnologiefreundliche und technologieoffene Politik,die für den Fortschritt unerlässlich ist. Aber, wenn mansich viele andere Ihrer Anträge und Gesetzesentwürfe soanschaut, kann man das von Ihnen nicht sagen kann. ImGegenteil: Sie sind ja geradezu technikfeindlich!Aber zurück zum Thema: Der Straßenverkehr verur-sacht momentan noch etwa ein Fünftel aller deutschenCO2-Emissionen, und das muss reduziert werden – ganzklar.Der Parlamentarische Beirat für nachhaltige Ent-wicklung im Deutschen Bundestag geht davon aus, dassElektromobilität die Zukunftstechnologie in diesem Be-reich sein wird. Aber richtig klimafreundlich ist Elektro-mobilität erst dann, wenn hauptsächlich erneuerbareEnergie dafür zum Einsatz kommt.In seinem Positionspapier „Perspektiven für einenachhaltige Mobilität – Mobilität für die Zukunft sicher-stellen“ hat der Beirat im April 2011 darauf hingewie-sen, dass Klimawandel, demografischer Wandel undEndlichkeit der fossilen Ressourcen, die weltweite Zu-nahme des Energiebedarfs sowie die Belastung durchLuftverschmutzung und Lärmbelästigung in den StädtenPolitik und Wirtschaft vor eine historische Herausforde-rung stellen.
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22506 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Daniela Ludwig
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Ziel ist es, dass Mobilität auch in Zukunft für alle zu-gänglich und bezahlbar ist, wobei wir davon ausgehenkönnen, dass sich dieser Sektor extrem wandeln wird.Die Bundesregierung ist auf dem besten Weg, trotz allerKrisen.Es gilt somit, die bestehenden Antriebe und Entwick-lungen weiter zu verbessern und auch Anreize beim Her-steller und Endverbraucher zu schaffen, darin zu inves-tieren. Diese können steuerlicher Art sein, aber auch dieBereitstellung einer guten Infrastruktur. Und zuallererstwill ein Autokäufer von guten Produkten überzeugt wer-den.Es gibt bereits batterieelektrische Fahrzeuge, BEV,wobei die Speichermedien leider noch nicht optimalsind, Plug-in-Hybridfahrzeuge, PHEV, sowie einigewasserstoffbetriebene Brennstoffzellenfahrzeuge, FCEV.Der Fortschritt geht mit raschen Schritten voran. Und inebensolchen Schritten werden die Produkte immer um-weltfreundlicher werden! Der Wettbewerb und eine ge-wisse Anreizförderung werden das schon machen.Der Verkehr verbraucht in Deutschland rund 30 Pro-zent der gesamten Endenergie. Seit 1960 hat sich derEnergieverbrauch des Verkehrssektors verdreifacht, seit2000 ist er wieder leicht rückläufig. Wie ich schon sagte,es ist ganz klar, dass auch der Verkehrssektor einen Bei-trag zur Energiewende leisten muss.Aus diesem Grund ist es Ziel der Bundesregierungden Endenergieverbrauch im Verkehr gegenüber 2005um 10 Prozent bis 2020 und um 40 Prozent bis 2050 zusenken und damit maßgeblich zur CO2-Einsparung bei-zutragen.Das Ziel „Weg vom Öl“ und somit auch weg von ei-ner Abhängigkeit von Energieimporten, kann ich eigent-lich nur unterstützen. Das sollte dann aber auch für dieanderen Importe gelten, wie zum Beispiel Gas.Ausgehend von der Endlichkeit fossiler Ressourcenwird sich die globale Energieversorgung langfristig auferneuerbare Energien umstellen.Da der größte Teil davon als Elektrizität bereitstehenwird – Windenergie, Wasserkraft, Photovoltaik, Geo-thermie und solarthermische Kraftwerke –, wird lang-fristig auch der Verkehrssektor elektrifiziert werdenmüssen.Neue Technologien eröffnen uns neue Wege: Und ge-nau diese Wege gehen wir.
Der Antrag der Grünen, die Ölabhängigkeit durchambitionierte Verbrauchergrenzwerte zu verringern, istselbst sehr ambitioniert: Durch diese Aufforderung andie Bundesregierung soll nichts weniger als die deutscheAutomobilindustrie – im Übrigen gegen deren erklärtenWillen – gerettet, Automobilität bezahlbar sowie massivUmwelt und Klima geschont werden.Um mit dem Lobenswerten anzufangen: Ich begrüßees sehr, dass sich die Grünen über all diese FragenGedanken machen. Gerade Themen wie bezahlbareAutomobilität und Technologieneutralität sind Grund-pfeiler der Verkehrspolitik der Union. Als direkt gewähl-ter Abgeordneter des Bundestagswahlkreises Ludwigs-burg freue ich mich natürlich auch darüber, dass einUnternehmen aus meinem Wahlkreis so gelobt wird.Bosch ist nicht nur ein erfolgreicher Autozulieferer undeine sehr innovative Firma, sondern auch ein ausge-zeichneter Arbeitgeber. Eine kleine Anmerkung dazukann ich mir aber nicht verkneifen. Die Robert BoschGmbH aus Gerlingen ist nicht einer der weltweit größ-ten Automotive-Zulieferer, sondern der größte.Nun zu den Inhalten der Aufforderung an die Bundes-regierung. Als Christdemokrat vertrete ich die Maxime:So viel Staat wie nötig und so wenig Staat wie möglich.Dieser Antrag scheint mir in die zweite Kategorie zu ge-hören. Natürlich geht kein Weg daran vorbei, den CO2-Ausstoß unserer Autos weiter zu begrenzen. Dafür gibtes auch gute Gründe: Der Verkehrssektor, der etwas we-niger als ein Fünftel unserer Emissionen verursacht,muss einen fairen Beitrag zum Klimaschutz erbringen.Wer das unter Umweltgesichtspunkten nicht versteht,dem sei gesagt, dass es auch wirtschaftlich anders nichtgeht. Denn Reduktionsleistungen, die der Verkehr nichterbringt, müssen andere, stärker regulierte Sektoren miterbringen. Das können wir unserer energieintensivenIndustrie nicht antun. Klar ist auch, dass der weit über-wiegende Teil der Verkehrsemissionen – 95 Prozent da-von – im Straßenverkehr entsteht. Verbrauch und Emis-sionen unserer Autos müssen also weiter gesenktwerden. Aber die deutsche Autoindustrie lebt ja nichtauf einer Insel der Glückseligen. Sie muss im weltweitenharten Wettbewerb bestehen und hat deshalb ein ureige-nes Interesse daran, die Grenzwerte zu senken. Geradebei steigenden Ölpreisen werden verbrauchsarme Fahr-zeuge ein hervorstechendes Verkaufsmerkmal. Ich haltedeshalb wenig von Zwangsbeglückungen der Industrieund extremen staatlichen Vorgaben, um technische Inno-vationen auf Teufel komm raus zu erzwingen.Außerdem sind CO2-Reduktionen beim Auto auchunter Verbraucherschutzgesichtspunkten wichtig. Auto-mobilität muss weiter bezahlbar bleiben; da sind wir unsmit den Grünen ja einig. Sparsamere Fahrzeuge bedeu-ten eine geringere Spritrechnung für Fahrer. Man mussja gar nicht die Greenpeace-Rechnung unterstützen,wonach Flottengrenzwert für 2020 von 95 Gramm proKilometer durchschnittlichen Autofahrern eine jährlicheErsparnis von über 400 Euro bei den Spritkosten bringt.Aber Anfang des Monats – per Pressemitteilung am7. Juni – hat sich auch der in dieser Hinsicht völlig un-verdächtige ADAC aus Gründen des Verbraucherschut-zes für die strikte Beibehaltung des 95-Gramm-Flotten-ziels ausgesprochen. Aus dem gleichen Grund plädiertder ADAC auch dafür, nach 2020 weitere feste Flotten-grenzwerte festzulegen, und dazu wird es sicherlich auchkommen.Aber diese Flottengrenzwerte sollten eben realistischsein. Sonst nützen sie weder den Verbrauchern – wegenteurerer Fahrzeuge – noch der Industrie und somit erstrecht nicht dem Standort Deutschland. Gleich an ersterStelle fordert der Antrag die Herabsetzung des vor ge-rade drei Jahren beschlossenen Flottenziels von 95 aufZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22507
Steffen Bilger
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70 Gramm pro Kilometer. Wem 95 Gramm pro Kilome-ter nichts sagen: Es bedeutet, dass die Autos, die einHersteller verkaufen darf, im Durchschnitt nicht über4 Liter Benzin auf 100 Kilometer verbrauchen dürfen.Jeder kann sich vorstellen, wie dieser Grenzwert vor al-lem BMW, Audi, Daimler und Porsche, die nun mal aufleistungsfähigere Fahrzeuge spezialisiert sind und Hun-derttausenden Leuten Lohn und Brot geben, natürlichschon unter Druck setzt.Auch wir wollen das lange geltende 95-Gramm-Zielnicht aufweichen. Aber in dieser Situation 70 Gramm zufordern, also im technischen und wirtschaftlichenGrenzbereich einfach europaweit das 3-Liter-Auto zumDurchschnitt machen zu wollen, das ist für Daimler undCo sicherlich nicht förderlich und nutzt am Ende inDeutschland niemandem.Es sieht so aus, dass die entsprechende EU-Richtli-nie 443 aus 2009, die das 95-Gramm-Ziel festlegt, nicht– oder zumindest nicht richtig – gelesen wurde. Dortkann man sehen, dass das „Überprüfungsverfahren“,Review, das jetzt in Brüssel läuft, nach Art. 13 Abs. 5wörtlich zum Ziel hat, „Modalitäten festzulegen um biszum Jahr 2020 ein langfristiges Ziel von 95 g CO2/proKilometer auf kosteneffiziente Weise zu erreichen“. DieVerordnung schließt die Forderung der Grünen, unter95 Gramm zu gehen, also von vornherein aus, und dasmit gutem Grund.Was dann die Forderung betrifft, 2025 – also nichteinmal eine Fahrzeuggeneration später als 2020 – mit50 Gramm pro Kilometer das 2-Liter-Auto zum europäi-schen Durchschnitt machen zu wollen: Es lässt mich anIhrem Realitätssinn zweifeln. Danach ist Ihr Antragdann überraschenderweise wieder gnädiger. Zwar wirdmit 35 Gramm bis 2040 das 1,5-Liter-Auto gefordert,aber für die Reduktion werden der Industrie dann im-merhin großzügige 15 Jahre Zeit gelassen.Eine Sache verkennen die Grünen übrigens völlig beiihrer Fixierung auf den CO2-Ausstoß am Auspuff: Ange-sichts der immer niedrigeren Emissionen beim Fahrensind Auspuffgase ein zunehmend schlechterer Indikatorfür die Umweltfreundlichkeit von Fahrzeugen. DieEmissionen der Vorkette – also in der Fahrzeugherstel-lung und Energieproduktion – gewinnen immer mehr anGewicht. Deshalb steigen in der EU die Bedenken, dieFahrzeugemissionen weiterhin nur mittels der Auspuff-gase – Stichwort: Tailpipe Emissions – zu berechnen.Die Grenzwerte der Zukunft – sosehr wir sie brauchenund auch aus Verbraucherschutzsicht für notwendig hal-ten – werden nicht mehr nur am Auspuffgas zu messensein. Jetzt diese Grenzwerte festlegen zu wollen – in völ-liger Unkenntnis dessen, was der Industrie in 2025 tat-sächlich zuzumuten ist, bei dem berechtigten Zweifel, obAuspuffgase dann überhaupt noch die optimale Berech-nungsgrundlage sind –, lehnen wir ab.
Die Endlichkeit fossiler Brennstoffe und damit ein-hergehend die Verknappung von Öl sind die Preistreiberan den Tankstellen. Aber nicht allein die Preistreibereizwingt zum Umdenken – weg vom Öl –; es ist auch derCO2-Ausstoß. Der Straßenverkehr verursacht rund 18 Pro-zent der CO2-Emissionen in Deutschland.Wenn wir die Versprechungen zum Klimaschutz ein-halten und das 2-Grad-Ziel bei der Erderwärmung er-reichen wollen, müssen die CO2-Emissionen bis zumJahr 2050 gegenüber 2005 um 90 Prozent reduziert wer-den. Für den deutschen Straßenverkehr heißt das: DieCO2-Emissionen aller zugelassener Pkw, circa 41 Mil-lionen, müssten von 188 Gramm auf gut20 Gramm pro Kilometer gedrosselt werden, entspre-chend einem Gesamtflottenverbrauch von lediglich0,9 Liter Benzin pro 100 Kilometer. Seit 1990 sinken dieCO2-Emissionen in Deutschland. Trotz aller technischenNeuerungen ist es aber nicht gelungen, den Ausstoß desTreibhausgases Kohlendioxid im Straßenverkehr zu ver-ringern.Bei diesen Zahlen ist nachvollziehbar, dass der Rufnach dem Null-Emissions-Auto lauter wird. Das kannaber nur das Elektrofahrzeug sein, betankt mit regenera-tivem Strom.Die Weichen für die Elektromobilität wurden noch zuZeiten der Großen Koalition mit der Verabschiedung desNationalen Entwicklungsplans Elektromobilität, denModellregionen und im Anschluss mit den Schaufens-tern gestellt. Der Weg zu einer CO2-freien Mobilität istaber noch ein weiter, und die herkömmlichen Antriebs-technologien können schon jetzt ihren Beitrag dazu leis-ten durch höhere Einspritzdrücke, Motor-Downsizing,Leichtlaufreifen oder Aerodynamikoptimierung, die zuweniger Verbrauch und damit zu niedrigen CO2-Emis-sionen führen.Ein Steuerungsinstrument ist die CO2-Begrenzung. ImJahr 2009 haben sich Europäisches Parlament und Ratgemeinsam mit den europäischen Automobilherstellernauf die Festsetzung von Emissionsnormen für neue Pkwgeeinigt. Die Verordnung legt einen Emissionsdurch-schnitt von 130 Gramm CO2 pro Kilometer fest. Ab 2020muss dieser Wert auf 95 Gramm CO2 pro Kilometer ge-senkt werden.Jetzt kommen neue Pläne aus Brüssel, zum einen dieEmpfehlungen der sogenannten CARS-21-Gruppe, einerRunde führender Vertreter der Automobilindustrie undder EU-Länder. Sie legen nahe, zur Unterstützung einesneuen Aufschwungs die Obergrenzen aufzuweichen. DerBericht sagt deutlich, dass die Reduzierung der CO2-Emissionen technisch machbar ist und sogar mit we-niger Kosten verbunden, dass man aber andere Fakto-ren wie verbesserte Fahrausbildung einbeziehen sollte.Nicht nur der ADAC und der VCD lehnen den Vorschlagab.Heftige Wellen schlägt der neue Richtlinienentwurfvon EU-Klimakommissarin Hedegaard, der am 11. Julioffiziell vorgelegt werden soll. Der Entwurf sieht vor,dass die Neuwagenflotte der europäischen Hersteller ab2015 nicht mehr als 130 Gramm, ab 2020 höchstens95 Gramm CO2 je Kilometer ausstoßen darf. Der Grenz-wert von 95 Gramm ist nicht neu, dass PS-starke und da-her schwere Autos mehr CO2 ausstoßen dürfen als kleineModelle, auch nicht. Neu ist die Frage: Wie viel mehr?Zu Protokoll gegebene Reden
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Ute Kumpf
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In dem Berechnungsverfahren, das Basis für den Grenz-wert ist, gibt es eine Gleichung mit dem Faktor a: eineZahl, die festlegt, in welchem Umfang Autos, die schwe-rer als das Durchschnittsmodell in der EU sind, mehrSchadstoffe als 95 Gramm ausstoßen dürfen. Wie großFaktor a künftig sein soll, ist nun die heftig umstritteneFrage. Nach den Vorstellungen von KommissarinHedegaard soll der Faktor deutlich verringert werden,von 0,045 auf 0,0296 – ein Vorschlag, der die EU-Kom-mission, die Mitgliedsländer und die Autobranche spal-tet.Die SPD steht dazu, dass der Verkehr seinen Teil zurCO2-Verringerung leisten muss. Grenzwerte alleine rei-chen aber nicht aus. Wir müssen Anreize setzen, damitdie Wirtschaft innovative Lösungen entwickelt und er-folgreich am Markt etabliert. Eine solche Innovations-politik sichert die Wettbewerbsfähigkeit und Beschäfti-gungspotenziale in Deutschland. Sie sollte technologie-offen sein, Wirtschaft und Industrie nicht auf bestimmteTechnologien festlegen.Ich teile die Position der Grünen: „AmbitionierteVerbrauchsgrenzwerte bieten ökologische, aber auchhandfeste ökonomische Vorteile für die Industrie, dennsie schaffen Planungssicherheit, sie belohnen die inno-vativsten Hersteller und erschweren den Marktzugangfür Hersteller mit weniger effizienten Fahrzeugen. Eintechnologieneutraler CO2-Grenzwert ist zudem derbeste Anreiz für technologische Vielfalt in der Konkur-renz um die Antriebskonzepte von morgen.“Ambitionierte Grenzwerte dürfen jedoch nicht stran-gulieren. Sie führen sonst ins Leere und vor allem zuWettbewerbsverzerrung. Schon jetzt sind die deutschenAutomobilkonzerne unverhältnismäßig stark gefordert,um die gültigen Grenzwerte zu erreichen. Deutschland,Marktführer bei den Premiummarken, wäre, sollte sichder Hedegaard-Plan durchsetzen, im Wettbewerbsnach-teil gegenüber der europäischen Konkurrenz. Am Endekönnte das dazu führen, dass sich Konkurrenten aus Ita-lien oder Frankreich die Entwicklung von Elektroautosvorerst sparen, da sie die Grenzwerte auch so erreichen.Ein weiterer Nachteil für die deutsche Automobilindus-trie wäre, wenn die Kommission den Bonus für Elektro-autos streichen würde, wie es in der Presse berichtetwird. Wer soll dann noch in Forschung und Entwicklunginvestieren?Was die Mobilitäts- und Kraftstoffstrategie angeht, istdie Bundesregierung nach wie vor ein sektorspezifischesEnergie- und Klimakonzept für die Bereiche Verkehr undGebäude schuldig. Verkehrsminister Ramsauer hatte imJanuar 2010 ein solches Papier angekündigt. Seit überzwei Jahren wird nichts geliefert.Wie im Dritten Bericht der Nationalen PlattformElektromobilität gefordert, ist es nun an der Bundesre-gierung, eine Strategie vorzulegen, wie die Markteinfüh-rung und Marktdurchdringung von Null-Emissions-Fahrzeugen in den nächsten Jahren angestoßen werdenkann. Es wird viel Geld für Forschung ausgegeben, aberwenig Engagement entwickelt, die politischen Rahmen-bedingungen zu schaffen, um das Ziel von 1 MillionElektroautos bis 2020 und eine CO2-freie Mobilität zuerreichen.Ich bin gespannt, wie sich die Bundesregierung zudiesen Punkten im Ausschuss für Verkehr, Bau undStadtentwicklung positionieren wird.
Das Erreichen der EU-Klimaziele ist auch für diechristlich-liberale Koalition fester Bestandteil ihrerPolitik. Aber wir müssen bei der Erreichung dieser Ziele– wie die Reduzierung des CO2-Ausstoßes im Verkehr –mit Augenmaß vorgehen und müssen bei allen Maßnah-men im Hinterkopf haben, dass sie unserem wachsendenMobilitätsbedürfnis gerecht werden und alle Verkehrs-träger gleichermaßen stärkt und nicht einen einseitigbelastet. Für uns soll jeder die freie Wahl haben, wel-chen Verkehrsträger er wann benutzen möchte. Ich ver-misse dies immer bei Ihnen, sehr geehrte Kollegen vonden Grünen.Mir kommen beinahe die Tränen, wenn ich in IhremAntrag lese, dass Sie sich darüber Sorgen machen, dassim Jahr 2020 der Preis für einen Liter Diesel 2,50 Eurobetragen könnte. Erinnern Sie sich doch daran, dass Siebereits 1998 einen Benzinpreis von 5 D-Mark geforderthaben. Ihre Anträge sind immer sehr unausgewogen,manchmal so wie dieser sogar scheinheilig und wirt-schaftsfeindlich. Ihr erklärtes Ziel ist Autofahren unat-traktiv zu machen.Wir müssen als Wirtschafts- und Mobilitätsstandortdie globale Wettbewerbsfähigkeit erhalten. Deutschlandagiert nicht im luftleeren Raum. Ich warne vor einerzwanghaften Verschärfung und Ausweitung von ökolo-gischen Steuerungsinstrumenten. Die bisherigen Len-kungsinstrumente, die an Emissionen und am Ener-gieverbrauch anknüpfen, sind etabliert. Für denStraßenverkehr sind dies die Kfz-Steuer, die Energie-steuer – ehemalige Mineralölsteuer – sowie Hersteller-normen für CO2 bei Pkw und leichten Nutzfahrzeugen.Womit wir auch beim konkreten Anliegen ihres Antragssind!Die Europäische Kommission überarbeitet geradedie EU-Verordnung zu den CO2-Grenzwerten für Pkw.Eine Veröffentlichung ist für den kommenden Monatgeplant. Die Überarbeitung der CO2-Grenzwerte wargesetzlich verpflichtend geworden, nachdem eine EU-Verordnung im Jahr 2009 festgelegt hatte, dass neuePkw in der EU ab 2015 im Durchschnitt nicht mehr als130 Gramm CO2 pro Kilometer ausstoßen dürfen.Die deutsche Automobilindustrie muss sich vor dieserÜberarbeitung auch gar nicht fürchten. Denn anders alses Bündnis 90/Die Grünen immer behauptet, sind diedeutschen Hersteller weltweit sehr gut aufgestellt. Zumeinen wurde der Kraftstoffverbrauch seit 1990 um40 Prozent gesenkt. Die klassischen Schadstoffemissio-nen beim Pkw konnten sogar im gleichen Zeitraum um98 Prozent verringert werden. Das sind sehr gute Nach-richten und zeigen einmal mehr auf, dass die Instru-mente funktionieren, ohne dass die Industrie einseitigbelastet wird. Beim CO2-Ausstoß lagen die deutschenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22509
Werner Simmling
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Hersteller im Februar 2012 mit einem Wert von142,5 Gramm CO2 pro Kilometer erstmals unter demWert ausländischer Hersteller: 143 Gramm CO2 pro Ki-lometer.Vor fünf Jahren war der durchschnittliche Ausstoßdeutscher Modelle noch bei 170 Gramm CO2 pro Kilo-meter.Sie fordern in ihrem Antrag, dass für 2020 ein Flotten-grenzwert von 70 Gramm CO2 pro Kilometer festgelegtwerden soll. Die entsprechende EU-Richtlinie 443 von2009 schreibt aber für das Überprüfungsverfahren nachArt. 13 Abs. 5 wörtlich vor, „Modalitäten festzulegen,um bis zum Jahr 2020 ein langfristiges Ziel von95 Gramm CO2 pro Kilometer auf kosteneffiziente Weisezu erreichen“. Die Verordnung schließt Ihre Forderung,unter 95 Gramm zu gehen, also von vorneherein aus.Demnach läuft eine zentrale Forderung ihres Antragsins Leere.Ihrer Forderung nach einer schlüssigen Strategie fürNull-Emissionsfahrzeuge ist die Bundesregierung dochbereits nachgekommen. Die Bundesregierung hat mit ih-rem Regierungsprogramm zur Elektromobilität einenklaren Fahrplan für Nullemissionsfahrzeuge vorgelegt.Der neuste Fortschrittsbericht der Nationalen PlattformElektromobilität bestätigt das Engagement der Bundes-regierung.Lassen Sie mich abschließend zusammenfassen: Siewollen mit Ihrem Antrag auf Biegen und Brechen dieWettbewerbsfähigkeit des deutschen Wirtschaftsstandor-tes mindern und damit auch Arbeitsplätze vernichten.Wir wollen ein abgestimmtes Maßnahmenpaket, das so-wohl die Belange des Klima- und Verbraucherschutzeswie auch die der Industrie berücksichtigt und weiteresWachstum und damit auch Arbeitsplätze sichert. Wirlehnen daher Ihren Antrag ab.
Der vorliegende Antrag der Grünen macht einige
richtige Feststellungen zum Rohstoffverbrauch im
Individualverkehr. Da Öl ein begrenzer Rohstoff ist, ist
wichtig und richtig, den eingeschlagenen Weg der Ver-
ringerung des Kraftstoffverbrauchs konsequent weiter-
zugehen.
Die Festlegung von strengeren CO2-Grenzwerten
baut den notwendigen Druck auf die Industrie auf, spar-
samere Fahrzeuge zu entwickeln. Denn die Verringerung
des CO2-Ausstoßes wird nur über eine Verringerung des
verbrannten Treibstoffs erreicht. Die Festlegung von
Grenzwerten beim CO2-Ausstoß ist insofern das richtige
Mittel der Wahl, da es der Automobilindustrie überlässt,
wie sie diese Ziele erreicht. Dadurch entsteht ein Wett-
bewerb zwischen den Technologien um Wirtschaftlich-
keit, Alltagstauglichkeit und, am wichtigsten, um Akzep-
tanz bei den Verbraucherinnen und Verbrauchern.
Die Beispiele von Katalysator und Rußpartikelfilter,
deren Einführung in Deutschland gesetzlich erzwungen
werden musste, zeigen, dass sich in der Automobilindus-
trie auf Basis von Freiwilligkeit leider wenig bewegt.
Deshalb unterstützt die Linke die Forderungen nach
strengeren Grenzwerten und fordert die Bundesregie-
rung auf, diese auch auf der europäischen Ebene zu ver-
treten, statt Lobbying für die deutschen Autokonzerne zu
betreiben.
Subventionsforderungen der Industrie in Sachen
Elektromobilität weisen wir in diesem Zusammenhang
zurück. Eine effektive Strategie zur Verringerung der
Ölabhängigkeit muss vielmehr alle Technologiepfade
vom Hybridantrieb bis Pflanzenöl berücksichtigen. Ge-
rade bei den nachwachsenden Rohstoffen schlummert
ein Potenzial, das noch lange nicht gehoben ist und in
den letzten Jahren zunehmend vernachlässigt wurde.
Weitere Subventionen oder Steuererleichterungen auf
der Verbraucherseite halten wir allerdings sehr wohl für
vorstellbar. Gerade für Bezieher kleiner Einkommen ist
selbst der Wechsel auf einen kraftstoffsparenden Klein-
wagen ein finanzielles Hindernis, das die Verbreitung
solcher Fahrzeuge hemmt.
Eine Strategie zur Vermeidung von Treibhausemissio-
nen und Ölabhängigkeit, die lediglich auf den motori-
sierten Individualverkehr abzielt, greift allerdings aus
unserer Sicht entschieden zu kurz. Durch Erneuerung
des Fahrzeugbestandes im Individualverkehr allein sind
die gesteckten Ziele auch kaum zu erreichen.
Deshalb muss die Förderung des öffentlichen Perso-
nenverkehrs ein integraler Bestandteil aller Bestrebun-
gen zur Senkung des Ausstoßes von Treibhausgasen
sein. Ein preislich wie zeitlich attraktives Fernzugange-
bot kann einen Großteil des Kerosin verschlingenden
Inlandsflugverkehrs ersetzen – Frankreich macht es vor.
Ein ordentlich mit den Zentren verzahnter und in der
Fläche breit aufgestellter Schienenpersonennahverkehr
kann noch einen weitaus größeren Anteil des Pendelver-
kehrs aufnehmen, als es heute der Fall ist.
Hier liegen die größten Potenziale zur Einsparung
von Rohstoffen und Emissionen, allerdings fehlt dieser
Koalition der politische Wille zur Umsetzung.
Fast 40 Jahre nach der ersten Ölkrise hängt Deutsch-land immer noch am Öltropf. Rund ein Drittel der hier-zulande verbrauchten Energie basiert nach wie vor aufdem endlichen und kostbaren Energieträger Erdöl.Ohne Öl bewegt sich in diesem Lande buchstäblich fastnichts – jedenfalls auf unseren Straßen; ohne Öl würdeauch jede dritte Wohnung kalt bleiben. Unser Wohlstandbasiert unverändert auf einem viel zu hohen Ölkonsum.Dabei ist Deutschland bei der Deckung seines Rohölbe-darfs zu 98 Prozent auf Importe angewiesen. Wir hängenam Öltropf wie der Junkie an der Nadel.Die hohe Importabhängigkeit macht unsere Volks-wirtschaft verwundbar für steigende Rohölpreise. Diejüngste Preisrallye hat die deutschen Ölimporte allein2011 um 15 Milliarden Euro verteuert. Es gilt derGrundsatz: Ein Preisanstieg von 10 Dollar je Barrellässt die deutsche Ölrechnung jährlich um 5 MilliardenEuro ansteigen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Stephan Kühn
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Wir müssen also aus klima-, energie-, aber auch auswirtschaftspolitischen Gründen unsere Ölabhängigkeitdrastisch reduzieren, um unsere Volkswirtschaft gegensteigende Ölpreise möglichst immun zu machen. 46 Mil-lionen Tonnen und damit fast die Hälfte des deutschenRohölbedarfs wird als Kraftstoff von den Verbrennungs-motoren unserer Pkw, Lkw und sonstigen Fahrzeugeverbraucht. Wir wissen, dass das Ölfördermaximum, derPeak Oil, bei konventionellem Öl bereits überschrittenwurde. Das Ergebnis dieser epochalen Wende werdenmittelfristig eskalierende Preise auf dem Rohölmarktsein; da sollten wir uns von den gerade gesunkenenPreisen an der Tankstelle nicht täuschen lassen.Vor diesem Hintergrund ist unser Antrag für strengeVerbrauchsgrenzwerte zu verstehen. Betrachten wirrückblickend den Einsatz von Umwelt- und Verkehrs-politikern auf diesem Gebiet, dann müssen wir feststel-len, dass am Anfang große Ziele formuliert wurden undam Ende die Autolobby obsiegte und allenfalls lascheKompromisse herauskamen.Deutschland steht regelmäßig auf der Bremse, wennin Brüssel strenge Verbrauchsgrenzwerte für Pkw undKleinlaster auf der Tagesordnung stehen. So war es, alssich in den 90er-Jahren die damalige UmweltministerinAngela Merkel im EU-Umweltministerrat für einen Ziel-wert von 120 Gramm CO2 je Kilometer im Jahr 2005einsetzte. Doch statt klare und verbindliche Grenzwertegesetzlich zu verankern, hat man sich damals von derdeutschen Automobilindustrie und seiner Vorfeldorgani-sation VDA regelmäßig einlullen lassen und hat sich ge-gen jede Vernunft auf eine windelweiche „freiwilligeSelbstverpflichtung“ eingelassen. Doch die deutscheAutoindustrie hat ihre Versprechen von damals gebro-chen und das selbstgesteckte Ziel von durchschnittlich140 Gramm CO2 je Kilometer bei Neuwagen bis 2008klar verfehlt. Wenn es noch eines Beweises bedurft hätte,dass freiwillige Selbstverpflichtungen klare gesetzlicheRegelungen nicht ersetzen können, dann haben die deut-sche Autoindustrie und der VDA dies eindrucksvoll be-stätigt.Bei der Festlegung der Grenzwerte für 2015 hat FrauMerkel dann auf Wunsch des VDA eine Verwässerungder Grenzwerte durch ein „Phasing In“, durch die Aner-kennung zusätzlicher Maßnahmen wie den Einsatz vonBiokraftstoffen oder „innovativer Maßnahmen“ durch-gesetzt. Erstaunlicherweise hätte es das alles gar nichtbedurft; denn zum Beispiel Volkswagen hat jetzt selbstangekündigt, die ursprünglich angesetzten 120 Grammkonzernweit zu erreichen.Dieses Trauerspiel darf sich bei der Durchsetzungambitionierter Verbrauchsgrenzwerte für 2020 nichtwiederholen. Wir müssen Herstellern jetzt klare Grenz-werte vorgeben, und angesichts der technologischenFortschritte auf dem Gebiet der Verbrauchsreduzierungbin ich optimistisch, dass die Autoindustrie bis 2020 ei-nen Grenzwert von 70 Gramm CO2 je Kilometer errei-chen kann. Übrigens sollten wir nicht nur dieAutohersteller im Blick haben; nicht minder gewichtigist die Entwicklung bei der Zulieferindustrie. So hältBosch, ein Zulieferer, der bei Spritspartechnik für Ver-brennungsmotoren führend ist, einen Grenzwert von70 Gramm CO2 je Kilometer in 2025 für umsetzbar.Auch das vom VDA gerne ins Feld geführte „Premi-umsegment“, das deutsche Hersteller angeblich daranhindere, strenge Grenzwerte umzusetzen, dient in Wahr-heit nur als Schutzbehauptung. Nun will ich an dieserStelle keinesfalls für Dinosaurier des Autozeitalters wieSport Utility Vehicles die Werbetrommel rühren, aberwenn es schon so ein Modell sein soll, dann gibt es auchhier mittlerweile entsprechend sparsame Fahrzeuge mitPlug-in-Hybriden, womit belegt ist: Auch große Modellekönnen auf Spritdiät gesetzt werden, wenn die richtigeSpartechnologie eingesetzt wird.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Koalitionsfrak-tionen, ich hoffe natürlich insbesondere auf Ihre Zustim-mung zu unserem Antrag, da er auch ein äußerst wirk-sames Instrument gegen steigende Spritpreise ist. Immerwenn die Preise an den Tankstellen steigen und dieSchlagzeilen in bestimmten Blättern immer fetter wer-den, setzt in Ihren Reihen hektischer Aktionismus ein.Dann werden in bester Stammtischmanier schnelleLösungen gefordert. Es wird der Ruf nach einer „Ben-zinpreisbremse“ laut oder noch besser: Der Staat sollgefälligst gegen die steigenden Rohölpreise mit einerhöheren Pendlerpauschale anstinken. – Wir alle hierwissen: Diese Instrumente sind so wirksam wie weißeSalbe. Statt über Preiskosmetik bei den Kraftstoffpreisenzu reden, müssen wir endlich wirksame Instrumente inden Mittelpunkt der Diskussion rücken. An vordererStelle stehen schärfere Verbrauchsgrenzwerte für Pkw.Mit Blick auf den von der EU-Kommission für das Jahr2020 diskutierten neuen CO2-Grenzwert von 95 Grammje Kilometer brauchen wir jetzt anspruchsvollere Ziele.Unser Antrag weist mit einem Grenzwert von 70 GrammCO2 je Kilometer den richtigen Weg.Wer dauerhaft und wirksam etwas gegen hohe Sprit-preise machen will, wer die Klimaziele erreichen und dieÖlabhängigkeit reduzieren will, der muss jetzt fürstrenge Verbrauchsgrenzwerte stimmen. In diesem Sinnehoffe ich auf eine breite Zustimmung für unseren Antrag.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage aufDrucksache 17/10108 an die in der Tagesordnung aufge-führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-verstanden. Dann ist so beschlossen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 29 a und b auf:a) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Finanzausschusses zudem Antrag der Abgeordneten Klaus-PeterFlosbach, Dr. Michael Meister, Peter Altmaier,weiterer Abgeordneter und der Fraktion derCDU/CSU sowie der Abgeordneten Dr. DanielVolk, Holger Krestel, Dr. Birgit Reinemund, wei-terer Abgeordneter und der Fraktion der FDPRohstoffderivatemärkte gezielt regulieren– Drucksachen 17/8882, 17/9842 –
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22511
Vizepräsidentin Petra Pau
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Berichterstattung:Abgeordnete Ralph BrinkhausDr. Carsten SielingBjörn Sängerb) Beratung des Antrags der AbgeordnetenDr. Carsten Sieling, Lothar Binding ,Ingrid Arndt-Brauer, weiterer Abgeordneter undder Fraktion der SPDRegulierungslücken auf den Warenderivate-märkten schließen – Finanzspekulation mitRohstoffen und Nahrungsmitteln unterbinden– Drucksache 17/10093 –Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wirdie Reden zu Protokoll.
Die existenzielle Bedeutung der ausreichenden Ver-sorgung von Volkswirtschaften mit Rohstoffen aller Artliegt auf der Hand; es handelt sich um eine ganz zentraleFrage für den wirtschaftlichen Erfolg auch unserer anRessourcen armen, aber hoch entwickelten Volkswirt-schaft. Genauso ist es eine elementare Voraussetzung fürden Erfolg und Aufstieg von Entwicklungs- und Schwel-lenländern. Daher hat die Rohstoffversorgung immerauch eine außen- wie entwicklungs- und wirtschaftspoli-tische Dimension.Aber auch darüber hinaus hat sich der Handel mitRohstoffen enorm über den Versorgungsaspekt hinwegweiterentwickelt. Die Rohstofftermingeschäfte und Deri-vatgeschäfte haben sich vervielfacht, wobei diese zumeinen selbstverständlich ihre Berechtigung haben zurAbsicherung von Preisrisiken. Aber zum anderen müs-sen wir eine zunehmende Finanzialisierung desRohstoffmarkts beobachten. Nicht nur die steigendeNachfrage nach Rohstoffen führt marktkonform zuPreissteigerungen; vielmehr treten Finanzakteure auf-grund renditeträchtiger Anlagemöglichkeiten auch zu-nehmend spekulativ und mit kurzfristiger Perspektiveauf den Märkten auf, um von kurzfristigen Preisbewe-gungen zu profitieren. Insofern sind die zunehmendenPreisschwankungen auch spekulationsbedingt. DieVolumina der Termingeschäfte übersteigen das Brutto-sozialprodukt inzwischen um ein Vielfaches; die Steige-rungen sind abenteuerlich mit den Folgen für dieSchwankungsanfälligkeiten und für die Preisentwick-lung auf den betroffenen Rohstoffmärkten. Hier gilt es zuhandeln und diese negativen Effekte der Preisvolatilitä-ten und Marktverwerfungen einzudämmen.Als Finanzpolitiker beschäftigen wir uns heute des-halb abschließend mit einem Antrag, der in der Unions-fraktion auf der Grundlage unserer Diskussionen auf ei-nem Fraktionskongress im Frühjahr entstanden ist undder die europaweite Umsetzung der G-20-Beschlüssezur effizienten Regulierung der Rohstoffterminmärktebeinhaltet.Was genau ist nun zu tun? Lassen Sie mich dazu nureinige zentrale Punkte unseres Antrags herausgreifen.Zunächst ist das zentrale Moment und der entschei-dende Ansatzpunkt die Erhöhung der Transparenz aufden Märkten. Hierzu müssen Rohstoffderivatepositionengemeldet und veröffentlichet werden, um den Einflussvon Investorengruppen und Handelsstrategien auf diePreisbildung beurteilen zu können. Wir unterstützen dieim Rahmen der Überarbeitung der MiFID-Richtlinie aufeuropäischer Ebene vorgeschlagenen Maßnahmen zuMelderegistern ausdrücklich.Wir benötigen des Weiteren striktere Marktmiss-brauchsregeln für Rohstoffderivate. Diese sollen imRahmen der Überarbeitung der Marktmissbrauchsricht-linie mit erfasst werden, um so missbräuchlichen Speku-lationsgeschäften einen Riegel vorzuschieben.Natürlich müssen diese Regeln auch durchgesetztwerden. Dazu bedarf es einer effektiven Aufsicht mitwirksamen Informations- und Eingriffsrechten, zum Bei-spiel auch Positionslimits. Es müssen gleiche Wettbe-werbsbedingungen für alle Marktteilnehmer geschaffenund ein effektiver Informationsaustausch zwischen dennationalen Aufsichtsbehörden sichergestellt werden.All dies kann nur auf europäischer Ebene erfolgen;die Überarbeitung der MiFiD-Richtlinie soll dazu ge-nutzt werden. Nationale Alleingänge helfen hier selbst-redend nicht weiter. Natürlich darf man die legitimenAbsicherungsinteressen der Realwirtschaft auch nichtaus dem Auge verlieren. Termingeschäfte dürfen nichtper se verteufelt werden. Jedoch gibt es einen klarenHandlungsbedarf, gegen Fehlentwicklungen auf denMärkten vorzugehen. Unser Antrag ist die geeigneteGrundlage für die nun folgenden europäischen Maßnah-men.Zur Kritik der Opposition in den Ausschussberatun-gen, die Elemente unseres Antrags seien unzureichend,lassen Sie mich nur feststellen: Es ist natürlich leicht,immer mehr zu fordern; das ist gewissermaßen auchAufgabe der Opposition in der parlamentarischen Aus-einandersetzung. Ich komme noch einmal ausdrücklichzum Beispiel der strikten Positionslimits. Hier forderndie Kollegen der Sozialdemokraten in ihrem Änderungs-antrag auch deutlichere und sehr spezifische Festlegun-gen. Aber alle Maßnahmen sind in unserem Antragbereits ausdrücklich behandelt. Wir wollen damit dieBundesregierung in ihren Verhandlungen auf europäi-scher Ebene zur Überarbeitung der MiFID-Richtlinieunterstützen und ihre Verhandlungsposition stärken, umdie auf G-20-Ebene vereinbarten Maßnahmen jetzt aufeuropäischer Ebene umzusetzen. Dabei ist es im Hin-blick auf die bevorstehenden Verhandlungen sicher rat-sam, flexible Regelungen zu ermöglichen und die Forde-rungen deshalb in dieser Form zu fassen.Einen zentralen Bereich dürfen wir auch nicht ver-gessen, auf den ich bewusst noch einmal den Fokus len-ken möchte; das ist der Bereich der Agrarrohstoffe. Esist unerträglich, dass mit Lebensmitteln spekuliert wirdund so Preise für lebensnotwendige Nahrungsmittelauch spekulationsbedingt steigen. Hier treten wir fürzusätzliche und strengere Regulierungsmaßnahmen einund unterstützen damit die parallelen Bemühungen un-serer Kollegen aus dem Entwicklungshilfe- und dem
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22512 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Patricia Lips
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Landwirtschaftsbereich. Die Ernährungssicherheit unddie Bekämpfung von Spekulation sind für uns alle wich-tige Ziele unserer Politik und auch ethische Verpflich-tung.In dieser Debatte muss ich natürlich auch noch einpaar Worte zum aktuellen Thema Finanztransaktion-steuer verlieren. Die Opposition hat bei den Beratungenunseres Antrags gefordert, die Regulierung der Roh-stoffderivatemärkte unbedingt mit der Einführung derFinanztransaktionsteuer zu verknüpfen. Hierzu möchteich noch einmal betonen, dass wir dies nicht für sachge-recht halten. Dies sind zwei voneinander unabhängige,wenn auch sich ergänzende Regelungsbereiche. Nichts-destotrotz setzt sich die Bundesregierung internationalund jetzt auf europäischer Ebene gegenüber der Kom-mission dafür ein, mit einer Koalition der Willigen hierzur Einführung einer solchen Steuer zu kommen. Ich willan dieser Stelle also ausdrücklich betonen, dass ich esunabhängig vom Thema dieses Antrags grundsätzlichsehr begrüße, dass Regierung und Opposition in ihremPakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung indieser Woche zu einer Einigung gekommen sind, die dieEinführung der Transaktionsteuer einschließt, und dasswir den für Europa so zentralen Fiskalpakt einvernehm-lich verabschieden werden. Die Bundesregierung hatden hierzu vereinbarten Antrag an die EuropäischeKommission zur verstärkten Zusammenarbeit zur Ein-führung einer Finanztransaktionsteuer inzwischen aufden Weg gebracht.Abschließend stelle ich fest: Mit dem vorliegendenAntrag treten die Koalitionsfraktionen für eine effektiveRegulierung der Rohstoffderivatemärkte ein, aber füreine mit Augenmaß, für eine Regulierung, die einerseitsSpekulationen eindämmt, aber andererseits auch Raumfür notwendige Absicherungsgeschäfte lässt und die derRegierung einen wirksamen Handlungsauftrag für dieVerhandlungen auf europäischer Ebene gibt. Ich bitteSie daher um Ihre Zustimmung für den Koalitions-antrag.
Die Nahrungsmittelkrise 2007/2008 und die Ölpreis-schocks 2008 haben uns in erschreckender Weise vorAugen geführt, welche Gefahr von völlig unreguliertenFinanzmärkten ausgehen kann. Tatsächlich mussten wirvor vier Jahren feststellen, dass häufig nicht mehr derProduzent oder Käufer den Preis eines Rohstoffs be-stimmt, sondern stattdessen irgendein Finanzmarkt-akteur in New York, London oder Frankfurt.Gut, kann man einwenden: Ohne die Finanzmärktefunktioniert heute nichts mehr. Frau Merkel erinnert unsinzwischen ja fast jeden Tag daran, dass man auch poli-tische Entscheidungen inzwischen nicht mehr ohnedas Einverständnis der Märkte treffen kann. Diese Be-schränkung auf eine marktkonforme Demokratie darfnicht Wirklichkeit werden. Die Märkte können sich ir-ren, und Herdenverhalten auf den Finanzmärkten führtdazu, dass die Preise für Öl und Grundnahrungsmittelheute extrem fallen, um morgen umso stärker zu steigen.Diese Preisschwankungen haben Konsequenzen, diezerstörerisch wirken.Denn das Problem ist ja nicht, dass wir es auf denRohstoffmärkten nur mit irgendwelchen Fehlallokatio-nen und einer völlig absurden Preisfindung zu tun ha-ben. Das wirkliche Problem ist, dass die zunehmendeVolatilität und die extremen Preisspitzen auf den Roh-stoffmärkten gerade für große Teile der Entwicklungs-länder katastrophale Folgen haben, die inzwischen so-gar zu Hungerrevolten und politischen Unruhen geführthaben. Denn für die rund 2 Milliarden Menschen in denEntwicklungsländern, die den größten Teil ihres Ein-kommens für Grundnahrungsmittel ausgeben müssen,bedeuten Preissteigerungen bei Nahrungsmitteln gra-vierende Einschränkungen bis hin zu Erkrankung undTod.Eine weitere Wirkung dieser ungezügelten Märkte,die von den Vertretern der Regierungskoalition ja an-scheinend überhaupt nicht ernst genommen wird, ist dieTatsache, dass die negativen Auswirkungen der Finanz-spekulationen mit Rohstoffen und Nahrungsmittelnlängst auch bei vielen Industrie- und Nahrungsmittel-unternehmen angekommen sind. Schon seit einiger Zeitwenden sich doch unterschiedliche Wirtschaftsvertreteran die Politik, um auf das Problem der Rohstoffspekula-tion hinzuweisen. Ich zitiere:Bis Ende des Jahres muss die Politik etwas gegendie Spekulation auf den Rohstoffmärkten getan ha-ben. Sonst wird das Geschäft sehr schwierig, und inmanchen Ländern werden sich die Menschen keineNahrungsmittel mehr leisten können.Diese Warnung kommt nicht von Oxfam oder Mise-reor. Sie kommt von Hubert Weber, Chef des Europa-Kaffeegeschäfts beim weltweit zweitgrößten Nahrungs-mittelhersteller Kraft Foods. Das war nicht gestern odervor einigen Wochen. Diese Warnung ist über ein Jahralt! Es ist ein Trauerspiel, dass sich die Regierungsfrak-tionen in ihrem Antrag, der ja auch heute abgestimmtwerden soll, immer noch nicht zu klaren Regulierungs-schritten durchringen konnten, um der Finanzspekula-tion endlich einen Riegel vorzuschieben.Das Muster, nach welchem sie vorgehen, kennen wirschon. Anstatt sich mit klaren Forderungen deutlich ge-gen Nahrungsmittelspekulation zu positionieren, verste-cken sie sich wieder und wieder hinter akademischenScheindebatten. Auf der einen Seite sagen sie, dass siedie Spekulation auf den Rohstoffderivatemärkten regu-lieren wollen. Auf der anderen Seite hören wir immerwieder von ihnen, dass die Finanzspekulation auf denTerminmärkten gar kein Problem darstellen, da Speku-lation auf den Warenderivatemärkten überhaupt gar kei-nen Einfluss auf die Rohstoffpreise habe.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUund FDP, was gilt denn nun? Was wollen Sie hier be-schließen, und für welche konkreten Schritte soll sich dieBundesregierung denn auf der europäischen Ebene ein-setzen? Angesichts der bedeutenden Rolle deutscher Fi-nanzinstitute auf den globalen Warenterminmärktenträgt Deutschland eine besondere Verantwortung, sichZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22513
Dr. Carsten Sieling
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mit den Folgen exzessiver Spekulation ernsthaft aus-einanderzusetzen. Und im Rahmen der Reformen derRichtlinie bzw. Verordnung über Märkte und Finanzinstru-mente – MiFID/MiFIR – haben wir jetzt nicht nur dieMöglichkeit, sondern auch die Pflicht, effektive Regelnzur Eindämmung von Spekulation an den Warentermin-märkten einzufordern. Die Reformvorschläge liegen aufdem Tisch und werden derzeit auf der EuropäischenEbene verhandelt. Die Zeit aber drängt, und die Gefahr,dass der jetzige Vorschlag noch einseitig verwässertwird, ist groß.Viele der über 2 000 Änderungsanträge im Europäi-schen Parlament, insbesondere von Vertretern der Libe-ralen und Konservativen, lesen sich so, als kämen sie di-rekt aus der Feder der Finanzlobby, die sich teilweisemit Händen und Füßen gegen eine effektive Regulie-rung der Warenderivatemärkte, insbesondere gegen Posi-tionslimits, wehrt.Aus Positionslimits, wie sie auch von der G 20 verein-bart wurden, werden da plötzlich schwammige Forde-rungen nach einem bloßen Positionsmanagement odernach unklar definierten Positionskontrollen. Wenn wirdie Rohstoff- und Nahrungsmittelspekulation aber wirk-lich beenden wollen, ist es unerlässlich, dass der ge-samte Bundestag hier eine eindeutige Position bezieht.Deswegen haben wir als SPD-Fraktion für die heutigeAbstimmung einen eigenen Antrag eingebracht. LassenSie mich die wichtigsten Punkte noch einmal aufgreifen.Erstens ist es unerlässlich, dass wir endlich klare undim Voraus festgelegte Positionslimits einführen, umnicht nur geordnete Preisbildungs- und Abrechnungsbe-dingungen zu garantieren, sondern vor allem auch ex-zessive Finanzspekulation mit gravierenden Folgen fürdie soziale und ökonomische Stabilität zu verhindern.Zweitens ist es wichtig, dem begründeten Absiche-rungsinteresse von Produzenten und Industrieunterneh-men Rechnung zu tragen. Dies ist aber nur möglich,wenn man schon bei der Regulierung eindeutig festlegt,was man unter realwirtschaftlichen Absicherungsge-schäften, das heißt unter sogenannten Bona-fide-Gegen-geschäften versteht. Nur wenn dies klar gefasst ist, kannman auch sicherstellen, dass Ausnahmeregelungen nichtals Schlupfloch für reine Finanzspekulationen miss-braucht werden.Drittens setzen wir uns dafür ein, dass Rohstoff- undNahrungsmittelspekulation auch über den Hochfre-quenzhandel unterbunden wird. Hierfür ist es wichtig,effektive Mindesthaltefristen einzuführen, um extremeEffekte ohne ökonomischen Vorteil frühzeitig auszu-schließen und riskante Ansteckungseffekte auf andereMärkte einzuschränken. Es ist doch völlig klar: Wer inSekundenbruchteilen virtuelle Weizensäcke mehrfachkauft und verkauft, ist in der Regel nicht an der Ware,sondern vor allem an einem Arbitragegewinn interes-siert, der weder dem Bauern noch dem Konsumenten zu-gutekommt.Viertens ist es ebenso völlig klar, dass die Transpa-renz – und damit meine ich die verbindlichen Informa-tions- und Meldepflichten – derzeit überhaupt nichtausreichend ist, um alle Akteure an den Warenderivate-märkten auch effektiv zu regulieren. Vieles passiert nochim Schatten und außerhalb regulierter Börsen. Das musssich ändern, und daher ist auch wirklich darauf zu ach-ten, dass die Meldepflichten auch von allen Akteureneingehalten werden, die sich derzeit noch unbehelligt ander Spekulation mit Rohstoffen beteiligen, ohne von ir-gendeinem Aufseher kontrolliert zu werden.Schließlich wird Finanzspekulation mit Rohstoffenund Nahrungsmitteln nur dann effektiv unterbundenwerden können, wenn die zuständigen Aufseher die rich-tigen Informationen, Mittel und personelle Ausstattungerhalten. Daher ist es aus unserer Sicht notwendig, auchdie zuständige EU-Wertpapierbehörde ESMA entspre-chend zu stärken und gegebenenfalls mit notwendigenEingriffsbefugnissen auszustatten. Denn ohne eine ein-heitliche Wettbewerbs- und Regulierungssituation wirdes nicht gelingen, alle notwendigen Regulierungslückenzu schließen. Dies zeigt sich immer wieder und gilt ausunserer Sicht insbesondere auch für die komplexen Ge-schäftsmodelle auf den Warenderivatemärkten.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der CDU/CSUund FDP, heute sollen wir ja auch über Ihren Antrag ab-stimmen. Als wir uns in der ersten Lesung vor einigenMonaten damit zum ersten Mal beschäftigt haben, habeich ja schon gesagt, dass wir Ihren Antrag als völlig un-zureichend beurteilen, da die Bundesregierung im For-derungsteil weniger zum Handeln als vielmehr zum Prü-fen aufgefordert wird. Das ist deutlich zu wenig und wirdunsere Zustimmung deshalb nicht finden.Ich weiß, dass Sie immer wieder betont haben, wiewichtig Ihnen das Thema ist. Und Ihr Antrag trägt jaauch die Überschrift „Rohstoffderivatemärkte gezieltregulieren“. Ich denke, dass das, was wir in unseremAntrag vorgeschlagen haben, den Weg zu einer gezieltenRegulierung zeigt. Denn unser Antrag hält sich nicht beiallgemeinen Prüfaufträgen auf, sondern versucht, dievon der Verwässerung bedrohten wichtigen Punkte inder entsprechenden EU-Richtlinie im Sinne einer effekti-ven Regulierung zu verteidigen und zu konkretisieren.Dies ist ja notwendig, da erste Regulierungsschritte beiden Warenderivatemärkten nicht im luftleeren Raum undirgendwann beschlossen werden, sondern wahrschein-lich schon Anfang Juli in Brüssel.Geben Sie sich daher einen Ruck und stimmen Sie un-serem Antrag zu, damit die Bundesregierung ein klaresVotum des Deutschen Bundestages für die Verhandlun-gen auf europäischer Ebene und gegen Finanzspekula-tion mit Rohstoffen und Nahrungsmitteln hat.
Nahrungsmittel sind als unmittelbare Lebensgrund-lage besondere Güter. Es gilt, die elementare Bedeutungder Rohstoffversorgung auch für die deutsche Wirtschaftausdrücklich hervorzuheben.Rohstoffe sind Grundlage für jede Form des Wirt-schaftens und für Wohlstand.Jedoch sind an den weltweiten Rohstoffmärkten seiteinigen Jahren erhebliche Preisschwankungen zu ver-Zu Protokoll gegebene Reden
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Björn Sänger
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zeichnen. In Bezug auf die elementare Bedeutung vonRohstoffen können Preissteigerungen vor allem in denEntwicklungsländern zu gravierenden Einschränkungenführen. Dabei gilt es, die Faktoren für Preisschwankun-gen richtig zu erkennen und zu bewerten.Preisschwankungen hat es bei Rohstoffen immerschon gegeben, weil Rohstoffmärkte von verschiedenenFaktoren beeinflusst werden. So wird das Preisniveauwegen der absehbaren Entwicklungen bei den fun-
Aber auch Rohstofftermingeschäfte gewinnen zuneh-mend an Bedeutung und haben Auswirkungen auf diePreisbildung. Dabei stellen sie wichtige Instrumente zurAbsicherung von Preisrisiken sowohl für Produzentenals auch für Unternehmen der Realwirtschaft im Rah-men des eigenen Risikomanagements dar. Allerdingsbirgt diese Art der Absicherung auch bestimmte Risikenund Missbrauchsszenarien, die es einzudämmen gilt.Unsere Aufmerksamkeit muss sich insofern – gemes-sen an der elementaren Bedeutung von Rohstoffen – aufdas Thema Spekulation mit Rohstoffen, Rohstoffderivateund Rohstofftermingeschäfte richten; denn gerade hiergilt es, Risiken und Nutzen in eine angemessene Balancezu bringen.Die Volatilität von Nahrungsmittelpreisen spielt da-bei eine große Rolle. Die Möglichkeit der Realwirt-schaft, sich gegen Preisrisiken abzusichern, muss beider Finanzmarktregulierung jedoch auch angemessenberücksichtigt werden.Die Finanzinvestoren, die auf diesen Märkten unter-wegs sind, werden benötigt; denn irgendjemand mussdas Risiko übernehmen. Unternehmen der Realwirt-schaft sind darauf angewiesen, dass ihnen für ihre Absi-cherungsgeschäfte Gegenparteien in ausreichenderZahl zur Verfügung stehen. Daher sind Marktteilnehmerund Investoren, die Risikopositionen eingehen, für einenfunktionsfähigen Rohstoffderivatemarkt erforderlichund aus Sicht realwirtschaftlicher Unternehmen grund-sätzlich von Vorteil.Allerdings dürfen spekulative Geschäfte mit Rohstoff-derivaten nicht das Marktgeschehen dominieren, indemsie beispielsweise zu spekulativ bedingten Preisschwan-kungen auf den Rohstoffmärkten führen.Ich denke, die Zeit ist reif, dass die Finanzpolitik sichmit diesem Thema beschäftigt und sich für konstruktiveLösungsansätze einsetzt. Insofern unterstütze ich sie undbin von den Maßnahmen überzeugt, für Transparenz aufden Terminmärkten zu sorgen und den Aufsichtsbehör-den wirksame Instrumentarien wie sogenannte PositionLimits zur Verfügung zu stellen. Allein so kann Markt-verwerfungen und marktmissbräuchlichem Verhaltenauf den Rohstoffterminmärkten begegnet werden.Um Fehlentwicklungen an den Rohstoffmärkten vor-zubeugen, ist eine gezielte und wirksame Regulierungdes Rohstoffterminhandels erforderlich. Welche Mög-lichkeiten stehen uns offen? Wir sprechen uns für dieMaßnahmen aus, mit denen wir die Fehlentwicklungenin den Griff bekommen können. Die Transparenz ist da-bei ein überaus wichtiges Instrument. Wir müssen wis-sen, was am Rohstoffmarkt überhaupt passiert. Wir müs-sen weg von den Vermutungen, auf die wir uns alleinberufen können, weil diese Art von Geschäften intrans-parent abgewickelt werden.Ich fordere eindringlich mehr Transparenz, um eineWechselwirkung zwischen Rohstofftermin- und Rohstoff-kassamärkten besser zu erkennen und einschätzen zukönnen. Dabei ist es wichtig, international abgestimmteLösungsansätze zu entwickeln, um die wichtigen inter-nationalen Handelsplätze und Marktakteure zu errei-chen.Was brauchen wir dafür? Wir brauchen Meldepflich-ten und Plattformen, über die diese Geschäfte abgewi-ckelt werden. Wir wollen verstärkte Zusammenarbeit derAufsichtsbehörden bei allen Märkten, um einen Über-blick zu haben, wie sich der Markt entwickelt, und Fehl-entwicklungen vorzubeugen und zielgerichtet zu unter-binden. Wir brauchen aber auch strengere Regeln fürRohstoffderivategeschäfte, damit wir nicht in Risikosi-tuationen hineingeraten. Die Einhaltung dieser Regelnmuss von einer Aufsicht überwacht werden.Die Aufsicht ist eine wichtige Instanz bei der Gegen-steuerung von Missbrauch. Dafür werden der Aufsichtauch Eingriffsintrumentarien verliehen. Die Aufsichtmuss eingreifen können. Sie muss sagen können: „Ge-schäfte in dieser Höhe erlauben wir nicht“ – sogenanntePositionslimits – oder: „Wir untersagen missbräuchli-che Geschäfte“ – zum Beispiel Insiderhandel.Allerdings darf kein komplettes Verbot von Rohstoff-derivategeschäften ausgesprochen werden. In Anbe-tracht des wirtschaftlichen Nutzens, im Hinblick auf dieAbsicherung darf ein komplettes Verbot schlichtwegnicht zu den Instrumentarien der Aufsicht gehören.Darüber hinaus soll keine Finanzialisierung der Roh-stoffmärkte stattfinden. Es darf keine Preisregulierungstattfinden. Die Rohstoffmärkte sollen von den natürli-chen Preisschwankungen getrieben werden, einen real-wirtschaftlichen Hintergrund haben und von den bereitserwähnten natürlichen Faktoren beeinflusst werden.Eine Finanzialisierung kann die Schwankungen verstär-ken. Und ich lehne es entschieden ab, Preisschwankun-gen weiter zunehmen zu lassen.Was wir nicht wollen, sind also entsprechende Preis-obergrenzen; denn wenn man im Bereich der Landwirt-schaft Preisobergrenzen einführt, muss auch so etwaswie ein Mindestpreis eingeführt werden. Einen solchenEingriff in den Markt wird es für uns nicht geben.Ich glaube, wir sind uns in der Stoßrichtung einig,dass etwas getan werden muss und man verlässlicheLösungen finden muss.Insgesamt begrüßen wir die Maßnahmen von Trans-parenz und Missbrauchsvorbeugung sehr. Daher bin ichüberzeugt, dass wir uns bereits auf einer zufriedenstel-lenden Zielgeraden befinden.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22515
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Die Koalition hat heute einen Antrag vorgelegt, der
vom Titel her vielversprechend klingt: Rohstoffderivate-
märkte gezielt regulieren. Doch von gezielten Maßnah-
men keine Spur in Ihrem Antrag. Stattdessen finden sich
darin nur vage Formulierungen, die kaum über Auf-
sichts- und Transparenzforderungen hinausgehen.
Sie fordern in Ihrem Antrag keine verbindlichen Posi-
tionslimits. Sie wollen Pensionsfonds oder Hedgefonds
nicht den Zugang zu Rohstoffderivaten verwehren. Und
Sie wollen auch nicht den außerbörslichen Derivatehan-
del abschaffen. Dabei wäre mit diesen drei gezielten
Maßnahmen, die die Linke bereits im Januar 2011 in ei-
nem Antrag gefordert hat, viel gewonnen.
Wir brauchen dringend Obergrenzen für die Anzahl
gehaltener Positionen auf den Rohstoffmärkten. Nur so
können die übertrieben hohen Kapitalzuflüsse auf ein
gesundes Maß zurückgefahren und die Zahl von Speku-
lanten ohne wirkliches Interesse an dem tatsächlichen
Kauf der Rohstoffe gesenkt werden. Sie behaupten im-
mer wieder, dadurch wäre die Liquidität der Märkte ge-
fährdet, doch das Gegenteil ist der Fall: Die Gefahr der
Blasenbildung durch das schädliche Übermaß von Ka-
pital wird gebannt!
Brauchen wir Rohstoffderivate als Kapitalanlage? Es
heißt wieder, die Kunden wünschen solche Anlagemög-
lichkeiten. Fragen Sie doch mal die Leute auf der
Straße, ob sie ihre Alterssicherung auf Kosten anderer
– derer, die ohnehin schon zu den Ärmsten der Welt ge-
hören – anlegen wollen. „Wir wollen eine sichere An-
lage“, werden sie Ihnen antworten. Doch nicht mal Si-
cherheit bieten diese Anlagen, weil es eine Unzahl von
Akteuren und Unmengen von Kapital gibt, die die massi-
ven Preisschwankungen ja gerade erst ermöglicht
haben. Auch der Handel außerhalb der Börse, der soge-
nannte OTC-Handel, und der ausschließlich computer-
gesteuerte Hochfrequenzhandel bieten keinerlei Sicher-
heit, sondern stellen eine Gefahr für das Allgemeinwohl
dar, wenn Pensionsfonds und Lebensversicherungen
durch rapide Preisverluste mal eben verzockt werden.
Warenterminmärkte mögen ja – sofern vernünftig re-
guliert – zur Preisfindung beitragen, aber der außer-
börsliche Handel tut dies nicht. Er ist völlig unkon-
trolliert und besonders anfällig für Manipulationen.
Mittlerweile hat er mindestens das siebenfache Volumen
der Warenterminmärkte erreicht. Umso dringlicher ist
es, hier aktiv zu werden. Dieser Schattenmarkt sollte
schlichtweg abgeschafft werden, denn er übernimmt
keine andere Funktion im Marktgeschehen als Preistrei-
berei.
Was in Ihrem Antrag besonders auffällt, ist Ihre
sprachliche Verengung auf Rohstoffe. Es wird schlicht
ausgeblendet, dass es sich dabei auch konkret um Nah-
rungsmittel handelt. Worte wie Grundnahrungsmittel
oder Agrarrohstoffe scheinen Sie jedoch gezielt zu um-
schiffen. Nennen Sie doch bitte die Dinge beim Namen!
Das Geschäft mit dem Hunger steht im Mittelpunkt des
öffentlichen Interesses; denn es ist ein entscheidender
Unterschied, ob ich auf steigende Weizenpreise wette
oder auf Silber. Und besonders strikte Regulierungs-
maßnahmen für Agrarrohstoffe fordern ja auch einige
Kollegen in der Koalition. Doch in Ihrem Antrag neh-
men Sie diese richtungsweisende Unterscheidung kaum
vor – einmalig erwähnen Sie auch nur den Begriff Agrar-
derivate, für die Sie zusätzliche Maßnahmen prüfen wol-
len. Dabei haben wir das Thema seit geraumer Zeit auf
dem Tisch. Es gibt konkrete Vorschläge, wie man Nah-
rungsmittelspekulationen bekämpfen kann. Deshalb gilt
es, aktiv zu werden. Jede Minute, die wir zögern, bedeu-
tet weiter steigende Preise durch Zockerei mit Nah-
rungsmitteln und damit noch mehr Hungernde auf der
Welt.
Man gewinnt den Eindruck, bei Ihrem Antrag handelt
es sich um einen unverbindlichen Scheinantrag. Sie tun
mit Ihrem Antrag nichts dafür, exzessive Spekulation mit
Rohstoffen, insbesondere mit Nahrungsmitteln, konkret
einzudämmen. Ihre Vorschläge – anders kann man diese
zaghaften Forderungen gar nicht bezeichnen – entpup-
pen sich als ein besonders lahmer Versuch, die Aus-
wüchse exzessiver Spekulation auf den weltweiten
Hunger minimal abzumildern – hinter Ihrem selbstge-
steckten Ziel einer tatsächlichen Regulierung der Roh-
stoffmärkte bleiben Sie jedoch meilenweit zurück. Des-
halb werden wir Ihren Antrag ablehnen.
Noch kurz zum SPD-Antrag: Es ist grundsätzlich zu
begrüßen, dass Sie von der SPD auf verbindliche Regu-
lierung setzen. Doch ob Agrarrohstoffderivate über-
haupt als Kapitalanlage dienen sollten, stellen Sie leider
nicht zur Diskussion. Statt dem außerbörslichen Handel
sowie dem Hochfrequenzhandel beispielsweise eine ge-
nerelle Absage zu erteilen, folgen Sie den gegenwärtigen
EU-Kommissionsvorschlägen, die mit der Schaffung von
organisierten Handelssystemen – den Organized Trading
Facilities – eine institutionelle Parallelstruktur zur
Börse, wie sie gegenwärtig der OTC-Handel darstellt,
erhalten wollen. Das ist der falsche Weg die Zockerei mit
Rohstoffen effektiv zu bekämpfen.
Wir Grüne sind der Auffassung, dass an den Waren-terminmärkten dringlicher Handlungsbedarf besteht.Viel spricht dafür, dass der Zufluss neuer Investitions-milliarden in die Märkte für Rohstoffderivate sowohlPreise als auch ihre Schwankungen stark nach obentreibt – und zwar losgelöst von den eigentlichen Ange-bots- und Nachfragedaten.Die schwersten Auswirkungen zeigen sich in denärmsten Ländern: Dort haben die Menschen schlichtkein Geld, mehr für Nahrungsmittel zu bezahlen. Auchvon stärkeren Preisschwankungen ist der Süden beson-ders stark betroffen. Investitionsentscheidungen hängenauch dort von Planungssicherheit bei den Preisen ab,die im Gegensatz zum Norden nicht abgesichert werdenkönnen. Investitionen in die Landwirtschaft unterblei-ben – zulasten der lokalen Bevölkerung und Wertschöp-fung.Wir Grüne leiten aus diesem Befund den Leitsatz„Mit Essen spielt man nicht!“ ab, an dem wir unsere Re-gulierungsvorschläge konsequent ausrichten. Denn an-gesichts der skizzierten desaströsen Auswirkungen aufZu Protokoll gegebene Reden
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Dr. Gerhard Schick
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den Hunger in der Welt betrachten wir die Regulierungder Agrarmärkte auch und vor allem als ethische Frage.Vor diesem Hintergrund halten wir es für richtig, in die-sem Bereich auch mit Verboten für Fonds, Banken undInvestoren spekulative Anlagemilliarden aus den ent-sprechenden Finanzmärkten zu ziehen.Sie von der Koalition haben das abgelehnt. IhrAntrag beschränkt sich jetzt folgerichtig darauf, für„Agrarderivate zusätzliche und strengere Regulierungs-maßnahmen zu prüfen“. Weitere Prüfungen sind hierfehl am Platz. Erst vor wenigen Tagen hat die Landes-bank Baden-Württemberg ihren Ausstieg aus Investitio-nen in Agrarrohstoffe erklärt, zuvor ist die Deka-Bankaus diesem Segment ausgestiegen. Während Sie hierweiter prüfen wollen, ist man in einigen Banken alsoausnahmsweise schon weiter. Und das will viel heißen.Aber nicht nur die Menschen im Süden, auch Indus-trie, Mittelstand und Verbraucher bei uns sind stark be-troffen, zum Beispiel von einem überhöhten Ölpreis.Eine Studie im Auftrag der grünen Bundestagsfraktionkam zum Ergebnis, dass allein für spekulationsgetrie-bene höhere Ölpreise die Deutschen jährlich mit etwafünf Milliarden Euro mehr beim Tanken belastet werden.Das zeigt: Eine konsequente Regulierung der Rohstoff-märkte ist im Interesse nahezu aller Lebens- und Wirt-schaftsbereiche.Und deshalb ist es fahrlässig, dass Sie von der Koali-tion in Ihrem Antrag getroffene sinnvolle Vereinbarun-gen der G 20 wieder aufmachen: Die G 20 in Canneshaben im November 2011 strenge Ex-ante-Positionsli-mits beschlossen. Das ist auch wichtig und sinnvoll:Ohne Positionslimits ist angesichts des großen Investi-tionshungers der Kapitalsammelstellen, krisenbedingterVerunsicherung, gestiegener Inflationserwartung, nied-riger Zinsen und Liquidität im Übermaß der weiteremilliardenschwere Zustrom in die neue AnlageklasseRohstoffe zu erwarten – mit den skizzierten zu befürch-tenden Negativauswirkungen auf Preise und Volatilitä-ten. Erfahrungen in anderen Märkten zeigen auch, dassdie Sorge, durch Limits werde Liquidität zu stark be-schränkt, unbegründet sind. Liquide Märkte und Limitssind miteinander vereinbar. Umso unverständlicher,dass Sie im Begründungsteil Ihres Antrags „Alternati-ven zu starren Ex-ante-Limits“ einfordern. Aus dem Eu-ropäischen Parlament wissen wir, dass das hier auchkein Versehen war, sondern dass die deutsche Bundesre-gierung mit dem Aufweichen an dieser Stelle leider ernstmeint.Weiter fordern Sie, „den legitimen Absicherungsinte-ressen der Realwirtschaft angemessen Rechnung zu tra-gen“. Nach meinem Dafürhalten machen Sie das Ein-fallstor für gefährliches Lobbying und Verwässerungder Regulierungen, wie sie auf europäischer Ebene der-zeit diskutiert werden, gefährlich weit auf: Wer dieDebatte zum Beispiel in den USA oder auch bei uns auf-merksam verfolgt hat, weiß, wie gern vermeintliche Inte-ressen der Realwirtschaft vorgeschoben werden, um inWahrheit allein die Interessen der Finanzwirtschaft zuverteidigen und sinnvolle Regulierungen zu verhindern.Wenn Sie hier nicht klarmachen, was Sie konkret mei-nen, dann befördern Sie, dass es nachher weicher wird,als eigentlich gedacht, und dann sind die Überschriftenund Schlagworte, die Sie hier liefern, nicht viel wert.Der SPD-Antrag, den wir heute ja auch beraten, isthier klar, greift die laufende Diskussion auf EU-Ebeneauf und zeigt, wie mit dem Problem der Ausnahmen um-gegangen werden kann, ohne dass wir ein Einfallstor fürUmgehung und Gestaltung schaffen. Denn eines ist klar:Ausweichreaktionen müssen durch eine enge und zielge-naue Fassung von Ausnahmen unbedingt verhindertwerden, wenn die Preise nicht länger durch opakeMärkte verzerrt bleiben und echte und effektive Inter-ventionsmöglichkeiten geschaffen werden sollen.Den Koalitionsantrag werden wir aus den genanntenGründen ablehnen, dem SPD-Antrag stimmen wir zu.
Wir kommen zur Abstimmung über den Tagesord-
nungspunkt 29 a. Der Finanzausschuss empfiehlt in sei-
ner Beschlussempfehlung auf Drucksache 17/9842, den
Antrag der Fraktionen der CDU/CSU und FDP auf
Drucksache 17/8882 anzunehmen. Wer stimmt dafür? –
Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-
schlussempfehlung ist angenommen.
Tagesordnungspunkt 29 b: Abstimmung über den An-
trag der Fraktion der SPD auf Drucksache 17/10093.
Wer stimmt für diesen Antrag? – Wer stimmt dagegen? –
Wer enthält sich? – Der Antrag ist abgelehnt.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 32 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Karin
Roth , René Röspel, Dr. Sascha Raabe,
weiterer Abgeordneter und der Fraktion der SPD
Für eine Generation frei von Aids/HIV bis
2015 – Anstrengungen verstärken und Zusa-
gen in der Entwicklungspolitik einhalten
– Drucksache 17/10096 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und
Entwicklung
Auswärtiger Ausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
Ausschuss für Gesundheit
Ausschuss für Bildung, Forschung und
Technikfolgenabschätzung
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
die Reden zu Protokoll.
HIV/Aids ist nach wie vor eine furchtbare Geißel derMenschheit. In vielen Teilen der Erde ist die Krankheitgeradezu eine Plage biblischen Ausmaßes, um mit „al-tertümlichen Worten“ eine brandaktuelle Katastrophe– die Pest unserer Zeit – zu beschreiben. 30 MillionenMenschen weltweit sind der Epidemie bereits zum Opfergefallen.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22517
Sabine Weiss
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Schätzungsweise 34 Millionen Menschen sind welt-weit mit dem Virus infiziert; ein Großteil von ihnen lebtin Entwicklungsländern. Die Hauptlast der tückischenKrankheit trägt Afrika südlich der Sahara, wo fast23 Millionen Menschen mit dem HI-Virus leben. Es gibteinzelne Länder in Subsahara-Afrika, in denen mehr als20 Prozent der Bevölkerung zwischen 15 und 49 Jahreninfiziert sind.Diese tückische Krankheit zerstört: Sie zerstört dieLeben der Betroffenen. Sie zerstört aber auch häufig dieLeben der Familien der Betroffenen. Weltweit habenmehr als 16 Millionen Kinder zwischen 0 und 17 Jahreneinen Elternteil oder beide Eltern aufgrund der Immun-schwächekrankheit verloren. Kinder können nicht zurSchule gehen, weil sie ihre Angehörigen pflegen oderGeld verdienen müssen, um die sozialen Folgen derKrankheit abzumildern. Sie zerstört in Ländern mit sehrhohen Infektionsraten auch die Entwicklungs- und Wirt-schaftschancen, weil von HIV/Aids häufig besondersjunge Menschen in ihrem produktivsten Alter betroffensind. Die Immunschwächekrankheit ist damit ein nichtzu unterschätzendes Armutsrisiko für ganze Gesell-schaften. Neben der menschlichen Tragödie, die HIV/Aids über jede einzelne betroffene Familie bringt, ist siein vielen Ländern Afrikas südlich der Sahara somit aucheine gesamtgesellschaftliche und wirtschaftliche Kata-strophe, die die Entwicklung der Länder entscheidendhemmt.Auch wenn es mittlerweile Behandlungsmöglichkei-ten und Therapien gibt, die das Leben mit der Immun-schwäche erleichtern, so gibt es immer noch keineHeilung. Es ist daher gut und richtig, dass wir uns heuteim Plenum des Deutschen Bundestages mit diesem wich-tigen Thema beschäftigen.Das Gesicht der Krankheit wird immer weiblicher.Frauen tragen die Hauptlast der Epidemie. Sie pflegenkranke Angehörige, kümmern sich um Aidswaisen undsind zudem auch noch einem erhöhten Ansteckungsri-siko ausgesetzt. In Subsahara-Afrika sind mittlerweilemehr als doppelt so viele junge Frauen wie junge Män-ner in der Altersgruppe von 15 bis 24 Jahren mit HIV in-fiziert.Für Frauen ist es häufig besonders schwer, sich voreiner Ansteckung zu schützen, denn viele Männer ver-weigern den Gebrauch von Kondomen. Oft sind Frauenund Mädchen sexueller Gewalt ausgesetzt. Viele Frauenkönnen in Bezug auf Verhütung und Sexualität keinselbstbestimmtes Leben führen. Aus dem häufig einge-schränkten Zugang zu Bildung resultiert dann auch nochein geringes Wissen über sexuell übertragbare Krank-heiten und den Schutz vor Ansteckung. Frauen sind be-sonders gefährdet, sich mit der tückischen Immunschwä-chekrankheit anzustecken. Bei all unseren Bestrebungenim Kampf gegen HIV/Aids muss daher ein zentrales Au-genmerk auf Frauen und Mädchen liegen.In der letzten Sitzungswoche habe ich als Sprecherindes Parlamentarischen Beirates der Deutschen StiftungWeltbevölkerung eine Sitzung zum Thema Verhütungs-mittel geleitet. Dort wurde eine Auswahl von am Bedarfund an der Situation angepassten Verhütungsmittelnpräsentiert – unter anderem auch das Kondom für dieFrau.Ich gebe an dieser Stelle zu, dass das Kondom für dieFrau bei mir – und nicht nur bei mir – erst einmal un-gläubige Blicke hervorgerufen hat, da es doch ein biss-chen an eine kleine Plastiktüte erinnert. Aber der Hin-tergrund ist leider bitter ernst: Männer verweigern sichKondomen, und daher werden Präventionsmaßnahmenbenötigt, die Frauen selbstbestimmt verwenden können –und das Frauenkondom ist eine dieser Präventionsmaß-nahmen. Das Problem ist bislang jedoch noch, dassKondome für die Frau um ein Vielfaches teurer sind alsMännerkondome und die Akzeptanz noch steigerungs-würdig ist. Aber es wird daran gearbeitet und geforscht,die Frauenkondome noch benutzerfreundlicher und miteinem höheren Tragekomfort auszugestalten.Solange es keine Heilung bei und keine Impfstoffe ge-gen HIV/Aids gibt, sind Prävention und Infektionsvor-beugung die wichtigste Waffe im Kampf gegen die Epi-demie. Richtigerweise liegt daher ein Schwerpunkt derdeutschen Unterstützung auf der Prävention.Dazu gehören Präventionsmittel, die Frauen selbst-bestimmt und oft sogar ohne das Wissen der Männer an-wenden können. Es gibt mittlerweile mehrere Produkt-partnerschaften, die es sich zum Ziel gemacht haben,Mikrobizide zu entwickeln, mit deren Hilfe sich Fraueneigenverantwortlich vor einer Ansteckung schützen kön-nen. Geforscht wird derzeit an Cremes oder monatlichenVaginalringen, die den Frauen endlich eine eigene Prä-ventionsmaßnahme im Kampf gegen eine Ansteckung andie Hand geben würde.Zur Prävention gehört natürlich auch die Aufklärungüber Sexualität, sexuell übertragbare Krankheiten undden Schutz vor Ansteckung. Nur wer weiß, wie man sichanstecken kann und welche Maßnahmen gegen eine An-steckung helfen, kann sich schützen. In erfolgreichenAufklärungsstrategien müssen Männer wie Frauen undJungen wie Mädchen eingebunden sein. Nur mit derEinbeziehung von Männern und Jungen werden sichbeispielsweise die Akzeptanz und der Gebrauch vonKondomen für Männer steigern lassen. Ich brauche andieser Stelle nicht zu betonen, dass das Männerkondomeines der preisgünstigsten und effektivsten Instrumentegegen eine Ansteckung ist. Erfolgreiche Aufklärung hatindividuelle Verhaltensänderungen wie beispielsweiseden Gebrauch von Kondomen zur Folge. Aufklärungkann ein sehr hartes Stück Arbeit sein, wenn sie tradierteVerhaltensweisen aufbrechen muss. Fatale Mythen, wiein Afrika, wo es Männer gibt, die glauben, dass Ge-schlechtsverkehr mit einer Jungfrau sie von ihrerAidserkrankung heilt, können Aufklärung noch zusätz-lich erschweren.Deutschland gehört weltweit zu den größten Gebernim Kampf gegen die Immunschwächekrankheit HIV/Aidsund hat sich verpflichtet, von 2008 bis 2015 mindestens4 Milliarden Euro für die Bekämpfung von HIV, Mala-ria, Tuberkulose und für die benötigte Stärkung vonGesundheitssystemen bereitzustellen. Neben bilateralenAuszahlungen zur Bekämpfung von HIV/Aids istDeutschland mit 200 Millionen Euro jährlich der viert-Zu Protokoll gegebene Reden
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22518 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Sabine Weiss
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größte Geber des Globalen Fonds zur Bekämpfung vonAids, Tuberkulose und Malaria; rund die Hälfte der Bei-träge an den Globalen Fonds kommen der HIV/Aids-Be-kämpfung zugute.Zudem unterstützt Deutschland unter anderem UN-Aids, die EU und die Weltgesundheitsorganisation beider HIV/Aids-Bekämpfung. Die International PlannedParenthood Federation, IPPF, die sich für eine Stärkungder sexuellen und reproduktiven Rechte einsetzt, erhieltinsgesamt 4,9 Millionen Euro im Jahr 2010.In den letzten Jahren hat es gute Erfolge bei der HIV/Aids-Bekämpfung gegeben. So ist die Zahl der HIV-Neuinfektionen und der mit der Epidemie zusammen-hängenden Todesfälle auf dem niedrigsten Stand seitdem Höhepunkt der Aids-Katastrophe.Die Herausforderungen, vor denen wir stehen, sindaber nach wie vor groß. Bislang hat über die Hälfte derMenschen, die eine Therapie benötigen, keinen Zugangzu den lebensrettenden Medikamenten. Jedes Jahr infi-zieren sich immer noch 390 000 Neugeborene durch dieÜbertragung des HI-Virus der eigenen Mutter. Durchdie mütterliche Einnahme von antiretroviralen Medika-menten kann das Übertragungsrisiko auf bis zu 2 Pro-zent gesenkt werden.Jeden Tag infizieren sich mehr als 7 000 Menschenneu, und täglich sterben fast 5 000 Menschen an der Er-krankung.Es ist also noch ein sehr weiter Weg bis zur Vision„Null HIV-Neuinfektionen, null Diskriminierung undnull Todesfälle durch Aids“ der Vereinten Nation.Aber auch bis zu Erreichung des Universal Access,der bis 2015 weltweit allen von HIV betroffenen Men-schen universellen Zugang zu Prävention, Behandlung,Versorgung und Pflege ermöglichen soll, gibt es noch ei-nige Herausforderungen anzugehen.Ich bin in der Regel keine Freundin der brachialenAusdrücke, aber diese heimtückische Krankheit gehörtausgerottet. Es wäre ein Segen für die Menschheit, wennes irgendwann gelingen könnte, dass dieser furchtbareVirus vom Angesicht der Erde verschwindet und dieVision der Vereinten Nationen „Null Ansteckung, nullDiskriminierung und null Todesfälle“ wahr würde.Auch wenn der Weg lang ist, so können wir dieserVision durch gute und erfolgreiche Prävention und Auf-klärung, eine für alle zugängliche Behandlung und Ver-sorgung der Betroffenen sowie durch Forschung jedesJahr vielleicht ein bisschen näher kommen.Deutschland stellt sich dabei seiner Verantwortungim Kampf gegen die HIV/Aids-Epidemie und wird diesauch weiterhin tun.
Zum Weltfrauentag in diesem Jahr haben sich vielevon Ihnen, wie ich auch, für die Kampagne„In9monaten.de“ gemeinsam fotografieren lassen, umihre Zustimmung, ihre Solidarität und ihre Unterstüt-zung für die Ziele dieser Kampagne zu zeigen, und zwarKolleginnen und Kollegen aus allen Fraktionen.Wir, die Mitglieder der SPD-Bundestagsfraktion, ha-ben mit diesem Antrag die Aufgabe übernommen, vonder Bundesregierung die notwendigen Schritte zu for-dern, mit denen sie ihre eingegangenen Verpflichtungenim Kampf gegen Aids und für eine Generation frei vonAids erfüllen kann und muss.Ich bin daher besonders froh, dass auch Frau Pfeiffer,Frau Daub und die Vorsitzende des AWZ, Frau Wöhrl,ihre Unterstützung für die Kampagne und die Ziele de-monstriert haben; denn so können wir uns der Unter-stützung dieses Antrags auch durch die Koalition sichersein. Die erste Generation frei von Aids wird es Ihnendanken.Eine Unterstützung durch das ganze Haus wäre auchein starkes Signal an die im nächsten Monat inWashington stattfindende 19. Welt-Aids-Konferenz, dasssich Deutschland seiner Verantwortung bewusst und be-reit zum Handeln ist.Es gibt Erfolge zu verzeichnen. Sowohl die Zahl derHIV-Neuinfektionen als auch die mit Aids zusammen-hängenden Todesfälle sind auf das niedrigste Niveauseit dem Höhepunkt der Epidemie gefallen. Den Anga-ben von UNAIDS zufolge gab es im Jahr 2010 zwischen2,4 und 2,9 Millionen Neuinfizierte, wovon circa390 000 Kinder waren. Etwa 1,8 Millionen Menschenstarben an Aids bzw. an damit in Zusammenhang stehen-den Krankheiten.90 Prozent der Kinder werden durch die Mutter mitdem HI-Virus infiziert, etwa während der Geburt oderspäter über die Muttermilch. Die Ursachen hierfür sindvielfältig. Viele Mütter wissen nichts von ihrer Erkran-kung, das heißt, sie wurden nicht getestet. Oder sie wur-den nicht über das notwendige Verhalten aufgeklärt.Häufig hat auch keine Behandlung stattgefunden, weiles kein ausreichendes Gesundheitssystem oder keinenZugang zu den notwendigen Medikamenten gab. Wirddie Mutter nicht behandelt, steckt sich eins von drei Kin-dern an. 2009 lebten weltweit 2,5 Millionen Kinder un-ter 15 Jahren mit HIV/Aids, 90 Prozent davon in denLändern mit niedrigem und mittlerem Einkommen.International hatte man sich zur Schaffung eines„Universal Access“, also eines universellen Zugangs zuPrävention, Behandlung, Betreuung und Unterstützungfür alle Menschen bis 2010 verpflichtet. Trotz herausra-gender Anstrengungen wie der Arbeit des GlobalenFonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Ma-laria wurde dieses Ziel nicht erreicht, auch weil MinisterNiebel dem GFATM immer wieder Knüppel zwischen dieBeine wirft. Deshalb ist es lebensnotwendig, die An-strengungen zu verstärken.Bis zum Jahr 2010 sollten auch mindestens 80 Pro-zent aller HIV-infizierten Schwangeren Zugang zu medi-zinischer Versorgung haben. Erreicht wurde dieses Zielnur in vier Ländern: Botswana, Namibia, Swasiland undSüdafrika. Trotz einiger Fortschritte in den anderenLändern erhielten 2009 nur 53 Prozent aller HIV-positi-ven Frauen Medikamente und medizinische Versorgung.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22519
Karin Roth
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Nur wenn Frauen auch wissen, ob sie infiziert sind,kann eine Virusübertragung auf das Kind verhindertwerden. 2009 hatten jedoch nur 26 Prozent allerSchwangeren in den Entwicklungsländern Zugang zuHIV-Tests.Wir müssen die Mutter-Kind-Übertragung stoppen,wenn wir eine erste Generation frei von Aids ermögli-chen wollen. Zu diesem Ziel hat sich auch die Bundesre-gierung im Jahr 2011 auf der UN-Generalversammlungerneut verpflichtet, dann aber, wie bei allen internatio-nalen Verpflichtungen in Bezug auf Gesundheit in denEntwicklungsländern, den vollmundigen Ankündigun-gen keine Taten folgen lassen.Eine neuere Studie in Südafrika zeigte, dass die Sterb-lichkeitsrate von Säuglingen, die innerhalb der erstenzwölf Wochen behandelt werden, um 75 Prozent gesenktwerden konnte.Abgesehen von der Tatsache, dass nur 28 Prozent derKinder eine notwendige Therapie bekommen, gibt esviele Medikamente nicht in kinderfreundlichen Darrei-chungsformen oder aber sie müssen gekühlt werden,was in armen Ländern ein Problem darstellt. Dazu istweitere Forschung zwingend notwendig.Wir fordern die Bundesregierung auf, sich dem Zieleiner aidsfreien Generation zu verpflichten und künftigeProgramme an diesem Ziel konsequent auszurichten,ohne den übrigen Einsatz gegen HIV/Aids zu schmälern.Eine aidsfreie Generation muss zum Leitbild des Han-delns des Entwicklungsministeriums werden.Die Bundesregierung muss der Verhinderung vonNeuinfektionen bei Kindern und der Zukunftsvision ei-ner aidsfreien Generation einen zentralen Stellenwert inihrer neuen HIV/Aids-Strategie einräumen. Ebensomuss diese Vision in der „Strategie Globale Gesund-heit“, die zurzeit von der Bundesregierung erarbeitetwird, als vorrangiges Ziel verankert werden.Alle Anstrengungen zur Umsetzung der Zielvorgabenfür die Bekämpfung von HIV, die im Rahmen der Verein-ten Nationen für das Jahr 2015 vereinbart wurden, müs-sen verstärkt werden. Hierfür ist eine Anhebung derMittel für die Entwicklungshilfe auf 0,7 Prozent desBruttonationaleinkommens notwendig. Um dieses Zielzu erreichen, fordern wir die Bundesregierung auf, dieODA-anrechenbaren Mittel jährlich um etwa 1 Mil-liarde Euro zu steigern.Es ist möglich, einen großen Schritt im Kampf gegenHIV/Aids zu machen, aber das vorhandene Zeitfensterist nicht allzu groß. Deswegen muss jetzt gehandelt wer-den.Von Kofi Annan stammt der Ausspruch: „Am Endewird die Geschichte uns nicht an dem, was wir sagen,messen, sondern an dem, was wir tun.“ Was zu tun ist,steht in dem Antrag der SPD, dessen Inhalte auch vonden Koalitionären unterstützt werden, wie unser ge-meinsames Foto vom Frauentag in diesem Jahr zeigt.
Entgegen meiner sonstigen Gewohnheit muss ichheute ohne konziliante Vorrede mit deutlicher Kritik anIhrem Antrag beginnen: Es ist nicht ungewöhnlich, dassvor der parlamentarischen Sommerpause des Bundes-tages schnell noch Anträge mit heißer Nadel gestricktwerden. Dass diese jedoch handwerklich und inhaltlichungenügend vorbereitet werden, ist gerade bei diesemwichtigen Thema mehr als bedauerlich. Dass man alsOpposition die Bundesregierung um des Kritisierenswillen kritisiert – bitte; geschenkt. Aber es ist eineFrechheit, der Bundesregierung und dem BMZ zu unter-stellen, internationale Verpflichtungen gerade in Bezugauf die Gesundheit in Entwicklungsländern nicht einzu-halten.Wenn ich mir die Bilanz der Entwicklungszusammen-arbeit unter Dirk Niebel anschaue, dann muss ich sa-gen: Wir haben in den drei Jahren nachweislich mehrerreicht, als die Vorgängerregierungen mit MinisterinWieczorek-Zeul, die viele Jahre mehr Zeit hatten; elfJahre, um genau zu sein!Die Muskoka-Initiative ist ein Beispiel aus unsererErfolgsbilanz. Deutschland stellt zusätzlich 400 Millio-nen Euro im Zeitraum von 2011 bis 2015 zur Verbesse-rung der Kinder- und Müttergesundheit zur Verfügung.Das BMZ räumt den Zielen der Initiative hohe politischePriorität ein, bezieht Akteure aus Zivilgesellschaft undPrivatsektor als wichtige Partner aktiv ein und legt inder Umsetzung besonderen Wert auf die Bereiche Auf-klärung, Bildung und Ausbildung von Gesundheitsper-sonal, das im Bereich Geburtshilfe tätig ist.In Kürze wird das Bundesministerium für wirtschaft-liche Zusammenarbeit und Entwicklung das Positions-papier „Deutschlands Beitrag zur nachhaltigen Ein-dämmung von HIV“ vorstellen. Spätestens nach derLektüre dieses Dokuments werden Sie sehen, dass diemeisten Ihrer Forderungen im Antrag überflüssig, dabereits erfüllt sind.Dass Ihre Forderung nach der Beteiligung der Zivil-gesellschaft vor Ort teilweise bereits erfüllt und in allenLändern der deutschen EZ angestrebt ist, habe ich amBeispiel Muskoka bereits angerissen.Die Aufforderung, die Gesundheitsministerien derPartnerländer in der Umsetzung der WHO-Empfehlun-gen zu unterstützen, ist oftmals sogar übererfüllt:Bilaterale Programme arbeiten auf allen Ebenen derPartnerländer, von der Regierungsberatung bis hin zurUmsetzung auf Gemeindeebene – Mehrebenenansatz –,und fördern die Einbeziehung von Nichtregierungsorga-nisationen und des Privatsektors in die nationale HIV-Politik. Durch eine geeignete Kombination von Inter-ventionen und Instrumenten fördern sie die HIV-Präven-tion, verknüpfen diese mit anderen Gesundheitsdienst-leistungen – zum Beispiel im Bereich reproduktiver undsexueller Gesundheit – und stärken Gesundheitssystemefür einen verbesserten Zugang zu Diagnostik, Tests,Medikamenten und zu qualitätsgesicherter Behandlung.Zu Protokoll gegebene Reden
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22520 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Helga Daub
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Der Aufruf an die Bundesregierung, sich für starkHIV-gefährdete Gruppen stärker einzusetzen, ist bereitsvor Ihrem Antrag gehört worden. Zwei Beispiele:Die deutsche Entwicklungszusammenarbeit unter-stützt zum Beispiel in Nepal die Implementierung undAusweitung des nationalen Methadonprogramms kom-plementär zu einem Zuschuss des GFATM, der die lau-fenden Kosten des Substitutionsprogramms trägt. Regie-rungs- und Nichtregierungsorganisationen werden imBereich der Substitutionsbehandlung beraten, die Aus-bildung von Personal für die medizinische und psycho-soziale Betreuung unterstützt und ein Überweisungs-und Referenzsystem zu relevanten Gesundheitsdienstenund anderen Unterstützungsleistungen eingeführt.In der Ukraine werden Männer, die Sex mit Männernhaben, stigmatisiert und diskriminiert. Dies behindertrisikominimierendes Verhalten sowie den Zugang zugesundheitlichen und sozialen Dienstleistungen. Mitdeutscher Unterstützung vermitteln Initiativgruppen vonMännern, die Sex mit Männern haben, differenziertesWissen über schwules Leben, schwule Identität undSafer Sex sowie Techniken zum Umgang mit Diskrimi-nierung und Stigmatisierung. Darüber hinaus wurdenÄrztinnen und Ärzte, Psychologinnen und Psychologenund Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter darin ge-schult, tabuisierte Themen wie Sexualität und Safer Sexohne Vorbehalte anzusprechen und zu diskutieren.Wenig überraschend wird einmal mehr die Forderungnach der Verdopplung der Mittel für den Global Fundauf 400 Millionen Euro pro Jahr formuliert. Wir unter-stützen die Arbeit des Global Fund, das wissen Sie.Frau Roth, wenn ich Ihre heutige Pressemitteilungzum Global Fund lese, muss ich reagieren! Zu keinerZeit hatte Minister Niebel eine Blockadehaltung gegen-über dem Global Fund! Die einzige Blockadehaltung,die der Minister dankenswerterweise hat, ist die Blocka-dehaltung gegenüber Korruption. Nachdem alle Vor-würfe aufgeklärt und die richtigen Wege beschrittenwurden, sind selbstverständlich die zugesagten Mittel anden GFATM ausgezahlt worden.Und jetzt die Forderung nach einer Verdopplung derMittel! – Erlauben Sie mir den Hinweis, dass alleine dasGesetz verbietet, dass die Bundesregierung eine Geld-druckmaschine im Keller hat. Aber auch inhaltlich posi-tionieren wir Liberale uns hier anders. Wie Sie wissen,streben wir den weiteren Aufwuchs an bilateralen Mit-teln auch im Gesundheitsbereich der Entwicklungszu-sammenarbeit an.Darüber hinaus muss ich Ihren Blick auch über denTellerrand des Einzelplans 23 hinaus auf die Chanceneiner nachhaltigen Effizienzverbesserung der EZ imGesundheitsbereich lenken: Die Bundesregierung betei-ligt sich aktiv am Reformprozess der WHO und dem Be-mühen, die Entwicklungspolitik gerade im Bereich derGesundheit stringenter und effizienter zu machen unddurch die Abschaffung von Doppel- oder gar Mehrfach-strukturen die vorhandenen Mittel noch zielführenderzum Einsatz zu bringen.In einem globalen Themengebiet erwarte ich aucheine globale Betrachtung der Herausforderungen undLösungsansätze. Diese Erwartung erfüllt das BMZ.Deutschland wird sich auch in Zukunft an internationa-len Initiativen zur besseren Abstimmung und Verzah-nung der Maßnahmen im Gesundheitsbereich beteiligenund zum Beispiel als Gründungsmitglied die Internatio-nal Health Partnership, IHP+, aktiv voranbringen.Liebe Kollegen und Kolleginnen der SPD, einigeIhrer Forderungen könnten wir mit bestem Wissen undGewissen mittragen, die Ausweitung der Förderung vonProduktentwicklungspartnerschaften im Rahmen desProgramms „Vernachlässigte und armutsassoziierteKrankheiten“ des BMBF zum Beispiel. Frau Roth, hiersind wir ja sogar fraktionsübergreifend im Parlamenta-rischen Beirat der Deutschen Stiftung Weltbevölkerungaktiv gewesen und haben uns bei Ministerin Schavaneben hierfür eingesetzt.Auch in dem Ansinnen, die Verknüpfung von Maß-nahmen unter dem Stichwort Sexuelle und ReproduktiveGesundheit und Rechte, SRGR, und HIV-Präventionpolitisch, konzeptionell und finanziell in der deutschenEntwicklungszusammenarbeit zu stärken und Kinderund Jugendliche stärker zu berücksichtigen, finden Siein uns Gleichgesinnte. Umso betrüblicher finde ich,dass der eine oder andere richtige Ansatz in Ihrer Tourd’Horizon durch – gefühlt – alle Forderungen der letz-ten drei Jahre komplett untergeht.Ich verstehe das Instrument des Antrags an die Bun-desregierung als Möglichkeit, Verbesserungen zu for-dern, Vorschläge zu machen und ja, auch sachlich zukritisieren. Ihr Antrag ist jedoch eine wunderbare Be-weisführung für die Korrektheit der Annahme, dassQualität über Quantität geht. Das Anforderungsprofilfür einen Antrag heißt doch nicht „wie viele Forderun-gen schaffe ich“!Von sage und schreibe 30 Forderungen gehen zehnam Thema völlig vorbei, viele andere sind bereits erfüllt.Die wenigen, die wir mittragen könnten, werden durchdie Masse der unnötigen Forderungen nahezu erschla-gen.Werte Kollegen, lassen Sie uns bitte in diesem so ele-mentaren Bereich der Entwicklungszusammenarbeitwieder zu Sachlichkeit, Fachwissen und konstruktivemparlamentarischen Dialog zurückkehren.
Der Titel des vorliegenden Antrags besteht aus zweiTeilen. „Für eine Generation frei von Aids/HIV bis 2015 –Anstrengungen verstärken“, diesem Teil kann ich michvoll und ganz anschließen. Den zweiten Teil „Zusagen inder Entwicklungspolitik einhalten“ finde ich als Titel ei-nes SPD-Antrags schon ziemlich scheinheilig. Denn dieSPD hat in Regierungsverantwortung bewiesen, dass sieihre Versprechen ebenso wie die jetzige Regierungsko-alition bricht. Die Grünen sind da auch nicht besser.Auch unter Rot-Grün gab es keine substanziellenSchritte Richtung 0,7-Prozent-Ziel. Das sind leider dieFakten.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22521
Niema Movassat
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Wir haben 2010 einen Bundestagsantrag mit dem Ti-tel „Steigerung der Entwicklungshilfequote auf 0,7 Pro-zent gesetzlich festlegen“ eingebracht. Die Koalitions-fraktionen haben ihn genauso abgelehnt wie die SPD.Die Grünen haben sich enthalten. Wären sie unserer Ini-tiative damals gefolgt und hätten einer gesetzlichen ver-pflichtenden jährlichen Steigerung der Entwicklungshil-fequote nach britischem Vorbild zugestimmt, würdeDeutschland tatsächlich bis 2015 sein 40 Jahre altesVersprechen an die Entwicklungsländer endlich einhal-ten. Deshalb ist es heuchlerisch, wenn Rot-Grün undSchwarz-Gelb sich gegenseitig den Schwarzen Peter zu-schieben. Sie alle haben es verbockt.Das Ziel, bis 2015 eine Generation frei von Aids/HIVzu machen, unterstützen wir selbstverständlich uneinge-schränkt. Auch die im Antrag vorgenommene Analyseder aktuellen Situation bezüglich der globalen Verbrei-tung von Aids/HIV ist zutreffend und umfassend. Hierund da merkt man allerdings ein wenig, dass er noch aufden letzten Drücker vor der Sommerpause zusammenge-schustert wurde. Wie eine aidsfreie Generation „Leitbildund Grundelement für die weltweite Verwirklichung …wirtschaftlichen Wohlstands“ werden soll, erschließtsich mir jedenfalls auch nach mehrfachem Lesen nicht.Zahlreiche der erhobenen Forderungen sind richtigund wichtig: Der deutsche Beitrag an den GlobalenFonds muss als eigenständiger Haushaltstitel auf400 Millionen Euro verdoppelt werden. Bilaterale Han-delsabkommen der Europäischen Union dürfen den Zu-gang zu erschwinglichen Generikamedikamenten fürEntwicklungs- und Schwellenländer nicht erschwerenoder gar verhindern.Die Linke fordert diese Punkte ebenfalls, schon seitlangem. So haben wir nahezu wortgleich in unserem An-trag „Forschungsförderung zur Bekämpfung vernach-lässigter Krankheiten ausbauen – Zugang zu Medika-menten für arme Regionen ermöglichen“ bereits 2011die Bundesregierung aufgefordert, öffentlich finanzierteForschungsinstitute in Deutschland zu verpflichten, ei-gene Patente auf HIV/Aids-Produkte dem von UNITAIDinitiierten Patentpool MPP zur Verfügung zu stellen. Esist prima, wenn die SPD dieses Anliegen nun auch un-terstützt.Als dringlichste Aufgabe müssen wir die Übertra-gung von Aids/HIV von der Mutter zum Kind bekämp-fen; das steht außer Frage.Doch ich möchte an dieser Stelle auch auf einen wei-teren wichtigen Bereich aufmerksam machen: Wie dieGlobale Kommission für Drogenpolitik der VereintenNationen vor wenigen Tagen mitteilte, ist Drogenge-brauch heute weltweit für etwa ein Drittel aller Aidsneu-infektionen verantwortlich – ausgenommen im südlichenAfrika. Die „Zeit“ fasst das heute folgendermaßen zu-sammen: „Je härter die Drogenpolitik, desto höher dasAidsrisiko. … Weniger Verbote und Strafen könntenweltweit die HIV-Neuinfektionen senken.“ In derSchweiz ist die Zahl der HIV-Infektionen unter Drogen-abhängigen von 68 Prozent auf 5 Prozent gesunken, seites saubere Spritzen und Heroin auf Rezept vom Staatgibt. Wenn dieser Erfolg sich bei dem Drittel der welt-weiten Neuinfektionen durch Drogenkonsum wiederho-len ließe, wäre das ein gewaltiger Fortschritt.Deshalb mein Appell an SPD, CDU/CSU und FDP:Erkennen Sie endlich die Zeichen der Zeit und revidierenSie endlich ihr dogmatisches Verhältnis zur Drogenpoli-tik! Auch für die Aids/HIV-Bekämpfung weltweit wäredies ein wichtiges positives Signal.
Die internationale Staatengemeinschaft hat sich vorgut einem Jahr beim hochrangigen Treffen der VereintenNationen zu HIV/Aids in New York verpflichtet, bis 2015die Mutter-Kind-Übertragungen zu stoppen und den An-teil der sexuellen Übertragungen zu halbieren. AuchDeutschland steht hier in der Verantwortung, seinenBeitrag zu leisten, insbesondere finanziell. Denn wirmüssen heute investieren, um die Zukunft von morgengestalten zu können! Das ursprüngliche Ziel der Weltge-meinschaft, bis 2010 universellen Zugang zu Präven-tion, Therapie, Betreuung und Unterstützung zu ermög-lichen, wurde bereits weit verfehlt und hat damitMillionen von Menschen das Leben gekostet.Gerade beim Thema der Mutter-Kind-Übertragungist der Zugang zu antiretroviralen Medikamenten, HIV-Tests und Präventionsmitteln entscheidend. 90 Prozentaller HIV-infizierten Kinder infizieren sich über ihreMutter mit dem Virus, meist bei der Geburt oder über dieMuttermilch. Durch die Gabe von antiretroviralen Me-dikamenten an die HIV-positiven Mütter könnte die Zahlder jährlich 400 000 Neugeborenen, die sich mit HIV/Aids infizieren, drastisch gesenkt werden. UNAIDS, dasgemeinsame Programm der Vereinten Nationen zu HIV/Aids, dokumentiert allerdings, dass nicht einmal dieHälfte der therapiebedürftigen HIV-Infizierten entspre-chende Medikamente erhält.Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Mehrheit derAbgeordneten hier im Deutschen Bundestag und die ge-samte grüne Bundestagsfraktion haben sich zum 0,7-Prozent-Ziel bekannt und den entwicklungspolitischenKonsens unterschrieben. Mit einigen von Ihnen habe ichgemeinsam Transparente vor dem Deutschen Bundestaghochgehalten und mit Unterschriften die Kampagne desAktionsbündnisses gegen Aids „Bis 2015 – Babys ohneHIV!“ offiziell unterstützt. Diese Bekenntnisse müssensich endlich auch für die Betroffenen in konkrete Politikumsetzen.Der Antrag der SPD-Fraktion enthält viele wichtigeForderungen, die wir nicht nur gerne mittragen wollen,sondern auch selbst in unseren Anträgen schon gefor-dert haben. Allerdings haben wir Grünen im Rahmender Haushaltsberatungen entsprechend dem entwick-lungspolitischen Konsens, das 0,7-Prozent-Ziel umzu-setzen, klare finanzielle Aussagen zu einzelnen Titeln ge-troffen, die sich nicht ganz mit den Forderungen des unsvorliegenden Antrags decken. Auch an anderen Stellendes Antrags sehen wir noch Diskussionsbedarf.So ist beispielsweise die Forderung, HIV/Aids priori-tär im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung zuberücksichtigen, angesichts eines Forschungsdefizits imZu Protokoll gegebene Reden
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22522 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Uwe Kekeritz
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Bereich der vernachlässigten Krankheiten einschließ-lich Tuberkulose und Malaria und insbesondere der ver-nachlässigten Aspekte von HIV/Aids noch einmal zuüberprüfen. Auch in Bezug auf die Lizenzpolitik stelltsich in Deutschland bis dato nicht die Frage, ob öffent-lich finanzierte Forschungsinstitute komplette Patenteauf ein fertig entwickeltes HIV/Aids-Medikament oderProdukt besitzen. Forschungsinstitute geben vielmehrPatenteigentum an Erfindungen weiter, beispielsweiseaus der Grundlagenforschung, die noch kein fertigesProdukt darstellen.Die Forderungen im Sinne einer gerechten Lizenz-politik müssen also weitergehen, um es zu ermöglichen,Medikamente, Impfstoffe und andere medizinische Pro-dukte, die auf öffentlich finanzierter Forschungsförde-rung beruhen, für Menschen in ärmeren Ländern leich-ter zugänglich zu machen. Dazu kann beispielsweise dieAufnahme sozialer Kriterien im Sinne einer gerechtenLizenzpolitik bei Verträgen – zum Beispiel zwischenHochschulen oder außeruniversitären Forschungsein-richtungen und Unternehmen – einen wichtigen Beitragleisten.Ich begrüße es aber sehr, dass meine Kolleginnen undKollegen aus der SPD-Fraktion das Thema HIV/Aidsund insbesondere auch die Mutter-Kind-Übertragungauf die Tagesordnung des Deutschen Bundestages ge-setzt haben. Im Rahmen der Beratungen in den Aus-schüssen werden wir noch einmal zu den einzelnenPunkten diskutieren und damit auch diesem wichtigenThema mehr Raum geben.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10096 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einver-
standen. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 31 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz
– zu der Unterrichtung durch die Bundesregie-
rung
Waldstrategie 2020
Nachhaltige Waldbewirtschaftung – eine ge-
sellschaftliche Chance und Herausforderung
– zu dem Entschließungsantrag der Abgeordne-
ten Cornelia Behm, Harald Ebner, Bärbel
Höhn, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN zu der Beratung
der Unterrichtung durch die Bundesregierung
Waldstrategie 2020
Nachhaltige Waldbewirtschaftung – eine ge-
sellschaftliche Chance und Herausforderung
– Drucksachen 17/7292, 17/7667, 17/8915 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Cajus Caesar
Petra Crone
Dr. Christel Happach-Kasan
Dr. Kirsten Tackmann
Cornelia Behm
Wir nehmen auch hier die Reden zu Protokoll.
Die Waldstrategie 2020 ist von großer Bedeutung.Die CDU/CSU-geführte Bundesregierung hat mit dieserWaldstrategie etwas Zukunftsweisendes auf den Weg ge-bracht.Wichtig war in diesem Zusammenhang, dass schon imVorfeld der Formulierung möglichst viele gesellschaftli-che Gruppen mit einbezogen wurden. Wir, die Union,wollen den Dialog mit den Menschen. Wir wollen Wald-besitzer, Förster, Holzindustrie, Naturschutzverbände,Heimatvereine und vor allem die vor Ort arbeitendenund lebenden Menschen mit einbeziehen. Dies ist unsmit der Waldstrategie 2020 in besonderer Weise gelun-gen. Durch die hervorragende Arbeit unserer Waldbesit-zer und Förster genießen wir weltweit Vorbildfunktion.Unser Wald bietet uns drei Säulen der Nachhaltig-keit: einen umwelt- und klimafreundlichen RohstoffHolz, Sozial- und Erholungsfunktionen für die Men-schen sowie einen Lebensraum für zahlreiche Tier- undPflanzenarten.2013 ist das Jahr, in dem die nachhaltige deutscheForstwirtschaft ihr 300-jähriges Jubiläum feiert. HansCarl von Carlowitz aus Freiberg, Sachsen, prägte be-reits 1730 den Begriff der Nachhaltigkeit. Nachhaltig-keit kennzeichnet danach die Bewirtschaftungsweise ei-nes Waldes. Entscheidend ist, dass immer nur so vielHolz entnommen wird, wie nachwachsen kann. Der Ur-sprung des Nachhaltigkeitsbegriffs ist demnach auf denBereich Forst zurückzuführen.Nirgends wird Nachhaltigkeit so gut begreifbar wie inunserem Wald. Vor 300 Jahren waren es die Forstleute,die diesen Begriff zu einem entwickelten, der heute inaller Munde ist. Modern wie nie. Die naturnahe nach-haltige Bewirtschaftung unseres Waldes bedeutet zudemWertschöpfung vor Ort im ländlichen Raum, bedeutetfür viele Einkommen. So haben wir in der Forst- undHolzindustrie mehr Arbeitsplätze zu verzeichnen alsetwa in der Automobilindustrie.Wir als Union erkennen diese Bedeutung. Mit derWaldstrategie 2020 setzen wir die Rahmenbedingungenfür Wertschöpfung vor Ort im ländlichen Raum, für ei-nen umweltfreundlichen und nachhaltig erzeugten Roh-stoff Holz, der sich stark wachsender Bedeutung erfreut.Weitere Flächenstilllegungen im Wald lehnen wir seitensder Union ab. Es wäre geradezu fahrlässig, auf diesenumweltfreundlich erzeugten Rohstoff zu verzichten, da-für aber Importe in Kauf zunehmen, die oftmals ausnicht nachhaltiger Bewirtschaftung stammen.Sie wissen, dass jedes Jahr etwa 11 Millionen HektarUrwald zerstört werden. Dies entspricht der gesamtenWaldfläche Deutschlands. Davon wird nur etwa dieHälfte wieder aufgeforstet. Diese Zerstörung wollen wir
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22523
Cajus Caesar
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seitens der Union nicht und werden europaweit und in-ternational alles daransetzen, die Waldzerstörung einzu-dämmen und nur noch Holz aus nachhaltiger Bewirt-schaftung zu verwenden. Wir wollen Wald mitnachhaltiger Bewirtschaftung erhalten. Waldzerstörunglehnen wir ab.Der Bundesverband der Säge- und Holzindustrie,BSHD, weist zu Recht darauf hin, dass die Experten ei-nen Fehlbedarf an Holzbiomasse in 2030 von jährlich30 Millionen Kubikmetern in Deutschland und rund 250Millionen Kubikmetern in der EU prognostizieren. Da-rauf reagiert die Waldstrategie zu Recht: Wir wollenkeine weiteren Nutzungsverzichte, sondern naturnaheBewirtschaftung. Wir wollen eine ausgewogene Bau-martenwahl in Mischbeständen und keine Totalverteufe-lung des Nadelholzes. Fachkundige wissen genau, dasswir mehr Mischbestände mit einem ausreichenden Na-delholzanteil teilweise als Zeitmischung benötigen. Sohaben Douglasie und Küstentanne etwa den drei- bisvierfachen Zuwachs einer Eiche.Zu verurteilen ist ausdrücklich die Vorgehensweisevon Greenpeace, die in einem bayerischen Wald 600 Na-delbaumsetzlinge der Baumart Douglasie geklaut unddurch Buchen ersetzt haben. Diese illegale Aktion zeigt,dass Ideologien, Sachbeschädigung und Diebstahl nichtdie richtige Vorgehensweise sind.Wir wollen standortgerechten Anbau, wir wollen eineVielfalt an Baumarten, dabei aber auch dem Nadelholzden Anteil einräumen, den wir auch vor dem Hinter-grund des Rohstoffbedarfs, unter Berücksichtigung derBewältigung der Energiewende, benötigen.Ich darf in diesem Zusammenhang aber auch aus-drücklich darauf verweisen, dass die Zusammenarbeitmit dem Naturschutzbund, NABU, der Schutzgemein-schaft Deutscher Wald, SDW, dem Bund DeutscherForstleute, BDF, der Arbeitsgemeinschaft DeutscherWaldbesitzer, AGDW, dem Deutschen Forstwirtschafts-rat, DFR, der Arbeitsgemeinschaft der Rohholzverbrau-cher, AGR, und dem Bund für Heimat und Umwelt,BHU, sowie den Waldbauern von hoher Qualität ge-prägt war. Dafür sagen wir seitens der Union Dankeschön.An dieser Stelle ist es Zeit, auch ganz persönlichenDank an die eingebundenen Vereine, Verbände und Per-sonen zu richten.Der Rohstoff Holz erfreut sich wachsender Bedeu-tung. Dies kann uns nur recht sein, weil er umwelt-freundlich erzeugt wird. Er bietet im Vergleich zu seinenMitbewerbern große Vorteile, da er Wirtschaftlichkeitund Umweltfreundlichkeit in hervorragender Art undWeise miteinander verbindet. Wir wollen importunab-hängiger werden, Ressourcen schonen und auf die Kos-ten für Bürger und Wirtschaft achten. Dies sind die Zieleder Waldstrategie 2020. Holz ist eine der zukunftsträch-tigsten und wertvollsten Ressourcen auf dem Weltmarkt.Wir wollen auch die Energiewende schaffen. Holz istklimafreundlich und ein gigantischer CO2-Speicher. Je-des Holzprodukt bindet das klimaschädliche CO2 inForm von Kohlenstoff über seine gesamte Lebensdauer.Wichtig in diesem Zusammenhang ist auch, dass ener-gieintensive Baustoffe wie Stahl oder Beton durch dennachwachsenden Rohstoff Holz ersetzt werden können,was zusätzlich eine CO2-Reduktion bedeutet.„Ein Einschlagstopp bringt keine Vorteile, nicht ein-mal für die Natur“, erklärt Dr. Denny Ohnesorge, Ge-schäftsführer der Arbeitsgemeinschaft der Rohholzver-braucher e. V., AGR. Viele Flächen schaffen durch einenaturnahe Bewirtschaftung sogar eine höhere Artenviel-falt als stillgelegte Flächen.So besagt eine Untersuchung der Universität Pots-dam, dass der Nationalpark Hainich/Thüringer Wald30 Pflanzenarten aufzeigte, im angrenzenden bewirt-schafteten Wald aber 40 Pflanzenarten zu verzeichnenwaren. Für die durchschnittliche Anzahl der Käferartenergab eine vergleichbare Untersuchung 145 Arten imNationalpark Hainich/Thüringer Wald rund 170 Artenim Wirtschaftswald.Wichtig ist uns ein Miteinander von Wald und Wild.So gilt es, die Wildbestände so zu regulieren, dass einenatürliche Verjüngung aller Hauptbaumarten ohneZaun möglich wird. Die Abschlusspläne sind flexibler zugestalten und sollen mehr auf die Örtlichkeit ausgerich-tet werden, um Verbissschäden zu vermeiden.Wir, die Union, setzen auf eine vorausschauende Be-wirtschaftung. Viele Menschen in unseren Regionenleben vom Holz. Hier wollen wir die politischen Rah-menbedingungen richtig setzen, damit es zu einer Ver-netzung von ökonomischen und ökologischen Zielenkommt. Der Einsatz qualifizierten Forstfachpersonalsträgt im Wesentlichen dazu bei, diese Ziele zu erreichen.Das haben auch die Experten aus den verschiedenstenBereichen bei der Anhörung bestätigt.Mit der Waldstrategie 2020 sind wir auf dem richti-gen Weg.
Wer die Nachrichten der letzten Wochen gezielt nachWald- und Jagdthemen durchforstet, wird schnell fün-dig; die Themenpalette ist breit.Fotofallen für Wildtiere im Wald werden zum daten-schutzrechtlichen Problem. Der Europäische Gerichts-hof für Menschenrechte urteilt, dass Grundstückseigen-tümer nicht verpflichtet werden dürfen, die Jagd aufeigenem Grund und Boden zu dulden und verurteiltDeutschland zu einer Entschädigungszahlung an denKläger. Nennenswerte Fortschritte zum Schutz der Wäl-der weltweit bleiben beim Rio+20-Gipfel aus, so daseinhellige Echo der Kommentatoren. Der Sachverstän-digenrat für Umweltfragen, SRU, fordert in seinem ak-tuellen Umweltgutachten die Einführung ökologischerMindeststandards für die gesamte Waldfläche Deutsch-lands. Philipp zu Guttenberg, Präsident der Arbeitsge-meinschaft Deutscher Waldbesitzerverbände, attestiertdem Beratungsgremium der Bundesregierung daraufhinfehlende fachliche Substanz und vermisst den „neutra-len forstwirtschaftlichen Sachverstand“. Die deutscheHolzwirtschaft vermeldet, dass ihr das Holz ausgeht,weil immer mehr Deutsche zu Hause den Rohstoff ver-Zu Protokoll gegebene Reden
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22524 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Petra Crone
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brennen. Die Bayerischen Staatsforsten lenken nachmonatelangen Greenpeace-Protesten ein und stoppenden Einschlag in sehr alte Buchen- und Eichenwald-bestände. Der Streit um den Nationalpark im Teutobur-ger Wald in meinem Heimatland NRW geht unvermin-dert und mit verhärteten Fronten weiter. Ich werde andieser Stelle aufhören, obwohl ich noch viele weitereWaldthemen benennen könnte.Die „Waldstrategie 2020“ trägt keine Schuld an denbenannten Schlagzeilen und Problemen. Schlimmerwiegt aber: Sie trägt auch nichts zu deren Lösung bei!Die Bundesregierung hat mit der „Waldstrategie 2020“ein mutloses Konzept für die Waldpolitik vorgelegt. Inden drei Jahren Erarbeitungszeit blieb der Ehrgeiz aufder Strecke, nach Lösungen für ein ganzheitliches Wald-konzept zu suchen. Den ökonomischen, ökologischenund sozialen Funktionen von Wald wird die Waldstrate-gie der Bundesregierung nicht gerecht. Die Fraktionenvon CDU/CSU und FDP verstecken sich hinter wachs-weichen Formulierungen und lassen damit unsere Wäl-der im Stich.Auf der Höhe der Zeit zu sein, bedeutet bei den Ko-alitionsfraktionen vor allem Stillstand, zum Beispiel beiden Naturschutzanforderungen für die Waldbewirtschaf-tung im Bundeswaldgesetz. Diese stammen mehrheitlichimmer noch aus dem Jahr 1975. Änderungsbedarf fürdie Herausforderungen in 2012? Fehlanzeige.Die SPD-Bundestagsfraktion setzt sich weiterhin füreine ordnungsgemäße, naturnahe und nachhaltige Be-wirtschaftungsweise ein, die endlich im Bundeswald-gesetz definiert werden muss. Unsere Vorschläge hierzusind im Antrag „Bundeswaldgesetz nachhaltig gestalten –Schutz und Pflege des Ökosystems für heutige und künf-tige Generationen“ aus 2010 gemacht. Außerdem müs-sen endlich ausreichend Flächen für eine natürlicheEntwicklung der Wälder ausgewiesen werden. 5 Prozentder Waldfläche in Deutschland sind nicht zu viel; denn:Nur wer zu Hause seine Schularbeiten erledigt hat, kanninternational für den Erhalt der Urwälder eintreten.Die Anhörung Anfang Februar hat die enormenPotenziale des Themas Wald aufgezeigt. Vor allem dieAusführungen unseres benannten SachverständigenDr. Georg Winkel zum Diskussionsprozess bei forst-lichen Entscheidungen haben mich beeindruckt. DerWissenschaftlicher vom Institut für Forst- und Umwelt-politik in Freiburg sprach über die Formen direkterBeteiligung zivilgesellschaftlicher Organisationen underwähnte Möglichkeiten der einfachen Eingaberechteder Bürger für Handeln im öffentlichen Wald, wie sie inden USA üblich sind.Das Produkt Holz ist sehr begehrt. Vor allem derEnergieholzmarkt nimmt stetig zu. Viel zu wenig wirdaber auf die Verwendung von langlebigen Holzproduk-ten hingearbeitet. So ist zum Beispiel die Holzbauweisein Ländern wie den USA, Österreich und Schweden sehrviel weiter verbreitet als in Deutschland. Wir wollenmehr Holz verarbeiten als verheizen. EnergieintensiveBauträger müssen deshalb auf den Subventionsprüf-stand.Ein modernes Bundeswaldgesetz darf nicht den ak-tuellen Stand des Wissens über ökologische und ökono-mische Zusammenhänge im Wald und in der Forstwirt-schaft ignorieren. Es muss die Erkenntnisse aus diesemGebiet aufgreifen und ihnen einen allgemeingültigenrechtlichen Rahmen geben. Es sollte Antworten findenauch auf Probleme durch Naturnutzer im Wald, die inden vergangenen Jahren in Erscheinung getreten sindwie beispielsweise Motocrosser, Geocacher oder Slack-liner.Die SPD-Bundestagsfraktion steht zu einer zeitgemä-ßen und naturnahen Jagd, die sich an ökologischenPrinzipien ausrichtet und den Erfordernissen des Tier-schutzes gerecht wird. Bleihaltige Munition soll bundes-weit nicht mehr erlaubt sein. Auch in punkto Jagd sinddie Ausführungen in der „Waldstrategie 2020“ mehr alsdürftig.Dem Änderungsantrag der Fraktion Bündnis 90/DieGrünen stimmen wir zu.
Die am letzten Wochenende zu Ende gegangene Kon-ferenz Rio+20 hat auf globaler Ebene herausgearbeitet,dass Klimawandel, der Erhalt der Biodiversität, dieStärkung der Nachhaltigkeit der Wirtschaft uns vorgroße Herausforderungen stellt. Zur Umsetzung dieserZiele haben wir uns auch in Deutschland verpflichtet.Die Nationale Forschungsstrategie BioÖkonomie 2030legt technisch-wissenschaftliche Grundlagen für dieVision einer biobasierten Wirtschaft. Es gilt, neue Tech-nologien zu entwickeln, um die vorhandenen Ressourceneffizienter zu nutzen, unsere natürlichen Lebensräumezu bewahren und verstärkt nachwachsende Rohstoffe inallen Bereichen einzusetzen.Auch wenn diese Ziele in ihrer Bedeutung gleichran-gig sind, so bergen die Maßnahmen zu ihrer Umsetzungein erhebliches Konfliktpotenzial. Holz ist der bedeu-tendste nachwachsende Rohstoff in Deutschland. Un-sere Wälder sind Standort der Holzproduktion, sie die-nen gleichzeitig der Erholung und sind Lebensraum fürviele heimische Tiere und Pflanzen.Die Waldstrategie 2020 der Bundesregierung, überdie wir heute erneut diskutieren, hat sich die Aufgabegestellt, die Ansprüche an den Wald, die im Naturschutz,in der Produktion von Holz und in der Naherholung lie-gen, in Einklang zu bringen. Sie ist eine gute Basis fürdie künftige Forstpolitik. Darin waren sich die Sachver-ständigen aus Forstverwaltung und Forstwirtschaft,Naturschutz und Wissenschaft bei einer Anhörung desAusschusses für Ernährung, Landwirtschaft und Ver-braucherschutz des Bundestages weitgehend einig. DieWaldstrategie benennt die Anforderungen an den Waldsowie die widerstreitenden Interessen und baut dadurchBrücken zwischen den verschiedenen Interessengrup-pen.Bereits seit langer Zeit sind sich in DeutschlandWaldbesitzer, Politik und Gesellschaft bewusst, dass nureine ausgewogene, nachhaltige Nutzung unserer Wälderihren Bestand und ihre Nutzbarkeit langfristig sichert.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22525
Dr. Christel Happach-Kasan
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Der Begriff Nachhaltigkeit ist von der Forstwirtschaftgeprägt worden. Nachhaltigkeit bedeutet die gleichwer-tige Berücksichtigung der Anliegen von Ökonomie, Öko-logie und Sozialverträglichkeit. Diesen Anliegen müssenwir im Rahmen der Waldstrategie gerecht werden.Das Cluster „Forst und Holz“ hat in Deutschlandeine enorme wirtschaftliche Bedeutung. Es ist Grund-lage für mehr als eine Million Arbeitsplätze, die erheb-lich zur Stärkung der Wirtschaftskraft ländlicher Räumebeitragen. Dies müssen wir bei all unseren Entscheidun-gen im Blick haben.Die Waldstrategie ist eine eigenständige Strategie derBundesregierung. Sie steht gleichberechtigt neben derBiodiversitätsstrategie. Sie weist Wege, die wirtschaftli-che Nutzung der Wälder in der Holzproduktion mit denZielen des Naturschutzes zu vereinbaren. Nach aktuellenSchätzungen sind bereits heute rund zwei Drittel derdeutschen Waldfläche mindestens einer Schutzgebiets-kategorie nach Bundesnaturschutzgesetz, den Landes-waldgesetzen, der europäischen FFH-Richtlinie und derVogelschutz-Richtlinie, Natura 2000, zugeordnet. DerArtenrückgang im Wald ist nach den Angaben des BfNgeringer als in allen anderen Biotopen, bewirtschafteteWälder haben einen größeren Artenreichtum als nichtbewirtschaftete Wälder. Die letzte Bundeswaldinventurhat der multifunktionalen Forstwirtschaft ein gutesZeugnis ausgestellt. Gleichwohl gilt: Hotspots der Ar-tenvielfalt müssen geschützt werden, aber großflächigerNutzungsverzicht ist nicht sinnvoll. Flächenstilllegun-gen stehen den Anstrengungen entgegen, den Beitragder Forst- und Holzwirtschaft zum Klimaschutz zu si-chern und weiter zu steigern. Pläne der baden-württem-bergischen Landesregierung, großflächig Wälder desNordschwarzwaldes aus der Nutzung zu nehmen, schwä-chen die Wirtschaftskraft im ländlichen Raum, ohne be-sondere Naturschutzleistungen zu erbringen. Dies istnicht nachhaltig.Der Rohstoff Holz hat hervorragende Werkstoffeigen-schaften, die seinen Einsatz in sehr vielen Wirtschaftsbe-reichen ermöglicht. Daher wird der Bedarf am RohstoffHolz weiter steigen. Holz aus heimischer Produktionerfüllt alle Kriterien einer nachhaltigen und umwelt-verträglichen Produktion. Die Forstwirtschaft steht vorder Herausforderung, Ziele des Naturschutzes bei derBaumartenwahl unter den sich ändernden klimatischenBedingungen mit den Nutzungsanforderungen in Ein-klang zu bringen.Bereits jetzt zeichnet sich ein erheblicher Mangel amderzeit überwiegend genutzten Nadelholz ab. Der imHinblick auf die natürliche Vegetation betriebene Um-bau unserer Wälder verstärkt diesen Trend dramatisch.70 Prozent der jungen Waldbestände sind Laubwälder.Es ist somit absehbar, dass heimischen Sägewerken unddamit der Bauwirtschaft das Nadelrohholz ausgehenwird. Die Möglichkeiten, Laubholz als Alternative zumNadelholz zu verwenden, sind aufgrund der unterschied-lichen Werkstoffeigenschaften stark eingeschränkt. Da-her muss vermehrt darauf geachtet werden, dass derAnteil an Nadelholz in Mischwäldern erhalten und ver-größert wird.Die Waldstrategie legt zu Recht das Hauptaugenmerkdarauf, langfristig eine Eigenversorgung mit den erfor-derlichen Holzarten sicherzustellen, ohne die Ziele derNationalen Biodiversitätsstrategie aus den Augen zuverlieren. Die Fichte, die in vielen Regionen heimischund der „Brotbaum“ der Forstwirtschaft ist, darf dahernicht verteufelt werden. Im Hinblick auf die Erforder-nisse der Nutzung sind im Mischwald in einem für dieBiodiversität annehmbaren Rahmen Anteile nichtheimi-scher, standortgerechter Baumarten wie Douglasie oderRobinie zu akzeptieren. Der zehnprozentige Anteil vonDouglasien im FSC-zertifizierten Freiburger Stadtwaldkönnte als Vorbild dienen. Nichtheimische Baumartenkönnen von der heimischen Insektenfauna zumeist nichtgenutzt werden und sind deshalb in ihrem Anteil zu be-grenzen. Dem Schutz der ökologisch bedeutenden Bu-chenwälder wird bereits durch die Bonner Thesen zum„Naturerbe Buchenwälder“ in ausreichendem MaßeRechnung getragen.Ich bin überzeugt, dass wir mit dieser Waldstrate-gie 2020, die von der Bundesregierung vorgelegt wurdeund von vielen Verbänden mitgetragen und mitgestaltetworden ist, eine gute Strategie für die Zukunft unsererWälder haben. Deutschland ist eines der wenigen Län-der weltweit, in denen neue Wälder entstehen. Wir müs-sen die aufgeworfenen Problemfelder in Verbindung mitden Ergebnissen der Bundeswaldinventur im nächstenJahr in konkrete Forschungsziele und Handlungsanwei-sungen umsetzen. Alternative Nutzungsmöglichkeitenfür Laubholz, Klimaanpassung und die Koexistenz vonWaldnutzung und Biotopschutz sind dafür drei wichtigeBeispiele. Die Arbeit an der Zukunft unserer Wälder haterst begonnen.
Über die Waldstrategie 2020 ist viel gesprochen wor-den. Lange mussten wir auf sie warten. Ihre Veröffentli-chung wurde mehrfach verschoben. Beinahe war dasUN-Jahr des Waldes 2011 vorbei, da legte die Bundesre-gierung ihre Waldstrategie dann doch vor. Am 8. Fe-bruar 2012 hat sich der Ausschuss für Ernährung, Land-wirtschaft und Verbraucherschutz in einer Anhörungintensiv mit der Waldstrategie befasst. Von den Sachver-ständigen gab es Kritik und Lob für die Vorlage, wobeisich das Hauptlob darauf beschränkte, dass sie über-haupt vorgelegt wurde.Aber viel entscheidender ist, wie die Bundesregie-rung nun handelt. Wie das geschriebene Wort zur kon-kreten Tat wird. Die Linksfraktion hatte bereits im Juli2011 ihre Anforderungen an eine zukunftsfähige undnachhaltige Waldstrategie veröffentlicht, nachzulesenauf meiner Homepage.Aus Sicht der Bundestagsfraktion Die Linke war dieErarbeitung einer Waldstrategie 2020 überfällig. Mitdem Ergebnis waren wir nur bedingt einverstanden. Eswäre notwendig gewesen, die vielfältigen Anforderun-gen an den Wald und die damit verbundenen Zielkon-flikte in einem konzeptionellen Papier zu benennen.Mehrheitsfähige Lösungswege hätten aufgezeigt werdenmüssen. Wer ist für die Umsetzung dieser Strategien ver-Zu Protokoll gegebene Reden
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22526 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Kirsten Tackmann
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antwortlich? Wie können sie finanziert werden? DieLinksfraktion fordert klare Antworten auf diese Fragen.In der Analyse schneidet das Papier aus dem HauseAigner noch ganz gut ab. Bei der Suche nach Lösungenbleibt es jedoch hinter den Notwendigkeiten deutlich zu-rück. Gerne verweist die Bundesregierung auf die Ver-antwortung von Dritten, anstatt selbst aktiv zu werden.Fazit: Ministerin Aigner hat ein nett zu lesendes, aberharmloses Papier vorgelegt. Das ist angesichts der gro-ßen Herausforderungen allerdings zu wenig.Dabei hatte sich die Bundesregierung für die Erarbei-tung einer wirklich guten Waldstrategie genug Zeit ge-nommen. In den Jahren 2008 bis 2011 wurden auf denSymposien fast alle relevanten Themen angesprochen, dienach Meinung der Linken in einer solchen Strategie be-handelt werden müssen. Dazu gehören beispielsweiseHolzmobilisierung, Biodiversität, Forschung, Jagd, ener-getische und stoffliche Holznutzung, Klimawandel, Erho-lungsfunktion des Waldes, Totholz, Stilllegungsflächen alsökologische Refugien etc. Gerade die Frage, wie viel Holzzur Produktion von Wärme und Strom genutzt werdenkann, ohne den Wald zu übernutzen, ist sehr spannend undhätte im Kontext der gerade laufenden 3. Bundeswald-inventur auch strategisch beantwortet werden müssen.Denn das Thema ist konfliktreich – das bestätigte derSachverständigenrat für Umweltfragen aktuell in seinemUmweltgutachten: „Es besteht die Gefahr, dass sich hier-bei die Ansprüche der kommerziellen Holzproduktion aufKosten anderer Ziele durchsetzen.“Die Linke diskutiert diese und weitere Fragen geradeim Rahmen unseres Projekts „PLAN B“ als Projekt füreinen sozial-ökologischen Umbau der Gesellschaft in-tensiv mit vielen Interessierten, die einen grünen Kapita-lismus auch nicht für die richtige Antwort auf die regio-nalen und globalen Probleme halten. Ich lade alle dazuein, sich unter www.plan-b-mitmachen.de an diesenspannenden Debatten zu beteiligen.Doch zurück zur Waldstrategie 2020: Die jetzt vorlie-gende Regierungsvision des Zukunftswalds hat einigekritische Diskussionen der vergangenen Jahre aufge-griffen. Sie benennt Handlungsfelder und macht den ei-nen oder anderen Lösungsvorschlag – einige Fragen zurBiodiversität, zur Rolle des Schalenwilds, wie Hirscheoder Wildschweine, im Wald und der Jagd oder zum Kli-mawandel sind irgendwie angesprochen. Aber es bleibtein dringender Verbesserungsbedarf. Wichtige visionäreLösungsansätze fehlen. Wo die Bundesregierung selbstVerantwortung übernehmen müsste, bleibt es bei vagenAussagen, oder es wird auf andere verwiesen. So fordertSchwarz-Gelb beispielsweise die Akteurinnen und Ak-teure vor Ort auf, ein Leitbild Jagd zu entwickeln. Docheine Überarbeitung des Bundeswald- oder des Bundes-jagdgesetzes lehnt die Koalition ab. Dabei wäre beidesim Sinne einer naturnahen Waldbewirtschaftung drin-gend notwendig.In meiner Rede zur ersten Lesung am 11. November2011 wies ich auf drei zentrale Schwachpunkte derWaldstrategie 2020 hin.Erstens. Es fehlt der Verweis auf die ungenügende Be-zahlung vieler in der Forstwirtschaft Beschäftigten. Sieleisten eine körperlich schwere und ungemein wichtigeArbeit. Gleichzeitig haben sie ein enorm hohes Unfall-risiko. Deshalb brauen wir einen gesetzlichen Mindest-lohn – auch in der Forstwirtschaft.Zweitens. Es fehlt das Bekenntnis, dass der steigendeHolzbedarf – den die Bundesregierung in der Wald-strategie beschreibt – nur dann in geordnete Bahnen ge-lenkt werden kann, wenn es sozial-ökologische Mindest-standards der Waldbewirtschaftung gibt. Die Waldwirt-schaft soll auch bei steigenden Nutzungsansprüchennachhaltig bleiben können Das fordert der SRU in sei-nem aktuellen Gutachten. Die Standards müssen imBundeswaldgesetz festgeschrieben werden, was dieLinksfraktion seit Jahren fordert.Drittens. Es fehlen Vorschläge zur Regulation der re-gional zu hohen Schalenwildbestände. Ob es dazu ge-setzlicher Änderungen oder nur einer konsequenterenGesetzesanwendung bedarf, da gehen die Meinungenbei Sachverständigen aus Umwelt, Forst oder Jagd sehrweit auseinander. Der SRU schreibt dazu: „Danebensind die gesetzlichen Grundlagen für eine Verbesserungder Situation größtenteils bereits vorhanden und nur inwenigen, aber entscheidenden Punkten ergänzungs-bedürftig. Neben einem verbesserten Vollzug bestehen-der Gesetze ist eine Anpassung der Jagdpraxis an dieökologischen Verhältnisse und den Waldzustand nötig.“Fakt ist: Der Waldumbau hin zu naturnahen klimaplas-tischen Mischbeständen gelingt nur mit angepasstenWilddichten. Wir müssen endlich den Wald als Ökosys-tem verstehen, damit Forstleute, Jägerschaft, Landwirt-schaft und Bodeneigentümer an einem Strang und in die-selbe Richtung ziehen.Für die Linksfraktion ist klar: Die Debatte über denZukunftswald ist mit der Vorlage der Waldstrategie we-der wirklich vorangebracht noch beendet worden. Wirmüssen weiter diskutieren, beispielsweise über Wieder-vernetzungen von Waldgebieten oder über die Ausge-staltung des Waldklimafonds. Wir werden im Bundestagweiter für eine naturnahe Waldbewirtschaftung streiten.Dem Entschließungsantrag der grünen Fraktion stim-men wir zu.
Eine Strategie sollte das Ziel und den Weg dorthin be-schreiben. Und es sollte die Absicht dahinter stehen, dasZiel auch zu erreichen. Eine gute Waldstrategie 2020 fürdieses Land sollte aber noch weiteren Ansprüchen genü-gen. Sie sollte mit den anderen Strategien, so zum Bei-spiel mit der Nachhaltigkeitsstrategie, der Biodiver-sitätsstrategie und der Biomassestrategie, kohärentsein. Schaut man sich die Waldstrategie 2020 der Bun-desregierung an, stellt man fest, dass sie diesen Ansprü-chen nicht gerecht wird. Ein gutes Ziel reicht nicht,wenn der Weg voller Löcher und Fallstricke ist.Die Bundesregierung kann mit ihrer Waldstrategienicht verdecken, dass waldpolitisch seit Jahren weitge-hend Stillstand herrscht, wenn man einmal von derMiniwaldgesetzänderung vor zwei Jahren absieht. DasZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22527
Cornelia Behm
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war in der Großen Koalition so und ist bei Schwarz-Gelb nicht anders.Es wird Zeit, dass dieser Stillstand durch waldpoliti-sche und holzwirtschaftliche Tatkraft abgelöst wird. Ei-gentlich müsste die Bundesregierung angesichts derMaßnahmenlosigkeit ihrer Waldstrategie nunmehr einumfassendes forstwirtschaftliches Programm vorlegen,um die Schwerpunkte zur Umsetzung der Strategie mitPlanungs- und Finanzierungsinstrumenten zu unterset-zen. Das wäre dringend nötig; denn die Prognosen, dassbis 2020 eine Holzlücke von über 30 Millionen Kubik-metern droht, sind ernst zu nehmen. Und die derzeitigeplanlose Form des Ausbaus der energetischen Holznut-zung müsste dringend gestoppt werden. Aber mit einemsolchen Programm, mit dem die Koalition auf diese He-rausforderung reagiert und zum Beispiel für zukunftsfä-hige Wälder und mehr Rohstoff- und Energieeffizienz beider Holzverwertung sorgt, ist leider in keiner Weise zurechnen.Es reicht für eine Strategie nicht, Probleme zu analy-sieren. Es müssen Lösungswege beschrieben werden.Doch die Bundesregierung übt sich in Schönrednerei. Sowird der Wald-Wild-Konflikt kleingeredet, anstatt dasJagdgesetz und die landwirtschaftliche Praxis auf denPrüfstand zu stellen. Waldverträgliche Wilddichten sindnicht zu erzielen, wenn einer die Verantwortung auf denandern schiebt. Regeln, die der Sache nicht dienlichsind, müssen geändert werden. Das ist Aufgabe des Ge-setzgebers. Doch der drückt sich und knickt vor derJagdlobby ein.Eine Waldstrategie für Deutschland – eine, die hält,was sie verspricht – ist nötig. Angesichts der Bedeutungdes Walds für den globalen Klimaschutz und für Arbeitund Beschäftigung, um nur zwei der vielen wichtigenFunktionen das Walds zu nennen, reicht es nicht aus,wenn sich nur Deutschland eine Waldstrategie gibt. Wirbrauchen auch eine europäische und eine globale Wald-strategie, die die bestehenden Primärwälder schützt,eine nachhaltige Bewirtschaftung der forstwirtschaftlichgenutzten Wälder durchsetzt und für eine Wiederbewal-dung waldarmer, devastierter und verödeter Regionensorgt.Aber in der EU tut sich waldpolitisch bisher leiderwenig. Dabei ist die fehlende Kompetenz der EU inforstpolitischen Fragen zweifellos ein Hemmschuh füreine europäische Waldpolitik. Aber es gibt Handlungs-optionen, die sofort angegangen werden könnten, zumBeispiel die Einführung verpflichtender Nachhaltig-keitskriterien für den Handel mit und die Verwertungvon Holz und Holzprodukten auf nationaler, europäi-scher und langfristig auch auf internationaler Ebene.Dass derzeit – nicht nur mit EU-Staaten, sondernauch mit weiteren europäischen Staaten – über ein ver-bindliches Abkommen über Wälder in Europa, über eineeuropäische Waldkonvention, verhandelt wird, ist zu-mindest eine Chance für eine europaweit bessere Wald-politik.Wie schwierig es ist, eine globale Waldpolitik zu er-reichen, dürfte angesichts des Scheiterns der Rio+20-Konferenz keiner weiteren Erläuterung bedürfen. Dabeiwären Walderhalt und mehr Wald weltweit sehr wichtig,um die Probleme des Klimawandels und des Verlusts anbiologischer Vielfalt zu lösen. Dass Deutschland dabeiin Bezug auf Waldbauthemen eine hohe Kompetenz ein-zubringen hat, das wird trotz aller Auseinandersetzun-gen über den richtigen waldbaulichen Weg niemand be-streiten.
Wir kommen zur Abstimmung über die Beschluss-
empfehlung des Ausschusses für Ernährung, Landwirt-
schaft und Verbraucherschutz auf Drucksache 17/8915.
Der Ausschuss empfiehlt unter Buchstabe a seiner Be-
schlussempfehlung, die Unterrichtung durch die Bundes-
regierung auf Drucksache 17/7292 zur Kenntnis zu neh-
men. Wer stimmt für diese Beschlussempfehlung? – Wer
stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-
empfehlung ist einstimmig angenommen.
Unter Buchstabe b seiner Beschlussempfehlung emp-
fiehlt der Ausschuss die Ablehnung des Entschließungs-
antrages der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen auf
Drucksache 17/7667. Wer stimmt dafür? – Wer stimmt
dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschlussempfeh-
lung ist mit den Stimmen der Koalitionsfraktionen gegen
die Stimmen der Opposition angenommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 39 auf:
Beratung des Antrags der Abgeordneten Uwe
Beckmeyer, Johannes Kahrs, Dr. Hans-Peter
Bartels, weiterer Abgeordneter und der Fraktion
der SPD
Maritimes Bündnis fortentwickeln – Schiff-
fahrtsstandort Deutschland sichern
– Drucksache 17/10097 –
Überweisungsvorschlag:
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Wirtschaft und Technologie
Ausschuss für Arbeit und Soziales
Haushaltsausschuss
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Zunächst möchte ich allen sozialdemokratischen Kol-leginnen und Kollegen dafür danken, dass wir hier heutedie Gelegenheit dazu haben, über ihren Antrag „Mari-times Bündnis fortentwickeln – SchifffahrtsstandortDeutschland sichern“ zu sprechen. Inhaltlich ist dieAuseinandersetzung mit den ewig gleichen Thesen derGenossen – wie bei allen sozialdemokratischen Anträ-gen – zwar ermüdend und intellektuell reizlos, doch bie-tet dieser Tagesordnungspunkt uns ein Forum, die Leis-tungen der Koalition auf diesem Gebiet hervorzuhebenund ihre Verdienste entsprechend zu würdigen.Bitte lassen Sie mich zunächst einen Blick in die Ver-gangenheit werfen, um einer Legendenbildung vorzu-beugen: Schon 1999 führte die damalige rot-grüne Bun-desregierung die Tonnagesteuer ein, sodass die Reedernicht den tatsächlichen Gewinn versteuern müssen, son-dern lediglich einen Pauschalbetrag abführen müssen.
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22528 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Hans-Werner Kammer
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2003 wurde dann das Maritime Bündnis geschlossen.Der Staat subventionierte die Lohnzusatzkosten der See-leute, die auf deutschen Schiffen beschäftigt waren. Au-ßerdem verpflichtete sich die Regierung, bürokratischeHürden bei der Ausbildung von Seeleuten abzubauen.Die Parteien, Bund, Küstenländer, VDR und Verdi woll-ten damit die Ausflaggung stoppen sowie Beschäftigungund Ausbildung fördern. Auf der Fünften NationalenMaritimen Konferenz im Dezember 2006 haben diedeutschen Reeder zugesagt, den Schiffsbestand unterdeutscher Flagge bis Ende 2008 auf 500 zu erhöhen, undin Aussicht gestellt, bei gleichen wirtschaftlichen Ver-hältnissen diesen Bestand bis 2009/2010 auf 600 zu er-höhen. Dieses Ziel wurde nicht erreicht. Dies war ange-sichts der Wirtschafts- und Finanzkrise aus Sicht derBundesregierung nachvollziehbar.Genauso nachvollziehbar ist aber, dass die Bundes-regierung am 7. Juli 2010 die Schifffahrtsförderung auf28,7 Millionen Euro für das Haushaltsjahr 2011 redu-ziert hat. In Anbetracht der dringend erforderlichenKonsolidierung des Bundeshaushalts waren und sindauch solche Sparmaßnahmen erforderlich, die für diebetroffenen Menschen und Branchen schmerzhaft sind.Dies gilt auch für die Schifffahrtsförderung.Dennoch ist für uns völlig klar, dass das MaritimeBündnis durch die vertrauensvolle Zusammenarbeit derBündnispartner dazu beigetragen hat und auch in Zu-kunft dazu beitragen wird, die politischen und adminis-trativen Rahmenbedingungen in Deutschland so zu ge-stalten, dass die deutsche maritime Wirtschaft ihreFührungsrolle unter marktwirtschaftlichen Bedingun-gen international festigen und ausbauen kann. So wirdder maritime Standort Deutschland gestärkt: Beschäfti-gung, Wertschöpfung und Ausbildung werden gesichert.Schon im November 2011 hat der Haushaltsausschussdes Deutschen Bundestages beschlossen, den Einsatzfür den Finanzbeitrag an die Seeschifffahrt im Haus-haltsjahr 2012 um 29,1 Millionen Euro auf57,8 Millionen Euro zu erhöhen. Diese Ausgaben wur-den in voller Höhe qualifiziert gesperrt. Flankierendwurde ein Entschließungsantrag beschlossen, der dieAufhebung der qualifizierten Sperre mit der Maßgabeversieht, dass die deutschen Reeder einen Eigenbetragin gleicher Höhe, mindestens aber 30 Millionen Eurojährlich leisten.Im Februar 2012 entsperrte der HaushaltsausschussMittel in Höhe von 28,7 Millionen Euro. Damit wurdedie Bewilligungsbehörde grundsätzlich in die Lage ver-setzt, neben der Ausbildungsförderung für 2012 noch of-fene Altfälle aus der Ausbildungs- und Beschäftigungs-förderung aus den Förderprogrammen 2011 abwickelnzu können.Seit dem 21. Juni liegt dem Haushaltsausschuss desDeutschen Bundestages ein Antrag zur Entsperrung dervollständigen Mittel aus dem Titel „Finanzbeitrag andie Seeschifffahrt“ vor. Grundlage für die Entsperrungist ein Konzept für eine sachgerechte und rechtssichereFortführung des Maritimen Bündnisses. Es sieht vor,Ausbildung und Beschäftigung im Seeverkehr mit57,8 Millionen Euro aus Bundesmitteln zu fördern. Zu-sammen mit dem Eigenbeitrag der Reeder in Höhe vonmindestens 30 Millionen Euro, der über Ausflaggungs-gebühren und einen Fonds eingenommen wird, könnensomit künftig rund 90 Millionen Euro für die Steigerungder Wettbewerbsfähigkeit des deutschen Schifffahrts-standortes eingesetzt werden.Ich denke, dass diese Lösung durchaus interessenge-recht ist. Deutsche Seeleute sind für deutsche Reede-reien nicht nur Kostenfaktoren, sondern auch besondersengagierte und verantwortungsbewusste Mitarbeiter. In-sofern ist – gerade vor dem Hintergrund der Tonnagebe-steuerung – ein Eigenbeitrag der Reeder nur recht undbillig.Das Verfahren für die Einführung der Ausflaggungs-gebühren ist nahezu abgeschlossen: Die Ressortab-stimmung der neuen Gebührenverordnung für Amts-handlungen des Bundesamtes für Seeschifffahrt undHydrographie ist abgeschlossen, sodass einem Inkraft-treten nichts mehr im Wege steht.Bis Ende Juli 2012 wird nach derzeitigem Stand derDinge eine ressortabgestimmte Formulierungshilfe fürdie rechtssichere Gestaltung eines Fondsmodells vorlie-gen. Das diesem Fonds zugrunde liegende Modell ba-siert auf folgendem Grundgedanken: Zunächst wird mitder Verpflichtung zur Ausbildung eine Primärpflicht derReeder festgelegt. Bei Nichterfüllung der Primärpflichtkommt eine Ausgleichszahlung der ausflaggenden Ree-der an eine gemeinnützige Einrichtung, die vom VerbandDeutscher Reeder errichtet wird, als Sekundärpflicht inBetracht. Damit sollen Nachteile ausgeglichen werden,die dem Schifffahrtsstandort Deutschland durch dieAusflaggung entstehen. Im Interesse des Schifffahrts-standortes Deutschland streben wir ein Inkrafttretendieser Lösung zum 1. Januar 2013 an.Damit erfüllen wir die Forderungen der deutschenReeder und der maritimen Branche und können ab 2013mit den Mitteln des Bundes und der Reeder knapp90 Millionen Euro für Ausbildung und Beschäftigungaufbringen. Die nun eingeleiteten Maßnahmen bildendie Grundlage für die zukünftige erfolgreiche Ausgestal-tung des Maritimen Bündnisses. Die Bundesregierungund die Koalitionsfraktionen haben Wort gehalten undsind der verlässliche Partner der maritimen Wirtschaft,die mit knapp 400 000 Beschäftigten einer der bedeu-tendsten wirtschaftlichen Branchen in Deutschland ist.Dies, meine Damen und Herren von der SPD, zeigt, dasswir schon gehandelt haben, während sie noch Anträgeschreiben.
Ich würde den Antrag der Kolleginnen und Kollegenvon der SPD-Fraktion mit dem Titel „Maritimes Bünd-nis fortentwickeln – Schifffahrtsstandort Deutschland si-chern“ gerne um den Zusatz ergänzen wollen: durch dieerfolgreiche Arbeit der Regierungsfraktionen von CDU/CSU und FDP. Um es kurz zu sagen: Sie fordern lauthalsein, und wir liefern durch konstruktive Arbeit mit Ver-bänden und Sozialpartnern im Rahmen des MaritimenBündnisses.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22529
Eckhardt Rehberg
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Die von der SPD formulierten Aufforderungen an dieBundesregierungen haben einige, wenn auch nicht alle,Herausforderungen, denen sich die Maritime Wirtschaftgegenübersieht, skizziert. Es ist erfreulich, zu sehen,dass auch in Teilen der Opposition Überlegungen reifen,sich um die deutsche Flagge und den Schifffahrtsstand-ort Deutschland bemühen zu wollen. Auch wenn der An-trag der SPD keine neuen Lösungsvorschläge zutagefördert als die, die ohnehin durch die Bundesregierungund die Koalitionsfraktionen auf den Weg gebracht sind,begrüße ich den Antrag, der unseren politischen Weggrößtenteils wiedergibt. Es schadet nicht, wenn auch dieOpposition damit indirekt unsere Arbeit würdigt. Herzli-chen Dank schon einmal dafür.Ich darf Ihnen mitteilen, dass die Branche mit ihrenüber 400.000 Beschäftigten in Deutschland durch denEinsatz der Koalitionsfraktionen und des Maritimen Ko-ordinators der Bundesregierung unbesorgt sein kann.Wir haben das Maritime Bündnis nach intensiven undkonstruktiven Gesprächen mit allen Beteiligten auf eineneue Grundlage gestellt und den erforderlichen Gege-benheiten angepasst. Die Voraussetzungen für zuneh-mend mehr Schiffe unter deutscher Flagge werden damitgeschaffen. Es ist ein wichtiges Bündnisziel, der Aus-flaggungen deutscher Schiffe wirksam entgegenzuwir-ken, um Arbeitsplätze in der Branche zu sichern. Dasdürfte den Reedern nun deutlich leichterfallen. Insofernbedarf es auch keiner Verabredung neuer Bündnisziele,wie die geschätzten Kolleginnen und Kollegen der SPDes verlangen. Neue Bündnisvereinbarungen mit demZiel, Ausflaggungen entgegenzuwirken, sind überflüs-sig. Die Reeder dürften im Hinblick auf die sogenannteTonnagesteuer ein wohlverstandenes Eigeninteresse ha-ben, Ausflaggungen zu verhindern; denn um diesemsteuerlichen Vorteil nutzen zu können, dürfen nur40 Prozent der Schiffe eines deutschen Reeders keineEU-Flagge führen.Um es an dieser Stelle im Hinblick auf das promi-nente und medienwirksame Beispiel der „MS Deutsch-land“ deutlich zu sagen: Ein Schiff auszuflaggen und dieSchuldigen in der Politik suchen zu wollen, das war undist nicht zu akzeptieren. Allerdings sind solche Aus-flüchte glücklicherweise Einzelfälle. Die deutsche Ree-derschaft hat, vertreten durch den Verband DeutscherReeder, in den letzten Monaten die enge Kooperation mituns gesucht und mit dafür Sorge getragen, dass wir nundas Maritime Bündnis modernisieren.Lassen Sie mich die Maßnahmen im Einzelnen erläu-tern: Die Schifffahrtsförderung des Bundes bleibt mitdem gestrigen Beschluss des Haushaltsausschusses zurFreigabe des Finanzbeitrags für die Seeschifffahrt auchim Jahr 2012 mit 57,8 Millionen Euro auf dem hohen Ni-veau der Vorjahre. Damit sichert die BundesregierungBeschäftigung in der maritimen Branche und schafft zu-gleich die Grundlage, um die im Maritimen Bündnis ver-abredeten Vereinbarungen erfüllen zu können. Die Ree-der in Deutschland hatten unter dieser Maßgabezugesagt, einen Eigenbeitrag in Höhe von mindestens30 Millionen Euro leisten zu wollen, um letztlich jähr-lich knapp 90 Millionen Euro für das Maritime Bündniszu gewährleisten, die für die Beschäftigungssicherungund die Ausbildung in der Seeschifffahrt eingesetzt wer-den können.Der Eigenbeitrag der Reeder wird sich zukünftig auszwei Einnahmequellen ergeben: Einerseits passt dieBundesregierung mit dem aktuellen Entwurf der Gebüh-renverordnung zur Erteilung der Ausflaggungsgenehmi-gungen die Gebührensätze so an, dass die Ausflaggungauch die realen Kosten deckten und der gegenüberste-hende wirtschaftliche Vorteil einkalkuliert wird, den dieReeder mit dem auszuflaggenden Schiff erhalten. DemHaushaltsausschuss des Deutschen Bundestages liegtder aktuelle Entwurf einer neuen Gebührenverordnungfür Amtshandlungen des Bundesamtes für Seeschifffahrtund Hydrographie, BSH, vor. Aus den Gebühren derAusflaggungen erwarten wir Einnahmen von 10 Millio-nen Euro, die auch dem Zweck des Maritimen Bündnis-ses zugeführt werden.Die zweite Einnahmequelle des Eigenbeitrags derReeder hat zugegebenermaßen mehr Zeit in Anspruchgenommen, als alle Beteiligten erhofft hatten. Dochauch bei dem zu entwickelnden sogenannten Fonds-modell hat die Bundesregierung nun einen Regelungs-vorschlag zur Änderung des Flaggenrechtsgesetzes vor-gelegt, der die Reeder zur Primärpflicht der Ausbildungim Falle des Flaggenwechsels verpflichtet. Für dieDauer der Ausflaggungsgenehmigung müssen die Reederverbindlich zusagen, zusätzlich eine weitere Person proauszuflaggendem Schiff ausbilden. Sollten die Reederdieser Pflicht nicht nachkommen können, ist ein Aus-gleichsbeitrag in einen Fonds zu entrichten, der beimVerband Deutscher Reeder, VDR, angesiedelt ist. Nachderzeitigen Einschätzungen dürfen wir hier mit Einnah-men in Höhe von 20 Millionen Euro rechnen, die aus-schließlich der Finanzierung der qualitativ hochwerti-gen Ausbildung auf den Schiffen mit Bundes- oder EU-Flagge dienen.Mit diesen Maßnahmen, die nun parlamentarisch aufden Weg gebracht werden, erfüllen wir die Forderungender deutschen Reeder und der maritimen Branche undkönnen ab 2013 mit den Mitteln des Bundes und derReeder knapp 90 Millionen Euro für Ausbildung und Be-schäftigung aufbringen. Die nun eingeleiteten Maßnah-men bilden die Grundlage für die zukünftige erfolgrei-che Ausgestaltung des Maritimen Bündnisses. MitBedauern müssen wir feststellen, dass im Haushaltsplandes Bundesverkehrsministeriums, der im Kabinett derBundesregierung gestern vorgestellt wurde, nun der hal-bierte Förderansatz angestrebt wird. Diesen Umstandwerden wir nicht akzeptieren. wir als Koalitionsabge-ordnete werden darauf hinwirken, die Förderung für Be-schäftigung und Ausbildung in der Seeschifffahrt auf ho-hem Niveau bei 57,8 Millionen Euro fortzuführen. Damitfolgen wir auch den Aussagen des Bundesfinanzministe-riums, das in der Begründung für die Mittelfreigabe derSchifffahrtsförderung 2012 argumentiert, dass damiteine – ich zitiere –: „verlässliche Perspektive für dieSchifffahrtsförderung 2013 “ gegebenist.Der Haushaltsausschuss hatte im November des ver-gangenen Jahres den Finanzbeitrag des Bundes daranZu Protokoll gegebene Reden
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22530 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Eckhardt Rehberg
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geknüpft, dass der von den deutschen Reedern zugesi-cherte Eigenbeitrag zur Ausgestaltung des Bündnissesauf eine rechtssichere und tragfähige Grundlage gestelltwird. Mit der Anpassung der Kostenverordnung bei Aus-flaggungen und dem von der Bundesregierung nun eben-falls vorgelegten Vorschlag zur Sicherung des Eigenbei-trags der Reeder werden diese Anforderungen erfüllt.Die Reeder haben auf der Mitgliederversammlung desVerbandes Deutscher Reeder, VDR, im Dezember 2011diesem Eigenbeitrag unter der Voraussetzung zuge-stimmt, dass die Bundesfördermittel auf 57,8 MillionenEuro zu erhöhen sind. Die Bundesregierung muss ihrer-seits die im Rahmen des Maritimen Bündnisses gemach-ten Zusagen einhalten. Ich sichere Ihnen jedoch zu, dassdie Koalitionsabgeordneten von CDU, CSU und FDP imparlamentarischen Verfahren dafür Sorge tragen wer-den, die Mittel des Bundes in Höhe von 57,8 MillionenEuro auch für das Jahr 2013 zu sichern. Wir sind sehroptimistisch, auch in den nächsten Haushaltsjahren denFinanzbeitrag des Bundes für die Seeschifffahrt auf demjetzigen Stand halten zu können.Sie sehen: Die Koalition liefert. Die von uns bereitsauf den Weg gebrachten Forderungen im Antrag derSPD lassen den Schluss zu, dass die Damen und Herrenvon der SPD unsere Initiativen in diesem Hohen Hausmittragen und ihnen zustimmen werden. Auch hierfürmöchte ich mich bereits jetzt bedanken.
Seit Monaten bereitet die Regierungskoalition denRückzug aus der Schifffahrtsförderung des Bundes vor.Erst wurden die Hilfen für Ausbildung und Beschäfti-gung im Bundeshaushalt zusammengestrichen und erstnach massiven Protesten von Sozialpartnern, Wirtschaft,Küstenländern und auch der SPD unwillig wieder auf-gestockt. Nun sollen die Ausfälle, die sich aus der Kür-zung der Fördermittel im Bundeshaushalt ergeben, nachdem Willen der Bundesregierung künftig von den Reede-reien in Deutschland ausgeglichen werden. Sie werdenin der Zukunft mit einem Eigenbeitrag in Höhe von30 Millionen Euro zur Kasse gebeten.Schwarz-Gelb stellt die Maschinen auf Stopp: DieBundesregierung will die Übereinkunft nicht in der bis-herigen Form weiterführen, sondern wesentliche Teileder bisherigen Hilfen einstellen. Das ist das Ende desbisherigen Modells einer Solidargemeinschaft, das aufSPD-Initiative bei den Nationalen Maritimen Konferen-zen ins Leben gerufen wurde und sich in den vergange-nen zehn Jahren grundsätzlich bewährt hat.Doch selbst bei dem Versuch, die Schifffahrtsförde-rung in Deutschland in ihrem Sinne neu zu ordnen, fährtdie Regierungskoalition auf Grund. Ein Prüfbericht vomBundesverkehrsministerium und vom Koordinator derBundesregierung für die maritime Wirtschaft zeigt: Bis-her ist es der Regierungskoalition nicht gelungen, einenverlässlichen, verfassungssicheren Rahmen für dieSchifffahrtsförderung zu schaffen – weder über einGebührenmodell noch über eine öffentlich-rechtlicheFondslösung. Und daran, so müssen Union und FDPselbst einräumen, wird sich auch bis 2013 nichts ändern.Die Jahre 2012 und 2013 will die Koalition denn auchals „Übergangsjahre“ gestalten.Wenn die Bundesregierung das bisherige Modell derSchifffahrtsförderung neu strukturieren will, darf diesnicht zulasten von Ausbildung und Beschäftigung in derBranche gehen. Die jetzige Planungsunsicherheit belas-tet die maritime Branche in einer Situation, in der sieohnehin stark von der Krise der Schiffsfinanzierung ge-troffen ist.Die Schifffahrt und die maritime Wirtschaft gehörenzu den wichtigsten Wirtschaftszweigen in unserem Land,die wesentlich zu Deutschlands Rolle als Exportnationbeitragen. Rund 400 000 Menschen sind in der Branchebeschäftigt. Doch anstatt die Voraussetzungen dafür zuschaffen, dass die maritime Wirtschaft die Folgen derFinanz- und Wirtschaftskrise abfedern kann, agierenUnion und FDP nach dem Motto: mit voller Kraft rück-wärts.Dabei hat gerade die konsequente Förderung im Rah-men des Maritimen Bündnisses dazu beigetragen, dassDeutschland über eine wettbewerbs- und leistungsfä-hige Handelsflotte verfügt – ein Joker im harten globa-len Wettbewerb.Mit dem Maritimen Bündnis haben Bund, Küstenlän-der und die Sozialpartner sich zusammen in ein Boot ge-setzt, um den Schifffahrtsstandort Deutschland zu stär-ken und Arbeitsplätze im Land zu halten: Der Bund hatZusagen zur Senkung der Lohnnebenkosten für den Be-trieb deutscher Handelsschiffe im internationalen Ver-kehr gemacht. Im Gegenzug haben sich die Reeder ver-pflichtet, einer weiteren Ausflaggung von Schiffenentgegenzuwirken – das gemeinsame Ziel immer inSicht: das seemännische Know-how an Bord und anLand zu sichern und wieder eine positive Perspektive fürden Seemannsberuf zu schaffen.Richtig ist, dass es in den vergangenen Jahren nie ge-lungen ist, das zwischen Bund und Sozialpartnernvereinbarte Ziel einer Rückflaggung von mindestens600 Handelsschiffen zu erreichen – aber die jetzige Bun-desregierung hat auch nichts dafür getan. Im Gegenteil:Wenn sie mit ihrer Politik das Maritime Bündnis immerwieder infrage stellt, kann sie nicht erwarten, dass dieWirtschaft ihrerseits die Verabredungen ernst nimmt.Ein verlässlicher Bündnispartner sieht anders aus.Diese Erfahrung müssen die Reedereien gerade wie-der aufs Neue machen. Die Krise der Schiffsfinanzie-rung hat die Branche fest im Griff. Deutschland droheder Abstieg aus dem Kreis der führenden Schifffahrtsna-tionen, warnen Experten. Andere Nationen könnten mitstaatlicher Unterstützung in den Aufbau ihrer Handels-flotte investieren. Doch die Bundesregierung bleibt beiihrer Haltung: Spezielle Maßnahmen zur Abmilderungder finanziellen Krise der Reedereien wird es nicht ge-ben.Da passt es ins Bild, dass sie die Hilfen für Ausbil-dung und Beschäftigung austrocknen will. Die jetzigeKrisenwelle wird so als Erstes diejenigen treffen, dieganz vorne im Boot sitzen: die Beschäftigten. Schon jetztbefürchten Experten, dass etliche Reedereien das kom-Zu Protokoll gegebene Reden
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Uwe Beckmeyer
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mende Krisenjahr nicht überstehen werden. Wenn nundie Unterstützungsleistungen wegbrechen, verschärftdies die ohnehin sehr angespannte Lage.Mit ihrer Politik gefährdet die Bundesregierung mas-siv Arbeitsplätze und schadet dem Standort Deutsch-land. Wenn die Regierungskoalition die Schifffahrtsför-derung umstellen will, dann muss sie auch dafür Sorgetragen, dass bei diesem Kurswechsel nicht am Ende dieArbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer über Bord gehen.Sie ist aufgefordert, die Voraussetzungen dafür zu schaf-fen, dass das Maritime Bündnis eine neue, verlässlicheGrundlage erhält und weiterhin dazu beiträgt, Jobs zusichern und die Zahl der Ausbildungsplätze zu erhöhen.Als SPD-Bundestagsfraktion fahren wir mit dem An-trag „Maritimes Bündnis fortentwickeln – Schifffahrts-standort Deutschland sichern“ auf klarem Kurs. Wirfordern die Koalition auf, zur Realisierung des zugesag-ten Eigenbeitrags der deutschen Reederschaft rasch einverfassungsrechtlich tragfähiges Fondsmodell zu entwi-ckeln, an den Hilfen für Ausbildung und Beschäftigungauf dem Niveau von 2010 festzuhalten und gemeinsammit den Sozialpartnern neue Bündnisziele zu verabre-den, um den Anteil von Handelsschiffen unter deutscherFlagge deutlich zu erhöhen und den Verlust von Arbeits-plätzen in Deutschland endlich zu stoppen.Meine sehr verehrten Damen und Herren von derKoalition, Sie sind jetzt dringend aufgefordert, dasSteuer herumzureißen; sonst laufen Sie nicht erst bei derNationalen Maritimen Konferenz im April 2013 in Kielauf Grund.
Der parlamentarische Betrieb hält ja so manche un-
erwartete Überraschung parat. Wenn man denkt, schon
alles erlebt zu haben, so geschieht manchmal doch wie-
der etwas Neues, bei dem man sich verwundert die Au-
gen reiben muss. Insbesondere die Sozialdemokraten
outen sich dabei als ganz besondere Spezialisten. So
oder so ähnlich ging es mir, als ich Anfang der Woche
Ihren Antrag auf dem Tisch hatte, und das, obwohl we-
der Karneval noch der 1. April war.
Monatelang hört man von Ihnen nicht einen einzigen
Vorschlag dazu, wie man das Maritime Bündnis zu-
kunftsfest gestalten kann. Nachdem letzte Woche die Ko-
alition jetzt ein umfassendes und verfassungsrechtlich
sauberes Konzept auf den Tisch gelegt hat, schreiben Sie
dieses weitestgehend einfach ab und meinen, dieses als
Ihre eigene Forderung einbringen zu müssen. Das nenne
ich schon ein wenig frech.
Im Gegensatz zur SPD handelt diese Koalition im
Sinne des maritimen Standortes Deutschland. Erst ges-
tern hat der Haushaltsausschuss die zweite Hälfte der
Schifffahrtsbeihilfe entsperrt. Damit geben wir der ma-
ritimen Wirtschaft ein positives Signal und Planungs-
sicherheit. Zum 1. Juli werden wir dann die Gebühren-
verordnung für Amtshandlungen des Bundesamtes für
Seeschifffahrt und Hydrographie so ändern, dass wir
über die Ausflaggungsgenehmigung weitere 10 Millio-
nen Euro für das Maritime Bündnis generieren.
In wenigen Wochen wird es dann einen ressortabge-
stimmten Bericht zu einem privatwirtschaftlichen
Fondsmodell geben, das zum 1. Januar des kommenden
Jahres in Kraft treten wird. Damit werden weitere
20 Millionen Euro für die Ausbildungsförderung gesam-
melt. Wenn dann zukünftig auch noch das Ausfahren der
Patente unter die Ausbildungsförderung fällt, haben wir
für die maritime Ausbildung und die Schifffahrtförde-
rung in Gänze mehr getan als jede andere Bundesregie-
rung zuvor.
Sie sehen, dass wir unsere Hausaufgaben gemacht
haben und unserer Verantwortung gerecht werden. Sie
müssen also unsere Ideen zukünftig nicht mehr abschrei-
ben, sondern dürfen staunend zuschauen. Ich lade Sie
herzlich ein, mitzumachen, und bin gespannt darauf, wie
Sie sich die weiteren Beratungen zu Ihrem Antrag so
vorstellen.
Barbuda ist 161 Quadratkilometer groß, relativ flachund hat nur etwa 1 500 Einwohner. Barbuda und Anti-gua bilden zusammen einen gemeinsamen Staat. DerStaat verfügt zwar über wenig Ressourcen, aber im Jahr2005 über eine Flotte von 981 Schiffen mit einer Größevon über 7 Millionen Bruttoregistertonnen. 853 davonstammten aus Deutschland, denn es ist billig, unter die-ser Flagge zu fahren. Das Schiffsregister des Inselstaa-tes in der Karibik wird übrigens im nordwestdeutschenOldenburg geführt.„Das muss geändert werden“, sagte sich im Jahr2003 die Bundesregierung unter Gerhard Schröder. EinMaritimes Bündnis wurde geschmiedet. Die Reeder sag-ten der Bundesregierung, den Küstenländern und denGewerkschaften zu: Wenn ihr uns von den Kosten ent-lastet, dann werden wir 600 von den insgesamt rund4 000 Schiffen wieder unter deutscher Flagge fahrenlassen.Seither greift der Staat den Reedern bei den Aufwen-dungen für die Ausbildung und den LohnnebenkostenJahr für Jahr mit bis zu 50 Millionen Euro unter dieArme. Nun fahren aber weniger Schiffe denn je unterdeutscher Flagge. Aktuell sind es 491.Als im vergangenen Jahr die Bundesregierung dieReeder an ihre Zusage erinnerte und ankündigte, siewerde die Zuschüsse halbieren, kam es auf der Nationa-len Maritimen Konferenz in Wilhelmshaven zum Krach.Die Reeder drohten damit, noch mehr Schiffe auszuflag-gen. Im März 2012 einigte man sich schließlich. Die Zu-schüsse wurden auf 58 Millionen Euro aufgestockt. DieReeder sagten zu, ebenfalls 20 Millionen Euro über ei-nen Fonds und zusätzlich 10 Millionen Euro beizusteu-ern, die über eine Erhöhung von Ausflaggungsgebührenzusammenkommen sollen.Liebe Kolleginnen und Kollegen von der SPD, ichfinde es wichtig, dass wir wissen, wie dieses neue Bünd-nis entstanden ist. Wir unterstützen es ja, dass wir Aus-bildungsplätze und Arbeitsplätze auf See erhalten. Wirbrauchen gut ausgebildete Seeleute. Wir wollen aberauch erreichen, dass sie dann auch zu vernünftigenZu Protokoll gegebene Reden
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22532 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Herbert Behrens
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Bedingungen ihre Arbeit auf den Schiffen machen kön-nen. Darum ist die zentrale Forderung der Linken anden Bündnispartner Reedereien: Ihr habt zugesagt,600 Schiffe wieder unter die deutsche Flagge zu holen,die Belegschaften nach dem hier geltenden Seerecht zubehandeln, die Besetzungsvorschiften einzuhalten unddie Tariflöhne zu bezahlen. Diese Selbstverpflichtungals Versprechen reicht nicht aus. Das lehren uns die ver-gangenen zehn Jahre. Wir verlangen einen verbindli-chen Stufenplan mit dem Ziel, schnellstmöglich die Zahl600 zu erreichen.In dem Konflikt um die Verpflichtungen aus dem Ma-ritimen Bündnis wurde übrigens die Tonnagesteuer vonkeiner Bundesregierung je infrage gestellt. Die sichertden Reedereien weitgehende Steuervorteile, weil sienicht gewinnbezogenen Steuerzahlen, sondern einenpauschalen Betrag entrichten, der sich nach Größe desSchiffsladeraums richtet. Damit sind dem Staat in denletzten acht Jahren rund 5 Milliarden Euro Steuern ent-gangen. Diese Begünstigung sei international durchausüblich, andere Länder würden ähnliche Zugeständnissemachen, heißt es zur Begründung. Stimmt, doch dieserDumpingwettlauf muss gestoppt werden.Wohin Steuerdumpingwettbewerb führen kann, zeigtuns das Beispiel Griechenland. Die griechischen Reederzahlen überhaupt keine Steuern. Die Putschgenerale si-cherten ihnen 1967 die Profite. Auch im demokratischenGriechenland sind diese Steuerprivilegien nie aufgeho-ben worden. Fast die Hälfte der EU-Handelsflotte fährtheute unter griechischer Flagge. 175 Milliarden Dollarsind allein in den letzten zehn Jahren dem Staat verlorengegangen. Alexis Tsipras, der Vorsitzende unserer grie-chischen Schwesterpartei Syriza, fordert ein Ende diesesSteuerunrechts zulasten des griechischen Staates.Aber zurück zum Antrag der SPD. Darin wird zuRecht darauf hingewiesen, dass es gesetzlicher Regelun-gen bedarf, um die zugesagten Reederbeiträge in Höhevon insgesamt 30 Millionen Euro überhaupt eintreibenzu können. Das muss schnell passieren, um die Mittel fürAusbildung und Beschäftigung einsetzen zu können.Und dass endlich das Seearbeitsübereinkommen rati-fiziert werden muss, haben Sie ja noch einmal aufge-nommen. Das hatten wir bei der Bearbeitung des An-trags der Linksfraktion bereits diskutiert. Aber in derTat, bis heute ist die Bundesregierung trotz ihrer Ankün-digung, die Seearbeitsbedingungen neu regeln zu wol-len, dem nicht nachgekommen. Es wird Zeit.Die Reedereien müssen entsprechend ihrer Erträgezur Kasse gebeten werden. Vernünftige Ausbildungs-und Arbeitsbedingungen für die Beschäftigten in derSeeschifffahrt sollten für eine große Exportnation selbst-verständlich sein. Es ist ein Skandal, dass hierfür auf-wendig Bündnisse mit Finanzspritzen geschmiedet wer-den müssen – und dann auch noch ohne Verbindlichkeitbei den Gegenleistungen!Wir fordern menschliche Arbeitsbedingungen in derSeeschifffahrt. Das internationale Seearbeitsüberein-kommen muss endlich ratifiziert werden.
Mit dem vorliegenden Antrag der SPD debattierenwir zum dritten Mal innerhalb von knapp über einemJahr die Entwicklung der maritimen Wirtschaft inDeutschland.Die maritime Branche ist größer, als viele oft glau-ben: 380 000 Beschäftigte in der gesamten Bundesrepu-blik, davon circa 20 000 bis 22 000 in Reedereien anLand sowie ein Umsatz von circa 50 Milliarden Euro proJahr. Außerdem haben deutsche Reeder die größte Con-tainerschiffsflotte der Welt. Die maritime Wirtschaft inDeutschland ist nicht nur von bedeutendem Interesse fürdie Küstenländer. Eine der größten Containerreedereiender Welt hat zum Beispiel ihren Sitz in München, auchdie größten Betriebe in der maritimen Zulieferindustriesitzen in Bayern, Baden-Württemberg und Nordrhein-Westfalen. Deswegen muss die gesamte Republik ein In-teresse daran haben, dass es der Branche gut geht.Es gab Jahre des fast unglaublichen Booms, die deut-sche Flotte wurde immer größer und einflussreicher.Das alles war durchaus beeindruckend und sicher auchein Grund, warum die Branche ein eigenes Bündnis mitder Bundesregierung und weiteren Beteiligten bekam.Vor rund drei Jahren hat die maritime Wirtschaft auf-grund der weltweiten Finanzkrise einen deutlichen Ein-bruch erlitten, der noch immer anhält. An der Krise hatdie Branche keine Schuld. Aber wir alle können uns fra-gen, welchen Anteil die bestehenden Regeln daran ha-ben. Hier will ich nur das Stichwort Tonnagesteuer nennen,welches ja einmal der Ausgangspunkt des Bündnisseswar. Die spezielle deutsche Ausgestaltung hat Schiffs-fonds als Steuersparmodell sehr attraktiv für Anlegergemacht. Fondshäuser haben zusammen mit BankenSchiffsfonds aufgelegt. Damit konnten Reedereien vielGeld einsammeln – aber auch zum Teil zu viele Schiffebestellen, die sie jetzt nicht mehr brauchen und auchnicht mehr bezahlen können. Wenn wir über die Zukunftdes Maritimen Bündnisses reden, müssen wir also auchüber die Tonnagesteuer reden.Nachdem die Branche schon in Schwierigkeiten war,hat die Bundesregierung mitten in der Krise Kürzungender Schifffahrtsbeihilfen verkündet. Groß war der Auf-schrei bei den Reedern – und so wurde der Wegfall derBeihilfen für 2012 wieder aufgehoben. Dafür zahlen dieReeder für jedes ausgeflaggte Schiff eine Gebühr sowieeinen Eigenbeitrag in einen Fördertopf. Doch diese Mi-schung aus einem Fonds- sowie einem Gebührenmodellist rechtlich noch nicht abgesichert. Seit Monaten wirdjetzt nach einer Lösung gesucht, aber die Bundesregie-rung kann bisher nicht liefern. Bisher gibt es keineRechts- und Planungssicherheit für die Seeverkehrswirt-schaft.Die deutsche Flagge ist eine Qualitätsflagge und hateinen guten Ruf zu verteidigen. Das heißt allerdingsnicht, dass man sich auf dem Stand vom letzten oder garvorletzten Jahrhundert ausruhen darf: Deutschlandmuss mit gutem Beispiel vorangehen und sich alsDienstleister sehen für die Reeder; das heißt: einfacheVerwaltungswege, gute Erreichbarkeit, Aufräumen mitder überbordenden Bürokratie bei der Eintragung einesZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22533
Dr. Valerie Wilms
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Schiffes ins Flaggenregister. Heute müssen 13 Behördenvon Bund und Ländern angesteuert werden. Das ist ein-deutig zu viel, und vieles ist noch nicht mit modernenVerwaltungsverfahren gelöst. So ist es immer noch einAnachronismus, dass neu angeheuerte Seeleute persön-lich zum Seemannsamt müssen, eine Einrichtung derBundesländer. Deren Öffnungszeiten richten sich nachden Erfordernissen der Verwaltung und nicht nach de-nen der Seeleute. Bei anderen Flaggen wird das See-mannsregister längst vom Kapitän geführt. Bereits vorüber einem Jahr hat die Bundesregierung auf eineKleine Anfrage unserer Fraktion geantwortet, dass künf-tig die Registrierung für das deutsche Flaggenregistergebündelt unter www.deutsche-flagge.de vorgenommenwerden könne. Aber das funktioniert immer noch nicht.Auf der Internetseite steht nach wie vor: „Die Seite be-findet sich noch im Aufbau“.Wenn sich Reeder trotz Verpflichtungen aus dem Ma-ritimen Bündnis dazu entscheiden, nicht mehr unter derdeutschen Flagge zu fahren, muss dies als Warnsignalverstanden werden. Nicht nur das prestigeträchtigeFernsehkreuzfahrtschiff „MS Deutschland“, sondernauch weitere Schiffe haben die deutsche Flagge einge-holt und fahren jetzt unter der europäischen Flagge vonMalta oder der von Liberia.Die Rahmenbedingungen für den SchifffahrtsstandortDeutschland sind die eine Seite der Medaille. Auf deranderen Seite müssen sich auch die Reeder an die ge-schlossenen Vereinbarungen halten.Die Herausforderungen an die Schifffahrt sind seitBeginn der Krise im Jahr 2008 nicht weniger geworden:Überkapazitäten der Flotten und damit ruinöser Wettbe-werb um Fracht, Einfahren von Verlusten durch niedrigeCharterraten, Rückgang der Finanzierungsmöglichkei-ten. All dies sind Beispiele für die derzeitig angespannteMarktsituation in der internationalen Frachtschifffahrt.Es ist jedoch zu beobachten: Die Reedereibranche hältweiterhin am Standort Deutschland fest, Abwanderungs-tendenzen, über die Flaggenwahl hinaus, waren bisherkaum Thema. Dies begrüßen wir.Wichtige Gründe, warum die Reeder sich weiterhinan den Standort Deutschland binden, sind: Die See-schifffahrt kann in Deutschland auf eine lange Traditionzurückblicken sowie auf gut ausgebildete Fachkräfte zu-rückgreifen. Dieses Potenzial muss weiter genutzt wer-den, um die Schifffahrt und die gesamte maritime Wirt-schaft wieder auf stabile Beine zu stellen oder, um in derSchifffahrtssprache zu bleiben, um wieder in ruhigeresFahrwasser zu steuern.Damit der Standort Deutschland in der internationa-len Seeschifffahrt weiterhin zukunfts- und krisenfest ge-staltet werden kann, muss das Maritime Bündnis neueImpulse bekommen. Bereits seit längerer Zeit sind dieBündnispartner trotz gemeinsamer Verabredungen im-mer wieder ausgeschert. Dies hilft keinem der Bündnis-partner, am wenigsten ist dies hilfreich für die Beschäf-tigten der maritimen Wirtschaft.Wir erwarten daher Nachbesserungen durch die Bun-desregierung: Die Beiträge für die Seeschifffahrt müs-sen wieder angehoben werden. Das neue Fondsmodell,das zusammen mit den Reedern beschlossen worden ist,muss zügig rechtlich abgesichert werden, damit es um-gesetzt werden kann. Die Bedingungen, um unter derdeutschen Flagge zu fahren, müssen dringend verbessertwerden. Reedern muss durch rasches Umsetzen einerEntbürokratisierung unter die Arme gegriffen werden.Schließlich müssen wir uns aber auch die Tonnagesteuernoch einmal genau ansehen, damit wir nicht wieder einesolche Blase zulassen, die Reeder und Anleger um ihrGeld und Banken in Schieflage bringt.Damit ist nicht nur dem maritimen Standort Deutsch-land geholfen, sondern vor allem auch den vielen Be-schäftigten der Branche.
Interfraktionell wird Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10097 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 33 auf:
Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-
richts des Ausschusses für Bildung, Forschung
und Technikfolgenabschätzung
zu dem Antrag der Abgeordneten Anette
Hübinger, Albert Rupprecht , Michael
Kretschmer, weiterer Abgeordneter und der Frak-
tion der CDU/CSU sowie der Abgeordneten
und der Fraktion der FDP
Forschung und Produktentwicklung für ver-
nachlässigte und armutsassoziierte Erkran-
kungen stärken
– Drucksachen 17/8788, 17/10082 –
Berichterstattung:
Abgeordnete Anette Hübinger
René Röspel
Dr. Peter Röhlinger
Dr. Petra Sitte
Krista Sager
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Haben Sie schon einmal von der asiatischen Tiger-mücke gehört? Wenn nicht, dann wird es langsam Zeit.Denn diese Mücke mit den weißen Streifen auf Beinenund Rücken breitet sich in Europa zunehmend aus. Sovermeldeten im April dieses Jahres zahlreiche Medien,dass britische Wissenschaftler der Universität Liverpoolauf Basis ihrer Klimamodelle davon ausgehen, dass sichdas Klima in Europa in den kommenden Jahrzehnten soverändert, dass diese nicht einheimische Mückenart invielen Regionen Europas gute Lebensbedingungen vor-finden wird. Die Wissenschaftler kommen weiter zu demSchluss, dass sich die Tigermücke schon jetzt in Italienfestgesetzt hat.
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22534 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Anette Hübinger
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Warum muss uns diese Meldung aufhorchen lassen?Die Tigermücke ist Überträger von Dengue-Fieber,einer tropischen Krankheit. Noch stellt die Verbreitungneuer Mückenarten für uns in Europa keine Gefahr dar.Wissenschaftler schließen jedoch eine zukünftigeGefährdung nicht aus. Die „Mitbringsel“ der Stech-mücken, also die tropischen Krankheiten, müssen jedochunser Interesse wecken.Zu den tropischen Krankheiten zählen auch die soge-nannten vernachlässigten und armutsassoziierten Er-krankungen, und daran leiden schon heute weltweitmehr als 1 Milliarde Menschen. Die Thematik TropischeKrankheiten trägt für uns also zwei Komponenten insich: Erstens handelt es sich um ein aktuell drängendesProblem in Schwellen- und Entwicklungsländern, undzweitens führt uns die zunehmende Verbreitung von nichteinheimischen Stechmücken in Europa vor Augen, dassdas Thema zukünftig auch uns selbst betreffen könnte.Wir müssen also auch im ureigensten Interesse handeln.Die Herausforderung ist zweifellos enorm. Nicht um-sonst betitelt man diese tropischen Krankheiten als„vernachlässigt“ und „armutsassoziiert“. Der Termi-nus „vernachlässigt“ impliziert, dass sich zu wenig umdie Erforschung und Behandlungsmöglichkeiten dieserKrankheiten gekümmert wird, und die Bezeichnung „ar-mutsassoziiert“ drückt aus, dass es vor allen Dingen dieArmen und Ärmsten in Entwicklungs- und Schwellenlän-dern trifft.Als Forschungspolitiker widmen wir uns naturgemäßin erster Linie der Dimension „vernachlässigt“ diesesumfassenden Problems. Forschende Pharmafirmen tunin diesem Bereich sehr wenig, weil die betroffenen Men-schen sich die Medikamente nicht leisten können undsomit kein rentabler Markt vorhanden ist.Wo unternehmerisches Engagement trotz großerNachfrage bzw. Dringlichkeit fehlt, sind staatliche Ini-tiativen gefragt. Denn hier geht es um Menschenleben.Wir sind uns dieser Verantwortung bewusst und habendeshalb das Förderkonzept des Bundesministeriums fürBildung und Forschung zu vernachlässigten Krankhei-ten sehr begrüßt.Der heute zur Abstimmung stehende Antrag derchristlich-liberalen Koalition knüpft an dieses Konzeptan, weil die Ansätze der Bundesregierung zur Bekämp-fung von Krankheiten wie der Afrikanischen Schlaf-krankheit, Chagas oder dem Dengue-Fieber genau indie richtige Richtung gehen.Das Ziel ist klar: Wir brauchen wirksame, anwen-dungsfreundliche und gleichzeitig erschwingliche Prä-ventions- und Therapieverfahren zur Bekämpfung dieserKrankheiten. Einen Königsweg gibt es nicht. Deshalbunterstützen wir das Bundesministerium für Bildung undForschung darin, auf unterschiedliche Strategien zu set-zen und diese in einen Gesamtzusammenhang zu stellen.So ist es einerseits richtig, die nationale Forschungs-förderung in diesem Bereich zu stärken. Andererseits istes genauso wichtig, die europäische Dimension im Blickzu haben und die Initiative European and DevelopingCountries Clinical Trials Partnership, EDCTP, zu unter-stützen. Des Weiteren ist es in meinen Augen von großerBedeutung, auch neue Wege in der Forschungsförde-rung zu gehen. Deshalb begrüßen wir als christlich-libe-rale Koalition ausdrücklich die erstmalige Förderungvon sogenannten Produktentwicklungspartnerschaften,PDPs, durch das Bundesministerium für Bildung undForschung.Für die deutsche Förderkultur stellt die PDP-Förde-rung einen neuen Weg dar, und deshalb ist es für michdie natürlichste Sache der Welt, dass man nicht gleich indie Vollen geht. So finde ich die Vorwürfe der Opposi-tionsparteien unredlich, dass die Bundesregierung dasThema PDP-Förderung zu zaghaft angegangen sei. Ichsage Ihnen ganz klar: Ich bin froh, dass die Bundes-regierung in die PDP-Förderung eingestiegen ist, unddie 22 Millionen Euro für die erste, vierjährige Förder-periode sind ein guter Anfang.Dass uns diese Zahl auf lange Sicht und auch iminternationalen Vergleich nicht zufriedenstellen kann,daraus mache ich keinen Hehl. Deshalb fordern wir inunserem Antrag, dass nach einer positiven Evaluierungder laufenden Förderung die Mittel für eine Folgeför-derperiode aufgestockt werden. Schon jetzt darüber zuspekulieren, ist allerdings zu früh. Diese Art der For-schungsförderung muss sich bewähren und verwertbareErgebnisse liefern! Ich habe keine Zweifel, dass die22 Millionen Euro zum Wohle der betroffenen Menschenin den Entwicklungs- und Schwellenländern gut ange-legt wurden.Darüber hinaus ist das deutsche Engagement sehrbreit gefächert und kann nicht nur an einer Zahl bzw. ei-ner Maßnahme festgemacht werden. Zusammengenom-men investieren wir über 80 Millionen Euro in diesemBereich, eine Summe, die sich sehen lassen kann.Darüber hinaus müssen wir über eine gute Kommuni-kation zur Bewusstseinsschärfung der Bevölkerung zudiesem Thema beitragen, damit jedem klar wird, dasswir auch in Zukunft Geld in diesen Forschungsansatz in-vestieren müssen, und zwar mit steigender Tendenz. Fürviele unserer Kollegen und Kolleginnen und für dieMehrzahl der Bürger sind die vernachlässigten tropi-schen Krankheiten böhmische Dörfer und weit, weit wegvon Deutschland. Deshalb müssen wir für dieses Anlie-gen werben, werben und nochmals werben.Wir sollten gezielt kommunizieren, welche Projekteim Rahmen der PDP-Förderung unterstützt werden undwelche Erfolge damit erzielt werden. Die Auswahl der zufördernden PDPs liegt zwar erst etwas mehr als ein hal-bes Jahr zurück, aber es lohnt sich schon jetzt, einengenaueren Blick auf die mit unserer Förderung angesto-ßenen Projekte zu werfen.Bis 2015 werden drei PDPs in ihrer Forschungsar-beit vonseiten des Bundesministeriums für Bildung undForschung unterstützt. Es handelt sich dabei um Drugsfor Neglected Diseases, DNDi, die European VaccineInitiative, EVI, und die Foundation for Innovative NewDiagnostics, FIND.DNDi wird als einer der Ausschreibungsgewinner seitDezember 2011 mit 8 Millionen Euro gefördert und wid-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22535
Anette Hübinger
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met sich in seiner Forschungsarbeit der Medikamenten-entwicklung für die Schlafkrankheit, die Leishmaniose,der Chagas-Krankheit und der Behandlung für die Ko-Infektion von Wurmerkrankungen wie Onchozerkosebzw. Elephantiasis mit dem Augenwurm, auch bekanntunter der Bezeichnung Loa-Loa.Am Beispiel der Leishmaniose, übrigens eine durchParasiten hervorgerufene Infektionskrankheit, mit dersich jedes Jahr etwa 400 000 Menschen infizieren, wirdschnell klar, worum es primär geht. Es geht um bessereund günstigere Therapien. DNDi arbeitet im Rahmender BMBF-Förderung unter anderem an einer günstige-ren Kombinationstherapie für Leishmaniose in Ost-afrika für sehr kranke Patienten bzw. einer Therapie, diesich für die Behandlung von vielen Patienten in kurzerZeit eignet. Dies war beispielsweise im Sudan 2010nötig, als die Krankheit wieder ausbrach. Dazu werdenzurzeit klinische Studien von DNDi in Zusammenarbeitmit der Universität Khartum im Sudan und der LondonSchool of Hygiene and Tropical Medicine, LSHTM, inGroßbritannien durchgeführt. Finanziert werden durchdas BMBF die klinischen Phasen II und III. Zudem sollein neuer Wirkstoffkandidat für eine sichere, orale undkurze Behandlung aller Formen der viszeralen Leish-maniose weiterentwickelt werden.Weiterhin wird die European Vaccine Initiative für dieEntwicklung eines Malariaimpfstoffes für Schwangeregefördert. Genauer gesagt, hat die EVI zusammen mitdem Institut national de la santé et de la recherche mé-dicale aus Frankreich das PRIMALVAC-Projekt ini-tiiert, das sich zum Ziel gesetzt hat, einen Impfstoff ge-gen eine mit einer Schwangerschaft einhergehendenMalaria – Pregnancy Associated Malaria, PAM – zu ent-wickeln. Das Projekt wird kofinanziert mit einer Förde-rung vom BMBF in Höhe von circa 4,4 Millionen Euro.Als dritte Ausschreibungsgewinnerin wird die Founda-tion for Innovative New Diagnostics, FIND, für die Ent-wicklung einer Diagnoseplattform für vier parasitäreErkrankungen – Afrikanische Schlafkrankheit, Chagas,Leishmaniose und Malaria – finanziell gefördert.FIND setzt die Gelder der Förderinitiative des BMBFzur Weiterentwicklung der molekularbiologischen De-tektionstechnologie LAMP – Loop-Mediated IsothermalAmplification – ein, damit diese in den betreffendenEndemiegebieten vor Ort – also patientennah – einge-setzt werden kann. Gegenwärtig liegen die Schwer-punkte der Testentwicklung auf Methoden zum Nachweisund zur Kontrolle der Therapieeffizienz von Infektionendurch Leishmania-Parasiten, dem schnellen sowieempfindlichen Nachweis von Erregern der Chagas-Krankheit bei Kindern infizierter Mütter, einem Hoch-durchsatzsystem zum Screening großer Populationenauf Malariaerreger in Gebieten mit fallender Zahl vonNeuinfektionen und einem Bestätigungstest zur Dia-gnose der Afrikanischen Schlafkrankheit mittels einereinfachen Blutprobe.Übrigens arbeiten die Forscher von FIND hier aucheng mit DNDi zusammen, da Forschung und Entwick-lung für die Diagnose und Behandlung der Krankheitennatürlich eng miteinander verknüpft sind.Wie man sieht, bezieht sich die Förderung des BMBFsehr stark auf vorklinische und klinische Studien. Dieshat seinen guten Grund; denn klinische Studien sindteuer, und mit der Finanzierung steht und fällt oft einesolche Medikamentenentwicklung in einem vernachläs-sigten Forschungsbereich.Weil die Entwicklung von Medikamenten generellsehr teuer ist, ist mehr Geld natürlich immer wünschens-wert, gerade bei einem so hehren Ziel. Aber wir könnenauch hier nicht losgelöst von den Rahmendaten des Bun-deshaushalts agieren. Deshalb lautet mein Appell analle Kollegen im Forschungsausschuss: Lassen Sie unsgemeinsam für die Fortschreibung der aktuellen Maß-nahmen in Verbindung mit einem maßvollen Aufwuchsin den nächsten Jahren werben. Dies wird mit Blick aufdie Auswirkungen der Schuldenbremse auf unserenHaushalt sicherlich eine schwierige, aber nicht unmög-liche Arbeit. Packen wir sie also an!
Wie ich bereits in meiner zu Protokoll gegebenenRede bei der ersten Beratung des vorliegenden Antragsmoniert habe, ist es – trotz der grundsätzlichen Berück-sichtigung von vernachlässigten Krankheiten im parla-mentarischen Raum – sehr bedauerlich, dass die jewei-ligen Reden zu den entsprechenden Anträgen stets zuProtokoll gegeben worden sind. Ich stelle das redlicheEngagement einzelner Fürstreiter dieses Themenkom-plexes aufseiten der Koalitionsfraktionen nicht infrage,aber es kommen mir doch erhebliche Zweifel, ob das En-gagement dieser einzelnen MdBs von ihren jeweiligenFraktionen als Feigenblatt genutzt wird, um die tatsäch-lich geringe Wertschätzung für dieses Thema in den an-gesprochenen Fraktionen eventuell zu kaschieren. Eineehrliche und engagierte Auseinandersetzung mit diesemThema sollte einen offenen Austausch im Plenum zurGrundlage haben. Wie bereits in meiner vorangegangenRede erwähnt, sehe ich – im Sinne einer aufrichtigenWertschätzung der Betroffenen – dies als ein wichtigesZeichen zu einem klaren Bekenntnis des Deutschen Bun-destages hinsichtlich dieses Themas.Wie schon in den Beratungen des Antrags im Plenumvom März dieses Jahres sowie in der Sitzung des Aus-schuss für Bildung, Forschung und Technikfolgenab-schätzung deutlich wurde, bewegen sich alle parlamen-tarischen Initiativen – und mit ihnen jegliche staatlichgesteuerten Versuche, die vernachlässigten Krankheitenin den Entwicklungsländern zu bekämpfen – im Span-nungsfeld zwischen Ohnmacht im Angesicht der Größeder zu bewältigenden Aufgabe und blindem Aktionis-mus – ohne dass allerdings ein Antrag eine Grenze über-schreitet, wenngleich im Fall der Fraktion Die Linkeeinige utopische Forderungen enthalten sind. Es giltdemnach, eine Politik mit Augenmaß voranzutreiben,die sich am Machbaren orientiert und dennoch nicht vorden Herausforderungen kapituliert, die ausgewogeneForderungen stellt – insbesondere in Bezug auf eine fi-nanzielle Ausgestaltung von Fördermaßnahmen.Ebenfalls ist es unabdingbar, dass zielgerichtetestaatliche Maßnahmen zur Bekämpfung der vernachläs-Zu Protokoll gegebene Reden
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René Röspel
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sigten Krankheiten nur dann erfolgversprechend seinkönnen, wenn sie eine kontinuierliche und vor allem ver-lässliche Finanzierung der PDPs als Basis vorweisen
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22542 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
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22544 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
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Engagement in dieser wichtigen Region Afrikas demon-strieren und mit unserem Antrag das EngagementDeutschlands für den Frieden im Sudan und im Südsu-dan aufzeigen. Aus unserem Anstoß wurde damals auchein gemeinsamer Antrag mit den geschätzten Kollegender SPD, FDP und den Grünen, der mit zur Grundlagedes intensiven Engagements Deutschlands für den Frie-den wurde, insbesondere in den Zeiten, als wir noch umdie friedliche Trennung des Sudan bangten.Der Südsudan ist am 9. Juli 2011 als 193. Staat derVölkergemeinschaft beigetreten. Die Trennung verlieffriedlich. Bedauerlicherweise hat sich die Lage in denletzten Monaten wieder verschlechtert. Unser neuer in-terfraktioneller Antrag kommt daher genau zur rechtenZeit; denn in den letzten Wochen und Monaten gab es er-neut Krieg und Gewalt, mussten Kinder vor Bomben-angriffen fliehen, leiden Menschen Hunger, erleben dieMenschen Zerstörung der wirtschaftlichen Existenz undvielfach überleben sie nicht.Noch vor wenigen Wochen gab es erbitterte Kämpfezwischen den Truppen beider Länder, zwischen Rebellenund Milizen um die Ölinstallationen in Heglig, inDarfur, in Südkordofan und Blue Nile. Ein umfassenderKrieg zwischen Sudan und Südsudan musste befürchtetwerden. Die Grenzprobleme zwischen Nord- und Süd-sudan, die Aufteilung der Öleinnahmen und die Abyei-Frage sind immer noch ungelöst. Dazu kommt die dra-matische Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage inbeiden Ländern. Aufgrund der weggefallenen Öleinnah-men ist die Inflation in Nord- und Südsudan mittlerweileauf bis zu 80 Prozent angestiegen. In Khartoum nimmtdie Arbeitslosigkeit zu, im Südsudan grassieren Hungerund Armut. Grundnahrungsmittel für die arme Bevölke-rung beider Länder werden für die meisten Menschenunerschwinglich. Der Entwicklungsprozess ist nahezuvöllig zum Stillstand gekommen.Die Afrikanische Union hat sich bei der Lösung desKonflikts zwischen Nord- und Südsudan hohen Respektverschafft. Besonders das African Union High-Level Im-plementation Panel on Sudan, AUHIP, mit VermittlerThabo Mbeki drängt auf tragfähige Lösungen. Die afri-kanischen Vermittler riefen mit dem Sicherheitsrat derVereinten Nationen – auch auf deutsche Initiative hin –die Konfliktparteien ultimativ auf, sich ernsthaft undkonstruktiv an Friedensgesprächen zu beteiligen.Ich begrüße an dieser Stelle ausdrücklich das uner-müdliche Engagement der erwähnten Institutionen, umdie Verhandlungen in Addis Abeba wieder aufzunehmen.Wir hören von dort, dass sich die Konfliktparteiengrundsätzlich auf eine Demilitarisierung des Grenz-gebietes zwischen Sudan und Südsudan geeinigt haben.Dies ist ein Schritt in die richtige Richtung. WeitereSchritte hin zum Frieden und zum Ausgleich zwischenbeiden Ländern müssen jedoch unmittelbar folgen.Dabei ist auch der Deutsche Bundestag gefragt, seinEngagement für Frieden und Sicherheit zu verstärken.Unser Ansatz der vernetzten Sicherheit und Entwicklungmuss weiter ausgebaut werden. Die Missionen der Ver-einten Nationen im Sudan müssen zum Erfolg führen unddie Durchsetzung der Menschenrechte in beiden Län-dern müssen unterstützt werden. Wir können unserePartnerschaft mit Afrika auch und gerade am BeispielSudan beweisen.Mit unserem Antrag setzt der Deutsche Bundestag aufeinen friedlichen Ausgleich zwischen Nord- und Südsu-dan. Wir sollten auch weiterhin die Afrikanische Unionbei ihren Friedensbemühungen unterstützen. Die Bun-desregierung hat bisher sehr gute Arbeit geleistet. Diesemuss weitergeführt werden.Das Länderkonzept der Bundesregierung für den Su-dan bildete eine gute Grundlage für die kritische Zeitnach der Trennung des Südsudan von Khartoum. DieLage hat sich inzwischen spürbar verändert. Hier giltes, jetzt für beide Länder entsprechende konzeptionelleRahmenbedingungen weiterzuentwickeln, die eine ange-messene Reaktion auf die Veränderungen in Nord undSüd erlauben. Frieden, Sicherheit und wirtschaftlicheEntwicklung müssen unter Einhaltung der Menschen-rechte vorangebracht werden. Mitspracherechte für alleSudanesen, eine demokratische Öffnung, Transparenz inder Regierungsführung sind Schritte, die umgehend ein-gefordert werden müssen. Sie haben sicher ebenso mitErstaunen zur Kenntnis genommen, dass der Staatsprä-sident des Südsudans, Salva Kiir Mayardit, von seinenehemaligen und derzeitigen Ministern sage und schreibevier Milliarden Dollar zurückgefordert hat, die dieseunterschlagen haben sollen. Hier gilt es genau hinzu-schauen, wenn wir auch mit deutschen Geldern beimAufbau des Südsudan helfen wollen.Bei der Umsetzung dieser Forderungen leisten diedeutschen Soldaten und Polizisten in den Missionen derVereinten Nationen UNMISS und UNAMID einenwesentlichen Beitrag. Sie kennen Art und Umfang desdeutschen Engagements, das eng mit unseren internatio-nalen Partnern abgestimmt wurde. Wir haben die Man-date hier im Bundestag mit überwältigender Mehrheitbeschlossen. Es ist gut, dass der Bundestag in dieserFrage geschlossen dafür eintritt, dass in der Region
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22547
Johannes Selle
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nachhaltig Frieden und Entwicklung vorangebrachtwird.An dieser Stelle möchte ich den Soldatinnen und Sol-daten, den Polizistinnen und Polizisten, die dort unterextrem schwierigen Bedingungen ihre Aufgaben erfül-len, Dank und Anerkennung aussprechen. Die Kollegen,die den Südsudan bereist haben, wissen, unter welchenEntbehrungen und Unwägbarkeiten unsere Soldatendort ihren Dienst tun. Dies verdient unseren Respekt.Dies gilt in gleicher Weise für die engagierten Mit-arbeiter von Entwicklungshilfeorganisationen, humani-tären und Nichtregierungsorganisationen, die unterschwierigsten Bedingungen vor Ort tätig sind.UNMISS im Südsudan und UNAMID in Darfur müs-sen weiter unterstützt und ihre Aufgaben erfolgreichumgesetzt werden. Wenn – wie beabsichtigt – die VN-Überwachung der demilitarisierten Grenzzone zwischenNord- und Südsudan eingerichtet wird, sollten wir unseiner Beteiligung nicht verweigern. Solche Einsätzestärken das Mandat der Vereinten Nationen und leisteneinen maßgeblichen Beitrag zum Frieden in Afrika. Siesollten auch zum Markenzeichen für erfolgreiche deut-sche Streitkräfteeinsätze im Dienste des Friedens wer-den.Bei den kleinen erkennbaren Fortschritten in der Ent-wicklung des Sudans und des Südsudans dürfen wir un-sere Augen vor elementaren Menschenrechtsverletzun-gen nicht verschließen. Wir hören von der Zerstörungvon Kirchen in Khartoum, der Verhaftung von Demon-stranten und Oppositionellen, von der Zensur von Me-dien. Diese Missstände werden wir weiterhin entschie-den anprangern.Wir hören von massiver Korruption und einem nachwie vor stockenden Verfassungsprozess im Südsudan.Die Trennung wurde erreicht, nun muss immer wiederauch den Entscheidungsträgern für die Entwicklung desLandes ihre Verantwortung verdeutlicht werden.An das Leid der Zivilbevölkerung in den ProvinzenDarfur, Südkordofan und Blue Nile werden wir erinnern,solange die Probleme nicht gelöst sind. Rebellen undRegierung müssen die Kampfhandlungen sofort einstel-len und Hilfsorganisationen umfassenden humanitärenZugang gewähren.Sudan und Südsudan müssen einen Frieden miteinan-der begründen und auf jegliche Gewaltanwendung ver-zichten. Beide Länder sind aufeinander angewiesen. IhrAusgleich ist wichtig für Stabilität und Prosperität in dergesamten Region am Horn von Afrika. Wir setzen uns füreinen gerechten Ausgleich zwischen Khartoum und Jubaein: in der Frage der Produktion und der Aufteilung derÖlressourcen, bei der Bestimmung der Grenzen zwi-schen Nord und Süd, in Fragen des Aufenthaltsrechtsvon Nord- und Südsudanesen im jeweils anderen Staats-territorium.Wir fordern von dieser Stelle die Verantwortlichender sudanesischen, und der südsudanesischen Regie-rung sowie die Führer der SPLM in diesen Gebieten auf,sofort die Waffen niederzulegen und die Vermittlung derAfrikanischen Union anzunehmen.In der umstrittenen Provinz Abyei ist es der Missionder Vereinten Nationen UNISFA gelungen, Kämpfe zwi-schen Nord und Süd zu verhindern. Khartoum und Jubahaben in einem unlängst unterzeichneten Abkommendem Truppenabzug, einer gemeinsamen Verwaltung undeinem Krisenlösungsmechanismus zugestimmt. DieseVereinbarung gilt es jetzt tatsächlich umzusetzen. Hierhaben wir ein Beispiel, das auch in anderen Krisenregi-onen Afrikas Vorbild sein kann.In Darfur geht es um die Implementierung des Doha-Friedensabkommens. Keiner Konfliktpartei darf es er-laubt werden, den Friedensprozess für eigenes Hegemo-nialstreben zu missbrauchen.Was in Europa großes Thema ist, gilt auch im Sudan.Konkrete Aufbaumaßnahmen müssen den Prozess be-gleiten. Dem Aufbau des Südsudan und der entwick-lungspolitischen Zusammenarbeit sowie der Stärkungder Zivilgesellschaft widmet die Bundesregierung be-sondere Aufmerksamkeit. Das entwicklungspolitischeEngagement Deutschlands sollte insbesondere die Lageder zivilen Bevölkerung verbessern. Der Aufbau einerWasserversorgung auch in der Fläche im Südsudan, derAufbau funktionierender Verwaltungsstrukturen und dieEntwaffnung und Demobilisierung von Exkombattantenzählen nach wie vor zu den Schwerpunkten der Entwick-lungshilfe der Bundesregierung.Wir dürfen aber auch den Wiederaufbau in Darfurund in den anderen Landesteilen Sudans nicht verges-sen. Viele Rebellengruppen stehen Gewehr bei Fuß undwarten bis heute noch vergeblich auf eine Friedensdivi-dende.Das von UNAMID erarbeitete Rahmenabkommen fürden Friedensprozess in Darfur verdient durch konkreteHilfsmaßnahmen vor Ort unterstützt zu werden. In Dar-fur müssen wieder Bedingungen herrschen, die es denMenschen erlauben, die Flüchtlingslager zu verlassenund in ihre angestammten Siedlungsgebiete zurückzu-kehren. Dazu gehört die Überführung von humanitärerHilfe in Wiederaufbaumaßnahmen, in den Aufbau vonSchulen, Straßen, Gesundheitseinrichtungen und dieFörderung von Handel und Gewerbe, aber natürlichauch die Stärkung von Menschenrechten, von Gerechtig-keit, Partizipation und Freiheit. Diese Forderungen gel-ten auch für den Ostsudan und – wenn die Kämpfe zumStillstand gekommen sind auch für die Provinzen Süd-kordofan und Blue Nile.Auch wenn sich die Früchte nicht immer sofort erken-nen lassen, dürfen wir nicht aufhören, uns für Frieden,Demokratie und Menschenrechte im Sudan und imSüdsudan einzusetzen. Wir müssen den Friedensprozessin beiden Ländern stärker unterstützen und diesen in ab-sehbarer Zeit zu einem guten Ende zu bringen.Die Menschen im Sudan und im Südsudan sindkriegsmüde.Ich bitte Sie daher um Ihre Zustimmung zu unseremAntrag. Er ist ein Zeichen unseres Einsatzes für denZu Protokoll gegebene Reden
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22548 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Johannes Selle
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Frieden und Ausgleich und den wichtigen Teil unseresEngagements für die Republiken Sudan und Südsudan.
In dieser Legislaturperiode standen die Republiken
Sudan und Südsudan bereits mehrmals auf der Tages-
ordnung des Deutschen Bundestages. Als wir vor ziem-
lich genau einem Jahr das Mandat für die United
Nations Mission in the Republic of South Sudan,
UNMISS, verabschiedet haben, wussten wir zwar, dass
der Südsudan eine schwierige Ausgangslage haben
würde. Nichtsdestotrotz haben wir unsere Hoffnung auf
eine positive und dynamische Entwicklung in der jungen
Republik sowie auf eine stabile Beziehung zu dem neuen
Nachbarstaat Sudan nicht aufgegeben.
Im April dieses Jahres konnte ich den Südsudan besu-
chen, um mir selbst ein Bild der Situation zu machen. In
meiner Rede möchte ich mich deshalb auf den Südsudan
konzentrieren, um Ihnen meinen Eindruck von der Lage
vor Ort zu schildern. Und ich möchte gleich vorwegneh-
men: Obwohl ich durch Berichte im Vorfeld bereits auf
die verheerende Situation im Südsudan vorbereitet war,
hat die Realität meine Erwartungen noch weiter ge-
dämpft und meine Hoffnung aus dem Juli 2011 im
Grunde zunichtegemacht.
Im Rahmen meiner Reise habe ich Gespräche mit Re-
präsentanten von UNMISS, Soldaten der Bundeswehr,
der Polizei, Vertretern der südsudanesischen Regierung
sowie mit Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisatio-
nen geführt. Der Konflikt mit dem Sudan sowie die in-
nerstaatlichen ethnischen Konflikte waren die beherr-
schenden Themen. Gerade in den Gesprächen mit
südsudanesischen Politikern bekam ich das Gefühl, dass
daneben die dringende Notwendigkeit einer ökonomi-
schen Entwicklung des Südsudans in den Hintergrund
gerät. Der Verzicht auf 98 Prozent der Staatseinnahmen
aus dem Ölverkauf wurde unisono als besser bezeichnet,
als sich vom Sudan bei der Durchleitung des Öls besteh-
len zu lassen. Die verheerenden Folgen dieser Politik
wurden ausgeblendet. Für mich stellt die fehlende wirt-
schaftliche Entwicklung, die Unfähigkeit der Regierung,
dies zu ändern, und die daraus resultierende Perspektiv-
losigkeit der Südsudanesen das Hauptproblem des Lan-
des dar.
In den internationalen Medien taucht die Region
meist nur auf, wenn es Tote und Verwundete gibt. Über
die anderen Probleme wird meist nur am Rande berich-
tet. Ich begrüße es deswegen sehr, dass wir heute einen
Antrag debattieren, der sich auf zwölf Seiten intensiv mit
der Situation vor Ort beschäftigt und Möglichkeiten auf-
zeigt, wie die Bundesregierung, aber auch die interna-
tionale Staatengemeinschaft den Südsudan und den Su-
dan effektiver unterstützen kann. Dafür möchte ich mich
bei meinen Kolleginnen und Kollegen im federführenden
Auswärtigen Ausschuss bedanken.
Die Kämpfe zwischen dem Sudan und dem Südsudan
sind in den vergangenen Monaten immer wieder eska-
liert. Während meiner Reise kam es zu einer Zuspitzung
im Konflikt um das umstrittene Ölfeld Heglig und zur
Bombardierung der Stadt Bentiu durch den Sudan. Die
UN-Mission UNMISS leistet trotz der schwierigen Si-
tuation jedoch sehr gute Arbeit. Ich habe hochmotivierte
Soldaten, Polizisten und zivile Mitarbeiter getroffen.
Ihnen möchte ich für ihr Engagement aufrichtig danken.
Ihre Arbeit unter diesen schwierigen Bedingungen ver-
dient unser aller Anerkennung. Trotz der großen Leis-
tung der UNMISS-Kräfte ist die Mission im Verhältnis zu
den immensen Herausforderungen zu klein und vor
allem nicht mobil genug. Die Mission hat demzufolge
keine Möglichkeit, in der Fläche wirkungsvoll präsent
zu sein.
Besonders verheerend stellt sich die Situation der
südsudanesischen Polizei dar, die ich Ihnen kurz schil-
dern möchte. Unter Begleitung eines deutschen Polizis-
ten habe ich in Juba eine Polizeistation sowie die dor-
tige Kriminalpolizei besucht. Die Arbeitsbedingungen
bzw. die Ausstattung der Polizisten kann nur als unzurei-
chend beschrieben werden. Es fehlt an den grundle-
gendsten Ressourcen, wie zum Beispiel Fahrzeugen oder
Funkgeräten, um gegen Kriminalität vorgehen zu kön-
nen, geschweige denn Ermittlungen anstellen zu können.
Dies trägt zu einer sehr niedrigen Arbeitsmoral und
einem hohen Korruptionsaufkommen unter den südsu-
danesischen Polizisten bei. Die Haftbedingungen in der
Polizeistation, insbesondere die Zustände in den Arrest-
zellen, sind katastrophal. Auch in unseren Debatten liegt
der Fokus oft auf der Armee. Eine zumindest einigerma-
ßen funktionierende Polizei wäre aber für die Menschen
vor Ort mindestens genauso wichtig. Davon sind aber
die Einrichtungen, die ich dort besucht habe, meilenweit
entfernt. Die internationale Staatengemeinschaft muss
dem dringend mehr Aufmerksamkeit widmen.
Wir verabschieden heute den zweiten interfraktionel-
len Antrag in dieser Legislaturperiode, der sich mit dem
Sudan bzw. Südsudan beschäftigt. Für mich ist es wich-
tig, dass wir dieses Thema immer wieder auf die Tages-
ordnung setzen und der Region Beachtung schenken.
Auch mit unserer Unterstützung wurde der Südsudan zu
einem unabhängigen Staat und zum 193. Mitglied der
Vereinten Nationen. Jetzt gilt es, unser Engagement fort-
zusetzen und dem Sudan und Südsudan noch stärker un-
ter die Arme zu greifen. Unser Ziel ist es, dass in Zukunft
zwei Nachbarstaaten entstehen, deren staatliche und
wirtschaftliche Entwicklung nachhaltige Erfolge zeigt
und die sich in einer stabilen Beziehung zueinander
befinden. Unser interfraktioneller Antrag ist hierfür ein
weiterer wichtiger Schritt.
Zuallererst möchte ich meiner Freude Ausdruck ver-leihen, dass es gelungen ist, einen interfraktionellen An-trag zur äußerst schwierigen und komplexen Situationzwischen Sudan und Südsudan zu verabreden. Aus-drücklich möchte ich mich bei allen Beteiligten dafürbedanken. Das ist, wie ich glaube, ein sehr wichtiges,aber auch notwendiges Signal an alle, die die Menschenim Sudan und Südsudan unterstützen wollen, und für dieMenschen dort selbst.Gerade jetzt ist es richtig und wichtig, diese Regionwieder in das Bewusstsein der Menschen zu rufen und inZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22549
Christoph Strässer
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das Zentrum der politischen Debatte zu rücken, dasnicht zuletzt deshalb, weil der Konflikt sich in den ver-gangenen Wochen immer weiter verschärft hat. DieSituation ist immer noch sehr kritisch und anfällig. Am10. April eskalierten die militärischen Auseinanderset-zungen, und die Intensität der Auseinandersetzungen be-wog viele Beobachter dazu, bereits von kriegerischenVerhältnissen zu sprechen. Die Gründe dafür sind kom-plex und werden in unserem gemeinsamen Antrag aus-führlich dargestellt. Ein Hauptproblem ist, dass überden künftigen Status der sudanesischen BundesstaatenBlauer Nil und Südkordofan keine Entscheidungen inSicht sind. Offen sind weiterhin die Aufteilung der Ein-nahmen aus den Öl-Ressourcen sowie der genaueGrenzverlauf zwischen Nord und Süd. Das humanitäreLeid der Bevölkerung, insbesondere in den Bundesstaa-ten Blauer Nil und Südkordofan, nimmt als Folge der ge-walttätigen Auseinandersetzungen über diese Fragenstetig zu. Nach Angaben des UNHCR sind circa 185 000Flüchtlinge aus Südkordofan und Blauer Nil nachSüdsudan und Äthiopien geflohen. Mehr als 400 000Personen sind vertrieben worden. Aufgrund andauern-der bewaffneter Konflikte sowie Nahrungsmittel- undWasserknappheit können Flüchtlinge den Sudan nichtverlassen, um sich in Sicherheit zu bringen. Der Zugangzu den umkämpften Regionen ist internationalen huma-nitären Organisationen durch die sudanesische Regie-rung bisher untersagt. Aufrufen der Vereinten Nationen,der Afrika-nischen Union und der Arabischen Liga, denhumanitären Zugang zu gewähren, ist die sudanesischeRegierung bisher nicht nachgekommen. Vor diesem Hin-tergrund verdient die Lage im Sudan und der Regiondringende verstärkte Aufmerksamkeit.In dieser sehr schwierigen Situation ist es notwendig,die Bundesregierung aufzurufen, die Resolution 2046
des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen vom
2. Mai 2012 und den Friedensfahrplan der Afrikani-schen Union zur Lösung der Konflikte zwischen Sudanund Südsudan tatkräftig mit allen Mitteln zu unterstüt-zen. Auch ist es richtig und wichtig, dass wir gemeinsamdie Bundesregierung aufrufen, sich im VN-Sicherheits-rat weiterhin für robuste und der jeweiligen Situationangemessene Mandate starkzumachen, um ein flexiblesEingreifen der VN-Friedensmissionen vor Ort zu ermög-lichen. Ohne hierbei die Richtigkeit dieser Forderungoder den Antrag als Ganzes infrage stellen zu wollen,wäre es natürlich wünschenswert gewesen, die RolleDeutschlands in diesem Zusammenhang etwas intensi-ver und konkreter zu diskutieren.Aus Sicht der SPD-Fraktion ist unser friedens- undsicherheitspolitisches Engagement im Südsudan deut-lich verbesserungsfähig und -würdig. Die momentaneLaptop Botschaft in Juba mit einem Botschafter, einereigentlich schon pensionierten Verwaltungskraft, einerdeutschen Ortskraft und zwei Fahrern ist unangemessenund entspricht unter keinen Umständen den zur Unab-hängigkeit gemachten Zusagen. Insbesondere den im-mer wieder aus dem Parlament zu Recht eingefordertenMöglichkeiten und Notwendigkeiten aktiver Krisenprä-vention bzw. Konfliktbearbeitung kann damit nicht ent-sprochen werden.Von besonderer Bedeutung ist es, dass unser gemein-samer Antrag Sudan und Südsudan als zwei eigen-ständige souveräne Staaten mit einer eigenständigenAußen- und Sicherheitspolitik behandelt und eine dem-entsprechende Analyse der Lage, aber auch angemes-sene Forderungen enthält. Das klingt zwar ein Jahr nachdem vollzogenen Schritt selbstverständlich, hat aber lei-der immer noch nicht durchgehend Eingang gefunden indie alltägliche Praxis des Regierungshandelns. So ist esbedeutsam und nicht überflüssig, dass wir gemeinsammit der Regierungskoalition dazu aufrufen, dass auch dieBundesrepublik eine eigenständige Politik gegenüberden zwei UN-Mitgliedsländern Südsudan und Sudan um-setzen und dafür differenzierte Konzepte und Strategienerarbeiten sollte.Wichtig ist zudem die von vielen NGOs formulierteForderung, gemeinsam mit unseren EU-Partnern ein ko-härentes Regionalkonzept für den Umgang mit Sudanund Südsudan zu entwickeln, das auch die unterschiedli-chen Rollen und Interessen der Länder in der Region be-achtet, auf die Stabilisierung der Region abzielt sowiedie Stärkung von Demokratie und Menschenrechten an-gesichts schwacher staatlicher Strukturen berücksich-tigt.Alle diese Forderungen und Aktivitäten sind richtig,und es gilt, sie weiterzuverfolgen, wo doch gerade dieAuseinandersetzungen zwischen Nord- und Südsudan,die humanitäre sowie die menschenrechtlich desaströseLage ein gemeinsames Handeln erfordern. Aber machenwir uns nichts vor: Unser Antrag kann nur ein ersterkleiner Schritt sein, wenn die Bundesregierung diesendenn überhaupt zu gehen bereit ist. Ich hoffe das imGeiste unseres gemeinsamen Vorgehens sehr.Abgesehen von unserem derzeitigen Antrag solltenwir bei einer weiteren Eskalation der Situation aberauch über weitreichende Maßnahmen nachdenken. Eswäre überlegenswert, UNMISS nicht nur im Landesin-neren, sondern gerade auch in den Grenzregionen einzu-setzen. Denn es ist unübersehbar, dass sich die Situationseit der Mandatsentscheidung dramatisch verändert hat.Ist seinerzeit dieses Mandat auf der Grundlage der Ent-wicklung friedlicher Beziehungen verabschiedet wor-den, so muss es bei der Verlängerung darum gehen, dasMandat den veränderten Bedingungen anzupassen unddie dafür nötigen Mittel bereitzustellen. Wir fordern dieBundesregierung als Mitglied des Sicherheitsrates drin-gend auf, sich nachdrücklich für eine solche Verände-rung einzusetzen.Auch über den Einsatz von Sanktionsmechanismenmuss weiter nachgedacht werden. Wir sollten bei einerVerschlimmerung der Lage und bei fehlender Zusam-menarbeit bei der Deeskalation und Krisenbewältigungdurch die Eliten von Sudan und Südsudan in Erwägungziehen, deren Reisefreiheit einzuschränken. Damitkönnte man die Verantwortlichen persönlich treffen undzu Verhandlungen bewegen, insbesondere wenn derenFamilien sich im Ausland aufhalten, etwa in Ugandaoder Australien. Zu überlegen ist zudem, hochrangigeDelegationsreisen in die EU einzuschränken, solange eskeine substanziellen Verhandlungen zwischen Sudan undZu Protokoll gegebene Reden
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Christoph Strässer
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Südsudan gibt. All das sollte im Fall einer weiteren Es-kalation angedacht werden, auch um auf die Regierun-gen der Republik Sudan und des Südsudan einzuwirken,die Kultur der Straflosigkeit zu beenden, Prozesse gegenmutmaßliche Kriegsverbrecher zu eröffnen, laufendeVerfahren des IStGH zu unterstützen und mit dem IStGHzusammenzuarbeiten.Es ist ein gutes politische Signal, dass uns dieser in-terfraktionelle Antrag gelungen ist. Jetzt ist es an derBundesregierung, die Forderungen aus diesem bereitszweiten interfraktionellen Antrag nicht nur zur Kenntniszu nehmen, sondern auch umzusetzen. Ich hoffe, sie wirduns nicht enttäuschen; wir werden jedenfalls sehr inten-siv darüber wachen, dass das passiert, damit der Druckder Bundesregierung, der EU und der VN so bald wiemöglich zu einem nachhaltigen Frieden in der Regionführt, dass die Möglichkeiten des Staatsaufbaus insbe-sondere im Südsudan genutzt werden können.Wir wissen, dass dies ein schwieriger Weg ist, dernicht von außen allein gegangen werden kann. Deshalbsollten die Anstrengungen auch darauf gerichtet sein,vorhandene zivilgesellschaftliche Strukturen in beidenStaaten zu stärken, mit den Regionalorganisationen undder AU zusammenzuarbeiten, sie zu ermutigen, regio-nale Prozesse zur Friedensentwicklung und -stabilisie-rung in „African Ownership“ zu entwickeln und umzu-setzen, und sie dabei nachhaltig zu unterstützen.
Die dramatischen Ereignisse nach der Teilung vonSudan und Südsudan haben uns erschüttert. Die vergan-genen Monate haben gar befürchten lassen, dass sichdie Auseinandersetzung vollends entfesseln könnte. Vordiesem Hintergrund bin ich froh, dass wir heute, mitAusnahme der Linken, einen gemeinsamen Antrag aufder Basis des Koalitionsantrags beschließen. Ich freuemich, dass wir in konstruktiven Gesprächen zügig eineEinigung finden konnten. Es ist wichtig, dass der Bun-destag ein geschlossenes und somit entschlossenes Si-gnal an die Beteiligten im Sudan und Südsudan sendet.Ich möchte mich auch bei der Zivilgesellschaft – denNGOs – bedanken, die vor Ort, in Veranstaltungen hier-zulande und gemeinsam mit den Abgeordneten diesesHauses den schwierigen Entwicklungen im Sudan undSüdsudan unermüdlich zu entgegnen versucht.Wir alle fordern die Konfliktparteien auf, den geradeerst wieder aufgenommenen Verhandlungen eine echteChance zu geben. Die verbliebenen Fragen des umfas-senden Friedensabkommens müssen gelöst werden;denn das humanitäre Leid der Bevölkerung, insbeson-dere in den Bundesstaaten Blauer Nil und Südkordofan,ist unermesslich und nimmt weiter zu. Nach Angabenvon UNHCR sind circa 185 000 Flüchtlinge aus Süd-kordofan und Blauer Nil nach Südsudan und Äthiopiengeflohen. Mehr als 400 000 Personen sind vertriebenworden. Die Zahlen steigen stündlich.Der Zugang zu den umkämpften Regionen war inter-nationalen humanitären Organisationen durch die suda-nesische Regierung bisher untersagt. Die gestrigen Mel-dungen lassen jedoch hoffen; denn es scheint so, dassdie sudanesische Regierung im Zuge der Wiederauf-nahme der Verhandlungen den Aufrufen der VereintenNationen, der Afrikanischen Union, der ArabischenLiga und des UN-Sicherheitsrats nachgekommen undnun endlich doch bereit ist, den geforderten humanitä-ren Zugang zu gewähren.Gleichzeitig jedoch erreichen uns besorgniserre-gende Nachrichten über die Niederschlagung von Pro-testen in Khartoum. Politische Unfreiheit und die düs-tere ökonomische Lage, verschärft durch die im Zugedes Konflikts fehlenden Öleinnahmen, bringen die meistjungen Menschen auf die Straße. Ich warne die Regie-rung des Sudan davor, die für den morgigen Freitag an-gekündigte Großdemonstration niederzuschlagen. DieUnterdrückung von Demonstrationen ist ganz sicher derfalsche Weg.Deutschland unterstützt im Rahmen des Sudan-Kon-zepts die Vermittlungsbemühungen des African UnionHigh-Level Implementation Panel, AUHIP, unter Lei-tung von Thabo Mbeki. Wir setzen uns für einen ver-stärkten politischen Dialog zwischen Sudan und Südsu-dan, die Stärkung von Rechtsstaatlichkeit sowie dieDurchführung von Sicherheitssektorreformen in beidensudanesischen Staaten ein. Deutsche Soldaten in denVN-Friedensmissionen UNMISS und UNAMID leistenhier anerkannte Beiträge zur Stabilisierung der Lage inbeiden Staaten.An dieser Stelle will ich die Kritik von Amnesty Inter-national wiedergeben, das China, der Ukraine und demSudan vorwirft, die internen Konflikte im Südsudan mitWaffenlieferungen weiter anzuheizen. Die ohnehinschon angespannte Situation in der Region brauchtinternationale Unterstützung, die sich für einen fried-lichen Ausgang einsetzt – und die diesen nicht zusätzlicherschwert.Im Südsudan selbst liegt der Fokus auf dem Aufbaustaatlicher Strukturen und Institutionen. Es ist wichtig,die Führung im Südsudan eindringlich an die Verant-wortung gegenüber ihren Bürgern, egal welcher ethni-scher Zugehörigkeit, zu erinnern. Denn nötige politischeund administrative Strukturen, die für eine Bereitstel-lung öffentlicher Leistungen nötig wären, fehlen nachwie vor. So bleibt eine Friedensdividende auch für dieBevölkerung im Südsudan bisher aus. Hier muss sichder eine oder andere – auch hierzulande – an die eigeneNase fassen. Das Gut-Böse-Schema passt hier schonlange nicht mehr – und es war noch nie ratsam.Der Schlüssel zur langfristigen Stabilisierung derLage liegt, wie bereits angedeutet, im politischen Pro-zess. UNAMID, UNMISS und UNISFA sind wichtige,aber keine ausreichenden Beiträge der internationalenGemeinschaft, um die Menschen zu schützen und dauer-haften Frieden zu fördern. Alle drei Missionen könnennur erfolgreich sein, wenn sie auf einen tragfähigenWaffenstillstand sowie einen umfassenden Friedenspro-zess aufbauen können.Daher fordern wir die Bundesregierung auf, sich in-nerhalb der EU und VN, insbesondere im Dialog mit derZu Protokoll gegebene Reden
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Marina Schuster
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AU, für die Ausarbeitung einer gemeinsamen Strategiefür Sudan und Südsudan einzusetzen, die Wege zur poli-tischen Lösung der Darfur-Krise mit einschließt und dievollständige Umsetzung des umfassenden Friedensab-kommens sicherstellt.Seit Jahren begleiten die Bundesregierung und dasParlament Sudan und – seit dem vergangenen Jahr –Südsudan. Das Engagement in den verschiedensten Be-reichen findet sich auch im Sudan-Konzept wieder, aufdessen Basis wir den Weg der Zusammenarbeit fortset-zen wollen. Es muss nun aber an die Realität angepasstwerden. Wir haben zwei Staaten und eine Reihe von un-gelösten Problemen zwischen und innerhalb von Sudanund Südsudan, mit denen wir uns auseinandersetzenmüssen.Lassen Sie mich zum Schluss noch etwas zur Situationin Darfur sagen.Nach wie vor sind dort circa 2 Millionen Menschenvon humanitärer Hilfe abhängig. In den vergangenenMonaten gab es neue Auseinandersetzungen. Mit ande-ren Worten, die Sicherheits- und Menschenrechtslage inDarfur ist unverändert schlecht. Es ist daher wichtig,dass wir die Situation in Darfur aufgrund der Konflikt-lage zwischen den beiden Staaten nicht aus den Augenverlieren. Das mag aufgrund der komplexen Gemenge-lage und der trüben Aussichten in beiden Fällen nichtimmer leicht fallen. Doch sind wir es den Menschenschuldig, die Aufmerksamkeit aufrechtzuerhalten undunermüdlich nach neuen Lösungswegen zu suchen.
Die Lage in Sudan und Südsudan ist ernst. Über dievergangenen Monate hat sie sich dramatisch zugespitzt,und beide Staaten stehen am Abgrund eines Krieges, ei-nes Krieges, der leider fast schon absehbar war und derdurch eine andere Politik hätte verhindert werden kön-nen!Über die Lagebeschreibung sind wir uns immerhinalle weitestgehend einig. Der ungewöhnlich ausführli-che Feststellungsteil des vorliegenden Antrags vonCDU/CSU, SPD, FDP und Grünen ist in großen Teilendurchaus zutreffend, beschreibt die komplexe Lage undsuggeriert das Bild von relativer Ausgewogenheit. Sowerden Fehler, Versäumnisse und Herausforderungendes Sudan und Südsudan gleichermaßen beschrieben.Was ich aber vermisse, ist das Eingeständnis des ei-genen Versagens. Diese Ehrlichkeit hätte Ihnen, werteAntragsteller, als Ausgangspunkt Ihres Antrags gut zuGesicht gestanden. Auch nur so hätte dieser Antrag derAuftakt für eine echte Wende in der deutschen Sudan-Politik sein können.Was wir hier rund um diesen Antrag erleben, ist einePosse, die mit reichlich Skurrilitäten nicht gerade spar-sam umgeht. Zunächst bringt die Koalition diesen An-trag alleine ein – sichtbar mit heißer Nadel gestrickt:Schaut man sich den Forderungsteil einmal genauer an,so geht es hier um nichts weiter als eine Reproduktionund Bekräftigung dessen, was auch schon in der AnfangMai vom UN-Sicherheitsrat verabschiedeten Resolution2046 steht, einer Resolution, an der die Bundes-regierung als Mitglied des Sicherheitsrates selber betei-ligt war und zu der sie selbst in ihrer Antwort auf unserejüngste Kleine Anfrage sagt – ich zitiere: „Die Bundes-regierung unterstützt die Resolution 2046 … unddie darin enthaltenen Maßnahmen.“Ja, wenn dem so ist, wofür brauchen Sie denn danndiesen Antrag noch? Ich verrate es Ihnen: Sie trauen –mit Recht – der eigenen Regierung nicht zu, aus denschweren Fehlern der Vergangenheit zu lernen, ihre teilsfahrlässige Untätigkeit zu überwinden und nun ange-messen auf die Situation zu reagieren.Dann wird es immer abenteuerlicher: SPD undGrüne betteln in der ersten Lesung förmlich um eine Be-teiligung an diesem Antrag, den sie gleichzeitig kritisie-ren. Ihr Wunsch wurde ihnen von der Koalition gnädigerfüllt. Es soll ein Signal der Geschlossenheit des Bun-destages entstehen, wobei nicht einmal der Versuch un-ternommen wurde, die Linke mit einzubinden. Wir wis-sen, warum.Eine ehrliche Analyse würde ergeben, dass es unver-antwortlich war, entscheidende Fragen wie die desGrenzverlaufs, des Status der umstrittenen ProvinzenAbyei, Blauer Nil und Südkordofan, der Schuldenauftei-lung und -tilgung, des Status der Flüchtlinge, der Staats-bürgerschaftsfrage und der Entwaffnung und Demilita-risierung, nicht vor der Unabhängigkeit des Südsudanvor einem Jahr zu klären. Zudem wird fortgesetzt – auchim Forderungsteil Ihres Antrags – einseitig Stellung fürden Südsudan bezogen. Die Auswertung der Antwort aufunsere Kleine Anfrage unterstreicht: Während die Ent-wicklungszusammenarbeit mit dem Süden deutlich aus-gebaut werden soll, wird diese nach wie vor für den Nor-den ausgeschlossen – sowohl bilateral wie auchmultilateral über die Europäische Union. Das sindnichts anderes als Sanktionen, und – wie so häufig – lei-det darunter vor allem die einfache Bevölkerung undnicht das Regime.Für die Schuldenfrage präferiert die Bundesregie-rung die sogenannte Zero Option. Das bedeutet: Kom-plette Schuldenübernahme durch den Sudan bei gleich-zeitigem Erhalt von Ausgleichszahlungen vom Süden.Ein Schuldenerlass soll dann nur über die HIPC-Initia-tive des Internationalen Währungsfonds und der Welt-bank möglich sein. Das aber bringt strenge Auflagenund einen tiefgreifenden Eingriff in die sudanesischePolitik mit sich. Wir kennen das schon vom inakzepta-blen Auftreten der Troika in Griechenland.Es ist eine Bankrotterklärung und zeugt nicht geradevon Einfallsreichtum, wenn Sie nun von der Koalitioneinmütig mit SPD und Grünen hier nichts als einen Aus-bau ihrer bisher schon gescheiterten Politik fordern,also im Kern eine Ausweitung der bisher völlig wir-kungslosen UN-Militärmissionen und die Erteilung ei-nes Blankoschecks für robuste Mandate. Den Auslands-einsatz der Bundeswehr im Rahmen des UNMISS-Mandats lehnen wir ab und fordern den sofortigen Ab-zug aller deutschen Soldaten. Die Linke fordert die Wie-deraufnahme der Entwicklungszusammenarbeit mit demSudan, eine Ausweitung des deutschen Engagements inZu Protokoll gegebene Reden
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Niema Movassat
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den Bereichen ziviler Friedensdienst, Förderung derländlichen Entwicklung und die Unterstützung einer ra-schen Verhandlungslösung über alle noch strittigen Fra-gen zwischen beiden Staaten. Kurzum: Die Linke lehntein Weiter-so und damit auch diesen Antrag ab.Kerstin Müller (BÜNDNIS 90/DIE GRÜ-NEN):Die Lage zwischen Sudan und Südsudan hat sich wie-der dramatisch zugespitzt. Mit den jüngsten Kämpfenum die ölreiche Region Heglig ist eine neue Eskalations-stufe erreicht. Knapp ein Jahr nach der friedlichen Ab-spaltung des Südsudan drohen beide Länder wieder ineinen Krieg abzugleiten. Das dürfen wir nicht zulassen.Deshalb ist es richtig, dass wir heute mit dem neuen,nach einigen Veränderungen von uns, die die Koalitionaufgenommen hat – jetzt breit getragenen interfraktio-nellen Antrag zum Sudan und Südsudan ein gemeinsa-mes Zeichen setzen. Das erwartet die Sudan-Communityder Zivilgesellschaft von uns völlig zu Recht. Deshalbsteht meine Fraktion hinter dem Antrag und wird ihmheute zustimmen.Der Antrag soll ein Weckruf sein in Richtung Sudanund Südsudan, dass sie ihre Konflikte endlich friedlichlösen und den Friedensaufbau voranbringen, aber auchin Richtung der Bundesregierung und der internationa-len Gemeinschaft: Wir wollen sie nach unserem inter-fraktionellen Antrag von 2010 noch einmal daran erin-nern, dass sie weiter im Wort stehen, die Lösung derKonflikte und ihrer Ursachen intensiv zu unterstützen.Der Weckruf kommt keine Minute zu früh. In den öl-reichen Regionen Abyei und Heglig, über die Nuba-Berge bis hin zur Provinz Blauer Nil flammen immerwieder brutale Kämpfe zwischen Kräften des Nord- undSüdsudan auf, weil trotz klarer Vereinbarung im CPA derGrenzverlauf und die Aufteilung des Öls noch immer un-geklärt sind, die Volksabstimmungen in Abyei, Süd-kordofan und Blauer Nil einfach nicht stattfinden unddie Entwaffnung der Kämpfer deshalb scheitert.Hier geschehen schwerste Menschenrechtsverbre-chen: Tod, Vergewaltigungen und Vertreibung. Selbst„Ärzte ohne Grenzen“ hat keinen humanitären Zugang.Zehntausende Flüchtlinge suchen Schutz im Südsudan.Viele verdursten mittlerweile, weil oft die nötigen Mittelzur Versorgung der vielen kleinen Flüchtlingscamps feh-len.Diese Kämpfe müssen endlich beendet werden. Derhumanitäre Zugang muss sichergestellt werden. BeideSeiten müssen zurück an den Verhandlungstisch, um dieoffen gebliebenen Fragen des CPA schnell zu lösen, sowie es zuletzt die AU und der VN-Sicherheitsrat in seinerResolution 2046 klipp und klar verlangt haben.Die alte Kriegslogik muss endlich aus den Köpfen.Der Nordsudan muss die Eigenständigkeit des Südensuneingeschränkt anerkennen und im Südsudan muss diealte Denke enden, der Konflikt sei nur durch einen Re-gime-Change in Khartum zu lösen.Was wir dazu jetzt dringend brauchen, ist ein interna-tional gestützter Prozess im Geiste des CPA, der nichtbloß die Restanten, sondern auch künftige Herausforde-rungen wie Rüstungskontrolle, Streitkräfteabbau undvertrauensbildende Maßnahmen auf den Weg bringt.Beide Seiten stecken große Teile ihrer Ölrenten in dieAufrüstung und befeuern so die Gewaltspirale. Deshalbschlagen wir die Einrichtung einer regionalen Konfe-renz für Sicherheit und Zusammenarbeit vor, die durchgegenseitige Rüstungskontrolle die Wiederaufnahme derÖlexporte über den Sudan befördern kann, die seit Ja-nuar ausgesetzt sind. Das sollten Sie von der Bundesre-gierung bei der anstehenden Mandatsverlängerung derFriedensmission UNMISS im Sicherheitsrat auf denTisch legen.Gleichzeitig brauchen wir aber auch dringend neueStrategien, die den Reformprozess im Südsudan und imSudan für mehr Menschenrechtsschutz, Rechtsstaatlich-keit und demokratische Mitbestimmung in Gang brin-gen. Denn auch hier stehen die Zeichen schlecht. Refor-men gab es bislang keine, und der sozioökonomischeDruck hat gefährlich zugenommen. Im Südsudan heizenKorruption und blutige Verteilungskonflikte wie in Jon-glei die Konflikte an. Die geradezu suizidale Strategiedes Südsudan, die Ölexporte in den Sudan zu stoppen,bringt den Kessel bald zum Bersten. Seither fehlen rund98 Prozent der Staatseinnahmen.Hier ist nicht nur die Regierung in Juba, sondern hiersind auch Sie von der Bundesregierung in der Verant-wortung. Soll der Friedensaufbau eine Chance haben,dann müssen Sie diesen viel systematischer unterstützen.Sie müssen im Sicherheitsrat dazu beitragen, dassUNMISS endlich voll einsatzfähig ist. Hier fehlt nochimmer jeder vierte Mitarbeiter, bei der Polizei sogar je-der zweite. Wir brauchen auch dringend eine institutio-nalisierte Koordination zwischen UNMIS, UNISFA undUNAMID.Und Sie müssen auch endlich die Ergebnisse der Er-kundungsmission des BMZ und der GIZ von 2011 umset-zen. Wir brauchen dringend gemeinsame Länderstrate-gien für Südsudan und für Sudan, die auch die GIZ undKfW binden. Es spricht schon Bände, dass ausgerechnetdie Ergebnisse der Mission des BMZ und der GIZ alsVerschlusssache in der Schreibtischschublade ver-schwinden. Das ist das Gegenteil einer kohärenten res-sortübergreifenden Politik. Ich bedaure es deshalb sehr,dass wir in diesem Punkt keine Einigung im Antrag er-zielen konnten.Zur Frage der Kohärenz der deutschen Politik gehörtes auch, dass Deutschland noch immer nur mit einerLaptop-Botschaft in Juba vertreten ist. Wenn wir dasPersonal nicht erheblich aufstocken, so wie es zum Bei-spiel die Niederländer geschafft haben, dann bekommtDeutschland keine koordinierte Unterstützung für denFriedensaufbau hin – ganz abgesehen von dem verhee-renden politischen Signal an die Regierung in Juba.Ähnlich dramatisch ist die Lage auch im Sudan. Auchhier steigt der Druck wegen des Ölembargos aus demSüden, der schlechten Wirtschaftslage mit 30 Prozent In-flation und des politischen Reformstillstands. Die Kür-zungen von Brot- und Benzinsubventionen treiben immermehr Menschen auf die Straße. Einige fordern bereits of-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22553
Kerstin Müller
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fen den Abtritt des Baschir-Regimes. Sie wollen einenarabischen Frühling auch im Sudan.Wir müssen aufpassen, dass wir morgen nicht vor ei-nem zweiten Syrien im Sudan stehen. Wie sein FreundAssad versucht auch Baschir, die Proteste mit Gewalt zuersticken, bislang noch überwiegend mit Tränengas undSchlagstöcken. Doch Darfur sollte uns Warnung genugsein: Es geht auch anders. Baschir ist zu allen Verbre-chen bereit, wenn es um seinen Machterhalt geht.Deshalb ist es jetzt umso wichtiger, dass wir auch Re-formprozesse im Sudan viel energischer einfordern undkonkrete Unterstützung anbieten. Aber ich sage auchganz klar: Wir dürfen dabei den Haftbefehl des IStGHgegen Baschir nicht ignorieren.Ich hoffe sehr, dass der Antrag heute, ähnlich wie2010, die Bundesregierung wachrüttelt und zu einerKursänderung bewegt. Die Menschen im Sudan hoffenauf die deutsche Unterstützung. Enttäuschen wir sienicht!
Wir kommen zur Abstimmung über den Antrag der
Fraktionen CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die
Grünen auf Drucksache 17/10095. Wer stimmt für die-
sen Antrag? – Wer stimmt dagegen? – Der Antrag ist an-
genommen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 36 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Beglei-
tung der Verordnung Nr. 260/2012 zur
Festlegung der technischen Vorschriften und
der Geschäftsanforderungen für Überweisun-
gen und Lastschriften in Euro und zur Ände-
rung der Verordnung Nr. 924/2009
– Drucksache 17/10038 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Ernährung, Landwirtschaft und
Verbraucherschutz
Ausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, nehmen wir
auch hier die Reden zu Protokoll.
Heute wird über das Begleitgesetz zur Umsetzung derSEPA-Verordnung in deutsches Recht diskutiert. SEPAschafft einen einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrs-raum; die Umsetzung ist eines der wichtigsten Gesetzeder letzten Jahre zur Harmonisierung des europäischenBinnenmarkts für Zahlungsdienstleistungen.Die SEPA-Verordnung ist ein essenzieller Bestandteilzur weiteren Integration in der Europäischen Union.Zahlungssysteme sollen damit an die Wirklichkeit grenz-überschreitende Zahlungsströme angepasst werden.Einheitliche Regelungen auf europäischer Ebene sindgerade im Hinblick auf die zunehmende Bedeutung bar-geldloser Zahlungen, wie Überweisungen und Last-schriften, hier sinnvoll.Die Europäische Kommission legte mit ihrem Verord-nungsvorschlag vom 16. Dezember 2010, in dem sie dieneuen technischen Vorschriften für Überweisungen undLastschriften vorgibt, den Grundstein zur Vereinheit-lichung des Zahlungsverkehrs innerhalb der Euro-Zoneund der gesamten Europäischen Union. Ziel der Verord-nung ist es, inländische und grenzüberschreitende Zah-lungen innerhalb Europas einfacher, schneller und da-mit effizienter zu machen. Dieser Gesetzentwurf stellteeinen wichtigen Schritt zu einer reibungslosen Umstel-lung der bisherigen Zahlungsverfahren der Überwei-sung und Lastschrift auf die entsprechenden und soge-nannten SEPA-Verfahren dar.Die Verordnung beendet damit das kostenintensiveNebeneinander von inländischen Zahlungsverkehrspro-dukten. SEPA wird zu einer Vereinfachung und Vergüns-tigung für die Verbraucher und die Industrie führen.Für Unternehmen, die ihren Kunden die Bezahlungper Überweisung oder Lastschrift anbieten, ist dieSEPA-Verordnung mit einer technischen Umstellung, diebis zum 1. Februar 2014 vorgenommen werden muss,verbunden. Durch diese Umstellung wird eine vollauto-matisierte Verarbeitung des Zahlungsprozesses ermög-licht. Darüber hinaus müssen Unternehmen künftig beiVertragsabschlüssen nach dem 1. Februar 2014 soge-nannte SEPA-Mandate verwenden. Bisher erteilte Ein-zugsermächtigungen werden aufgrund der Änderungder Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Banken au-tomatisch auf SEPA-Mandate umgestellt. Durch dieKontinuitätsregelung der Verordnung ist die weitereGültigkeit der bisher erteilten Mandate sichergestellt.Unternehmen können daher auf die Neueinholung vonSEPA-Mandaten für Kunden, die bisher per Lastschriftbezahlt haben, verzichten. Dies ist auch ein wichtigerPunkt für unsere Vereine, die weiterhin mit den bereitserteilten Einzugsermächtigungen ihre Beiträge einzie-hen könnnen.Der Vorschlag der Kommission enthielt jedoch einigeRegelungsbereiche, die nicht unseren Vorstellungen ent-sprachen. Wir, die Koalitionsfraktionen, forderten dahermit unserem Antrag „Den Europäischen Zahlungsver-kehr bürgerfreundlich gestalten“ vom 11. Mai 2011 dieBundesregierung auf, sich für die Lösung der spezifi-schen Umstellungsprobleme, die sich in Deutschland alsgrößtem Zahlungsmarkt innerhalb der EuropäischenUnion und als größtem Nutzer des Lastschriftverfahrensergeben, einzusetzen.Der Bundesregierung ist es bei den schwierigen Ver-handlungen auf europäischer Ebene gelungen, sich mitnahezu allen Forderungen der christlich-liberalen Ko-alition durchzusetzen. Die Trilog-Verhandlungen habendabei ebenfalls gezeigt, dass sich kein anderes Mit-gliedsland so vehement für die Verbraucher- und End-nutzerinteressen eingesetzt hat wie Deutschland – unddas mit großem Erfolg!Aufgrund dessen konnten die automatische Mandats-migration nach Art. 7 der Verordnung, das befristete An-
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Peter Aumer
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bieten von Konvertierungsdienstleistungen nach Art. 16Abs. 1 der Verordnung und die Weiternutzung des Elek-tronischen Lastschriftverfahrens für eine Übergangszeitnach Art. 16 Abs. 4 der Verordnung in den Rechtsaktaufgenommen werden.Nach dem Abschluss der Trilog-Verhandlungen ist dieeuropäische SEPA-Verordnung schließlich am 31. März2012 in Kraft getreten. Überweisungen und Lastschrif-ten müssen nun ab dem 1. Februar 2014 einheitlichrechtlichen und technischen Anforderungen im europäi-schen Zahlungsraum genügen. Ab diesem Zeitpunkt sindentsprechende bargeldlose Zahlungen grundsätzlich nurnoch im Wege der SEPA-Überweisung und -Lastschriftmöglich.Zur Flankierung der Implementierung der SEPA-Ver-ordnung in Deutschland veröffentlichte das Bundeskabi-nett am 25. April 2012 den Entwurf des SEPA-Begleitge-setzes, über den wir heute diskutieren. Mit diesem sollendie durch nationale Regelungen ausfüllungsbedürftigenNormen der Verordnung ergänzt werden, wie zum Bei-spiel die Festlegung der zuständigen Behörde, Bußgeld-tatbestände und Schlichtungsverfahren.Zudem soll mit diesem Gesetzesvorschlag von ein-zelnen optionalen Übergangsbestimmungen Gebrauchgemacht werden. Privatkunden erhalten somit dieMöglichkeit, die ihnen geläufige Kontonummer undBankleitzahl bis zum 1. Februar 2016 weiter zu verwen-den. Banken und Sparkassen dürfen ihren Privatkundenbis zu diesem Zeitpunkt für Inlandszahlungen Konvertie-rungsdienstleistungen für Kontokennungen kostenloszur Verfügung stellen. Hierbei handelt es sich um Pro-gramme, die die wie üblich eingegebene Kontonummerund Bankleitzahl „im Hintergrund“ in das neue IBAN-Format umwandeln. Kundinnen und Kunden bemerkenvon dieser Umwandlung nichts.Ab dem 1. Februar 2016 gilt ausschließlich die inter-
schenden Elektronischen Lastschriftverfahrens wird esaufgrund des Verhandlungserfolgs der Bundesregierungebenfalls zu einer Übergangsbestimmung kommen. Auf-grund dieser Sonderregelung kann das ELV bis zum1. Februar 2016 weitergeführt werden. Ohne diese Son-derregelung des SEPA-Begleitgesetzes müsste das Elek-tronische Lastschriftverfahren zum 1. Februar 2014 ein-gestellt werden.Die Umstellung auf die neuen SEPA-Produkte ist füralle Verbraucher kostenlos. EC- und Kreditkarten wer-den beim turnusgemäßen Kartenaustausch mit derneuen IBAN-Kennzeichnung versehen.Durch diese Regelungen soll eine für die Verbraucherund Endnutzer interessensgerechte und reibungsloseUmstellung der bisherigen nationalen Zahlungsinstru-mente auf die neuen SEPA-Zahlungsinstrumente sicher-gestellt sein. Für eine effektive Umsetzung wird es eben-falls auf eine rechtzeitige und verbraucherfreundlicheIT-Unterstützung ankommen. Neben diesen gesetzgebe-rischen Maßnahmen ist die Bundesregierung zusammenmit der Deutschen Bundesbank im Rahmen des Deut-schen SEPA-Rats im regen Austausch mit Vertretern derAnbieter- und Endnutzerseite. Ziel ist es dabei, die In-formationslage sowie die Kommunikation zwischen denbeteiligten Parteien zu verbessern.Wieder einmal hat sich gezeigt, dass sich der Einsatzder Regierungskoalitionen der CDU/CSU und FDP be-zahlt gemacht hat. Wir konnten für unsere Bürgerinnenund Bürger sowie für unsere Unternehmen einen deut-lichen Erfolg bei den Verhandlungen auf europäischerEbene erreichen. Mit dem SEPA-Begleitgesetz setzen wirdiese Verordnung in deutsches Recht um und machen da-mit den Weg für einen einheitliche Europäischen Zah-lungsraum frei.
Am 31. März 2012 ist die europäische SEPA-Verord-nung in Kraft getreten, die einheitliche rechtliche undtechnische Anforderungen für Lastschriften und für deneinheitlichen europäischen Zahlungsraum vorschreibt.Zum 1. Februar 2014 heißt es deshalb Abschied nehmenvon altbewährten deutschen Überweisungs- und Last-schriftverfahren. Fortan werden solche Zahlungengrundsätzlich nur gemäß den entsprechenden SEPA-Standards möglich sein. Eine an sich sinnvolle Neue-rung, mit der sich jedoch viele Menschen in Deutschlandnoch nicht so recht anfreunden konnten. Erfahrungsge-mäß brauchen solche Umstellungen ihre Zeit.Wir beraten heute in erster Lesung das SEPA-Begleit-gesetz, mit dem Deutschland von einzelnen Übergangs-bestimmungen der EU-Verordnung Gebrauch macht, dieim Zuge der Verhandlungen des vergangenen Jahreszwischen Berlin und Brüssel vereinbart werden konnten.Noch einmal: Das Ziel, einen einheitlichen Eurozah-lungsraum anzustreben, ist richtig. Gleichzeitig mussuns allen aber daran gelegen sein, die SEPA-Umstellungfür die Menschen in Deutschland so komfortabel undverbraucherfreundlich wie möglich zu gestalten. Dazuleistet das Begleitgesetz einen Beitrag, auch wenn wiralle uns gewünscht hätten, dass die Bundesregierung esgeschafft hätte, im Ringen mit den europäischen Part-nern weiter gehendende Zugeständnisse zu erzielen.Der bisherige Weg zum SEPA-Zahlungsraum war– freundlich ausgedrückt – holprig. Das gesamte Vorha-ben stieß in der Bevölkerung auf massiven Gegenwind.Vor allem angesichts der gravierenden Befürchtungenunserer Vereine, die Umstellung auf SEPA könne es not-wendig machen, sämtliche Einzugsermächtigungen neueinholen zu müssen. Das konnten wir abwenden, und dasist auch gut so.Zeitweise konnte einem SEPA wie ein ungeliebtesStiefkind vorkommen. Ich denke da zum Beispiel an denVorsitzenden des Europaaussschusses, den CDU-Kolle-gen Krichbaum, der SEPA in der Ausschusssitzung am11. Mai 2011 als „größten Schwachsinn aller Zeiten“bezeichnete, während seine Fraktion zeitgleich von ei-nem „wichtigen Baustein für einen harmonisierten Bin-nenmarkt“ sprach. Ich sage ganz klar: Das war billig,populistisch und nicht im Sinne einer vernünftigen De-batte, die auch von dosierter Kritik an den richtigenZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22555
Martin Gerster
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Stellen lebt. Deshalb zurück zur Sache und zu den Fort-schritten, die konkret erzielt werden konnten und die mitdem Begleitgesetz umgesetzt werden:Privatkunden steht die Möglichkeit offen, ihre alte,wohlvertraute Kontonummer und Bankleitzahl bis zum1. Februar 2016 weiter zu verwenden. Banken und Spar-kassen können Privatkunden bis dahin kostenlose Kon-vertierungsdienstleistungen anbieten, um Kontokennun-gen für Inlandszahlungen bequem und ohne Aufwand fürden Kunden in das neue IBAN-Format umwandeln.Ab dem 1. Februar 2016 gilt dann ausschließlich dieinternationale Kontokennung IBAN, International BankAccount Number. Auch wird das in Deutschland be-währte elektronische Lastschriftverfahren aufgrund ei-ner Sonderregelung bis zu diesem Stichtag weitergeführtwerden können. Wir hätten uns hier mehr gewünscht –aber immerhin.Mit der fraktionsübergreifenden, gemeinsamen Er-klärung „Europäischen Zahlungsverkehr bürgerfreund-lich gestalten“, konnten wir, so meine ich, ein wichtigesSignal setzen, um den spezifischen deutschen Interessenim SEPA-Prozess mehr Nachdruck zu verleihen. In denÜbergangsregelungen des Begleitgesetzes finden sichdiese Signale wieder.Überdies beinhaltet das Gesetz technische Regelungen,deren Umsetzung die SEPA-Verordnung vorschreibt. Sogilt es seitens des Gesetzgebers, Behörden zu benennen,die die Einhaltung der Verordnung überwachen sollen,und Sanktionen festzulegen, wenn dagegen verstoßenwird. In Deutschland wird die Bundesanstalt für Finanz-dienstleitungsaufsicht für die Überwachung zuständigsein.Zudem müssen angemessene und wirksame außerge-richtliche Beschwerde- und Rechtsbehelfsverfahren ge-schaffen werden, was durch Ergänzung des Schlich-tungsverfahrens nach § 14 Unterlassungsklagengesetzgeschieht. Und schließlich müssen bundesgesetzlicheRegeln dort angepasst werden, wo sie explizit auf im In-land anzusiedelnde Konten abgestellt sind, was der Ideedes freien Zahlungsverkehrs im einheitlichen Euro-Zah-lungsraum widerspricht.Wenn uns SEPA etwas gelehrt hat, dann, dass sichauch hier das ursprünglich in die Kräfte des Markts ge-setzte Vertrauen nicht ausgezahlt hat. Dass überhaupteine EU-Verordnung zur Vereinheitlichung des Zah-lungsmarkts bei Lastschriften und Überweisungen not-wendig wurde, war der Tatsache geschuldet, dass sichdie im Vorfeld herrschenden Hoffnungen auf einenmarktgesteuerten Prozess nicht annähernd erfüllt ha-ben. Dabei war es die europäische Bankenindustrieselbst, die diesen Prozess über den European PaymentsCouncil angestoßen hatte. Es ist schade, dass gerade dieBranchen, in denen sich die positiven Auswirkungen derVereinfachungen besonders bemerkbar machen dürften,ein wenig in Deckung gegangen sind, nachdem der Ballim Spielfeld der nationalen Politik lag. Insofern findeich es richtig, dass die betroffenen Wirtschaftszweigeseit dem vergangenen Jahr auch über den nationalenSEPA-Rat die Möglichkeit haben, an der erfolgreichenVermittlung der anstehenden Änderungen mitzuwirken.Ein Beispiel: Ein Grund für die Furcht vor SEPA wardie – mitunter ziemlich überzeichnete – Debatte um die22-stellige IBAN als vereinheitlichter Kontonummer, diemit der Umsetzung von SEPA obligatorisch wird, einmalabgesehen davon, dass auch „IBAN, die Schreckliche“sich zu einem Großteil aus der bekannten Zahlenkombi-nation von Kontonummer und Bankleitzahl zusammen-setzt und lediglich vier Stellen hinzukommen. Dabeihandelt es sich um einen Ländercode und eine zweistel-lige Prüfziffer, die es beispielsweise erlauben sollte,Fehlbuchungen schneller zu identifizieren und zu ver-meiden. Auch das sind Vorteile, die in der öffentlichenDebatte zu wenig beachtet wurden. Hier können wir mit-hilfe der am Markt aktiven Akteure tatsächlich auch dasöffentliche Bild geraderücken.Vor diesem Hintergrund können wir die mit dem Be-gleitgesetz umzusetzenden Fortschritte als SPD-Bundes-tagsfraktion unterstützen.Die Diskussionen um die SEPA-Lastschriften undÜberweisungen sollten wir als Anstoß für einen Lern-prozess nutzen; denn auf dem Weg zum einheitlichenEuro-Zahlungsraum warten weitere Etappen, wenn esum Karten-, Internet- und Mobilzahlungen geht. Das hatuns auch die Auseinandersetzung mit dem diesbezüg-lichen Grünbuch der EU-Kommission gezeigt. Die SPD-Bundestagsfraktion wird sich auch auf diesem Gebiet fürverbraucherfreundliche Lösungen einsetzen. Wir sindgespannt, welche Schritte die Bundesregierung auf die-sem Weg einzuschlagen gedenkt.
Im letzten Jahr haben wir der Regierung für ihre Ver-handlungen in Brüssel aufgegeben, bei der Verordnungüber die Vereinheitlichung des europäischen Lastschrift-und Überweisungsverkehr auf dreierlei zu achten. Ers-tens sollte sie auf eine lange Frist hinwirken. Nötig warein komfortabler Zeitraum für die Überführung des ge-wachsenen deutschen Zahlungsverkehrs unter dasRegime des europäischen Rechts. Zweitens sollte dasdeutsche Lastschriftverfahren als typisch deutsches Ge-wächs erhalten bleiben. Drittens sollte das hohe Schutz-niveau gewahrt bleiben, das unsere Rechtsprechung fürdie Nutzer des deutschen Lastschriftverkehrs entwickelthat. Das war nötig, damit die Ablösung des über Ver-tragsrecht gewachsenen Lastschriftverkehrs durch einengesetzlichen Rahmen nicht scheitert.Unsere Vorgaben, so muss man sagen, haben erfreuli-cherweise guten Niederschlag in der nun vorliegendenVerordnung gefunden. Die Regierung hat auftragsge-mäß eine lange Übergangsfrist für das elektronischeLastschriftverfahren erreicht und schöpft diese auch inihrem Entwurf des Begleitgesetzes bestmöglich aus. Biszum 1. Februar 2016 ist nun Zeit. Das gibt der BrancheZeit, für die Akzeptanz ihrer neuen SEPA-Produkte zusorgen und Alternativen zum elektronischen Lastschrift-verkehr zu entwickeln. Das ist sinnvoll, stärkt die Akzep-tanz von SEPA und sorgt für eine reibungslose Umstel-lung. Auch unser wichtigster Punkt wurde umgesetzt, dieZu Protokoll gegebene Reden
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22556 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Frank Schäffler
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Beibehaltung des von der Rechtsprechung entwickeltenSchutzniveaus. Die Rückgabe von Lastschriften ist fürdie Verbraucher in langen Fristen und gebührenfreimöglich. Wir wollten nicht, dass über den europäischenUmweg dieses Schutzniveau abgeschafft wird.Gleichwohl bleiben Änderungen am Entwurf der Re-gierung zu überlegen und im folgenden Verfahren auf ih-ren Nutzen und mögliche Kosten abzuwägen. Eines die-ser Probleme könnte für die Nutzung von Lastschriftenim Internet entstehen. Es besteht die Gefahr, dass ab2014 nur noch papiergebundene Lastschriftmandate er-teilt werden können. Das beeinträchtigt den über das In-ternet stattfindenden Geschäftsverkehr, weil Verbrau-cher auf Kreditkarten und andere Zahlungsdienstleisterausweichen werden. Es kann sein, dass wir hier durchAufweichung des Schriftformerfordernisses nachbessernmüssen, um den Verbrauchern Wahlfreiheit zu erhalten.Auch die Baugruben auf den anderen kleinen Baustel-len werden wir gemeinsam zuschütten. Nach der Som-merpause werden wir das Gesetz in den Ausschüssen be-raten und zu einer guten und rechtssicheren Lösungkommen.
Es ist ohne Zweifel sinnvoll, einen einheitlichen Euro-Zahlungsverkehrsraum zu schaffen. Indem man bargeld-lose Zahlungsverfahren in den Teilnehmerländern stan-dardisiert, soll es für Bankkunden keine Unterschiedemehr zwischen nationalen und grenzüberschreitendenZahlungen geben. In der Tat: Dies wäre gut für die Ver-braucherinnen und Verbraucher.Es fällt mir gewiss nicht leicht, die Bundesregierungzu loben. Aber sie hat auf europäischer Ebene erreicht,dass verbraucherschutzrelevante Übergangsregelungenfestgeschrieben wurden: erstens für die Weiternutzungdes in Deutschland weit verbreiteten und gut funktionie-renden elektronischen Lastschriftverfahrens und zwei-tens für die Zurverfügungstellung kostenloser Konver-tierungsleistungen bezüglich Kontokennungen, damitbisherige Kontonummern für Inlandszahlungen weiter-genutzt werden können. Die Übergangszeit endet am 1. Fe-bruar 2016.Das bedingungslose Rückgaberecht für Abbuchungenvom eigenen Konto durch Lastschrift war uns ebenfallswichtig. Genauso wichtig war, dass bei bestehendenEinzugsermächtigungen die Neueinholung von Manda-ten in vollem Umfang vermieden wird. Ich begrüßeauch, dass von Übergangsbestimmungen für sogenanntealternative Lastschriftverfahren, nationale Nischenpro-dukte mit einem Marktanteil von weniger als 10 Prozent,kein Gebrauch gemacht wird. Schließlich kann man er-leichtert sein, dass uns der sogenannte BIC, ein interna-tional standardisierter Bank Identifier Code, wohl nurbis 2014 erhalten bleibt. Dies sorgt für Vereinfachung imZahlungsverkehr.Vereinfachung und Gleichklang sind wünschenswert.Ein harmonisierter Zahlungsverkehrsbinnenmarkt, alsoeine Nivellierung, darf aber nicht zu einem Abwärts-wettlauf beitragen. Die deutsche elektronische Last-schrift, um einen Punkt herauszunehmen, ist technischausgereift, kostengünstig und effektiv. Sie darf nicht ein-fach kaputtnivelliert werden. Gleichwohl wollen wirkeine nationalen Inseln schaffen, sondern eine Harmo-nisierung, diese jedoch auf verbraucherfreundlichem,hohem Niveau.Was Sie nicht verhindern konnten, ist „IBAN, dieSchreckliche“. Es wird befürchtet, dass Bankkunden mitder 22-stelligen europäischen Kontonummer IBANschnell überfordert sind. Denn die Zahlen- und Buchsta-benflut ist fehleranfällig. Dies könnte gerade für ältereMenschen zum Problem werden. Eines ist klar: Unfrei-willig falsche Angaben dürfen nicht automatisch zulas-ten des Verbrauchers gehen. Das ist der Linken wichtig.Aber IBAN ist gar nicht so schrecklich: Durch die ge-normte IBAN können weltweit auf gleiche Weise dasKonto, die Bank und das Land eines Zahlungsempfän-gers ermittelt werden. Bisher gibt es einen verbraucher-feindlichen Flickenteppich an Verschlüsselungsartender Banken. Manche Länder haben separate Bankleit-zahlen, in anderen ist die Bankkennung in der Konto-nummer enthalten. Ich prognostiziere: Es kommt zueinem Gewöhnungsprozess, der nicht besonders drama-tisch verlaufen wird.Dramatisch für die Verbraucher ist jedoch das herr-schende Informationsdefizit. Dadurch wurden die Men-schen erst richtig verunsichert. So entstand auch dieseAbscheu vor der neuen Kontonummer. SEPA-Verfahrenwerden bislang nicht nur mäßig nachgefragt. Was hinterSEPA steckt, ist schlichtweg kaum bekannt. Hier rächt essich nun, dass Verbraucherverbände nicht frühzeitig inden gesamten SEPA-Prozess mit eingebunden wurden.Immerhin sitzen sie nun im neu geschaffenen SEPA-Rat.Die Informationskampagne von Bundesregierung undKreditwirtschaft kommt aber viel zu spät. Das haben Siegründlich verschlafen.Die Augen verschließen dürfen wir auch nicht vor derSituation der kleineren Geldinstitute: In der Vergangen-heit hat sich gezeigt, dass kleine Geldinstitute technischbisher schlechter für das SEPA-Verfahren gerüstet wa-ren als zum Beispiel die großen Privatbanken. Die Linkesetzt sich dafür ein, dass kleinere Institute bei der SEPA-Umstellung nicht benachteiligt werden. Unser Augen-merk muss gleichfalls darauf liegen, dass die SEPA-Um-stellung reibungslos und rechtssicher verläuft. Und nochwichtiger ist: Die Umstellung muss für die Verbrauchertatsächlich kostenfrei sein.Das Ziel des Begleitgesetzes soll eine für den Ver-braucher – ich zitiere – „interessengerechte Umstel-lung“ der bisherigen Verfahren sein. „Interessenge-recht“ bedeutet für mich: einfach, effektiv, sicher,umfassend gesetzlich geregelt und vor allem ohne zu-sätzliche Kosten.
dienstnutzer keine direkt oder indirekt mit der Konver-tierungsdienstleistung verknüpften zusätzlichen Entgelteoder sonstige Entgelte erheben.“ Das sehe auch ich so.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22557
Harald Koch
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Nur, wie wollen Sie mögliche indirekte Entgelte, die aufKunden überwälzt werden, erkennen und unterbinden?Eine geplante Marktanalyse für Lastschriften undÜberweisungen reicht bei Weitem nicht aus. Kann mandann durch Aufsicht und Kontrolle versteckte Kostener-höhungen vermeiden? Die Bundesanstalt für Finanz-dienstleistungsaufsicht, BaFin, soll als national zustän-dige Behörde überwachen, ob die Zahlungsdienstleisterihre Pflichten bei der Umstellung einhalten. Doch nebenden Pflichten gibt es einige Regelungen, die von denKreditinstituten nur freiwillig umzusetzen sind.Die Prüfungsberichtsverordnung wird zugleich da-hingehend geändert, dass bei Kreditinstituten der Ab-schlussprüfer, zum Beispiel ein Wirtschaftsprüfer, beur-teilen soll, ob die vom Kreditinstitut getroffenen internenVorkehrungen den Anforderungen der SEPA-Verordnung
Nr. 924/2009, kurz: SEPA-Verordnung, in Kraft.
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22558 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22559
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22560 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22561
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22562 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22563
(C)
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Mit dem vorliegenden Antrag zum Verhältnis vonSportgroßveranstaltungen und Menschenrechten betre-ten wir politisches Neuland. Es wird zum ersten Mal imparlamentarischen Bereich ein wirkungsvoller Versuchgemacht, einen modernen Lösungsweg zu skizzieren.Wir setzen uns für eine Lösung ein, die sowohl der gro-ßen Bedeutung von Sportgroßveranstaltungen Rechnungträgt als auch der Universalität der Menschenrechte zustärkerer Geltung verhelfen möchte.Ganz bewusst haben wir unseren Antrag vor demHintergrund der Fußballeuropameisterschaft in Polenund der Ukraine eingebracht. Besonders die politischeSituation in der Ukraine steht in den letzten Monaten imFokus von Politik und Öffentlichkeit. Es gibt in derUkraine undemokratische Zustände in einigen Berei-chen. Wir müssen zahlreiche Fälle von politisch moti-vierter Justiz feststellen. Daher lehnen wir einen Fuß-balltourismus der Politik zugunsten von PräsidentJanukowitsch ab. Wir setzen auf deutliche und vernehm-liche Kritik statt auf Fanklatscherei auf der Ehrentri-büne.Lassen Sie mich zu den sportpolitischen Aspekten un-seres Antrages kommen. Wir müssen in den letzten Jah-ren eine Häufung von umstrittenen Vergaben von Sport-großveranstaltungen feststellen. Ich sehe drei Gründefür diese Entwicklung:Erstens ist grundsätzlich die Zahl derjenigen Ländergestiegen, die sich um die Ausrichtung von Sportgroß-veranstaltungen bewerben. Es sind neue Länder auf dersportpolitischen Bildfläche erschienen, ich nenne Süd-afrika, China, Brasilien. In Katar wird 2022 die Fuß-ballweltmeisterschaft stattfinden, was kaum jemandaußerhalb des Weltfußballverbandes, FIFA, nachvollzie-hen kann.Zweitens ist mit Vergabeentscheidungen auch immerwieder das Thema Korruption verbunden. Eine Sport-veranstaltung in dieser Größenordnung wird eben häu-fig nicht allein nach Geeignetheit des Bewerbers verge-ben, sondern es fließt Geld im verborgenen Bereich. DasInternationale Olympische Komitee, IOC, und der Welt-fußballverband sind besonders betroffen von Vorwürfen,Indizien und sogar gerichtsfesten Fakten. In der Schweizhat ein Gericht festgestellt, dass von 1989 bis 2001 min-destens 140 Millionen Schweizer Franken als Schmier-geld im internationalen Sport geflossen sind. Obwohlauch meine Fraktion für die Autonomie des Sports ist,werden wir unsere Augen nicht vor diesen strafrechts-relevanten Fehlentwicklungen verschließen. Der SportZu Protokoll gegebene Reden
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22564 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Viola von Cramon-Taubadel
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darf nicht weiter von korrupten Funktionären als Deck-mantel für Bereicherung benutzt werden.Wir verschließen unsere Augen auch nicht, wenn esein IOC bis heute nicht schafft, den teilnehmendenSportlerinnen und Sportlern bei Olympia das Recht aufMeinungsäußerung zu gewähren. Es gibt leider nachwie vor einen Art. 51 der IOC-Charta, der Sportlerinnenund Sportlern mit Ausschluss von Olympia bedroht,wenn sie sich politisch äußern. Da sehen wir Grüne dievordemokratische Haltung des IOC ganz kritisch. Ichsage Ihnen schon jetzt voraus: Wenn es in dieser Fragenicht schnellstens zu einer Demokratisierung der IOC-Regeln kommt, dann werden wir in etwas mehr als einemJahr bei den Olympischen Spielen in Sotschi die nächsteDebatte um die eingeschränkte Meinungsfreiheit vonSportlerinnen und Sportlern haben.Drittens ist der Fokus der Öffentlichkeit bei Sport-großereignissen immer stärker auf Menschenrechtsver-stöße und Fehlentwicklungen wie Umweltzerstörungund Kostensteigerungen gerichtet. Nichtregierungsor-ganisationen und Umweltschutzverbände sind an dieserStelle als glaubwürdige Kritiker dieser Entwicklung zunennen, da sie – oftmals mit wissenschaftlicher Exper-tise gestützt – ein weltweites Forum und internationaleAufmerksamkeit nutzen können. Ich nenne aber auchlokale Organisationen und Vereine, die ihre kritischeHaltung und ihren Protest gegen autoritäre Politik for-mulieren und dafür auch Repressionen riskieren. Ichkonnte mir in den vergangenen Monaten vor Ort inSotschi mehrfach ein genaues Bild machen und stehe ineinem engen Kontakt zu einigen Organisationen.Aus grüner Sicht wollen wir einen gangbaren Wegaufzeigen, um zu einer vernünftigen Weiterentwicklungzu kommen.Um es ganz deutlich zu sagen: Es geht uns nicht umeinen grundsätzlichen Boykott von Sportveranstaltun-gen. Unser Lösungsvorschlag bedeutet: Es sollte aufinternationaler Ebene eine Konvention ausgearbeitetwerden, in der Sport, Politik und Nichtregierungsorga-nisationen einen Kriterienkatalog aufstellen, an demsich Sportgroßveranstaltungen zukünftig messen lassensollten. Ich möchte den Deutschen Olympischen Sport-bund, DOSB, aber auch mitgliederstarke Sportverbändewie den Deutschen Fußball-Bund, DFB, ausdrücklichermuntern, sich bei diesem Vorhaben einzubringen.Lassen sie mich kurz den weiteren parlamentarischenZeitplan unseres Antrages skizzieren. Die Beratungenwerden kein parlamentarischer Schnellschuss sein. Aus-drücklich behalten wir Grüne uns vor, eine öffentlicheAnhörung zu diesem Antrag durchzuführen. Es wäreauch für die weitgehend positionslose Regierungskoali-tion eine gute Gelegenheit, einmal Farbe in ihrer bisherverwaisten Sportpolitik zu bekennen. Ich weiß, dass esauch bei einigen Kolleginnen und Kollegen aus denschwarzgelben Reihen großes Unbehagen gibt, wennSportgroßveranstaltungen in Staaten stattfinden, in de-nen Menschen- und Bürgerrechte nicht viel zählen.Daher mein Vorschlag: Stimmen Sie unserem Antragzu oder legen Sie einen eigenen Vorschlag vor.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/9982 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind einver-
standen. Damit ist so beschlossen.
Ich rufe den Tagesordnungspunkt 38 auf:
Erste Beratung des von der Bundesregierung ein-
gebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Ände-
rung des Versicherungsteuergesetzes und des
– Drucksache 17/10039 –
Überweisungsvorschlag:
Finanzausschuss
Rechtsausschuss
Ausschuss für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung
Ausschuss für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit
Haushaltsausschuss gemäß § 96 GO
Wie in der Tagesordnung ausgewiesen, werden die
Reden zu Protokoll genommen.
Nicht immer, aber immer öfter fallen sie im Straßen-verkehr auf, Fahrzeuge mit Elektroantrieb, in den achtModellregionen, wie zum Beispiel im Raum Rhein-Mainnahe meinem hessischen Wahlkreis oder hier in Berlin.Fast täglich komme ich an den ersten Strom-„Zapfsäu-len“ vorbei. Erste Fahrzeugflotten bei Vermietern, zumBeispiel der Bahn, und beim Carsharing sind schon um-gerüstet.Auch wenn diese Fortschritte natürlich noch auf dieurbanen Zentren begrenzt sind und noch längst nicht dieFläche erreicht haben, so zeigen sie doch, dass es vor-angeht mit der Elektromobilität. Ausgehend von heute1 500 zugelassenen Fahrzeugen sind die Ziele in denkommenden Jahren zugegeben äußerst ehrgeizig.Gleichzeitig erhält ein einzelnes Segment eine derartigeAufmerksamkeit nur selten.Die Koalition hat dazu auf Grundlage ihres Koalitions-vertrages das neue „Regierungsprogramm Elektro-mobilität“ aufgelegt und fördert die Einführung vonElektroautos in verschiedenen Bereichen, bei der For-schung bei Speicherbatterien, Antriebstechnologien,Leichtbautechnik, Brennstoffzellen, beim Ausbau derVersorgungsnetze, im öffentlichen Personennahverkehrmit Hybridbussen wie zum Beispiel in Stuttgart und vie-les mehr. Bundesregierung und Industrie fördern mitknapp 2 Milliarden Euro die Nationale Plattform Elek-tromobilität. Über 200 Projekte deutschlandweit werdenmit 130 Millionen Euro aus dem Konjunkturpaket II un-terstützt. Einen weiteren Schwerpunkt bildet das Natio-nale Innovationsprogramm mit der Forschung zu Was-serstoff- und Brennstoffzellenprojekten.Erst in der letzten Woche wurde der dritte Fort-schrittsbericht der Nationalen Plattform vorgelegt, derdie Fortschritte aufzeigt. Ein langer ambitionierter Weg,ich sagte es, aber wir sind schon gut vorangekommenauf dem Weg zum erklärten Ziel, Deutschland zum
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22565
Patricia Lips
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Leitanbieter und Leitmarkt für Elektromobilität zu ent-wickeln.Einen steuerrechtlichen Baustein der Maßnahmenwollen wir heute als zentralen Bestandteil des soge-nannten Verkehrsteueränderungsgesetzes hinzufügen.Ich begrüße, dass wir die Kfz-Steuerbefreiung fürreine Elektro-Personenkraftwagen von derzeit fünf aufzehn Jahre erweitern und so den Anreiz neben den nicht-monetären Vorteilen für die Käufer verstärken, die sichfür ein noch deutlich teureres Elektroauto entscheiden.So wird ein wichtiges Signal gesetzt, denn praktisch istdamit ein Elektroauto für seine durchschnittliche Le-bensdauer von der Kfz-Steuer befreit. Dies ist ein zusätz-licher Anreiz für die umweltbewussten Kraftfahrer, diesich auf die neue Technologie einlassen.Wichtig ist auch die Erweiterung der Förderung aufandere Elektrofahrzeuge wie Kleinfahrzeuge undQuads. Gerade bei diesen Fahrzeugen, die keine Pkwsind und deshalb bisher nicht erfasst wurden, gab es zu-vor Unsicherheiten und eine Zurückhaltung bei denKäufern, wie ich aus persönlichen Gesprächen mit inte-ressierten Bürgern weiß. Jetzt sind diese Kleinfahrzeugemit dabei bei der Förderung. Auf diese Klarstellung ha-ben viele Käufer gewartet. Auch dies ist ein wichtiges Si-gnal für ein sehr entwicklungsfähiges Fahrzeugsegment.Weitere Verbesserungen bietet der Regierungsentwurfauch beim Verwaltungsaufwand: So kann der Erfül-lungsaufwand reduziert werden, indem die verkehrs-rechtlichen Feststellungen hinsichtlich Fahrzeugklassenund Aufbauarten nun aus Gründen der Vereinfachungauch kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Zwecken dienen,sofern dies nicht zu umweltpolitisch kontraproduktivenEffekten führt. Also: Einmal prüfen, zweimal Daten an-wenden – eine zweckdienliche Lösung.Zudem entfallen so Vorführungen, Nachprüfungen beiden Finanzämtern, Rechtsstreitigkeiten werden vermie-den, und, um ein praktisches Beispiel zu nennen, vor al-lem kleinen Gewerbetreibenden mit ihren Pick-ups, diebisher hier Probleme hatten, wird so geholfen.Dies sind nur die steuerrechtlichen Bausteine einesumfassenden Programms für mehr saubere und umwelt-freundliche Fahrzeuge auf unseren Straßen. Ich binüberzeugt, dass die Maßnahmen dieses Gesetzes für alleFraktionen gute Vorschläge für zügige und konstruktiveBeratungen im Finanzausschuss darstellen.
Der Versicherungsmarkt hat eine wichtige Stabilisie-rungsfunktion für die Wirtschaft, da er Risiken, denendie Bürger und auch Unternehmen ausgesetzt sind, ab-sichert. Der Abschluss von Versicherungen, abgesehenvon einzelnen Ausnahmen gemäß § 6 Abs. 2 Versiche-rungsteuergesetz, wird mit einer Versicherungsteuer von19 Prozent belastet.Das Aufkommen der Versicherungsteuer betrug imJahre 2011 rund 10,8 Milliarden Euro. Die Versicherung-steuer trägt dabei maßgeblich zu den Einnahmen der öf-fentlichen Haushalte bei. Für den Verbraucher – sprichden Bürger – ist es wichtig, Klarheit zu haben, welcheVersicherungsgeschäfte versteuert werden. Dies schafftmehr Steuergerechtigkeit und trägt der Entwicklung desVersicherungsmarkts Rechnung, da häufig mehrere Ver-sicherungen in Form von Versicherungspaketen abge-schlossen werden.Die Bundesregierung legt nun eine Änderung des Ver-sicherungsteuergesetzes vor, mit der sowohl Bürokratieabgebaut als auch ein Beitrag zur Steuervereinfachunggeleistet werden soll. Dies sichert den öffentlichenHaushalten das Aufkommen und führt zu einer Vereinfa-chung bei der Erhebung der Versicherungsteuer.Anlass der Änderung des Versicherungsteuergesetzesist eine Vielzahl von offenen Fragen, die in der Verwal-tungspraxis festgestellt wurden. Ziel des Gesetzes soll esferner sein, zu vermeiden, dass der Steuerpflichtige oderdas Versicherungsunternehmen Umgehungstatbeständekonstruiert, die dem Fiskus Einnahmen entziehen. DieBundesregierung hat das Ziel, wie im Koalitionsvertragfestgelegt, weiter intensiv am Bürokratieabbau zu arbei-ten.Sicherlich stöhnen Bürger und Unternehmer häufigunter zu viel Bürokratie. Dies mag in vielen Fällen auchtatsächlich so sein. Andererseits braucht ein gut funktio-nierender Staat klare gesetzliche Regelungen und vorallem eine eindeutige Umsetzung von gesetzlichen Rege-lungen. Andererseits kann es nicht Ziel sein, Erbsen zuzählen.Daher ist es zu begrüßen, dass die Gesetzesänderungeine Verdoppelung der Schwellenwerte für die viertel-jährliche Abgabe der Steueranmeldung enthält – von3 000 auf 6 000 Euro. Dies führt zum Abbau von Büro-kratie.Das Gesetz verfolgt ferner das Ziel, einzelne Versi-cherungstatbestände eindeutiger im Hinblick auf denSteuersatz und die Bemessungsgrundlage zu regeln, ins-besondere bei sogenannten Versicherungspaketen. DasZiel der beleglosen Steuererklärung wird durch die Ein-räumung der Möglichkeit der Abgabe einer elektroni-schen Steuerklärung weiter vorangetrieben. Durch dieseRegelung wird laut Prognosen des Bundesfinanzministe-riums der Erfüllungsaufwand um 370 000 Euro verrin-gert. Die Einräumung der Möglichkeit eines jährlichenAnmeldezeitraums stärkt die Wettbewerbsfähigkeit klei-ner Versicherungsunternehmen.In Anbetracht der Neuausrichtung der Agrarpolitikund im Vergleich zu anderen Möglichkeiten der EU-Nachbarstaaten sollte man bei dem Thema Mehrgefah-renversicherung die Naturereignisse mit hoher Scha-densintensität überprüfen. Auch bedarf die Übergangs-vorschrift in § 12 einer genaueren Betrachtunghinsichtlich möglicher Rückwirkungen.Zu den Ausnahmen in dem Versicherungsteuergesetzsei angemerkt, dass die Klarstellung hinsichtlich derEinbeziehung der Beiträge zu sämtlichen Pflegeversi-cherungen in den Anwendungsbereich des § 4 Abs. 1Nr. 5 Versicherungsteuergesetz zu begrüßen ist. Hiermitwird eine von der Praxis seit langem benötigte Rechts-Zu Protokoll gegebene Reden
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22566 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Bettina Kudla
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klarheit hergestellt, die auch unter sozialpolitischen Ge-sichtspunkten positiv zu bewerten ist.Die Resonanz auf den Gesetzentwurf ist gut, sowohlder Gesamtverband der Versicherer als auch der Deut-sche Gewerkschaftsbund begrüßen in ihrer Stellung-nahme die Gesetzesänderung. Die Bundesregierungbringt die Dinge voran, die Bundesregierung ist aufeinem guten Weg.
Wir behandeln heute in erster Lesung ein „Doppelge-
setz“, also ein Gesetz, das aus zwei – ganz verschiede-
nen – Teilen besteht.
Wir haben dort zunächst die Änderung der Versiche-
rungsteuer im Blick. Was will das Bundesministerium
der Finanzen mit dieser Änderung erreichen? Da heißt
es in der Problembeschreibung des Gesetzentwurfs recht
harmlos, in den letzten Jahren verstärke sich in der Ver-
sicherungswirtschaft der Trend zum strukturellen sowie
produktbezogenen Wandel mit jeweils negativen Folgen
für das Versicherungsteueraufkommen. – Und dieser
Erosion will die Bundesregierung entgegenwirken. Dies
wird im Einzelnen genau zu überprüfen sein.
Unter anderem werden wir uns dabei mit der Frage
der Versicherungspakete auseinandersetzen müssen.
Hierzu gibt es bereits weitreichende Kritik aus der Ver-
sicherungswirtschaft, die wir ernst nehmen und mit der
wir uns in einer Anhörung auch auseinandersetzen wer-
den.
Zur Beseitigung der bisherigen Streitanfälligkeit der
Besteuerung von Versicherungspaketen sollen Abwei-
chungen von der Regelbesteuerung nur dann Anwen-
dung finden, wenn rechtlich selbstständige Verträge in
diesen Paketen zusammengefasst werden. Dort, wo dies
nicht der Fall ist, soll die Steuerfreiheit auch für einen
eigentlich steuerfreien Teil, wie etwa eine Krankenversi-
cherung, entfallen. Man wird damit rechnen müssen,
dass eine solche Änderung in der Praxis zur Folge hat,
dass solche Pakete entweder teurer werden oder nicht
mehr angeboten werden. Es muss dann nur klar sein,
dass dies auch politisch gewollt ist.
Welche tatsächlichen monetären Folgen die Ände-
rung hat und wie die Versicherungskonzerne auf die Än-
derung reagieren werden, dies muss zunächst festgestellt
werden, bevor der Vorschlag endgültig bewertet werden
kann.
Hingegen ist die politische Bewertung des zweiten
Teils des Gesetzentwurfes deutlich einfacher. Die Re-
gierung möchte den Förderzeitraum für reine Elektro-
personenkraftwagen von fünf auf zukünftig zehn Jahre
erhöhen. Zuzüglich soll die Förderung auch auf andere
reine Elektrofahrzeuge ausgedehnt werden. Und diese
Steuerbefreiung soll nun dazu führen, dass wir die Ener-
giewende schaffen? Diese Steuerbefreiung soll die Ben-
zinautos von der Straße verdrängen und durch Elektro-
autos ersetzen? Diese Steuerbefreiung soll dafür sorgen,
dass deutsche Hersteller wirtschaftlich gefördert wer-
den? Meine Damen und Herren von der Regierungs-
koalition, da sollten Sie Ihre Regierung aber noch ein
bisschen motivieren!
Zusammenfassend ist zu sagen, dass die Sachverstän-
digen auch zu diesem Teil sicher einiges zu sagen haben
werden. Dies werden wir mit Freude abwarten, um dann
entsprechend zu handeln.
Mit dem Regierungsentwurf eines Gesetzes zur Ände-rung des Versicherungsteuergesetzes und des Kraftfahr-zeugsteuergesetzes werden wir Änderungen des Versi-cherung- und des Kraftfahrzeugsteuerrechts vornehmen.In der Versicherungswirtschaft hat sich in den letztenJahren der Trend zum strukturellen sowie produktbezo-genen Wandel verstärkt. Die Konsequenzen waren nega-tive Folgen für das Steueraufkommen. Die Bundesregie-rung hat sich jetzt entschlossen, dem aus fiskalischerSicht entgegenzuwirken. Aufgrund entsprechender For-derungen des Bundesrechnungshofs wurde die Rechts-und Fachaufsicht seit 2001 intensiviert. Dazu haben dieErfahrungen mit der bundeseigenen Verwaltung der Ver-sicherungsteuer gezeigt, dass das Versicherungsteuerge-setz ergänzt und präzisiert werden muss, um den Vollzug,die Rechtsanwendung bzw. die Erfüllung von Informa-tionspflichten insgesamt zu erleichtern.Die Bundesregierung will mit der Neuregelung desVersicherungsteuergesetzes unter anderem bei Kfz-Haft-pflichtversicherungen von der Regelung eines fiktivenVersicherungsentgelts absehen. Stattdessen werden dieim Schadenfall verwirklichten Selbstbehalte als Versi-cherungsentgelt erfasst.Im Wesentlichen soll das vorliegende Gesetz dasVersicherungssteueraufkommen sichern und mehrRechtssicherheit schaffen. Dies liegt im Interesse allerBeteiligten, insbesondere im Interesse der Steuerentrich-tungspflichtigen, die die Steuer für Rechnung des Steu-erschuldners abzuführen haben und im Fall einer nach-träglichen Beanstandung oftmals vor dem Problemstehen, die Steuerschuldner nicht nachbelasten zu kön-nen. Des Weiteren soll mit der Gesetzesnovelle eine Viel-zahl von Problemen, die in der Praxis aufgetreten sind,beseitigt und mehr Rechtssicherheit schaffen werden.Ein weiterer wichtiger Punkt dieses Gesetzesvorha-bens ist die Förderung der Elektromobilität. Die Bun-desregierung hat sich vorgenommen, Deutschland zumLeitanbieter und Leitmarkt für Elektromobilität zu ent-wickeln. Dazu hat sie am 18. Mai 2011 das „Regie-rungsprogramm Elektromobilität“ verabschiedet. AlsBaustein dieses Regierungsprogramms sollen mit die-sem Gesetz die finanziellen Anreize zur Anschaffung ei-nes umweltfreundlichen, aber bisher noch teuren Elek-trofahrzeugs erhöht werden. Dazu soll die derzeit aufPersonenkraftwagen mit reinem Elektroantrieb be-schränkte fünfjährige Kraftfahrzeugsteuerbefreiung aufinsgesamt zehn Jahre und alle Fahrzeugarten ausge-dehnt werden, sofern diese rein elektrisch angetriebenwerden, das heißt gespeist aus mechanischen oder elek-trochemischen Energiespeichern.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22567
Dr. Daniel Volk
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Mit diesen Neuregelungen sind alle Fahrzeuge be-günstigt, die vom 18. Mai 2011 bis zum 31. Dezember2015 erstmals zum Verkehr zugelassen werden. Fahr-zeuge, die im Folgezeitraum vom 1. Januar 2016 bis zum31. Dezember 2020 erstmals zugelassen werden, erhal-ten wieder eine Steuerbefreiung über fünf Jahre.Darüber hinaus soll mit dem Gesetz zukünftig dieFeststellung der kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Fahr-zeugklassen und Aufbauarten zur Ermittlung der Bemes-sungsgrundlage vereinfacht werden. Für verschiedeneGruppen von Fahrzeugen sah das Kraftfahrzeugsteuer-recht bisher unterschiedliche Tarife vor. Die Anwendungder mitunter rein kraftfahrzeugsteuerrechtlichen Ab-grenzungskriterien bei der Zuordnung des Fahrzeugsführt regelmäßig zu Schwierigkeiten, da sie von ver-kehrsrechtlichen Fahrzeugklassifizierungen abweicht.Zudem ist sie mit erhöhtem Erfüllungsaufwand verbun-den, denn Fahrzeuge müssen gegebenenfalls zur Fest-stellung der steuerlichen Bemessungsgrundlage bei derfür die Verwaltung der Kraftfahrzeugsteuer zuständigenBehörde vor Ort vorgeführt und vermessen werden. DiePraxis zeigte aber, dass das Abweichen der steuerrecht-lichen von der verkehrsrechtlichen Einstufung vonFahrzeugen für die betroffenen Steuerpflichtigen oftnicht nachvollziehbar war. Zukünftig soll die verkehrs-rechtliche Klassifizierung der Fahrzeuge für kraftfahr-zeugsteuerliche Zwecke grundsätzlich übernommenwerden.Zudem soll dieses Gesetz eine erhebliche Erleichte-rung für die Versicherer bringen, da diese ihre Steuerda-ten demnächst in elektronischer Form an die Finanzbe-hörden übermitteln können.Mit diesem Gesetz wird das Rad nicht neu erfunden.Es aktualisiert aber das Versicherungsteuergesetz undpasst es den heutigen Gegebenheiten an. Die Bundesre-gierung will mit diesem Gesetz das Versicherungsteuer-aufkommen stabilisieren und für größere Rechtssicher-heit sorgen. Zudem soll mit der Steuerbefreiung fürElektromobile die Förderung der Elektromobilität er-weitert und die Steuerbefreiung für reine Elektro-Pkwvon fünf auf zehn Jahre verlängert werden. Ob derMarkt der Elektro-Pkw damit einen neuen Impuls be-kommt und dieses Gesetz ein Zeichen des Bürokratie-abbaus und der angestrebten Steuervereinfachung ist,werden wir im weiteren parlamentarischen Prozess ge-nau prüfen.
Mit dem vorliegenden Gesetzentwurf sollen zwei Be-reiche geregelt werden, zum einen das Versicherung-steuergesetz, zum anderen das Kraftfahrzeugsteuerge-setz. Während bei ersterem lediglich Anpassungen– Präzisierungen und Ergänzungen – nötig sind, um demTrend in der Versicherungsbranche sowie Forderungendes Bundesrechnungshofes gerecht zu werden, findetsich der eigentlich interessantere Part im zweiten Teil,und zwar in den vorgeschlagenen Änderungen desKraftfahrzeugsteuergesetzes. Und hier liegt der Hase imPfeffer, wie es so schön heißt.Hier will die Bundesregierung nämlich die bereits be-stehende Begünstigung für Elektropersonenkraftwagenausdehnen. Konkret soll der Förderzeitraum auf zehnJahre verdoppelt werden. Die Steuerbefreiung soll fürFahrzeuge gewährt werden, die in der Zeit vom 18. Mai2011 bis 31. Dezember 2015 erstmals zugelassen werden.Nach 2015 soll die Steuerbefreiung für reine E-Fahr-zeuge für fünf Jahre fortgeführt werden – bei erstmaligerZulassung vom 1. Januar 2016 bis 31. Dezember 2020.Die Förderung soll nicht mehr nur auf reine Elektro-Pkw beschränkt, sondern auf andere reine E-Fahrzeugeerweitert werden. Grundlage für diese Maßnahme istdas Regierungsprogramm „Elektromobilität“ vom18. Mai 2011.Betrachten wir die derzeitige Lage bei E-Autos, müs-sen wir feststellen, dass heutzutage in Deutschlandgerade einmal 4 000 dieser Fahrzeuge fahren. In den erstenfünf Monaten dieses Jahres wurden erst 1 478 E-Fahrzeugezugelassen, darunter 681 von Privatleuten. Und wennman die Subventionen für den Bereich E-Autos betrach-tet, wird einem schwindelig. So wurden laut Antwort derBundesregierung auf unsere Anfrage drei elektrischeFahrzeuge der Firma Porsche mit 2,8 Millionen Eurogefördert.Das zeigt uns doch nur eins: Elektrofahrzeuge kön-nen nur ein Nischenprodukt sein, sie werden aber nichtdie verkehrs- und klimapolitischen Herausforderungender Zukunft lösen. Und auch die wenigen deutschenHybridfahrzeuge erfüllen nicht die Erwartungen in Sa-chen Verbrauchsreduktion; außerdem sind sie alle imLuxussegment angesiedelt und daher für die Mehrheitder Bürgerinnen und Bürger nicht erschwinglich.Doch die Bundesregierung spricht immer noch voneinem Erfolg und schwärmt von der MarktführerschaftDeutschlands im Bereich E-Autos. Kritik, wie zum Bei-spiel vom Direktor des Center Automotive Research,CAR, der Universität Duisburg, Ferdinand Dudenhöffer,der sagt, man könne froh sein, bis 2020 rund 10 Prozent,also 100 000 E-Fahrzeuge, des Zieles von 1 MillionElektrofahrzeuge zu erreichen, scheint an der Bundesre-gierung vorbeizugehen. Dass im Jahr 2030 dann 6 Mil-lionen Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein sollen,erscheint aus heutiger Sicht mehr als unrealistisch.Wir konstatieren: Der Bereich E-Autos ist wichtig imRahmen der Energie- und Verkehrswende, aber er istnur ein Nischenbereich oder besser gesagt ein Bausteinunter vielen, um die Energiewende zu meistern.Ich wünsche mir von der Bundesregierung, dass sieSubventionsforderungen aus der Industrie widerstehenkann bzw. diese im Vorfeld hinsichtlich der Kosten-Nut-zen-Analyse besser untersucht. Auch fordere ich dieBundesregierung auf, die sozialverträgliche Senkungdes Klimagas- und Schadstoffaustausches des Individu-alverkehrs und damit eine größere Unabhängigkeit vomErdöl in den Mittelpunkt der Diskussion zu rücken. Not-wendig bei der Verkehrs- und Energiewende ist – daszeigt die Erfahrung – die Berücksichtigung des gesam-ten Verkehrssystems inklusive des öffentlichen Per-sonennahverkehrs sowie der verschiedenen Techno-logiepfade. Denn es ist der falsche Weg, dieZu Protokoll gegebene Reden
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22568 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Dr. Barbara Höll
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Fahrzeugindustrie mit Milliarden zu fördern und zeit-gleich gegen eine Verschärfung der Grenzwerte für CO2und Feinstaub im Abgas vorzugehen.Deutsche Autos sind nach wie vor die größten Klima-sünder und Spritsäufer in Europa. Wir brauchen endlichein Umdenken in der Industrie. Die Geschichte des Ka-talysators und des Rußfilters, deren Einführung hierzu-lande gesetzlich erzwungen werden mussten, zeigen:Klare rechtliche Vorgaben sind die besten Innovations-treiber. Also werte Bundesregierung, unterstützen Siedie EU-Kommission bei scharfen Grenzwerten! Wir hal-ten eine strikte CO2-Obergrenze bei Neufahrzeugen von95 Gramm bis 2020 für vernünftig und auch realistisch.Auch brauchen wir dringend eine stärkere Erfor-schung und Förderung der Verkehrswende. Nicht nurandere Autos, sondern vor allem der Umstieg auf um-weltfreundlichere öffentliche Verkehrsträger muss Ge-genstand der Förderung sein. Sie müssen eine deutlichstärkere Rolle bekommen. Wir setzen uns für eine klima-politisch motivierte Änderung der Kfz-Steuer ein. Dabeiist eine vollständige Umstellung der Kfz-Steuer auf denCO2-Austoß, flankiert durch Zu- und Abschläge entspre-chend der Emissionsklassen, notwendig. Nur so wird unsdie Energiewende insgesamt gelingen.
Die Bundesregierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis
2020 1 Million Elektroautos auf die Straße zu bringen.
Dieses Ziel ist richtig und muss beherzt angegangen
werden. Leider muss man aber befürchten, dass die Bun-
desregierung dieses Ziel so schnell wieder aufgegeben
hat, wie es formuliert wurde.
Vor über einem Jahr hat die Bundesregierung stolz
und mit großem Getöse das Regierungsprogramm Elek-
tromobilität vorgelegt und darin auch konkrete Schritte
skizziert, um die Zukunftstechnologie in Deutschland
weiter zu fördern. So wurde angekündigt, die Kfz-Steuer
nicht nur für reine Elektro-Pkw zu erlassen, sondern
auch Hybride und leichte Nutzfahrzeuge steuerlich zu
begünstigen. Mehr als ein Jahr hat die Regierung nun
gebraucht, um diesen recht simplen Schritt nun auch zu
gehen, und doch ist es nur ein halber Schritt geworden.
Faktisch soll nur die bestehende Steuervergünstigung
für reine Elektromobile von fünf auf zehn Jahre verlän-
gert werden. Dazu kommen nun auch leichte Pkw, also
etwa dreirädrige Fahrzeuge, und auch leichte Nutzfahr-
zeuge mit reinem Elektroantrieb in den Genuss der Kfz-
Steuerbefreiung. Das ist zu begrüßen, tröstet jedoch
nicht darüber hinweg, dass die Regierung ihre zentrale
Ankündigung nicht umsetzt.
Denn klipp und klar stand im Regierungsprogramm
geschrieben:
In Zukunft sollen alle bis zum 31.12.2015 erstmals
zugelassenen Pkw, Nutzfahrzeuge und Leichtfahr-
zeuge, die … technologieneutral einen kombinier-
ten CO2-Typprüfwert unter 50 g/km nachweisen
, für einen verlän-
gerten Zeitraum von zehn Jahren von der Steuer
befreit werden.
Genau diese Ankündigung wird aber nun komplett
ignoriert. Die Steuerbefreiung gilt weiterhin nur für
reine Elektrofahrzeuge.
Das ist fatal, denn Plug-In-Hybride bieten die Mög-
lichkeit, rasch CO2-Emissionen zu senken und erneuer-
baren Strom in den Straßenverkehr einzuführen. Sie sind
im besonderen Maße für ländliche Räume geeignet, um
etwa rein elektrisch bis zum nächsten Bahnhalt zu fahren
und die Fahrzeuge dann auf einem Park-and-ride-Park-
platz wieder aufzuladen. Diese Fahrzeugkategorie, die
es ermöglicht, 90 Prozent aller Fahrten elektrisch zu
fahren, ohne ein Reichweitenproblem wie reine Elektro-
autos zu haben, darf in der Förderstrategie der Bundes-
regierung nicht fehlen.
Warum die Bundesregierung hinter ihren Ankündi-
gungen zurückbleibt, ist nicht klar. Wir werden uns auf
jeden Fall dafür einsetzen, dass die Regierung ihre An-
kündigung doch noch erfüllt. Denn wenn die Regierung
bei dieser Gesetzesänderung bleibt, kommen wir dem
Ziel, Deutschland zum Leitanbieter und Leitmarkt für
klimafreundliche und zukunftsträchtige Elektromobilität
zu entwickeln, nicht sehr viel weiter, und das, obwohl im
Prinzip allen klar ist, dass der Verkehr auf der Basis er-
neuerbarer Energien neu organisiert werden muss. Nur
wer mit umweltverträglichen Autos auf dem internatio-
nalen Markt präsent ist, hat wirtschaftlich eine Zukunft
und bleibt wettbewerbsfähig.
Mit der Änderung des Versicherungsteuergesetzes
nehmen Sie sich auf ungewöhnliche Weise einer elitären
Klientel an: den Großkunden mit eigener Fahrzeug-
flotte. Sie argumentieren, „dem Trend zum strukturellen
sowie produktbezogenen Wandel mit jeweils negativen
Folgen für das Versicherungsaufkommen … aus fiskali-
scher Sicht“ entgegenwirken zu wollen: ein Ziel, das
diese Bundesregierung selbst nicht so ganz zu überzeu-
gen vermag. Immerhin streben Sie zum Beispiel bei der
kalten Progression weiterhin Steuerausfälle in der Grö-
ßenordnung von 6 Milliarden Euro an.
Im vorliegenden Gesetzentwurf bedienen Sie sich aus
der steuerlichen Trickkiste. Sie ziehen verwirklichte
Selbstbehalte in die steuerliche Bemessungsgrundlage.
Dass der Bundesfinanzhof in ständiger Rechtsprechung
Selbstbehalte nicht zum Versicherungsentgelt rechnet,
scheint Ihnen entgangen zu sein.
Sie werden in den Beratungen Gelegenheit haben,
dazu Stellung zu nehmen.
Interfraktionell wird die Überweisung des Gesetzent-wurfs auf Drucksache 17/10039 an die in der Tagesord-nung aufgeführten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sindeinverstanden. Dann ist so beschlossen.Ich rufe denTagesordnungspunkt 40 a bis c auf:a) Zweite Beratung und Schlussabstimmung desvon der Bundesregierung eingebrachten Entwurfseines Gesetzes zu dem Übereinkommen des
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22569
Vizepräsidentin Petra Pau
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Europarats vom 16. Mai 2005 zur Bekämp-fung des Menschenhandels– Drucksache 17/7316, 17/7368 –Beschlussempfehlung und Bericht des Ausschus-ses für Familie, Senioren, Frauen und Jugend
– Drucksache 17/10165 –Berichterstattung:Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-BeckerMarlene Rupprecht
Nicole Bracht-BendtJörn WunderlichMonika Lazarb) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Familie, Senioren,Frauen und Jugend zu dem An-trag der Abgeordneten Dr. Eva Högl, MarleneRupprecht , Petra Crone, weitererAbgeordneter und der Fraktion der SPDÜbereinkommen des Europarats zur Bekämp-fung des Menschenhandels korrekt ratifizie-ren – Deutsches Recht wirksam anpassen– Drucksachen 17/8156, 17/10165 –Berichterstattung:Abgeordnete Elisabeth Winkelmeier-BeckerMarlene Rupprecht
Nicole Bracht-BendtJörn WunderlichMonika Lazarc) Beratung der Beschlussempfehlung und des Be-richts des Ausschusses für Menschenrechte undHumanitäre Hilfe zu dem Antragder Abgeordneten Annette Groth, Katrin Werner,Jan van Aken, weiterer Abgeordneter und derFraktion DIE LINKEMenschenhandel bekämpfen – Opferschutzerweitern– Drucksachen 17/3747, 17/9195 –Berichterstattung:Abgeordnete Erika SteinbachAngelika Graf
Pascal KoberAnnette GrothVolker Beck
Wir nehmen die Reden zu Protokoll.
Mit der heutigen Verabschiedung des Gesetzes zumÜbereinkommen des Europarates vom 16. Mai 2005 zurBekämpfung des Menschenhandels tritt Deutschlandnun endlich dem Übereinkommen bei. Deutschland hatsich als wichtiger Mitgliedstaat des Europarates aktivfür das Zustandekommen der Konvention eingesetzt undhat schon sehr früh das Übereinkommen gezeichnet. Mitdem Beitritt signalisieren wir ausdrücklich die Notwen-digkeit einer umfassenden völkerrechtlichen Überein-kunft, Menschenhandel in all seinen Erscheinungsfor-men zu bekämpfen und alles daranzusetzen, ihmlangfristig die Grundlage zu entziehen. Im Hauptfokusdes Übereinkommens stehen erstmalig der Schutz unddie Unterstützung der Opfer dieses schweren Verbre-chens gegen die Menschenwürde.Menschenhandel in all seinen Formen ist eines derschwersten Verbrechen. Jährlich sind etwa 2,5 Millio-nen Menschen betroffen, sie werden ausgebeutet und wieWare behandelt. Opfer von Menschenhandel zum Zwe-cke der sexuellen Ausbeutung – eine wesentliche Formdes Menschenhandels – betrifft überwiegend Frauenund Mädchen auf der Suche nach Arbeit und einem bes-seren Leben. Wir wissen, dass mitten in unserem Landskrupellose Menschenhändler mit der Ware Mensch ihrGeld machen.Erst gestern hat uns eine Meldung aus den USA auf-geschreckt: Dort konnten in den letzten Tagen 100 Zu-hälter in einer groß angelegten Aktion des FBI aufge-spürt und 79 Jugendliche zwischen 11 und 17 Jahrenbefreit werden; insgesamt konnten seit 2003 über 220Kinder gerettet werden. Das zeigt, wie sehr diesesfurchtbare Verbrechen selbst in zivilisierten Gesellschaf-ten verbreitet ist. Dieses Verbrechen müssen wir be-kämpfen, und dazu gibt uns die Europaratskonvention inihrem gesamten Geltungsbereich, der sowohl Herkunfts-als auch Zielländer des Menschenhandels – umfasst, einwichtiges Instrumentarium an die Hand.Die Bundesregierung hat in ihrer Stellungnahme aus-geführt, dass unsere Gesetze und Maßnahmen den An-forderungen der Konvention bereits genügen und wirohne weitere Gesetzesänderungen die Ratifizierung be-schließen können. Auch der Bundesrat hat sich über dieParteigrenzen hinweg dieser Auffassung einstimmig an-geschlossen. Vonseiten der Länder besteht also keinWunsch nach weiteren gesetzlichen Änderungen. Wirhaben uns der Auffassung angeschlossen, dass es keinenzwingenden gesetzlichen Handlungsbedarf gibt unddass einem zügigen Beitritt Deutschland nichts im Wegsteht.Inzwischen sind 36 von 47 Mitgliedstaaten des Euro-parates dem Übereinkommen beigetreten, wir solltenunserem Ansehen nicht schaden, indem wir unseren Bei-tritt weiter hinauszögern. Der Beitritt zur Konventionhat für Opfer von Menschenhandel in Deutschland auchohne weitere gesetzliche Änderung ihren Wert.Zur Kontrolle der Umsetzung hat die Konvention ei-nen effektiven und unabhängigen Mechanismus einge-setzt, dem sich Deutschland in Zukunft ebenfalls stellenmuss. Er beinhaltet zum einen eine unabhängige Exper-tengruppe, GRETA – Group of Experts on Trafficking inHuman Beings, die einen periodischen Bericht über dieVertragsparteien vorlegt, zum anderen einen Ausschussder Vertragsparteien, der aufgrundlage des Berichts undder Äußerung der betroffenen Vertragspartei Empfeh-lungen aussprechen kann. Dem Anliegen des SPD-An-trags, die Arbeit der Expertengruppe GRETA für dieKontrolle der Umsetzung des Übereinkommens und diefortlaufende Evaluierung der getroffenen Maßnahmen
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22570 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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der Vertragsstaaten intensiv zu nutzen, kann auch nurdann entsprochen werden, wenn Deutschland schnell dieRatifizierung abschließt und damit dem GRETA-Mecha-nismus unterliegt.Trotzdem plädiere ich dafür, dass wir die Vorschlägeund Forderungen der Sachverständigen, die in der An-hörung aus ihren Erfahrungen aus der Praxis berichtethaben, auf der Tagesordnung stehenlassen. Die anste-hende Umsetzung der EU-Richtlinie zum Menschenhan-del bietet dazu den passenden Anlass. Dabei erscheinenmir zwei Punkte besonders wichtig: Zum einen geht esum das Aufenthaltsrecht der Opfer aus Drittstaaten. Unsgeht es ja neben dem Schutz der Opfer darum, die Ge-schäftsmodelle der Täter zu durchkreuzen, ihnen dasHandwerk zu legen. Wir wollen, dass die Frauen aussa-gen. Dazu brauchen sie die nötige Zeit, sich von ihremTrauma zu erholen, sich zu stabilisieren und Vertrauenzu fassen. In dem Zusammenhang begrüße ich auch diekürzlich zur Anpassung des EU-Visakodexes aufgenom-mene Verlängerung der Bedenk- und Stabilisierungsfristvon einem auf drei Monate, womit die Ausreisefrist imInteresse der Opfer von Menschenhandel und illegalerBeschäftigung verlängert wurde. Dies bedeutet schonmal eine erhebliche Verbesserung für die Opfer vonMenschenhandel in einer sensiblen Phase, und es ent-lastet sie in ihrem meist traumatisierten Zustand durchEntschärfung des Zeitdrucks.Ich halte ein Aufenthaltsrecht nach dem italienischenVorbild für durchaus überlegenswert. Das italienischeModell wurde im Übrigen auch von den meisten Sach-verständigen in der Anhörung am 19. März befürwortet.Maßgeblich bei diesem Modell ist, dass die Frauen nichtzwingend als Zeuginnen gegen die Täter aussagen müs-sen. Sie können ohne Druck zur Ruhe kommen und in ga-rantierter Sicherheit überlegen, ob sie eine gerichtlicheAussage machen wollen oder nicht. Aus der Praxis istbekannt, dass sich in der Regel durch eine Bedenkzeitdie Aussagebereitschaft und Aussagefähigkeit von trau-matisierten Frauen erhöht. Im Übrigen könnten Straf-verteidiger der Täter in Deutschland nicht mehr be-haupten, die Betroffene würde nur aussagen, um sicheinen Aufenthaltstitel zu erschleichen Diese, die Glaub-würdigkeit der Opfer sehr belastende Strategie der Ver-teidiger wäre nicht mehr tragfähig, wenn alle Opfer vonMenschenhandel – unabhängig von ihrer Aussage – ei-nen Aufenthaltstitel erhalten. Die zeitliche Entkoppe-lung von Aussage und Aufenthaltstitel hat in diesem Zu-sammenhang zum Ziel, dass deutlich mehr Opferglaubwürdige Aussagen machen und es zu deutlich mehrVerurteilungen kommen würde. Dies war auch einhel-lige Meinung der Sachverständigen in der Anhörung.Die EU hat das Modell ausgewertet, ein von vielenbefürchteter Missbrauch konnte nicht festgestellt wer-den. In Italien wurde das Kontingent von einigen Tau-send Betroffenen pro Jahr bei weitem nicht ausge-schöpft. Bei uns würde es sich, da die Opfergruppen ausden Ost-EU-Ländern ohnehin Freizügigkeit genießen,lediglich um eine überschaubare Zahl, vor allem ausAfrika und hier insbesondere Nigeria handeln. LautBKA-Lagebericht 2010 waren von 610 ermittelten Op-fern des Menschenhandels zum Zwecke der sexuellenAusbeutung 62 aus Afrika, davon 46 aus Nigeria. Alleanderen kamen fast ausschließlich aus den osteuropäi-schen Ländern. Gerade an die Frauen aus Nigeria – soSolwodi und Vertreter von Beratungsstellen – ist sehrschwer heranzukommen. Sie fühlen sich oftmals mit ei-nem Voodoo-Zauber aus ihrer Heimat belegt, sind vollerAngst, und es erfordert große Sensibilität und viel Zeit,bis überhaupt ein Zugang zu ihnen gefunden werdenkann und sie eine Aussage machen. Schiebt man sie inihre Heimat ab, beginnt für sie der Teufelskreis vonvorn; denn sie haben noch nicht das Geld eingebracht,was sie ihren Händlern einbringen sollten, und dieSchulden für die Reise in den Westen sind auch nochnicht bezahlt. So bleiben sie oftmals in den Fängen derMenschenhändler.Zum anderen müssen wir den Zusammenhang mitdem Prostitutionsgesetz in den Blick nehmen. Laut La-gebericht des BKA haben sich die Herkunftsländer vonTätern und Opfern sowie die Ausbeutungsmechanismenstark verändert. Die EU-Osterweiterung in Zusammen-hang mit dem Prostitutionsgesetz von 2001 hat – sohaben es uns auch Schwester Lea Ackermann vonSolwodi und Heidi Rall vom BKA eindringlich geschil-dert – zu einer Verschlechterung der Situation vonZwangsprostituierten gekommen.Über die Hälfte der Opfer von Menschenhandel zumZweck der sexuellen Ausbeutung stammten 2010 aus denosteuropäischen Staaten, vor allem aus Rumänien undBulgarien. Meist stammen sie aus ethnischen Minder-heiten, haben eine sehr schlechte Bildung und meist be-reits eine hohe Gewalterfahrung. Die meisten sind unter21 Jahre alt, viele geben an, mit der Prostitution einver-standen zu sein. Erfahrungsgemäß werden sie von denTätern aber über die tatsächlichen Umstände getäuschtund gezielt in ein Abhängigkeitsverhältnis gebracht. DieFrauen arbeiten unter besonders entwürdigenden undgesundheitsgefährdenden Bedingungen, sie haben kaumeine Chance, diesen sklavenähnlichen Zuständen zu ent-kommen. Da insbesondere die Kontrollmöglichkeitender Strafverfolgungsbehörden stark eingeschränkt sind,werden immer weniger Fälle aufgedeckt. Die Täter kön-nen unbehelligt weitermachen, die Opfer haben keineChance, zu entkommen. Besonders besorgniserregendist in diesem Zusammenhang das vermehrte Auftretenbesonders extremer Erscheinungsformen und Aus-wüchse in der Prostitution wie zum Beispiel Flatrate-Bordelle und Gang-Bang-Veranstaltungen.Gegen diese zunehmende Brutalisierung im Prostitu-tionsgewerbe und gegen die Zustände, die die Ausbeu-tung von Frauen so leicht machen, müssen wir als Ge-setzgeber unbedingt etwas tun. Schon 2007 kam dieBundesregierung in ihrem Bericht zu den Auswirkungendes Prostitutionsgesetzes zu dem Ergebnis, dass es mehrrechtliche Instrumentarien zur Kontrolle und Vorbeu-gung krimineller Begleiterscheinungen geben müsse.Mit einem Beschluss des Bundesrates und einem Be-schluss der Innenministerkonferenz vom November 2010liegen auch von einer breiten Mehrheit der Länder ge-tragene Aufforderungen nach besseren und effektiverenrechtlichen Instrumentarien, insbesondere des Gaststät-ten-, des Gewerbe-, Polizei- und Ordnungsrechts zumZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22571
Elisabeth Winkelmeier-Becker
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Schutz der dort tätigen Personen vor. Vor allem die Er-laubnispflicht für Bordelle, die Überprüfung der Betrei-ber, eine verpflichtende Registrierung und Gesundheits-untersuchung für die Prostituierten, die ihnen einvertrauliches Gespräch mit einem Arzt ermöglicht, halteich für unverzichtbar. Auch die sogenannte Freierbe-strafung muss diskutiert werden. Zudem müssen wir da-für sorgen, dass es flächendeckend bessere Ausstiegsan-gebote für Prostituierte gibt.Zum Schluss möchte ich noch ein paar Worte zu denguten Unterstützerstrukturen in Deutschland sagen: Wirhaben im Bereich des Menschenhandels zum Zweck dersexuellen Ausbeutung gute langjährig aufgebaute Un-terstützungsangebote und Vernetzungs- und Koordinie-rungsstrukturen auf kommunaler sowie auf Landes- undBundesebene.Die 49 Fachberatungsstellen in den 16 Ländern sindalle Mitglied im KOK, bundesweit tätiger Koordinie-rungskreis gegen Frauenhandel und Gewalt gegenFrauen im Migrationskreis. Sie sind ein wichtiges Mit-glied in der Bund-Länder-AG Frauenhandel, die einzentrales Steuerungs- und Koordinierungselement aufBundesebene ist. Ich möchte diese Arbeit, bei der auchdie vielen Nichtregierungsorganisationen zusammen-wirken, ausdrücklich loben. Sie alle zusammen leistengroßartige Arbeit, und ich hoffe, dass sie jetzt mit derUmsetzung der Konvention noch weiter und speziali-sierter ausgebaut werden kann und dass auch insbeson-dere die Finanzierung des KOK durch das BMFSFJ fort-bestehen wird.
Es ist eine erschütternde Wahrheit, dass es auch heutenoch Menschenhandel in Europa gibt. Der Handel mitder „Ware Mensch“ gilt nach Drogen- und Waffenhan-del als die drittgrößte Einnahmequelle der organisiertenKriminalität. Der Jahresumsatz des weltweiten Men-schenhandels wird auf 30 Milliarden Dollar geschätzt.Das US-Außenministerium hat kürzlich einen Berichtveröffentlicht, aus dem hervorgeht, dass weltweit27 Millionen Menschen unter sklavenartigen Verhältnis-sen leben müssen.Deutschland gehört laut diesem US-Bericht zu den33 Ländern auf der Welt, welche die Standards der USAzum Schutz von Opfern des Menschenhandels erfüllen.Trotzdem gilt Deutschland als Herkunfts-, Transit- undZielland des internationalen Menschenhandels.Verlässliche Zahlen über das wahre Ausmaß desMenschenhandels gibt es kaum. Das BKA hat im Jahr2010 zwar „nur“ 610 Menschen in Deutschland alsOpfer von Menschenhandel zum Zweck der sexuellenAusbeutung identifiziert und konnte auch nur 470 Er-mittlungsverfahren in diesem Bereich abschließen.Europol geht aber davon aus, dass in Europa mehrereHunderttausend Opfer von Menschenhandel, also mo-derne Sklaven leben. Die Vereinten Nationen schätzen,dass es allein in deutschen Bordellen rund 200 000Zwangsprostituierte gibt. Viele dieser Frauen könntenOpfer von Menschenhändlern sein. Die meisten Opferwerden nach ihrer Verschleppung sexuell ausgebeutet.Viele werden auch zur Zwangsarbeit missbraucht. Da-neben gelten Zwangsverheiratung, Betteltätigkeiten undOrganhandel als Motive für den Menschenhandel.Die Vereinten Nationen erschufen im Jahr 2000 mitdem sogenannten „Palermo-Protokoll“ das erste völ-kerrechtliche Übereinkommen, das explizit auf denKampf gegen Menschenhandel abzielt. Das „Überein-kommen des Europarates zur Bekämpfung des Men-schenhandels“ vom 16. Mai 2005, das wir heute inDeutschland ratifizieren, ergänzt dieses Übereinkom-men und entwickelt es auf europäischer Ebene weiter.Mit seinem umfassenden Ansatz geht das Übereinkom-men weiter als alle existierenden völkerrechtlich binden-den Instrumente in diesem Bereich. Damit könnenFrauen, Kinder und auch Männer in Europa besser vorGewalt, Verschleppung und Ausbeutung geschützt wer-den.Angesichts der menschenverachtenden Verbrechen,die im Rahmen des Menschenhandels geschehen, be-steht parteiübergreifende Einigkeit darüber, dass dieRatifizierung dieses Übereinkommens ein absolut not-wendiger und richtiger Schritt ist.Eine weitere Frage ist nun, ob durch die Ratifizierungdieses Übereinkommens für Deutschland rechtspoliti-scher Handlungsbedarf entsteht. Der Bundesrat hat dieRatifizierung des Übereinkommens als ein starkes Si-gnal gegen den Menschenhandel begrüßt. In der Stel-lungnahme vom 23. September 2011 haben die Bundes-länder allerdings darauf hingewiesen, dass diegesetzgeberischen Pflichten, die aus dem Übereinkom-men des Europarates erwachsen, in Deutschland bereitsdurch unser geltendes nationales Recht abgedeckt wer-den. Ursache dafür sind ein Beschluss der EU vom Juli2002 und eine EU-Richtlinie vom April 2004. Diesewurden in Deutschland bereits in nationales Recht um-gesetzt. Auf der Ebene der 27 EU-Staaten wurden bereitsdie meisten Vorgaben erfüllt, die das Übereinkommendes Europarates auf Ebene der 47 Mitgliedstaaten desEuroparates einfordert. Daher sind sowohl der Bundes-rat als auch die Bundesregierung der Auffassung, dassdie Vorgaben des Übereinkommens zur Bekämpfung desMenschenhandels in Deutschland bereits erfüllt sind.Die Bundesregierung prüft zurzeit aber noch, inwie-weit die neue EU-Richtlinie vom April 2011, die eben-falls dem Kampf gegen den Menschenhandel dient,Handlungsbedarf für den deutschen Gesetzgeber aus-löst. Spätestens nach der Umsetzung dieser Richtliniewird Deutschland alle Vorgaben des Übereinkommensdes Europarates erfüllen.Zunächst sollte man die juristische Überprüfung derneuen Richtlinie von 2011 abwarten, bevor man vor-schnell Rechtsanpassungen fordert, wie das die SPD mitihrem Antrag tut. Die Tatsache, dass die SPD auf eineAussprache zu ihrem Antrag verzichtet hat, lässt vermu-ten, dass man sich auch in der SPD bewusst ist, dass sol-che schwammigen Forderungen schnell als Effektha-scherei durschaut werden.Über den Kern des Problems sind wir uns in Deutsch-land und Europa einig. Der Menschenhandel muss mitZu Protokoll gegebene Reden
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22572 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Norbert Geis
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allen Mitteln bekämpft werden. Die Bundesregierunghat hier zuletzt mit der Einführung des bundesweitenHilfetelefons für Frauen, die Opfer von Gewalt wurden,einen wichtigen Beitrag geleistet. Ab 2013 können alleOpfer von Gewalt unter einer speziellen Telefonnummeranonym und in ihrer Muttersprache Hilfe und Rat erhal-ten. Auch Zeugen können sich hier anonym melden. Vorallem richtet sich das Angebot an Frauen, die dann andie Behörden oder Einrichtungen in ihrer Umgebungweitergeleitet werden und dort Schutz finden.Dennoch gibt es auch im deutschen Rechtssystemeinige Punkte, die angepasst werden müssen. So habenwir in Deutschland dank Rot-Grün seit 2002 eines derliberalsten Prostitutionsgesetze der Welt. Dadurch istein großer und weitgehend legaler Markt für Prostitu-tion entstanden, der den Menschenhändlern ideale Be-dingungen bietet. Eine Studie der Universität Göttingenhat nun empirisch nachgewiesen, dass diese rot-grüneLiberalisierung der Prostitution in Deutschland einenmassiven Zuwachs des Menschhandels verursacht hat.Das Ziel der früheren rot-grünen Bundesregierung,die Schaffung verlässlicher Arbeitsbedingungen fürProstituierte, wurde völlig verfehlt. Nicht einmal 1 Pro-zent der Prostituierten hat heute einen Arbeitsvertrag,geschweige denn eine Krankenversicherung. Stattdessenist bei uns heute die Prostitution 60-mal höher als inSchweden, wo die Prostitution verboten ist. Gleichzeitigverzeichnet Deutschland 62-mal so viele Opfer vonMenschenhandel wie Schweden.Um den Menschenhandel besser bekämpfen zu kön-nen, hat das Land Bayern 2005 einen Gesetzentwurf inden Bundesrat eingebracht, mit dem neue Tatbeständegegen die sexuelle Ausbeutung von Opfern des Men-schenhandels eingeführt werden sollten. Wie in Schwe-den sollten die Freier zumindest im Falle von Zwangs-prostitution strafrechtlich verfolgt werden können. DerStrafrahmen für das Verbringen von Kindern in dieProstitution sollte von 2 auf 15 Jahre erhöht werden –auch um eine Aussetzung der Strafe auf Bewährung zuverhindern. Schließlich sollte die Rechtslage, wie sie vorder Liberalisierung bestanden hat, wieder eingeführtwerden. Auf diese Weise würden die Strafverfolgungsbe-hörden wieder bessere Ermittlungsansätze erhalten. DerGesetzentwurf ist jedoch der Diskontinuität unterfallen.2006 wurde er erneut eingebracht, hat dann im Bundes-rat aber keine Mehrheit gefunden.Dennoch wurden in der Zwischenzeit einige Maßnah-men des bayerischen Gesetzentwurfs umgesetzt, so dieEinführung einer Kronzeugenregelung und die Neu-fassung der Regelung zur Telekommunikationsüber-wachung.Das rot-grüne Prostitutionsgesetz ist in der Praxisgescheitert. Anstatt den Frauen zu helfen, hat das Gesetzder Ausbeutung einen legalen Deckmantel verschafft.Deshalb muss die Fehlentscheidung so schnell als mög-lich korrigiert werden. So kann der Kampf gegen Men-schenhandel und Sklaverei effektiver geführt werden.
Ich freue mich, dass Deutschland endlich das Über-einkommen des Europarats zur Bekämpfung des Men-schenhandels ratifiziert. Erst kürzlich ist die deutscheDelegation der Parlamentarischen Versammlung desEuroparats vom Ministerrat gerügt worden, weilDeutschland immer noch nicht ratifiziert hat. Die Ratifi-zierung noch vor der Sommerpause begrüße ich somitsehr, wenn wir als SPD-Fraktion auch noch Nachbes-serungsbedarf im Zuge einer korrekten Umsetzung zumWohl der Opfer sehen.Menschenhandel ist eine der schwersten Straftatenweltweit. Die Opfer, häufig Frauen und Kinder, erleidenschwerwiegende Verletzungen ihrer Menschenrechte.Frauen werden zur Prostitution gezwungen, Jugend-liche unter schlimmen Bedingungen beschäftigt undKinder zum Betteln genötigt. Sie werden mit falschenVersprechungen in fremde Länder gelockt und gezieltausgebeutet. Als Kinderbeauftragte bestürzt mich be-sonders das Ausmaß der Verletzung von Kinderrechten.Vielen jungen Menschen wird durch diese Verbrechendas ganze Leben zerstört. Hier wird mit der Ausbeutungvon Menschen ein äußerst gewinnbringendes Geschäftim Bereich der organisierten Kriminalität betrieben.Zwangsprostitution, Zwangsarbeit und wirtschaftli-che Ausbeutung finden grenzüberschreitend statt. Einewirksame Bekämpfung kann also nur gelingen, wenn sieinternational abgestimmt ist.Insofern begrüße ich den Gesetzentwurf der Bundes-regierung zu dem Übereinkommen des Europarats zurBekämpfung des Menschenhandels, der die Ziele desÜbereinkommens, nämlich die engere Zusammenarbeitaller Vertragsstaaten, strafrechtliche Verbesserungensowie die Überwachung der Umsetzung, unterstützt.Der Entwurf geht aber nicht weit genug. Die SPD-Fraktion hat den Änderungsbedarf, wie er auch überein-stimmend von Fachleuten in Fachgesprächen benanntwurde, aufgezeigt. Leider werden diese wichtigenPunkte mit dem Gesetzentwurf zur Ratifizierung jetztnoch nicht aufgegriffen. Wir hoffen, dass die Nachbes-serungen bald kommen.So erfordert die Bekämpfung und Vermeidung vonMenschenhandel einen ganzheitlichen und integriertenAnsatz. Neben den strafrechtlichen Regelungen benöti-gen wir weitergehende Maßnahmen der Prävention unddes Opferschutzes. Alle Politikfelder müssen verzahntund zivilgesellschaftliches Engagement muss einbezo-gen werden. Oft gelingt es nur Nichtregierungsorganisa-tionen, einen vertrauensvollen Zugang zu den Opfern zufinden. Sensibilisierungs- und Informationskampagnen,Aufklärung und Weiterbildungen, die sich an potenzielleOpfer und alle beteiligten Berufsgruppen wenden, sindals präventive Maßnahmen unerlässlich und müssenverstärkt und gefördert werden. Nur unter Beteiligungaller Akteure sind Eindämmung und Prävention vonMenschenhandel erfolgversprechend.Darüber hinaus muss mit der Ratifizierung die An-passung des deutschen Rechts einhergehen. Das gel-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22573
Marlene Rupprecht
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tende Recht erfüllt nicht die verbindlichen Vorgaben desÜbereinkommens.Dringender Handlungsbedarf besteht beim Aufent-haltsrecht. Der Aufenthaltstitel der Opfer darf nicht andie Bereitschaft geknüpft sein, als Zeuginnen und Zeu-gen in einem Strafverfahren gegen die Täter auszusagen.Es kann nicht verwundern, dass die Kooperationsbereit-schaft der Opfer angesichts von Sorgen um ihre Existenzsowie der bevorstehenden Abschiebung nach dem Ver-fahren gering ist. Eine erfolgreiche Strafverfolgung ge-lingt nur mit einem umfassenden Opferschutz.Für Minderjährige brauchen wir speziell auf sie ab-gestimmte Schutz- und Betreuungsprogramme.Es muss Sorge dafür getragen werden, dass den Op-fern Versorgungsleistungen in medizinischer, finanziel-ler und rechtlicher Hinsicht sowie Zugang zu Bildungund Arbeit und Übersetzungsdiensten gewährt werden.Das Übereinkommen sieht vor, dass bereits die Inten-tion der Tat für eine Strafverfolgung ausreicht. Die Ein-willigung des Opfers in die Abhängigkeitsbeziehung zuden Täterinnen und Tätern muss unerheblich sein. Auchhier muss das deutsche Recht angepasst werden.Zudem brauchen wir ein Zeugnisverweigerungsrechtfür Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Fachbera-tungsstellen, die Opfer von Menschenhandel unterstüt-zen.Für die Überwachung der Umsetzung des Überein-kommens ist die Expertengruppe des Europarats,GRETA, zuständig. Die Vertragsstaaten sollten natio-nale Beauftragte benennen, die gegenüber GRETA einerfortlaufenden jährlichen Berichtspflicht unterliegen. InDeutschland muss das nationale Monitoring noch eta-bliert werden. Es wäre gut, wenn eine bestimmte Personim federführenden Ressort als Ansprechpartner zur Ver-fügung stünde.Die Ratifizierung des Übereinkommens des Europa-rates ist ein wichtiger Schritt auf dem Weg zur Bekämp-fung des Menschenhandels. Nun müssen wir diesen Wegweiter gehen und alle weiteren beschriebenen notwendi-gen Maßnahmen ergreifen, um Menschenhandel zu ver-hindern und zu bekämpfen und die Opfer zu schützen.
Der Menschenhandel ist eine der schwerwiegendstenMenschenrechtsverletzungen weltweit. Erniedrigungen,Bedrohungen, sexuelle Ausbeutung und Misshandlun-gen sind dabei an der Tagesordnung.Der Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen des Euro-parates zur Bekämpfung des Menschenhandels ist daserste völkerrechtliche Übereinkommen, das einenSchwerpunkt auf den Schutz der Opfer und die Wahrungihrer Menschenrechte legt. Das Übereinkommen setzthier neue Maßstäbe im Bereich des Opferschutzes. Sowurde der Grundsatz der Nichtabschiebung bei Ver-dacht von Menschenhandel etabliert, eine Erholungs-und Bedenkzeit der Opfer von mindestens 30 Tagen ein-geführt, die Gewährung von Aufenthaltstiteln für Opferdes Menschenhandels sowie soziale Rechte, der Zugangzum Arbeitsmarkt und das Recht auf Entschädigung ge-regelt.Darüber hinaus beinhaltet der Vertrag Mindeststan-dards für den Schutz der Opfer im Rahmen des gericht-lichen Verfahrens der Täter.Menschenhandel erfolgt in erster Linie zum Zweckeder sexuellen Ausbeutung und der Zwangsprostitution.Im Jahr 2010 gab es offiziell 610 Opfer von „Menschen-handel in die sexuelle Ausbeutung“. 96 Prozent der Op-fer waren weiblich. Die Dunkelziffer dürfte jedoch sehrviel höher sein. Die betroffenen Frauen werden dabeizum Großteil mit falschen Versprechungen für eine an-geblich legale Arbeit im Ausland angeworben und imAnschluss zur Prostitution gezwungen. Viele Delikte, dieim Zusammenhang mit Menschenhandel begangen wer-den, sind nur durch die Aussagen von Opferzeuginnenzur Anklage zu bringen, eine Strafverfolgung der Tätersomit nur mithilfe der Opfer möglich. Um eine Aussageim Rahmen einer gerichtlichen Verfolgung zu ermögli-chen, bedürfen die Opfer daher eines besonderen Schut-zes, und um die langwierigen und meist quälendenVerfahren durchzustehen, brauchen die häufig traumati-sierten Frauen während ihres Aufenthalts in Deutsch-land eine qualifizierte Betreuung.Eine für die von Menschenhandel Betroffenen zen-trale Vorgabe der Europaratskonvention ist, die Unter-stützung und Betreuung von Betroffenen unabhängigvon der Aussagebereitschaft sicherzustellen. Dies ist einwichtiger Aspekt, um den Lebensunterhalt der betroffe-nen Frauen zu sichern. Entscheidend sind hier auchflankierende Hilfsangebote an Frauen, die im Rahmenvon Polizeiaktionen aufgegriffen werden. Um auch zu-künftig effektive Maßnahmen zur Bekämpfung des Men-schenhandels und zur Unterstützung Betroffener zugewährleisten, ist eine sichere und angemessene Finan-zierung der Fachberatungsstellen in diesem Zusammen-hang zwingend.Über die Aspekte des Opfer- und Zeugenschutzes hi-naus weist die Konvention einen effektiven und unab-hängigen Kontrollmechanismus auf, der zwei Ebenenbeinhaltet. Zum einen wird durch eine unabhängigeGruppe von Expertinnen und Experten ein periodischerBericht über die Vertragsparteien vorgelegt, zum ande-ren werden durch den Ausschuss der Vertragsparteienauf Grundlage des Berichts und der Äußerungen der be-troffenen Vertragspartei Empfehlungen ausgesprochen.Dieser Mechanismus hat 2010 seine Arbeit aufgenom-men. Mit dem Beitritt der Bundesrepublik wird sich auchDeutschland diesem Verfahren stellen.Darüber hinaus ist es gelungen, den Anwendungsbe-reich des Übereinkommens gegenüber dem sogenanntenPalermo-Protokoll auf alle Fälle des Menschenhandels– über diejenigen Fälle der organisierten und grenz-überschreitenden Kriminalität hinaus – auszudehnen,die Verpflichtungen in verbindlicher Sprache festzu-schreiben und die Straftatbestände zu vereinheitlichen.Zwangsprostitution ist eine klare Menschenrechtsver-letzung! Mit dem Gesetzentwurf zum EU-Übereinkom-men schafft die Bundesregierung die Voraussetzung fürZu Protokoll gegebene Reden
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22574 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Sibylle Laurischk
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einen Beitritt Deutschlands zu dem Übereinkommen, un-terstützt die effektive Bekämpfung des Menschenhandelsund zeigt ihre Bereitschaft, sich dem unabhängigen Kon-trollmechanismus des Übereinkommens zu stellen.Um die überfällige Ratifizierung dieses Übereinkom-mens und den damit verbundenen Beitritt Deutschlandsnicht noch weiter hinauszuzögern, ist es nunmehr gebo-ten, das Verfahren zügig zum Abschluss zu bringen. Da-bei können die Forderungen aus dem Antrag der Frak-tion der SPD in den vorliegenden Gesetzentwurf keinenEingang finden. Das Gesetzgebungsverfahren solltenicht mit zusätzlichem Konfliktstoff überfrachtet wer-den, indem politisch nicht mehrheitsfähige Desiderateauf das jetzige Verfahren aufgesattelt werden.Mit dem Gesetzentwurf zu dem Übereinkommen desEuroparates vom 16. Mai 2005 zur Bekämpfung desMenschenhandels werden die nach Art. 59 Abs. 2 GGgeforderten Voraussetzungen für einen Beitritt Deutsch-lands zum Übereinkommen geschaffen. Der Bundesrathat dem Entwurf in erster Behandlung am 23. September2011 zugestimmt und sich in seiner Stellungnahme derAuffassung der Bundesregierung angeschlossen, dasskein gesetzlicher Umsetzungsbedarf besteht.Bundesregierung und Bundesrat sind sich mithin ei-nig, dass die entstehenden Verpflichtungen des Überein-kommens bereits im nationalen Recht durch das Gesetzzur Umsetzung aufenthalts- und asylrechtlicher Richtli-nien der Europäischen Union vom 19. August 2007 ver-wirklicht sind.
Eine Untersuchung der Internationalen Arbeitsorga-nisation kam gerade zu dem Ergebnis, dass weltweit fast21 Millionen Menschen von Zwangsarbeit betroffensind. Dazu gehören auch Menschenhandel zum Zweckder sexuellen oder Arbeitsausbeutung. 55 Prozent dieserZwangsarbeiter sind Mädchen und Frauen. Zwei Dritteldieser Zwangsarbeit erfolgen im Privatsektor, vor allemin der Landwirtschaft, auf dem Bau, in der Industrie undin privaten Haushalten. Am größten sei das Problem inAsien, gefolgt von Afrika. Aber auch in den meisten In-dustriestaaten, einschließlich der EU, lebten 1,5 Millio-nen Zwangsarbeiter. Erschreckende Zahlen.Das Übereinkommen des Europarates vom 16. Mai2005 zur Bekämpfung des Menschenhandels enthälterstmalig eine umfassende Definition darüber, was zumMenschenhandel gehört. Demnach bezeichnete der Aus-druck Menschenhandel „die Anwerbung, Beförderung,Verbringung, Beherbergung oder Aufnahme von Perso-nen durch die Androhung oder Anwendung von Gewaltoder anderen Formen der Nötigung, durch Entführung,Betrug, Täuschung, Missbrauch von Macht oder Aus-nutzung besonderer Hilflosigkeit oder durch Gewährungoder Entgegennahme von Zahlungen oder Vorteilen zurErlangung des Einverständnisses einer Person, dieGewalt über eine andere Person hat, zum Zweck derAusbeutung. Ausbeutung umfasst mindestens die Aus-nutzung der Prostitution anderer oder andere Formensexueller Ausbeutung, Zwangsarbeit oder Zwangs-dienstbarkeit, Sklaverei oder sklavereiähnliche Prakti-ken, Leibeigenschaft oder die Entnahme von Organen.“Beim Menschenhandel handelt es sich somit um eineeklatante Menschenrechtsverletzung, in welcher Formauch immer.Die Bundesregierung hat das Übereinkommen alseine der Ersten unterschrieben. Nun soll es endlich aufden Weg der Ratifizierung gebracht werden. Dazu liegtein entsprechender Gesetzentwurf vor. Wenn man diesengelesen hat, reibt man sich verwundert die Augen: DieBundesrepublik Deutschland hat in Sachen Menschen-handel keinen Handlungsbedarf mehr, Opfer werdenhinlänglich geschützt und gestärkt, der Gesetzgeberkann sich zurücklehnen, denn er hat seine Hausaufga-ben längst gemacht.Allerdings schlägt auch hier die Macht der Realitätdurch. Opfer von Menschenhandel, ob nun zur sexuellenAusbeutung oder zur Ausbeutung der Arbeitskraft, wer-den mit einer ganz anderen bundesdeutschen Realitätkonfrontiert. Da werden Erntehelfer angeworben, denenman einen guten Lohn in Aussicht stellt. Doch dann er-halten sie einen Hungerlohn, wie jüngst in Bayern osteu-ropäische Erdbeerpflücker. Versprochen wurde ihnenein Stundenlohn von 5,10 Euro, erhalten haben sie tat-sächlich höchstens 1,20 Euro. Untergebracht wurden siein engen, überfüllten Containern, für die die Helfer3 Euro Übernachtungsgeld täglich bezahlen mussten.Dieser Fall ist kein Einzelfall. Ob in der Landwirtschaft,auf dem Bau, im Gastgewerbe oder in Privathaushalten –Arbeitsmigranten schuften auch in Deutschland unterunwürdigen Bedingungen und werden ausgebeutet. Siesind gesellschaftlich marginalisiert.Was die zuständigen NGOs an der Politik der Bun-desregierung kritisieren, ist das Fehlen eines ganzheitli-chen und menschenrechtsbasierten Ansatzes zur Stär-kung der Rechte der Betroffenen. Die Tatsache, dass esin Deutschland Menschenhandel zur Ausbeutung derArbeitskraft gibt, wird weitgehend aus dem öffentlichenBewusstsein verdrängt. Was hingegen durch die Medienstark bedient wird, sind erschreckende Aussagen überMenschenhandel zur sexuellen Ausbeutung. Das Stich-wort Zwangsprostitution ist allgegenwärtig.Laut dem Bundeslagebild 2010 zum Menschenhandeldes Bundeskriminalamtes gab es in jenem Jahr 470 Er-mittlungsverfahren im Bereich des Menschenhandels zursexuellen Ausbeutung mit 610 Opfern. Die Zahlen warenim Vergleich zum Vorjahr rückläufig, und das Bundes-kriminalamt schätzt ein: „Das von diesem Kriminali-tätsbereich ausgehende Gefährdungspotential bleibtdamit begrenzt.“Es ist nicht meine Absicht, den Menschenhandel zursexuellen Ausbeutung, den es in Deutschland gibt undbezüglich dessen von Expertinnen und Experten großeDunkelziffern vermutet werden, zu verharmlosen; dabeihandelt es sich, wie bereits betont, um eine schwereMenschenrechtsverletzung. Aber statt reißerischerSchlagzeilen wünsche ich mir vor allem eine Ausweitungund Verbesserung des Opferschutzes für alle von denverschiedensten Formen des Menschenhandels betroffe-nen Personen.Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22575
Yvonne Ploetz
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Die Position der Opfer muss gestärkt werden. Hierunterstützen wir die Forderungen des BundesweitenKoordinierungskreises gegen Frauenhandel und Gewaltan Frauen im Migrationsprozess e. V., KOK e. V., der jaauch in der Gesetzesvorlage der Bundesregierung im-mer wieder genannt wird. Dazu gehört:Die Aufenthaltsrechte der Betroffenen müssen ver-bessert werden. Es fehlt ein sicherer Aufenthaltstitel,welcher unabhängig von der Kooperation der Opfer imRahmen von Strafverfahren erteilt wird und nicht mit derBeendigung des Strafverfahrens ausläuft. Diese Forde-rung enthält im Übrigen auch das Übereinkommen desEuroparates. Tatsächlich gehört es zur gängigen Praxisin Deutschland, dass bei Betroffenen aus Nicht-EU-Ländern, für die der Aufenthaltstitel nach § 25 Abs. 4 aAufenthaltsgesetz gilt, Rechte und Leistungen an eineAussagebereitschaft gekoppelt werden. Hier bestehtHandlungsbedarf.Opfer von Menschenhandel leiden unter schwerenphysischen und psychischen Folgen ihrer Ausbeutung.Die Betroffenen erhalten Leistungen nach dem Asyl-bewerberleistungsgesetz. Damit werden aber nicht dieKosten hinsichtlich Therapien, Dolmetscher- und Fahrt-kosten abgedeckt. Das Übereinkommen des Europaratesfordert aber eine umfassende Hilfestellung für die Opfer,einschließlich Therapien und Ruhezeiten. Auch hier se-hen wir Handlungsbedarf.Was die Mitarbeiterinnen der Fachberatungsstellenebenso seit Jahren fordern, ist ein Zeugnisverweige-rungsrecht für sich selbst. In der Praxis werden Berate-rinnen immer wieder als Zeuginnen vor Gericht gela-den. Dadurch kann das Vertrauensverhältnis zwischender betroffenen Person und der Beraterin stark belastetwerden. Im Übereinkommen des Europarates sind dieUnterstützung und der Schutz der Betroffenen zentraleMomente im Kampf gegen den Menschenhandel. Demsollte die Bundesregierung nachkommen.Trotz der hier vorgetragenen Kritikpunkte, denen sichweitere hinzufügen ließen, unterstützt die Linke die Ge-setzesvorlage zum Übereinkommen des Europarates zurBekämpfung des Menschenhandels. Ich kann Ihnen zu-gleich versichern, dass wir die Bundesregierung auchweiterhin an ihren Handlungsbedarf erinnern werden,damit dieses wichtige Abkommen tatsächlich umgesetztwird.Lassen Sie mich noch eine Anmerkung zum Schlussmachen. Zur Stärkung der Opfer von Menschenhandelzählt auch, dass die zuständigen Fachberatungsstellenausreichend und langfristig finanziert und ausgestattetwerden; denn sie sind es, die die Hilfe und den Schutzvor Ort leisten. Für den bereits erwähnten BundesweitenKoordinierungskreis finanziert die Bundesregierungneben den Sachkosten gerade einmal zwei Personalstel-len – zwei Stellen, die sich drei Kolleginnen teilen. KOKe. V. hat bundesweit 38 Mitgliedsorganisationen. In ih-rer Gesetzesvorlage bezieht sich die Bundesregierungimmer wieder auf deren geleistete Arbeit. Sie sollte sieauch endlich finanziell auf sichere und vor allem starkeFüße stellen.
Die Europaratskonvention gegen Menschenhandel istam 1. Februar 2008 in Kraft getreten, mittlerweile von34 Staaten ratifiziert und von neun weiteren gezeichnet.Deutschland gehörte zwar zu den ersten Zeichnern derKonvention – 2005 –, ist nun aber unter den letzten Staa-ten des Europarates, die das Instrument ratifizieren.Die Konvention stellt als erstes international rechts-verbindliches Dokument Menschenhandel zur sexuellenAusbeutung und zur Arbeitsausbeutung ausdrücklich ineinen menschenrechtlichen Kontext und verpflichtet dieMitgliedstaaten zu umfassenden Maßnahmen zur Prä-vention von Menschenhandel, zur Strafverfolgung derTäter und Täterinnen und zum Schutz der Opfer. DenStaaten werden unter anderem umfangreiche Informa-tionspflichten und die Pflicht zur Identifikation von Op-fern auferlegt; die Entschädigungsrechte der Betroffenenwurden gestärkt. Zum Teil sind die Rechte unabhängigvon der Bereitschaft der Opfer, im Strafverfahren alsZeugen und Zeuginnen aufzutreten, zu gewähren.Es ist zwar erfreulich, dass die Bundesregierung dieEuroparatskonvention gegen Menschenhandel endlichratifiziert. Das ist aber nur der erste Schritt, dem zwin-gend weitere folgen müssen. Denn entgegen der Auffas-sung von Bundesregierung und Bundesrat sind die durchdie Regelungen des Übereinkommens entstehendenPflichten der Vertragsparteien heute nicht umfassend imdeutschen Recht verwirklicht. Es ist beschämend, dassdie Bundesregierung auch nach der Sachverständigen-anhörung im Ausschuss für Familie, Senioren, Frauenund Jugend in keiner Weise die Vorschläge nahezu allerSachverständiger zu Konsequenzen aufenthaltsrechtli-cher Art sowie bei der Information der Betroffenen um-setzen will. Dieses Verhalten ist typisch für die Bundes-regierung. Das kennen wir schon von der UN-Kinderrechtskonvention, bei der sie nach langem Wider-stand zwar die deutschen Vorbehalte zurückgenommenhat, aber die notwendigen Änderungen im deutschenRecht bis heute nicht vornimmt.Die Umsetzung der Europaratskonvention erfordertgesetzliche Neuregelungen in den Bereichen des Aufent-haltsgesetzes, des Asylbewerberleistungsgesetzes, derStrafprozessordnung, des Zweiten und Dritten BuchesSozialgesetzbuch, des Schwarzarbeitsbekämpfungsge-setzes, der Gewerbeordnung sowie der Beschäftigungs-verordnung. Dabei würde das Ratifikationsverfahrender Europaratskonvention eine Chance bieten für dieUmsetzung eines umfassenden Ansatzes zur Stärkungder Rechte der von Menschenhandel Betroffenen inDeutschland.Mit Blick auf die Entschädigungs- und Lohnansprü-che gibt es verschiedene Umsetzungsanforderungen ausder Konvention. Damit Betroffene ihre Rechte wahrneh-men können, müssen sie diese kennen. Die Informationüber die Rechte muss umfassend, unabhängig von einemStrafverfahren, ab dem Zeitpunkt, zu dem konkrete An-haltspunkte für Menschenhandel vorliegen, und in einerfür die Betroffenen verständlichen Sprache erfolgen.Für die regelmäßige Identifizierung insbesondere vonBetroffenen des Menschenhandels zur Arbeitsausbeu-Zu Protokoll gegebene Reden
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22576 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Memet Kilic
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tung muss sichergestellt werden, dass alle Kontrollbe-hörden, die mit Betroffenen in Kontakt kommen können,Kenntnisse über Anzeichen von Menschenhandel, dasVerhalten von Opfern sowie zumindest über das Rechtauf die dreimonatige Bedenkfrist besitzen. Dies betrifftzum Beispiel die Polizei, die Finanzkontrolle Schwarz-arbeit und die Gewerbeaufsicht. Betroffene müssen dannfür eine weitergehende Beratung und Unterstützung,auch bei der Rechtsdurchsetzung, an spezialisierte Be-ratungsstellen vermittelt werden. Diese Unterstützungs-struktur muss ausgebaut werden.Damit die Beratungs- und Betreuungsstellen ihrewichtigen Aufgaben ausüben können, muss die Bundes-regierung sicherstellen, dass die Organisationen aufeine sichere und verbindliche Finanzierung zurückgrei-fen können. Bei einer konsequenten Verweisung vonKontrollbehörden an die Fachberatungsstellen wird de-ren Bedarf noch steigen.Betroffene müssen befähigt werden, ihre Ansprüchegegen die Täter und den Staat tatsächlich durchzusetzen.Das erfordert die Erteilung von Aufenthaltstiteln zurRechtsdurchsetzung sowie den Zugang von irregulärenBetroffenen zu staatlichen Entschädigungsleistungen.Als Ausgleich für die zahlreichen Hindernisse bei derErlangung von Entschädigungsleistungen sollte ein Auf-fangfonds eingerichtet werden.Die Konvention verlangt schließlich ganz klar, dassden Opfern ein verlängerbarer Aufenthaltstitel erteiltwird, wenn dies aufgrund deren persönlicher Situationerforderlich ist. Die Aufenthaltserlaubnis von der Betei-ligung im Strafverfahren gegen die Täter abhängig zumachen, wie es das deutsche Recht tut, steht also im kla-ren Widerspruch zur Europaratskonvention. Auch hierbesteht dringender Änderungsbedarf.Der Antrag der SPD kritisiert, dass der Gesetzent-wurf der Bundesregierung keinen Bedarf zur Umsetzungder im Übereinkommen des Europarates festgelegtenRegelungen vorsieht; das geltende Recht erfülle nichtdie zwingenden Vorgaben des Übereinkommens. Das istauch grüne Position. Deswegen stimmen wir dem An-trag der SPD zu.Wir erarbeiten zurzeit einen Umsetzungsvorschlag,den wir zeitnah in den Bundestag einbringen werden.
Wir kommen zur Abstimmung.Tagesordnungspunkt 40 a. Abstimmung über den vonder Bundesregierung eingebrachten Gesetzentwurf zudem Übereinkommen des Europarats vom 16. Mai 2005zur Bekämpfung des Menschenhandels. Der Ausschussfür Familie, Senioren, Frauen und Jugend empfiehlt un-ter Buchstabe a seiner Beschlussempfehlung auf Druck-sache 17/10165, den Gesetzentwurf der Bundesregie-rung anzunehmen.Zweite Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist angenommen.Tagesordnungspunkt 40 b. Beschlussempfehlung desAusschusses für Familie, Senioren, Frauen und Jugendzu dem Antrag der Fraktion der SPD mit dem Titel„Übereinkommen des Europarats zur Bekämpfung desMenschenhandels korrekt ratifizieren – Deutsches Rechtwirksam anpassen“. Der Ausschuss empfiehlt unterBuchstabe b seiner Beschlussempfehlung auf Drucksa-che 17/10165, den Antrag der Fraktion der SPD, Druck-sache 17/8156, abzulehnen. Wer stimmt dafür? – Werstimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Beschluss-empfehlung ist angenommen.Tagesordnungspunkt 40 c. Beschlussempfehlung desAusschusses für Menschenrechte und Humanitäre Hilfezu dem Antrag der Fraktion Die Linke „Menschenhandelbekämpfen – Opferschutz erweitern“. Der Ausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung, Drucksa-che 17/9195, den Antrag der Fraktion Die Linke aufDrucksache 17/3747 abzulehnen. Wer stimmt dafür? –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Die Be-schlussempfehlung ist angenommen.
– Ich unterrichte Sie: Es steht 1:0 für Italien.
Ich fahre in der Tagesordnung fort, damit Sie demnächstentsprechend Beistand organisieren können.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 41 a und b auf:a) Beratung des Antrags der Abgeordneten Dr. IljaSeifert, Sabine Zimmermann, Jutta Krellmann,weiterer Abgeordneter und der Fraktion DIELINKEGute Arbeit für Menschen mit Behinderung– Drucksache 17/9758 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
RechtsausschussFinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieAusschuss für Familie, Senioren, Frauen und JugendAusschuss für Bildung, Forschung undTechnikfolgenabschätzungHaushaltsausschussb) Beratung des Antrags der Abgeordneten SilviaSchmidt , Anette Kramme, JosipJuratovic, weiterer Abgeordneter und der Frak-tion der SPDAusgleichsabgabe erhöhen und Menschen mitBehinderung fairen Zugang zum Arbeits-markt ermöglichen– Drucksache 17/9931 –Überweisungsvorschlag:Ausschuss für Arbeit und Soziales
FinanzausschussAusschuss für Wirtschaft und TechnologieWir nehmen die Reden zu Protokoll.
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22577
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In Deutschland ist die Arbeitslosigkeit erheblichgesunken. Die Beschäftigungsquote hat einen Rekord-stand erreicht. Das ist die gute Nachricht.Weniger gut ist die Nachricht, dass schwerbehinderteMenschen bisher aus diesem wirtschaftlichen Auf-schwung nicht den gewünschten Nutzen ziehen konnten.Das hat viele Ursachen. Es ist eine gesamtgesellschaft-liche Aufgabe, sich mit diesen Ursachen auseinanderzu-setzen. Wenn wir politisch permanent vom drohendenFachkräftemangel sprechen, dürfen wir das Potenzial,das heißt die Fähigkeiten und Fertigkeiten von Men-schen mit Behinderungen, nicht aus den Augen verlie-ren.Insofern greifen die beiden uns heute vorliegendenAnträge der Linken und der SPD ein berechtigtes Themaauf. Auch die CDU/CSU-Bundestagsfraktion und anderehaben zu diesem Thema vielfältige Aktivitäten gestartet.Jeder sollte es tun: der öffentliche Dienst, die Unterneh-men, die Vermittlungsagenturen – de facto alle, weil alleangesprochen sind und es sich auch hier um eine Quer-schnittsaufgabe handelt. Wir werden diese Aufgaben-stellung umso besser erfüllen, desto selbstverständlicheres in unserer Gesellschaft wird, dass Menschen mit undohne Behinderung zusammen in einer Abteilung, ineinem Betrieb oder in einer Institution arbeiten. Dasalles hat etwas mit unserer mitmenschlichen Grundein-stellung zu tun.Welche Lösungsansätze diskutieren wir hier heute?Der Antrag „Gute Arbeit für Menschen mit Behinde-rung“ zeigt in zehn Punkten Lösungsansätze auf, die inder Grundtendenz zentralistisch bleiben nach demMotto: Die bösen Arbeitgeber – der Staat muss eingrei-fen und richten, gegebenenfalls mit Sanktionen.Der Antrag der SPD sagt ganz einfach: Wir brauchenfür die Beschäftigung von Menschen mit Behinderungmehr Geld, also Ausgleichsabgabe nach oben.Beide Anträge gehen vom Art. 27 der UN-Behinder-tenrechtskonvention aus, wonach Menschen mit Behin-derung das gleiche Recht auf Arbeit haben und damit dieMöglichkeit, den eigenen Lebensunterhalt durch Arbeitzu verdienen. Auch wir nehmen diesen Ansatz sehr ernst.Wir glauben aber nicht daran, dass verschärfte Sanktio-nen und höhere Abgaben an der Grundeinstellung vonsich reserviert verhaltenden Arbeitgebern und auchArbeitnehmern als Kollegen von behinderten Menschenetwas ändern werden. Es ist die Einsicht, die ganz inneremenschliche Einsicht, die da sein muss, damit es Selbst-verständlichkeit wird, Menschen mit einer Behinderungeine gleichberechtigte Chance einzuräumen. Und demaufmerksamen Stellenausschreibungsleser ist nicht un-bemerkt geblieben, dass Unternehmen – leider immernoch zu selten – Folgendes inserieren: „Als barriere-freies Unternehmen begrüßen wir Bewerbungen vonSchwerbehinderten mit entsprechender Qualifikation.“Solche positiven Beispiele gilt es publik zu machenund damit Personalverantwortliche zu diesem Schrittnachdrücklich zu ermuntern.Unser gemeinsames Ziel ist, mehr Menschen mit Be-hinderung zu beschäftigen, ihnen die Chance zu geben,den eigenen Lebensunterhalt zu erarbeiten. Dabei ist zuberücksichtigen, dass es durchaus Mitarbeiter gibt, dieaufgrund ihrer Behinderung eine Leistungseinschrän-kung haben. Deshalb werden individuelle Maßnahmenbesprochen und umgesetzt, die verhindern, dass der je-weiligen organisatorischen Einheit Nachteile entstehen.Die Bundesagentur für Arbeit hat ausreichende Mittel,dies zu unterstützen.In diesem Bereich sind keine Kürzungen vorgenom-men worden, wie behauptet wird.Über die Schaffung integrativer Arbeitsplätze ist zuerreichen, Menschen mit einer Behinderung an die Be-dingungen des ersten Arbeitsmarktes zu gewöhnen, sichausprobieren zu lassen und letztlich entsprechend derpersönlichen Voraussetzungen zu integrieren.Über das SGB II, III und IX werden behinderte jungeMenschen durch die Bundesagentur für Arbeit bereitsvor der Schulentlassung mit einem umfangreichenDienstleistungsangebot der beruflichen Orientierungund Beratung beim Übergang von der Schule in denBeruf unterstützt. Aktuell wird dieser Prozess über dasInklusionsprogramm der Bundesregierung in den Län-dern zusätzlich modellhaft unterstützt. Wir alle wolleneine größere Durchlässigkeit am Arbeitsmarkt. Wirarbeiten daran, die Bedingungen so zu gestalten, dassdies leichter als bisher in beide Richtungen möglich ist.Immerhin waren 2011 47 264 behinderte Menschenin einer berufsfördernden Maßnahmen und 20 446 Per-sonen im Eingangsverfahren. Mehr als bisher solltenauch für Menschen mit einer geistigen Behinderung ausder Werkstatt ausgelagerte Arbeitsplätze entstehen. Wirmüssen uns darauf einstellen, dass auch die wachsendeZahl chronisch psychisch kranker Menschen unsereganzheitliche Betrachtung erwarten und für sie Chanceneröffnet werden. Das geschieht durch viele, viele ein-zelne, sehr individuelle Initiativen vor Ort, denn dasThema wohnortnahe Arbeit dürfen wir ebenfalls nichtaus dem Fokus verlieren. Man kann Arbeit auch durchextrem lange Arbeitswege sehr verteuern und damit dieChancen grundsätzlich einschränken.In Deutschland bestehen zahlreiche gesetzliche Rege-lungen, die die Sicherheit und Gesundheit am Arbeits-platz gewährleisten, zum Beispiel Arbeitsschutzgesetz,Arbeitszeitgesetz, Arbeitsstättenverordnung, Teilzeit-und Befristungsgesetz, Kündigungsschutzgesetz undviele, viele Verordnungen für die jeweils spezifischenBereiche. Das alles dient auch dazu, die Beschäfti-gungsfähigkeit von Menschen zu erhalten, die im Laufedes Berufslebens eine Behinderung erwerben, und durchdie Gestaltung des Arbeitsplatzes bzw. eine flexible Ar-beitsorganisation und vor allem durch eine individuelleRehabilitation das Arbeiten zu ermöglichen.Ja, die Beschäftigungsquote lag 2009 in Deutschlandnicht bei durchschnittlich 5 Prozent, wie gesetzlich fest-gelegt, sondern bei 4,5 Prozent. Das ist unbefriedigend.Wir wissen, dass der besondere Kündigungsschutz fürMenschen mit einer Behinderung immer wieder als Ar-Zu Protokoll gegebene Reden
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Maria Michalk
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gument gebracht wird, um lieber den bequemeren Wegzu gehen und sich mit der Ausgleichszahlung zu begnü-gen. Das ist auch für uns durchaus ein Thema. DieLösung sehen wir, wie gesagt, nicht in der Erhöhung derAusgleichsabgabe als Strafzahlung, sondern im Darstel-len der Notwendigkeit, sich diesem Thema Schritt fürSchritt zu nähern, auch im Wissen darüber, dass durcheinen Unfall oder durch eine Krankheit jedem Menschenein solches Schicksal widerfahren kann, auch dem Chefeines Unternehmens selbst.Wir brauchen ein Umdenken in allen Arbeitsberei-chen.Ich will auch auf die notwendige Vorbildfunktion deröffentlichen Arbeitgeber hinweisen. Seit gut zehn Jahrenstellen sie mehr Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter miteiner Schwerbehinderung ein. In 2009 waren ein Drittelder schwerbehinderten Beschäftigten im öffentlichenDienst beschäftigt. Die Quote lag im Bundesdurch-schnitt bei 6,3 Prozent und damit über dem Pflichtanteilvon derzeit 5 Prozent und damit auch über den geforder-ten 6 Prozent. Das ist ein guter Trend, der noch deutlichweiter voranschreiten sollte.Trauen wir doch den Menschen mit Behinderungmehr zu und trauen wir uns alle stärker zu, Menschenmit Behinderung in unsere Arbeit auf allen Gebieten ein-zubeziehen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken! Wir de-battieren heute Ihren Antrag „Gute Arbeit für Menschenmit Behinderung“ – ein Thema, über das man eigentlichgar nicht oft genug sprechen kann; denn die gleichbe-rechtigte und selbstbestimmte Teilhabe von Menschenmit Behinderungen in der Gesellschaft sollte eine Her-zensangelegenheit von uns allen sein. Allerdings findeich es – wie so häufig bei den Anträgen der Linken –überaus interessant, zu sehen, dass die Fraktion DieLinke es abermals schafft, einen Antrag vorzulegen, derkeinerlei Aspekte enthält, die die Bundesregierung in ih-rer Arbeit nicht bereits bedacht hätte.Meine Damen und Herren der Linken, Sie erinnernsich sicher daran, dass wir von der christlich-liberalenKoalition bereits Anfang 2011 den Antrag „Für eine um-fassende Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-tion – Nationaler Aktionsplan als Leitlinie“ auf den Weggebracht haben. Mit dem im Dialog mit Behinderten so-wie deren Verbänden erarbeiteten Nationalen Aktions-plan hat die Bundesregierung den Weg dafür geebnet– das wird in den kommenden Jahren das Leben vonMillionen von Menschen mit Behinderung maßgeblichbeeinflussen –: hin zu einer Gesellschaft, an der alleMenschen gleichsam teilhaben. Und damit meine ich be-sonders auch diejenigen, die nicht das Glück hatten, miteiner vollkommenen Gesundheit gesegnet zu werden.Leitgedanke und Handlungsprinzip hierbei ist die Ideeder Inklusion.Liebe Kolleginnen und Kollegen der Linken, Sie for-dern gute Arbeit für Menschen mit Behinderung – unddas ist richtig! Eine inklusive Arbeitswelt zu entwickeln,ist ein Kernanliegen der christlich-liberalen Koalition.Einer Beschäftigung nachzugehen, bedeutet für alleMenschen persönliche Unabhängigkeit, Selbstbestäti-gung und ist für die Selbstverwirklichung unerlässlich.Der Aktionsplan beschäftigt sich neben dem Leitge-danken der Inklusion auch ausführlich mit der Teilhabegehandicapter Menschen an der Arbeitswelt. Uns stehtein umfassendes Leistungsspektrum für Menschen mitBehinderung zur Verfügung, wobei ich insbesondere dieLeistungen zur Teilhabe am Arbeitsleben nennenmöchte, die auf die individuellen Wünsche der Betroffe-nen eingehen. Nach dem SGB IX stehen Maßnahmen wiestufenweise Wiedereingliederung, Eingliederungszu-schüsse, Aus- und Weiterbildungsförderung bis hin zuLeistungen zur behindertengerechten Gestaltung vonArbeitsplätzen zur Verfügung. Der Aktionsplan enthältferner konkrete Maßnahmen der Bundesagentur für Ar-beit, die in ihrem Haushaltsplan für 2012 für die Teil-habe behinderter Menschen am Arbeitsleben einen Be-trag von rund 2,4 Milliarden Euro bereitstellt.Um das Potenzial von Menschen mit Behinderungenfür den Arbeitsmarkt steigern zu können, sind kontinu-ierliche Betreuung vor dem Übergang wie auch währenddes Übergangs in Ausbildung und Beruf, genauso wiedanach und eine gezielte Vermittlung und weitere Quali-fizierung vonnöten. Die „Initiative für Ausbildung undBeschäftigung“ verfolgt das Ziel, Menschen mit Behin-derungen mehr Ausbildungs- und Beschäftigungsmög-lichkeiten auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu er-schließen.Zusätzlich werden mit der „Initiative Inklusion“100 Millionen Euro zur Verbesserung der Berufsorien-tierung und zum Ausbau der betrieblichen Ausbildungfür schwerbehinderte Jugendliche zur Verfügung ge-stellt.Nebenbei erwähnt, hat die Bundesregierung unterdem Slogan „Behindern ist heilbar“ zudem die Dach-kampagne zur Umsetzung der UN-Behindertenrechts-konvention gestartet, aus der Sie, liebe Kolleginnen undKollegen der Linken, sich in dieser Wahlperiode bereitseinen Antrag zu eigen gemachthaben.All das zeigt doch, dass wir von der unionsgeführtenBundesregierung mit dem Thema richtungsweisend vo-ranschreiten und der Antrag der Fraktion Die Linke kei-nerlei Aspekte enthält, die wir nicht schon auf den Weggebracht hätten.Mit den in Ihrem Antrag enthaltenen kostenintensivenMaßnahmen und Programmen sowie Ihrer Forderungnach zahlreichen Sonderstellungen torpedieren Sie dochgerade den Gedanken der Inklusion. Denn wir wollendoch gerade eine vollständige gesellschaftliche Einglie-derung erreichen.Im Übrigen möchte ich noch einmal explizit daraufhinweisen, dass auch die Sachverständigen im Rahmender öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit undSoziales Ende März der Umsetzung des Nationalen Ak-tionsplans ein gutes Zeugnis ausgestellt haben. So hatdie Bundesagentur für Arbeit im Rahmen der AnhörungZu Protokoll gegebene Reden
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Paul Lehrieder
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berichtet, dass sich die Situation von Menschen mit Be-hinderung auf dem Arbeitsmarkt seit Einführung des Ak-tionsplans nachhaltig verbessert habe.Viele Behinderte verfügen über außerordentlich guteQualifikationen, die es im Zuge des anhaltenden Fach-kräftemangels zu nutzen gilt. Liebe Kolleginnen undKollegen der Linken, Sie sind herzlich eingeladen, unsbei der weiteren Umsetzung der UN-Behindertenrechts-konvention konstruktiv zu unterstützen, um die Situationvon Menschen mit Behinderung auf dem Arbeitsmarktnoch weiter zu verbessern. Das wäre allemal sinnvoller,als die Zeit mit Abkupfern unserer Vorhaben und Anträ-gen zu vergeuden.Hier brauchen wir die Beiträge aller.
Wir alle wollen, dass Menschen mit Behinderungvolle und wirksame gesellschaftliche Teilhabe erhalten.Zur umfassenden Teilhabe gehört selbstverständlich dervollständige Zugang zum Arbeitsmarkt.In der UN-Behindertenrechtskonvention steht auchdas Recht auf Arbeit. In Art. 27 heißt es, die Arbeitsauf-nahme von Menschen mit Behinderung ist durch staatli-che Maßnahmen zu fördern.Wir als SPD-Fraktion nehmen die UN-Behinderten-rechtskonvention sehr ernst. Deswegen bringen wirheute den Antrag mit dem Titel „Ausgleichsabgabe er-höhen und Menschen mit Behinderung fairen Zugangzum Arbeitsmarkt ermöglichen“ ein. Mit der Umsetzungunserer Forderungen wird Menschen mit Behinderungein fairer Zugang zum Arbeitsmarkt ermöglicht.Fakt ist aber: Obwohl die Arbeitslosenzahlen inDeutschland insgesamt sinken, finden immer mehr Men-schen mit Behinderung keine Arbeit. Im Mai dieses Jah-res waren über 175 000 schwerbehinderte Menschen ar-beitslos. Dieser Trend des Ausgrenzens von Menschenmit Behinderung muss gestoppt werden. Es kann nichtsein, dass einerseits über Fachkräftemangel geklagtwird und andererseits Menschen nicht eingestellt wer-den, weil sie eine Behinderung haben.Wir müssen uns auch immer vor Augen führen: Vieleder rund 9,6 Millionen Behinderungen sind durch einenUnfall oder eine chronische Krankheit verursacht. VonGeburt an sind nur 4 Prozent betroffen.In Deutschland haben die Arbeitgeber eine gesetzli-che Pflicht zur Beschäftigung von schwerbehindertenMenschen – und das ist gut so. Unternehmen, die min-destens 20 Vollzeitarbeitsplätze haben, müssen wenigs-tens 5 Prozent schwerbehinderte Menschen beschäfti-gen. Also von 20 Mitarbeiterinnen und Mitarbeitermindestens eine oder einen.Die Unternehmen, die ihrer Beschäftigungspflichtnicht nachkommen, haben eine Ausgleichsabgabe zuzahlen. Die Praxis zeigt, dass die Abgabe oft als eine ArtFreikauf von der Pflicht zur Beschäftigung genutzt wird.Folge dieses Freikaufs ist, dass mittlerweile fast jederdritter Arbeitgeber die gesetzliche Beschäftigungs-pflicht gar nicht oder völlig unzureichend erfüllt. Folgedieses Freikaufs ist auch, dass wir in Deutschland nureinen prozentualen Anteil von 4,5 Prozent schwerbehin-derter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer haben.Während die öffentlichen Arbeitgeber ihrer Pflichtmehr als nachkommen, macht das die private Wirtschaftnicht. Sicher: Wir müssen darüber aufklären und dazuberaten, was die Einstellung eines Menschen mit Behin-derung bedeutet. Dafür haben wir hervorragendeDienste und Einrichtungen, von der Bundesagentur fürArbeit über die Integrationsämter bis zu den Integra-tionsfachdiensten.Aber offenem Unwillen und offener Diskriminierungmüssen wir auch mit strengen Maßnahmen begegnen.Für uns als SPD-Fraktion ist ganz klar: Hier bestehtdringender Handlungsbedarf! Wir wollen, dass die Ar-beitgeber ihrer Verpflichtung zur Beschäftigung behin-derter Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer auch in derWirklichkeit endlich nachkommen.Getreu nach dem Motto der UN-Behindertenrechts-konvention „Nichts über uns ohne uns“ haben wir zu-sammen mit den Betroffenen und ihren Verbänden disku-tiert, wie wir einen fairen Zugang zum Arbeitsmarktermöglichen können.Erstens. Wir wollen die derzeitige Trennung vonschwerbehinderten Menschen und nicht schwerbehin-derten Menschen schrittweise auflösen, weil sie demInklusionsgedanken der UN-Behindertenrechtskonven-tion widerspricht. Auch ein geringerer Grad der Behin-derung als 20 kann im Arbeitsleben zu Einschränkungenführen und damit Teilhabe verhindern. Das wollen wirändern.Zweitens. Die bestehende Gesetzeslage privilegiertUnternehmen, die viele geringfügig Beschäftigte einset-zen, denn Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die we-niger als 18 Stunden arbeiten, werden nicht gezählt. Wirsetzen uns dafür ein, dass dieser Paragraf gestrichenwird. Unternehmen dürfen nicht dafür belohnt werden,dass sie einerseits massenhaft prekäre Beschäftigungs-verhältnisse anbieten und dann aufgrund der statisti-schen Zählweise sich noch um gesetzliche Regelungenzur Beschäftigungspflicht herumdrücken können.Drittens. Die Beschäftigungspflichtquote muss auf6 Prozent erhöht werden. Mehr Menschen mit Behinde-rung brauchen eine reale Perspektive auf dem Arbeits-markt.Ich möchte nochmal erinnern: Wir hatten die Quoteschon einmal von 6 Prozent auf 5 Prozent abgesenkt undhaben der Wirtschaft damit ein Angebot gemacht. Diesist nicht angenommen worden, darauf müssen wir re-agieren.Dem Freikaufen der Unternehmen von ihrer Beschäf-tigungspflicht muss ein Riegel vorgeschoben werden.Deswegen treten wir für eine gestaffelte Erhöhung derAusgleichsabgabe ein. Bei einer Beschäftigungsquotevon weniger als 2 Prozent sollen die Arbeitgeber proMonat 750 Euro statt bisher 290 Euro als Ausgleich zah-len. Unternehmen, die 2 bis weniger als 3 Prozent Men-schen mit Behinderung beschäftigen, sollen monatlichZu Protokoll gegebene Reden
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Mechthild Rawert
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500 Euro statt bisher 200 Euro zahlen. Bei einer Be-schäftigungsquote von 3 bis weniger als 6 Prozent solldann eine Ausgleichsabgabe von monatlich 250 Eurostatt bisher 115 Euro pro fehlendem Arbeitsplatz gezahltwerden müssen.Viertens. Wir wollen die Inklusion auf dem ersten Ar-beitsmarkt fördern. Deswegen sollen mehr Mittel ausder Ausgleichsabgabe für die Förderung von Integra-tionsunternehmen und Inklusionsprojekten verwendetwerden. Hier arbeiten 25 bis 50 Prozent Menschen mitBehinderung auf dem ersten Arbeitsmarkt. Die Integra-tionsunternehmen leisten echte Inklusion. Sie müssenstärker gefördert werden. Nach eigener Aussage derBundesarbeitsgemeinschaft der Integrationsunterneh-men könnten in den bestehenden Projekten sehr schnellmindestens 10 000 Arbeitsplätze geschaffen werden.Dafür sollte die Bundesregierung alle Ressourcen akti-vieren; denn dies kommt den Menschen direkt zugute.Es kommt darauf an, dass die Menschen gefördertwerden und nicht die Institutionen, daher ist die Be-schäftigung auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt und inIntegrationsunternehmen und -abteilungen so wichtig.Dafür gibt es viele gute Beispiele.Diese Bundesregierung muss nur endlich einmal tätigwerden, anstatt sich auf einem Aktionsplan auszuruhen,der den Namen nicht verdient.Fünftens. Wir möchten die Schwerbehindertenvertre-tungen nach dem SGB IX zu Behindertenvertretungenweiterentwickeln. Die gewählten Vertrauensleute habensich zu einem Motor für eine bessere Inklusion in Arbeit,Beruf und Gesellschaft entwickelt. Für die Durchsetzungvon mehr Teilhaberechten gemäß der UN-Behinderten-rechtskonvention ist die Stärkung der Behindertenver-tretungen nötig.Sechstens. Die SPD-Fraktion tritt für mehr Transpa-renz ein. Daher fordern wir, dass die Bundesagentur fürArbeit eine jährliche Übersicht über die Erfüllung derBeschäftigungsquote von Menschen mit Behinderungerstellt und diese dann auch veröffentlicht.Wir brauchen eine bessere Beratung und Vermittlungvon arbeitslosen Menschen mit Behinderung. In allenAgenturen für Arbeit und Jobcentern sind speziell quali-fizierte Fachkräfte einzuführen, die Menschen mit Be-hinderung kompetent beraten und vermitteln. Das ist einwichtiger Schritt, um die Benachteiligung von Menschenmit Behinderung abzubauen.Siebtens. Bisher werden Verstöße gegen die Beschäf-tigungspflicht kaum geahndet. Doch die Nichterfüllungder Beschäftigungspflicht stellt eine Ordnungswidrigkeitmit empfindlichen Geldbußen dar. Es hat sich gezeigt,dass die Bundesagentur für Arbeit nicht die geeigneteVerwaltungsbehörde ist, um diese Ordnungswidrigkeitenzu verfolgen.Wir schlagen daher vor, dass die Durchsetzung derBeschäftigungspflicht auf die Finanzkontrolle übertra-gen wird. Diese hat sich bereits bei der Bekämpfung ille-galer Beschäftigung und Schwarzarbeit bewährt.Sie sehen, wir von der SPD-Fraktion meinen es ernstmit der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-tion. Wir wollen Menschen mit Behinderung fairen Zu-gang zum Arbeitsmarkt ermöglichen. Wir wollen denMenschen Perspektiven geben und volle Teilhabe am ge-sellschaftlichen Leben. Wir sind davon überzeugt, dassalle dabei gewinnen: Menschen mit und Menschen ohneBeeinträchtigung.
Was haben die Unternehmen Globetrotter, DaimlerAG, Metro Group und die Deutsche Telekom gemein-sam? Sie alle beschäftigen motivierte Menschen mitganz unterschiedlichen Behinderungen. Sie alle habenerkannt, dass sich das Engagement für behinderte Men-schen lohnt. Sie alle zeigen, dass sich Leistungsfähig-keit, Inklusion und wirtschaftlicher Erfolg nicht aus-schließen. Und sie alle machen deutlich, worauf esankommt: eine Win-win-Situation für alle zu schaffen.Dafür brauchen wir Vorbilder. Mit gutem Beispiel vo-rangehen, heißt die Devise. Die Deutsche Telekom zumBeispiel beschäftigt über 100 000 Mitarbeiter inDeutschland. Davon haben 6,2 Prozent eine Schwerbe-hinderung. Unternehmen wie die Deutsche Telekom zei-gen, dass Menschen mit Behinderung am Arbeitslebenteilhaben. Vor allem größere Arbeitgeber besetzen mehrPflichtarbeitsplätze für Schwerbehinderte – mehr, als siegesetzlich müssten.Es ist sehr erfreulich, dass die Zahl der unbesetztenPflichtstellen deutlich zurückgeht. Die Bundesagenturfür Arbeit hat zudem im März dieses Jahres bekanntge-geben, dass die Unterbeschäftigung bei schwerbehin-derten Menschen erkennbar zurückgeht. Davon, dassein Rückgang unter bereits erreichtes Niveau drohe, wiedie Linken in ihrem Antrag schreiben, kann also keineRede sein.Trotz Wirtschaftskrise waren im Jahresdurchschnitt2009 mehr Pflichtarbeitsplätze schwerbehinderter Men-schen bei Arbeitgebern mit mehr als 20 Mitarbeitern be-setzt als ein Jahr zuvor. Das hat die Bundesagentur inihrer Arbeitsmarktberichterstattung bekanntgegeben.Es ist richtig, dass immer noch mehr UnternehmenMenschen mit Behinderung einstellen könnten. Esstimmt, dass es Vorbehalte gegenüber Menschen mit Be-hinderung gibt und dass Barrieren bestehen, die die In-tegration schwerbehinderter Menschen in den ersten Ar-beitsmarkt erschweren.Die Problemlagen sind dabei sehr komplex. Folgender Wirtschaftskrise, Art und Schwere der Behinderung,Unwissenheit und Scheu der Arbeitgeber, mangelndeBarrierefreiheit, all das kann als Ursache für eine unbe-friedigende berufliche Teilhabe gesehen werden.Doch so vielschichtig das Problemfeld ist, so viel-schichtig sind auch die Lösungsansätze. Es existiert be-reits ein breites Instrumentarium zur beruflichen Ein-gliederung. Dieses gilt es voll auszuschöpfen. Mit derUnterstützten Beschäftigung, der Arbeitsassistenz unddem Persönlichen Budget für Arbeit sind gute Ansätzeentwickelt worden. Auch die individuelle Arbeitsplatz-Zu Protokoll gegebene Reden
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Gabriele Molitor
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ausstattung und die Kooperation mit Integrationsfach-diensten und sogenannten Coaches tragen zu einergelungenen betrieblichen Integration bei. Von der Zu-sammenarbeit und der Unterstützung profitieren alle –Mitarbeiter mit Behinderung, Kollegen, Vorgesetzte unddie Geschäftsführung. Wichtig ist, die guten Ansätze, diebereits entwickelt und in der Praxis erprobt wurden,auch für Arbeitgeber bekannter zu machen.Trotzdem wird die bezahlte Arbeit in Werkstätten derBehindertenhilfe für viele Menschen mit Behinderungendie einzige Möglichkeit bleiben, zu arbeiten und mussdeshalb dringend erhalten bleiben.Ich halte es darüber hinaus für wichtig, dass Unter-nehmen, die Menschen mit Schwerbehinderung beschäf-tigen, gewürdigt werden. Denn Vorurteile gegenüberMitarbeitern mit Behinderung werden am besten durchBeispiele von Arbeitgebern widerlegt, die schwerbehin-derte Menschen beschäftigen. Die Unternehmen zeigenso, dass die Beschäftigung von Menschen mit Behinde-rung einen Gewinn für alle darstellen kann. Solche Be-triebe und Unternehmen auszuzeichnen und deren posi-tives Beispiel öffentlich zu machen, hat eineVorbildwirkung.Es ist erfreulich, dass bereits ein breites Spektrum anAktionen, Wettbewerben und Preisen existiert und in vie-len Kommunen, Städten und Ländern Arbeitgeber mitbehindertenfreundlicher Personalpolitik auszeichnetwerden. Zum ersten Mal wurde in diesem Jahr der Inklu-sionspreis „Unternehmen fördern Inklusion” ausgelobt.Diese Initiative geht auf das UnternehmensForum zu-rück. Es wird vor dem Hintergrund des demografischenWandels sehr deutlich, dass Unternehmen großes Inte-resse daran haben, Menschen mit Behinderung in dasWirtschaftsleben zu integrieren. Gerade in Zeiten desFachkräftemangels sind sie auf Menschen mit Behinde-rungen angewiesen. So sagt Olaf Guttzeit, Vorstands-vorsitzender des UnternehmensForums, zu Recht, dassdie Wirtschaft Menschen mit Behinderung braucht.Ich bin der Ansicht, dass die Teilhabe behinderterMenschen am Arbeitsleben sowohl eine sozialpolitischeAufgabe als auch betriebswirtschaftlich sinnvoll undvolkswirtschaftlich notwendig ist. Die UN-Behinderten-rechtskonvention betont ausdrücklich den uneinge-schränkten Zugang behinderter Menschen zum allge-meinen Arbeitsmarkt . Seit Jahren wirbt dieFDP mit der Botschaft, dass behinderte Menschen amrichtigen Platz in der richtigen Weise eingesetzt, wert-volle Mitarbeiter sind. Hierfür werden wir uns weiterhineinsetzen.Mit dem Nationalen Aktionsplan der Bundesregie-rung zur Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonven-tion und mit der Initiative Inklusion sind wir auf einemguten Weg. Vor allem ältere und junge Menschen mit Be-hinderung profitieren von der Initiative Inklusion. DieInklusionskompetenzen bei den Kammern zu fördern,schwerbehinderten Jugendlichen den Zugang zu Ausbil-dung und Beschäftigung zu erleichtern und ältere Men-schen mit Behinderung wieder in denArbeitsmarkt zu integrieren, sind genau die Schritte, dienotwendig sind.Ich denke nicht, dass eine Erhöhung der Ausgleichs-abgabe, so wie es die Linken in ihrem Antrag fordern, zudem gewünschten Ergebnis führt. Wenn wir wollen, dassmehr Menschen mit Behinderung auf dem ersten Ar-beitsmarkt arbeiten, dürfen die Hürden für Arbeitgebernicht größer werden. Die Strategien der Linken und derSPD, die mit ihren Anträgen mehr Beschäftigung vonschwerbehinderten Menschen gewährleisten wollen,sind meines Erachtens ungeeignet. Als FDP setzen wiruns mit Nachdruck für den Abbau von Diskriminierungund für mehr Teilhabe von Menschen mit Behinderungauf dem Arbeitsmarkt ein. Wir wollen, dass mehr Men-schen mit Behinderung für ihren Lebensunterhalt selbstsorgen können. Deshalb müssen wir genau hinsehen, obgut gemeinte Schutzgesetze oder scharfe Sanktionenwirklich den gewünschten Effekt erzielen oder Inklusioneher erschweren.In diesem Sinne ist es gut, dass das Bundesministe-rium für Arbeit und Soziales eine Evaluation des SGB IXvornimmt. Dabei gehört dann auch auf den Prüfstand,ob spezielle Kündigungsschutzgesetze für Menschen mitBehinderung kontraproduktiv sind und nicht zu mehr,sondern zu weniger Beschäftigung und Gleichberechti-gung von Menschen mit Behinderungen führen. Arbeit-gebern müssen aus der Beschäftigung von Menschen mitBehinderungen Vorteile erwachsen, nicht Nachteile. DieWiedereinführung der 6-Prozent-Quote ist deshalb derfalsche Weg. Mehr Gleichbehandlung in der Gesell-schaft wird so nicht erzielt.Es wundert mich sehr, dass in den Anträgen der Op-position davon ausgegangen wird, man könne mit Geset-zen und Sanktionen Gleichstellung und ein vorurteils-freies Miteinander herstellen. Inklusion lässt sich nichterzwingen. Sie ist Weg und Ziel zugleich und brauchtZeit, sich zu entwickeln. Bei der Idee der Inklusion gehtes um einen gesellschaftlichen Prozess. Hier spielt vorallem der gemeinsame Unterricht, also die inklusive Bil-dung eine wichtige Rolle. Lernt der zukünftige Firmen-chef gemeinsam mit behinderten und nichtbehindertenKlassenkammeraden, so wird er später weniger Vorbe-halte haben, einen Menschen mit Behinderung einzustel-len.Gesellschaftliche Ziele wie die Wertschätzung undAnerkennung von Vielfalt, ein bewusster Umgang mitVorurteilen und Chancengleichheit lassen sich nichtdurch die Anhebung der Ausgleichsabgabe oder durcheine Änderung der Arbeitsstättenverordnung erreichen.Was mich besonders ärgert, ist, dass die Fraktion DieLinke in ihrem Antrag schreibt, es gebe in Deutschlandin Wahrheit mehr Sondereinrichtungen und mehr Aus-grenzung. Ich frage mich, wo Sie die letzten 60 Jahrenwaren.Noch nie hatten Menschen mit Behinderung so vieleWahlmöglichkeiten wie heute. Dazu beigetragen habenErrungenschaften der Behindertenbewegung und -poli-tik. Meilensteine wie Art. 3 Abs. 3 Grundgesetz – „Nie-mand darf wegen seiner Behinderung benachteiligtwerden“ –, Meilensteine wie das SGB IX oder das Per-sönliche Budget und nicht zuletzt die UN-Behinderten-rechtskonvention haben zu mehr Selbstbestimmung undZu Protokoll gegebene Reden
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22582 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Gabriele Molitor
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Teilhabe beigetragen. Das sieht man auch ganz deutlichan einzelnen Biografien von Menschen mit Behinderun-gen. Es steht außer Frage, dass es noch einiges zu tungibt, und nicht immer können alle Bedürfnisse erfülltwerden; aber zu schreiben, dass es in Deutschland inWahrheit mehr Ausgrenzung gebe, empfinde ich als An-maßung.Ich sehe Inklusion, Selbstbestimmung und die Teil-habe am Arbeitsleben als Herausforderung, aber auchVerpflichtung und Aufgabe unserer Gesellschaft. Es gilt,alle Menschen von Geburt an bis ins Alter chancen-gleich am Leben in der Gemeinschaft aktiv teilhaben zulassen. Inklusion ist dabei nicht als Gnadenakt, sondernals Menschenrecht zu verstehen. Es ist wichtig, dass wirPolitik für Menschen mit Behinderungen als Inklusions-politik begreifen.Neben der wichtigen Aufklärungsarbeit, dass Men-schen mit Behinderungen meist sehr zuverlässige, hoch-motivierte und produktive Arbeitnehmer sind, will dieFDP die Anreize für Unternehmen, Menschen mit Be-hinderungen einzustellen, wirksam erhöhen. StaatlicherDirigismus führt nicht weiter. Gefragt sind individuelleKonzepte, die die berechtigten Interessen von Menschenmit Behinderungen und die berechtigten Interessen vonArbeitgebern zusammenführen.Dafür brauchen wir Best-Practice-Beispiele. Dennwie der Arzt und Schriftsteller Samuel Smiles bereitssagte: „Die Vorschrift mag uns den Weg weisen, aberdas stille, fortwährende Beispiel bringt uns vorwärts.“
Bist du noch beschäftigt oder arbeitest du schon?Diese Frage spaltet die Behindertenbewegung. Na ja,manchmal. Ein bisschen.Beschäftigt sind Menschen mit Behinderungen stän-dig. Sie organisieren ihr Leben zwischen verschiedenenAmtsstuben der unterschiedlichen Leistungsgewährung.Sie lernen immer neue Gesetzesinterpretationen undderen Missachtung kennen. Sie qualifizieren sich alsAntragstellerinnen und Antragsteller bzw. als Akten-archivarinnen und Aktenarchivare.Und bleiben doch Bittsteller, Pfahlbürger vor denToren des Arbeitsmarktes. Nicht erwünscht zur „An-schlussverwertung“.27 Prozent aller beschäftigungspflichtigen Arbeit-geber beschäftigen gar keine behinderten Mitarbeite-rinnen oder Mitarbeiter. 34 Prozent kommen ihrer Be-schäftigungspflicht nur teilweise nach. 61 Prozentverpflichteter Arbeitgeber verstoßen also tagtäglich ge-gen ein Gesetz. Ohne wirksame Sanktionen.Und das Ergebnis? Von 3 Millionen Menschen mitBehinderungen im erwerbsfähigen Alter sind fast 2 Mil-lionen nicht bezahlt berufstätig. Diese Ausgrenzung dis-kriminiert. Das wollen wir, die Linke, mit unserem heuteim Hohen Haus vorliegenden Antrag überwinden, undzwar nicht auf dem entwürdigenden Niveau prekärerBeschäftigung.Die Arbeitslosigkeit unter Menschen mit Behinde-rung ist doppelt so hoch wie unter denen ohne Handi-cap. Menschen mit Behinderung werden noch immerüber Defizite definiert, genannt „Minderleistung“.Diese Zuschreibung teilen sie mit vielen älteren Men-schen, mit Migrantinnen und Migranten sowie mit ge-ringqualifizierten Frauen und Männern ohne Behinde-rung. Sie gelten als „Kostenfaktor“, gelegentlich gar als„Risiko für den Betriebsfrieden“, als zeitraubende Son-derlinge – nur nicht als Fachkräfte.Jüngstes Beispiel dafür: Das Ministerium unter Lei-tung von Frau von der Leyen startete vor wenigen Tageneine Kampagne, genannt „Fachkräfteoffensive“. Sierichtet sich an potenzielle Fachkräfte und Unterneh-men. Wen zählt die Fach-Ministerin dazu? Frauen, Mi-granten, die Generation 50 plus, Schul- und Hochschul-absolventen sowie internationale Fachkräfte. So, so:Wen vergaßen sie und ihre famosen Fach-Beamten wie-der einmal? Ei der Daus, die Fachkräfte mit Behinde-rungen! Das ist uns jetzt aber peinlich. Nein, nein,selbstverständlich vergessen wir dieses Potenzial nie!Nur – leider – dieses eine Mal. Ganz aus Versehen. Und– na ja, vielleicht? – auch hier noch und da noch.Dabei konnten viele arbeitslose schwerbehinderteMenschen – nämlich 56 Prozent – unter großen Anstren-gungen und mit sehr guten Ergebnissen ihre schulischenoder beruflichen Ausbildungen abschließen. Denn siesind hochmotiviert.Was also ist die Botschaft Ihrer Kampagne an Men-schen mit Handicap? Ihr gehört nicht dazu. Was ist dieBotschaft an die Unternehmen? Es bleibt möglich, diegesetzliche Beschäftigungsquote zu unterlaufen. Was istdie Botschaft an die Öffentlichkeit? Fachkräfte dürfennicht behindert sein.Die Linke will diesen Systemfehler beseitigen. Men-schen mit Behinderungen brauchen keine „Sonderwel-ten“, dafür den Ausgleich individuell nicht beeinfluss-barer Nachteile. Vor allem jedoch wollen wir Linkenreale Schritte in eine inklusive Arbeitswelt: Nicht dieMenschen müssen sich den Arbeitsplätzen anpassen,sondern Letztere sind auf die jeweiligen Fähigkeitenzuzuschneiden. Das ist neues Denken à la UN-Behinder-tenrechtskonvention. Deshalb fordern wir ein umfassen-des Gesetzesscreening. Alle gesetzlichen Hindernissefür reguläre Erwerbsarbeit von Fachleuten mit Be-einträchtigungen müssen beseitigt werden. Vor allemfordern wir einen anderen gesetzlichen Blick: Barriere-freiheit als Gestaltungsprinzip der Arbeitsstättenverord-nung, bezahlte Arbeitsassistenz und gleiche Bezahlungbei gleicher Arbeit ohne Reduzierung behinderungs-bedingter Nachteilsausgleiche.Die Linke will die Situation von Menschen mit Be-hinderungen schnell verbessern. Deshalb muss die Be-schäftigungsquote als Sofortmaßnahme wieder auf6 Prozent und die Ausgleichsabgabe so angehoben wer-den, dass Nichtbeschäftigung von Betroffenen der Firmawehtut, nicht den Draußenbleibenden. Wer die Beschäf-tigungsquote übererfüllt, soll dagegen Vorteile haben,zum Beispiel auch steuerliche. Gern greifen wir den Vor-schlag von Verdi auf, eine Ausbildungsquote und beiZu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22583
Dr. Ilja Seifert
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Nichterfüllung eine Ausbildungsplatzabgabe für Ju-gendliche mit Behinderungen einzuführen.Wir wollen die Arbeitsagentur als einheitliche An-lauf- und Vermittlungsstelle mit hochqualifiziertem Per-sonal sowie starke Integrationsfachdienste, die nicht nurvermitteln, sondern auch dauerhaft im Job begleiten.Und zwar nach dem Peer-Counseling-Ansatz: Betrof-fene beraten und begleiten Betroffene.Als Experten in eigener Sache brauchen sie Mitbe-stimmung, sowohl in Betriebsräten als auch in Schwer-behindertenvertretungen oder als Werkstatträte, gleich-lautend verankert im Betriebsverfassungsgesetz, in derWerkstätten-Mitwirkungsverordnung und im SGB IX. Esgeht um Stimmrechte gegenüber der Geschäftsführungund um echte Verbandsklagerechte. Sie sollen auch dannklagen dürfen, wenn kein einzelner behinderter Mensches wagt, Klage zu erheben.Werkstätten wollen wir weiterentwickeln. Zunächst inRichtung Integrationsunternehmen mit existenzsichern-der Bezahlung und Mitbestimmung. Jede und jeder inder Werkstatt hat das Recht auf ein reguläres Arbeitsver-hältnis mit tariflicher Entlohnung, nicht nur auf Außen-arbeitsplätzen. Gegenwärtig erhalten Werkstattbeschäf-tigte jedoch nur ein Entgelt, oft in der Höhe vonAlmosen. Möglich macht das der „arbeitnehmerähn-liche Status“. Er definiert sie nach völlig veralteten Kri-terien als „Beschäftigte“. Und das sind keine Arbeitneh-merinnen und Arbeitnehmer. Igitt! Aber genau dassollen sie werden. Selbstverständlich bei Beibehaltungerforderlicher Nachteilsausgleiche.Gegenwärtig wächst in den Werkstätten die Zahl der-jenigen, die ausgebrannt vom sogenannten regulärenArbeitsmarkt wegen psychischer Probleme „aufgefan-gen“ oder über psychologische Gutachten der Arbeits-agenturen sogar hineingedrängt werden. Sie erbringeneine „wirtschaftlich verwertbare Leistung“, wie es dis-kriminierend heißt: Mehrfach schwerstbehinderte Men-schen werden durch diese Bezeichnung aus der Werk-statt gedrängt.Ja, ich weiß: Viele sind froh, wenigstens in der Werk-statt tätig zu sein. Doch bleibt es für uns politische Auf-gabe, zu verhindern, dass Menschen aus unabhängigenLebensverhältnissen herausfallen, dass in sogenanntenNormalarbeitsverhältnissen „Behinderung“ produziertwird. Dass sie in Sonderwelten abgeschoben werden,aus denen sie nicht mehr zurückkehren können.Die genaue Umkehrung entspräche der UN-Behin-dertenrechtskonvention. Deren Art. 27 fordert „dasRecht auf die Möglichkeit, den Lebensunterhalt durchArbeit zu verdienen, die in einem offenen, inklusiven undfür Menschen mit Behinderungen zugänglichen Arbeits-markt und Arbeitsumfeld frei gewählt oder angenommenwird.“ Eine solche inklusive Arbeitswelt wäre übrigensauch kostengünstiger als der Fürsorgeapparat.Dafür stellen wir unseren Antrag zur öffentlichenDiskussion: Arbeit erfüllt Teilhabe mit einem konkretenSinn. Teilhaben heißt, sich seinen Teil nehmen und sei-nen Teil geben können. Jede und jeder ist fähig, kreativzu sein, etwas hervorzubringen. Es geht deshalb erstensdarum, von staatlichen Alimenten unabhängig zu sein.Dafür wollen und brauchen wir zweitens eine Wirt-schaft, die Arbeit von den Fähigkeiten her denkt unddiese entwickelt, statt sie zu verschleißen. Wir forderngute Arbeit für jeden Menschen – und man kann selbstdie geringste Arbeit gut machen. Wenn das Umfeld bar-rierefrei ist, Assistenz begleitend unterstützt und dieArbeitenden wirklich mitentscheiden.Lassen Sie uns endlich daran arbeiten. Wenn dasstressfrei, fähigkeitsfördernd und armutsfest ist, könnenwir es gern ganz modern „Beschäftigung“ nennen.
Menschen mit Behinderungen haben das Recht, ihrenLebensunterhalt in einem offenen und zugänglichen Ar-beitsmarkt durch Arbeit zu verdienen. Doch das, was diemeisten von uns wie selbstverständlich für sich in An-spruch nehmen, bleibt Menschen mit Unterstützungsbe-darf oftmals verwehrt. Die Situation für Menschen mitBehinderungen am Arbeitsmarkt ist weithin unbefriedi-gend. Das Ziel einer vorrangigen Teilhabe am Arbeitsle-ben auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt ist nur in be-scheidenem Umfang erreicht. Eine personenbezogeneFörderung – etwa mit einem Budget für Arbeit – wirdnur selten realisiert. Insbesondere Personen mit erhöh-tem Unterstützungsbedarf haben kaum eine echte Wahl:Ihr Weg in eine Werkstatt für Menschen mit Behinderun-gen ist in vielen Fällen vorgezeichnet und erscheint Reha-trägern, Angehörigen und nicht selten den Betroffenenselbst schlichtweg einfacher als eine individualisierteLösung. An individuellen Lösungen mangelt es jedochnicht zuletzt aufgrund fehlender angepasster Arbeits-plätze am ersten Arbeitsmarkt – auch das gehört zurganzen Wahrheit und lohnte eine eigene Parlamentsde-batte.Im Sinne einer Stärkung des Wunsch- und Wahlrech-tes müssen alle Menschen mit Behinderungen – unab-hängig von der Art oder Schwere ihrer Behinderung – indie Lage versetzt werden, selbst entscheiden zu können,in welcher Form sie am Arbeitsleben teilhaben möchten.Entscheidend ist, dass sie individuell gefördert und beiBedarf nach dem Prinzip des Nachteilsausgleichs dau-erhaft unterstützt werden.Das ist alles nicht neu, weder die Ziele noch die Ur-sachen für die Probleme. Und es gibt bereits eine großeZahl an Instrumenten und Regelungen, die der Benach-teiligung von Menschen mit Behinderungen am Arbeits-markt gegensteuern sollen: Lohnkostenzuschüsse, Hilfs-mittel zur barrierefreien Gestaltung des Arbeitsplatzesoder Assistenten, die den Wunscharbeitsplatz möglichmachen. Diese Instrumente zur Beschäftigungsförde-rung sind allerdings unübersichtlich. Menschen mit Be-hinderungen und Arbeitgeberinnen und Arbeitgebermüssen zunächst viel Zeit und Mühe investieren, um sichüber ihre Rechte und Pflichten zu informieren. Häufigfinden sie keine kompetenten Ansprechpartner.Wir brauchen kein neues beschäftigungspolitischesRahmenprogramm, wie es die Linksfraktion in ihrem An-trag fordert. Aber wir müssen dringend dauerhafte undbundesweit gültige Lösungen für die Teilhabe von Men-Zu Protokoll gegebene Reden
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22584 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Markus Kurth
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schen mit Behinderungen auf dem ersten Arbeitsmarktfinden. Modellprojekte, die es nur in einigen Bundeslän-dern gibt, und Lohnkostenzuschüsse, die nur temporärmöglich sind, müssen verstetigt und damit verbindlichwerden. Es gibt bereits gute Ansätze. Die Bundesregie-rung hat in den letzten Jahren nicht erkennen lassen,dass sie diese systematisch weiterentwickelt.Ich möchte auf zwei Modelle eingehen, bei denenHandlungsbedarf besteht: die Integrationsbetriebe unddas sogenannte Budget für Arbeit.Integrationsfirmen sind ein wirklich gutes Modell fürdie Teilhabe von Menschen mit Behinderungen am Ar-beitsmarkt. In diesen Betrieben haben 25 bis 50 Prozentder Mitarbeiter eine erhebliche Schwerbehinderung.Die Unternehmen werden als Betriebe des allgemeinenArbeitsmarkts über Nachteilsausgleiche unterstützt.Diese Nachteilsausgleiche dienen nicht der Abdeckungunternehmerischer Risiken, sondern dem Ausgleich derbetriebswirtschaftlichen Nachteile, die durch die beson-dere Zusammensetzung der Belegschaft entstehen. DieBetriebe bieten dauerhafte Arbeitsplätze zu tariflichenoder ortsüblichen Konditionen und erwirtschaften diezur Kostendeckung notwendigen Umsätze durch Teil-nahme am allgemeinen Wirtschaftsleben. Heute be-schäftigen etwa 700 Integrationsunternehmen rund25 000 Personen, darunter 10 000 Menschen mit denunterschiedlichsten Behinderungen und Leistungsein-schränkungen.Die Finanzierung der Integrationsfirmen ist zuneh-mend unsicher. Die Mittel der Ausgleichsabgabe, die zurFinanzierung dienen, sind weitgehend ausgeschöpft.Nach Angaben der Bundesarbeitsgemeinschaft derIntegrationsfirmen wäre die Beschäftigung weiterer10 000 Menschen in Integrationsprojekten möglich,wenn eine entsprechende Finanzierung sichergestelltwäre. Hier müssen wir entsprechende Rahmenbedingun-gen schaffen! Es ist an der Zeit, neue Wege für die Fi-nanzierung der Nachteilsausgleiche zu finden. Mit einerAusgestaltung des § 16 e SGB II im Sinne einer nachhal-tigen individuellen Förderung kämen wir hier beispiels-weise einen deutlichen Schritt weiter. Aber auch dieLänder sind bei der Entwicklung von Integrationsfirmengefordert – nicht zuletzt mit finanziellen Beiträgen. Bun-desweit vorbildhaft – und das seit vielen Jahren! – ver-hält sich jedoch nur das Bundesland Nordrhein-Westfa-len, das mit Abstand die meisten Neugründungen vonIntegrationsbetrieben aufweist.Als zweiten Punkt möchte ich das Budget für Arbeitansprechen: Das Persönliche Budget ist eine Form derLeistungserbringung, die zu mehr Selbstbestimmung vonMenschen mit Behinderungen in allen Lebensbereichenführen soll. Mit dem Budget waren viele Hoffnungenverbunden, von denen sich nicht alle erfüllt haben. So istdie Zahl insbesondere der trägerübergreifenden Budgetsnach wie vor verschwindend gering. In Rheinland-Pfalzund in Niedersachsen gibt es das sogenannte Budget fürArbeit. In Niedersachsen können sich Menschen, die imArbeitsbereich einer Werkstatt für behinderte Menschenbeschäftigt sind, auf Antrag die bisherige Vergütung anden Werkstattträger als Persönliches Budget auszahlenlassen und sich Leistungen bei ihren Arbeitgebern kau-fen, zum Beispiel in Form von Unterstützung oder alsLohnkostenzuschuss. Eine bundesweit gültige systemati-sche Regelung gibt es bisher nicht. Um die Situation vonMenschen mit Behinderungen am Arbeitsmarkt zu ver-bessern, ist sie nötig.Wenn wir alleine die zuletzt von mir angesprochenenSchritte gingen, kämen wir bei der Erwerbsbeteiligungvon Menschen mit Behinderungen ein gutes Stück voran.
Interfraktionell wird Überweisung in die Ausschüssevorgeschlagen. – Sie sind damit einverstanden. Dasheißt, es ist so beschlossen.Ich rufe den Zusatzpunkt 9 auf:Zweite und dritte Beratung des vom Bundesrateingebrachten Entwurfs eines Gesetzes zur Be-steuerung von Sportwetten– Drucksache 17/8494 –Beschlussempfehlung und Bericht des Finanzaus-schusses
– Drucksachen 17/10112, 17/10168 –Berichterstattung:Abgeordnete Antje TillmannMartin GersterDr. Barbara HöllLisa PausAuch hier nehmen wir die Reden zu Protokoll.1) Au-ßerdem haben die Abgeordneten Frank Steffel, StephanMayer und Dieter Stier eine Erklärung gemäß § 31 derGeschäftsordnung zu Protokoll gegeben.2)Wir kommen zur Abstimmung. Der Finanzausschussempfiehlt in seiner Beschlussempfehlung auf den Druck-sachen 17/10112 und 17/10168, den Gesetzentwurf desBundesrates auf Drucksache 17/8494 in der Ausschuss-fassung anzunehmen. Ich bitte diejenigen, die dem Ge-setzentwurf in der Ausschussfassung zustimmen wollen,um das Handzeichen. – Wer stimmt dagegen? – Wer ent-hält sich? – Der Gesetzentwurf ist damit in zweiter Bera-tung angenommen.Dritte Beratungund Schlussabstimmung. Ich bitte diejenigen, die demGesetzentwurf zustimmen wollen, sich zu erheben. –Wer stimmt dagegen? – Wer enthält sich? – Der Gesetz-entwurf ist angenommen.Ich rufe den Tagesordnungspunkt 43 auf:Beratung des Antrags der Abgeordneten DanielaWagner, Viola von Cramon-Taubadel, JerzyMontag, weiterer Abgeordneter und der FraktionBÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN1) Anlage 162) Anlage 12
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Vizepräsidentin Petra Pau
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Am 40. Jahrestag des Olympiaattentates von1972 der Opfer öffentlich gedenken– Drucksache 17/10109 –Überweisungsvorschlag:Sportausschuss
Auswärtiger AusschussAusschuss für Kultur und MedienWir nehmen die Reden zu Protokoll.
Wir beraten heute über Ereignisse, die – obwohl siebereits 40 Jahre zurückliegen – uns allen, die damalsZeugen des terroristischen Anschlags und seiner drama-tischen Folgen waren, noch sehr gut in Erinnerung sind.Wir diskutieren heute über den Angriff palästinensi-scher Terroristen auf die israelische Olympiamann-schaft während der Sommerspiele in München von 1972.Am frühen Morgen des 5. September verschafften sichacht Mitglieder der Terrororganisation „Schwarzer Sep-tember“, bewaffnet mit Sturmgewehren und Handgrana-ten, Zugang zum Olympischen Dorf und nahmen elf Ath-leten der israelischen Mannschaft in ihre Gewalt. Zweider Geiseln wurde bereits bei der Geiselnahme ermor-det, die übrigen neun Geiseln, ein deutscher Polizist undfünf der Terroristen überlebten das Drama ebenfallsnicht.Bis zu dieser Tragödie standen die ersten Olympi-schen Spiele im Nachkriegsdeutschland unter demMotto der „heiteren Spiele“. Die Sicherheitsbedingun-gen während der Spiele wurden ganz bewusst locker ge-halten, um die positive Veränderung zu demonstrieren,die sich in Deutschland seit den letzten hier ausgerichte-ten Spielen von 1936 vollzogen hatte.Auch ich kann mich noch sehr gut an die äußerstpositive Stimmung bei den Spielen und das friedlicheMiteinander der Sportlerinnen und Sportler auf demGelände des Olympischen Dorfs erinnern. Als jungerSportler habe ich damals jede Gelegenheit genutzt, michmit Gleichgesinnten auf dem Gelände auszutauschenund den olympischen Geist zu erleben.Es war ein einmaliges Erlebnis, das durch die ab-scheuliche Tat über all die Jahre und auch in Zukunft niein einem Atemzug ohne die Tragödie mit ihren vielen un-schuldigen Opfern genannt werden kann.Nach einer schier endlosen Hängepartie endete dieGeiselnahme der israelischen Sportler bekanntermaßenin einem Fiasko. Während der missglückten Befreiungs-aktion auf dem Gelände des Flughafens in Fürstenfeld-bruck starben alle Geiseln, ein an der Schießerei unbe-teiligter bayerischer Polizeibeamter und fünf derTerroristen. Insgesamt kamen im Olympischen Dorf undin Fürstenfeldbrück 17 Menschen ums Leben.Natürlich haben diese Ereignisse die Spiele in Mün-chen 1972 und alle weiteren verändert. Obwohl zu-nächst fortgesetzt und erst später unterbrochen, ist allendamals Beteiligten klar gewesen, dass das Geiseldramafür immer ein Teil der Olympischen Spiele sein wird,egal, wo sie stattfinden. Nach einer sehr bewegendenGedenkstunde im Münchner Olympiastadion sprachsich der damalige IOC-Präsident Avery Brundage fürdie Fortführung der Olympischen Spiele aus, was auchvon der israelischen Regierung gebilligt wurde.Willi Daume, der Präsident des Nationalen Olympi-schen Komitees, begründete die Entscheidung zur Fort-setzung der Spiele mit einem Satz, der – meiner Ansichtnach – auch heute noch nichts von seiner Gültigkeit ver-loren hat und den ich hier zitieren möchte: „Es ist schonso viel gemordet worden – wir wollten den Terroristennicht erlauben, auch noch die Spiele zu ermorden.“Es wäre aber rundweg falsch, die Fortführung derOlympischen Spiele als ein „Weiter wie bisher“ zu ver-stehen. Seit München 1972 werden auf internationalerund auf nationaler Ebene die Erinnerung und das Ge-denken an die schrecklichen Ereignisse wachgehalten.So wird es traditionell auch bei den Olympischen Spie-len in London in diesem Jahr eine offizielle Gedenkver-anstaltung der israelischen Olympiadelegation geben,zu der der Präsident des IOC, Jacques Rogge, seineTeilnahme bereits zugesichert hat. Eine solche Gedenk-veranstaltung hat es seit 1972 bei allen OlympischenSpielen gegeben. An dieser Veranstaltung hat seit 1976für Deutschland ohne Ausnahme stets Walther Tröger,der ehemalige Bürgermeister des Olympischen Dorfs inMünchen, teilgenommen. Dabei spielte und spielt eskeine Rolle, ob ein besonderer Jahrestag des Attentatsansteht oder nicht, es geht um ein würdevolles Gedenkenan die Opfer.Bezogen auf die nationalen Aktivitäten ist der Deut-sche Olympische Sportbund Mitveranstalter der zentra-len Gedenkveranstaltung in Fürstenfeldbruck am 5. Sep-tember. Dort wird der Präsident des DOSB, Dr. ThomasBach, der gleichzeitig IOC-Vizepräsident ist, in Vertre-tung von IOC-Präsident Jacques Rogge ebenso teilneh-men und sprechen wie Walther Tröger. Darüber hinausist eine Kranzniederlegung an der Gedenktafel im Olym-pischen Dorf in München geplant. Schließlich wirdWalther Tröger den DOSB bei der Gedenkveranstaltungin Israel im September vertreten.Auch in der Vergangenheit hat der DOSB immer wie-der der Opfer des Attentats gedacht. So übergabDr. Thomas Bach im Juli 2009 während einer Gedenk-veranstaltung im Olympischen Museum Israel ein Bildder Gedenkstätte für die Opfer in Fürstenfeldbruck und– in Anlehnung an jüdisches Brauchtum – einen Steinvom Grundstück des Appartements der israelischenOlympiamannschaft in München 1972.Sie sehen also: Sowohl auf internationaler als auchauf nationaler Ebene wird der Opfer gedacht, unabhän-gig davon, ob nun ein besonderer Jahrestag ansteht odernicht.Die Grundlage für unsere heutige Aussprache ist derAntrag der Fraktion Bündnis 90/Die Grünen mit dem Ti-tel „Am 40. Jahrestag des Olympiaattentates von 1972der Opfer öffentlich gedenken“. Dieser zielt auf diewiederkehrende Forderung, sich bei den Sportorganisa-tionen für ein öffentliches Gedenken der Opfer desAnschlags auf die israelische Mannschaft bei den Olym-
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Eberhard Gienger
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pischen Spielen 1972 in München zu besonderen Jahres-tagen einzusetzen.Im Antrag von Bündnis 90/Die Grünen werden diezahlreichen von mir aufgeführten Aktivitäten des IOC,des Organisationskomitees der Olympischen Spiele2012 in London und vor allem des Deutschen Olympi-schen Sportbundes verkannt. Dies gilt auch hinsichtlichder diesjährigen Veranstaltungen während der Olympi-schen Spiele in London.Die Frage nach einer Schweigeminute im Rahmender Eröffnungsfeier ist allerdings keine Erfindung derGrünen, sondern dieses Anliegen wurde im Vorfeld derOlympischen Spiele 2012 in London von verschiedenenSeiten an das IOC herangetragen. Neben dem kanadi-schen Außenminister haben unter anderem britischeParlamentarier, der Stadtrat von London und Mitgliederdes amerikanischen Repräsentantenhauses diese Forde-rung aufgestellt. Die ablehnende Haltung bezüglich desZeitpunkts während der Eröffnungsfeier selbst hat dasIOC dabei stets in Abstimmung mit dem NOK Israels ge-troffen. Wie ich bereits aufgeführt habe, wird, wie schonbei allen zurückliegenden Olympischen Sommerspielen,den Opfern des schrecklichen Attentats auch in Londonim Rahmen einer gesonderten, würdigen Veranstaltungin Anwesenheit von IOC-Präsident Jacques Rogge ge-dacht.Weiter gehend muss ich der Forderung der FraktionBündnis 90/Die Grünen nach einer wissenschaftlichenAufarbeitung der Vorbereitung, Durchführung und derFolgen des Attentats entgegenhalten, dass zahlreicheForschungsprogramme und Publikationen sich in denletzten 40 Jahren hiermit fundiert auseinandergesetzthaben. Dies bringt auch ohne staatliche Förderung, wieSie es fordern, immer wieder neue Tatsachen zutage, wiewir alle kürzlich in einem Magazin nachlesen konnten,das herausgefunden hat, dass dem Bundesamt für Ver-fassungsschutz bereits vor den Spielen in München Hin-weise vorlagen, dass die Terroristen Hilfe von deutschenRechtsradikalen hatten.Daneben fördert auch die Deutsche Olympische Aka-demie entsprechende Forschungsvorhaben und verfügtzudem über zahlreiche Informations- und Ausstellungs-materialien zur olympischen Geschichte und zum Atten-tat von München 1972. Diese finden laufend Verwen-dung, zum Beispiel bei Jugendlagern zu OlympischenSpielen und öffentlichen Veranstaltungen des DOSB undwerden auch von externen Partnern häufig angefragt.Der Forderung der Fraktion Bündnis 90/Die Grünenbezüglich einer Wanderausstellung zum Olympiaattentatvon 1972 wird folglich bereits seit längerer Zeit entspro-chen.Uns allen ist klar, dass auch 40 Jahre nach den Olym-pischen Spielen von München die menschenverachtendeTat einiger Terroristen noch immer sehr präsent ist undwir alle der unschuldigen Opfer gedenken. Dies ist inder Vergangenheit geschehen, und es wird auch bei denSpielen in London, die in einigen Wochen beginnen, ge-schehen.Eine Bewertung darüber, wie würdevoll eine Gedenk-veranstaltung sein muss, halte ich jedoch für falsch, gehtes doch dabei um die Opfer und das ganz persönlicheGedenken an sie. Wir halten die vom IOC und vomDOSB in der Vergangenheit und für London 2012 vorge-sehenen Gedenkveranstaltungen für sehr würdig und se-hen die Gefahr, dass diese durch die Forderung nach ei-ner Gedenkminute während der Eröffnungsfeier insHintertreffen geraten könnten. Wichtig ist hier auch einanderer Aspekt, der mit hineinspielt, nämlich die Auto-nomie des Sports. Diese sehe ich in diesem Fall als zu-mindest gefährdet an. Es ist nicht an der Politik, den un-abhängigen Organisationen des Sports Ratschläge zugeben, wie sie mit dem Gedenken an dieses schrecklicheEreignis umzugehen haben. Zusammengenommen halteich die Forderung nach einer Schweigeminute währendder Eröffnungsfeier folglich für falsch, und daher kön-nen wir uns Ihrer Forderung auch nicht anschließen.Diese ablehnende Haltung möchte ich zum Ende mei-ner Ausführungen nochmals mit der Aussage unterstrei-chen, dass wir uns an die Opfer des schrecklichen Atten-tats nicht nur zu besonderen Jahrestagen erinnernsollten, sondern dass sie uns eine Mahnung für friedli-ches Zusammenleben sind und wir ihrer in Würde ge-denken.
1965 teilte der damalige Vorsitzende des NationalenOlympischen Komitees, Willi Daume, dem damaligenMünchner Oberbürgermeister Hans-Jochen Vogel mit,dass er München zum Austragungsort für die Olympi-schen Sommerspiele 1972 machen wolle. Die Entschei-dung für München fiel im April 1966. Nach der großenPropaganda-Schau von 1936 in Berlin war Deutschlanddamit zum zweiten Mal Ausrichter der OlympischenSommerspiele.Unter dem Motto „Heitere Spiele im Grünen“ wolltendie Organisatoren der Welt das neue, weltoffene und to-lerante Deutschland präsentieren. Die Voraussetzungenfür ein großes Völkerfest waren gegeben. Die Sportstät-ten, die Athleten, das Wetter, die Stimmung, alles war na-hezu perfekt, um „München 1972“ zu unvergesslichenSpielen zu machen.Leider wurden aber diese Spiele vor 40 Jahren auftragische Weise unvergesslich. Am Morgen des 5. Sep-tember 1972 stürmten acht Personen das Quartier derisraelischen Olympiamannschaft. Die Männer, die sichals palästinensische Terrorgruppe „Schwarzer Septem-ber“ ausgaben, erschossen noch in der Unterkunft einenisraelischen Ringer und einen israelischen Gewicht-heber, die sich gegen die Eindringlinge wehren wollten.Weitere neun Sportler wurden als Geiseln genommen.Die Terroristen wollten mit ihrem Anschlag die Freilas-sung von 232 Palästinensern aus israelischen Gefäng-nissen und von zwei deutschen Terroristen erpressen.Das Geiseldrama fand seinen tragischen Höhepunkt aufdem Luftwaffenstützpunkt Fürstenfeldbruck. Scharf-schützen sollten die Terroristen auf dem Weg zum Flug-zeug erschießen; doch dieses Vorhaben missglückte. Ins-Zu Protokoll gegebene Reden
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Gabriele Fograscher
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gesamt starben elf Geiseln, ein deutscher Polizist undfünf Terroristen.Inzwischen gibt es neue Erkenntnisse über das Atten-tat. Die Terrorgruppe „Schwarzer September“ soll vondeutschen Neonazis unterstützt worden sein. Dieses, so„Der Spiegel“, gehe aus Akten des Bundesamtes fürVerfassungsschutz hervor. Offensichtlich soll die Dort-munder Polizei sieben Wochen vor dem Attentat dasBundesamt für Verfassungsschutz informiert haben, dassein Mann „arabischen Aussehens“ sich konspirativ miteinem deutschen Neonazi getroffen habe. Doch schein-bar ist durch die informierten Behörden nichts unter-nommen worden, um den Drahtzieher des Attentats anseinem Plan zu hindern. Diese Vorgänge müssen aufge-klärt werden.Dieses Jahr jährt sich das grausame Attentat vonMünchen zum 40. Mal. Aus diesem Anlass finden inDeutschland zahlreiche Gedenkveranstaltungen statt.Das ist auch gut und richtig.Mit ihrem Antrag fordern Bündnis 90/Die Grünen einöffentliches Gedenken an die Opfer des Anschlags aufdie israelische Mannschaft bei den XXX. OlympischenSpielen in London. Auch viele andere Politikerinnen undPolitiker fordern eine Schweigeminute während des pro-tokollarischen Teils der Olympischen Spiele in London.Dazu gehören der belgische Sportminister, die australi-sche Premierministerin, britische Parlamentarier, Mit-glieder des amerikanischen Repräsentantenhauses, daskanadische Parlament und viele weitere. Bisher lehntaber der Präsident des Internationalen OlympischenKomitees, Jacques Rogge, ein solches Gedenken ab.Bei einem solchen Gedenken geht es nicht darum, fürirgendein Land Position zu beziehen. Es geht um dasGedenken an die Opfer eines Attentates und um das Ge-denken an den Angriff auf den olympischen Gedanken.Bündnis 90/Die Grünen haben sich in dem vorliegen-den Antrag das Anliegen, eine Schweigeminute bei derEröffnungsfeier in London abzuhalten, zu eigen ge-macht. Wir unterstützen das.Problematisch ist das kurzfristige Einbringen des An-trags, der durchaus überfraktionelle Unterstützung ge-funden hätte, womit mehr Nachdruck möglich gewesenwäre. Wenn dieser Antrag heute an die Ausschüsse über-wiesen wird, dann kann er frühestens im Oktober im Ple-num beschlossen werden. Dann sind aber die Olympi-schen Spiele in London schon vorbei. Von daher wäre esvernünftig gewesen, den Antrag entweder früher einzu-bringen oder sofort abstimmen zu lassen. Schade; denndas Anliegen ist gut.Der Antrag beinhaltet aber noch zwei weitere Forde-rungen:Zum einen sollen die Vorbereitung, die Durchführungund die Folgen des Attentates wissenschaftlich aufgear-beitet und dafür ausreichende Bundesmittel zur Verfü-gung gestellt werden. Nach 40 Jahren ist es notwendig,dass dieses schwarze Kapitel in der jüngeren deutschenGeschichte aufgeklärt wird und die Ergebnisse veröf-fentlicht werden.Zum anderen soll die Wanderausstellung zum Olym-piaattentat während der Olympischen Spiele in Londonin öffentlichen Einrichtungen gezeigt werden. Auch die-ses Anliegen halten wir für richtig, würden es aber da-rüber hinaus begrüßen, wenn diese Ausstellung auchnach London 2012 öffentlich gezeigt werden würde.Meine Fraktion und ich unterstützen die Anliegen indem Antrag von Bündnis 90/Die Grünen. Leider kommter aber zu spät, um noch vor den Olympischen Spielenbeschlossen zu werden.
Mit Schrecken erinnern wir uns an den 5. September1972. Der Begriff Olympia wird auf ewig auch mit demOlympiaattentat von München verbunden bleiben.Bei dem Angriff auf die israelischen Olympiateilneh-mer und der darauffolgenden Geiselnahme, die einschreckliches Ende fand, starben elf israelische Geiselnund ein Polizist, zwölf Opfer, die wir noch heute betrau-ern. 2012 jährt sich dieser traurige Tag zum 40. Mal.Doch woran denken wir am 40. Jahrestag dieses er-schütternden Ereignisses?Wir gedenken der Opfer. Befreundete Sportler ausIsrael kamen zu uns, um sich im fairen Wettstreit mit allden anderen Teilnehmern aus aller Herren Länder zumessen und Freundschaften zu schließen. Es sollte unbe-schwert sein, ein Zeichen für die Überwindung der Ver-gangenheit und einen neuen Anfang in den Beziehungenzwischen unseren Ländern. Stattdessen ließen sie ihrLeben wegen eines feigen und hinterhältigen Anschlags.Wir denken an ein Olympia, das sich durch diesengrausamen und hinterlistigen Überfall nicht hat brechenlassen. Als pietätlos oder gar herzlos betrachteteneinige die damalige Entscheidung, die Spiele fortzufüh-ren. Doch was wäre die Alternative gewesen? Die Spielebeenden und sie nie wieder stattfinden lassen? Was wäredas für ein Signal gewesen für all diejenigen, die glau-ben, andere durch rohe Gewalt „überzeugen“ zu kön-nen? Es wäre ein Sieg für die falsche Seite gewesen. Eswäre für Terroristen und gewaltbereite Ideologen einsicheres Zeichen gewesen, dass sie mit ihren Taten dieganze Welt ihrem Willen unterwerfen können. Das wollteman nicht zulassen. Und wir wollen es auch heute nicht.Olympia soll ein Ort des Sports bleiben. Deshalbunterstützen wir die Bemühungen des IOC, die Politik,so weit dies möglich ist, von den sportlichen Wettkämp-fen fernzuhalten.Wir verstehen das Bedürfnis, angesichts des 40. Jah-restags des Attentats von München der Opfer zu geden-ken. Diesem wird aus unserer Sicht aber bereits durchdie zahlreichen Gedenkveranstaltungen innerhalb undaußerhalb der Organisation der Olympischen Spiele inLondon Rechnung getragen.Auch besteht kein Anlass zu der Annahme, das IOCwürde das Gedenken an die Opfer des 5. September1972 nicht wahren. Ausdruck dessen ist die Tatsache,dass IOC-Präsident Jacques Rogge selbst an derZu Protokoll gegebene Reden
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22588 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Joachim Günther
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Gedenkveranstaltung zu Ehren der Opfer von 1972 inGuildhall teilnehmen wird.Darüber hinaus sehen wir keinen Anlass, Mittel ausdem Bundeshaushalt für eine vermeintliche Aufarbei-tung des Anschlags von München bereitzustellen. Überdas Attentat von 1972 gibt es zahlreiche Publikationenund Dokumentarfilme. Wer aufseiten der Kollegen derGrünen noch Wissenslücken hat, nehme bitte einGeschichtsbuch zur Hand.
Wenn am 27. Juli 2012 die Eröffnungsfeier für die30. Olympischen Sommerspiele in London beginnt, wirddas für Menschen auf der ganzen Welt ein Tag derFreude sein. Sportbegeisterte Zuschauerinnen und Zu-schauer freuen sich auf diesen sportlichen Höhepunktund werden ihn entweder direkt vor Ort oder am Fernse-her erleben. Sportlerinnen und Sportler, die sich über ei-nen langen Zeitraum auf dieses Ereignis vorbereitet ha-ben, fiebern den Wettkämpfen entgegen. Für viele vonihnen ist eine Teilnahme an Olympischen Spielen dieKrönung ihrer sportlichen Laufbahn.Wenn man an Olympische Spiele denkt, hat man zu-erst jubelnde Sportlerinnen und Sportler im Kopf, mansieht die applaudierende Zuschauermenge und überallLachen oder Freudentränen in den Gesichtern. Leidergibt es nicht nur gute Erinnerungen.Die Erinnerung an die Olympischen Spiele ist aufschmerzhafte Weise auch mit einem der tragischstenMomente in der Geschichte des Sports verbunden. Beiden Olympischen Spielen 1972 in München drangennach zehn Tagen heiterer Spiele palästinensische Terro-risten in das Olympische Dorf ein, verletzten zwei israe-lische Sportler tödlich und nahmen neun weitere Mit-glieder der israelischen Mannschaft als Geiseln.Dramatische Stunden begannen und fanden ihren trauri-gen Höhepunkt am Flugplatz Fürstenfeldbruck. Alleneun Geiseln wurden bei einem gescheiterten Befrei-ungsversuch getötet, und auch ein bayerischer Polizei-obermeister sowie fünf der acht Terroristen kamen dabeiums Leben.Am 5. September dieses Jahres ist der 40. Jahrestagdes Olympiaattentats von 1972. 40 Jahre sind eine langeZeit, und für einige mag dieses Verbrechen in die Fernegerückt sein. Einige werden der Meinung sein, dass die-ser Anschlag allein der israelischen Mannschaft galt.Ich sehe das anders! Die Opfer, deren Familienangehö-rigen und Freunden ich auch heute mein ehrliches Mit-gefühl aussprechen möchte, waren zwar Mitglieder derisraelischen Olympiamannschaft, aber es gab eben aucheinen Polizeibeamten, der an der Schießerei selbst unbe-teiligt war und durch den Terror sein Leben verloren hat.Terror geht uns alle an! Terror ist nicht nur eine Bedro-hung für das Leben und die Gesundheit vieler Men-schen, sondern er gefährdet auch die grundlegendenWerte des menschlichen Zusammenlebens wie Freund-schaft, Respekt und Achtung voreinander. Diese Wertesind auch dem Sport immanent. Dieser Terrorakt mussals Anschlag auf die Olympischen Spiele selbst und diedadurch verkörperten Werte verstanden werden. DieTerroristen haben gezielt dieses große Ereignis mit über100 teilnehmenden Nationen ausgewählt und für ihrepolitischen Zwecke missbraucht. Einer der ursprüngli-chen Werte der Olympischen Spiele ist die Idee desolympischen Friedens. In der Antike bedeutete dies eineWaffenruhe während der Zeit der Spiele und eine Sicher-heitsgarantie für die An- und Abreise. Auch in der Neu-zeit gilt dieser Gedanke natürlich fort. Die OlympischenSpiele sollen ein Ort der friedlichen Begegnung und derMöglichkeit des Dialogs zwischen den verschiedenenNationen sein. Dieser Gedanke des olympischen Frie-dens wurde durch das Attentat von 1972 empfindlich ge-stört.Ich begrüße den vorliegenden Antrag; denn es istwichtig, dass man an dieses Ereignis erinnert, egal wieviel Zeit vergangen ist. Der Terror ist nach wie vor all-gegenwärtig in der Welt. Umso wichtiger ist es, an diesetragischen Momente zu erinnern und diese Erinnerungmit so vielen Menschen wie möglich zu teilen. Eine na-tionale Gedenkfeier am Rande der diesjährigen Olympi-schen Spiele in London ist meines Erachtens nicht aus-reichend. Wer die Augen vor der Vergangenheitverschließt, wird auch blind für die Zukunft und ver-kennt dadurch vielleicht die Gefahren, die auch heutenoch bestehen. Das Attentat bei den Olympischen Spie-len 1972 ist das Ground Zero des Sports! Die historischeAufarbeitung des Attentats steckt noch in den Kinder-schuhen und sollte umfassend vorangetrieben werden,auch mit Unterstützung des Bundes. Eine akribischeAufarbeitung der Ereignisse ist ebenso wichtig wie dasöffentliche Gedenken. Es ist wichtig, zu wissen, mit wemdie Terroristen zusammengearbeitet haben und von wemsie unterstützt wurden. In diesem Bereich besteht großerHandlungsbedarf. Eine erste Sichtung der alten Doku-mente belegt, dass die Terroristen damals mit Neonaziskooperierten und der Verfassungsschutz davon hätteKenntnis haben können. Aktuell haben wir in Deutsch-land vergleichbare Probleme. Die rechte TerrorzelleNSU konnte über Jahre hinweg unbehelligt Menschentöten, und keiner will es bemerkt haben. Sie sehen, derTerror ist mitten unter uns! Aus diesem Grund ist eswichtig, daran zu erinnern. Die Erinnerung ist auch eineMahnung, dass der Terror angesichts der vielen unge-lösten Konflikte und des Hasses in der Welt nichts an Ak-tualität verloren hat und immer noch eine große Gefahrdarstellt.Ein öffentliches Gedenken an das Attentat von 1972ist aber auch ein Zeichen an die, die den Terror verbrei-ten und als Mittel missbrauchen, um ihre Ziele zu errei-chen. Es ist ein Zeichen, dass die Werte wie Freund-schaft, Frieden, Respekt und Achtung voreinanderimmer noch gelten und dass man sich auch von Terrornicht unterkriegen lässt. Die olympische Familie ist grö-ßer geworden, und vermutlich werden über 200 Natio-nen bei den diesjährigen Olympischen Spielen dabeisein. Ich hoffe auf friedliche Spiele, mit viel Freude undsportlichen Höhepunkten; aber ich hoffe auch, dass mandie tragischen Erinnerungen nicht außen vor lässt undihrer in einem angemessenen Rahmen gedenkt. EineSchweigeminute wäre keine Gefahr für die olympischeEinheit, sondern vielmehr ein Zeichen von Geschlossen-Zu Protokoll gegebene Reden
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Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012 22589
Katrin Kunert
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heit. Es wäre ein Symbol, das man gemeinsam gegenHass, Gewalt und Terrorismus eintritt.
Mit dem vorliegenden Antrag wollen wir zum einenan das schreckliche Attentat auf die israelische Olym-piamannschaft in München und Fürstenfeldbruck erin-nern, das sich am 5. September 2012 zum 40. Mal jährt.Zum anderen fordern wir in diesem Antrag die Bundes-regierung dazu auf, sich aktiver an einer Aufarbeitung– und zwar einer öffentlichen Aufarbeitung – des Atten-tats zu beteiligen.Lassen Sie mich zunächst kurz rekapitulieren, was da-mals geschah. „Heitere Spiele“ sollten es werden imJahr 1972. Nach dem Ende des Nationalsozialismuswollte sich Deutschland als tolerant und fröhlich der in-ternationalen Öffentlichkeit präsentieren und erstmalsseit 1936 wieder die Sportelite aus aller Welt einladen.Es hätte nicht schlimmer kommen können: Am frühenMorgen des 5. September stürmt die palästinensischeTerrororganisation Schwarzer September schwer be-waffnet ins israelische Quartier im Olympischen Dorfund nimmt Athleten und Betreuer als Geiseln. EinigeAthleten können sich in letzter Minute retten und flüch-ten über Balkongeländer in die Freiheit. Zwei Athletensterben noch im Quartier, die anderen neun Mitgliederdes israelischen Teams kommen in einer missglücktenBefreiungsaktion auf dem Flugplatz Fürstenfeldbruckums Leben. Auch ein Polizist wird während der Schieße-rei mit den Geiselnehmern tödlich verwundet, ein weite-rer wird schwer verletzt. Fünf der acht palästinensi-schen Attentäter sterben. Wenig später dann dieWiedereröffnung der Spiele mit den Worten „The gamesmust go on“. Die Trauer und das Leid, das dem israeli-schen Team und den Angehörigen der Opfer zugefügtwurde, sind nicht in Worte zu fassen. Die dramatischenEreignisse von 1972 haben die internationale Öffent-lichkeit schockiert und sind zum Trauma vieler Zeitzeu-gen geworden. Nicht vergessen werden dürfen auch die-jenigen, die der Geiselnahme damals knapp entgehenkonnten. Ihnen und allen anderen Opfern gebührt unserRespekt und unser Mitgefühl.Viel ist spekuliert worden über die Hintergründe derTat, ihre Drahtzieher und die Entwicklungen im interna-tionalen Terrorismus. Seit 1999 läuft ein Ermittlungs-verfahren der Staatsanwaltschaft München wegen derVerbindungen zwischen dem damaligen DrahtzieherMohammed Daoud Oudeh alias Abu Daoud und demdeutschen Neonazi Willi Pohl. Die Bundesregierung hatbisher keine Veranlassung gesehen, daraus irgendwel-che Schlüsse für eine öffentliche Aufarbeitung des Fallszu ziehen.Das sehen wir anders. Deutschland steht als Ausrich-terland der Olympischen Spiele von 1972 und durch Ver-strickungen von deutschen Staatsbürgern in das Attentatgleich in mehrfacher Weise in der Verantwortung, sichfür eine öffentlichkeitswirksame Gedenkveranstaltungeinzusetzen. Wenn Ende Juli in London die OlympischenSommerspiele eröffnet werden, wird es nach dem Willendes Internationalen Olympischen Komitees, IOC, keinenRaum für eine Erinnerung an das Attentat geben. DieEntscheidung, stattdessen eine Zeremonie in der Guild-hall zu veranstalten, wird der Bedeutung des Datumsnicht gerecht. Dieser Ansicht sind die Hinterbliebenender Opfer – und ihre Meinung verdient zunächst allge-meine Aufmerksamkeit. Hinzu kommen zahlreiche wei-tere Stimmen aus Israel und aller Welt, darunter auchvon Vertreterinnen und Vertretern von nationalen Parla-menten und Regierungen. Diese Woche erst hat Außen-minister Westerwelle sich endlich mit einem Brief anIOC-Präsident Jacques Rogge gewandt und sich für eineSchweigeminute ausgesprochen. Ob Herr Westerwellevorher unseren Antrag gelesen hat, vermag ich nicht zubeurteilen. In jedem Fall begrüßen wir seinen Vorstoßausdrücklich.Das reicht aber noch nicht: Wir fordern die Bundes-regierung auf, sich weiterhin beim Deutschen Olympi-schen Sportbund, DOSB, und beim IOC für eine öffentli-che Gedenkveranstaltung im Rahmen der Spiele selbstauszusprechen und sich darüber hinaus engagiert hier-für einzusetzen. Denn nur die Spiele selbst sind der wür-dige Ort für ein Gedenken.Auch die Bundesregierung kann und soll für die Auf-arbeitung in Deutschland mehr tun als bisher. Wir for-dern daher, die wissenschaftliche Aufarbeitung finan-ziell zu unterstützen sowie die Ereignisse einer breitenÖffentlichkeit zur Verfügung zu stellen. Nach Ende derSperrfristen ist es jetzt prinzipiell möglich geworden,Einsicht in wichtige Dokumente in Zusammenhang mitdem Attentat zu erhalten. Diese Chance für Transparenzmüssen wir nun nutzen.Leider hält sich die Bundesregierung bei der Auf-arbeitung jedoch stark zurück. Impulse setzen dagegenandere: Mit großer Mühe haben die Verantwortlichen imLandkreis Fürstenfeldbruck Finanzierungspartner ausSport und Wirtschaft für eine geplante Ausstellung zumThema gewinnen können. Doch nach jetziger Einschät-zung fehlen hier noch immer 14 000 Euro der insgesamtbenötigten 95 000 Euro, um das Projekt zu finanzieren.Das ist für den Bund, der bisher kein Geld zuschießt,sicherlich ein kleiner Betrag, doch für die Ausstellungs-macher überlebenswichtig. Außerdem, auch das fordernwir in unserem Antrag, soll der Bund Räumlichkeiten inBerlin und anderswo für die Ausstellung zur Verfügungstellen. Damit würde er ein Zeichen setzen und sicher-stellen, dass das Thema auch nach den Spielen von Lon-don im Gedächtnis der Öffentlichkeit bleibt. Die bishe-rige Zurückhaltung des Bundes in dieser Angelegenheitist peinlich.Lassen Sie mich zum Schluss kurz auf einen mögli-chen Grund eingehen, der das IOC bisher davon abge-halten haben könnte, dem Gedenken einen prominente-ren Ort zu geben. Es steht seitens der Presse dieVermutung im Raum, dass Herr Rogge deswegen auf einöffentliches Gedenken bei der Eröffnungszeremonie ver-zichtet, weil er Bedenken arabischer Teilnehmerstaatendagegen befürchtet. Ein solcher Grund wäre überhauptnicht nachvollziehbar und würde zudem ein falschesLicht auf das Anliegen werfen. Es geht hier um ein Zei-Zu Protokoll gegebene Reden
Metadaten/Kopzeile:
22590 Deutscher Bundestag – 17. Wahlperiode – 187. Sitzung. Berlin, Donnerstag, den 28. Juni 2012
Daniela Wagner
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chen des Gedenkens an die Opfer und nicht um Beschul-digungen.Ich bitte Sie, dem Antrag zuzustimmen.
Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf
Drucksache 17/10109 an die in der Tagesordnung aufge-
führten Ausschüsse vorgeschlagen. – Sie sind damit ein-
verstanden. Dann ist das so beschlossen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, die Tagesordnung
ist erschöpft. Ich hoffe nicht, dass Sie das auch sind.
Ich berufe die nächste Sitzung des Deutschen Bun-
destages auf morgen, Freitag, den 29. Juni 2012, 9 Uhr,
ein.
Die Sitzung ist geschlossen.